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German Pages 496 [382] Year 1989
Dobri Witschew
Bulgarische Prosa
Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte
Dobri Witschew
Bulgarische Prosa Entwicklungstrends und Genre strukturen im 19. und 20. Jahrhundert
Akademie-Verlag Berlin 1988
ISBN 3-05-000633-1 ISSN 0232-315X Erschienen im Akademie-Verlag Berlin, Leipziger Str. 3 - 4 , D D R - 1086 Berlin ©Akademie-Verlag Berlin 1988 Lizenznummer: 202-100/110/88 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: IV/2/14 V E B Druckerei „Gottfried Wilhelm Leibniz", 4450 Gräfenhainichen • 6954 Lektor: Alfred Gessler LSV: 8041 Bestellnummer: 754 845 2 (2150/95) 01400
Inhalt
V orbemerkung
7
Prosa der bulgarischen Wiedergeburt Epoche und Literaturverständnis Zu einigen Grundfragen der Literaturentwicklung . . . Die autobiographischen Anfänge der neubulgarischen Prosa Die Prosa in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts Der „transplantierte" Strang der neubügarischen Prosa Von der Folklore zur realistisch-publizistischen Erzählkunst. Ljuben Karawelow Die Powest in der bulgarischen Wiedergeburt Bulgarische Prosa 1878-1917 Gesellschaftliche Entwicklung nach der Befreiung 1878 Funktionswandel der Literatur Zur Herausbildung des Romans und der epischen Memoirenprosa in den achtziger Jahren Wasows Weg zur Roman-Epopöe „Unter dem Joch" Die ideell-ästhetische Differenzierung der Erzählung um die Jahrhundertwende Der Wasowsche Typ kritisch-realistischer Erzählung . . Der Zyklus von anekdotisch-feuilletonistischen Erzählungen. „Bai Ganju" von Aleko Konstantinow . . . . Der Beitrag des Kreises „Missal" zur Entwicklung der Kurzprosa. Die „Idyllen" von Petko Todorow . . . . Die Ausbildung der „klassischen" Kurzerzählung im Werk Elin Pelins 5
10 16 20 28 29 38 58
65 78 80 102 103 111 122 136
Bulgarische Prosa 1917-1944 Allgemeine Tendenzen der Prosaentwicklung in der Periode 1917-1944 Zum Traditionsbruch der „Moderne" und zur „Lyrisierung" der Prosa bis 1923 Der „expressive" Romantyp der Avantgarde. „Reigen" von Anton Straschimirow Der „ethische" Realist Jordan Jowkow Der Reportageroman „Sporilov" und die sozialpsychologischen Romane von Georgi Karaslawow Übergangsperiode und entwickelte sozialistische Gesellschaft Zur Prosaentwicklung von 1944-1949 Der Gesellschaftsroman der fünfziger Jahre Abschied von der bäuerlichen Vergangenheit der Nation Pawel Weshinows Beitrag zur moralisch-ethischen Problematik Zum Phantastischen in der Prosa der sechziger und siebziger Jahre „Pochen auf Unersetzlichkeit". Der historische Roman „Der schlaue Peter" von Markowski Die Gegenwartsthematik in der Prosa der siebziger und der ersten Hälfte der achtziger Jahre
154 155 165 180 199
217 223 244 251 272 282 289
Anmerkungen
310
Zeittafel 1762-1971
335
Bibliographie von Übersetzungen bulgarischer DDR (Buchveröffentlichungen 1949-1985) Personen- und Werkregister
Prosa in der
352 368
6
Vorbemerkung
Vorliegende Arbeit ist Teil vielfältiger Bemühungen in der D D R , die Literaturen europäischer sozialistischer Länder zu erschließen. Sie stellt Entwicklungstrends der bulgarischen Prosa und ihre Genredifferenzierung vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur unmittelbaren Gegenwart dar. Die Orientierung auf die Prosa erklärt sich vor allem daraus, daß sie den Literaturprozeß in Bulgarien stets entscheidend geprägt hat und auch in der D D R am stärksten rezipiert worden ist. Während von der Lyrik und Dramatik relativ wenig ins Deutsche übertragen worden ist, liegen beinahe alle wesentlichen Prosawerke seit der Epoche der Wiedergeburt in deutscher Übersetzung vor. Diesem Tatbestand trägt die bisherige literaturhistorische Aufarbeitung nur partiell Rechnung, so wichtig die bereits erschienenen Überblicksdarstellungen zur bulgarischen Literatur auch sind. Die größten Lücken betreffen die Romanentwicklung bis 1944 und die Kurzprosa überhaupt. Der gattungsgeschichtliche Aspekt bot sich als Achse und Ordnungsprinzip der Arbeit an. Vollständigkeit wurde angesichts der Fülle des Materials nicht angestrebt. Bevorzugt untersucht wurden solche Prosawerke, die über ihre gattungsgeschichtliche Relevanz hinaus auch etwas über die nationale Spezifik bulgarischer Literaturentwicklung aussagen oder an denen übergreifende Fragen erörtert werden können (z. B. Literatur als politisches Organ einer unterdrückten Nation, als eine Frage, die nicht nur für die bulgarische Literatur in der Epoche der Wiedergeburt, sondern auch für andere ost- und südosteuropäische Literaturen im 19. Jahrhundert von Belang ist; bulgarische „Moderne" und „Avantgarde" als übernational aktuelle Frage nach der Tradition demokratischer und sozialistischer Literatur sowie nach der Wechselbeziehung zwischen unterschiedlichen Traditionslinien). 7
Die Arbeit konzentriert sich im wesentlichen auf drei Prosaformen: die Erzählung, die Powest und den Roman. Publizistisch-dokumentarische Genres wurden nur dort berücksichtigt, wo sie zum Verständnis der Eigenart bulgarischer Literaturentwicklung bzw. zur Verdeutlichung des spezifischen Anteils einer bestimmten Richtung an der Genreentwicklung unbedingt erforderlich sind (z. B. bei der Prosa in der Epoche der Wiedergeburt oder beim Schaffen Georgi Karaslawows bis 1944). In den einzelnen Kapiteln wurde stets vom Funktionsverständnis der Literatur in der jeweiligen geschichtlichen Etappe ausgegangen und von daher der Anteil der Prosa innerhalb des Gattungsensembles an der Lösung der anstehenden Aufgaben bestimmt. In der engen Verknüpfung von gattungsgeschichtl i c h e r u n d f u n k t i o n a l e r B e t r a c h t u n g liegt vor allem der methodische Neuansatz. Sie ermöglichte es, bulgarische Forschungsergebnisse produktiv mit theoretischen Fragestellungen zu verbinden, wie sie in der Literaturwissenschaft der D D R aufgeworfen werden. Besonderes Augenmerk wurde jeweils den Lösungen geschenkt, mit denen die Prosa auf Veränderungen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit sowie auf innerliterarische Vorgänge reagierte; gemeint sind die Modifikationen ihrer Strukturen und Genreformen bzw. Dominanzverlagerungen innerhalb ihres Genreensembles. An ausgewählten Beispielen wurde versucht, Stellenwert, Traditionsverhältnis, Leistung und Grenzen (und von daher auch die nationale Spezifik) der drei Hauptrichtungen in der Entwicklung der bulgarischen Prosa (und Literatur) - der kritisch-realistischen, der individualistisch-sezessionistischen und der sozialistischen Richtung - in ihren Wandlungen und partiellen Verflechtungen herauszuarbeiten und den besonderen Zusammenhang zwischen Funktionssetzung und Prosastrukturen unter sozialistischen Gesellschaftsverhältnissen zu zeigen. Typologische Vergleiche zu andersnationalen Prosawerken wurden zwar gelegentlich in die Betrachtung einbezogen (z. B. Vergleiche von Iwan Wasows Unter dem ]och zu Tolstois Krieg und Frieden oder Dimitar Dimows Tabak zu Anna Seghers' Die Toten bleiben jung), doch nicht darauf wurde der Akzent gelegt. Es kam vielmehr auf eine solche Aufarbeitung der bulgarischen Prosa an, die sie funktional und strukturell einsehbar und auf dieser Basis mit epischen Werken anderer Literaturen vergleichbar macht (z. B. die national8
spezifische Erscheinung der sogenannten „Septemberliteratur" als literarische Avantgarde). Für wertvolle Hinweise und Anregungen bei der Konzipierung und Realisierung der Arbeit dankt der Verfasser den Mitarbeitern der Forschungsgruppe Ost- und südosteuropäische Literaturen im Zentralinstitut f ü r Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der D D R in Berlin, f ü r Unterstützung bei der Materialbeschaffung sowie f ü r Konsultationen dem Institut f ü r Literatur und dem Zentrum f ü r Bulgaristik der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften in Sofia.
Prosa der bulgarischen Wiedergeburt
Epoche und
Literaturverständnis
„Unser unglückliches bulgarisches Volk hat kein Parlament, keine Tribüne, von der aus es seinen Willen verkünden und von seinen Sorgen und Nöten sprechen könnte. Sein einziges Mittel zu diesem Zweck ist seine Journalistik." 1 Das schrieb 1874 Christo Botew, wobei er unter „Journalistik" sämtliche bulgarischsprachigen Periodika in Istanbul und in den bulgarischen Emigrationszentren zusammenfaßte, die Publizistik und schöngeistige Werke enthielten. In kaum einer anderen Äußerung aus der damaligen Zeit ist die e n g e B e z i e h u n g z w i s c h e n P u b l i z i s t i k u n d L i t e r a t u r und zugleich die beiden gemeinsame hohe gesellschaftliche Mission während der bulgarischen Wiedergeburt so knapp und treffend charakterisiert. Literatur und Publizistik hatten das Volk nicht nur zu bilden und zu erziehen, sondern auch und vor allem, im Sinne p o l i t i s c h e r O r g a n e der Nation, die fehlenden staatlichen Institutionen zu ersetzen. Natürlich war dieses Botewsche Funktionsverständnis der bulgarischen Literatur nicht in allen Etappen der Wiedergeburt im gleichen Maße bewußt und aktuell, und es wurde lange nicht von allen Zeitgenossen geteilt. Auch in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als der Befreiungskampf gegen die osmanische Unterdrückung seinen Höhepunkt erreichte, gab es durchaus Autoren, deren Tätigkeit als „Journalisten" keineswegs mit klaren (geschweige denn revolutionären) politischen Zielsetzungen verbunden oder allein auf patriotische Beweggründe zurückzuführen gewesen wäre. Im selben Artikel vermerkte Botew, daß ein beträchtlicher Teil der Emigrantenpresse sowie fast alle Istanbuler Zeitungen ihre Möglichkeiten, eine echte Tribüne des bulgarischen Volkes zu sein, nicht nützten, daß sie sich in den Händen von „braven Untertanen" des Sultans befänden und daß auf ihren Seiten kaum anderes als „politische Verlogenheit, literarische Gemeinheit und diplomatische Kriecherei" gedeihe. 2 10
Diese Feststellung Botews, die eine scharfe und unversöhnliche Haltung gegenüber jeglicher Art von opportunistischer „Journalistik" veranschaulicht, war sicherlich polemisch überspitzt. Botew war ein revolutionärer Demokrat mit teilweise sozialistisch-utopistischen Idealen, und seine - der damaligen Entwicklung vorauseilenden Ansichten galten selbst innerhalb des revolutionären Flügels der nationalen Befreiungsbewegung als radikal. Sie sind aber insofern von prinzipieller Relevanz, als sie unmißverständlich auf die i n n e r e D i f f e r e n z i e r t h e i t des gesellschaftlichen und literarischen Prozesses besonders in der letzten Etappe dieser Epoche hinweisen, die auch bei stark verknappter Darstellung nicht außer acht gelassen werden darf. Begonnen hatte die bulgarische Wiedergeburt, jener historische Prozeß der Erneuerung des nationalen Lebens, in dem Züge der europäischen Renaissance und der Aufklärung in modifizierten Formen auftraten und sich eigenwillig verflochten, bereits ein Jahrhundert davor. 3 D a s Zusammenfallen beider geistig-kulturellen Etappen in der politischen Emanzipation des europäischen Bürgertums sowie ihr verhältnismäßig spätes Auftreten in Bulgarien waren durch die Nationalgeschichte bedingt. 4 Seit 1396 befand sich das bulgarische Volk, das zwischen dem 9. und 14. Jahrhundert ein reiches, für andere slawische Kulturen grundlegendes Schrifttum hervorgebracht hatte, unter osmanischer Fremdherrschaft; jahrhundertelang mußte es unter extrem rückständigen, orientalischen Feudalverhältnissen eine von der kulturellen Entwicklung Europas fast abgeschnittene Existenz fristen. Auch das wirtschaftliche Leben stagnierte lange Zeit. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann eine neue Etappe der sozialökonomischen Entwicklung Bulgariens, ausgelöst durch die verstärkte Einbeziehung der Balkanhalbinsel in den europäischen Handelsaustausch und begünstigt durch den Machtverfall des osmanischen Reiches. D i e sich intensivierenden Handelsbeziehungen führten zu einer allgemeinen Belebung der Wirtschaft (Steigerung und qualitative Verbesserung der handwerklichen Produktion, Spezialisierung verschiedener Regionen auf die Herstellung bestimmter Waren und ein sich daraus ergebender Ausbau des Binnenmarktes), während die Autonomiebestrebungen der Paschas und die sie begleitenden langwierigen, verheerenden Kriege, von denen vor allem die Landbevölkerung schwer betroffen war, wesentlich dazu beitrugen, daß die Städte zunehmend zu Kristallisationspunkten des wirtschaftlichen
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Aufschwungs wurden. Durch die Zuwanderung von Bauern, die Schutz vor plündernden türkischen Deserteuren suchten und ihre billige Arbeitskraft zur Verfügung stellten, wuchs der Anteil der Bulgaren an der Stadtbevölkerung im Verhältnis zu den bis dahin dominierenden türkischen Familien rapide an, es änderten sich Charakter und soziale Struktur der städtischen Agglomerationen. Aus größeren, unansehnlichen Dörfern, die sich zunächst lediglich durch die Konzentration von regionalen Verwaltungsorganen und durch ihren in Zünften organisierten Handwerkerstand unterschieden, wurden die Städte zu wichtigen Zentren der Warenproduktion und des Warenaustausches (Entstehung von ersten Manufakturen, Messestädten usw.). Aus Kaufleuten, Manufakturbesitzern und Unternehmern, die zum Teil zu beachtlichem Wohlstand gelangten, rekrutierte sich nach und nach die bürgerliche Klasse in Bulgarien. Durch ihre neuen Bedürfnisse und durch ihr Bestreben, möglichst schnell Anschluß an das geistige und materielle Leben der in ihrer Entwicklung fortgeschrittenen europäischen Nationen zu erzielen, wurde sie zum Hauptträger der kulturellen Erneuerung des Landes. Die bulgarische Wiedergeburt zeichnete sich - analog der Renaissance in Westeuropa, die durch ähnliche sozialökonomische Veränderungen vorbereitet und gleichfalls mit der Herausbildung der bürgerlichen Klasse verbunden war - durch einen weltlichen und antifeudalen Humanismus aus, der zum Hauptinhalt ihrer Ideologie wurde. Die Orientierung auf den Menschen sowie auf die Erforschung der Gesetze der Natur und Gesellschaft wurde durch die Ideen der Aufklärung, welche die Renaissanceprozesse in Bulgarien f a s t v o n A n f a n g a n b e g l e i t e t e n , sehr gefördert. Sie verliehen der neuen, dem Diesseits zugewandten Geisteshaltung Fortschrittsglauben und Geschichtsoptimismus, lenkten ihre Aktivitäten verstärkt auf die Anforderungen der unmittelbaren Praxis, vor allem der Volkserziehung und Volksbildung, engten sie aber oft auch utilitaristisch ein. Das verspätete Auftreten der Renaissance sowie die historischen und politischen Bedingungen, unter denen sie sich bei den Bulgaren entfaltete, bedingten - im Zusammenspiel mit der gleichzeitigen Wirkung aufklärerischer Ideen - einige spezifische Merkmale, die vom westeuropäischen Muster deutlich abweichen. So war diese Epoche in Bulgarien weder durch ein ausgesprochenes Interesse für die Kultur des Altertums noch durch das Aufblühen des Individualismus kraft „Entdeckung der menschlichen Persönlichkeit" gekenn12
zeichnet, sondern vielmehr durch P a t r i o t i s m u s und D e m o k r a t i s m u s auf Grund gleichzeitiger Entdeckung der „Individualität" der Nation. Diese Akzentuierung ist außerordentlich wichtig. In der bulgarischen Wiedergeburt vollzog sich die Herausbildung der Nation Hand in Hand mit einer umfassenden Kulturrevolution, bei der die neubulgarische Schriftsprache und Literatur entstanden und Grundlagen für das Bildungswesen geschaffen wurden. In dieser Zeit wurden mit der griechischen Geistlichkeit und der türkischen Regierung zugleich langdauernde K ä m p f e um die Erlangung der nationalen Unabhängigkeit ausgefochten. Der Vorrang, den die Lösung der nationalen Frage damals hatte, gab der entstehenden Kultur eine klare Richtung: Sie hatte das Geschichts- und Nationalbewußtsein des Volkes zu wecken und zu stärken und sich den Assimilierungsbestrebungen, die nicht allein von türkischer, sondern viel gezielter noch von der griechischen Geistlichkeit und Bourgeoisie (die sich etwas früher als die bulgarische entwickeln konnte) ausgingen, entgegenzustellen. Einen wesentlichen Anteil an der Erfüllung dieser Hauptaufgabe der bulgarischen Wiedergeburtskultur hatten Geistliche. Mönche wie Paissi von Chilender oder Popen und andere kirchliche Würdenträger wie Sofroni von Wraza waren die ersten namhaften Vertreter der neubulgarischen Literatur. Die Wirksamkeit bürgerlicher Autoren und Gelehrter setzte erst in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts richtig ein. Ihre reformerische Tätigkeit war zunächst hauptsächlich auf den Aufbau eines weltlichen Bildungswesens gerichtet. Mit der zahlenmäßigen und wirtschaftlichen Stärkung des Bürgertums wuchs seine kulturpolitische und ideologische Funktion. Doch auch dann nahm die Aktivität der Geistlichen nicht ab. Viele von ihnen kämpften bis zur Befreiung Bulgariens im Jahre 1878 Schulter an Schulter mit ihren bürgerlichen Gesinnungsfreunden für die geistigen und politischen Belange der Nation, gegen den osmanischen Feudalismus und vor allem gegen den griechischen Klerus. D i e Aktionsgemeinschaft ergab sich auch aus dem Umstand, daß die bulgarische Wiedergeburt die griechisch-orthodoxe Religion als Ideologie keineswegs ablehnte, sich bis zu den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit ihr nicht einmal ansatzweise auseinandersetzte. Angesichts der islamischen Unterdrücker fiel dem christlichen Glauben - genauso wie z. B. der bulgarischen Sprache - eine wichtige integrierende und konsolidierende Funktion bei der Formierung der bulgarischen Nation zu. Die Bewegung gegen die griechische Geist13
lichkeit, die b i s E n d e d e r S e c h z i g e r j a h r e im Vordergrund des nationalen Befreiungskampfes stand, richtete sich weder gegen die christliche Religion, noch war sie - wie etwa die Reformation in Deutschland im 16. Jahrhundert - auf grundlegende religiöse Reformen aus. Ihr Ziel war die wirksame Verteidigung des bulgarischen Volkstums gegen den griechischen Einfluß sowie die Erkämpfung der Unabhängigkeit der bulgarischen Kirche von der griechischen Oberhoheit, denn dies war praktisch gleichbedeutend mit der Anerkennung der bulgarischen Nation durch die türkische Regierung und daher von großem politischem Gewicht. 5 Als ein weiteres bestimmendes Merkmal der bulgarischen Wiedergeburt ist ihr demokratischer Charakter zu nennen. Er resultierte aus der Sozial- und Klassenstruktur der bulgarischen Gesellschaft zu dieser Zeit, als es eine nationale feudale Klasse, die auf die kulturelle Entwicklung hätte Einfluß nehmen können, nicht gab. 6 Die Träger der Wiedergeburtskultur, die Geistlichen einbegriffen, stammten aus dem Volk, ihr Schaffen galt diesem und nicht kunstfreundlichen Feudalen oder großbürgerlichen Mäzenen, wie es in der westeuropäischen Renaissance oft der Fall war. Der Hauptwiderspruch in dieser Epoche verlief nicht zwischen den nationalen Klassen (zwischen Feudalherren und Bourgeoisie oder zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse, die sich erst nach 1878 formierte), sondern zwischen dem b u l g a r i s c h e n Volk und der o s m a n i s c h e n Feudalklasse. Deshalb waren a l l e Volksschichten - ob Bauern, Handwerker, Bürgerliche oder Geistliche - an der Beseitigung des Feudalismus und der politischen Fremdherrschaft interessiert. Daraus ergab sich auch die r e l a t i v e E i n h e i t der Wiedergeburtskultur trotz unterschiedlicher ideologischer Strömungen und politischer Programme innerhalb der nationalen Bewegung. Der Gegensatz Zwischen den „zwei Kulturen" innerhalb der Nationalkultur vermochte sich in dieser Zeit nur abgeschwächt und in Bereichen auszuwirken, in denen über die Wahl der Mittel für die nationale Emanzipation sowie über deren Endziele befunden wurde. Dazu gehörte auch die neubulgarische Literatur. War die Literatur bis Mitte des 19. Jahrhunderts in ideeller Hinsicht noch recht homogen, so erfuhr sie mit dem Beginn der organisierten revolutionären Befreiungsbewegung eine deutliche Polarisierung. Hervorgerufen wurde dies durch unterschiedliche Auffassungen über den Weg, auf dem die nationale Unabhängigkeit vermut14
lieh zu erreichen war. E s kristallisierte sich eine liberale Gruppierung von Literaten heraus, die „Aufklärer", die auch in dieser letzten Etappe der Wiedergeburt die Hebung des allgemeinen Bildungsniveaus als vorrangig betrachteten und lediglich den Kampf um die Selbständigkeit der bulgarischen Kirche aktiv unterstützten. Als 1870 dieser Kampf von Erfolg gekrönt wurde, blieben die „Aufklärer" bei ihrer Ansicht, das bulgarische Volk müsse sich erst weiterbilden, damit es den Osmanen durch sein Wissen und seine Kultur überlegen würde, dann könne es seine politische Unabhängigkeit auch auf friedlichem Wege erreichen. Als Reformanhänger standen die „Aufklärer" dem Programm des rechten Flügels der nationalen Befreiungsbewegung nahe, der die Interessen der in Rumänien lebenden bulgarischen Kaufleute und Unternehmer vertrat. Diese trachteten danach, ihre ökonomische Macht weiter auszubauen, was nur über die E r schließung des ihnen unzugänglichen bulgarischen Marktes möglich war. Sie rechneten mit der Hilfe Rußlands oder Serbiens, welche die Türkei auf diplomatischen Kanälen oder aber mit Gewalt dazu bewegen sollten, entsprechende Reformen durchzuführen. Einige Vertreter dieses Flügels gaben - mit der Nutzung des gesamten Marktes im osmanischen Reich liebäugelnd - den Gedanken an die politische Unabhängigkeit preis und setzten sich für eine Personalunion zwischen Bulgarien und der Türkei nach dem Vorbild der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn ein. In klarer Abgrenzung von den „Aufklärern" und in ständiger Auseinandersetzung mit ihnen profilierte sich die Gruppe der revolutionär-demokratischen Schriftsteller. Aus ihr gingen drei der bedeutendsten Führer des revolutionären Flügels der nationalen Befreiungsbewegung hervor: Georgi Sawa Rakowski, Ljuben Karawelow und Christo Botew. Sie vertraten die Interessen der armen Bauern, der seit dem Krimkrieg 1 8 5 3 - 1 8 5 6 zunehmend ruinierten bulgarischen Handwerker 7 sowie der mittellosen Emigranten in Serbien und Rumänien, Zu denen ein großer Teil der bulgarischen Intelligenz zählte. Organisationszentren dieses Flügels waren zunächst Belgrad - wo Rakowski, der erste Ideologe der nationalen Revolution, die bulgarische militärische Legion 8 ins Leben rief und die Freischartaktik ausarbeitete - und danach Bukarest. 1869 wurde hier das von Wassil Lewski und Ljuben Karawelow geleitete „Bulgarische Revolutionäre Zentralkomitee" gegründet, das nach dem Scheitern der Freischartaktik zu neuen Kampfmethoden, nämlich der Vorbereitung eines gesamtnationalen bewaffneten Aufstandes, überging. 15
1873, nach dem Tode Lewskis und dem Bruch Karawelows mit dem Zentralkomitee, wurde Botew, der ebenfalls dem Komitee angehörte, zum eigentlichen Führer des revolutionären Befreiungskampfes. Die enge Verbundenheit Rakowskis, Karawelows und Botews mit der revolutionären Praxis prägte ihr Literaturverständnis entscheidend. Während die „Aufklärer" sich vor allem als Kulturträger und -Verbreiter begriffen und sich der geistigen Emanzipation und moralischen Erziehung des bulgarischen Volkes widmeten, betrachteten die revolutionär-demokratischen Schriftsteller die Literatur in erster Linie als ein Mittel des politischen Kampfes zur Erlangung der Eigenstaatlichkeit. Diese unterschiedlichen Akzente in der Funktionssetzung von Literatur wirkten sich nicht allein auf den Ideengehalt der Werke aus. Sie bestimmten oft auch den dominanten Traditionsbezug und die Wahl der Gestaltungsmittel - ein Vorgang, der an der literarischen Produktion der sechziger und siebziger Jahre deutlich abzulesen ist.
Zu einigen Grundfragen der
l^iteraturentivicklung
An dieser Stelle macht es sich erforderlich, einige Grundfragen der Entwicklung der bulgarischen Literatur in der Wiedergeburt kurz zu erörtern und jene Ansätze der neubulgarischen Prosa vor dem Krimkrieg zu beschreiben, die das Bezugsfeld für den weiteren gattungsgeschichtlichen Diskurs bilden. Die erste Frage betrifft das Verhältnis der Literatur zur Folklore. Die Folklore spielte bei der Konstituierung der neubulgarischen Literatur eine bedeutende Rolle. Dazu ist zunächst zu sagen, daß die altbulgarische Literatur im Unterschied zur griechischen und zu vielen weiteren nicht aus der Folklore entstanden ist und sich nicht als deren natürliche Weiterentwicklung entfaltet hat. Nach der Ausbildung des altslawischen (altbulgarischen) Schrifttums Mitte des 9. Jahrhunderts verlief die Entwicklung von Folklore und Literatur in Bulgarien in deutlich voneinander getrennten Gleisen. Die altbulgarische Literatur, die sich bei der Durchsetzung des slawischen Schrifttums gegen die griechische und lateinische Konkurrenz sowie bei der Hebung des geistigen und kulturellen Niveaus im I. und II. bulgarischen Reich große Verdienste erwarb, war klassenmäßig und ideologisch streng determiniert. Sie diente fast ausschließlich der herrschenden Feudalklasse und der mit ihr verbundenen Kirche (nur 16
die Vertreter dieser waren in der Regel schreib- und lesekundig), während die Folklore als mündliches Schaffen namenloser Künstler die Bedürfnisse der ungebildeten Volksmassen befriedigte. Obwohl das Volksschaffen, dem ursprünglich ein patriarchalisch-heidnisches Bewußtsein zugrunde lag, vom Christentum, das 865 zur Staatsreligion erklärt wurde, sowie von fremden Kulturen (in erster Linie von der byzantinischen) zunehmend beeinflußt wurde, blieben die Folklore und die altbulgarische Literatur zwei künstlerische Systeme, die sich sowohl in bezug auf ihre sozialen Grundlagen und Adressaten als auch auf ihre ideell-ästhetischen Normen klar voneinander unterschieden. Ihre Berührungspunkte sind bis Ende des 14. Jahrhunderts sehr spärlich. 9 Erst während der osmanischen Unterdrückung änderte sich dieses Verhältnis, und zwar durch eine Annäherung der Literatur an die Folklore. Der Grund dafür war zum einen, daß die Folklore unter den neuen, komplizierten Bedingungen eine weit größere Bedeutung für die Wahrung des nationalen Bewußtseins erlangte als die vorwiegend auf abstrakte Probleme und auf das Jenseits orientierte Literatur (2. B. durch Lieder über historische Ereignisse sowie durch Helden- und Haiduckenlieder), zum anderen, daß es eine nationale Feudalklasse nicht mehr gab, deren Geschmack und Interessen die Literatur hätte weiterhin berücksichtigen müssen. Die schreibenden Mönche und Geistlichen, denen das Schicksal des unterjochten bulgarischen Volkes sehr am Herzen lag, näherten sich der Folklore zunächst hauptsächlich ideell und thematisch. Damit wurde in der Literatur eine Demokratisierung eingeleitet, die sich im 18. Jahrhundert durch Hinwendung zur Folklore auch in sprachlicher Hinsicht intensivierte. Beispiele dafür sind die sogenannten DamaskinenSammelbände mit religiös-erbaulichem Inhalt, welche Predigten und Heiligenleben sowie Märchen, Legenden und Erzählungen enthielten und in einer volkstümlichen Sprache verfaßt waren. Dadurch und durch die Einbeziehung weltlicher und folkloristischer Elemente stellen sie eine charakteristische Übergangsform von der mittelalterlichen, allein der Kirche dienenden, zur neuen, weltlich orientierten bulgarischen Literatur dar. Die 1762 entstandene Istorija slavenobolgarskaja (Slavobulgarische Geschichte) von Paissi von Chilendat, die in ihrem publizistischen Charakter als erster Beleg der bulgarischen kulturellen Wiedergeburt gilt, ist in vielem der Damaskinenliteratur verpflichtet. Der sprachlich-stilistische Einfluß der Folklore ist darin ebenso unverkennbar 2 Witschew, Bulg. Prosa
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wie die Bezüge zur altbulgarischen Literaturtradition: Paissi nutzte die Form der alten Chronik, in seinem Werk manifestierte sich bei Orientierung auf das Diesseits und Engagement für die Probleme der Zeit - ein religiöses Bewußtsein. 10 Geprägt aber wurde Paissis Arbeit weder durch die Folklore noch durch die mittelalterliche Literatur. Ausschlaggebend und profilierend war das durch die Ideen der Renaissance und der Aufklärung entflammte patriotische Pathos des Verfassers, das ihn inspirierte, sein mühselig gesammeltes Wissen über die Vergangenheit Bulgariens 11 sowie sein ganzes schriftstellerisches Können fruchtbar zu verbinden. So gelang es ihm, das nationale Bewußtsein wachzurütteln und sein Volk zum Kampf gegen die griechische Geistlichkeit und die osmanische Unterdrückung anzuspornen. 12 Die Geschichte war ein neuartiges historisches Werk mit einem stark emotional gefärbten Stil und einer durch Appelle und pamphletistische Einschübe aufgelockerten Struktur, dessen Genre bis heute umstritten ist. Dieses Werk wirft die Frage nach dem „synkretistischen" Charakter der frühen neubulgarischen Literatur auf, eine Kennzeichnung, die von dem sowjetischen Literaturwissenschaftler G. D . Gatschew in den sechziger Jahren eingeführt wurde. 13 Nach Gatschew ist Paissis Slavobulgarische Geschichte in dem Sinne typisch synkretistisch, daß sie eine „universelle Form der Ideologie", Produkt eines „folkloristisch-epischen" Bewußtseins einer in sich noch nicht differenzierten geistigen Kultur darstelle. Deshalb sei das eigentlich Künstlerische aufs engste mit Politik, Religion, Wissenschaft und Moral, d. h. mit Publizistik verquickt. Die neubulgarische Literatur hätte sich demnach gattungs- und genremäßig aus dem Zerfall dieser „synkretistischen" bzw. publizistischen Form konstituiert. Diese Thesen von Gatschew sind seit längerer Zeit in der Diskussion. Sie verbinden Paissis Werk mit einer Etappe der geistigen Entwicklung des bulgarischen Volkes, zu deren Überwindung es gerade - wenn auch ansatzweise - selbst beitrug. Und was Paissis Typ des „künstlerischen Bewußtseins" anbelangt, so wäre zu bedenken, daß dieser Mönch an der altbulgarischen Literatur geschult war. Er kann kaum mehr als die Autoren der Damaskinenliteratur von der Folklore angeregt gewesen sein und folglich keineswegs als Vertreter eines „folkloristischen" Bewußtseins angesehen werden. 14 Ebenso strittig ist die Ansicht, Paissis Geschichte sei bereits ein „literarisches" Werk mit einer „komplizierten, mehrere Genres vereinigenden Charak18
teristik" 15 , eine Auffassung, welche die Publizistik weitgehend mit schöngeistiger Literatur gleichsetzt. Am meisten leuchtet die These ein, daß die Slavobulgarische Geschichte im Sinne ihres Verfassers als ein h i s t o r i s c h e s Werk zu betrachten sei, das „in eine bewußte und tief überlegte Opposition zu denjenigen altbulgarischen Genres tritt, die eine historiographische Funktion erfüllt haben", und überdies „ein Lehrbuch für Geschichte" sein will, woraus sich sein p u b l i z i s t i s c h e r Charakter ergibt.16 Pflichtet man dieser These bei, die den Besonderheiten des Werkes am besten zu entsprechen scheint, so bekommt der Begriff „synkretistisch" als Charakterisierung der Anfänge der neubulgarischen Literatur einen anderen Inhalt. Damit wären dann jene Werke zu bezeichnen, bei denen sich die alten Strukturen (wie in der mittelalterlichen Chronik bei Paissi) und ihr Ideengehalt zwar wesentlich verändern, die aber noch nicht zu der für die neubulgarische Literatur typischen genre- und gattungsmäßigen Differenzierung hingelangen, sondern diese lediglich vorbereiten. Die literaturgeschichtlichen Fakten sprechen kaum dafür, daß diese Differenzierung nach dem von Gatschew behaupteten Zerfall der „synkretistischen Formen" erfolgt sei. Sie belegen vielmehr die Auffassung, daß diese Entwicklung auf vielfältige andere Weise - durch Umbildung altbulgarischer Genres, durch Anlehnung an Erfahrungen anderer Literaturen sowie durch tiefgehende Transformationsprozesse des Folklorematerials - vor sich gegangen ist.17 Die dritte und letzte Frage, die einer kurzen Erörterung bedarf, ist die „beschleunigte" Entwicklung der bulgarischen Literatur der Wiedergeburt. Sie hängt zusammen mit dem verspäteten Eindringen der Ideen der Renaissance und der Aufklärung und mit dem daraus resultierenden kulturellen Nachholebedarf. Nach Gatschew, der 1964 die Typologie dieser „Beschleunigung" herauszuarbeiten suchte, durchlief die bulgarische Literatur nach ihrem Bruch mit der vorausgegangenen Entwicklung (der die Jahrhunderte unter osmanischer Herrschaft bis zur Entstehung der Slavobulgarischen Geschichte umfasse) alle wesentlichen Etappen der westeuropäischen Literaturen. Nur traten sie hier nicht in „reiner" Form, sondern miteinander verflochten in Erscheinung (etwa die Romantik mit dem Realismus). Deshalb hätten Autoren wie Sofroni von Wraza oder Neofit Bosweli, deren Schaffen in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts fällt, die Aufgaben mehrerer Etappen zu lösen gehabt, und ihr Werk enthielte „einen ganzen Komplex von Stufen der künstlerischen Entwicklung" 18 . 2*
19
Auch wenn Gatschews These von der „unterbrochenen" Entwicklung bereits überholt ist und die Grenzen seiner typologischen Überlegungen inzwischen erkannt sind, haben sie ihre Bedeutung als „erste theoretische Geschichte der bulgarischen Literatur" 19 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht verloren. Sie vermittelten der bulgarischen Literaturgeschichtsschreibung seinerzeit äußerst wichtige Impulse, indem sie den Blick für die übernationale Dimension der bis dahin meist nur als nationales Phänomen behandelten Problematik schärften. Zugleich regten sie zur Präzisierung betreffs der nationalen Spezifik des Prozesses an. (Gatschew ging bei seiner Typologie der „beschleunigten" Entwicklung von den Erfahrungen aus, die die sowjetische Literaturwissenschaft bei der Erforschung der „jungen" Nationalliteraturen sowie einiger asiatischer Literaturen etwa der indischen und der japanischen - gesammelt hatte.) Spätestens nach Gatschews Arbeit war das spezifisch Bulgarische nicht mehr in der „Beschleunigung" an sich, sondern in genau zu ermittelnden Erscheinungsformen zu suchen. In den neueren Forschungen zu dieser Problematik ist eine Tendenz der verstärkten Historisierung und Regionalisierung zu beobachten. Die bulgarische Wiedergeburtsliteratur wird dort zwar in Bezug gesetzt zu den westeuropäischen Ländern, deren Spezifik dient jedoch nicht - wie bei Gatschew als „Maß" für den national-literarischen Prozeß; dieses bilden vielmehr die historischen Besonderheiten Bulgariens samt dessen Einbindung in den Balkanraum. 20
Die autobiographischen
Anfänge
der neubulgarischen
Prosa
Will man die vor dem Krimkrieg liegenden Ansätze der neubulgarischen Prosa skizzieren, so ist zunächst darauf hinzuweisen, daß es sich nur um einige wenige Werke handelt: Zilie i stradanija gresnogo Sofrotiija (Leben und Leiden des sündigen Sofroni) (um 1805) von Sofroni von Wraza, Razgovor s edin besarabski bälgarin (Gespräch mit einem Bulgaren aus Bessarabien) und Kratkoe nacertame zjzni svestennosluzitelja Nikolaja Dimcovica (Kurze Lebensbeschreibung des Geistlichen Nikolai Dimtschowitsch) (beide um 1845) von Neofit Bosweli. Hinzugefügt sei, daß diese Werke nur einen geringen Teil der - vorwiegend publizistisch orientierten - literarischen Aktivität ihrer Autoren ausmachen und überdies nicht einmal zu deren Lebzeiten veröffentlicht wurden. Sofronis Arbeit erschien erst 1861, 20
während die Prosa Boswelis noch später an die Öffentlichkeit gelangte. Ähnliches ist bei den Anfängen des Dramas zu beobachten. Die 1867 verfaßte erste bulgarische Originalkomödie 21 konnte erst sechs Jahre später gedruckt werden. Allein die Lyrik vermochte sich bis zum Krimkrieg einigermaßen zu entfalten, doch auch sie blieb zunächst zum Teil unveröffentlicht. Die mit Paissis Geschichte begonnene publizistisch-didaktische Linie der Literaturentwicklung konnte daher ihre führende Rolle bis in die fünfziger Jahre hinein behaupten. Das war kein Zufall. Angesichts des noch überwiegend niedrigen Bildungsniveaus der Lesekundigen erwies sich die Publizistik mit ihrer volksnahen Sprache, Operativität und Formenvielfalt als besonders geeignet, die Ausbildung und Stärkung des nationalen Selbstbewußtseins voranzutreiben und zur Lösung dringender Aufgaben der Wiedergeburtsepoche beizutragen. Zu diesen Aufgaben zählten Volksbildung und -erziehung, die Vermittlung des geistigen und wissenschaftlichen Ertrags der fortgeschrittenen europäischen Länder, die Konstituierung einer selbständigen bulgarischen Kirche. Erst mit der allmählichen Hebung des geistigen Niveaus der aufstrebenden jungen bürgerlichen Klasse und der Differenzierung ihrer ästhetischen Bedürfnisse gingen die an der kulturellen Erneuerung beteiligten Geistlichen und bürgerlichen Intellektuellen zu einer gezielt „künstlerischen" Umsetzung der sie bewegenden Ideen und Probleme über. Bis zu den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde das aufkommende Bedürfnis nach schöngeistiger Literatur in Bulgarien weitgehend durch Übersetzungen von Werken ausländischer Autoren (bzw. durch Adaption dieser Werke an den Erwartungshorizont des bulgarischen Lesers) befriedigt. Dieser Trend begann bereits mit Sofroni von Wraza. Der Geistliche war ebenso wie sein Vorgänger Paissi mit der DamaskinenTradition vertraut und erstrebte als Aufklärer und Erzieher seines Volkes nicht nur die utilitaristische Aktivität der religiösen Predigt, sondern übersetzte auch als erster in der bulgarischen Wiedergeburt Literatur mit weltlichem Inhalt - vor allem Fabeln, Anekdoten, Sentenzen, Sagen und Kurzerzählungen. Die Übersetzungen dienten in erster Linie moralisierenden Zwecken, sie lenkten aber den Blick des Lesers über die Grenzen des Regionalen und Nationalen hinaus und vermittelten ihm wichtige ästhetische Erfahrungen anderer Völker. Daß diese Erfahrungen nicht sofort, d. h. nicht schon 21
bei der Entstehung der frühen neubulgarischen Prosa produktiv werden konnten und daß diese einen eindeutigen Bezug zu den Traditionen der mittelalterlich-religiösen bulgarischen Literatur aufweist, davon zeugt die eigenwillige Autobiographie Leben und Leiden des sündigen Sofroni. Inwiefern blieb diese Arbeit der herkömmlichen Literatur verhaftet und durch welche Modifikationen alter Strukturen bzw. durch welche neuen Elemente markiert sie den Übergang zur neubulgarischen Prosa? Bereits der Titel erinnert an die „Vita", die Beschreibung von Heiligenleben, Sofronis Autobiographie ist aber eine derart transformierte „Ausgabe" dieses beliebten Genres im kirchenslawischen Schrifttum, daß es falsch wäre, den Bezug zur mittelalterlichen Literatur darauf zu beschränken. Er liegt vielmehr im religiösen Bewußtsein des Autors, der trotz seiner durch die Ideen der Wiedergeburt bedingten weltzugewandten Haltung und patriotischen Intention die religiösen Dogmen nicht ohne weiteres ignorieren konnte. Die häufig gestellten Fragen, weshalb Sofroni seine Autobiographie nicht als einen Erziehungsroman anlegte und warum er so peinlich genau darauf achtete, seine Verdienste für das bulgarische Volk als Kulturträger und Diplomat mit keinem Wort zu erwähnen, finden ihre Antwort darin, daß es nach den Glaubenssätzen eine schwere Sünde war, das eigene Leben zu würdigen. Nur das Leben von heiliggesprochenen kirchlichen Würdenträgern und Märtyrern durfte literarischer Gegenstand sein. Die Autoren hatten sich dabei nach strengen Normen zu richten, die auf eine Idealisierung und Heroisierung bzw. Mythologisierung der Heiligen abzielten. Unter den Südslawen gab es vor Sofroni nur zwei, die - obwohl ebenfalls Geistliche - gegen dieses Selbsdarstellungsverbot verstießen und sich, vom erwachten Interesse für die eigene Persönlichkeit getrieben, in autobiographischen Schriften versuchten: Parteni Pawlowitsch, ein Vorkämpfer der bulgarischen Wiedergeburt, der Mitte des 18. Jahrhunderts vorwiegend in Österreich wirkte, und der Serbe Dositei Obradovic. Während jedoch Pawlowitsch bei dem Versuch einer Autobiographie stehenblieb und seine Arbeit mit langen Partien aus Predigten durchsetzte, während sich Obradovic in seiner Lebensbeschreibung allzusehr nach westeuropäischen Mustern richtete, gelangte Sofroni in dem Zwiespalt zwischen renaissancehaftem Drang, persönliches Erleben literarisch mitzuteilen, und Respekt vor den kirchlichen Dogmen zu einer gänzlich originellen Lösung. Er legte seine Autobiographie an als eine christliche Beichte 22
und konzipierte den Ich-Erzähler als eine Art Anti-Helden, der sich selbst entlarvt und sich reumütig zu seinen Sünden bekennt. Berücksichtigt man, daß Sofroni die Autobiographie während seines Aufenthalts in Rumänien geschrieben hat, so ist durchaus denkbar, daß die besonderen Umstände und die seelische Verfassung des Autors gegen E n d e seines Lebens zu dieser Lösung beigetragen haben: D e r aus Bulgarien emigrierte und seines Amtes als Bischof von Wraza enthobene Sofroni muß - nachdem er seine von türkischen Räuberbanden und Kyrdshali 2 2 verwüstete Eparchie im Stich gelassen hatte - unter schweren Gewissensnöten gelitten haben. D i e Flucht nach Rumänien (die ihm andererseits endlich die existentielle Sicherheit und somit auch die Möglichkeit für die Entfaltung literarischer Tätigkeit gab) sowie der in jungen Jahren ausgeübte Dienst als Epitropos eines kirchlichen Vermögensverwalters (in dem er die armen Gläubigen wegen geringster Vergehen strafte, um die Kasse seines griechischen Vorgesetzten zu füllen) erscheinen in der Autobiographie als Sofronis gröbste Sünden. Darin spiegelt sich ein gravierendes Novum im Vergleich zu der jenseitsorientierten mittelalterlichen Literatur: das hohe Verantwortungsbewußtsein des Autors gegenüber seinen Landsleuten. Nach dem Moralkodex Sofronis, der sich nicht nur als Seelsorger, sondern auch und vor allem als geistiger Führer des Volkes betrachtete, konnte es nichts Verwerflicheres geben als Handlungen und Taten, die direkt oder indirekt gegen dessen Wohl gerichtet waren. Diesen Sünden stellt Sofroni, sein Leben überdenkend, alle privaten Leiden entgegen. Sie beginnen in der frühen Kindheit mit dem Tod der Mutter und werden danach zu seinem ständigen B e gleiter. Hauptschuld tragen die von Roheit und Willkür gekennzeichneten Zustände im osmanischen Reich und die damit zusammenhängenden Deformationen von Psyche und Charakter nicht nur bei den Unterdrückern, sondern auch bei den unterjochten Bulgaren.3:5 Dabei handelt es sich keineswegs nur um Leiden, die passiv ertragen wurden, sondern auch um schwere moralische Bewährungsproben, die viel innere Kraft erforderten. Kennzeichnend dafür ist die Episode, in der Sofroni von einem Türken bedrängt wird, sich vom christlichen Glauben loszusagen. D e r sonst nicht gerade tapfere und sich widrigen Bedingungen rasch anpassende Ich-Erzähler xeigt hier eine erstaunliche Festigkeit und bewundernswerten Mut. E r will lieber sterben als sich zum Islam zu bekehren, und nur ein Zufall rettet ihm das Leben.
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Die Verhaltensweise des Erzählers suggeriert dem Leser, daß zwischen verschiedenen Kompromissen wohl zu unterscheiden ist, daß man als Bulgare im osmanischen Reich manches ertragen muß, daß es aber Dinge wie den Glauben gibt, die unantastbar sind und bleiben müssen, wenn Volk und Nation nicht untergehen sollen. Die Episode ist auch in einer anderen Beziehung aufschlußreich. Sie kündet davon, daß das Motiv des Leidens, das als ein strukturbestimmendes Element die ganze Autobiographie durchzieht, im Vergleich zu der mittelalterlichen „Vita" eine neue Funktion erhält. Die Leiden sind so beschrieben, daß sie primär nicht einen religiösen, sondern einen sozialen und vor allem nationalen Inhalt annehmen; es sind Qualen, die mehr oder weniger von allen Bulgaren geteilt wurden. Der Leidensweg des einzelnen erlangt so paradigmatische Qualität. Er ist ein erschütterndes Dokument der seelischen und materiellen Gefahren und Nöte, denen das bulgarische Volk während der fremdnationalen Unterdrückung unterworfen war. Indem Sofroni ein eindrucksvolles und glaubwürdiges Bild von der bedrückenden Wirklichkeit zeichnete und indem er dank der „unheroischen" Konzeption des autobiographischen Ichs vielfältige Möglichkeiten der Identifikation schuf, verlieh er seinem Werk große mobilisierende Kraft. Die Beschreibung des freudlosen, unsicheren und angsterfüllten Lebens, das seine Landsleute fristeten und das viele von ihnen frühzeitig physisch, seelisch oder moralisch zugrunde richtete, weckte potentiell die Sehnsucht nach einem anderen, menschenwürdigeren Dasein. Darin in erster Linie liegt die Bedeutung dieser Autobiographie, ihre aufklärerische, aufrüttelnde Absicht. Sieht man sich die Realisierung des Werkes etwas näher an, so muß generell festgestellt werden, daß seine Wirkungspotenzen durch ausgesprochen sparsame und höchst volkstümliche künstlerische Mittel erreicht worden sind. Sofroni tritt dem Leser nicht als professioneller Schriftsteller oder Prediger, sondern als ein Volkserzähler gegenüber, er bedient sich der folkloristischen „Skas"-Erzählweise, bei der in den literarischen Text „lebendige Redevorstellungen und Sprachemotionen" 24 eingehen, die die Kommunikativität erhöhen und die Selbstdarstellungsmöglichkeiten des Ich-Erzählers wesentlich erweitern. Bedenkt man, daß es für Sofroni äußerst wichtig war, dem Leser den Zugang zu seiner farbigen Autobiographie zu erleichtern (nicht zufällig versucht er, sich vom Kirchenslawischen abzusetzen und sich der gesprochenen Sprache anzunähern), so hätte die Wahl der Mittel gar nicht treffender ausfallen können. 24
Neben dem „Skas", zu dem Sofroni nicht von der Folklore direkt, sondern von seiner Beschäftigung mit der Damaskinenliteratur angeregt wurde, fallen die gekonnte Anwendung des Dialogs, die meisterhafte Gestaltung einzelner Episoden, die ungeschmückte, lakonische Sprache, die schlichte Komposition und das Fehlen von Milieuschilderungen oder Naturbeschreibungen auf. Diese Besonderheiten haben ebenso wie der Beichtcharakter zu unterschiedlichen Interpretationen geführt. Sie galten als Beleg für den „rein dokumentarischen" Wert der Schrift, als Zeugnis dafür, daß Sofroni seine Autobiographie gar nicht als ein „literarisches" Werk angesehen und ausgeführt hatte, daß sie im Zusammenhang mit seiner diplomatischen Aktivität in Rumänien lediglich eine Art Legitimation für bestimmte Behörden gewesen sei.25 Diesen Auffassungen kann nicht zugestimmt werden. Abgesehen davon, daß sie mit dem damaligen Literaturverständnis, das publizistische und dokumentarische Werke gegenüber schöngeistigen bevorzugte, regelrecht kollidieren, tragen sie dem Entwicklungsstand der neubulgarischen Prosa zu Sofronis Lebzeiten zu wenig Rechnung und führen weg von der Klärung ihrer Spezifik. Es wurde schon darauf verwiesen, daß Sofroni im Unterschied zu Obradovic keine fremdnationalen Muster nutzte. Er stützte sich nur auf Erfahrungen der ihm vorausgegangenen bulgarischen Literatur (einschließlich der in sie eingegangenen Folklore). Für sein Vorhaben kam außer der „Vita" auch die Familienchronik in Betracht, die in der Zeit vor (und auch nach) Sofroni eine wichtige Rolle für die Erhaltung des nationalen Bewußtseins spielte. Ein Vergleich der Autobiographie mit diesem im 18. Jahrhundert verbreiteten literarischen Genre zeigt, daß Sofroni ihm nicht nur im chronologischen und einsträngigen Aufbau folgte. Auch solche markanten Züge wie der Verzicht auf Fiktion, auf die Wiedergabe von ethnographischen Details und Naturbildern sowie die selbst bei Grausamkeiten verhalten und sachlich bleibende Erzählweise, die sich weder mit der Psyche der Figuren noch mit belehrenden Kommentaren abgibt, sondern voll und ganz auf eine bündige Schilderung von Geschehnissen und Taten konzentriert, legen Zeugnis dafür ab, in welch hohem Maße der Autor die Familienchronik tradierte. All das legt die Schlußfolgerung nahe, daß bei der frühen neubulgarischen Prosa, die sich weitgehend an das Herkömmliche anlehnte und sich fremden Literaturen noch nicht geöffnet hatte, die genremäßige und thematische Orientierung auf dokumentarisch25
autobiographische bzw. Memoirenwerke geradezu zwangsläufig erfolgen mußte. Im Unterschied zur mittelalterlich-religiösen Literatur, in der die Persönlichkeit des Autors völlig zurücktrat und der Wirklichkeitsbezug in der Regel schwach war, rückte jetzt das vom Verfasser Erlebte ins Zentrum der Gestaltung. Ausschlaggebend für das Verständnis der Spezifik dieser Entwicklung ist, daß das Autobiographische nicht bloß Ausdruck eines erwachten individuellen Bewußtseins war, das nach Selbsterkenntnis drängte. E s war gleichzeitig ein M i t t e l , das dem Autor Zugang zur Realität und zu aktuellen Fragen der Zeit ermöglichte. Mangels weiterer künstlerischer Erfahrungen konnte dieser Zugang kaum anders aussehen. Auch viele Besonderheiten der Poetik der frühen neubulgarischen Prosa hängen aufs engste mit ihrer begrenzten künstlerischen Erfahrung zusammen. D a s Festhalten am Authentischen und Dokumentarischen ergab sich aus der fehlenden Übung im Fabulieren und im Sujetaufbau, die strikte Wiedergabe von Geschehnissen und Taten war eine Folge dessen, daß der Autor die ästhetische Funktion der Milieubeschreibung und der Naturschilderung noch nicht erkannt hatte. Die künstlerischen Stärken der Autobiographie - die Episode und der Dialog - waren andererseits durch häufige Anwendung in vielen Genres der mittelalterlichen und folkloristischen Erzählliteratur (z. B. der Legende, der Predigt) zumindest vorbereitet, wenn nicht sogar bedingt. Die genremäßige und thematische Orientierung der neubulgarischen Prosa auf autobiographisch-dokumentarische Werke findet ihre Bestätigung auch im Schaffen des Geistlichen Neofit Bosweli (1785-1848). Der N a m e dieses ersten leidenschaftlichen Verfechters einer selbständigen bulgarischen Kirche wird literaturhistorisch allerdings primär mit der Einführung des Dialogs als eines neuen Genres der didaktisch-publizistischen Literatur in Verbindung gebracht. Bosweli betrieb dieses Genre nach dem Vorbild des altgriechischen Autors Lukian und machte es zu seinem beliebtesten literarischen Kampfmittel. E r setzte es wirkungsvoll ein als ätzende Satire auf die griechische Geistlichkeit, die er als die Hauptschuldige an der verzweifelten materiellen und geistigen Lage der Nation ansah. Zudem griff er jene bulgarischen Tschorbadshis 2 6 an, die sich von der eigenen Nationalität lossagten, um das Volk nicht weniger rücksichtslos auszubeuten als die fremden Herrscher. Seine Intentionen vermittelte Bosweli dem Leser über die Dialogpartner, die er als Personifikationen ohne individuelle Züge auf26
treten ließ. So erscheint z . B . im Dialog Matt Bolgarija (Mutter Bulgarien) die Mutter als eine Allegorie des seit Jahrhunderten unterjochten Volkes, das sich nun seiner Lage bewußt wird und nach Mitteln sucht, sich kulturell und sozial zu emanzipieren. Indessen verkörpert der Sohn den bulgarischen Aufklärer. Er weist die Mutter auf die Ursachen für ihr Elend hin und sieht in der Volksbildung und in der Durchführung kirchlicher Reformen seitens der türkischen Regierung den Ausweg aus der Misere. Von Belang für den Gegenstand unserer Betrachtungen ist, daß in solch universeller Gestalt eines Aufklärers Autobiographisches sehr wohl enthalten ist. Vieles, was der Sohn erläuternd der Mutter zu berichten weiß, erinnert an Erfahrungen, die Bosweli selbst als Mönch und Lehrer mit seinen Landsleuten, mit Vertretern der türkischen Macht und vor allem mit der von ihm befehdeten griechischen Geistlichkeit machen mußte. Dieses autobiographische Element gewinnt in Razgovor s edin besarabski bälgarin und Kratkoe nacertanie iizni svestennosluzitelja Nikolaja Dimcovica so viel Gewicht, daß es struktur- und genrebestimmend wird. In diesen zwei als Fragmente erhaltenen Werken vollzieht sich bei Bosweli der Übergang von einer didaktischen Darbietung seiner Ansichten und Beobachtungen zu deren Vermittlung in Form von eigenen Lebenserfahrungen bzw. als Lebenserfahrungen anderer Zeitgenossen, kurz - d e r Ü b e r g a n g v o n d e r P u b l i z i s t i k zur k ü n s t l e r i s c h e n M e m o i r e n p r o s a . Im Vergleich zu Sofroni wählte Bosweli kompliziertere Methoden der Erlebnisbeschreibung und erweiterte erheblich die Zielsetzungen der literarischen Gestaltung. In Razgovor s edin besarabski bälgarin werden z. B. Boswelis persönliche Erlebnisse insofern „objektiviert", als sie aus der Sicht des jungen bessarabischen Bulgaren geschildert sind, der gleichzeitig die Funktion des erzählenden Ichs übernimmt. Und in Kratkoe nacertanie zizni svestennosluzitelja Nikolaja Dimcovica dient das Autobiographische lediglich als Startbasis für die Lebensskizze eines anderen, durch Lern- und Wissensdrang geprägten jungen Mannes; dessen Schicksal gewinnt paradigmatische Bedeutung hinsichtlich der widrigen Umstände, unter denen sich eine Aufklärerpersönlichkeit in Bulgarien formte. Die Gestalt von Dimtschow erscheint aus heutiger Sicht als eine Antizipation des „positiven" Helden der Epoche, eines Typus, der erst in den sechziger und siebziger Jahren im Schaffen Drumews, Blaskows und Karawelows richtig ausgebildet wurde und in zahlreichen Modifikationen auftrat. 27
Die Prosa in den sechziger und siebziger Jabren des 19. Jahrhunderts Zeichneten sich die Ansätze der neubulgarischen Prosa durch eine enge Beziehung zur altbulgarischen und Damaskinenliteratur aus, so fällt bei den Werken der sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts (die viele Forscher als den eigentlichen Beginn der neubulgarischen Prosa betrachten) eine deutliche Erweiterung der Traditionsfelder auf. Die Autoren knüpften nun auch an Erfahrungen fremdnationaler Literaturen an, vor allem der westeuropäischen Sentimental- und Abenteuerliteratur sowie der russischen und ukrainischen kritisch-realistischen Literatur aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Zugleich wandten sie sich in einer direkten Weise, wie sie Sofroni und Bosweli noch nicht kannten, der narrativen Folklore zu. Diese in unterschiedliche Richtungen gehende Öffnung nach außen und das fast gleichzeitig erwachte starke Interesse für das Volksschaffen und das Nationale traten dabei oft mehr oder weniger verflochten in Erscheinung und bedingten eine eigenwillige Verschränkung von romantischen und realistischen Gestaltungsmitteln und -methoden. Sie ist für diese erste vollausgebildete Etappe der neubulgarischen Prosa charakteristisch und macht die Zuordnung der in dieser Zeit geschriebenen Werke zu den Hauptetappen der westeuropäischen Literaturentwicklung schwierig und problematisch. Das bedeutet freilich nicht, daß jegliche Unterscheidungen in dieser Hinsicht etwa vergeblich, daß in dieser Periode keine Werke mit bevorzugten Gestaltungsmitteln oder einem dominanten fremdliterarischen Bezug geschaffen worden wären. Bei Wassil Drumews Erstlingsbuch Nestastna familija (Unglückliche Familie) beispielsweise ist eine weitgehende Orientierung auf Muster romantisch-sentimentaler Prosa nicht zu übersehen, und Ljuben Karawelow, der sich u. a. am Schaffen Tschernyschewskis, Marko Wowtschoks oder Gogols schulte, schuf die Bücher Bälgari ot staro vreme (Bulgaren der alten Zeit) und Chadzi Nico (Chadshi Nitscbo), mit denen die kritischrealistische Linie der bulgarischen Prosa einsetzte. Prägend für das G e s a m t w e r k beider Autoren sind aber nicht in erster Linie diese methodisch profilierten Einzelwerke (so wichtig und traditionsbildend sie auch sein mögen), sondern der von Drumew wie Karawelow gleichermaßen praktizierte freie Umgang mit romantischen und realistischen Gestaltungselementen. Denn in keiner der nachfolgenden Perioden waren der funktionale Aspekt und die beab28
sichtigte breite Wirkung s o s e l b s t v e r s t ä n d l i c h ausschlaggebend für die Wahl der angewandten Mittel wie im Fall dieser beiden Autoren, die sich noch nicht nach dem formästhetischen oder stiltypologischen Kanon verfestigter nationaler Traditionslinien zu richten brauchten. Ein weiteres Spezifikum der Anfangsphase der neubulgarischen Prosa ist, daß diese ausgeprägte gestalterische „Freizügigkeit" keineswegs von einer genremäßigen Vielfalt der Gattung begleitet wurde. Im Gegenteil: Fast alle in den sechziger und siebziger Jahren entstandenen Erzählwerke tendieren - völlig unabhängig von ihrem zum Teil recht unterschiedlichen Ideengehalt - hinsichtlich des Umfanges des dargestellten Wirklichkeitsausschnittes und der Art der Materialorganisierung zu ein und derselben Prosaform, der P o w e s t. Durch welche inner- und außerliterarischen Faktoren wurde diese Genre-Profilierung der Anfangsetappe der neubulgarischen Prosa bedingt? Zu welchen gestalterischen und strukturellen Ergebnissen führte die Verarbeitung der einzelnen Traditionsfelder und Erfahrungen, und mit welchen thematischen Schwerpunkten und ideellen Intentionen war dieser Prozeß verknüpft?
Der „transplantierte"
Strang der neubulgarischen
Prosa
Wie erwähnt, vermochte sich bis zu den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts lediglich die neubulgarische Lyrik einigermaßen zu entfalten und zur Wirkung zu gelangen. In dieser Zeit entstanden erste Poeme, lyrische Gedichte und Revolutionslieder, die sich meist stark an die Folklore anlehnten. Doch ihr Anteil am gesamten literarischen Leben in Bulgarien war noch gering. Dieses wurde bis zum Krimkrieg weitestgehend von publizistisch-didaktischen Werken (wie Einleitungen in Schulbüchern oder Abhandlungen über moralischreligiöse, pädagogische und allgemeinbildende Fragen), von Sammelbänden mit erbaulich-religiösem Charakter wie dem Kalendar za leto 1843 (Kalender für das ]ahr 1843) von K. Ognjanowitsch (eine Art von Volksbuch, das die Tradition der Damaskinenliteratur weiterführte) und in zunehmendem Maße von Übersetzungen ausländischer schöngeistiger Literatur bestimmt. Die Anzahl der Übersetzungen wuchs um die Mitte des 19. Jahrhunderts rapide, als die ersten bulgarischen Verlage 27 gegründet werden konnten. (Bis 1838 29
wurden lediglich 33 Bücher in bulgarischer Sprache gedruckt, die alle im Ausland - in Österreich, Serbien oder Rumänien - verlegt wurden, da die türkische Regierung und besonders die griechische Kirche die Veröffentlichungen bulgarischer Bücher im osmanischen Reich so lange wirksam zu verhindern wußte.) Zugleich hatte sich mit der Umgestaltung und dem Ausbau des Bildungswesens auf weltlicher Grundlage (bis 1835 war die Ausbildung in Bulgarien lediglich auf die Belange der Kirche ausgerichtet und erfolgte in „Zellenschulen" der Klöster) der Kreis kultureller Bedürfnisse und ihrer Träger wesentlich erweitert. Über den Charakter und das ästhetische Niveau der neuen Bedürfnisse legen die ins Bulgarische übertragenen ausländischen Werke ein beredtes Zeugnis ab. Bis Anfang der sechziger Jahre, als die ersten bulgarischen Powesti entstanden, wurde kaum Weltliteratur von Rang übersetzt. Gefragt waren nicht etwa Shakespeare, Goethe, Stendhal, Balzac, Puschkin oder Gogol. Das Interesse galt zunächst fast ausschließlich leicht verständlichen, religiös-erbaulichen und moralisierenden Werken (z. B. Benjamin Franklins Der Kalender des armen Richard, bulg. 1837), auf die der Leser durch die Damaskinenliteratur vorbereitet war, sowie spannenden Abenteuerromanen (z. B. Robinson Crusoe von Daniel Defoe, bulg. 1837, 1848 und 1858, oder Die Abenteuer des Telemachus von François Fénelon, bulg. 1845). Diese Bücher hatten einen hohen Unterhaltungswert, und sie behandelten Fragen wie die bürgerliche „Idealgestalt" oder den „aufgeklärten" Monarchen, die damals in Zusammenhang mit dem Emanzipationskampf der jungen bürgerlichen Klasse auch in Bulgarien an Bedeutung gewannen. In den fünfziger Jahren traten diese zwei Rezeptionstrends - jeweils mit der moralisierenden und mit der unterhaltend-abenteuerlichen Dominante - in enger Verbindung auf, und zwar bei starker Hinwendung zu Vertretern der europäischen sentimental-romantischen Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wie Christoph von Schmid, N. M. Karamsin, Bernardin de Saint-Pierre und Eugène Sue. Besonders großer Popularität erfreute sich - mit etwa 60 bis 1878 übersetzten Werken - Christoph von Schmid, ein Epigone der „empfindsamen" deutschen Literatur, der mit trivialisierten romantischen Mitteln christliche Tugenden predigte und zugleich die rückständigen Gesellschaftsverhältnisse in Deutschland Anfang/Mitte des 19. Jahrhunderts idealisierte. 28 Sehr beliebt war z. B. eine dramatisierte Fassung der Schmidschen rührseligen Er30
Zählung Genoveva, die zu den ersten Inszenierungen in Bulgarien überhaupt zählte. Sie konnte allerdings über die religiös-moralisierende Intention des Autors hinaus insofern einen aktuellen Bezug erhalten, als sie dem bulgarischen Publikum die Möglichkeit bot, sich mit dem Schicksal einer leidgeprüften Gräfin zu identifizieren, und so seine Hoffnungen bestärkte, daß auch ihm eines Tages Recht und Gerechtigkeit beschieden sein würden. Daß das Stück als Mittel zu diesem Zweck nichts anderes als demütiges Dulden und Gottvertrauen suggerierte, es künstlerisch äußerst simpel und trotzdem sehr erfolgreich war, wird erst verständlich, wenn man die D y n a m i k des historischen und des literarischen Prozesses (das Durchlaufen verschiedener Etappen mit unterschiedlich dominierenden Aufgabenstellungen) in dieser Periode sowie dessen i n n e r e D i f f e r e n z i e r t h e i t (hinsichtlich der Interessen, der Endziele und der Kampfmethoden der an ihm beteiligten gesellschaftlichen Kräfte) bedenkt. Schmid und die ganze sentimental-romantische Rezeptionslinie in der bulgarischen Literatur der Wiedergeburt befriedigten weder „allgemeine" und aktuelle, noch für alle Leserschichten typische Bedürfnisse. Die führende Stellung dieser Rezeptionslinie im bulgarischen Literaturprozeß zwischen den vierziger und den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde dadurch bedingt, daß 1. nicht etwa organisierte revolutionäre Aktionen bestimmend waren, sondern die hauptsächlich mit legalen Mitteln geführten Kämpfe um eine unabhängige bulgarische Kirche, die alle Richtungen der nationalen Befreiungsbewegung vereinten; 2. erst die Grundlagen des Bildungswesens im Lande gelegt wurden, so daß die Zahl der Leseund Schreibkundigen zwar schnell zunahm, das Niveau ihrer Ausbildung aber zunächst relativ niedrig blieb, woraus ein ideell und ästhetisch meist noch nicht entwickelter literarischer Geschmack resultierte, und 3. sich die neubulgarische Literatur von ihren „synkretistisch"-publizistischen Formen gerade erst zu lösen begann und für Einflüsse und Erfahrungen ausländischer Literaturen, die diesen Prozeß förderten, auffällig aufgeschlossen war. Es stand also durchaus in Einklang mit diesem Entwicklungsgrad der neubulgarischen Literatur (und widersprach nicht den Zielsetzungen der nationalen Befreiungsbewegung in dieser Zeit), wenn in den vierziger und fünfziger Jahren neben der didaktischen Funktion (die mindestens bis 1878 dominierte) auch der Unterhaltungswert sowie der „packende" emotionale Gehalt des übersetzten (und bald darauf auch des originalen) Werkes große Bedeutung besaß 31
ein Trend, dem Schmids, Karamsins oder Sues Schaffen weitgehend entsprach. Denn darin äußerte sich nicht allein eine Annäherung bzw. Anpassung an den niedrigen ästhetischen Erwartungshorizont und den für Gefühlsbildung besonders empfänglichen „Zeitgeschmack" des Publikums. Hier kam auch das gesetzmäßige Bestreben der sich konstituierenden schöngeistigen neubulgarischen Literatur zum Ausdruck, sich (vorläufig durch entsprechende Übersetzungswerke) von den bevorzugt „trocken"-rationalen Wirkungsformen der Publizistik abzugrenzen und ihre spezifischen Möglichkeiten zu erproben. Dafür nahm man in diesen Jahrzehnten, in denen es weder eine profilierte bulgarische Literaturkritik noch literarische Gruppierungen gab, die in einen Meinungsstreit über prinzipielle Fragen hätten treten können, den Ideengehalt des übersetzten Werkes noch nicht so genau, und Fragen der künstlerischen Methode oder der ästhetischen Qualität blieben meist unbeachtet. Gefördert wurde die Anspruchslosigkeit gegenüber Ideengehalt und Qualität der übersetzten Werke nicht zuletzt durch die Praxis der „Bulgarisierung": Da der rezipierten ausländischen Literatur eine „Ersatzfunktion" für die noch fehlenden bulgarischen Originalwerke überantwortet wurde, pflegte man die zu diesem Zwecke ausgewählten Bücher den Erwartungen des bulgarischen Lesers durch eine freie Übertragung anzupassen. „Bulgarisierte" Prosa als aktualisierte ausländische Literaturerfahrung wurde dabei durch entsprechende Eingriffe in das Sujet, durch Verlegung der Handlung nach Bulgarien oder Nutzung von Folklorematerial oft derart 29 von bulgarischen Erfahrungswerten „durchsetzt", daß sie den Charakter einer Zwischenstufe erhielt, die der Entstehung eines bestimmten Typs von Originalwerken unmittelbar vorauslag. In der neueren bulgarischen Literaturgeschichtsschreibung werden diese Originalwerke in Abgrenzung von denjenigen, die stärker an Sofroni und insbesondere an die Folklore anknüpften, dem „transplantierten" oder „nichtorganischen" Strang im Konstituierungsprozeß der neubulgarischen Prosa zugeordnet. 30 Zu ihm gehören die Erstlingspowesti von Wassil Drumew und Ilija Blaskow: Nestastna familija (1860) und Izgubena Stanka (Die entführte Stanka; 1865). Was ist für diese Powesti charakteristisch? Wertvolle Hinweise über die Absichten beider Autoren sind zunächst in den Vorworten der Werke enthalten. Literarische Tätigkeit wird darin vor allem als ein Mittel begriffen, sich der Nation n ü t z l i c h z u m a c h e n und damit zur Bildung und Erziehung des bulgarischen Volkes bei32
zutragen. Das Originalwerk kann nach Drumews Selbstverständnis diese Aufgaben besser als ein übersetztes erfüllen, da es aus der bulgarischen Wirklichkeit, aus dem Leben unmittelbar schöpft, während im fremdliterarischen das fiktive Element vorherrscht.31 Damit wollte Drumew keineswegs die Fiktion abwerten. Es ging ihm darum, ein weiteres, für alle Autoren der Wiedergeburt verbindliches Anliegen zu reflektieren: Literatur hatte den Leser nicht nur allgemein zu bilden und zu bürgerlichen Tugenden zu erziehen, sondern ihn auch mit den konkreten Lebensbedingungen in Bulgarien, mit den aktuellen Problemen der Nation bekannt zu machen, eine Leistung, die auch die kühnste freie Übersetzung ausländischer Werke nicht oder nur ansatzweise vollbringen konnte. In der Art und Weise, wie dieses literarische Funktionsverständnis realisiert wurde, läßt sich bei Drumew und Blaskow viel Gemeinsames feststellen, und zwar von der Materialwahl bis zu Fabelaufbau und der Figurenzeichnung. So orientierten sich z. B. beide Autoren auf solche Phasen der allerjüngsten Vergangenheit, die für das bulgarische Volk zusätzliche Belastungen enthielten und deshalb für die Veranschaulichung der politischen und sozialen Misere in besonderem Maße geeignet waren; das betraf die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, die durch die Selbständigkeitsbestrebungen der Paschas und der Janitscharentruppen32 sowie die Raubzüge der Kyrdshali geprägt waren, und die Zeit des Krimkrieges (um 1854), als die vor den russischen Truppen flüchtenden Tatarenhorden in Nordost-Bulgarien weite Gebiete verheerten. Diese Stoffwahl steht in Einklang mit dem thematischen Schwerpunkt beider Werke und mit dem Bestreben der Autoren, den zunehmenden Verfall des osmanischen Reiches sowie die dadurch vermehrten Leiden des bulgarischen Volkes aufzuzeigen. Drumew wie Blaskow gehen den gleichen Weg, um diese Leiden zu exemplifizieren. In Nestastna familija sterben drei Brüder samt ihren Frauen und erwachsenen Kindern eines gewaltsamen Todes - alle als Opfer der Rachsucht eines Janitscharenanführers - , und in Izgubena Stanka zerstören die Tataren die Existenzgrundlage und das Familienglück des Großvaters Iwan. Im einen wie im anderen Werk erscheint der Bulgare als ein weder vom Sultan noch von der griechischen kirchlichen Obrigkeit geschütztes Objekt für Mordanschläge und Raubzüge; in beiden Fällen muß er versuchen, mit den Widrigkeiten seines entrechteten Daseins allein fertig zu werden. Große Gemeinsamkeiten weisen die zwei Powesti auch in bezug 3
Witschew, Bulg. Prosa
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auf Erzählweise, Fabelaufbau und Figurengestaltung auf. Hier vor allem macht sich die Anlehnung Drumews und Blaskows an die französische und deutsche sentimental-romantische und Abenteuerliteratur Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts bemerkbar. Es ist allerdings zu bedenken, daß der bulgarische Leser für diese „Transplantation" durch die Übersetzungen weitestgehend vorbereitet, daß er für die Poetik der sentimental-romantischen Literatur besonders empfänglich geworden und folglich über sie am sichersten anzusprechen war. Von dieser wirkungsästhetischen Seite aus gesehen, weist die „transplantierte" oder „nicht organische" Linie kaum geringere Traditionsbeziehungen auf als die „organische", so daß diese Bezeichnungen keineswegs wortwörtlich, sondern lediglich als Arbeitsbegriffe zu verstehen sind. Um die Übernahme welcher fremdliterarischen Erfahrungen handelte es sich? In puncto Erzählweise ging es um die Anwendung der gestaltlosen Erzählinstanz. Waren die Ansätze der neubulgarischen Prosa ausschließlich mit der Ich-Erzählung verbunden, so führten Drumew und Blaskow als erste eine vom Objekt der Darstellung distanzierende Erzählhaltung ein. Dabei waren beide Autoren nicht weniger als ihre Vorgänger daran interessiert, den Eindruck einer Authentizität des Geschilderten zu erwecken, wovon z. B. die topographisch präzisen Beschreibungen von Landschaften oder jene wenigen Textstellen zeugen, in denen auf die gewählte objektive Erzählinstanz verzichtet wird, um durch sparsame Autorenkommentare das Geschehen zeitlich genau zu fixieren. 33 (Solche Funktion erfüllt auch der Untertitel der Powest Izgubena Stanka: „Eine Geschichte aus den Nöten der Bulgaren während des Krimkrieges".) Nicht der Verzicht auf ein glaubwürdiges Erzählen konnte also diese neue Haltung bedingen; sie ist ganz eindeutig mit bestimmten Elementen der romantisch-abenteuerlichen und sensationellen Prosa eines Sue oder Schmid verbunden, die der Erhöhung der Spannung der Handlung dienten und deren Realisierung ein Zurücktreten des Autors erforderte: nämlich mit dem Geheimnisvollen und Rätselhaften, mit plötzlichen, zufälligen und unerwarteten Wendungen im Geschehen. So fragwürdig der ästhetische Wert dieser Elemente erscheinen mag, die besonders bei Drumew fast den ganzen Handlungsablauf bestimmen - sie haben in hohem Maße dazu beigetragen, daß die neubulgarische Prosa ihre ersten Schritte beim Aufbau einer komplizierteren Fabel machen konnte, einer Fabel, die dem streng chronologisch-biographischen Kompositionsprinzip der Werke Sofro34
nis oder Boswelis nicht mehr verpflichtet war und somit für die Erkundung der Wirklichkeit, für Figurengestaltung oder künstlerische Verallgemeinerung vielfältige neue Möglichkeiten eröffnete. Die Ergebnisse in dieser Richtung waren allerdings sowohl in Nestastna Familija als auch in Izgubena Statika noch recht bescheiden. Das betrifft vor allem die Figurenzeichnung. Wie bei Sue oder Schmid, die auf Drumew und Blaskow am stärksten eingewirkt haben,34 sind die Gestalten ohne Zwischenstufen in „positive" und „negative" eingeteilt, und jeder Versuch, sie darüber hinaus näher zu charakterisieren, erweist sich als schwierig. Alle Janitscharen und Kyrdshali sind grausame Bösewichte, die griechischen Geistlichen heuchlerisch und nur auf den eigenen Vorteil bedacht, die Bulgaren dagegen lieben alle ihre Heimat, sie verteidigen ihre Familie, sind tapfer, aufrichtig und gerecht. Es gibt so gut wie keine Individualisierung. Die Autoren widmen ihre Aufmerksamkeit ganz der Handlung, für sie ist der Konflikt, das tragische Geschehen und nicht die Plastizität und Lebensfülle der Figuren wichtig. Sosehr ein solches Verfahren aus heutiger Sicht als künstlerische Schwäche erscheinen mag - in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als mit der Entfaltung der nationalen Befreiungsbewegung klare Fronten notwendig wurden und als die Literatur den noch wenig gebildeten Leser emotional am wirksamsten beeinflussen konnte, war diese elementare Figurenzeichnung nicht nur durchaus zeitgemäß, sondern bedingte den großen Erfolg der Werke geradezu. Denn die Einteilung der Figuren in „gute" und „böse", ein Kunstgriff, der bei Sue oder Schmid zu einer eindringlichen Konfrontation moralisch-ethischer Gegensätze diente, erhielt in den ersten Powesti Drumews und Blaskows durch die entsptechende nationale bzw. konfessionelle Zugehörigkeit der Kontrahenten zusätzlich einen a k t u e l l e n p o l i t i s c h e n S i n n , der trotz aller Loyalitätsbekundungen der Autoren dem Sultan und seiner Regierung gegenüber (die Bücher wurden in Bulgarien verlegt und vertrieben) seine mobilisierende Wirkung auf das Publikum nicht verfehlte. An dieser Stelle ist eine genauere Bestimmung der mobilisierenden Wirkungspotenzen der Powesti Drumews und Blaskows erforderlich, weil gerade in diesem Punkt eine klare Abgrenzung von den Werken Karawelows nicht selten ausbleibt - eine Unterlassung, die gelegentlich zur weitgehenden Nivellierung des u n t e r s c h i e d l i c h a k z e n t u i e r t e n I d e e n g e h a l t s der in der Wiedergeburt entstandenen Prosa führt. 35 Dabei liegen die Unter3»
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scheidungskriterien klar auf der H a n d : der von den Autoren angedeutete Weg, welcher aus der nationalen Misere herausführen soll, sowie die Vorstellung vom „positiven" Helden der Epoche. In Übereinstimmung mit ihren aufklärerisch-evolutionistischen Auffassungen, die das Erscheinen der beiden Powesti in Bulgarien möglich machten, orientierten sich Drumew und Blaskow auf die Abbildung solcher Wirklichkeitsausschnitte, in denen die Konflikte nicht aus dem organisierten revolutionären Kampf erwuchsen (obwohl er in der Tätigkeit Georgi Rakowskis schon zur Theorie und Praxis der nationalen Befreiungsbewegung gehörte), sondern aus der spontanen Rebellion. Bezeichnend für die ideellen Positionen der Autoren ist außerdem, daß diese Rebellion einen persönlichen Charakter hatte und nicht etwa gegen die Machtorgane des Sultans, sondern gegen Kyrdshali, Janitscharen oder Tataren gerichtet war. Sie meinte einen Personenkreis, der in irgendeiner Form mit dem Gesetz im osmanischen Reich kollidierte und somit den gegen ihn eingeleiteten Widerstand sozusagen legitimierte. Auf einem anderen, gesellschaftlich höheren Niveau steht nur der Kampf, den W l a d i bei Drumew bzw. Shelju und Nikola bei Blaskow führen, da sie nicht (oder nicht allein) wegen eines ihnen persönlich zugefügten Leides, sondern aus Solidaritätsgefühl mit gefährdeten und hilfsbedürftigen Landsleuten zur W a f f e greifen. Sie nähern sich damit dem Haiduckentum in der Geschichte des bulgarischen nationalen Widerstands, das sich in spontanen Vergeltungs- und Rettungsaktionen äußerte, jedoch - so hilfreich es manchmal für die Landbevölkerung war - kaum an den Grundlagen der türkischen Herrschaft rütteln konnte und angesichts des Beginns einer organisierten nationalen Befreiungsbewegung historisch bereits überholt war. Hinzu kommt, daß z. B. Blaskows Haltung zu diesen Figuren merklich distanziert ist - Shelju läßt sich für seine Hilfe bei der Rettung der entführten Stanka bezahlen, er und Nicola haben eine „dunkle" Vergangenheit, d. h. gelegentliche Zusammenstöße mit dem Gesetz hinter sich, beide werden in dieser Hinsicht „rückfällig" (Beraubung von reichen Bürgern) und müssen dafür büßen. Auch stehen nicht sie im Mittelpunkt der Handlung, nicht ihnen gilt das Interesse und die Anteilnahme des Autors, sondern den vom Unglück getroffenen Familienangehörigen des Großvaters Iwan. Im Unterschied zu Shelju und Nikola genießt W l a d i zwar die Sympathie Drumews und überlebt als einziger aus den drei Fami36
lien den ungleichen Kampf mit dem Janitscharenanführer Dshamal Bei, doch er bleibt nicht deshalb am Leben, damit er sich auf wirksamere Methoden des Kampfes für seine Landsleute besinnt. Nachdem durch „Gottes gerechte Hand" Dshamal Bei für seine Greueltaten büßt - er verunglückt ganz im Stil der didaktisch orientierten, sentimental-romantischen Literatur im Moment seines Triumphes, bei der Hinrichtung der Familie von Wladis Onkel - , läßt Drumew seinen Helden resignieren und schließt damit das Werk ab. Berücksichtigt man all das, so wird offenkundig, daß es Drumew und Blaskow bei der Gestaltung der Widerstands- und Rettungsaktionen in den Powesti (sosehr sie dadurch das nationale Selbstbewußtsein des Lesers sowie die Zuversicht in seine eigene Kraft förderten) nicht daran lag, den Kampf als d a s Mittel für die Besserung der Lage des bulgarischen Volkes zu propagieren. In Einklang mit der reformerischen (bei Blaskow auch mit patriarchalischkonservativen Elementen verflochtenen36) Ideologie zielten ihre Intentionen vielmehr darauf ab, die Notwendigkeit von Maßnahmen seitens der osmanischen Regierung zu begründen, die die Verwirklichung der im Hatt-i-Scherif (1839) und Hatt-i-Humajun (1858) verkündeten Rechte und Sicherheiten37 auch für die nichtislamische Bevölkerung im Reiche gewährleisten sollten, Maßnahmen, die keine „unglücklichen Familien" der Bulgaren künftig zulassen sollten. Unversöhnlich und kompromißlos ist die Haltung Drumews und Blaskows lediglich in bezug auf die griechischen kirchlichen Würdenträger. Die Mittlerstellung, die sie zwischen christlichen Bittstellern und osmanischen Behörden innehatten, wird angesichts ihrer sprichwörtlichen Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden und Problemen der bulgarischen Bevölkerung überzeugend kritisiert. Hier macht sich das Engagement der Autoren für eine unabhängige nationale Kirche und die damit verbundene Anerkennung der Existenz der bulgarischen Nation durch den Sultan deutlich bemerkbar. In puncto „positiver Held" der Epoche wäre noch zu ergänzen, daß Drumews Wladi schon seit langem Vorgänger in der Folklore hatte. In der neubulgarischen Literatur tauchte der Haiducke zuerst in den revolutionären Liedern Dobri Tschintulows und im Poem Gorski pätnik (Der Waldwanderer) von Rakowski auf. Er ist insofern keine „Entdeckung" Drumews, dem Autor gebührt aber das Verdienst, ihn als erster38 in einem Prosawerk gestaltet zu haben. Genauer gesagt: Er hat es versucht. Denn gerade diese Figur ist ihm 37
wenig geglückt. Nicht nur, weil Wladi kaum individualisiert ist das trifft auf alle Figuren in Unglückliche Familie zu. Drumew mißlingt auch die Typisierung, weil er Wladi von den anderen, nach ein und derselben Schablone gezeichneten „positiven" Figuren nicht durch entsprechende Züge abzuheben vermag. Er läßt ihn z. B. genau so oft weinen und sein schweres Los beklagen wie alle anderen Familienmitglieder - eine rührselige Haltung, die mit den Vorstellungen von einem Haiducken, so wie er im Bewußtsein des Volkes (in der Folklore) oder schon in den Anfängen der neubulgarischen revolutionären Lyrik lebte, nicht übereinstimmte. Drumews Anlehnung an den ausländischen Sentimentalismus erwies sich hier als hemmend und unproduktiv. Sie hinderte ihn an einer „wahrhaftigen" und ästhetisch treffenden Gestaltung. Das Gesagte gilt im wesentlichen auch für Blaskows Gestaltungsweise, allerdings mit der Einschränkung, daß seine „positiven" Figuren etwas weniger larmoyant sind und er selbst - was wichtig ist dem Milieu, in dem sie agieren, mehr Aufmerksamkeit schenkt. Das hängt damit zusammen, daß sich Blaskow stärker als Drumew von der Folklore anregen ließ. Bezeichnend dafür ist, daß ein Volkslied wichtige Elemente für das Sujet in Izgubena Stanka lieferte, das Blaskow als Anlage zu seinem Werk mit veröffentlichte. So unbeholfen und sentimental-romantisch diese Berührungen mit der Folklore auch erscheinen mögen, sie erhöhten spürbar die „Lebensnähe" des Geschilderten und verliehen ihm einen Bezug zum Schaffen Karawelows, dessen bedeutendste Leistungen u. a. seiner Nähe zum Volksschaffen zu verdanken waren.
Von der Folklore
%ur realistisch-publizistischen Ljuben Karawelow
Er^ählkunst.
Veranschaulichen die Erstlingswerke von Drumew und Blaskow 39 den Einfluß der sentimental-romantischen Übersetzungsliteratur auf die Herausbildung der neubulgarischen Prosa, so ist Ljuben Karawelows Belletristik ein Zeugnis dafür, in welch hohem und entscheidendem Maße dieser Prozeß gleichzeitig durch die schöpferische Anlehnung an die Folklore und durch die vielfältigen Impulse, die von der russischen bzw. ukrainischen kritisch-realistischen und vor allem revolutionär-demokratischen Literatur ausgingen, bestimmt wurde. 38
Als Karawelow in den sechziger und siebziger Jahren die Folklore für die neubulgarische Prosa produktiv zu machen vermochte, konnte er die Erfahrungen der Lyriker Naiden Gerow, Petko Slawejkow, Dobri Tschintulow und Georgi S. Rakowski verwerten, die als erste in der neubulgarischen Literatur die Volkspoesie als Quelle dichterischen Schaffens erkannt und genutzt hatten. Das geschah in den vierziger und fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Bis zu dieser Zeit grenzte sich die auf publizistisch-didaktische Bildung und Erziehung orientierte neubulgarische Literatur noch bewußt von der Folklore ab, wovon z. B. auch die ersten, noch sehr unbeholfenen, nach klassizistischen Mustern unternommenen Lyrikversuche von Dimitar Popski oder Neofit Rilski zeugen. 4 0 Erst nachdem in den zwanziger und dreißiger Jahren ausländische Gelehrte wie der Serbe Vuk Karadzic oder der Russe Jurij Wenelin im Rahmen ihrer philosophischen und slawophilen Aktivitäten auch bulgarische Volkslieder gesammelt und veröffentlicht hatten, womit sie in Westeuropa und Rußland Interesse für das bulgarische Volk weckten, und nachdem Wassil Aprilow und andere Bulgaren ihrem Beispiel gefolgt waren, wurde den bulgarischen Literaturschaffenden - zumal sie sich selbst an der Erschließung der Volksüberlieferung beteiligten - zunehmend klar, welch große Möglichkeiten die Folklore nicht nur für slawophile Ideen und Bestrebungen oder für die Stärkung des nationalen Bewußtseins, sondern auch für die Entwicklung der Poetik bot. Ein intensives Verhältnis zur Folklore gewann Karawelow während seines Aufenthaltes in Moskau zwischen 1857 und 1867. Diese Zeit war für die Formierung seiner weltanschaulichen und ästhetischen Positionen entscheidend. W i e viele junge Bulgaren nach dem Krimkrieg begab er sich - da es in seiner Heimat noch keine Fachund Hochschulen gab - nach Rußland, um seine Ausbildung fortzusetzen. Karawelow wollte Offizier werden, doch die Umstände und die geistige und politische Atmosphäre in Rußland gegen Ende der fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre lenkten seine Entwicklung in eine andere Richtung. Statt die Militärschule in Odessa zu besuchen, hörte er einige Jahre Vorlesungen an der Historisch-Philologischen Fakultät der Moskauer Universität. Zugleich erweiterte er durch Selbststudium seine Kenntnisse in den Naturwissenschaften. Ausschlaggebend für die Ausbildung seiner Persönlichkeit war aber die Anteilnahme an den lebhaften politischen, philosophischen und literaturkritischen Kontroversen in der russischen Öffentlichkeit, die 39
den Kampf der fortschrittlichen russischen Intelligenz gegen das reaktionäre zaristische Regime kennzeichneten. Dieser Kampf führte 1861 zur Aufhebung der Leibeigenschaft. Karawelow lernte viel aus diesen Auseinandersetzungen und wurde ein überzeugter Anhänger der russischen revolutionären Demokraten. Unter ihrem Einfluß gelangte er zu einem Literaturverständnis, dem nicht nur eine materialistische Auffassung vom Verhältnis der Kunst zur Wirklichkeit und die Uberzeugung von ihrer aktiven, verändernden Rolle zugrunde lag, sondern dem auch jede nationale Einengung fremd war. D i e gesellschaftliche Mission des Schriftstellers sollte sich nicht darin erschöpfen, nationale Fragen aufzugreifen, sondern sie auch mit sozialen und allgemeinmenschlichen Anliegen zu verbinden. Doch zunächst widmete sich Karawelow der slawischen Philologie und speziell der Ethnographie einschließlich der Folklore. D a n k der gerade zu dieser Zeit erstarkten slawophilen Bewegung in Rußland waren die Bedingungen für eine Beschäftigung mit diesen Dingen sehr günstig, und Karawelow, der eine Zeitlang vom Russischen Slawistischen Wohltätigkeitskomitee 4 1 materiell unterstützt wurde, nutzte dies, um die russische Öffentlichkeit in einem 1861 erschienenen Band mit bulgarischen Sprichwörtern und Legenden sowie mit heimatlichen Sitten und Bräuchen auf seine Nation und deren Schicksal aufmerksam zu machen/' 2 D i e Kontakte Karawelows zu den russischen Slawophilen bedeuteten allerdings nicht, daß er ihre Ansichten unkritisch teilte. So sehr ihn die Idee der slawischen Wechselseitigkeit anzog und er am Interesse der Slawophilen für das Volksleben und seine Traditionen partizipierte - er distanzierte sich von jenen konservativ-reaktionären Tendenzen in dieser Bewegung, die einerseits die patriarchalische Vergangenheit der russischen Bauern idealisierten und mythisierten, andererseits die „slawische Einheit" unter der Hegemonie Rußlands erstrebten. Hierin folgte er dem Beispiel Belinskis, der in seiner Polemik gegen die Slawophilen eine „Verbesserung der Sitten" und der gesellschaftlichen Verhältnisse nach „alten Mustern", d. h. durch eine Rückkehr zum Pietismus und Mystizismus, entschieden ablehnte und die Zukunft Rußlands nur in Verbindung mit Begriffen wie Zivilisation, Bildung und Humanität erblickte. Ebenso wurde ihm Herzen zum Vorbild, der wiederholt für ein vom zaristischen Rußland unabhängiges Polen eintrat und die auf Assimilierung und Unterdrückung anderer Nationalitäten gerichtete Innenpolitik der zaristischen Regierung entlarvte. Außerordentlich bedeutungsvoll für
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Karawelows spätere nationalrevolutionäre Tätigkeit war namentlich Tschernyschewskis Haltung zur populären slawophilen These von der „historischen Mission" Rußlands, die eine Befreiung der von Deutschen, Ungarn und Türken unterdrückten slawischen Völker beinhaltete. In Anbetracht des antidemokratischen Regimes in Rußland und seiner imperialistischen, reaktionären Außenpolitik, die es zum Gendarmen jeder revolutionären Bewegung in Europa machte, warnte der russische Schriftsteller die Völker vor der panslawistischen Idee, weil sie eine Gefahr für ihre Freiheit und Unabhängigkeit bedeutete, und riet ihnen, sich auf ihre eigene revolutionäre Kraft zu verlassen. Es liegt auf der Hand, daß diese demokratische Orientierung Karawelows zu Spannungen mit dem slawophilen Slawistischen Wohltätigkeitskomitee in Moskau, in dem damals I. S. Aksakow den Ton angab, führen mußte. Das Komitee zog 1862/63 die Konsequenzen. Von da an mußte sich Karawelow allein um seinen Lebensunterhalt bemühen. Dies hatte zur Folge, daß er die Arbeit an zwei weiteren Sammelbänden mit ethnographischen und folkloristischen Materialien aus Bulgarien unterbrach und sich ganz auf die publizistische und schriftstellerische Tätigkeit konzentrierte. Er ordnete sie dem Ziel unter, Sympathien für die Sache des bulgarischen Volkes zu wecken, indem er die russische Öffentlichkeit über dessen Sitten, miserable Existenzbedingungen und über aktuelle Bestrebungen - wie die Lösung der Kirchenfrage und die Bereitschaft, gegen die Unterdrückung zu kämpfen - unterrichtete, die die Bulgaren liebenswert machten und beim fortschrittlichen Leser Solidaritätsgefühle hervorriefen. Die während der Moskauer Periode entstandenen Prosawerke Karawelows stellen den Beginn seines umfangreichen belletristischen Schaffens dar. Obwohl russisch geschrieben und zunächst für ein ausländisches Publikum bestimmt, sind sie - überdies von Karawelow selbst einige Jahre später ins Bulgarische übersetzt - ein u n t r e n n b a r e r T e i l des Konstituierungsprozesses der neubulgarischen Prosa/'3 Schon ein flüchtiger Vergleich der Powest Nestastna familija Drumews mit der gleichfalls 1860 veröffentlichten ersten Powest von Karawelow, Vojvoda (Der Woiwode), zeigt, daß beide Autoren nicht nur von unterschiedlichen ideell-politischen Standpunkten an das gleiche zentrale Thema - die Lage des bulgarischen Volkes im osmanischen Reich - herangingen, sondern bei der literarischen Um41
Setzung aus verschiedenen Quellen schöpften. Im Unterschied zu Drumew sprach sich Karawelow hier offen für einen bewaffneten Widerstand gegen die Unterdrücker aus. Er entlarvte den illusorischen Charakter der im Hatt-i-Humajun versprochenen Rechte der Bulgaren, die nie verwirklicht wurden, führte - als erster - in die neubulgarische Prosa den Haiducken als den b e w u ß t e n u n d o r g a n i s i e r t e n Repräsentanten des nationalen Kampfes ein und sahinderFolkloredasunmittelbareVorbildfür s e i n W e r k . Die poetologische Anlehnung an die Folklore ist in mancher Hinsicht so unvermittelt und stark, daß einige Forscher von einem „Abhängigkeitsverhältnis", ja von einem „Kopieren" der Volkspoesie sprechen.44 Diese Ansicht trifft aber nur auf wenige frühe Prosawerke Karawelows (vor allem auf seine Haiduckenpowesti) zu. Dabei übernahm der Autor nicht schematisch die von der Folklore vorgegebenen Muster, sondern scheute sich zunächst, sie wesentlich abzuwandeln, denn er glaubte, so am wahrhaftigsten das Leben des Volkes zu erfassen. Das äußert sich z. B. in dem zuweilen sehr breiten Raum, der dem Milieu und dem ethnographischen Detail im Text überlassen wird, in der volkstümlichen Sprache, aber auch in der Art der künstlerischen Verallgemeinerung,45 in der Gestaltung der Figuren (aus wenigen typisierenden, gewöhnlich romantisch überhöhten Zügen von eindeutig moralischem und sozialem Wert und ohne psychologische Vertiefung) sowie in den volksliedhaften Intonationen und Rhythmen im Text, die bald epischballadesk, bald lyrisch-elegisch anklingen. Verband also das Thema und die Schwarz-Weiß-Malerei der Figuren den Woiwoden mit Nestastna familija, so sorgte der starke Folkloreeinfluß auf vielen anderen Ebenen dafür, daß Karawelow sich bereits mit seinem ersten Werk deutlich von den übrigen Mitbegründern der neubulgarischen Prosa abhob. Er stand ideell-ästhetisch in den meisten seiner Moskauer Powesti der volksverbundenen ukrainischen Autorin Marko Wowtschok, für deren frühe - romantisch-realistische - Prosa er eine Vorliebe hatte und die er in den siebziger Jahren auch ins Bulgarische übersetzte, viel näher als Drumew und Blaskow. Wie die revolutionär-demokratisch gesinnte Wowtschok war Karawelow überzeugt, daß ein künstlerisches Werk Auskunft über den Charakter und die Mentalität eines Volkes geben, daß sich darin - so wie im Volksschaffen - das Leben mit all seinen Sitten, mit der nationalen Atmosphäre und mit dem erreichten geistigen Entwicklungsstand spiegeln müsse, daß eine wertvolle Literatur
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aber unbedingt auch die aktuellen Probleme der Gegenwart - nicht nur die national-politischen, sondern auch die sozialen, moralischethischen und philosophischen - zu reflektieren und zu deren Lösung beizutragen habe. Aus der Fülle und Vielfalt literarischer Aufgaben erklärt sich die im Vergleich zu Drumew und Blaskow beachtliche stoffliche und thematische Mannigfaltigkeit der acht bis 1867 in Moskau entstandenen Powesti Karawelows sowie dessen methodische Variabilität gegenüber dem gewählten Gegenstand und den daran geknüpften Intentionen. Dabei ist folgende Entwicklungstendenz zu beobachten: Je differenzierter, konsequenter und parteilich-engagierter Karawelow an die ihn bewegenden Probleme und Themenkreise heranging, desto mehr sah er sich veranlaßt, die poetologischen Muster der Folklore schöpferisch umzuwandeln bzw. sie durch andere Techniken und Verfahren zu ergänzen oder zu ersetzen. Wurde ein Teil dieser Bemühungen 1867 mit der Powest Bulgaren der alten Zeit gekrönt, womit die kritisch-realistische Linie in der bulgarischen Literatur einsetzte, so führte in der Zeit danach die zunehmende Einflechtung von essayistischen Partien und Autorenkommentaren zur Herausbildung einer publizistisch-aufklärerischen bzw. publizistisch-pamphletistischen Prosa, die bis zu Karawelows Tod im Jahre 1879 eine dominierende Stellung in seinem Schaffen einnahm. Die Powest Bulgaren der alten Zeit schrieb Karawelow in deutlicher Polemik gegen jene slawophilen und volkstümlerischen Ideen, die - ob in Rußland oder Bulgarien 46 - in der patriarchalischen Vergangenheit den Schlüssel für die Ermittlung des „wahren" Nationalcharakters und der moralischen Werte des Volkes erblickten, diese Vergangenheit aber idyllisch verklärten und die Rückkehr zu ihr als Alternative zu den Widersprüchen der Gegenwart, zu den individuellen, gesellschaftlichen und zivilisatorischen Fehlentwicklungen ansahen. Wie herausfordernd und unannehmbar auf Karawelow solche Konzepte gewirkt haben mögen, kann man sich nur vorstellen, wenn man bedenkt, daß er, ein Schüler von Belinski, nicht einfach ein Anhänger des wissenschaftlichen und sozialen Fortschritts, sondern - angesichts der Lage und des kulturellen Nachholebedarfs in Bulgarien - geradezu ein Zukunftsfanatiker war. Die Sehnsucht nach grundlegender Veränderung der in seiner Heimat herrschenden politischen, sozialen und kulturellen Zustände ließ Karawelow als Autor nach Mitteln suchen, die - ohne sein Grundanliegen zu gefährden, Sympathien für Bulgarien zu werben - ihm die Hand43
habe gaben, zugleich alles Rückständige und Überholte in der patriarchalischen Lebensart seiner Landsleute aufzudecken. Daß die Poetik der Folklore, der er in seinen Haiducken-Powesti weitgehend folgte, ihm in dieser Hinsicht nur sehr geringe Möglichkeiten bot, wurde Karawelow alsbald bewußt. Die Lösung fand er woanders: im Schaffen Gogols. Die teils mitfühlend-humoristische (in Gutsbesitzer aus alter Zeit), teils parodistisch-satirische Art (in Geschichte des Streitfalls Iwan lwanowitsch gegen Iwan Nikiforowitscb), in der Gogol es verstand, hinter die Fassade der patriarchalischen „Idylle" auf dem Lande zu blicken und die ganze Banalität, Öde und innere Leere der russischen Gutsbesitzerklasse zu entschleiern, kam Karawelows Betreben, Sitten und Menschen in seiner Heimat differenzierter darzustellen, sehr entgegen. Er wandte sie mit Erfolg in Bulgaren der alten Zeit an, wo er erstmals in der neubulgarischen Prosa überhaupt Vertreter der Klasse der Tschorbadshis und der „Dorfintelligenz" als i n d i v i d u a l i s i e r t e Figuren plastisch zeichnet. Auf die vielfältigen Gemeinsamkeiten der Powest Bulgaren der alten Zeit besonders mit Gogols Geschichte des Streitfalls Iwan lwanowitsch gegen Iwan Nikiforowitscb haben schon mehrere Forscher hingewiesen/'7 In beiden Werken handelt es sich um eine Kritik an bestimmten sozialen Schichten, deren Repräsentanten die Autoren als Produkt konkreter gesellschaftlicher und nationaler Verhältnisse verstehen. In beiden Werken spielt das Motiv der Scheinfreundschaft, die aus nichtigem Anlaß in offene Feindschaft umschlägt, kompositioneil sowie ideell eine wichtige Rolle. Gogol wie Karawelow nutzen die gleichen Kunstmittel, um das wahre Wesen der Figuren als eine Einheit von typischen und individuellen Zügen zu erfassen und es dem Leser einprägsam zu vermitteln. Dazu gehören: eine sehr genaue Beschreibung der materiellen Welt, die die Figuren umgibt, doch so, daß sie zu deren vergegenständlichtem Spiegelbild wird; alogische, paradoxe Satzkonstruktionen bzw. aufeinanderfolgende Sätze mit fehlender kausaler Beziehung zueinander (Gogol: „Ein vortrefflicher Mensch, dieser Iwan lwanowitsch! Er hat außerordentlich viel für Zuckermelonen übrig . . ." oder Karawelow: „Chadshi Gentscho ist ein sehr gütiger Mensch. Er läßt keine Hochzeit aus . . . " ) und antithetische Erzählpartien (Annullierung des zuvor Behaupteten durch Aussagen, die im Gegensatz dazu stehen). Hingewiesen sei auf den Funktionsreichtum dieser Charakteri44
sierungstechniken, die vor allem die kritisch-realistische Methode Gogols prägen. Die beiden zuletzt genannten lassen nicht nur die Figuren in einem komischen Licht erscheinen, sie drücken nicht nur die ironisierend-parodistische Haltung des Erzählers Zu ihnen aus, sondern machen auch die Fragwürdigkeit bzw. Nichtigkeit ihrer Existenz künstlerisch sinnfällig. Karawelow nutzte diese Techniken in Bulgaren der alten 7.eit schöpferisch. Er baute z. B. den ganzen ersten Teil der Powest als ein beeindruckendes und amüsantes These-Antithese-Spiel auf: Einerseits gibt es Behauptungen der Art, was für ein anständiger, gebildeter und herzensguter Mensch Chadshi Gentscho sei, und andererseits werden diese Eigenschaften ad absurdum geführt durch die Aufzählung von vielen ihnen völlig zuwiderlaufenden Begebenheiten, Handlungen und Lebensgewohnheiten. Die antithetischen Details geben über die eigentliche - nämlich egoistische, rohe und tyrannische - Natur der Figur Auskunft. Karawelow gelingt es dabei nicht nur, das Individuum Chadshi Gentscho (ein Heuchler, Schmarotzer und Geizkragen, der geradezu darauf versessen ist, sich von anderen bewirten zu lassen) der Lächerlichkeit preiszugeben, sondern auch den von ihm vertretenen Typ vom Dorflehrer alten Stils zu entlarven: als selbstbewußt, aber geistig beschränkt, mit einem niedrigen Bildungsstand und konservativen Anschauungen, ein Mann, der seine Schüler ausbeutet, indem er sie nötigt, seine Haustiere zu pflegen, und ihnen mit Prügel ein völlig unzulängliches Wissen einbleut. Auf ähnliche Weise ist auch der Großvater Liben charakterisiert, nur mit dem Unterschied, daß Karawelow bei dieser Figur nicht konsequent ironisch-satirisch bleibt, sondern gelegentlich eine bejahende Haltung einnimmt, ja sogar eine gewisse Bewunderung durchblicken läßt. Mit dieser zwiespältigen Gestaltung, die eine klare Abweichung von Gogols durchgehender Distanz zu den von ihm geschaffenen Figuren darstellt, beginnen auch die Differenzen in der Methode der beiden Autoren, die durch unterschiedlich akzentuierte Intentionen und weltanschauliche Positionen bedingt sind. Wollten beide Schriftsteller gleichermaßen Banalität und Zurückgebliebenheit in Denkweise und Lebensgewohnheiten von Leuten aufdecken, die den Anspruch erhoben, die „Stützen der Gesellschaft" in Rußland und im unterdrückten Bulgarien zu sein, so war es für Karawelow wesentlich, zusätzlich auf jene nationalen Züge aufmerksam zu machen, auf die sich sein Geschichtsoptimismus, sein 45
Glaube an ein besseres Morgen gründete. Deshalb versah er Großvater Liben, einen Vertreter der Klasse der Tschorbadshis, nicht allein mit Skrupellosigkeit bei der Wahl seiner Mittel, mit Jähzorn oder Despotismus in der Familie, sondern auch mit Mut, Unternehmungsgeist und Heimatliebe (er war in seiner Jugend eine Zeitlang Haiducke), mit einem angeborenen starken Sinn für das Schöne und Gesunde im Leben, mit Opferbereitschaft für das Glück seines Sohnes und mit russophiler Gesinnung - Eigenschaften, die ihn individualisierten und dem Leser eine Vorstellung von den lichten Seiten des bulgarischen Nationalcharakters bzw. von jenen Elementen der nationalen Lebensart geben sollten, die es nach Meinung des Autors zu hegen und zu bewahren galt. Die Zukunft Bulgariens verband Karawelow aber eindeutig mit dem Liebespaar Pawlin und Lila, den Kindern der „Bulgaren der alten Zeit". Sie verkörpern nicht allein jugendliche Schönheit und moralische Sauberkeit, sondern sie treten auch als Rebellen gegen das Rückständige in ihrer Welt auf, gegen jahrhundertealte Vorurteile und Aberglauben sowie gegen die berechnende Art, die Rachsucht und den despotischen Willen ihrer Väter. Bei der Gestaltung der jungen Leute verzichtete Karawelow gänzlich auf ironisierendes und differenziertes Herangehen und bediente sich der vertrauten romantischen Mittel der Idealisierung und Überhöhung, die er schon bei den Helden seiner Haiduckenpowesti verwandt hatte. Berücksichtigt man noch die glückliche Vereinigung Pawlins und Lilas am Schluß und die Versöhnung der Väter, so wird offensichtlich, in welch hohem Maße sich Karawelow vom schonungslosen Realismus Gogols, von dessen konsequent illusionsfreier, ja fast pessimistischer Sicht auf die Wirklichkeit in Geschichte des Streitfalls Iwan Iwanowitsch gegen Iwan Nikiforowitsch entfernt hatte. Daß diese Abgrenzung auf Grund der revolutionär-demokratischen Ideale des bulgarischen Autors nicht anders als mittels romantischer Mittel erfolgte, ist ein nationalliterarisches Spezifikum, das in der weiteren Entwicklung der realistischen Methode in Bulgarien eine wichtige Rolle spielte und in diesem Sinne als traditionsbildend anzusehen ist. Die wegweisende realistische Leistung Karawelows in Bulgaren der alten Zeit - die Schaffung der ersten plastischen Gestalten und individualisierten Typen in der neubulgarischen Prosa mittels einer präzisen Erschließung des Milieus, als dessen Produkte sie erscheinen - wurde von weit weniger geglückten Lösungen in bezug auf Aufbereitung des Materials begleitet. Die auf eine detaillierte Wie-
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dergabe von Denkart und Lebensgewohnheiten der Hauptfiguren ausgerichtete Erzählweise ließ die Fabel als Strukturelement in den Hintergrund treten und räumte dem Konflikt nur eine untergeordnete Stelle ein. Genaugenommen besteht die Powest aus drei recht lose miteinander verbundenen Teilen: Im ersten wird Chadshi Gentscho ausführlich porträtiert und auf die Schäden hingewiesen, die seine Erziehungsmethoden und seine mangelhafte Gelehrsamkeit anrichten. Im zweiten nimmt Karawelow die Verlobung Pawlins und Lilas zum Anlaß, um über die damit zusammenhängenden Volksbräuche und Rituale eingehend zu berichten. Erst im dritten taucht als Folge der Fehde zwischen Chadshi Gentscho und dem Großvater Liben das Thema des Generationskonflikts auf, bedingt durch die entrechtete Lage der Jugend und besonders der Frau in der bulgarischen Familie, durch die völlige Abhängigkeit vom patriarchalischen Entscheidungsrecht der Väter bzw. der Männer. Manche Forscher sehen in diesen lose miteinander verknüpften Teilen, die sich als Komposition von den übrigen - meist in der biographischen Tradition Sofronis und Boswelis stehenden - Prosawerken Karawelows sowie von den Erstlingswerken Drumews und Blaskows (in denen der Akzent auf der Handlung liegt und die Fabel strukturbestimmend ist) so auffallend unterscheiden, ein wichtiges Element des „ o r g a n i s c h e n " W e g e s im Konstituierungsprozeß der neubulgarischen Prosa: eine Anlehnung der Powest an die narrative Folklore, die sich oftmals als ein Mosaik von aneinandergereihten Episoden, Porträts und anekdotischen Begebenheiten präsentiert. Das wird gelegentlich sogar als eine zweite Etappe in der Entwicklung der neubulgarischen Prosa zur Zeit der Wiedergeburt gefaßt: eine Prosa mit geringen Konflikten, dafür aber mit reichen Möglichkeiten für eine plastische Zeichnung der Figuren. 48 Inwiefern eine solche Einteilung in „Etappen" - zumal die „zweite" von einem einzigen Werk abgeleitet wird, das überdies während der „ersten" entsteht - gerechtfertigt ist, soll künftigen Untersuchungen vorbehalten bleiben. Ausschlaggebend für das Verständnis der Eigenart des Gegenstandes ist diese Frage nicht. Auch die anfechtbaren Antworten auf die Frage, was „organisch" und was „nicht organisch" sei, können nicht als das Wesentliche im bisher erreichten Forschungsstand angesehen werden. Das ist vielmehr die Erkenntnis, daß die neubulgarische Prosa bereits in ihren Anfängen und in einer sehr kurzen Zeitspanne recht verschiedene (und oft miteinander verflochtene) Verfahren beim Aufbau der Fabel und bei der 47
Figurengestaltung erprobte, um den vielfältigen Aufgaben, die ihr die Epoche objektiv auferlegte, gerecht zu werden. Karawelows Schaffen ist in dieser Beziehung keine Ausnahme. Im Gegenteil: Kein Prosawerk von ihm ist „einheitlich" und, besonders hinsichtlich der Gestaltungsprinzipien, in sich geschlossen. Alles ist hier in Fluß, in ständiger Veränderung begriffen, vieles überschneidet sich, und es fehlt stets die Zeit, um diese oder jene glücklich gefundene Lösung richtig auszubauen, geschweige denn sie zur Reife und künstlerischen Vollendung zu bringen. So blieb auch die realistische Leistung Karawelows in Bulgaren der alten Zeit lediglich ein Ansatz, der in seinen darauffolgenden Werken auf Grund einer Zunahme publizistisch-pamphletistischer Mittel nicht zu „klassischen" Formen ausgebaut werden konnte. Die Orientierung Karawelows auf publizistische Mittel, die dem Realismus der meisten seiner nach 1867 in Belgrad und Bukarest entstandenen Prosawerke eine eigene Note verlieh, hängt mit mehreren Faktoren zusammen. An erster Stelle seien hier die neuen Lebensumstände und Wirkungsmöglichkeiten sowie das enorm erweiterte Betätigungsfeld des Autors genannt, was seine in Rußland erworbenen Literaturansichten zwar nicht veränderte, sie aber vertiefte bzw. präzisierte und neu akzentuierte. Hatte die Zeit in Rußland für Karawelow in gewissem Sinne den Charakter von „Lehrjahren" gehabt und ging es ihm, dem nur einem kleinen Kreis bekannten Ausländer, als Schriftsteller dort vor allem darum, Interesse für das bulgarische Volk und Anteilnahme an seinem Schicksal zu wecken, so profilierte er sich während seiner Aufenthalte in Serbien (von 1867 bis 1869) und Rumänien (von 1869 bis 1878) schnell zu einem bekannten und vielbeachteten Verfechter der Idee der südslawischen Solidarität und einer republikanischen Balkanföderation, zu einem der bedeutendsten Führer des revolutionären Flügels der bulgarischen nationalen Befreiungsbewegung, kurz - zu einem Politiker von Format und internationaler Bedeutung. Dadurch erhielt die Literatur nicht nur einen anderen Stellenwert im Gesamtwirken Karawelows, sondern auch eine scharf umrissene Bestimmung, der alle anderen Literaturfunktionen untergeordnet wurden: Sie hatte ein Instrument zur Aufklärung des Lesers und zur Veränderung des Lebens, d. h. ein geistiger Wegbereiter gesellschaftlicher Aktionen zu sein und einen direkten konzeptionellen und organisatorischen Einfluß auf die nationale Bewegung auszuüben. Für die Realisierung dieser neuen, d o m i n a n t p o l i 48
t i s c h e n Aufgaben bediente sich Karawelow viel stärker als in der Moskauer Periode publizistischer Mittel. Diese ästhetische Umorientierung hat zweifelsohne mit der Prosa Tschernyschewskis zu tun, die ihm zunehmend nicht nur ideell-ästhetisch, sondern auch formal zum Vorbild wurde und die von Gogol ausgegangenen Impulse stark einschränkte bzw. modifizierte. Verabsolutieren darf man freilich diese in den bisherigen Forschungen oft artikulierte Anlehnung Karawelows an die Erfahrungen Tschernyschewskis nicht. 49 Berücksichtigt man, wie sehr publizistisch ausgerichtet der Literaturbegriff in der bulgarischen Wiedergeburt von Anfang an war, so wird klar, daß sich diese Verlagerung des Akzentes von folkloristischen Mustern auf publizistische Elemente und Strukturen im Schaffen Karawelows nach 1867 nicht ohne den sie fördernden Einfluß der heimatlichen Tradition vollzogen hat. Als maßgebend dafür ist die Erhärtung jener Elemente in Karawelows Kunstverständnis anzusehen, die die Spezifik der Literatur als einer besonderen Form der Erkenntnis und der Bewußtseinsbildung sowie ihre Aufgabe, das Nationale - sei es als Mentalität, sei es als Sitten und Bräuche - zu erkunden und zu beschreiben, zurückdrängten. Sie wurde nun vor allem als ein didaktisches Mittel gefaßt, das ebenso wie die Wissenschaft den Menschen zu bilden, zu belehren und zu neuen, fortschrittlichen sozialen und moralischen Auffassungen zu führen hatte („Ein Buch bleibt immer Wissenschaft, wenn es seinen Zweck erfüllt . . . Jedes Buch muß Wissen unter dem Volk verbreiten, seine geistigen Fähigkeiten entwickeln und . . . es belehren, ansonsten würde es keinen W e r t haben") 5 0 . Natürlich ging Karawelow nicht so weit, etwa Literatur und Wissenschaft völlig gleichzusetzen. Er war sich durchaus bewußt, daß die mobilisierende Belehrung oder die Vermittlung fortschrittlicher Erkenntnisse, auf die es ihm in erster Linie ankam, literarisch anders als wissenschaftlich, nämlich „über die Abbildung des Lebens selbst" erreicht wurde, wobei sich die Literatur zusätzlich emotionale Möglichkeiten verschaffte. 5 1 Indem Karawelow aber diese Unterschiede nur im Hinblick auf die didaktische Funktion der Literatur herauszuarbeiten versuchte und sie nicht zu einer grundsätzlichen Erörterung ihrer Besonderheit sowie zu einer klaren Abgrenzung von Wissenschaft und Publizistik nutzte, legte er den Grundstein nicht nur für eine materialistische, auf die gesellschaftliche Praxis orientierte Literaturbetrachtung in Bulgarien, sondern auch für eine Prosa mit offener Tendenz, die politische, soziale und moralische Ideen am 4
Witschew, Bulg. Prosa
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konkreten Material illustrierte. Wie das im einzelnen vor sich ging und welchen Anteil publizistische Mittel daran hatten, läßt sich an der Powest ]e Ii kriva sudbina? (Ist das Schicksal schuld?) besonders gut veranschaulichen. Diese Powest schrieb Karawelow 1868/69. Sie ist ein beredtes Zeugnis für die rege kulturelle Tätigkeit des Autors in der serbischen Öffentlichkeit, für seinen Mut, angesichts des durch Polizeiwillkür gekennzeichneten absolutistischen Regimes der Fürsten Obrenovic52 bürgerlich-demokratische Ideen zu propagieren. Sie beweist zudem seine streitbare Haltung gegenüber der in der damaligen serbischen Literatur dominierenden sentimental-romantischen Richtung. Diese war auf Grund der spezifischen gesellschaftspolitischen und kulturellen Verhältnisse in Serbien53 viel stärker profiliert als in Bulgarien. Mit ihr hatte sich Karawelow kurz zuvor als erster von revolutionär-demokratischen Positionen aus publizistisch auseinandergesetzt.54 Nun wollte er mit seiner Powest auch ein praktisches Beispiel dafür geben, was ein Prosawerk enthalten und wie es geschrieben werden sollte, damit es den Anforderungen, „wertvoll" und „zeitgemäß" zu sein, genüge. Mag das geschaffene „Modell" aus heutiger Sicht wenig befriedigen und mögen manche bürgerlichen Literaturhistoriker seine künstlerische Qualität überhaupt in Frage stellen55, damals hatte die Powest einen beinahe sensationellen Erfolg. Sie wurde - besonders von Vertretern der fortschrittlichen national-liberalen OmladinaBewegung,56 die Karawelow als Ideologe und Schriftsteller sehr schätzten - als eine „neue und fast einzigartige Erscheinung in der serbischen Literatur" empfunden und gewürdigt.57 Das war nicht übertrieben, bedenkt man, daß die tonangebenden sentimentalrromantischen Autoren fast ausschließlich Stoffe aus der Vergangenheit aufgriffen und sich lediglich für die Sphäre des Schönen, Erhabenen und Edlen interessierten. Der serbische Realismus, in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts repräsentiert vor allem durch das Schaffen von Jakov Ignjatovic, tat seine ersten Schritte bei der Erkundung der Wirklichkeit und wagte die offene Kritik an den politischen Zuständen noch nicht.58 Mit Karawelows Werk sah sich der serbische Leser erstmalig direkt mit vielen aktuellen Fragen seiner Gegenwart konfrontiert. In bewußter Opposition zu den Romantikern machte der Autor die Schattenseiten des Lebens im serbischen Fürstentum zum Hauptgegenstand seiner Gestaltung, und er forderte die „öffentliche Meinung" auf, dagegen einzuschreiten.
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Mit dieser Aufforderung in Form einer ungezwungenen und unterhaltsamen Plauderei, die die feuilletonistische Begabung Karawelows deutlich hervortreten läßt, beginnt die Powest. Der Autor wünscht sich die Aktivierung der Öffentlichkeit hauptsächlich wegen einer schonungslosen Entlarvung der verlogenen Moral, der Niedertracht und des parasitären Daseins der reichen und privilegierten Schichten. Er umreißt die Rolle der Literatur bei der Realisierung dieser Aufgabe und führt die Untauglichkeit der sentimental-romantischen Dichtung für ein derartiges gesellschaftliches Engagement parodistisch vor. Erst dann folgt als eine Veranschaulichung des eigenen Standpunktes die eigentliche Handlung der Powest. Sie ist einsträngig und äußerst schlicht. Kurz nach dem Tod von Frau Jovanovic - sie wird von ihrem Mann Sava, einem Belgrader Neureichen übelster Sorte, brutal niedergeschlagen - lernt deren Tochter Zaja den Freund ihres Bruders Pero, Ljubomir Kalmic, kennen. Kalmic, der im Ausland studiert hat und von den neuen, demokratischen und humanistischen Ideen erfüllt ist, sehnt sich nach einer sozialen und moralischen Umgestaltung der Gesellschaft. Die Gleichberechtigung der Frau gehört zu den wichtigen Punkten seines ideellen Programms. Unter seinem Einfluß reift Zaja schnell zu einer emanzipierten Frau heran, die es wagt, sich gegen ihren Vater aufzulehnen, als er sie mit einem vermögenden Witwer aus höheren Beamtenkreisen verheiraten will. Sie liebt Kalmic, der aber für Sava Jovanovic schon auf Grund seiner ungesicherten materiellen Existenz ein völlig indiskutabler Kandidat ist. Nun sorgt der „solide" Beamte dafür, daß Kalmic als Rivale ausgeschaltet wird. E r veranlaßt im Einvernehmen mit Zajas Vater seine Verhaftung und Verurteilung zu zwei Jahren Gefängnis wegen angeblich nachgewiesener Wühltätigkeit gegen den Staat. Zaja und Ljubomir werden getrennt. Das Böse triumphiert. Ist das Schicksal daran schuld? Diese Frage, die den thematischen Kern der Powest bildet, wird von Karawelow entschieden verneint. Er macht dem Leser unmißverständlich klar, daß für den geschilderten Verlauf der Dinge nicht das Fatum, sondern die sozialen Mißstände, die Justizwillkür eines antidemokratischen Regierungssystems verantwortlich sind. Diese Faktoren werden ihrerseits auf den niedrigen Bildungsgrad der Bürger und ihre schlechte moralische Erziehung zurückgeführt, die mit einer kraß materialistischen Lebensführung einhergehen und den tierischen Instinkten, die den Menschen zum Verbrechen treiben, Vorschub leisten. Der Mensch hat sich, so Karawelows Alternative, 4*
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auf den Weg der geistigen Entwicklung zu besinnen, der allein glücklich machen und das harmonische Zusammenleben mit den anderen Mitgliedern der Gesellschaft sichern kann. Hier werden die ideologischen Grenzen Karawelows bei der Konfrontation mit den Gegebenheiten in einem jungen kapitalistischen Balkanstaat ersichtlich. Er verband seine kühne Kritik an den sozialen Mißständen, seinen streitbaren Humanismus und Demokratismus mit utopistischen - weil nicht von der Lösung der Klassenwidersprüche ausgehenden - Zukunftsvorstellungen und mit einer Moralphilosophie, die die Ursachen der Moral nicht in erster Linie in den gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern in der abstrakt gefaßten menschlichen Natur und ihren biologischen Antrieben sucht. Einen bedeutenden Anteil an der nachweislich enormen Wirkung der Powest auf den damaligen Leser hat zweifelsohne die Erzählweise gehabt. Für die Übermittlung der ihn bewegenden aktuellen Probleme in der serbischen Gesellschaft wählte Karawelow eine alles überschauende und über alles gebietende Erzählinstanz. Dieser Erzähler wendet sich nicht nur an den Leser. Er bewertet nicht nur die Figuren und das Geschehen durch Einmengungen und Kommentare zum Erzählten. Der Autor räumt ihm auch weitere Textpartien ein, die - wie der erwähnte Beginn des Werkes - einen ausgesprochen feuilletonistisch-pamphletistischen Charakter haben. Sie bilden eine parallel zur Handlung verlaufende, stilistisch deutlich abgehobene zweite Ebene in der Erzählstruktur der Powest, ihr so oft bemängeltes „publizistisches Beiwerk". Sieht man sich diese Textpartien genauer an, so wird man feststellen, daß sie nicht immer Äußerungen des medialen Erzählers über Fragen der Moral, der Literatur oder des Erzählaktes selbst darstellen. Sie dienen auch dazu, die Figuren auf eine etwas ungewöhnliche Weise - durch Wendungen der Erzählinstanz an sie näher zu charakterisieren. Bei diesen fiktiven Gesprächen werden mit pamphletistischer Schärfe aussagekräftige Details aus dem Leben der Figuren - vor allem begangene Missetaten und unlautere Motive für bestimmte Verhaltensweisen - aufgedeckt, wobei stets auf die jeweils paradigmatische Bedeutung des vorgeführten Falles hingewiesen wird. „Du bist nicht der einzige, Sava, der sich so leicht von jeder Schuld freispricht", wendet sich z. B. der mediale Erzähler an Zajas Vater in Zusammenhang mit dem Tod seiner Frau. „Es gibt Tausende, die genauso wie du denken und die sich entlasten und beruhigen. Gibt es überhaupt einen Räuber, einen Dieb, 52
einen Mörder, einen Tyrannen, einen Säufer, einen Halunken, einen Verrückten auf der Welt, der zugeben würde, was er wirklich ist? . . . Ich weiß, daß deine Laster aus der dir fehlenden Bildung und Erziehung, aus deiner Neigung zu allem entspringen, was schmutzig, niedrig und tierisch ist. Ich weiß, daß du bereits im Jugendalter dein menschliches Antlitz verloren hast . . . Ich kann aber nicht umhin, dich an einige frühere Sünden zu erinnern, weil mich die öffentliche Meinung dazu verpflichtet." 59 Griff Karawelow absichtlich zu dieser Technik der Entlarvung und Verallgemeinerung? Und führte er die ganze feuilletonistischpamphletistische Ebene in seine Powest nur deshalb ein, weil er sich davon eine größere Wirkung versprach? Oder sah er sich dazu gezwungen, weil er den inneren Monolog, die erlebte Rede, die Rückblende und viele andere „moderne" Mittel für die Profilierung der Figuren und den Sujetaufbau noch nicht beherrschte, einen Ersatz für sie bzw. für ihre Funktionen aber unbedingt brauchte? Eines steht fest: Karawelow war sich sehr wohl dessen bewußt, daß der von ihm gewählte Stoff und das anvisierte Thema sich weder durch genaue Milieuschilderungen und detaillierte Porträts allein (wie in Bulgaren der alten Zeit) noch durch eine biographische Anlage der Powest (wie in den meisten seiner vorausgegangenen Arbeiten) künstlerisch realisieren ließ. Aus welchen Gründen immer er publizistische Mittel für die Umstrukturierung der Powest einsetzte - wichtig ist die Erkenntnis, daß diese Mittel es ihm ermöglichten, bestimmte gesellschaftliche Zustände, deren vermutliche Ursachen und Folgen für das Individuum aufzudecken; eine Leistung, die sowohl in bezug auf den Umfang des abgebildeten Wirklichkeitsausschnittes als auch in bezug auf die Tiefe der Analyse das Werk in die Nähe des Romans rückte. Erkauft wurde dieser Effekt allerdings durch den Verzicht auf eine plastische und differenzierte Figurengestaltung. Im Vergleich zu den Bulgaren der alten Zeit, Chadshi Gentscho und Großvater Liben, lassen sowohl Kalmic und Zaja als auch Sava Jowanovic und der verwitwete Beamte Lebensfülle vermissen, sie wirken schematisch und blaß. Als Figuren haben sie lediglich ein klar umrissenes soziales, moralisches und weltanschaulich-politisches Profil, wobei die moralischen Qualitäten und die weltanschauliche Haltung linear vom sozialen Status abgeleitet sind: Kalmic ist ein armer Intellektueller, daher ist er liberal-demokratisch gesinnt und hat hohe ethische Ideale. Er ist eine ausgesprochene Vorbildfigur, die in vieler Hinsicht 53
die Omladina-Bewegung verkörpert. Zajas Vater und Zajas Freier hingegen sind als Vertreter der oberen sozialen Schichten entsprechend konservativ, egoistisch und skrupellos, sie schrecken vor nichts zurück, um ihre niedrigen Triebe zu befriedigen und ihr Vermögen zu vermehren bzw. ihre Stellung in der Gesellschaft weiter zu festigen. Durch diese Verfahrensweise werden die Figuren zwar einigermaßen treffend typisiert, sie überzeugen aber als Charaktere nicht, weil ihnen die Vielfalt an individuellen Zügen fehlt. Hier ist der Punkt, an dem die Kritik des Werkes, der Zweifel bürgerlicher Literaturhistoriker an seiner künstlerischen Qualität überhaupt, gewöhnlich einsetzt. Dabei bleibt meist völlig außer acht, daß Karawelow absichtlich die Individualisierung vernachlässigte, daß er bewußt von dem in Bulgaren der alten Zeit Erreichten Abstand nahm. Denn worum es ihm jetzt ging, das war nicht mehr die Auseinandersetzung mit dem nationalen Charakter oder den nationalen Traditionen, sondern die Demaskierung des sozialen und weltanschaulichen Gegners als einer übernationalen Erscheinung, die Schaffung von klaren Fronten. Die neue Aufgabenstellung erforderte andere Mittel und Verfahren, und der Erfolg der Powest ist der beste Beweis dafür, daß Karawelow - wenn man den damaligen Entwicklungsstand der bulgarischen und serbischen Literatur berücksichtigt eine durchaus gelungene und akzeptable Lösung gefunden hat. Nicht die stark vereinseitigende Typisierung an sich darf dem Werk als Schwäche angelastet werden, denn gerade diesem Verfahren verdankte es zum großen Teil seine durchschlagende mobilisierende Wirkung. Bedenken wären höchstens gegen die A r t der Typisierung gerechtfertigt, die nicht so sehr durch die Handlung selbst, durch den Konflikt oder die Beschreibung des Milieus, in dem die Figuren agieren, sondern hauptsächlich in den kommentierenden bzw. feuilletonistisch-pamphletistischen Textpartien erfolgt. D a s ist es in erster Linie, was der Powest Deklarativität verleiht, die immer wieder als Qualitätsverlust beanstandet wurde, heute aber insofern kaum mehr wegzudenken ist, als sie einen untrennbaren Teil der Spezifik, des r e a l i s t i s c h - p u b l i z i s t i s c h e n Charakters der Powest ausmacht. Wie sehr Karawelow selbst von der Produktivität des mit Je Ii kriva sudbina? geschaffenen neuen Prosatyps überzeugt war, ist daraus zu ersehen, daß er ihn mit Vorliebe in seiner letzten Lebensperiode, der wichtigsten für ihn als Politiker und Nationalrevolutionär, anwandte. Diese Periode begann im Mai 1869 mit der 54
Emigration nach Rumänien, nachdem Karawelow in Serbien Repressalien ausgesetzt®0 und zu dem Fazit gelangt war, daß es dort keine günstigen Bedingungen für die Schaffung eines unabhängigen und vom Regime ungestörten Zentrums der bulgarischen revolutionären Befreiungsbewegung gab. Dieses Zentrum wurde 1869, nach vorausgegangenen scharfen Auseinandersetzungen mit den konservativ-reformistischen Kreisen innerhalb der bulgarischen Emigranten, in Bukarest in Form eines Komitees gegründet.01 Karawelow übernahm - zusammen mit Lewski - nicht nur dessen Leitung, sondern auch die Redaktion des literarischen Organs Svoboda (FreiheitJ.®2 Auf den Seiten der Zeitung, die dank Karawelows journalistischem und organisatorischem Talent zu einer wirksamen und populären Tribüne revolutionärdemokratischer Ideen wurde, veröffentlichte er viele publizistische Arbeiten über aktuelle politische, ökonomische, moralphilosophische und kulturelle Fragen. Hier erschienen auch seine wichtigsten literaturkritischen Artikel, neue literarische Werke sowie die bulgarische Fassung seiner bis dahin auf Russisch oder Serbisch geschriebenen Prosa. Im Rahmen dieser Erörterung ist es weder möglich noch nötig, auf die Bukarester Werke Karawelows näher einzugehen, da sie was ihre Themen und Konflikte sowie Gestaltungsmittel und den Aufbau anbelangt - nur wenig Neues bringen, das für die weitere Entwicklung der bulgarischen Prosa von Gewicht wäre. Unbedingt zu erwähnen wäre aber die Entwicklung, die der „positive" Held in dieser Schaffensperiode im Vergleich zur Moskauer und Belgrader Zeit nahm, sowie die Vertiefung und Modifizierung, welche die Figur des ideologischen und sozialen Gegners erfuhr. Beides hing zusammen mit der durch die Gründung des Bulgarischen Revolutionären Zentralkomitees intensivierten Beschäftigung Karawelows mit programmatischen und organisatorischen Fragen des nationalen Befreiungskampfes, mit der Analyse seiner Triebkräfte, der unterschiedlichen Richtungen und der Störfaktoren. Mit Smil, dem Haupthelden der Powest Bogatijat siromach (Der reiche Arme; 1872), gelang es dem Autor, die Gestalt eines bulgarischen Nationalrevolutionärs neuen Typs zu schaffen, der alles Positive seiner literarischen Vorgänger in sich vereinigte, zugleich sich aber von ihnen unterschied, sowohl von den Haiducken aus Karawelows Moskauer Zeit als auch etwa von Kalmic, und zwar durch die enge Verbindung des aktiven Kampfes um die Eigenstaat55
lichkeit mit klaren sozialen Aufgaben sowie durch einige daraus resultierende neue Positionen. Dazu zählt vor allem das bis dahin nicht bekannte differenzierte Verhältnis zu den Türken. Betrachtete Stojan in Der Woiwode oder der Haiducke Dontscho in der gleichnamigen Powest aus dem Jahre 1864 jeden Türken als einen Feind und Unterdrücker, so ließ Karawelow nun für Smil die moralischen Werte und den sozialen Status des Menschen vor der nationalen Zugehörigkeit rangieren: „Ein anständiger und guter Türke sollte uns lieber sein als diejenigen unter uns, die zwar einen bulgarischen Namen tragen, aber bereit sind, Jesus für 30 Silberlinge zu verkaufen . . . Ist der türkische Soldat oder Beamte daran schuld, daß er uns peinigt und entehrt? Ist es nicht die türkische Regierung, die ihn zum Henker macht?" 63 In diesen Äußerungen Smils spiegeln sich jene Grundsätze des Programms des Bulgarischen Revolutionären Zentralkomitees wider, die den Kampf gegen die fremdnationale Herrschaft mit dem Ziel verbanden, eine demokratische Republik der sozialen Gerechtigkeit zu errichten, in der alle Nationalitäten gleichberechtigt wären. Diese Grundsätze ermöglichten es den bulgarischen Nationalrevolutionären, potentielle Verbündete nicht nur in den anderen abhängigen Balkanvölkern, sondern auch in den unteren Schichten des türkischen Volkes selbst zu erkennen. Christo Botew brachte diese internationalistische Haltung, die zu den größten Errungenschaften der bulgarischen revolutionären Befreiungsbewegung und der mit ihr verbundenen Literatur gehört, 1875 besonders einprägsam zum Ausdruck: „ . . . Wenn das getretene und gepeinigte türkische Volk seinen Fanatismus aufgibt und sich, die bestehenden religiösen und nationalen Unterschiede zu unserem Volk ignorierend, mit uns verbünden will, um sich des gemeinsamen Feindes, der Regierung, zu entledigen, dann müssen wir es mit offenen Armen empfangen und die historische Feindschaft vergessen, die uns trennt. Die heutige Gesellschaftsordnung, die Sultane und Kapitalisten zuläßt, ist die Quelle der Leiden für Türken und Bulgaren, und deshalb ist jeder unser Freund und Bruder, der durch diese Ordnung aller Rechte beraubt und zu Hunger und Not verurteilt ist, der sein viehisches Dasein haßt und sich davon befreien will." 64 Große Aufmerksamkeit widmete Karawelow in der Bukarester Periode der Gestaltung des ideologischen und sozialen Gegners. Jetzt, in der Hitze der Kontroversen mit den verschiedenen Widersachern des revolutionären Flügels der nationalen Befreiungsbe56
wegung und angesichts der Tendenz bei Autoren wie Blaskow in Bulgarien, für die sozialen Mißstände nicht die herrschende Ordnung und die Klasse der Tschorbadshis, sondern die - „unter dem Einfluß der fremdnationalen Stadtkultur" 65 - verdorbenen Sitten und die Moral der Landbevölkerung verantwortlich zu machen, sah er sich mehr denn je dazu veranlaßt, den sozialen und politischen Feind in aller Schärfe und in all seinen Erscheinungsformen und Varianten zu entlarven. Für besonders gefährlich und schädlich hielt Karawelow den ideologischen Feind innerhalb der bulgarischen Emigranten, der sich patriotisch gebärdete, politisch äußerst aktiv war und bis zur Gründung des Bulgarischen Revolutionären Zentralkomitees im Jahre 1869 eine dominierende Rolle in der nationalen Bewegung überhaupt spielte: die Vertreter des „alten", konservativen, reformerisch evolutionistischen Flügels. Mit dem Führer dieses Flügels, dem reichen Kaufmann Christo Georgiew66, rechnete Karawelow bereits 1870 in der biographischen Powest Chadzi Nico ab, einem Muster realistisch-publizistischer Prosa. Georgiew diente ihm als Prototyp für die Hauptgestalt des Werkes, die er mit bewährten pamphletistisch-satirischen Mitteln und vielen sorgfältig ausgewählten Details zeichnete. Letztere lassen den Eindruck einer stärkeren Plastizität der Gestalt im Vergleich zu dem sparsamer umrissenen Sava Jovanowic in je Ii kriva sudbina? entstehen, einen Eindruck, der insofern falsch ist, als diese Plastizität für die Figur nur einen quantitativen, nicht aber einen qualitativen Gewinn darstellt: Das Mehr an Details veranschaulicht nicht etwa die individuellen oder ambivalenten Züge im Charakter Nitschos, sondern veranschaulicht ausschließlich die enge Beziehung und die - nach dem Konzept des Autors bestehende - wechselseitige Bedingtheit zwischen der sozialen Stellung der Figur, ihrer moralischen Beschaffenheit und politischen Position. Besonders gut gelingt es Karawelow, die Habgier und den Machtwillen als die eigentlichen Beweggründe für Nitschos „patriotische" und politische Aktivitäten aufzudecken. Profiliert wird der politische Gegner weiterhin durch die Veruntreuung von gesammelten Geldern für die Befreiungsbewegung und für Wohltätigkeitszwecke, durch seine gegen die Interessen Bulgariens gerichtete Tätigkeit als Helfershelfer reaktionärer russischer Politiker oder durch seine Machenschaften und Intrigen gegen Rakowski, die den ersten Ideologen der bulgarischen Nationalrevolution vor der rumänischen Regierung diskreditierten und seine Gesundheit zugrunde richteten. Die zu Be57
ginn der Powest publizistisch aufgeworfene Frage (Wozu lebt Chadshi Nitscho auf dieser Welt, wem nützt er?) bekommt damit eine eindeutige Antwort. Wie sehr Karawelow der Gedanke an den für die bulgarische Revolution „schädlichen" und „unnützen" Menschen beschäftigt hat, zu dem er Typen wie Chadshi Nitscho in erster Linie rechnete, ist daraus zu ersehen, daß er dieser Problematik in der Bukarester Periode drei weitere Werke widmete: die Powesti Mamino detence (Muttersöhnchen), Izvänreden rodolptbec (Ein ungewöhnlicher Patriot) und Progresist (Progressist), in denen Karawelow neue Varianten von sozialen Parasiten und Verrätern an der Nation vorführte. Diese Powesti, 1875 geschrieben, sind ein überzeugender Beleg dafür, daß Karawelow auch nach seinem Bruch mit dem Bulgarischen Revolutionären Zentralkomitee, in den Jahren der Resignation und des Zweifeins an einer Befreiung Bulgariens ohne fremde Hilfe 67 , weder seine Verbundenheit mit den sozialen, demokratischen und humanistischen Zielsetzungen der nationalen Revolution noch seine Unversöhnlichkeit gegenüber ihren Ignoranten, Gegnern und Verrätern aufgab.
Die Powest in der bulgarischen Wiedergeburt Die Powest gehört - selbst in Ländern wie der Sowjetunion und Bulgarien, in deren Literaturentwicklung sie eine bedeutende Rolle gespielt hat und noch spielt - zu den bislang am wenigsten systematisch-theoretisch erfaßten und definierten Prosagenres. Ein Grund dafür liegt in den fließenden Grenzen der Powest zu Erzählung und Novelle einerseits und zum Roman andererseits. Ein weiterer in der Vielfalt von Typen, in denen sie sich nicht nur im Laufe ihrer historischen Entwicklung, sondern auch in fast jeder einzelnen Etappe präsentiert hat, sowie im Fehlen eindeutiger Unterscheidüngskriterien und eigener, unverwechselbarer Strukturen. In der deutschen Literatur ist dieses Prosagenre unbekannt, der Begriff wird gewöhnlich als „große Erzählung" oder „Kurzroman" übersetzt. Diese Übersetzung geht vom Umfang des dargestellten Wirklichkeitsausschnittes aus, nach dem sich die Powest als ein „mittleres" Prosagenre einstufen läßt, das zwischen Roman und Erzählung steht. Damit ist allerdings die Spezifik der Powest noch lange nicht umrissen, denn alle Versuche, sie lediglich auf der Basis 58
ginn der Powest publizistisch aufgeworfene Frage (Wozu lebt Chadshi Nitscho auf dieser Welt, wem nützt er?) bekommt damit eine eindeutige Antwort. Wie sehr Karawelow der Gedanke an den für die bulgarische Revolution „schädlichen" und „unnützen" Menschen beschäftigt hat, zu dem er Typen wie Chadshi Nitscho in erster Linie rechnete, ist daraus zu ersehen, daß er dieser Problematik in der Bukarester Periode drei weitere Werke widmete: die Powesti Mamino detence (Muttersöhnchen), Izvänreden rodolptbec (Ein ungewöhnlicher Patriot) und Progresist (Progressist), in denen Karawelow neue Varianten von sozialen Parasiten und Verrätern an der Nation vorführte. Diese Powesti, 1875 geschrieben, sind ein überzeugender Beleg dafür, daß Karawelow auch nach seinem Bruch mit dem Bulgarischen Revolutionären Zentralkomitee, in den Jahren der Resignation und des Zweifeins an einer Befreiung Bulgariens ohne fremde Hilfe 67 , weder seine Verbundenheit mit den sozialen, demokratischen und humanistischen Zielsetzungen der nationalen Revolution noch seine Unversöhnlichkeit gegenüber ihren Ignoranten, Gegnern und Verrätern aufgab.
Die Powest in der bulgarischen Wiedergeburt Die Powest gehört - selbst in Ländern wie der Sowjetunion und Bulgarien, in deren Literaturentwicklung sie eine bedeutende Rolle gespielt hat und noch spielt - zu den bislang am wenigsten systematisch-theoretisch erfaßten und definierten Prosagenres. Ein Grund dafür liegt in den fließenden Grenzen der Powest zu Erzählung und Novelle einerseits und zum Roman andererseits. Ein weiterer in der Vielfalt von Typen, in denen sie sich nicht nur im Laufe ihrer historischen Entwicklung, sondern auch in fast jeder einzelnen Etappe präsentiert hat, sowie im Fehlen eindeutiger Unterscheidüngskriterien und eigener, unverwechselbarer Strukturen. In der deutschen Literatur ist dieses Prosagenre unbekannt, der Begriff wird gewöhnlich als „große Erzählung" oder „Kurzroman" übersetzt. Diese Übersetzung geht vom Umfang des dargestellten Wirklichkeitsausschnittes aus, nach dem sich die Powest als ein „mittleres" Prosagenre einstufen läßt, das zwischen Roman und Erzählung steht. Damit ist allerdings die Spezifik der Powest noch lange nicht umrissen, denn alle Versuche, sie lediglich auf der Basis 58
des Umfanges und der Tiefe der Wirklichkeitserfassung zu bestimmen - etwa durch die Unterscheidung, daß „die Erzählung ein Ereignis im Leben des Menschen behandle, die Powest mehrere Ereignisse beschreibe, der Roman hingegen ein ganzes Leben umfasse" 68 - wurden durch die Praxis vielfach widerlegt. Eine wertvolle Hilfe zur näheren Herausarbeitung der Genrespezifik bietet die unterschiedliche Intensität, mit der sich die Erzählung, die Powest und der Roman auf die drei grundlegenden Gegenstände der Epik schlechthin konzentrieren - auf den Menschen, auf die Umstände und auf die Wechselbeziehungen zwischen Menschen und Umständen. Nach der daraus entwickelten Theorie der sowjetischen Literaturwissenschaftler Grosnowa und Kowalew wäre die Erzählung meist auf die Zeichnung eines Menschen orientiert, sie gestalte dabei nur bestimmte Züge einer literarischen Figur und zeige ihre Entwicklung punktuell an wenigen Episoden. Der Romane erfasse hingegen uneingeschränkt alle drei Hauptgegenstände epischer Gestaltung, während die Powest in der Regel n u r e i n e n d a v o n a l s S c h w e r p u n k t a u s w ä h l e , z. B. die Gestaltung einer Figur, aber dann viel vertiefter und umfassender als die Erzählung, oder die Beleuchtung bestimmter Umstände. 69 Andere Vorschläge für eine genauere Abgrenzung der Powest von der Erzählung und dem Roman liegen bislang nicht vor. Ernsthafte Schwierigkeiten für die genremäßige Bestimmung der Powest bis in das 19. Jahrhundert hinein ergeben sich zusätzlich daraus, daß sie oft als Bezeichnung von Prosaformen diente, die deutliche Merkmale traditioneller Genres aufwiesen. Als Powest galten z. B. in der altrussischen Literatur die Nestorchronik sowie viele Kriegserzählungen, in der russischen Literatur des 17. Jahrhunderts die Erzählungen mit weltlichem Inhalt schlechthin. Erst im 19. Jahrhundert begann die eigentliche Profilierung der Powest als „mittleres" und produktives Prosagenre innerhalb der klassischen russischen Literatur. Doch auch jetzt trat sie mit so unterschiedlichen Strukturen und in so unterschiedlichem Umfang in Erscheinung70, daß man einen Teil dieser Werke heute ohne weiteres der Erzählung, der Novelle oder dem Roman zuordnen würde. Diese ungenaue Handhabung des Terminus „Powest" in der russischen Literatur samt den vielfältigen Realisierungsmöglichkeiten spiegelte sich in der Praxis der Begründer der neubulgarischen Prosa, Drumew, Blaskow und Karawelow, wider, ja sie wurde sogar auf die Spitze getrieben. „Powest" wurde von ihnen in der Regel nicht 59
so sehr als Bezeichnung eines bestimmten Genres, sondern vielmehr als Inbegriff „moderner" Belletristik verwendet, was bei dem damaligen Entwicklungsstand der bulgarischen Literatur und in Anbetracht der von ihr wahrzunehmenden gesellschaftlichen Aufgaben in erster Linie „weltlich" und „auf die aktuellen Probleme der Gegenwart orientiert" bedeutete, zugleich aber den mittleren Umfang des Werkes signalisierte. Dieser hing mit den aufklärerischen und mobilisierenden Intentionen der Prosa der sechziger und siebziger Jahre zusammen. D i e Gestaltung umfassenderer Wirklichkeitsausschnitte, als sie eine Erzählung zu erfassen vermochte, ermöglichte den Autoren, entsprechend größere gesellschaftliche Zusammenhänge durchschaubar zu machen. Damit sollte sich der Leser leichter und sicherer über seine Lage, seine Handlungsmöglichkeiten und Perspektiven klar werden. Mag das Fehlen von festen Richtlinien für die Powest angesichts der relativ geringen künstlerischen Erfahrungen der neubulgarischen Literatur die Schriftsteller vor erhebliche gestalterische Schwierigkeiten gestellt haben - diesem Umstand verdankten sie die einmalige Chance, frei von jeglichen traditionellen Zwängen jenen Weg zum Bau ihrer Werke einzuschlagen, der ihnen jeweils am besten lag und am geeignetsten erschien, den ins Auge gefaßten Ideengehalt wirkungsvoll zu vermitteln. Welche Anregungen dabei von ausländischen Mustern, von der altbulgarischen Literatur und der Folklore ausgegangen und mit welchem Ergebnis sie verwertet worden sind, darüber ist in den bisherigen Ausführungen reflektiert worden. E s folgt der Versuch, auf der Basis der dominierenden Strukturelemente und des jeweiligen Verhältnisses zu den anderen Prosagenres einige Typen der bulgarischen Powest in der Wiedergeburt zusammenfassend zu beschreiben: D i e biographische Powest E s handelt sich hierbei um den am meisten verbreiteten Typ der Powest, um ihren Grundtyp in der bulgarischen Wiedergeburt, an den auch später immer wieder angeknüpft wurde. E r kann über die nationale Spezifik des Genres am besten Auskunft geben. Für ihn ist die einsträngige Handlung, die sich um die Erlebnisse einer Hauptfigur rankt, besonders charakteristisch. Gewöhnlich wird diese Komposition in Form eines Berichtes der Hauptfigur über ihr bisheriges Leben realisiert, und zwar mittels
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einer streng chronologisch aufgebauten Retrospektive. Das ist die Variante, die von Karawelow in der Moskauer Periode seines Schaffens geprägt wurde: Der Woiwode, Turski pasa (Türkischer Pascha), Siroto semejstvo (Unglückselige Familie) u. a. Sie weist einen starken Bezug zu Sofronis Autobiographie und zur Folklore auf und setzt somit die Tradition der hagiographischen Literatur in modifizierter Weise fort. Durch ihren herkömmlichen und elementaren Aufbau und ihre Nähe zum Volksschaffen ist sie dem Erwartungshorizont sowie der Neigung des Lesers der Wiedergeburtszeit zum Authentischen am besten angepaßt. Die eigentliche Spezifik dieser Variante der biographischen Powest ist darin zu sehen, daß das Erzählte nicht dazu dient, die Formierung eines individuellen Charakters oder die Wandlungen in einer Persönlichkeitsentwicklung zu veranschaulichen, sondern ausschließlich dazu, an konkretem Material das Leiden des bulgarischen Volkes unter der türkischen feudalen Herrschaft zu exemplifizieren. Nicht die Figur als solche ist für den Autor von Interesse, es sind die Umstände, die ihr schweres bzw. tragisches Los bedingen. Biographie also als Mittel für die Durchleuchtung bestimmter gesellschaftlicher Zustände, die für die soziale und politische Misere der Nation verantwortlich zu machen sind, Biographie zugleich aber als Mittel für Belehrung und Mobilisierung durch die entsprechende Reaktion der Figur (z. B. durch den dargestellten Widerstand in den Haiducken-Powesti). In dieser Handhabung der Biographie kommt Karawelows hoher realistischer Anspruch an das literarische Werk eindeutig zum Ausdruck: „Nicht nur auf das Übel hinweisen", sondern auch „den Weg zeigen, der einzuschlagen ist, damit dieses Übel beseitigt wird." 71 Diese durch die Ich-Form gekennzeichnete Variante der biographischen Powest tendiert in bezug auf Struktur und Umfang des gestalteten Wirklichkeitsausschnittes am stärksten von allen Powesttypen zur Erzählung. Eine zweite Variante der biographischen Powest stellen die Werke mit einem medialen Erzähler dar: Chadzi Nico und Izvänreden rodoljubec von Karawelow oder Zlocesta Krästinka (Unglückliche Krastinka) von Blaskow. Lag der Akzent der Gestaltung bei der ersten Variante auf den Umständen, so wurde er hier auf die Wechselbeziehung zwischen Figuren und Umständen verlegt. Der jeweiligen Hauptfigur, deren Biographie die Achse der Powest bildet, wird nun große Aufmerksamkeit geschenkt, doch das Interesse geht in eine einzige Richtung: Von Belang erscheint nur das, was 61
zur Erhellung des Zusammenhangs zwischen den sozialen Faktoren (Erziehung und Bildung einbegriffen) und dem sozialen Status der Figur in der Gesellschaft einerseits und ihrer moralischen Beschaffenheit und ideell-politischen Prägung andererseits beiträgt. Stark vereinseitigende Figurenzeichnung ist die Folge. Alles in der Powest läuft praktisch auf die soziale Typisierung der Hauptfigur hinaus, auf eine Illustration der mit ihr verbundenen Ideen und Auffassungen des Autors, die - in publizistischer Form dargelegt - den biographischen Episoden oft vorausgehen. Plastizität und Aufbau der Figur als eines individualisierten Charakters wird weder geboten noch angestrebt. Als ausschließlich sozial umrissener Typ kennt sie keine Widersprüche und keine Entwicklung. Trotz vorhandener Fülle an Details wirkt die Figur wie eine bildliche Verallgemeinerung des Autors, bleibt sie stets eine konstante Größe. Es ist die Variante von biographischer Powest mit ausgesprochen starken didaktischen Zügen - das von Karawelow bevorzugte literarische Kampfmittel in der Bukarester Periode seines Schaffens. Die „romanhafte" Powest Sie stellt den Versuch dar, mittels einer komplizierteren Struktur ein umfassenderes Bild von den sozialen Widersprüchen und politischen Verhältnissen in der Gesellschaft zu vermitteln, als dies der Grundtyp von Powest zu leisten vermag, der sich in der Regel auf die Erlebnisse einer einzigen Figur konzentriert. Es treten jetzt mehrere Figuren auf, deren Wechselbeziehungen und Konflikte das Material für eine Handlung bieten, die nicht mehr nur in streng zeitlicher Abfolge verlaufen muß, sondern verstärkt auch nach anderen kausalen Zusammenhängen und mehrsträngig aufgebaut werden kann. Die sich daraus ergebenden zusätzlichen Möglichkeiten für die Wirklichkeitsanalyse und die Figurengestaltung werden allerdings noch relativ wenig genutzt - man denke an die Powest Je Ii kriva sudbina?, die (zusammen mit Bogatijat siromacti) diesen Typ repräsentiert. Die Handlung ist dort äußerst schlicht, und Karawelow vermag die Übermittlung des Ideengehalts und die Charakterisierung der Figuren eher über die publizistisch-pamphletistischen Kommentare des medialen Erzählers und andere Hilfsmittel - wie Auszüge aus Tagebüchern 72 - zu erzielen als über die Handlung und die Konfliktgestaltung. Die Charakterisierung der Figuren selbst wird da62
bei auf ihre soziale Typisierung beschränkt, sie unterscheidet sich im Prinzip kaum von den Verfahren, die bereits bei der zweiten Variante der biographischen Powest erläutert wurden. Die handlungsarme Powest Diese Bezeichnung ist insofern nicht besonders glücklich gewählt, als alle Powesti Karawelows mehr oder weniger handlungsarm sind. Hier ist aber der von Bulgaren der alten Zeit verkörperte extreme Fall gemeint, bei dem der Autor auf eine einheitliche Handlungslinie völlig verzichtet und sein Werk als eine Aneinanderreihung einzelner Sujetfragmente anlegt. Dieser eigenwillige Aufbau steht in Zusammenhang mit dem Moskauer Versuch Karawelows, eine d i f f e r e n z i e r t e Figurengestaltung zu erreichen (eine Gestaltung, in der nicht nur soziale, sondern auch nationale Züge in ihrer Verflechtung miteinander erfaßt werden), sowie mit der Art und Weise, w i e er das anstrebte, nämlich nicht über die Handlung, sondern über die Beschreibung des Milieus, in dem die Figuren agieren, und durch ihr direktes Porträtieren unter Einsatz von Humor und Satire. Es handelt sich bei den Bulgaren der alten Zeit um das einzige Prosawerk der Wiedergeburt mit plastischen Figuren, mit FigurenCharakteren, die gleichermaßen typisiert und individualisiert sind: eine bahnbrechende Leistung, die für die weitere Entwicklung der realistischen Methode in der bulgarischen Literatur von größter Bedeutung war. Die novellistische Powest Von Drumews und Blaskows Erstlingswerken Nestastna familija und lzgubena Stanka geprägt, ist sie fast in jeder Beziehung der absolute Gegensatz zum handlungsarmen Powesttyp Karawelows. Stehen die Figuren in Bulgaren der alten Zeit im Vordergrund der Gestaltung, so bildet eine ausgeprägte Konfliktsituation, ausgelöst durch ein nicht alltägliches Ereignis, den Kern der novellistischen Powest. Werden in erster Linie über die Lebensfülle Chadshi Gentschos und Großvater Libens die ideellen Intentionen Karawelows realisiert, so sind die Figuren hier ausgesprochen schematisch und blaß, es ist alles auf die Lösung des Hauptkonflikts ausgerichtet, der auch den Ideengehalt des Werkes repräsentiert. 63
Die novellistische Powest unterscheidet sich von allen anderen Powesttypen überdies durch ihre distanziert-„objektive" Erzählweise. Ihre Handlung verläuft in einer straffen Episodenfolge ohne Kommentare und Einmischungen der Erzählinstanz. Ihre Bedeutung ist darin zu sehen, daß die bulgarische Prosa durch sie ihre ersten Erfahrungen in einem vom streng biographisch-chronologischen Prinzip abweichenden Sujetaufbau machte, womit sie sich neue Möglichkeiten des Zugangs zur Wirklichkeit und der künstlerischen Realisierung aktueller Stoffe und Themen eröffnete.
Bulgarische Prosa 1 8 7 8 - 1 9 1 7
Gesellschaftliche Entwicklung nach der Befreitmg 1878 — Funktionswandel der Literatur Die bulgarische revolutionäre Befreiungsbewegung gipfelte im Aprilaufstand von 1876. Er blieb zwar, ebenso wie die Erhebung vom September 1875, ohne Erfolg, rückte aber - besonders infolge der Greueltaten der Osmanen bei seiner Niederschlagung - Bulgarien und die gesamte „Ostfrage" (zumal es 1875/76 auch in Bosnien und der Herzegowina zu antitürkischen Aufständen kam) nachhaltig ins Blickfeld der europäischen Öffentlichkeit. Starke Resonanz fand die durch die Aufstände signalisierte tiefe Krise des osmanischen Reichs in Rußland, wo nicht nur slawophile Kreise, sondern auch große Teile der Bevölkerung ihre Sympathien für den Kampf der unterdrückten Südslawen spontan bekundeten. Die russische Regierung nutzte diese Situation aus, um ihre expansionistische Politik auf dem Balkan zu intensivieren. Sie erklärte der Türkei den Krieg, der 1878 nicht zuletzt dank des engagierten Einsatzes der russischen Soldaten und der Beteiligung zahlreicher bulgarischer Freiwilliger die lang ersehnte Befreiung Bulgariens vom fast 500jährigen Türkenjoch brachte. Ungeachtet der eigennützigen Pläne des Zarismus, seine seit dem Krimkrieg erschütterten Positionen auf dem Balkan wieder zu festigen, waren die Auswirkungen des Russisch-Türkischen Krieges für Bulgarien ausgesprochen positiv. Sie trugen objektiv den Charakter einer bürgerlich-demokratischen Revolution: Das osmanische Feudalsystem wurde zerschlagen, der Boden ging an die bulgarischen Bauern über, die ansatzweise vorhandenen kapitalistischen Produktionsverhältnisse konnten sich nunmehr ungehindert entwickeln. Es begann die 66 Jahre währende bürgerliche Periode in der Geschichte des bulgarischen Staates. Welchen grundlegenden politischen und sozialen Realitäten sah sich die bulgarische Literatur nach der Befreiung gegenüber und wie wandelte sich ihr Funktionsverständnis als Reaktion darauf in der Zeit bis 1917? 5
Witschew, Bulg. Prosi
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Von großer Tragweite für Bulgarien und die fernere Geschichte der Balkanländer in außenpolitischer und territorialer Hinsicht war die unter dem Druck der westlichen Großmächte 73 erfolgte Revision des zwischen Rußland und der Türkei abgeschlossenen Friedensvertrages von San Stefano (März 1878). Sah der Friedensvertrag die Vereinigung aller bulgarischen Gebiete zu einem selbständigen Staat vor, so wurde auf dem Berliner Kongreß (Juni/Juli 1878) das Land in drei Teile zerstückelt: in das Fürstentum Bulgarien als türkischen Vasallenstaat (erst seit 1908 unabhängiges Königreich), die autonome türkische Provinz Ostrumelien74 und ein Gebiet (Makedonien und ein Teil Westthrakiens), das unter türkischer Herrschaft verblieb. Das war ein schwerer Schlag für die bulgarische nationale Befreiungsbewegung. Die Schaffung eines souveränen Staates, der alle Bulgaren in sich vereinte, blieb eine „offene Frage", die in den darauffolgenden Jahrzehnten die Außenpolitik der bürgerlichen Regierungen stets wesentlich mitbestimmte und Anlaß zu immer neuen Konflikten gab, die den Balkan erschütterten - so der Serbisch-Bulgarische Krieg 1885 in Zusammenhang mit der Vereinigung Ostrumeliens mit dem Fürstentum Bulgarien 75 oder die Balkankriege 1912/1913 76 am Vorabend des ersten Weltkrieges. Von kaum geringerer außen- und innenpolitischer Bedeutung war die Konstituierung des bulgarischen Staates als einer parlamentarischen Monarchie. Die monarchistische Struktur stand nicht allein im krassen Widerspruch zum ausgesprochen demokratischen Charakter der bulgarischen Wiedergeburt und zu den Idealen der revolutionären Befreiungsbewegung. Sie kollidierte vom Prinzip her auch mit der für die damalige Zeit sehr fortschrittlichen Verfassung des Landes, welche die erste Nationalversammlung im Jahre 1879 annahm77. Hinzu kam der kuriose Umstand, daß zum regierenden Fürsten ein ausländischer Vertreter des Hochadels gewählt werden mußte, da es eine bulgarische Feudalklasse, aus der ein Thronprätendent hätte hervorgehen können, bereits seit Jahrhunderten nicht mehr gab. Daß auch hinter der Wahl der Staatsform das Diktat der monarchistischen Großmächte steckte und dabei deren Interessen zu berücksichtigen waren, liegt auf der Hand. So war es eben kein Zufall, daß die Wahl auf Alexander von Battenberg fiel, der zwar ein deutscher Prinz, zugleich aber ein naher Verwandter des russischen Zaren war. Er zögerte allerdings nicht lange, Bulgarien außenpolitisch auf Österreich-Ungarn und Deutschland zu orientieren, während er innenpolitisch zur Stütze konservativer Politiker 66
und des bulgarischen Großbürgertums wurde,, die sich mit dem liberalen Charakter der Verfassung nicht zufrieden gaben und danach trachteten, sie zu suspendieren. 78 Der von Battenberg eingeschlagene politische Kurs wurde von seinem Nachfolger, Ferdinand von Sachsen-Coburg und Gotha (von 1887 bis 1918), auf eine für Bulgarien unheilvolle Weise fortgesetzt und vertieft - einerseits durch die noch engere Bindung an Österreich-Ungarn und Deutschland (Unterbrechung der diplomatischen Beziehungen zu Rußland 1886-1896) und die aggressiv-abenteuerlichen nationalistischen Zielsetzungen, die Bulgarien die Beteiligung an zwei imperialistischen Kriegen und zwei nationale Katastrophen einbrachten79, andererseits durch das von ihm um die Jahrhundertwende etablierte „persönliche Regime". Dieses äußerte sich in einer eigenmächtigen und verfassungswidrigen Erweiterung der „Vollmachten" des Monarchen, die bewirkte, daß praktisch nur ihm genehme Regierungen an die Macht kommen konnten, eine Praxis, die wesentlich zur Korrumpierung des politischen Lebens im jungen bürgerlichen Staat sowie zur Untergrabung seiner demokratischen Grundlagen beitrug. Ermöglicht wurde das „persönliche Regime" Ferdinands durch die Schwäche der bulgarischen bürgerlichen Parteien. Gab es zur Zeit der ersten Nationalversammlung nur zwei, die klar profiliert waren - eine konservative, die die dünne Schicht der Großbourgeoisie vertrat, und eine liberale, die das Sprachrohr der noch nicht differenzierten kleinbürgerlichen Massen, darunter auch der entstehenden Arbeiterklasse, war - , so spalteten sie sich im Zuge der sozialen Umstrukturierungsprozesse nach der Befreiung in mehrere kleinere und labile Parteien, die sich ständig umgruppierten und umprofilierten, bis sie sich schließlich in ihrem innenpolitischen Programm kaum mehr voneinander unterschieden. 80 Diese Entwicklung wurde durch die Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (1891) und des Bauernvolksbundes (1900) begünstigt, die als Vertreter der Interessen der Arbeiterklasse und des „Bauernstandes" 81 den bürgerlichen Parteien die breite soziale Basis entzogen. Erst mit ihrer Gründung traten auf der politischen Bühne Bulgariens zwei Parteien auf, die - wenngleich mit unterschiedlicher Programmatik, Konsequenz und Effektivität - von Anfang an eine antimonarchistisch-oppositionelle Haltung bezogen und nach dem ersten Weltkrieg (zunächst unabhängig, ja gelegentlich gegeneinander, doch dann zunehmend im Bündnis) auch den Kampf der 5*
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Werktätigen in Stadt und Land gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung organisierten und anführten. Welche wirtschaftlichen und sozialen Prozesse lagen der politischen Entwicklung in Bulgarien zugrunde? Zunächst einmal der rasche Niedergang von vielen Zweigen des Handwerks. Dieser Trend wurde durch den Verlust der Märkte in der Türkei und die Konkurrenz der billigeren westeuropäischen Waren verursacht. Das ging allerdings nicht mit einer proportionalen Entfaltung der industriellen Produktion einher, da es an Kapital für den Aufbau konkurrenzfähiger Betriebe mangelte. 1887 gab es in Bulgarien nur etwa 36 größere Industrieunternehmen (vorwiegend Mühlen, Brauereien und Textilfabriken). Erst unter der Regierung Stefan Stambolows (1886-1895) machte die Industrie dank der vom Premier praktizierten protektionistischen Wirtschaftspolitik größere Fortschritte. 82 Dessen ungeachtet blieb Bulgarien im Vergleich zu den ökonomisch entwickelten europäischen Ländern ein typischer Agrarstaat. Nach der Befreiung kam es zu einer raschen Klassendifferenzierung auf dem Lande, wobei ein Teil der Bauern ruiniert wurde und sich eine Großbauernschicht herausbildete. Im großen und ganzen blieb aber die innere Struktur des bulgarischen Dorfes relativ stabil, geprägt durch die Dominanz von Klein- und Mittelbauern. Das Agrarproblem resultierte aus dem Mangel an Boden im Verhältnis zu der ständig wachsenden Zahl an Arbeitskräften, die auf Grund der schwach entwickelten Industrie keine anderweitige Beschäftigung als die schlecht bezahlter Landarbeiter finden konnten. Aus den ruinierten Handwerkern und Bauern ging nach und nach die bulgarische Arbeiterklasse hervor. Obwohl zunächst noch relativ klein an Zahl und hauptsächlich im landwirtschaftlichen und handwerklichen Sektor beschäftigt (1892 gab es ca. 224 000 Lohnarbeiter, davon aber nur 11 000 in der Industrie 83 ), trat sie mit der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine wichtige Rolle nicht nur im politischen, sondern auch im geistig-kulturellen Leben des Landes an. Befreit von dem während der Wiedergeburtsperiode bestehenden Zwang, stets von der Lage und den Belangen der ganzen Nation auszugehen, machte die bulgarische Kultur nach 1878 (und vor allem nach 1885, als mit der Vereinigung des Fürstentums Bulgarien mit Ostrumelien die nationale Frage eine vorläufige Lösung gefunden hatte) wesentliche Fortschritte in Richtung einer sozialen und weltanschaulich-ästhetischen Differenzierung. Dies galt im besonderen 68
Maße für die Literatur, die bereits in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts ihre erste 'Polarisierung erfahren hatte, bedingt durch die zwei Flügel innerhalb der Befreiungsbewegung: den „aufklärerisch"-reformerischen und den revolutionär-demokratischen. Fußte aber diese Polarisierung noch auf dem gleichen Funktionsverständnis der Literatur, bei dem der Dienst an der Nation - in welcher Form auch immer - im Vordergrund stand, so ging im Differenzierungsprozeß der Literatur nach 1878 auch diese gemeinsame Grundlage verloren. Sie wurde nur bis zu den achtziger Jahren von allen bulgarischen Autoren als verbindlich angesehen, danach bemühte sich eine Literaturrichtung allein - die kritisch-realistische um eine modifizierte Fortführung dieser Tradition, während zwei andere - die individualistisch-sezessionistische und die proletarischrevolutionäre - deutlich Abstand gewannen und den Akzent in ihrem Literaturverständnis auf andere Aufgaben verlagerten. Der individualistisch-sezessionistischen Richtung der bulgarischen Literatur gehörten Krastjo Krastew, ein Literaturkritiker, sowie die Schriftsteller Pentscho Slawejkow, Petko Todorow und Pejo Jaworow an. Problematisch wurde für sie der nationale Dienst nicht nur deshalb, weil sie - angesichts der politischen Misere und der sich verschärfenden Klassenwidersprüche gegen Ende des 19. Jahrhunderts - von der Qualität der Freiheit enttäuscht waren und die „nationale Einheit" als zerstört empfanden, sondern auch, weil sie zu der Überzeugung gelangten, daß keine soziale Kraft (geschweige denn die Literatur) an der von ihnen abgelehnten Wirklichkeit etwas bessern könnte. Befördert wurde die Abkehr vom Dienst an der Nation, der für diese um die Zeitschrift Misäl (1892-1907) gruppierten Schriftsteller den Charakter eines Dienstes an der herrschenden Gesellschaftsordnung angenommen hatte, durch ihr Bestreben, Anschluß an die geistige und ästhetische Entwicklung in Europa zu finden, die bulgarische Literatur durch Hebung ihres künstlerischen Niveaus und Orientierung auf neue Ziele und Gegenstände zu „europäisieren". Die Anregungen, die die Gruppe in dieser Hinsicht besonders von der zeitgenössischen „modernistischen" deutschen Literatur und Ästhetik erhielt, waren bedeutsam.8'1 Sie führten allerdings nicht zur Herausbildung eines ästhetischen Programms, das in allen wichtigen Punkten den Positionen der westeuropäischen „Moderne" um die Jahrhundertwende gefolgt wäre, da in Bulgarien - wegen der verspäteten kapitalistischen Entwicklung - die Voraussetzungen für
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eine gravierende Funktionskrise der' bürgerlichen Kunst (wie etwa in Deutschland oder Frankreich) noch fehlten. Diese reiften erst in der Zeit zwischen dem Eliasaufstand 1903 in Makedonien 85 und den Balkankriegen 1912/13 heran und förderten die Entstehung des bulgarischen Symbolismus und Expressionismus. Damit begann die zweite Etappe der individualistisch-sezessionistischen Richtung in der bulgarischen Literatur, die bis zum antifaschistischen Septemberaufstand von 1923 andauerte und vor allem in der Lyrik ihren nationalen Ausdruck fand. 86 Der Kreis „Missal" distanzierte sich entschieden vom Utilitarismus der vorausgegangenen bulgarischen Literatur und machte sich die Abkehr vom sozialen Engagement, den Individualismus und die Ideologiekritik (sowohl der bürgerlichen als auch der sozialistischen Ideologie) der westeuropäischen „Moderne" weitgehend zu eigen. E r ging aber auch nicht so weit, der Literatur jegliche sinnvolle Funktion innerhalb der Gesellschaft abzusprechen und konsequent die Autonomie der Kunst zu verfechten. Charakteristisch für die Gruppe war vielmehr das Bestreben, den Dienst an der Nation durch den Dienst an einem abstrakt humanistisch gefaßten Menschen zu ersetzen und den literarischen Akzent von der nationalen auf die. allgemeinmenschliche Problematik zu verlagern. Beispielsweise im Schaffen von Pentscho Slawejkow oder von Petko Todorow wurde dabei auf das nationale Moment nicht verzichtet, es erhielt lediglich einen anderen Charakter und Stellenwert. Darauf wird später näher eingegangen. Hier sei nur darauf hingewiesen, daß beide Autoren vor- allem die „innere Struktur" des Menschen, seine moralisch-psychische und emotionale Beschaffenheit interessierte, daß diese Konzentration auf die „universale", relativ „zeitlose" und nicht sozial oder historisch determinierte menschliche Natur jedoch von dem Bemühen begleitet war, nationale Merkmale herauszuarbeiten. War die Literatur in der Periode der Wiedergeburt hauptsächlich darauf ausgerichtet, den Leser anhand didaktisch-publizistischer Mittel patriotisch zu erziehen und ihn zu vielseitiger gesellschaftlicher Aktivität - einschließlich der Teilnahme an der revolutionären Befreiungsbewegung — zu mobilisieren, so schränkte sich der Kreis „Missal" in seinen Wirkungsabsichten demgegenüber stark ein. Worauf es ihm ankam, das war die Vervollkommnung der ethischen Natur des Menschen, eine Kultivierung des Sinns für ästhetisch anspruchsvolle Lektüre, für die „ewigen" Fragen des Seins, für die Probleme des Künstlers • sowie die Aufdeckung der „beständigen'' 70
Züge des Nationalcharakters. Dies brachte nicht nur die Erschließung neuer Themenkreise mit sich. D a die herkömmlichen Werkstrukturen und Wirkungsstrategien mit dem spezifischen Funktionsverständnis dieser Autorengruppe meist kollidierten, war sie permanent bemüht, neue künstlerische Mittel und Strukturen auszuprobieren, was alle Gattungen formal-ästhetisch und genremäßig wesentlich bereicherte. Auch für die Herausbildung der proletarisch-revolutionären Rich^ tung in der bulgarischen Literatur in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts spielten der Konflikt der alten humanistischen und demokratischen Ideale mit der kapitalistischen Wirklichkeit sowie der Abschied von der erhofften Einheit der Nation eine wichtige Rolle, auch hier wurde nötig, von dem Anspruch, Stimme und Gewissen des ganzen Volkes zu sein, Abstand zu nehmen. Während aber die Vertreter der individualistisch-sezessionistischen Richtung von ehemaligen Führern der Nation (die die utilitaristische Verengung ihres Schaffens fast als eine Tugend betrachteten) Zu „Weltdichtern" avancieren wollten, indem sie übergreifende, allgemeinmenschliche Probleme in den Mittelpunkt rückten, führte die Erkenntnis der Klassensituation des bulgarischen Volkes die proletarisch-revolutionären Autoren nicht weg von der gesellschaftlichen Wirklichkeit und den aktuellen Problemen der Zeit, sondern hin zur Parteinahme für die Interessen der Lohnarbeiter. So wurde eine Literatur neuen Typs geformt, in deren Funktionsverständnis der Dienst an der Nation durch den Dienst an einer Klasse ersetzt wurde. Auch dieser Richtung, deren Entstehen aufs engste mit der Verbreitung der sozialistischen Ideen in Bulgarien und der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei im Jahre 1891 zusammenhing, war von Anfang an nationale Einengung fremd, ihre übernationale „Dimension" erhielt sie aber nicht durch die Behandlung allgemeinmenschlicher Problematik, sondern aus dem internationalen Charakter der Arbeiterbewegung und der daraus resultierenden Hinwendung der Autoren nicht nur zu lokalen, sondern auch zu weltweiten sozialen und politischen Fragen. Die Spezifik der proletarisch-revolutionären Richtung in der bulgarischen Literatur ist u. a. darin zu sehen, daß sie sich im Vergleich zur frühen sozialistischen Literatur in den anderen osteuropäischen Ländern relativ zeitig als eigenständige literarische Strömung konstituierte. Bereits in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts gab es hier eine sozialistische Literaturkritik und -theorie (Dimitar Blagoew), Lyrik (Dimitar Poljanow) und Prosa (Georgi 71
Kirkow). Das hängt nicht allein damit zusammen, d a ß Bulgarien vierzig Jahre früher als Polen, Ungarn oder die Tschechoslowakei die nationale Unabhängigkeit erlangte, die den Differenzierungsprozeß der Literatur stark vorantrieb. Gefördert wurde die frühe Ausprägung dieser Richtung auch dadurch, d a ß sie - indem sie den sich entfaltenden kapitalistischen Verhältnissen im Lande ein neues gesellschaftliches Ideal alternativ entgegensetzte und sich für den revolutionären Kampf als Mittel zu dessen Realisierung bekannte unmittelbar an die Erfahrungen der ihr nur um ein bis zwei Jahrzehnte vorausgegangenen revolutionär-demokratischen Literatur anknüpfen und sich als deren direkte Nachfolgerin unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen betrachten konnte. Dieser Umstand erleichterte wesentlich die Abgrenzung der bulgarischen proletarisch-revolutionären Literatur von allen bürgerlichen Richtungen nach 1878, verstärkte aber auch ihren „Traditionalismus" in Formfragen, woraus in der ersten Etappe bis 1917 bestimmte poetologische Einengungen resultierten. Denn im Unterschied zur Literaturentwicklung z. B. in Polen, wo die proletarische Literatur erst nach dem „modernistischen Umbruch" 1890-1914 richtig einsetzte, hatte die bulgarische „Moderne", repräsentiert vorerst durch den Kreis „Missal", für die sozialistischen Autoren und Kritiker der neunziger Jahre nicht den Charakter eines Erbes, mit dem sie sich (wie z. B. Broniewski, der romantische Muster oft in ihrer modernistischen Abwandlung nutzte 87 ) gewollt oder ungewollt hätten in Beziehung setzen oder auseinandersetzen müssen. Die „Moderne" hatte für sie lediglich den Stellenwert eines zeitgenössischen „Auswuchses" bürgerlicher Literatur, der in ideeller wie formaler Hinsicht genauso rigoros und kompromißlos zu bekämpfen war wie die gesellschaftliche Realität nach 1878, die ihn hervorgebracht hatte. Spezifisch ist auch der Umstand, daß die proletarisch-revolutionäre Literatur in Bulgarien zu einer Zeit entstand, als das Proletariat noch zahlenmäßig schwach war und die Mitglieder der von Dimitar Blagoew gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei - fast ausschließlich Vertreter der Intelligenz - sich erst „die allgemeinen Phrasen von Humanität und Gerechtigkeit abgewöhnen und auf den Boden des Klassenkampfes begeben" 88 mußten. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn der Sozialismus zunächst von breiten Kreisen der Bevölkerung als eine „abstrakte humanitäre Idee" 8 9 oder als eine modifizierte Wiederbelebung des utopischen Ideals der revolutionären Demokraten von einem freien Vaterland der sozialen Ge72
rechtigkeit empfunden wurde. Darauf beruhte zum großen Teil die verhältnismäßig starke Anziehungskraft, welche die sozialistische Bewegung in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts im agrarischen und kleinbürgerlichen Bulgarien ausübte. Darauf beruhte der Einfluß, den sie zeitweilig auf das Schaffen bedeutender bürgerlicher Autoren wie Zanko Zerkowski, Anton Straschimirow, Petko Todorow oder Pejo Jaworow nahm. Um die Jahrhundertwende aber, als durch die zunehmende Verbindung der sozialistischen Bewegung mit dem Emanzipationskampf der Arbeiterklasse (Streiks, Demonstrationen usw.) einer weiteren „utopischen" Auslegung des Sozialismus der Boden entzogen wurde und sein klassenmäßiger, revolutionärer Charakter immer offener zutage trat, zogen sich viele kleinbürgerliche Elemente - darunter die erwähnten Schriftsteller zurück. Angesichts der herrschenden Agrarverhältnisse und der verspäteten kapitalistischen Entwicklung mißtrauten sie der von Blagoew theoretisch fundierten und der Tätigkeit der Partei zugrunde gelegten These, daß es auch in Bulgarien Bedingungen für eine sozialistische Revolution gäbe. 90 Dieser Rückgang des sozialistischen Einflusses auf die Literatur der Jahrhundertwende, der bis zur Oktoberrevolution anhielt, wurde mit dadurch bedingt, daß die marxistische Literaturkritik jener Zeit, vertreten durch Dimitar Blagoew, Dimitar Dimitrow und Georgi Bakalow, es noch nicht verstand, den Kampf um Sozialismus mit dem Kampf um Demokratie zu verbinden. Sie lehnte jeden Autor ab, der sich nicht zu ihrem Parteiprogramm bekannte. Sie polemisierte beinahe mit gleicher Schärfe sowohl gegen die idealistische Ästhetik des Kreises „Missal" als auch gegen das Unvermögen der kritischen Realisten, die Entlarvung der kapitalistischen Verhältnisse mit dem Kampf um die Errichtung einer neuen Gesellschaft zu vereinen. Bei einem solchen undifferenzierten Herangehen an die bürgerliche Literatur konnte die frühe bulgarische marxistische Literaturkritik weder die Leistung der kritischen Realisten richtig erfassen und würdigen noch ihre Bedeutung als potentielle Bündnispartner der sozialistischen Literatur erkennen. Verdienste erwarb sich die kritisch-realistische Richtung, die in der bulgarischen Literatur bis 1944 dominierte und in der Periode 1878-1917 durch Iwan Wasow, Aleko Konstantinow, Michalaki Georgiew, Todor Wlaikow, Anton Straschimirow, Elin Pelin und Georgi Stamatow vertreten wurde, vor allem dadurch, daß sie unabhängig von allen Wandlungen, die sie im Laufe der Zeit 73
durchmachte - sich zäh und unbeirrbar mühte, die humanistischen und demokratischen Traditionen aus der Epoche der nationalen Wiedergeburt für das bulgarische Geistesleben lebendig zu erhalten. Wie fragwürdig und anfechtbar auch die weltanschaulich-politischen Standpunkte ihrer Repräsentanten gewesen sein mögen, stets waren sie bestrebt, durch die ungeschminkte Gestaltung der sozialen Mißstände und des moralischen Verfalls den Leser aufrüttelnd-erzieherisch zu beeinflussen und so „den Lauf der Welt" mitzubestimmen. Begannen mit dem Kreis „Missal" die Zweifel eines Teils der bürgerlichen Literaturschaffenden, daß die Kunst einen legitimen Platz im Kapitalismus habe und im gesellschaftlichen Leben eine humanistische Funktion zu erfüllen vermöge, und steigerten sich diese Zweifel bei den Symbolisten zur Gewißheit von der unüberbrückbar gewordenen Kluft zwischen Kunst und Gesellschaft, so gaben die bulgarischen kritischen Realisten ihre Auffassung von der aktiven und eingreifenden Funktion ihrer Werke und somit das „gesunde" Verhältnis Literatur - Leben nie auf. Das heißt natürlich nicht, daß sich dieses Verhältnis etwa unkompliziert oder widerspruchslos gestaltet hätte. Im Gegenteil: Bedenkt man, daß ein kritisch-realistischer Schriftsteller - in Anlehnung an die Tradition aus der Zeit der Wiedergeburt - sich mit seinem Werk unbedingt der Nation dienstbar machen wollte, weiterhin ihre Stimme und ihr Gewissen zu sein hoffte, daß er zugleich jedoch an der schmerzlich empfundenen Tatsache der zerstörten „Einheit" der Nation nicht vorbeigehen konnte, so wird klar, in welch zwiespältiger und kniffliger Lage er sich befand. Lösungen boten sich dem Schreibenden in dem Maße an, in dem er sich von dem Begriff Nation zu distanzieren und ihn durch umfassende, nun aber zunehmend sozial determinierte Begriffe wie „werktätiges Volk" zu ersetzen versuchte. So dehnbar und unterschiedlich diese Begriffe auch waren (zum „werktätigen Volk" zählte man z. B. gewöhnlich die Klein- und Mittelbauern sowie die Handwerker samt jenem Teil, der bereits proletarisiert war, oft aber auch Angestellte und die Vertreter der Intelligenz), sie orientierten die Autoren dieser Richtung auf die Belange der ausgebeuteten und unterdrückten bzw. in wirtschaftlicher Hinsicht schwachen und labilen Bevölkerungsschichten. Sie waren die eigentlichen Träger der demokratischen Traditionen und erlebten krisenhaft die endgültige Zerstörung der patriarchalischen Formen und Normen sowie die Durchsetzung der kapitalistischen Verhältnisse. • . 74
Parallel zum Wandel im Funktionsverständnis, das nun zunehmend als Dienst an der nach wie vor sozial entrechteten großen Mehrheit des Volkes begriffen wurde, änderte sich das Grundpathos der kritischen Realisten, ihre Haltung zur Wirklichkeit im Vergleich zu den achtziger Jahren. Die jubelnd-bejahenden, mit dem Akt der Befreiung verbundenen Intonationen wurden bald durch mahnend-beschwörende oder zornig-satirische Äußerungen verdrängt, das Interesse verschob sich vom Nationalpolitischen auf aktuelle soziale Probleme. Dieses neue, soziale Pathos, trug allerdings von Anfang an deutlich Züge der Ohnmacht gegenüber der zwar nicht akzeptierten, doch offenbar auch nicht aufzuhaltenden gesellschaftlichen Entwicklung. Es war mit keinen oder aber mit nicht realisierbaren Alternatiworschlägen verbunden. Der Protest, die Anklage, die Empörung - welche konkreten Formen die Konfrontation mit der kapitalistischen Wirklichkeit auch annahm - , alles ging letztendlich nicht über den Rahmen eines tiefempfundenen Mitleids mit den sozial Schwachen und Unterdrückten (Wasow) bzw. einer anarchistischen Revolte (Straschimirow) hinaus und mündete nicht selten in volkstümlerisch-idealisierende Rückgriffe auf das „gesunde" patriarchalische Leben von gestern (Wlaikow) oder in Resignation (Stamatow). Die Forderung nach einem differenzierten Verhältnis zur Nation und einer polemischen Haltung zur gesellschaftlichen Realität zog nach 1878 u. a. nach sich, daß die kritisch-realistischen Autoren ihre Werke nicht mehr (wie in der Zeit der nationalen Wiedergeburt) ohne weiteres als politische Stimme der Nation betrachten bzw. handhaben konnten. Der notwendige Verzicht auf diese Funktion und ihre Umwandlung in eine Art „Anwaltschaft" für die Mehrheit des Volkes erwies sich jedoch für manche Vertreter dieser Richtung als diffiziles und langwieriges Unterfangen. Ein Grund dafür war das anfänglich positive Verhältnis dieser Autoren zum neugegründeten bulgarischen Staat, in dem sie eine über den Klassen stehende, auf Ausgleich der unterschiedlichen Interessen ausgerichtete und in diesem Sinne nationalintegrative Institution erblickten. Von hier aus bis zum Trugschluß, daß die staatlichen Interessen mit den nationalen übereinstimmten, war es nicht allzu weit. Darauf gründete sich die Überzeugung, d a ß die aktive Beteiligung am politischen Leben dem Schriftsteller eine über sein soziales Engagement hinausreichende Möglichkeit bot, nationalrepräsentativ zu wirken. D a ß diese . Art „nationaler Repräsentanz", die auf eine Integration 75
in die offizielle bürgerliche Innen- und Außenpolitik hinauslief, mit dem nationalrepräsentativen Anspruch der kritischen Realisten, der sich auf ihre Orientierung auf die Belange der unterdrückten Schichten des Volkes gründete, kollidieren mußte, liegt auf der Hand. Besonders schwer fiel es Iwan Wasow, dem produktivsten und vielseitigsten kritisch-realistischen Autor der bulgarischen Literatur vor 1917, sich von der politischen Praxis der bürgerlichen Parteien konsequent abzugrenzen und sich von der Illusion zu lösen, d a ß seine gesellschaftskritischen Intentionen mit politischen Aktivitäten im Sinne des bürgerlichen Staates (nicht etwa gegen ihn!) vereinbar wären. Er, der nicht zufällig vom Staat bereits zu Lebzeiten als „Nationaldichter" gefeiert wurde, ließ sich gelegentlich zu Tätigkeiten und Stellungnahmen hinreißen, die nicht nur mit der offiziellen Politik konform gingen, sondern auch seinen humanistischen und demokratischen Idealen regelrecht zuwiderliefen. So leitete er zwei Jahre (1897-1899) als Mitglied der Regierung Konstantin Stoilows, des Führers der „Volkspartei" 91 , das Ministerium für Volksbildung und machte sich durch eine „gemäßigte" Verfolgung sozialistisch gesinnter Lehrer zur Zielscheibe erbitterter Kritik von rechts wie links. Auch ergriff er - zeitweilig chauvinistisch verblendet Partei für die Beteiligung Bulgariens am imperialistischen Weltkrieg und schrieb in diesem Zusammenhang Gedichte, auf die die frühe marxistische Literaturkritik zu Recht scharf reagierte. Immer wieder kam Wasow aber auch von selbst zu der Erkenntnis, d a ß sein politisches Engagement für die Belange des bürgerlichen Staates ein Fehler war, den er mehrfach mit schweren Schaffenskrisen bezahlen mußte. 92 Diese Krisen veranschaulichen überzeugend, d a ß es bereits in der Periode vor 1917 einem humanistischdemokratischen Autor in Bulgarien zunehmend unmöglich wurde, sich mit der staatlichen Obrigkeit und ihrer offiziellen Politik zu identifizieren, daß jegliche Versuche, auf diesem Wege eine nationalrepräsentative Rolle zu spielen, unweigerlich in Apologie der kapitalistischen Ordnung ausarten mußten. Das Durchschauen der Funktion des bürgerlichen Staates als Machtinstrument der Ausbeuterklassen zur Unterdrückung der Mehrheit des Volkes, mit deren Interessen sich die kritischen Realisten programmatisch solidarisierten, ging bei den jüngeren Vertretern dieser Richtung weit weniger dramatisch und viel schneller vor sich als bei Wasow. Konnte Wasow, der bei der Konstituierung des bulgarischen Staates im Jahre 1878 achtundzwanzig Jahre alt w a r und 76
sich enthusiastisch am Aufbau der neuen kulturellen Grundlagen beteiligte, erst nach einem langen Desillusionierungsprozeß die nötige Distanz gewinnen, so ging z. B. Elin Pelin, der rund zwanzig Jahre nach der Befreiung debütierte, von Anfang an viel nüchterner und vorbehaltloser an die gesellschaftliche Wirklichkeit heran. Bereits in seinen ersten Artikeln und Erzählungen nahm er dem Staat gegenüber eine ablehnende Haltung ein, ließ er dessen offizielle Vertreter als geschworene Feinde der armen und entrechteten Landbevölkerung erscheinen.93 Funktionswandel und -differenzierung in der bulgarischen Literatur 1878-1917 gingen nicht nur mit einer entsprechenden ideellästhetischen, sondern auch genremäßigen Differenzierung vor sich. In der Prosa, die im Gattungsensemble bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts die führende Rolle errungen hatte, profilierten sich neben der Powest, die die Belletristik der bulgarischen Wiedergeburt prägte, auch der Roman und die Erzählung. Handelte es sich beim Roman zunächst lediglich um einige wenige gelungene Versuche, die großen Prosaformen für nationale Belange dienstbar zu machen (der Roman blieb auch in der Periode 1917-1944 stets relativ schwach vertreten), so gelangte die Erzählung schon mit ihrer Herausbildung in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu ihrer ersten Blütezeit. Viele Jahrzehnte lang - bis zu den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts - konnte sie sich als beliebteste Prosaform der bulgarischen Literatur behaupten. Als Hauptursache gelten die wegen der fremdnationalen Unterdrückung verspätete und deshalb nach 1878 „beschleunigte" kapitalistische Entwicklung des Landes (schnelles Durchlaufen der frühen Stadien des Kapitalismus, und zwar in „unreiner" Form, bedingt durch ihre partielle Verflechtung untereinander sowie Vermischung mit Elementen der späteren, imperialistischen Phase) einerseits und die sie begleitenden folgenschweren historischen Ereignisse (wie die Vereinigung des Fürstentums Bulgarien mit Ostrumelien, der Serbisch-Bulgarische Krieg, der Eliasaufstand, die Balkankriege, der erste Weltkrieg, der Wladaja-Soldatenaufstand 1918, der Septemberaufstand 1923 usw.) andererseits, die das nationale Leben immer wieder aufwühlten und erschütterten. Beide Faktoren haben das Land in einen fast dauerhaften Zustand gesellschaftlicher Labilität gestürzt, der die große epische Gestaltung hemmte94 und vor allem die kleineren, „operativen" Prosaformen begünstigte. Die bevorzugte Anwendung der Erzählung als Genre zog aller77
dings nicht automatisch nach sich, daß sie die Entwicklung der bulgarischen Prosa bis zur Mitte unseres Jahrhunderts stets entscheidend prägte. In dieser Zeitspanne waren die Powest und besonders der Roman zuweilen in funktionaler oder poetologischer Hinsicht mindestens ebenso wichtig, ja sogar wichtiger als die E r zählung. D i e Erzählung dominierte seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts uneingeschränkt in quantitativer Beziehung. D i e achtziger Jahre hatten dagegen unter dem Zeichen der großen epischen Formen gestanden, obwohl auch da nicht viele Romane geschrieben wurden und ihre Zahl die der Powesti kaum übertraf. Welche Aufgabenstellungen der bulgarischen Literatur hingen mit den hier grob angedeuteten Genredominanten, mit der Genreentwicklung der Prosa schlechthin zusammen? Welchen Anteil hatten die einzelnen Richtungen, deren unterschiedliches Funktionsverständnis weiter oben umrissen wurde, am gattungsgeschichtlichen Fortschritt? Worin fand dieser Fortschritt konkreten Ausdruck und was machte seine nationale Spezifik aus? Beantworten und veranschaulichen lassen sich diese Fragen für die Periode 1 8 7 8 - 1 9 1 7 an drei Materialkomplexen: an der Herausbildung des bulgarischen Romans und Memoiren-Epos in den achtziger Jahren, an der Ausprägung und ideell-ästhetischen Differenzierung der Erzählung in den neunziger Jahren und an der Schaffung der bulgarischen „klassischen" Kurzerzählung von Elin Pelin zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Zur Herausbildung des Kornaus und der epischen Memoirenprosa in den achtziger Jahren D i e Herausbildung des Romans und der epischen Memoirenprosa, die gemeinsam der bulgarischen Prosaentwicklung in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts das Profil gaben, ist mit der künstlerischen Bewältigung der revolutionären Befreiungsbewegung in der letzten Phase der nationalen Wiedergeburt eng verbunden. Manche Forscher erblicken darin den Beginn eines spezifisch bulgarischen Weges der Romanentwicklung, der sich bis zu den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts erstreckt - ein auffallender Zusammenhang zwischen der Entfaltung des Romans bzw. des epischen Prinzips der Gestaltung in der Prosa schlechthin und den wichtigsten Wendepunkten im historischen Schicksal des Landes, in denen die Aktivität der Volksmassen jeweils einen Höhepunkt erreichte. 95 78
dings nicht automatisch nach sich, daß sie die Entwicklung der bulgarischen Prosa bis zur Mitte unseres Jahrhunderts stets entscheidend prägte. In dieser Zeitspanne waren die Powest und besonders der Roman zuweilen in funktionaler oder poetologischer Hinsicht mindestens ebenso wichtig, ja sogar wichtiger als die E r zählung. D i e Erzählung dominierte seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts uneingeschränkt in quantitativer Beziehung. D i e achtziger Jahre hatten dagegen unter dem Zeichen der großen epischen Formen gestanden, obwohl auch da nicht viele Romane geschrieben wurden und ihre Zahl die der Powesti kaum übertraf. Welche Aufgabenstellungen der bulgarischen Literatur hingen mit den hier grob angedeuteten Genredominanten, mit der Genreentwicklung der Prosa schlechthin zusammen? Welchen Anteil hatten die einzelnen Richtungen, deren unterschiedliches Funktionsverständnis weiter oben umrissen wurde, am gattungsgeschichtlichen Fortschritt? Worin fand dieser Fortschritt konkreten Ausdruck und was machte seine nationale Spezifik aus? Beantworten und veranschaulichen lassen sich diese Fragen für die Periode 1 8 7 8 - 1 9 1 7 an drei Materialkomplexen: an der Herausbildung des bulgarischen Romans und Memoiren-Epos in den achtziger Jahren, an der Ausprägung und ideell-ästhetischen Differenzierung der Erzählung in den neunziger Jahren und an der Schaffung der bulgarischen „klassischen" Kurzerzählung von Elin Pelin zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Zur Herausbildung des Kornaus und der epischen Memoirenprosa in den achtziger Jahren D i e Herausbildung des Romans und der epischen Memoirenprosa, die gemeinsam der bulgarischen Prosaentwicklung in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts das Profil gaben, ist mit der künstlerischen Bewältigung der revolutionären Befreiungsbewegung in der letzten Phase der nationalen Wiedergeburt eng verbunden. Manche Forscher erblicken darin den Beginn eines spezifisch bulgarischen Weges der Romanentwicklung, der sich bis zu den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts erstreckt - ein auffallender Zusammenhang zwischen der Entfaltung des Romans bzw. des epischen Prinzips der Gestaltung in der Prosa schlechthin und den wichtigsten Wendepunkten im historischen Schicksal des Landes, in denen die Aktivität der Volksmassen jeweils einen Höhepunkt erreichte. 95 78
Iti der Tat ist nicht nur nach dem Aprilaufstand 1876, sondern auch nach den antifaschistischen Septemberaufständen von 1923 und 1944, die tiefgreifende Veränderungen im nationalen wie im künstlerischen Bewußtsein nach sich zogen, eine deutliche Belebung der großen epischen Prosaformen zu beobachten. Davon zeugen vor allem Werke wie Pod igoto (Unter dem Jocb) von Iwan Wasow und Zapiski po bälgarskite västanija (Der Aufbruch der Fliegenden Schar. Chronik der bulgarischen Aufstände 1875/1876) von Sachari Stojanow aus den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, Den posleden (Der jüngste Tag) von Stojan Sagortschinow aus den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts und die sogenannte „epische Welle" in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre. Trotzdem muß man fragen: Ist der Zusammenhang zwischen der Entfaltung des „Epischen" und den wichtigsten Umschlagspunkten in der Geschichte des Landes nur für die bulgarische Prosa kennzeichnend? Gibt es bereits ausreichende vergleichende Arbeiten, damit hier von nationaler Spezifik gesprochen werden kann? Und kann dieser Zusammenhang überhaupt ohne Einschränkungen gelten? Denn es gibt schließlich Romane wie Choro (Reigen; 1926) von Anton Straschimirow oder Bjalata päteka (Der weiße Pfad; 1929) von Orlin Wassilew, die sich vom Gegenstand und Ideengehalt her unmittelbar auf den Septemberaufstand 1923 beziehen, die aber ausgesprochen „lyrische" Strukturen haben. Beide Romane, besonders der avantgardistische und zugleich nationalrepräsentative Reigen, belegen unmißverständlich, daß die bulgarische Prosa bis zu den fünfziger Jahren nicht immer nur in epischer Gestaltungsweise versucht hat, die historische Aktivität der Volksmassen wirkungsvoll zu würdigen. Die Beziehung historischer Prozeß - künstlerisches Bewußtsein ist also weder ein linear-„vorprogrammiertes" (hier in dem Sinne, daß einschneidende nationale Ereignisse stets die Entstehung von großen epischen Werken bedingen, die ihnen allein künstlerisch adäquat wären) noch das einzige Verhältnis, das die Wahl der Gestaltungsmittel und der Werkstruktur bestimmt. Der historische Prozeß ist vielmehr lediglich e i n Faktor (wenn auch ein sehr wichtiger!) unter mehreren außer- und innerliterarischen Bedingungen, die sich auf die Entwicklung einer Gattung bzw. deren einzelne Genres in einer bestimmten Etappe auswirken. Diese Auffassung findet bereits im ersten bulgarischen Roman, Wasows Unter dem Joch (1889-1890), sowie in der Memoirenprosa Sachari Stojanows, Der Aufbruch der Fliegenden Schar. Chronik der 79
bulgarischen Aufstände 1875/1876 (1884-1892), ihre Bestätigung. Die epische Anlage beider Werke ist keinesfalls allein auf den gewählten Gegenstand der Gestaltung zurückzuführen. Für die Strukturierung des Materials haben der erreichte Stand der bulgarischen Prosaentwicklung, das besondere Verhältnis der Autoren zum Stoff wie auch die Zielsetzungen, die sie mit seiner Bearbeitung verfolgten, eine außerordentliche Rolle gespielt. Erst aus der Analyse der Wechselwirkung all dieser Faktoren ließen sich auch nähere Aussagen über die nationale Spezifik der Anfänge der bulgarischen epischen Prosa gewinnen. Sie dürfte dann nicht allein auf den Zusammenhang mit der künstlerischen Bewältigung des Aprilaufstandes 1876 reduziert, sondern müßte auch darin gesehen werden, daß diese Prosa der Herausbildung der Erzählung als Genre sowie der ideellästhetischen Differenzierung der nationalen Literatur vorausgeht, eine organische Weiterführung der Erfahrungen der bulgarischen Prosa aus der Zeit der Wiedergeburt darstellt (Kontinuitätselement stark ausgeprägt!) und „epopöenhafte" Züge trägt, wobei - je nachdem, an welche Traditionslinien die Autoren bevorzugt anknüpften sie sich in zwei Varianten präsentiert: als Roman-Epopöe (bei Iwan Wasow) und als epische Memoirenprosa (bei Sachari Stojanow, der die dokumentarisch-autobiographische Linie in der Prosa der Wiedergeburt zur großen Form weiterführte).
Wasows Weg znr Roman-Epopöe „Unter dem Jocb" Neben den Memoiren Sachari Stojanows ist Wasows Roman Unter dem Joch unbestritten das künstlerisch gelungenste und repräsentativste Werk der bulgarischen Literatur der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Darin fanden die wichtigsten Tendenzen in der Entwicklung der nationalen Literatur im ersten Jahrzehnt nach der Befreiung ihren prägnanten Ausdruck. Die Entwicklung der bulgarischen Literatur war in diesem Jahrzehnt von einem außerliterarischen Widerspruch geprägt: dem Widerspruch zwischen dem infolge der Befreiungsbewegung in den sechziger und siebziger Jahren sprunghaft gewachsenen nationalen Selbstbewußtsein des bulgarischen Volkes, seinem gestärkten Geschichtsoptimismus und Aufbauwillen angesichts des neuerrichteten Staates einerseits und der bitteren Erfahrung andererseits, daß sich in der neuen Wirklichkeit, in der so schwer errungenen Freiheit Erscheinun80
gen breitmachten, die im krassen Gegensatz zu den demokratischen und humanistischen Zielsetzungen der Wiedergeburtsepoche standen. D i e Spezifik des literarischen Lebens in Bulgarien in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bestand darin, daß dieser Widerspruch nicht sofort zu einer grundlegenden Überprüfung des bisherigen Funktionsverständnisses der Literatur und der oben umrissenen ideell-ästhetischen Differenzierung im Schaffen der Schriftsteller führte. Dies geschah erst in den neunziger Jahren. Ungeachtet der sich häufenden Enttäuschungen über das politische und sozialökonomische Leben im Lande nach 1878 versuchten zunächst alle Autoren ihre Werke nach wie vor an die ganze Nation zu richten und möglichst viele Mitbürger im Sinne der in Vergessenheit geratenden Ideale der Wiedergeburtszeit zu mobilisieren. Diese Haltung bedingte in ideell-thematischer Hinsicht eine enge Verbundenheit vieler Werke der achtziger Jahre mit der Literatur der vorausgegangenen Epoche, sie erklärt auch die betonte Kontinuität zum gesamten kulturellen Erbe, was manche Forscher dazu veranlaßt, sie literarhistorisch mehr der Wiedergeburtsperiode als der Zeit danach zuzuordnen 90 . Gründe dafür liefert vor allem das Schaffen Wasows in diesem Jahrzehnt. In ihm paart sich die vielseitige Darstellung des nationalen Lebens vor 1878 mit einem leidenschaftlichen Engagement für die Befreiungsbewegung; das romantisch verbrämte, patriotische Pathos wirkt wie eine natürliche Weiterführung der charakteristischen ideell-ästhetischen Intentionen der Literatur aus der Zeit der Wiedergeburt. Doch dies ist nur die eine Seite, der Eindruck auf den ersten Blick. Denn Wasow setzte bei der Behandlung der sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts die Akzente anders als seine Vorgänger Drumew und Karawelow. E s ging ihm nun vor allem darum, B i l a n z über den vom ganzen Volk zurückgelegten historischen Weg von der Warte der errungenen Eigenstaatlichkeit aus zu ziehen; das bedeutete, die allmähliche Entfaltung des nationalen Selbstbewußtseins herauszuarbeiten und die entscheidende Rolle der Befreiungsbewegung in diesem Prozeß zu würdigen. Ein wichtiger Faktor für die Gewinnung dieses Aufgabenverständnisses war für Wasow die Einsicht, daß die Erinnerung an die Kämpfe der jüngsten Vergangenheit sowie an die großen Persönlichkeiten der bulgarischen Wiedergeburt im öffentlichen Leben schnell verblaßt war. Entrüstet beobachtete er, wie die bulgarische Bourgeoisie, die Politik und Macht für eigennützige Zwecke miß6
Witschew, B u l g . Prosa
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brauchte, über die Gräber der gefallenen Nationalrevolutionäre Unkraut wachsen ließ. 1883 schrieb er: „Es wäre gut, über die jüngste Vergangenheit nachzudenken. Vielleicht geht unserem vernebelten Verstand dann ein Licht auf. Vielleicht gemahnt uns das in dieser schrecklichen und ruhmreichen Epoche Erlebte an manch eine vergessene Pflicht und an manch eine unerledigte Aufgabe." 97 Das Zitat ist aufschlußreich für die Wirkung, die Wasow mit seinen Werken über die sechziger und siebziger Jahre beabsichtigte. Ihm lag nicht allein an der Würdigung eines Stückes nationaler Geschichte, auf das ein jeder Bulgare stolz sein konnte, sondern auch an der Etablierung des Ertrages dieser Epoche als der wichtigsten Traditionsquelle für die weitere gesellschaftliche Entwicklung der Nation, d. h. an der Erhaltung und Realisierung der humanistischen und demokratischen Ideale seiner Jugendzeit. Denn Wasow war kein passiver Zeuge der Ereignisse gewesen. Mitgerissen von dem revolutionären Aufschwung der Zeit, hatte er an der Vorbereitung des Aprilaufstandes 1876 teilgenommen. Er kannte das Leben und die Bestrebungen der Emigranten in Rumänien, wo sich das Organisationszentrum der bulgarischen nationalen Befreiungsbewegung befand. Welches Material, welche literarischen Genres und welche Erfahrungen seiner Vorgänger nutzte Wasow, um die jüngste Vergangenheit im erläuterten Sinne künstlerisch aufzuarbeiten? Zunächst sei gesagt, daß er sich keineswegs sofort auf eine Roman-Epopöe orientierte. Dafür fehlten ihm jegliche Voraussetzungen: Er hatte seine schriftstellerische Laufbahn als Lyriker begonnen, sein erstes Prosawerk, die Memoiren Neotdavna (Unlängst), war erst im Jahre 1881 entstanden. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn Wasow zuerst mit Mitteln der Lyrik versuchte, zu umfassenderen Verallgemeinerungen über die nationale Wiedergeburt zu gelangen und diese Verallgemeinerungen in Beziehung zur neuen Wirklichkeit zu setzen. Davon zeugt insbesondere ein Zyklus von 12 Gedichten, den er den namhaftesten Vertretern der vorausgegangenen Epoche widmete und den er mit dem an die zeitgenössische Öffentlichkeit vorwurfsvoll gerichteten Titel Epopeja na zabravenite (Epopöe der Vergessenen-, 1881-1884) versah. Schon die nähere Bezeichnung des Zyklus - „Epopöe" - deutet auf die Absichten des Autors hin, die Grenzen einer rein „lyrischen" Würdigung der vergessenen Helden der bulgarischen Wiedergeburt zu überschreiten und die Porträts vielmehr als Mosaiksteine eines in 82
sich geschlossenen „epischen" Ganzen anzulegen. Die Gedichte, die dem Genre Poem zuzuordnen wären, bieten in der Tat nicht bloß die Charakterisierung einzelner Persönlichkeiten. Wasow läßt zugleich ein beeindruckendes Bild von den wichtigsten Momenten der nationalen Entwicklung von Paissi bis zur Befreiung Bulgariens von osmanischer Unterdrückung entstehen. Das gelang ihm, indem er bei der Arbeit an den verschiedenen Teilen des Zyklus stets von der engen Bindung der historischen Persönlichkeiten zu ihrer Zeit, vor allem aber zu den jeweiligen Belangen des Volkes ausging. Bedeutung und Größe Paissis, Rakowskis oder Lewskis sah Wasow in erster Linie in der Übereinstimmung ihrer Auffassungen, Tätigkeiten und individuellen Eigenschaften mit den historischen Erfordernissen der Zeit, mit den aktuellen Aufgaben, die die Nation zu lösen hatte. So erscheint jede Gestalt als Träger der fortschrittlichsten und für die Stärkung des nationalen Selbstbewußtseins förderlichsten Haltungen und Ideen m einem bestimmten historischen Moment. Ihr gemeinsames hohes gesellschaftliches Ethos, ihren selbstlosen Dienst an der Nation sowie ihre humanistischen und demokratischen Ideale hob Wasow mit romantischen Mitteln nachdrücklich hervor und stellte dies scharf der politischen und sozialen Misere, der verdorbenen Moral und dem „Hurra"-Patriotismus im kapitalistischen Staat gegenüber. Die polemisch gemeinte Würdigung der verdienstvollen Persönlichkeiten aus der Wiedergeburtszeit realisierte Wasow nicht allein durch eine romantische Überhöhung. Zu diesem Zweck strukturierte er auch das ganze Beziehungssystem lyrische Gestalt - lyrisches Ich Adressat neu. War die Gestalt des Nationalrevolutionärs in seinem frühen Werk, in dem Sammelband Prjaporec i gusla {Banner und Fiedel-, 1876), noch nicht individualisiert und weder von der Masse noch vom lyrischen Ich des Autors oder vom Adressaten zu unterscheiden, da sie im Gedicht mit ihnen eine Aktionseinheit - die übergeordnete Gestalt des aufständischen Volkes - bildete, so wurden in der „Epopöe" die großen Männer der Wiedergeburt sowohl von der Masse des Volkes als auch vom lyrischen Ich und vom Leser b2w. vom zeitgenössischen Publikum deutlich abgehoben. Wasow ließ den lyrischen Sprecher die Gestalten nicht in der Attitüde eines ihnen ebenbürtigen Veterans heraufbeschwören, sondern mit der Hochachtung und mit dem feierlichen Gestus eines „Bevollmächtigten seines Volkes, der ihnen den verdienten Preis verleiht" 98 . Die so geschaffene Distanz zielte im Zusammenspiel mit den roman6»
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tischen Gestaltungsmitteln, die aus den nationalen Helden monumentale Figuren in der Aureole des Einmaligen und Außergewöhnlichen hervorzauberten, darauf ab, auch beim Leser Ehrfurcht zu wecken, ihm ein Ideal zu vermitteln, an dem er seine eigene Haltung messen und nach dem er sich richten sollte. Mit der Epopöe der Vergessenen schuf Wasow ein Werk, das ideell und konzeptionell zum wichtigsten Ausgangspunkt für alle seine weiteren Arbeiten über die jüngste Vergangenheit wurde. Es handelt sich um das Konzept von der Wiedergeburt als der Periode einer stufenweisen Entfaltung des nationalen bulgarischen Selbstbewußtseins mit dem Apnlaufstand 1876 als dem Höhepunkt dieses Prozesses sowie um das erörterte Verhältnis Persönlichkeit - Volk Geschichte. Die Auffassungen Wasows stellen fraglos eine beachtliche Leistung bürgerlich-demokratischen historischen Denkens dar, haben aber natürlich ihre Grenzen, die sich auch in seinem Prosawerk über die zurückliegende Zeit bemerkbar machten und deshalb schon jetzt der Erwähnung bedürfen. Diese Grenzen liegen in der gelegentlichen Überbewertung der Rolle der einzelnen, besonders der herausragenden Persönlichkeit in der Geschichte, vor allem aber in Wasows ungenügend differenzierter Sicht auf den Aprilaufstand von 1876 und auf die bulgarische revolutionäre Befreiungsbewegung überhaupt. Letztere betrachtete er stets als eine Angelegenheit der ganzen Nation, als ein Anliegen aller Klassen und Schichten, der Tschorbadshis einbegriffen. Auch hieß er nur die nationale Zielsetzung gut - die Befreiung Bulgariens vom osmanischen Joch und brachte kein Verständnis auf für deren Verbindung mit sozialen Aufgaben. Wasow glaubte, dies spalte die Kraft der Nation. Wie ernst es ihm damit war, zeigt die Wahl der in der Epopöe gewürdigten Persönlichkeiten. Unter ihnen fehlt Botew, der kompromißlose Gegner aller Richtungen in der Befreiungsbewegung, die deren soziale und klassenmäßige Ziele zu kaschieren oder auszuklammern suchten. Die Hinwendung zur Prosa, die in Wasows Schaffen über die Epoche der Wiedergeburt bereits während der Arbeit an der Epopöe zu beobachten ist, hängt zweifelsohne damit zusammen, daß Wasow die begrenzten Möglichkeiten der Lyrik - auch wenn solche Genres wie das Poem mobilisiert und Aufbautechniken wie der Zyklus angewandt werden - für die künstlerische Gestaltung großer historischer Prozesse erkannt hatte. Auch wenn es ihm gelang, die wichtigsten Linien der Entwicklung zu ziehen und den Geist der 84
Epoche einzufangen - die Vielfalt der Erscheinungen und ihre Widersprüchlichkeit blieben ihm versagt. Das entworfene Gesamtbild war zwar zutreffend, doch viel zu feierlich dargeboten und deshalb einseitig. Das gilt vor allem für die gewürdigten Persönlichkeiten: beeindruckende Titanen und Vorbilder, doch weit entrückt von allem Alltäglichen und Durchschnittlichen im Leben und somit auch vom Leser. Das schränkte ihre Wirkung ein, und Wasow wurde sich dessen bald bewußt. Von der Prosa versprach er sich, ein plastischeres und vielseitigeres Bild der jüngsten Vergangenheit und zugleich Gestalten schaffen zu können, die dem Leser durch ihre Ideen, Moral oder Kühnheit nicht nur Ehrfurcht einflößten, sondern Beispielhaftigkeit der Haltung und der Überzeugungen mit breiten Identifizierungsmöglichkeiten verbänden. . Besonders aufschlußreich für Wasows diesbezügliche Bemühungen und für die Erfahrungen, die er machte, bevor er mit der RomanEpopöe Unter dem Joch begann, ist die Powest Nemili-nedragi (Die Verfemten; 1883). Hatte der Autor in der Epopöe der Vergessenen die jüngste Vergangenheit von ihrer ruhmreichen Seite her gezeichnet und gestaltete er in ihr einige der bedeutendsten Repräsentanten nur in den erhabensten, „geschichtemachenden" Momenten ihres Wirkens, so wandte er sich in Die Verfemten dem Alltag der gewöhnlichen Befreiungskämpfer, der revolutionären Emigranten in Rumänien zu, zu denen er selbst eine Zeitlang zählte. Mit dem Wechsel des Objekts der Darstellung änderte sich auch Wasows Haltung. Die respektvolle Distanz und der feierliche Gestus der Epopöe wichen einer eigenwilligen Mischung von Anerkennung, Anteilnahme und humorvoller Nachsicht, die romantische Überhöhung trat zurück oder vermischte sich zumindest mit nüchternem Realismus. Dies entsprach durchaus der widerspruchsvollen Existent der Emigranten: ihrem durch die Erinnerung an vergangene Kämpfe ungebrochenen Selbstgefühl und ihrem von der Sehnsucht nach neuen Taten geläuterten Innenleben einerseits und ihrem miserablen, durch Armut, Entbehrungen, Krankheiten, Streit und Hunger geprägten Dasein, das manche von ihnen (um überleben zu können) zu Betrügereien und Diebstählen trieb, andererseits. Indem Wasow diesem existentiellen Widerspruch Rechnung trug, stieß er nicht nur 'Zu einer plastischen und lebensnahen Gestaltung seiner Figuren vor, sondern es gelang ihm auch, ein in sich sehr differenziertes Bild vom schlichten bulgarischen Kämpfer in der nationalen Befreiungsbewegung zu entwerfen. Außerdem vermochte 85
er dem Leser 'Zu suggerieren, daß dieser gewöhnliche Mann aus dem Volke trotz all seiner Schwächen und Unvollkommenheiten genauso den „positiven" Helden der Epoche verkörpert wie Rakowski oder Lewski, auch wenn er deren Bedeutung für sich nicht beanspruchen konnte und keine „ideale" Gestalt war. Diesem „kleinen", namenlosen Helden der Geschichte brachte Wasow in Übereinstimmung mit seinen demokratischen Idealen alle Sympathie entgegen, und er gab sich in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts große Mühe, ihn auch für die Zeit nach der Befreiung, unter den Bedingungen des bourgeoisen Bulgariens 'zu finden und zu gestalten." Doch nicht nur in beVug auf die Figurenwahl und das Konzept vom Epochenhelden ist die Powest Die Verfemten für uns von Interesse. Sie verdeutlicht, welchen Weg der Autor als Prosaiker zurücklegen mußte, um gegen Ende der achtziger und in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts Izu zwei neuen Genres - zum Roman und zur Erzählung - zu gelangen. Von seiner Anlage her - Verwertung von persönlich Erlebtem, Nutzung von dokumentarischem Material für den Sujetaufbau und von Prototypen für die Gestalten - korrespondiert Wasows Werk stark mit dem Grundtyp der bulgarischen Prosa aus der Zeit vor 1878, der biographischen und autobiographischen Powest. In Die Verfemten ist der junge Dichter Bratschkow, der die gesicherte Existenz eines Kaufmannssohnes aufgibt und in Bukarest ein entbehrungsreiches Leben inmitten der politischen Emigranten beginnt, kein anderer als der Autor selbst. Wasow nahm dennoch Abstand davon, in der Ich-Form zu erzählen (was er in seinem ersten Prosawerk, den Memoiren Unlängst, getan hatte), und er berichtete auch nicht allein über die Erlebnisse Bratschkows. Im Unterschied zur Struktur der biographischen Powest in der Wiedergeburt machte er die Erlebnisse einer ganzen Gruppe von Kampf- und Leidensgenossen Bratschkows zum Gegenstand der Gestaltung. Dieses Bestreben Wasows, das Schicksal von mehreren Figuren zu reflektieren, d. h., sich bei der Behandlung des Lebens der „Verfemten" nicht auf einen exemplarischen Fall zu beschränken, sondern „in die Breite zu gehen", um so den Stoff besser sowie in seiner Vielschichtigkeit zu gestalten, geht mit zwei weiteren Besonderheiten einher. Sie gehören gleichfalls zu den bedeutenden Neuerungen, die Wasow in die Entwicklung der bulgarischen Powest einbrachte: das konsequent selektive Verfahren bei der Zusammensetzung der Episoden und die Distanzierung von der vereinseitigenden, fast ausschließlich auf 86
Typisierung ausgerichteten Figurengestaltung im Prosawerk der Vorgänger Drumew, Blaskow und Karawelow. Erinnert sei daran, daß die bulgarischen Powestautoren in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts die ganze Biographie ihrer Hauptfiguren zu erzählen pflegten. Dies mußten sie auch, weil sie die Biographie als Mittel handhabten, um die gesellschaftlichen Zustände in Bulgarien aufzudecken, die für die soziale und politische Misere der Nation (vgl. Sofroni) bzw. für die Ausbildung von einer Reihe negativer sozialer Typen (vgl. Karawelow) verantwortlich waren. Wasow setzte sich mit seiner Powest nicht das Ziel, soziale Analysen anzustellen und Gestalten zu zeigen, die das exemplarische „Erziehungsprodukt" eines bestimmten Milieus waren. Wichtig war ihm nicht die soziale Herkunft und Zugehörigkeit der Figuren, sondern ihr Verhältnis zur bulgarischen Heimat und ihre Haltung zur revolutionären Befreiungsbewegung. Zum Gegenstand der Gestaltung machte er in seinem Werk nur jene Abschnitte ihrer Biographie, die unmittelbar damit zusammenhingen und die für ihre Bereitschaft, für die Freiheit der Nation zu kämpfen, am aussagekräftigsten waren - einige kurze Zeitspannen in den Jahren 1871/72 und 1876 (das Bukarester Exil und die Beteiligung als Freiwillige am Serbisch-Türkischen Krieg). Was davor und dazwischen geschah, ließ Wasow weg, bzw. reflektierte er nur mit wenigen Worten. Bedenkt man den streng chronologischen und beim „novellistischen" Typ der Powest Drumews oder Blaskows auch sehr schwerfälligen, keinerlei „Sprünge" in der Zeit oder im Raum zulassenden Sujetaufbau (wodurch in den Erzählfluß viele überflüssige, weder die Handlung vorantreibende noch die Figuren ergänzend charakterisierende Episoden hereingenommen wurden), so wird der Fortschritt klar, den Wasow mit der f u n k t i o n a l e n H a n d h a b u n g d e r E p i s o d e in seiner Powest erreichte. Indem er zugleich jede einzelne Episode so anlegte, daß sie unabhängig von den anderen Wesentliches zur Realisierung des Ideengehaltes leistete und in sich abgeschlossen wirkte, „verselbständigte" er sie in hohem Maße im Vergleich 'zur Episode in der Wiedergeburtspowest und ebnete sich damit den Weg zur Schaffung der Kurzerzählung. Zu beachtlichen Ergebnissen gelangte Wasow in Die Verfemten auch in puncto Individualisierung der Figuren. Da es ihm nicht wie Karawelow um den Aufbau von sozialen Typen ging und er die moralische Beschaffenheit sowie die ideell-politischen Überzeugungen der Emigranten nicht von ihrem sozialen Status linear ableitete, 87
sondern ihre Typisierung nur auf einige wenige, von der sozialen Herkunft und vom genauen politischen Standort unabhängige Züge wie Patriotismus und Opferbereitschaft beschränkte, ließ Wasow ganz bewußt den individuellen Charakter der Figuren in den Vordergrund treten. Und gerade hier kam sein Talent als Erzähler besonders zum Ausdruck. Obwohl mit recht sparsamen Mitteln gezeichnet, mit ganz flüchtigen biographischen Angaben und nur einzelnen, jeweils spezifischen äußerlichen Merkmalen, Charaktereigenschaften und Gewohnheiten versehen, die Wasow aber durch die Sprache, die Gestik und zuweilen durch die Art, sich zu kleiden, geschickt ergänzte und „verdichtete", präsentieren sich alle „Verfemten" mit einem ureigenen, unverwechselbaren „Gesicht". Unvergesslich bleiben dem Leser nicht nur solche ausgeprägten Persönlichkeiten wie Strandshata, der ehemalige stol'ze Fahnenträger der Freischärler Chadshi Dimitars 100 , der im Exil die Freiheitsfahne mit dem Kochlöffel vertauschen mußte, um auch als schwerkranker Mann seinen Kampfgenossen nützlich zu sein, oder Makedonski, der kraftstrotzende Riese, der mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der er die Kasse reicher Bukarester Kaufleute „knackt" und notfalls sogar seine eigenen Kameraden bestiehlt oder beschummelt, auch bereit ist, den gefährlichsten revolutionären Auftrag zu übernehmen, sondern auch solche weit weniger auffallenden Emigranten wie Poptscheto, ein ehemaliger Geistlicher, dessen ungestümer Patriotismus sich u. a. in schrecklich talentlosen Gedichten Luft macht. Unter diesen Figuren nimmt der „Neuling" unter den „Verfemten", Bratschkow, insofern einen besonderen Platz ein, als der Autor trotz der gewählten auktionalen Erzählsituation einige Episoden aus dem Zeitraum 1871/72 größtenteils aus seiner jugendlich-naiven Sicht erzählt. Dadurch erfahren die gebotenen Szenen eine reizvolle romantische Färbung. Wasow bediente sich allerdings dieser Sicht sehr maßvoll und kehrte immer wieder zu der nüchternen und mitunter ironisierenden Erzählperspektive des allwissenden auktorialen Erzählers zurück. Er brauchte diese Sicht dringend, um aus ganz anderem Blickwinkel als Bratschkow, der seine eigene Jugendzeit verkörpert, nämlich aus den Erfahrungen der Zeit nach der Befreiung das Geschehen und die Figuren der Powest bewerten ^u können. Diese Struktur verschaffte ihm die Möglichkeit, als Zeuge zweier Epochen Vergleiche anzustellen und seiner Enttäuschung über den kapitalistischen Staat in kurzen, bitteren Reflexionen Ausdruck zu geben: ¿Das war die Zeit der Selbstaufopferung, weil aus dem 88
großen Leid große Heldentaten hervorgehen, so wie heutzutage d i e Z e i t d e r k l e i n e n C h a r a k t e r e ist." 101 - Wie wirkungsvoll - aufrüttelnd und anklagend zugleich - Wasow den auktorialen Erzähler einzusetzen verstand, ist besonders am abschließenden, den Ideengehalt des Werkes meisterhaft pointierenden Satz zu ersehen. Bezugnehmend auf das Schicksal Makedonskis, des einzigen Überlebenden der „Verfemten", der als einarmiger Invalide ohne Rente nach 1878 seinen Lebensunterhalt als Reinigungskraft verdienen und sich die Grobheiten kleiner Angestellter gefallen lassen muß, ruft der Erzähler aus: „Armer, armer Makedonski! Warum starbst du nicht bei Gredetin." 102 Man könnte Wasow vorhalten, er habe in Die Verfemten zwar ein vom Charakter und von der Individualität der Figuren her sehr mannigfaltiges und einprägsames Bild der bulgarischen politischen Emigranten in Rumänien entworfen, ihre p o l i t i s c h e Differenziertheit dabei aber kaum beachtet. In der Tat stellt das Werk in dieser Hinsicht im Vergleich zu Karawelows sozialpolitischer Powest eher einen Rückschritt als einen Fortschritt dar. Berücksichtigt man aber, daß es Wasow hier nicht um eine Analyse der politischen Gruppierungen innerhalb des nationalen revolutionären Widerstandes ging, sondern darum, den Staat fcur Anerkennung und Versorgung der Veteranen des Befreiungskampfes, unabhängig von deren politischen Positionen, zu bewegen, so dürfte man diesem Tatbestand keine allzu große Bedeutung beimessen. Wie falsch es überhaupt bei einem humanistisch-demokratischen Autor wie Wasow wäre, bei der Bewertung seiner der jüngsten Vergangenheit gewidmeten Werke primär von den Grenzen seines nationalrevolutionären Konzepts oder von dem von ihm gewählten konkreten Gegenstand der Gestaltung auszugehen anstatt von den s p e z i f i s c h e n A u f g a b e n , die er sich damit stellte, sowie von deren künstlerischer Realisierung, davon zeugt Wasows nächste Powest Cicovci (Kleinstädter; 1885). In diesem Werk, dessen Handlung im Bulgarien der endsechziger Jahre angesiedelt ist, würde man vergebens nicht nur nach revolutionären Aktionen, sondern selbst nach bedeutenderen Verallgemeinerungen über die sozialen Beziehungen im Lande vor der Befreiung suchen. Trotzdem ist die Powest ein aussagekräftiges Werk, das zugleich einen wichtigen Entwicklungsschritt Wasows als Prosaiker darstellt: Sie ging seiner Hinwendung zum Roman und zur Erzählung unmittelbar voraus. Aufschluß über die künstlerischen Ambitionen, die Wasow mit 89
den Kleinstädtern verband, geben der Untertitel der Powest - „Eine Galerie von bulgarischen Typen und Sitten während der Türkenzeit" - sowie die Art, wie der Autor selbst sein Werk einschätzte. Er bezeichnete es schlicht als eine Humoreske, in der er viele ehemalige Mitbürger aus seiner Heimatstadt Sopot verspottet habe. Wir haben es hier also wieder mit autobiographischem Hintergrund zu tun, von dem sich Wasow aber in noch stärkerem Maße als in Die Verfemten episch distanzierte: Er verzichtete auf eine Gestalt wie Bratschkow, die sein persönliches Verhältnis von damals zu den Gestalten und zum Geschehen hätte reflektieren können, und berichtete nur aus der überschauenden Perspektive des auktorialen Erzählers. Was wir dabei erfahren, ist weder weltbewegend noch atemberaubend, doch trotz fehlender äußerer Spannung auf eigene Weise unterhaltsam und amüsant. Es ist der Alltag in einer Kleinstadt zwischen den Ausläufern des Balkans und des Mittelgebirges, in dem zwar der Geist der Epoche (die diesseitsorientierte und lebensbejahende Haltung der Bürger, ihr erwachtes Nationalbewußtsein ihr Interesse für Bildungsfragen, für die Lösung der Kirchenfrage sowie ihre Spekulationen, wie Bulgarien befreit werden könnte) in vielen kleinen Details präsent ist, in dem sich aber nichts Bedeutendes abspielt. Die Fehde zweier Nachbarn - Seljamsasa und Koprinarkata - wegen einer Traufe ist der größte Konflikt, der zugleich als wichtigstes sujetbildendes Element in der Powest fungiert. Das hängt zweifellos mit dem Einfluß Gogols zusammen, von dessen Schaffen, speziell von der Erzählung Geschichte des Streitfalls Iwan Iwanowitsch gegen Iwan Nikiforowitsch, Wasow genauso wie Karawelow Sujetaufbau und humoristische Figurenzeichnung lernte. Nutzte indes Gogol die Fehde aus nichtigem Anlaß zu dem Zweck, die Fragwürdigkeit und die Banalität des Lebens seiner Hauptfiguren zu verdeutlichen, so bedienten sich Karawelow in Bulgaren der alten Zeit und nun Wasow dieses Motivs auch aus anderen Gründen. Dieses elementare und „ungewichtige" Sujet oder - genauer ausgedrückt - dieses „Minimum an Sujet" ermöglichte es ihnen, sich von kompositorischen Überlegungen zu lösen, so daß die ganze Aufmerksamkeit dem Hauptanliegen der Werke, d e r S c h a f f u n g plastischer und individualisierter F i g u r e n , zugute kam. (Insofern stellt Wasows Powest Kleinstädter eine direkte Fortsetzung der von Karawelow mit Bulgaren der alten Zeit begründeten Tradition dar.) 90
Das Ergebnis Wasows unterschied sich aber - trotz gleicher Anlage beider Werke - von der Leistung des Vorgängers in einigen wesentlichen Punkten. Dazu gehört der Versuch, auf annähernd gleicher Seitenzahl (ca. 60 Seiten) nicht lediglich zwei Figuren, sondern ihrer mehr als ein Dutzend zu porträtieren, vor allem aber das Bestreben, die Gestalten weniger sozial zu typisieren als vielmehr das jeweils Besondere, die ganz i n d i v i d u e l l e A u s p r ä g u n g b e s t ä n d i g e r n a t i o n a l e r Z ü g e herauszuarbeiten. Deshalb lassen sich Wasows Figuren hier nicht so leicht wie bei Karawelow in „positive" und „negative" einteilen. Weder erscheinen sie als eindeutige Erziehungsprodukte bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse, noch machen sie in der Powest eine Entwicklung durch. Der Leser wird mit fertigen Charakteren konfrontiert, die keine „Ideenträger" des Autors, sondern eher eine Veranschaulichung der Vielfalt der menschlichen Natur und somit „nur sich selber treu sind"10-'. Natürlich verzichtete Wasow nicht vollkommen darauf, sie zu werten. Mit den Mitteln des Humors zeigte er z. B. sein kritisches Verhältnis zur kulturellen Zurückgebliebenheit und Primitivität einiger Gestalten. Wovon er aber konsequent Abstand nahm, das war die Einschätzung aus der Warte eines hohen gesellschaftlichen oder nationalen Ideals wie in Die Verfemten. So schuf Wasow die ersten Figuren in der bulgarischen Literatur, die sozusagen weitgehend „frei" vom Diktat der Ideen des Autors waren. An dieser Stelle muß allerdings hervorgehoben werden, daß sich Wasow des experimentellen Charakters seiner Powest, die er rückblickend nicht zufällig als „Humoreske" abwertete, völlig bewußt war und ihm bald klar wurde, daß die hier erprobte Gestaltungsweise sich schwerlich mit seiner engagierten Haltung zu allen nationalen (und ab etwa Ende der achtziger Jahre auch zu vielen sozialen) Fragen vereinbaren ließ. Bezeichnend ist, daß er später nie wieder zu Experimenten dieser Art zurückkehrte. Die Erfahrung aber, die er mit Kleinstädter machte und die nicht zuletzt durch Wasows Wunsch bedingt wurde, sich einmal ganz klar von Karawelow abzugrenzen (den er zwar als „Denker" und „Satiriker" sehr schätzte, aber für einen „schwachen Künstler" hielt, weil er die Figuren zu Illustrationen seiner Ideen „degradierte"), hinterließ in seinem weiteren Schaffen bleibende Spuren. Sie bestärkte Wasows Überzeugung, daß dem individuellen Charakter einer Figur stets eine gewisse Selbständigkeit gebührt, daß er nie ganz in Abhängigkeit von den Ideen verbleiben darf, als deren Träger die Figur fungiert. 91
Diese Überzeugung wurde zu einem wesentlichen Element der realistischen Methode des Autors. Doch noch in einer anderen Hinsicht ist die Powest Kleinstädter für uns von Belang. Die Überwindung der traditionellen autobiographischen und biographischen Struktur der Prosa aus der Wiedergeburtszeit war eine wichtige Errungenschaft für Wasow. Sie spornte ihn an, sich - nachdem er in bezug auf eine deskriptive Figurengestaltung bereits Beachtliches erreicht hatte - auch im Aufbau von komplizierten Sujetlinien sowie in der Gestaltung von umfassenden Konflikten, in denen sich die Zustände und Ideen eines ganzen nationalhistorischen Abschnitts spiegelten, zu versuchen, kurz: den Übergang zum Roman zu wagen. Wasows experimentelle Distanzierung vom Sujet als einer Kette von zeitlich oder räumlich aufeinanderfolgenden Handlungen und Ereignissen und die Handhabung der Episode als eines weitgehend verselbständigten Sujetfragments in Kleinstädter bahnten ihm andererseits in noch stärkerem Maße als Die Verfemten den Weg zur Erzählung. So belegt dieses Werk, wie in der überkommenen Struktur der Powest die innerliterarischen Voraussetzungen für die Entstehung von zwei neuen Genres in der bulgarischen Prosa heranreiften. Sie sollten ihr dazu verhelfen, den neuen vielfältigen Aufgaben nach 1878 gerecht zu werden. Von da an wurde die Erzählung schnell zum führenden Prosagenre für viele Jahrzehnte. Der während der Emigration in Rußland 104 1888 entstandene Roman Unter dem Joch, den Wasow 1889/1890, nach seiner Rückkehr, in Bulgarien veröffentlichte, stellte von der Anlage und der Konzeption her eine echte Synthese seiner vielfältigen Bemühungen um die künstlerische Bewältigung der jüngsten Vergangenheit der Nation dar. Besang der Autor in Epopöe der Vergessenen die großen Persönlichkeiten und die geschichtemachenden Ereignisse der bulgarischen Wiedergeburt, arbeitete er in Die Verfemten den Anteil der vielen „kleinen" und namenlosen Helden an der revolutionären Befreiungsbewegung heraus und machte er den Leser in Kleinstädter mit der alltäglich-provinziellen, dafür aber in ihrer Spezifik eingefangenen Existenz des Volkes in der Zeit vor der Befreiung vertraut, so versuchte er im Roman Unter dem Jocb diese verschiedenen, bisher unabhängig voneinander behandelten Seiten des nationalen Lebens zu einem Ganzen, einem komplexen Bild der Epoche zu vereinigen. Welches Material Wasow für die Realisierung seines Vorhabens wählte, auf welche Weise er es organisierte und welche 92
Dinge er dabei - in Übereinstimmung mit seinem Konzept von der Epoche - akzentuierte, darüber gibt die Fabel einige Auskunft: Im Mai 1875 taucht in der kleinen Balkanstadt Bjala Tscherkwa der Berufsrevolutionär Iwan Kralitsch auf. Von einem berüchtigten Verbannungsort für bulgarische Freiheitskämpfer in Asien geflohen und durch den Mord an zwei Türken, die sich an einem Mädchen vergehen wollten, zusätzlich belastet, kann er hier, dank der Hilfe Tschorbadshi Markos, unter dem falschen Namen Boitscho Ognjanow als Lehrer Fuß fassen. In der Stadt, die einige Jahre davor ein Schlupfwinkel Lewskis gewesen ist - als dieser das Land durchstreifte, um geheime revolutionäre Komitees zu gründen - , brodelt es von Tag zu Tag mehr gegen die osmanischen Unterdrücker. Kralitsch, der schnell die Sympathien der Bürger und die Liebe der Lehrerin Rada gewinnt, stellt sich an die Spitze der Patrioten, die auf einen bewaffneten Aufstand hinarbeiten. Gefährdet wird die Gruppe, zu der u. a. ein Doktor Sokolow gehört, durch Verrat. Steftschow, der Sohn eines Tschorbadshis und Türkenfreund, der aus politischen und persönlichen Gründen mit Ognjanow und Sokolow verfeindet ist, schöpft Verdacht, daß sich hinter dem neuen Schullehrer der von der Polizei steckbrieflich gesuchte Flüchtling verbirgt, und es gelingt ihm auch, ihn als den Mörder der beiden Türken zu überführen. Kralitsch muß wieder fliehen. Zuflucht findet er in einem Dorf, wo er bald erfährt, daß man ihn in Bjala Tscherkwa für tot hält, daß sein Freund Sokolow eingesperrt und Rada aus dem Schuldienst entlassen sei. Besorgt um sie und das Komitee kehrt Kralitsch im Frühjahr 1876 in die Stadt zurück. Hier hat nach zeitweiligem Abebben eine neue, noch stärkere Welle revolutionärer Begeisterung fast alle Einwohner, ja sogar die Familienangehörigen des erklärten Feindes der nationalen Bewegung, Tschorbadshi Jurdan, erfaßt. Selbst der jede Gewalt verabscheuende Tschorbadshi Marko ist von dem revolutionären Aufschwung mitgerissen: Er läßt seinen Kirschbaum fällen und aus dem Stamm eine Kanone drehen. Dem örtlichen Komitee gehören jetzt zehn Mann aus allen sozialen Schichten an, darunter auch ein Student, Kandow, der aus Rußland anarchosozialistisches Ideengut mitgebracht hat. Als Kralitsch in die Stadt kommt, hat das Komitee gerade eine Sitzung, auf der Kableschkow, ein Vertreter des Bulgarischen Zentralkomitees, verkündet, daß die Stunde des Aufstandes bald schlagen und sich dann ganz Bulgarien erheben werde. Ognjanow hilft dem Komitee, Geld für Waffen aufzutreiben, bald verläßt er aber Bjala Tscherkwa, 93
um in einer benachbarten Gegend für den Aufstand zu agitieren. E r veranlaßt Rada, in die Stadt Klissura zu ziehen, damit er sie in seiner Nähe hat. Rada folgt aber Kandow, der sich während Ognjanows Abwesenheit in sie verliebt hat. Rada weiß, daß Kandow ihre Liebe zu Ognjanow respektiert, versäumt es aber, Kralitsch davon in Kenntnis zu setzen. So muß er durch einen anonymen Brief von Kandows Leidenschaft für Rada erfahren. Ognjanow beachtet den Wisch kaum, als er aber auf der Durchreise nach B j a l a Tscherkwa, wo er - laut Order des Zentralkomitees - am 1. Mai den Aufstand ausrufen soll, Rada in Klissura aufsucht und Kandow bei ihr vorfindet, bricht sein Vertrauen zusammen. D a genau in diesem Moment völlig überraschend in der Stadt der Aufstand ausgerufen wird, bleibt für eine Klärung der Angelegenheit keine Zeit. Dieser um 10 Tage verfrühte Beginn der Volkserhebung in Klissura bringt nicht nur für Rada und Kralitsch viel Leid mit sich. E r wird geradezu verhängnisvoll für den ganzen Verlauf der Revolution. Denn die Verwirrung, die die vorzeitige Erhebung in Klissura und einigen weiteren Balkanstädten in den vielen anderen, auf den 1. Mai eingestellten Orten auslöst, ist groß. In B j a l a Tscherkwa führt die unerwartete Situation dazu, daß die schwankenden und ängstlichen E l e mente im örtlichen Komitee Oberhand gewinnen. Sie überlassen das Geschick der Stadt der Initiative Staftschows und Tschorbadshi Jurdans. Beide sorgen dafür, daß die Stadt ihre Waffen sofort mit einer großen Geldsumme an die türkischen Behörden übergibt und sich „unter den Schutz des Sultans" stellt, nachdem die wenigen standhaft gebliebenen Patrioten unschädlich gemacht worden sind. Das ist der Mindestpreis, mit dem sich B j a l a Tscherkwa - obwohl sich die Stadt nicht erhoben hat - vor Vergeltungsaktionen der Osmanen retten kann. Ähnliches spielt sich in vielen anderen Ortschaften ab, so daß die wenigen sich vorzeitig erhebenden Städte und Dörfer sich selbst, d. h. einem sicheren Untergang, überlassen werden. Am sechsten Tag nach Ausruf des Aufstandes wird Klissura von zahlreichen Truppen des Sultans belagert. D e r Widerstand der inzwischen demoralisierten Aufständischen, die sich von ihren Kameraden in den anderen Orten im Stich gelassen fühlen, ist kurz. D i e Stadt wird geplündert und in Brand gesteckt, die Einwohner abgeschlachtet. Ognjanow, dessen kühner Einsatz entscheidend zur Organisierung der Verteidigung beiträgt, bleibt wie durch ein Wunder am Leben. Nach tagelangem Streifen durch den Balkan trifft er einige Aufständische von Klissura, die ihm mitteilen, daß Rada gerettet
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werden konnte und sich nun in Bjala Tscherkwa aufhält. Ognjanow weiß, daß es Selbstmord wäre, in die von den Türken besetzte Stadt zu gehen. Er will nach Rumänien flüchten, doch unbewußt schlägt er die falsche Richtung ein und wacht eines Morgens in der Umgebung von Bjala Tscherkwa auf. Der glückliche Zufall führt ihn hier mit Sokolow zusammen, der als einziger von den Anhängern des Aufstandes aus dem örtlichen Komitee am Leben geblieben ist. Er macht Ognjanow klar, wie falsch seine Verdächtigungen in bezug auf Radas Liebe und Treue sind. Nun will Ognjanow nicht ohne Rada nach Rumänien gehen. Als sie aber - wiederum durch glückliche Fügung - das Versteck der beiden findet und in die Arme Kralitschs fällt, ist es für eine Flucht zu spät. Von allen Seiten von türkischen Gendarmen umstellt, finden die drei in einem ungleichen, heroischen Kampf den Tod. Was aus dem hier grob skizzierten Handlungsablauf vielleicht nicht ganz klar ersichtlich wird, ist, daß Wasow vor allem die V o r b e r e i t u n g des Aufstandes, und zwar weniger in ihrem organisatorischen als in ihrem psychologisch-charakterologischen Aspekt (im Sinne von Reaktionen, Haltungen und Wandlungen der Figuren), zum eigentlichen Gegenstand der Gestaltung machte, während er auf den Aufstand selbst nur einen relativ kleinen Teil der Handlung bezog. Dies korrespondiert mit dem Ideengehalt des Werkes, speziell mit Wasows künstlerisch eindrucksvoll realisierter Auffassung von der Zeit unmittelbar vor Ausbruch des Aprilaufstandes 1876 als dem lichtesten Abschnitt in der bulgarischen Geschichte. Um dem Leser diese Auffassung nachdrücklich zu vermitteln, nutzte Wasow alle Möglichkeiten, die ihm das auktoriale Erzählen bot, einschließlich des längeren essayistischen Exkurses: „Unsere Nachkommen werden staunen, und nicht nur sie. Sogar wir selbst, die Söhne jener Epoche, die wir bereits durch eine Reihe geschichtlicher Ereignisse ernüchtert sind, schütteln heute den Kopf und wundern uns über diesen Rausch der Geister, über diesen erhabenen Wahnsinn eines ganzen Volkes, das sich zum Kampf gegen ein mächtiges Reich entrüstete, dessen militärische Kräfte immer noch gewaltig waren! Das sich vorbereitete, in der Hoffnung, dieses Reich mit bis zur Lächerlichkeit unzulänglichen Mitteln besiegen zu können . . . Selten gibt uns die Geschichte ein solches Beispiel des Selbstvertrauens, das bereits an Wahnsinn grenzt. Das bulgarische Nationalbewußtsein hatte sich niemals vorher zu einer derartigen Höhe aufgeschwungen und wird sie wohl auch kaum ein zweites 95
Mal erreichen." Und dann: „Wir haben dieses Vorspiel des Kampfes besonders hervorgehoben, weil es überwältigend ist und einen Maßstab für die Gewalt einer großen Idee abgibt, die auf fruchtbaren Boden gefallen ist. D e r Kampf selbst, der darauf folgte, verdient es kaum, als solcher bezeichnet zu werden . . . " 1 0 5 Deshalb begnügte sich Wasow auch, ihn nur an einigen wenigen Episoden, verbunden vor allem mit der Verteidigung von Klissura, zu veranschaulichen. Doch wenn der Aufstand auch schlecht organisiert, erfolglos und praktisch von Anfang an zum Scheitern verurteilt war, wenn er auch viele Menschenopfer forderte, umsonst war das Wagnis keineswegs. D e n n : „Es brachte uns Batak 1 0 6 , aber es schickte uns auch Alexander I I . " 1 0 7 Wasows Überzeugung stimmt auch in diesem Punkt mit der historischen Wahrheit überein - die Volkserhebung und ihre grausame Unterdrückung machten Europa klar, wie überreif schon die „Ostfrage" für eine Lösung war, und schufen günstige politische Voraussetzungen für den Russisch-Türkischen Krieg. Weit auffälliger als die Vorbereitung des Aufstandes ist im Handlungsablauf die spezifische Beschaffenheit der zentralen Achse des Romangeschehens. Diese bilden vor allem die abenteuerlich-sensationell und gelegentlich auch romantisch-sentimental anmutenden Erlebnisse des Haupthelden Ognjanow, die stark an die Kompositionsmittel der von Drumew und Blaskow in der Wiedergeburt geprägten „novellistischen" Powest erinnern. In der T a t lehnte sich Wasow, der noch keinerlei Erfahrung beim Aufbau einer Romanhandlung hatte, in erster Linie an dieses nationalliterarische Erbe an, bot es ihm doch die beinahe einzigen brauchbaren Lösungen, um das gewählte Material in einer aktionsreichen Fabel mit ausgeprägten Konfliktsituationen zu organisieren. D a ß der Autor dabei eine besondere Vorliebe für ungewöhnliche und überraschende E r eignisse und Wendungen entwickelte, etliche Szenen in eine geheimnisvolle Atmosphäre tauchte und dem Zufall eine wichtige Rolle einräumte, ist allerdings nicht allein auf Drumew und Blaskow zurückzuführen. Hier machte sich auch direkt der Einfluß des französischen romantischen Romans bemerkbar, von dessen Vertretern Wasow Sue und Hugo kannte und schätzte. Indem Wasow aber die Erlebnisse Ognjanows nicht verselbständigte, sondern sie stets aufs engste mit dem großen Ereignis der Epoche, der nationalen B e freiungsbewegung, in Verbindung brachte und sie zugleich fest in den detailfreudig und wirklichkeitsnah gestalteten Alltag des bulgarischen Volkes am Vorabend des Aufstandes einbettete, meisterte
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er weit besser als seine bulgarischen Vorgänger die Gefahr, ins Trivial-Sensationelle bzw. Melodramatische abzurutschen. D i e romantischen Elemente brachten dem Werk einen echten Gewinn ein: D e r Unterhaltungswert und somit die Wirkungspotenzen wurden erheblich erhöht. D i e enge Beziehung der Erlebnisse Ognjanows zum Freiheitskampf ist erstens aufschlußreich für die Art, wie Wasow verstand, den n a t i o n a l e n Konflikt, den er seinem Werk zugrunde legte den Zusammenstoß zwischen dem um seine Befreiung ringenden bulgarischen Volk und seinen osmanischen Unterdrückern - , an einem individuellen Schicksal spannungsvoll zu veranschaulichen, und zweitens für sein Vermögen, dem Leser die untrennbare Verflechtung des Geschicks des einzelnen mit dem Geschick der Nation zu suggerieren. Beides prägte Wasows Herangehen auch bei der Gestaltung der anderen Figuren im Roman. E r ließ zwar ihre rein persönlichen Spannungen und sozialen Beziehungen zueinander keineswegs außer acht, ordnete diese aber entschieden dem nationalen Konflikt unter, d. h. dem spezifischen Verhältnis jedes einzelnen zum revolutionären Geschehen und der Abhängigkeit des individuellen Schicksals von der Lösung des Zentralkonflikts. Durch diese massive Hervorhebung der E i n h e i t v o n i n d i v i d u e l l e m u n d n a t i o n a l e m S c h i c k s a l rückt Unter dem ]och genremäßig in sehr große Nähe zur Epopöe, und ein Vergleich des Romans mit Lew Tolstois Krieg und Frieden, einem klassischen Werk mit epopöenhaften Zügen (dessen weltliterarische Relevanz Wasow bereits 1884 zu würdigen wußte 1 0 8 ), zeigt, in welch hohem Maße hier über diese Einheit hinaus Gemeinsames vorliegt: In beiden Romanen sind große historische Ereignisse unmittelbar in die Handlung hineingenommen, tritt neben den Hauptfiguren das Kollektivum Volk als die eigentliche „geschichtsmächtige" K r a f t auf, geht es um eine gesamtnationale Sache, die fast alle Schichten des Volkes zu gemeinsamer patriotischer Aktion treibt; bei Tolstoi ist es der Vaterländische Krieg gegen Napoleon, bei Iwan Wasow der Aprilaufstand gegen das osmanische Joch. Weitere, für die nähere Charakterisierung der realistischen Methode Wasows besonders wichtige Gemeinsamkeiten sind: 1. panoramahafte, detailtreue und wirklichkeitsnahe Gestaltung der Realität; „allwissender" Erzähler (dominierende auktoriale Erzählsituation) und chronologischer Aufbau der Handlung, unterbrochen oft von Reflexionen des Autors (stellenweise auch von längeren essayistischen bzw. publizistisch7
Witschew, Bulg. Prosa
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dokumentarischen Passagen); 2. sorgfältige, plastische Gestaltung der Figuren meist von „außen" nach „innen" und Verwendung von Prototypen; erst durch ihr Engagement für die n a t i o n a l e Sache können die Figuren zu „positiven Helden" avancieren, als solche verkörpern sie die schon angedeutete epische Einheit des Individuellen und des Gesellschaftlichen (im Unterschied z. B. zu den Helden Balzacs, dessen Romane ein Abbild des Kampfes i n n e r h a l b der Gesellschaft und durch eine s o z i a l e Konfliktstruktur gekennzeichnet sind); 3. betonter Hang zur Milieubeschreibung, ausgesprochenes Interesse für den Nationalcharakter, für nationale Besonderheiten in der Psyche der Figuren, Akzentuierung ihrer Naturverbundenheit, ihrer Bindung an die Moral der Vorväter, an noch mehr oder weniger intakte patriarchalische Verhaltensnormen. Die zuletzt genannten Gemeinsamkeiten sind bei Wasow besonders ausgeprägt. Unter dem ]och vermittelt ein geradezu erstaunlich vielfältiges und - in Anlehnung an die Powest Kleinstädter, aus der der Autor einige Figuren samt ihren Namen in den Roman übernommen hat - anschauliches Bild von den Sitten und Bräuchen des Volkes in der Stadt und auf dem Lande. 109 Dies kompensiert gewissermaßen den im Vergleich zu Krieg und Frieden bescheideneren philosophischen Gehalt der bulgarischen Roman-Epopöe. In viel geringerem Maße als bei Tolstoi erscheint der Kampf der Ideen als Zusammenprall von Bewußtseinsinhalten; hier folgt Wasow mehr dem Balzacschen Prinzip der Beschreibung ihrer materiellen Gestalt. Weder Tolstois noch Wasows Figuren sind lediglich eine Illustration bestimmter Auffassungen der Autoren, sie sind stark individualisiert. Doch im Unterschied zu Tolstoi mag Wasow den „schillernden" Helden vom Typ eines Dolochow nicht, seine Figuren sind in eindeutiger Weise „gut" oder „schlecht", „positiv" oder „negativ". Beispiele dafür sind Ognjanow, eine Vorbildfigur, die beinahe alle Eigenschaften eines Berufsrevolutionärs - Entschlossenheit, Kühnheit, Willenskraft und Organisationstalent - mit „ritterlichem" Edelmut und einer romantisch verklärten Gefühlswelt vereint, oder sein treuer Freund, der impulsive, lebenslustige und etwas oberflächliche Arzt Sokolow, aber auch widersprüchlicher gezeichnete Figuren wie der politisch wankelmütige Tschorbadshi Marko oder der Diakon Wikenti (ein junger Mönch, der seinen Wohltäter bestiehlt, um das revolutionäre Komitee finanziell zu unterstützen, bei der Verteidigung von Kliissura aber als Feigling jämmerlich ver98
sagt) einerseits und Steftschow und Tschorbadshi Jurdan, die Feinde der Revolution, andererseits. Typologisch weicht der Wasowsche Realismus in Unter dem Joch vom Tolstoischen vor allem aber durch die erwähnten Elemente des Abenteuerlichen, Zufälligen, Geheimnisvollen und Aufsehenerregenden in der Fabelstruktur ab. Neben dem ausschlaggebenden Einfluß Sues und Hugos wäre in dieser Hinsicht auch die Rolle Dostojewskis zu berücksichtigen. Anlaß dazu gibt im Figurenensemble der Student Kandow, der sich Raskolnikow zum Vorbild nimmt und die einzige Gestalt ist, die einen starken i n n e r e n Konflikt - das Hin- und Hergerissensein zwischen seinen Pflichten als Revolutionär und seiner Liebe zu der Braut des Kampfgefährten Ognjanow - auszutragen hat. Doch Wasows Verhältnis zu dieser Figur ist eher distanziert. Er läßt den Studenten bewußt wahnwitzig erscheinen, und zwar nicht nur, weil er Kandows maßlose Liebesleidenschaft für „unbulgarisch" hält, sondern auch, weil er das von ihm proklamierte utopisch- bzw. anarcho-sozialistische Ideengut, das im Roman undifferenziert als „sozialistisch" schlechthin ausgegeben wird, strikt ablehnt. Darin spiegelt sich die bürgerlich-demokratische Begrenztheit der Wasowschen Weltanschauung, von der Ognjanow, d e r Revolutionär im Roman, der dem Leser die Ideale zu vermitteln hat, in deren Namen sich das Volk erhoben hat, erst recht betroffen ist. Er erscheint nicht etwa als Vertreter des Kampfprogramms eines Lewski (obwohl Wasow Lewski mit als Prototyp für seine Gestaltung nutzte), in dem die nationalen Aufgabenstellungen Hand in Hand m i t s o z i a l e n einhergingen mit dem Ziel, eine V o l k s r e p u b l i k zu errichten. Im Unterschied zu der Ideologie des linken Flügels der bulgarischen revolutionären Befreiungsbewegung und besonders zur Ideologie Botews ließ der Autor seinen Haupthelden für ein n a t i o n a l v e r e n g t e s Programm des Aufstandes eintreten. Für Ognjanow hat die Revolution nur -ein Ziel: die Zerschlagung des osmanischen Joches, wobei er unter dem Begriff „Feind" alle Türken versteht und die Existenz einer zweiten, die Nation spaltenden sozial- und klassenbedingten Frontlinie ignoriert, indem er dem „Volk" auch die Klasse der Tschorbadshis zuordnet. Auch Kableschkow ließ Wasow vom Programm Botews und Lewskis abweichen, indem er ihn in bezug auf die künftige Staatsform Bulgariens als einen Monarchieanhänger zeichnete. Mögen diese Schwächen im Ideengehalt des Werkes aus heutiger Perspektive, d. h. bei der Berücksichtigung seiner Leistung und Be7»
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deutung in vieler anderer Hinsicht, wenig ins Gewicht fallen 1 1 9 , d a m a l s spielten sie eine große Rolle für die frühe bulgarische marxistische Literaturkritik. Dazu dürfte besonders ein Streitgespräch zwischen Ognjanow und Kandow über die Ideen des Sozialismus beigetragen haben, das Wasow - um keinen Zweifel über seinen Standpunkt beim Leser aufkommen zu lassen - in die Romanhandlung einbaute. Hier sparte er wahrlich nicht an Mitteln, um den Studenten als einen Phantasten und wirklichkeitsfremden Phrasendrescher wirken zu lassen. E r stellte dem „überspannten Sozialisten" den „Realrevolutionär" und Praktiker Ognjanow entgegen, der - den spezifischen agrarischen Verhältnissen Rechnung tragend dem Sozialismus in Bulgarien weder für die Gegenwart noch für die Zukunft eine Chance einräumt. Für Dimitar Blagoew, der gerade zu der Zeit, als der Roman erschien, sich darum bemühte, das G e genteil der Wasowschen Ansichten über den Sozialismus und seine Perspektiven in Bulgarien nachzuweisen (durch ökonomische Analysen der kapitalistischen Entwicklung des Landes sowie durch praktische propagandistische Tätigkeit, die 1891 zur Gründung der S D A P B führte), muß das eine echte Herausforderung gewesen sein, auf die er auch prompt reagierte. E r lehnte das Werk kategorisch ab und charakterisierte die Gestalten von Ognjanow und Kandow als „Karikaturen der revolutionären Epoche und ihrer Vertreter"^ 1 1 . Verantwortlich dafür machte er die „begrenzte" Weltanschauung Wasows, sein Unvermögen, „aus der Höhe der philosophischen B e wegungen seiner Zeit" (d. h. des Marxismus - D . W . ) die Figuren und ihre Ideen zu werten. Um den Einblick in die Aufnahme des Romans in der ersten Zeit nach seinem Erscheinen in der bulgarischen literarischen Öffentlichkeit etwas abzurunden, sei gesagt, daß ihm scharfe Kritik auch seitens des (mit der frühen marxistischen Literaturkritik in Bulgarien fast gleichzeitig entstandenen) Kreises „Missal" zuteil wurde. D e r Angriff seiner Vertreter beschränkte sich aber nicht auf Fragen des Ideengehalts des Werkes, sondern lief auf eine grundsätzliche Abwertung, ja Verneinung der Bedeutung Wasows als Schriftsteller hinaus. E r wurde als ein „Traditionalist" im negativsten Sinne des Wortes abgestempelt, als die Verkörperung einer nicht mehr tragbaren Schreibweise und eines der Wiedergeburtsepoche verpflichteten, überholten Literaturverständnisses, das der notwendigen Hebung des künstlerischen Niveaus der nationalen Literatur, ihrer produktiven Öffnung für die Erfahrungen der anderen, fortgeschrittenen
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europäischen Literaturen sowie der Orientierung auf neue Aufgaben und Gegenstände der Gestaltung hinderlich sei. Dem Angriff fehlte es nicht am produktiven Kern. Er machte nämlich unmißverständlich klar, daß sich die bulgarische Prosa s o nicht weiterentwickeln konnte. Wie überspitzt und einseitig aber zugleich der Kreis „Missal" an das Werk heranging, kann man sich ausmalen, wenn man den angedeuteten Bezug des Romans nicht nur zu Sue und Hugo, sondern auch zu Tolstoi oder zu Dostojewski bedenkt. Doch weder Blagoew noch dem Kreis „Missal" lag daran, dem Roman gerecht zu werden, geschweige denn seine vielfältigen Neuleistungen herauszuarbeiten. Wasow hatte einfach das „Pech", sein Meisterwerk zu einer Zeit zu publizieren, als in der bulgarischen Literatur die ideell-ästhetische Differenzierung massiv einsetzte und es für die entstehenden Richtungen lebenswichtig war, sich erst einmal klar zu profilieren. Für sie war der in der nationalliterarischen Tradition verankerte Roman wie geschaffen als Streitobjekt. So nahm man darin weder das Neue noch d e n g r o ß a r t i g e n Abschluß einer wichtigen Literaturperiode wahr, sondern lediglich das „Alte", das „Konservative", das ästhetisch oder ideell Unzulängliche, von dem es sich abzugrenzen galt, um Anliegen des eigenen Programms - und somit die objektiv herangereiften neuen Aufgaben der Literatur - effektvoll zu artikulieren. Indes begann der Roman - allen Einwänden der Kritik zum Trotz - seinen Triumphzug nicht nur beim bulgarischen Publikum, wo er in breitesten Kreisen begeisterte Aufnahme fand, sondern auch im Ausland. Allein bis 1899 wurde Unter dem Joch in 12 europäische Sprachen übersetzt und überall als d a s Werk der bulgarischen Literatur gefeiert, vermittelte es doch ein in sich geschlossenes und einprägsames Bild vom Leben und Kampf des bulgarischen Volkes am Vorabend seiner Befreiung von fremdnationaler Unterdrückung. So schuf Wasow mit diesem ersten Roman in der bulgarischen Literatur 112 zugleich auch das erste Werk, das im Ausland auf großes und dauerhaftes Interesse stieß und dessen nationale Repräsentanz dort viel früher als in Bulgarien „entdeckt" und gewürdigt wurde. Über die Bedeutung der Roman-Epopöe für die Prosaentwicklung wird noch zu reden sein. Hier sei abschließend nur darauf hingewiesen, daß das Werk nicht ohne weiteres dem kritischen Realismus zuzuordnen ist. Und das nicht etwa, weil wir es hier - bei aller 101
Dominanz der realistischen Elemente - weiterhin mit der für die Wiedergeburtsprosa charakteristischen Verflechtung von realistischen und romantischen Gestaltungsmitteln zu tun haben. D e r Grund ist vielmehr darin zu sehen, daß Wasow - wenn er auch seine Figuren sorgfältig sozial determinierte - die kritische Analyse der sozialen Beziehungen innerhalb des nationalen Lebens bewußt vernachlässigte und den darauf basierenden Konfrontationen im Roman so gut wie keine Beachtung schenkte. Alles ordnete er rigoros dem zentralen Konflikt, der Lösung der nationalen Frage, im erörterten Sinne unter. Erst mit Wasows Hinwendung zu Stoffen aus seiner unmittelbaren Gegenwart, wie es in seiner Prosa in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts geschah, als er begann, sich mit den sozialen, moralischen und politischen Mißständen i n n e r h a l b der Nation unter den Bedingungen des etablierten Kapitalismus auseinanderzusetzen, kristallisierte sich die k r i t i s c h - r e a l i s t i s c h e Qualität in seiner künstlerischen Methode deutlich heraus.
Die ideell-ästhetische Differenzierung der Erzählung um die Jahrhundertwende D e r Funktionswandel, der in der bulgarischen Literatur zu Beginn der neunziger Jahre zu beobachten war und der mit der Herausbildung der drei Richtungen einherging, wurde durch die Umorientierung der Autoren auf Stoffe, die ihnen die unmittelbare Gegenwart bot, sehr gefördert. Bedingt war diese Verlagerung des künstlerischen Interesses zum einen durch die immer stärker hervortretenden und ihren „systemimmanenten" Charakter immer deutlicher offenbarenden Widersprüche im jungen kapitalistischen Staat, zum anderen durch die Erkenntnis, daß auch die gelungenste lyrische oder epische Beschwörung der Ideale der Befreiungsbewegung nichts an den sich etablierenden gesellschaftlichen Zuständen im Lande ändern konnte. D e r Verfall der patriarchalischen Lebensweise und Moral, die soziale Not breiter Bevölkerungsschichten infolge der wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozesse, die skrupellosen Praktiken im politischen Leben, aber auch die vielfältigen Auswirkungen der intensivierten ökonomischen und kulturellen Beziehungen zu den entwickelten Ländern Europas - all das forderte vom bulgarischen Schriftsteller, der daran gewöhnt war, „Stimme und Gewissen der Nation" zu sein, eine klare Stellungnahme, die sich nicht länger auf102
Dominanz der realistischen Elemente - weiterhin mit der für die Wiedergeburtsprosa charakteristischen Verflechtung von realistischen und romantischen Gestaltungsmitteln zu tun haben. D e r Grund ist vielmehr darin zu sehen, daß Wasow - wenn er auch seine Figuren sorgfältig sozial determinierte - die kritische Analyse der sozialen Beziehungen innerhalb des nationalen Lebens bewußt vernachlässigte und den darauf basierenden Konfrontationen im Roman so gut wie keine Beachtung schenkte. Alles ordnete er rigoros dem zentralen Konflikt, der Lösung der nationalen Frage, im erörterten Sinne unter. Erst mit Wasows Hinwendung zu Stoffen aus seiner unmittelbaren Gegenwart, wie es in seiner Prosa in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts geschah, als er begann, sich mit den sozialen, moralischen und politischen Mißständen i n n e r h a l b der Nation unter den Bedingungen des etablierten Kapitalismus auseinanderzusetzen, kristallisierte sich die k r i t i s c h - r e a l i s t i s c h e Qualität in seiner künstlerischen Methode deutlich heraus.
Die ideell-ästhetische Differenzierung der Erzählung um die Jahrhundertwende D e r Funktionswandel, der in der bulgarischen Literatur zu Beginn der neunziger Jahre zu beobachten war und der mit der Herausbildung der drei Richtungen einherging, wurde durch die Umorientierung der Autoren auf Stoffe, die ihnen die unmittelbare Gegenwart bot, sehr gefördert. Bedingt war diese Verlagerung des künstlerischen Interesses zum einen durch die immer stärker hervortretenden und ihren „systemimmanenten" Charakter immer deutlicher offenbarenden Widersprüche im jungen kapitalistischen Staat, zum anderen durch die Erkenntnis, daß auch die gelungenste lyrische oder epische Beschwörung der Ideale der Befreiungsbewegung nichts an den sich etablierenden gesellschaftlichen Zuständen im Lande ändern konnte. D e r Verfall der patriarchalischen Lebensweise und Moral, die soziale Not breiter Bevölkerungsschichten infolge der wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozesse, die skrupellosen Praktiken im politischen Leben, aber auch die vielfältigen Auswirkungen der intensivierten ökonomischen und kulturellen Beziehungen zu den entwickelten Ländern Europas - all das forderte vom bulgarischen Schriftsteller, der daran gewöhnt war, „Stimme und Gewissen der Nation" zu sein, eine klare Stellungnahme, die sich nicht länger auf102
schieben ließ. Daß diese Stellungnahme in Übereinstimmung mit dem jeweils neuen Funktionsverständnis nicht nur mit unterschiedlichen ideellen Intentionen verbunden war, sondern auch mit Innovationen in bezug auf die künstlerische Struktur der W e r k e bzw. mit der bevorzugten Nutzung bestimmter Genres, liegt auf der Hand. Auf dem Gebiet der Prosa brachte sie die Erzählung auf den Plan, die als operative und für Erkundung neuer Gegenstände besonders geeignete Form recht schnell eine führende Rolle im Genreensemble der Gattung einnahm. Welche Strukturen weist die bulgarische Erzählung auf, die sich in den neunziger Jahren von der Powest abgrenzte? Welche ideellen Konzepte, welche Themenkreise und spezifischen Mittel bevorzugte sie dabei? Und schließlich: W i e verhielt sie sich zur nationalliterarischen Tradition? All das soll im folgenden an einigen Repräsentanten der kritisch-realistischen und der individualistisch-sezessionistischen Richtung veranschaulicht werden: an Iwan Wasow, Aleko Konstantinow, Petko Todorow und Elin Pelin. Die Einbeziehung mehrerer Vertreter des kritisch-realistischen Stranges ergibt sich aus dem Umstand, daß diese Richtung nicht nur die dominierende war und der Prosaentwicklung um die Jahrhundertwende das Profil gab, sondern daß sie auch in sich differenziert (in bezug auf Konzepte, Gegenstände der Gestaltung und Strukturierung des Materials) war, während die anderen Richtungen nur je einen Kurzerzähler von Bedeutung hervorbrachten. 113
Der Wasorvscbe Typ kritisch-realistischer
Erzählung
Die Hinwendung Wasows zur Gestaltung von Gegenwartsstoffen in der Prosa wurde weitgehend durch seine Lyrik vorbereitet. Bereits in den achtziger Jahren schuf er neben vielen patriotischen, neben Natur- und Liebesgedichten auch solche, die nicht nur „Volkstugenden" wie Arbeitsamkeit, Fleiß, Güte, Ehrlichkeit oder Pflichtgefühl priesen, sondern auch einen ganz konkreten und aktuellen gesellschaftskritischen Bezug enthielten. (Beliebte Motive in diesen Gedichten waren z. B. der Verlust an höheren Idealen bei der jungen Generation, die grob materialistische Einstellung der meisten Zeitgenossen zum Leben oder ihre sinkende Moral.) Diese für Wasows Lyrik in den achtziger Jahren so charakteristische thematische Vielfalt prägte auch seine Kurzerzählungen in den 103
neunziger Jahren - mit dem Unterschied, daß der Autor in ihnen bevorzugt negative Erscheinungen in der Gegenwart behandelte. Sogar Erzählungen mit scheinbar hochpatriotisch angelegtem Ideengehalt wurden durch Wasows wachsende Reserve zur gesellschaftlichen Realität entsprechend gefärbt. Erreicht wurde das gewöhnlich über die Wertungen und die publizistischen Kommentare der Erzählinstanz, die zugleich eine Art „emotionalen Kontrapunkt" 114 zum patriotisch-bejahenden Grundtenor des Werkes bildeten. So stellte Wasow z. B. in Djado Joco gleda (Großvater Jozo schaut) der fast kindlichen Freude eines kurz vor der Befreiung erblindeten Greises über den Fortschritt im jungen bulgarischen Staat (den er im Dröhnen der Züge, die sein abgelegenes Dorf nun mit der „großen Welt" verbinden, gewahr wird) den bitteren Kommentar des auktorialen Erzählers gegenüber: Ja, so ungetrübt kann sich über das neue Bulgarien nur ein Blinder freuen, der die Enttäuschungen der „Sehenden" nicht kennt.115 Warum gerade die Enttäuschungen der „Sehenden" zur Hauptquelle für Wasows Inspiration als Kurzerzähler wurden, das enthüllt er in Kardasev na lov (Kardaschew auf Jagd). Der Autor läßt den Helden dieser mehrteiligen Erzählung, einen Schriftsteller, die Hauptstadt nach Material für „erhabene" Werke absuchen, mit dem Ergebnis, daß er überall - sei es im privaten Leben der Bürger oder in der Öffentlichkeit - nur auf Unerfreuliches, ja Empörendes stößt. Karrierismus, schmutzige Geschäfte, Gewinnsucht, Heuchelei, Sittenverfall - das sind die Dinge, die Sofias Pulsschlag bestimmen. Auch der Selbstmord, mit dem Kardaschew konfrontiert wird, hat nichts Bewegendes und Tragisches, geschweige denn „Erhabenes" an sich der Mann, der Hand an sich legte, besaß nicht die Spur von Heroismus, sondern war ein Taugenichts - ein Hasardeur. „Unsere Wirklichkeit bringt nur mißgestaltete Erscheinungen hervor", faßt Kardaschew seine Erkundungen zusammen, die Wasows kritische Einstellung zur Wirklichkeit geradezu programmatisch begründen. „Die Zukunft kennt keiner: Vielleicht verbirgt sie Material, das 2ur erhabenen Dichtung beflügeln kann. D i e G e g e n w a r t k a n n n u r d e r S a t i r e L e b e n g e b e n." 1 1 6 (Hervorhebung - D. W.). Mit „Satire" meinte Wasow allerdings nicht in erster Linie die Anwendung von spezifischen Mitteln (wie Zuspitzung und Übertreibung) bei der Gestaltung von negativen Erscheinungen, also nicht sosehr ein bestimmtes formales Herangehen, sondern vielmehr K r i t i k in künstlerischer Form an sich, die er als Prosaiker nur 104
gelegentlich mit satirischem Instrumentarium realisierte. 117 Was genau den kritisch-realistischen Wert seiner Erzählungen ausmacht und wie er erbracht wird, soll hier an zwei weiteren Arbeiten veranschaulicht werden, die Wasow 1893 schrieb: Sie heißen Pejzaz (Ein Landschaftsbild) und Tarnen geroj (Ein dunkler Held). Die erstgenannte Erzählung ist in zweierlei Hinsicht für Wasows Kurzprosa charakteristisch - einmal für den Umstand, daß der Autor vielen seiner Erzählungen Episoden und Vorfälle zugrunde legte, die er selbst erlebt bzw. beobachtet hatte, d. h. für ihre memoirenhaft-biographische Grundlage, und dann für sein Vermögen, auch dem scheinbar bedeutungslosesten Vorfall einen symptomatischen Zeitbezug abzugewinnen und ihn dem Leser eindrucksvoll zu suggerieren. Was sich in Ein Landschaftsbild ereignet, ist nur eine kleine Szene, eine kurze, zufällige Begegnung des Ich-Erzählers mit einer alten Bäuerin beim Spaziergang auf der oft menschenleeren Sofioter Chaussee nach Lom. Aus den wenigen Worten, die er mit der Frau wechselt, wird klar, daß sie aus einem weit entfernten Gebirgsdorf in die Hauptstadt kommt, um hier ihr neugeborenes und gleich verwaistes Enkelkind, das sie in einem Bündel auf dem Rücken trägt, zur Adoption anzubieten. Das Kleine ist überhaupt noch nicht gestillt worden, es stirbt fast vor Hunger, und als der Ich-Erzähler der Alten zu verstehen gibt, daß er ihr nicht helfen kann, da er keine Leute kennt, die ihr das Baby abnehmen würden, setzt sie ihren Weg im Laufschritt fort. Wie gestaltet Wasow diese Begegnung? Da ist zunächst zu bedenken, daß nicht nur und nicht sofort darüber berichtet wird, sondern daß Reflexionen des Ich-Erzählers vorausgehen, die auf den ersten Blick mit dem Vorfall nichts zu tun haben. Aus ihnen erfährt der Leser, daß sich der Ich-Erzähler auf die wenig belebte Chaussee begeben habe, weil er dem „Lärm und der Eitelkeit der Stadt" entfliehen und durch den Kontakt mit der Natur, zu der er ein fast pantheistisches Verhältnis hat, seine innere Harmonie wiederfinden will. Bei näherer Betrachtung wird aber ersichtlich, daß diese einleitenden Ausführungen sich keineswegs beziehungslos zum Hauptteil der Erzählung verhalten, sondern ihm gegenüber zwei wichtige Funktionen erfüllen, die die künstlerische und ideelle Aussage erst ermöglichen. Zum einen dienen sie als Kontrastmittel, das die gesellschaftskritische Intention der Arbeit unterstreicht: Wie schön und poetisch die Natur ist, auch wenn sie sich als öde Winter105
landschaft präsentiert, und wie unvollkommen die menschliche Ordr nung, die solche sozialen Notfälle zuläßt. Zum anderen zwingen sie den Leser, darüber nachzudenken, ob ein Mensch, dem die Leiden der unteren sozialen Schichten nicht gleichgültig sind, durch die Flucht vor den gesellschaftlichen Problemen zur echten inneren Harmonie finden kann. Genügt ihm das Naturerlebnis, damit er sein seelisches Gleichgewicht wiedererlangt? Ist es nicht die h e l f e n d e Tat, die damit einhergehen muß? Die starken Gewissensbisse, die den Ich-Erzähler am Schluß der Erzählung plagen, weil er der alten Frau keinerlei Unterstützung gewährt hat, bejahen diese Frage; sie legen dem Leser nahe, philanthropische Aktivität zu entfalten, wo es erforderlich und möglich ist. Zu der künstlerisch beeindruckendsten Leistung Wasows in Ein Landschaftsbild gehört zweifelsohne d a s P o r t r ä t der alten Bäuerin. Hier konnte sich der Autor auf seine reichen Erfahrungen als Powest-Verfasser der achtziger Jahre stützen und mit relativ wenigen Worten eine plastische Vorstellung von der Figur vermitteln. Wie gewöhnlich beginnt er mit dem Äußeren der Frau, um dann über den Versuch, im Individuellen das typisch Bulgarische zu entdecken, zur Skizzierung des inneren Zustandes zu gelangen: „Mein Gott, wie tief und zerstörerisch hatten die Jahre, die schwere Arbeit, die Entbehrungen und Krankheiten, die wortlos ertragen und durchlitten worden waren, ihr Siegel in dieses abgestorbene Antlitz gepreßt! Tiefe häßliche Runzeln durchfurchten das knochige, abgezehrte und sonnenverbrannte Gesicht von erdfarbener Haut nach alle Richtungen: Das Leben hatte es mit schonungsloser Grausamkeit behandelt; nichts Menschliches, Gutes oder Frauliches war geblieben, es war eine häßliche Maske mit einem abstoßenden, gleichsam tierischen, erschöpften und verhärteten Ausdruck. ,Halte aus, mein Herz, meine Haut, werde schwarz!' Es war, als ließen sich diese schrecklichen Worte, die der Seele des Bulgaren von der jahrhundertelangen Knechtschaft, den Leiden und namenlosen Bürden entlockt worden waren, von diesem traurigen Antlitz ablesen. Nur in den grauen Augen mit dem trüben, erloschenen Blick leuchtete jetzt etwas Warmes, Sanftes und Trauriges auf, und ein seltsames Leuchten huschte über die tierische Maske ihres Gesichtes."118 Die hier angedeutete Struktur der Erzählung ist für Wasows Kurzprosa typisch: d i e E r g ä n z u n g d e s V o r f a l l s , i n dem die Figur p o r t r ä t i e r t wird, durch E r z ä h l f r a g m e n t e , die den V o r f a l l u m r a h m e n d : kom106
m e n t i e r e n bzw. zu dessen Deutung und Verallgemeinerung wesentlich beitragen. Damit weist die Struktur einen starken Bezug zur publizistischen Prosa der Wiedergeburtszeit auf, unterscheidet sich aber von dieser dadurch, daß Wasow die geschilderte Begebenheit nun nicht mehr als bloße Illustration einer Idee handhabt, sondern sie viel nuancierter als etwa Karawelow (ja oft ihrer inneren Widersprüchlichkeit Rechnung tragend) beschreibt und daß er den Leser nicht so schulmeisterlich wie sein Vorgänger behandelt, sondern sich bemüht, ihn auch e m o t i o n a l für die Idee zu gewinnen. Ermöglicht wird das nicht zuletzt durch den Dialog, dessen die Handlung vorantreibende Potenzen Wasow zwar noch nicht richtig zu nutzen verstand, den er dafür aber ausgesprochen natürlich gestaltete und geschickt - parallel zu den Beschreibungen der Erzählinstanz als ein weiteres Mittel zur Individualisierung der Figuren einsetzte: „Plötzlich quiekte irgendwo in der Nähe ein Ferkel; ich schaute mich um. ,Was schaust du, Herr? Das Kind schreit', sagte sie und deutete auf ihre Last. Der Schrei wiederholte sich, doch schwach, kraftlos und halb erstickt. .Großmutter, wohin willst du mit dem Kind? Wem gehört es?' fragte ich in der richtigen Annahme, es könne nicht das ihre sein. ,Meiner Schwiegertochter, meiner Schwiegertochter!' sagte sie jammernd und mit einem Seufzer; dann setzte sie hinzu: .Siehst du es, Herr? Ganz klein, gestern erst geboren.' ,Gestern? und wohin willst du mit ihm?' ,Nach Sofia; seine Mutter ist gestorben, auch gestern. Und da bin ich heute morgen losgegangen, ich hab es eilig. Unentwegt schreit und greint es, es ist ja noch nicht gestillt worden, das Waisenkind!' Und die Alte erzählte mir mit zitternder Stimme die traurige Geschichte ihrer Familie . . ,"119 Doch auch in der Naturbeschreibung leistete Wasow im Vergleich zur Wiedergeburtsprosa Neues und Bahnbrechendes. Vermittelt die Natur bei Drumew, Blaskow oder Karawelow meist lediglich ein topographisch genaues Bild von der Gegend, in der die Handlung abläuft, so wird die Landschaft hier zum ersten Mal zum N a t u r e r 1 e b n i s , zu einem wichtigen Element der Erzählstruktur, das im Zusammenspiel mit den bereits erwähnten Reflexionen der Erzählinstanz den geschilderten Vorfall umrahmt und die ideelle Aussage überhaupt ermöglicht. Natürlich räumte Wasow nicht in jeder 107
Erzählung der Natur eine solche exponierte Rolle ein. Doch nirgendwo degradierte er ihre Beschreibung zur bloßen Markierung des Handlungsplatzes, sondern versuchte stets, sie in Beziehung zu der gestalteten Begebenheit und den Figuren zu bringen, sei es in Form einer Impression, sei es als Atmosphäre, als Hintergrund, um das seelische Erlebnis vorzubereiten oder zu ergänzen. Tämen geroj ist für einen anderen Erzählungstyp von Wasow repräsentativ, in dem im Unterschied zum Landschaftsbild nicht lediglich ein Vorfall, sondern mehr oder weniger das ganze Schicksal eines Menschen reflektiert wird. Genremäßig nimmt dieser Erzählungstyp eine Mittelstellung zwischen der Powest und der Kurzprosa ein. Als Struktur, die aus Bericht und Kommentaren der Erzählinitanz besteht, welche mit einigen in Szene gesetzten Schlüsselepisoden aus dem Leben der Hauptfigur verflochten sind, veranschaulicht er die Zwischenstufen, die Wasow (der bekanntlich als Powestautor seine Laufbahn als Prosaiker begann) durchlaufen mußte, ehe er die Kurzerzählung richtig in den Griff bekam. Diesem Erzählungstyp wären z. B. auch Epitropät (Der Epitropos) oder Heitel po istorijata (Der Geschichtslehrer) (beide Anfang der neunziger Jahre entstanden) zuzuordnen, von denen sich Tämen geroj allerdings insofern abhebt, als der Autor hier auf eine autobiographisch-memoirenhafte Anlage der Arbeit verzichtete und sich des auktorialen Erzählers bediente. Für uns ist dieses Werk aber keinesfalls nur als Struktur von Interesse. Es gehört nämlich zu den relativ wenigen Erzählungen von Wasow, in denen er versuchte, den „positiven" Helden seiner Zeit zu gestalten und dessen Haltung alternativ dem allgemeinen politischen und moralischen Verfall entgegenzustellen. Repräsentiert wird dieser „positive" Held von einem während des Russisch-Türkischen Krieges ruinierten Händler, d. h. vom Vertreter einer Schicht, die neben den Bauern und Handwerkern durch die kapitalistischen Umstrukturierungsprozesse besonders hart getroffen wurde. Wasow nannte diesen Helden „dunkel", aber nicht etwa im Sinne von „suspekt", sondern um seinen niederen sozialen Status und seine ungesicherte materielle Existenz anzudeuten sowie um den Umstand zu signalisieren, daß es sich um einen ganz gewöhnlichen, „kleinen Mann" aus dem Volk handelt, der so gut wie nie ins Rampenlicht der Öffentlichkeit tritt. Wasow schenkte diesem Manne, der das Gros der Nation verkörperte, all seine Sympathie, war er doch der Träger der humanistischen und demokratischen 108
Ideale aus der Epoche der Wiedergeburt, der Repräsentant der patriarchalischen Tugenden, die dem Autor so teuer waren. Bereits 1886 tauchte dieser „dunkle" Held in einer der ersten Erzählungen Wasows, Välko na vojna (Welko im Kriege), als ein etwas einfältiger Bauernjunge auf, der an der Feldarbeit und seinen Ochsen so sehr hängt, daß er nur mit größtem Widerwillen in die Armee geht. Dort wird er jedoch zu einem gehorsamen und mutigen Soldaten, obgleich er den Sinn des Serbisch-Bulgarischen Krieges, an dem er teilnimmt, nicht recht versteht. Politik und das Begreifen von größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen sind nicht seine Stärke, hierin läßt er sich bedenkenlos lenken und manipulieren, nicht aber in Dingen, die seine Integrität als ein anständiger Mensch, der einen Gerechtigkeitssinn hat und die Würde der anderen achtet, berühren. In solchen Dingen legt Walko einen zähen Widerstand und unbeugsamen „Eigensinn" an den Tag; er ist eher bereit, Strafen auf sich zu nehmen, als daß er sich dazu bewegen läßt, gegen sein ethisches Empfinden zu handeln. Aus gleichem Holz geschnitzt ist auch Nenko in Tätnen geroj. Ohne Kapital geblieben, um sich erneut als Geschäftsmann versuchen zu können, und ohne jegliche Ausbildung, ist er gezwungen, Polizist zu werden, um seine große Familie nicht verhungern zu lassen. Die neue Arbeit liegt ihm zwar nicht, doch er geht gewissenhaft seinen Pflichten nach, ohne viel darüber nachzudenken, wem er damit dient und welche Rolle er im gesellschaftlichen Leben des Staates erfüllt. „Die Politik ist etwas für die hochgestellten Persönlichkeiten", lautet seine Devise. „Für uns kleine Leutchen ziemt sich, das zu machen, was man uns sagt, sowie das Brot zu schätzen, das uns der Zar gibt." 120 Als aber im August 1886 1 2 1 die brutale Verfolgung russophiler Politiker und Intellektueller einsetzt und Nenkos Vorgesetzter von ihm verlangt, einen von ihnen im Gefängnis zu verprügeln, quittiert er den Dienst, obwohl er keine Aussicht auf eine andere Beschäftigung hat und seine Familie erneut bittere Not leiden muß. Wie sehr sich Wasow mit Nenko solidarisiert und welch programmatische Bedeutung diese Gestalt für ihn hat, das geht aus dem Autorkommentar hervor, mit dem die Erzählung in publizistischer Direktheit und Schärfe endet. Entrüstet über die grobe Gewalt, mit der die politischen Auseinandersetzungen in Bulgarien nach der Befreiung ausgetragen werden und die Wasow auf die seelischen Deformationen seiner Landsleute im Ergebnis ihrer jahrhunderte109
langen fremdnationalen Unterdrückung zurückführt, hebt er Nenkos humanistisches Verhalten als beispielhafte staatsbürgerliche Tat hervor, als d i e Alternative zu den barbarischen Methoden im politischen Leben. Bemerkenswert ist, daß der patriotisch gesinnte Wasow, der sonst immer bestrebt ist, die moralischen Tugenden seiner Figuren als nationale Züge zu verallgemeinern, hier diese Regel verletzt, indem er die Tugend als eine Ausnahme, als das, was dem nationalen Charakter noch fehlt, darstellt. 1 2 2 Seine Betroffenheit über die politischen Zustände muß geradezu maßlos gewesen sein, wenn er sich zu einer so radikalen Änderung seiner Wirkungsstrategie entschloß. Worum es ihm genau ging, das formulierte Wasow so: „Bei uns haben alle möglichen fortschrittlichen Lehren von nah und fern Verbreitung gefunden: W i r haben Liberale, wir haben Anhänger des Sozialismus und der Demokratie, wir haben sogar eine republikanische und eine radikale Partei. Gibt es denn keinen, der eine Partei der Barmherzigkeit gründet? . . ." 123 In diesem Zitat treten Wasows Grenzen als Gesellschaftskritiker besonders deutlich zutage. Nicht nur, weil er Liberale, Radikale und Sozialisten über einen Kamm schert und somit die objektive Differenziertheit der Klasseninteressen, die sich in deren Programmen artikulieren, praktisch außer acht läßt. Erstaunlich kühn und auch treffsicher bei der Aufdeckung von gesellschaftlichen Mißständen, erweist sich Wasow immer wieder als ein naiver Denker, wenn es darauf ankommt, die Ursachen für diese Mißstände zu beleuchten oder einen Ausweg aus der Misere zu finden. Indem er die Ursachen nicht konsequent in der Gesellschaftsordnung selbst suchte, sondern oft das Schicksal, die menschliche Natur überhaupt oder aber - wie in diesem konkreten Fall - den nationalen Charakter verantwortlich machte, indem er illusorische moralische Mittel für die Gesundung des nationalen Lebens (wie Philanthropie für die Beseitigung der sozialen Not oder Nächstenliebe für die Kultivierung der politischen Kämpfe) vorschlug, vermochte er seine abstrakt humanistisch-demokratische Gesinnung nicht zu überschreiten und kein reales Alternativprogramm für eine Veränderung der Gesellschaft zu entwickeln.
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Der Zyklus von anekdotiscb-feuilletonistischen Erzählungen. „Bai Ganju" von Aleko Konstantinow Wie Haseks Scbwejk bei den Tschechen, so gehört Aleko Konstantinows Baj Ganju. Neverojatni razkazi za edin sävremenen bälgarin (Bai Ganju, der Rosenölhändler) (1895) zu jenen Werken der bulgarischen kritisch-realistischen Literatur, deren Titelfigur auf Grund ihres hohen Verallgemeinerungsgrades als sozialer Typ einerseits und wegen ihrer nationalen Charakterzüge andererseits nicht nur große Popularität weit über die nationalen Grenzen hinaus erlangte, sondern auch die unterschiedlichsten Interpretationen erfuhr. Je nach den ideell-ästhetischen Positionen der Kritiker und Betrachter wurde bald die soziale, bald die nationale Komponente der Figur betont, so daß sie entweder zu stark soziologisiert oder aber zu wenig historisch-konkret gefaßt wurde. Letzteres führte gelegentlich zu einseitigen Deutungen insbesondere seitens ausländischer bürgerlicher Forscher, die die Bai-Ganju-Gestalt mit dem bulgarischen Nationalcharakter schlechthin gleichsetzten. Aber auch dort, wo beide Komponenten in einem gut ausgewogenen Verhältnis zueinander erscheinen, ist oft eine Verengung bei der Deutung Bai Ganjus zu beobachten, die darauf zurückgeht, daß seine dritte, übernationale Dimension, seine Relevanz als literarische Figur, die eine V a r i a n t e des in fast allen europäischen Literaturen im 18. bzw. 19. Jahrhundert verbreiteten Typs des bürgerlichen Emporkömmlings darstellt, kaum beachtet wird. Diese Dimension ist aber nicht nur für die Analyse der Figur von Belang; sie eröffnet auch breite, bisher wenig genutzte Möglichkeiten für typologische Vergleiche, die ihrerseits wesentlich zur Präzisierung sowohl des allgemeinmenschlichen als auch des spezifisch nationalen Gehaltes der Figur beitragen können. Worin die Basis für solche Vergleiche bei Bai Ganju konkret zu sehen ist, liegt auf der Hand: vor allem in seinem starken Bestreben, sozial und politisch aufzusteigen, die Gesellschaft zu „erobern", sowie im Geld (das ihm der Rosenölhandel oder ein anderes einträgliches Geschäft einbringt) als sein Hauptmittel, die ehrgeizigen Pläne zu realisieren. Doch liegen auch weitere Gemeinsamkeiten vor. Genauso wie seine Entsprechungen in anderen kapitalistischen Ländern, die in zahlreichen „Karriereromanen" beschrieben sind, muß sich Bai Ganju in diesem „Kampf nach oben" an die etablierten Verhältnisse anpassen, um sie zu seinem Vorteil nutzen Zu können. 111
Er muß - wie Balzacs Rastignac - althergebrachte Sitten und Moralvorstellungen, die ihm dabei hinderlich sind, von sich abstreifen, wobei er - wie Maupassants Georges Duroy - um so erfolgreicher ist, je rigoroser er sich nicht nur von den „Tugenden", sondern auch von der ganzen Mentalität der Menschen seiner sozialen Herkunft innerlich zu distanzieren versteht. Die auffallenden Unterschiede zwischen dem bürgerlichen Emporkömmling und Parvenü westeuropäischer Provenienz und Bai Ganju hängen andererseits nicht allein damit zusammen, daß er als sozialer Typ in Bulgarien wesentlich später - erst in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts - auftauchte, was durch die verspätete kapitalistische Entwicklung des Landes bedingt wurde. Sie betreffen also nicht etwa nur den Umstand, daß er sich als „Nachzügler" besonders schnell und undramatisch von seinem Stand löste, sondern berühren auch die spezifische Beschaffenheit seiner Herkunft und des erstrebten höheren Standes. Denn im Unterschied zum Kleinbürgertum in den westeuropäischen Ländern, das viel früher als in Bulgarien entstanden und (nicht nur ökonomisch, sondern auch ideologisch und moralisch-ethisch) fest in die kapitalistische Gesellschaft integriert war, zeichnete sich die kleinbürgerliche Masse in Bulgarien (der überwiegende Teil der Bauernschaft, die Handwerker, die Kleinhändler und -Unternehmer), der Bai Ganju entstammte, durch ihre immer noch relativ starke Bindung an die patriarchalischen Lebensformen sowie an die humanistischen und demokratischen Ideale der Wiedergeburtsepoche aus. Bai Ganjus Bruch mit diesem Stand durch seinen sozialen Aufstieg bedeutete deshalb praktisch auch den radikalen Bruch mit einer Reihe grundlegender traditioneller Werte der Nation. Gab es außerdem in den entwickelten europäischen Ländern eine Feudalklasse, die ökonomisch und politisch besiegt werden mußte, was oft die Form eines Bündnisses zwischen ihr und der aufstrebenden bürgerlichen Klasse annahm, ein Umstand, der dem Emporkömmling dort eine sorgfältigere Wahl seiner Mittel zum Aufstieg, die Einhaltung bestimmter „Kampfregeln" (man denke nur an das Schicksal Julien Sorels in Rot und Schwarz von Stendhal) sowie einen hohen Grad an Bildung und Kultur überhaupt abverlangte, so standen Bai Ganju solche Hindernisse nicht im Wege. Fürst Ferdinand und sein Hof, so wichtig auch ihre Rolle im politischen Leben des Landes war, vermochten nur in einem sehr geringen Maße die Funktion des fehlenden bulgarischen Adels zu erfüllen. So konnte sich 112
der bulgarische Parvenütyp - in der Wirklichkeit wie auch in Konstantinows Buch - beinahe ungehindert „entfalten", weitgehend selbst die Methoden für die Erlangung des höheren sozialen Ranges wählen und die neuen Verhaltensnormen in den verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens bestimmen. Daher seine Selbstsicherheit, seine Selbstgefälligkeit, seine beispiellose Rüpelei, Dreistigkeit und Arroganz. Verunsichert wirkt er - und auch das nur gelegentlich - allenfalls im Ausland, wie überhaupt West- und Mitteleuropa als Inbegriff einer weit fortgeschrittenen, „modernen" materiellen und geistigen Kultur im 19. Jahrhundert nicht nur das große Beispiel für die Balkanländer war, sondern auch der einzig wirkungsvolle „Gegenspieler" eines Bai Ganjus, das einzig effektive Korrektiv für sein ungeschliffenes Verhalten und seine nur auf materielle Ziele und gesellschaftliche Machtstellung ausgerichtete Energie. Wie treffsicher Konstantinow das erfaßte und zu nutzen verstand, um wesentliche Züge seiner Figur herauszuarbeiten, davon zeugt der erste Teil des Werkes, der auf der Konfrontation Bai Ganjus mit „Europa" beruht. Daß der Autor Bai Ganju bei dieser Konfrontation nicht eng national, sondern vielmehr als eine für die ganze südosteuropäische Region repräsentative Figur begriff, ist dem im Text ab und zu auftauchenden Beinamen Balkanski deutlich zu entnehmen. Wie kam der Autor zu der Bai-Ganju-Gestalt, wie baute er sie auf, was hob er an ihr zu welchem Zweck hervor, welcher künstlerischer Mittel und Erzählstrukturen bediente er sich und inwiefern stellen diese Strukturen etwas Neues dar im Vergleich zu dem bis dahin erreichten Entwicklungsstand der bulgarischen Prosa? Viele Forscher weisen mit Recht auf die Bedeutung hin, die Aleko Konstantinows relativ häufige und zum Teil auch längere Auslandsreisen für die Entstehung der Bai-Ganju-Gestalt gehabt haben. Der 1863 in einer vermögenden Kaufmannsfamilie geborene Schriftsteller studierte Jura in Odessa, hielt sich in Prag, Wien, Paris sowie in London auf und besuchte 1893 sogar die technische und landwirtschaftliche Weltausstellung in Chicago. Auf diesen Reisen war der wohlerzogene und gebildete, vor allem aber feinfühlige und scharf beobachtende Konstantinow immer wieder ungewollt Zeuge von peinlich-komischen Szenen, deren „Helden" seine Landsleute waren und denen ganz offensichtlich der Zusammenstoß ihrer Mentalität und Erziehung bzw. ihres geistigen Horizontes mit den materiellen und kulturellen Werten und Normen in den Gast8 Witschew, Bulg. Prosa
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ländern zugrunde lag. Besonders oft scheint der „Held" solcher Szenen der neureiche bulgarische Geschäftsmann gewesen zu sein. Er wirkte - wie Reisegefährten von Konstantinow über ihn als Typ berichten - „etwas grob, etwas verschlagen und etwas gutmütig"124 und fiel u. a. dadurch auf, daß er sich vergebens bemühte, einen kultivierten und gebildeten Eindruck zu machen. Bevor dieser Vertreter der jungen kapitalistischen Klasse in Bulgarien seine künstlerische „Verdichtung" in Bai Ganju erfuhr, tauchten zwei seiner Prototypen in Konstantinows Reiseskizzen Do Cikago i nazad (Nach Chicago und zurück; 1894) auf. Gemeint sind die Aussteller Aiwasjan und Ganju Somow, beide Händler (der eine mit „bulgarischen Kuriositäten" und der andere mit Rosenöl), die schon einige charakteristische Züge der künftigen Gestalt aufweisen. Der eine ist voller Mißtrauen und primitiver Arroganz gegenüber den „Schafsköpfen" von Amerikanern, die seinen Stand aufsuchen, und denkt nur daran, so teuer wie möglich den auf den Dörfern gesammelten Plunder an sie zu verkaufen; der andere, der jedes Gesprächsthema auf die „Frauenfrage" umlenkt, hat nicht nur den Vornamen, sondern auch wesentliche äußere Attribute der späteren literarischen Figur, etwa den breiten roten Wickelgurt und die Pluderhosen als ein untrügliches Zeichen bäuerlicher Herkunft oder die ihn ständig und überall begleitenden Rosenölfläschchen. Es ist also zunächst festzuhalten, daß die Bai-Ganju-Gestalt auf der Grundlage mehrerer Prototypen mit annähernd gleicher sozialer Charakteristik und Verhaltensweise entstanden ist, ein Sachverhalt, den Aleko Konstantinow keineswegs zu kaschieren versuchte. Ganz im Gegenteil. Er nutzte ihn, um seine Figur und sein Werk auf eine in der bulgarischen Literatur bis dahin völlig ungewöhnliche Art und Weise aufzubauen, die stark mit der Komposition von Boccaccios Dekameron korrespondiert. Der Autor verzichtete auf eine einheitliche Handlung und setzte das Werk aus mehreren voneinander unabhängigen Episoden zusammen, die er allerdings nicht vollkommen verselbständigte, sondern durch Bai Ganju als Hauptfigur verknüpfte. Die Episodenfolge, in zwei Teilen gruppiert (je nachdem, wo Bai Ganju gerade - im Ausland oder in Bulgarien - agiert), versah Konstantinow mit einem Rahmen, der eine glaubwürdige Erzählsituation herstellte, zugleich aber die Rolle des Ich-Erzählers stark einschränkte: Konstantinow ließ ihn lediglich als gleichberechtigten Zuhörer inmitten eines Freundeskreises er114
scheinen, dessen Mitglieder der Reihe nach über ihre Begegnungen und Erlebnisse mit Bai Ganju berichten. Alle Wertungen der Figur werden so nicht vom Ich-Erzähler direkt, sondern stets aus der Sicht des jeweiligen Binnenerzählers der Runde vorgenommen. Auch wenn die Wertungen auf der gleichen ablehnenden Haltung aller Binnenerzähler Bai Ganju gegenüber beruhen und der Autor zu verstehen gibt, daß diese Wertungen vom Ich-Erzähler - zumal er in der Rahmenhandlung oft im Namen aller Anwesenden auftritt - vollkommen geteilt werden, so stellt ihre Art im Vergleich zu dem unmittelbaren und klar festgelegten Verhältnis Erzählinstanz - Figur bei den Vorgängern Konstantinows, einschließlich Iwan Wasows, etwas Neues in der bulgarischen Prosa dar. Dieses Neue läßt sich als eine größere Unabhängigkeit der Figur vom Diktat der Ideen des Autors bzw. als eine auf größere Objektivität der Gestaltung ausgerichtete Erzählweise beschreiben, die die Figur vielseitig und in ihrer Widersprüchlichkeit zu erfassen sucht und ihr bewußt einen breiten Raum bietet, sich in erster Linie selbst durch ihre Handlungen, Reaktionen und Äußerungen zu charakterisieren. Dementsprechend sind die Kommentare in Bai Ganju sowohl in der Rahmenhandlung als auch in den Binnenerzählungen auf ein Minimum reduziert. Begünstigt wurde diese Tendenz zur sparsamen Anwendung von kommentierenden und erläuternden Textpartien in Konstantinows Werk allerdings durch die spezifische Beschaffenheit der Episoden selbst, denen der Autor eine oder mehrere a n e k d o t i s c h aufbereitete Begebenheiten zugrunde legte. Er pointierte diese Begebenheiten durch eine sie abschließende Handlung oder Äußerung der Hauptfigur jeweils so treffend und aussagekräftig, d a ß sich eine weitere Beleuchtung des „Falls" seitens des Erzählers erübrigte. Als Beleg dafür sei die Szene in einer Wiener Konditorei angeführt, in der sich Bai Ganju als Don Juan „produziert" und in der sein Verhältnis zu Frauen und speziell zu den Ausländerinnen prägnant zum Ausdruck kommt. Der Erzähler dieser Episode behauptet, er habe damals in Wien studiert und Bai Ganju, der dort sein Rosenöl verkaufen wollte, gerade kennengelernt: „Nun stellt euch vor, meine Herren, Bai Ganju und ich kommen in die Konditorei, wir treten an das Büffet, das Mädchen (das den Studenten als Kunden bereits kennt - D. W . ) begrüßt mich mit einem fröhlichen Willkommen, ich erwidere ihr mit ein paar scherzhaften Liebenswürdigkeiten und wende mich ab, um mir etwas Kuchen 8»
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auszusuchen - in demselben Augenblick erschallt ein empörter Aufschrei durch das ganze Lokal . . . ,Was ist passiert? Bai Ganju, hast du ihr etwas getan?' rief ich bestürzt und ärgerlich. ,Nicht doch, Bruder, was sollte ich ihr denn getan haben?' antwortete Bai Ganju etwas verwirrt und mit zitternder Stimme. In tiefster Empörung, mit flammendem Gesicht und lauter Stimme setzte mir das Mädchen auseinander, daß Bai Ganju sich tätlich an ihr vergriffen habe, er habe sie umgefaßt, und nicht nur das - mit zusammengebissenen Zähnen sei er ihr mit der Hand zu nahe gekommen! Sie wollte die Polizei rufen. Der Skandal war fertig. ,Nun mach aber schnell, daß du fortkommst! Wenn die Polizei dich faßt, ist es aus. Geh ins Hotel, ich komme nach', rief ich mit erheuchelter Entrüstung, aber wenig fehlte, so wäre ich in lautes Lachen ausgebrochen, als ich die tragikomische Figur Bai Ganjus sah. ,Was spreizt die sich da', meinte er beim Hinausgehen. .Glaubst du, die ist anständig? Ich kenne die hiesigen Weiber. Du brauchst ihnen nur den Geldbeutel zu zeigen, dann heißt es gleich: Gut Morgin . . . Bai Ganju ist doch nicht dumm!'" 1 2 5 Kommentarlos geht der Binnenerzähler im Anschluß daran zur Darlegung des nächsten Zwischenfalls mit Bai Ganju über. Wir wollen aber bei der zitierten Szene noch ein wenig verweilen, weil sie nicht nur für die stark eingeschränkte Kommentierung im Text aufschlußreich ist, sondern auch die Haltung des Erzählers zu Bai Ganju näher charakterisiert. So ablehnend und distanziert diese Haltung im Prinzip ist, Schärfe, Unversöhnlichkeit oder etwa völlige Verständnislosigkeit sind ihr fremd. Vielmehr ist sie mit einer gutmütigen Nachsicht vermischt, als handle es sich um Streiche eines etwas mißratenen, unerzogenen Jungen. Deshalb auch der dominante h u m o r v o l l e Ton bei der Wiedergabe des Vorfalls, deshalb auch das Fehlen einer satirischen Zuspitzung. Diese Haltung zu Bai Ganju ist mehr oder weniger für alle Binnenerzähler im ersten Teil des Werkes typisch. Sie läßt sich auf zweierlei zurückführen. Einmal darauf, daß in diesem Teil, „Bai Ganju begibt sich nach Europa", hauptsächlich solche Züge der Titelfigur aufgedeckt werden, die zwar nicht gerade harmlos, aber doch insofern entschuldbar waren, als sie nicht allein klassenmäßig und individualgeschichtlich bedingt scheinen, sondern auch durch die Deformationen des nationalen Charakters sowie die kulturelle 116
Zurückgebliebenheit vieler Bulgaren infolge der jahrhundertelangen Unterdrückung; das waren Eigenschaften wie Geiz, Ungeschliffenheit, Taktlosigkeit und Primitivität, Gerissenheit, Desinteresse für die kulturellen Errungenschaften fortgeschrittener Länder, beinahe krankhafte Angst, von anderen bestohlen oder übervorteilt zu werden, dafür aber notorischer Drang, einen jeden, mit dem man in Berührung kommt, für sich einzuspannen und auszunutzen. Und zum anderen darauf, daß Konstantinow ursprünglich zeigen wollte, in Bai Ganju stecke trotz aller abstoßenden Eigenschaften auch ein positiver Kern, er sich deshalb erziehen lasse und ändern könne. Bezeichnend dafür ist folgende lyrische Abweichung, die er einem der Binnenerzähler in den Mund legte: „Verachte mir diesen armen ungehobelten, hinterhältigen, geizigen Unglücksraben nicht, er ist eine Ausgeburt seines grobschlächtigen Milieus, ein Opfer ungehobelter Erzieher; das Böse steckt nicht in ihm selbst, sondern in dem Einfluß seiner Umgebung. Bai Ganju ist unternehmungslustig, einsichtsvoll und aufnahmefähig - vor allem aufnahmefähig! Setzt man ihn dem Einfluß eines guten Leitbildes aus, so wird man sehen, was für Taten zu vollbringen er imstande ist. Bai Ganju hat bisher nur seine Vitalität an den Tag gelegt. Doch in ihm steckt großer Vorrat an potentieller geistiger Kraft, die nur auf einen moralischen Impuls wartet, um sich in lebendige Wirklichkeit zu verwandeln." 1 2 6 W i e illusorisch diese These von der Erziehbarkeit Bai Ganjus war und wie irrtümlich seine Betrachtung lediglich als Opfer der schweren nationalen Vergangenheit und der neuen gesellschaftlichen Verhältnisse, zeigte sich unmißverständlich im zweiten Teil des Werkes, der in Bulgarien handelt. Die unvoreingenommen und genau beobachtete Wirklichkeit korrigierte selbst die frühere Nachsichtigkeit des Autors, machte sie ihm doch zunehmend klar, daß Bai Ganju nicht nur ihr Produkt, sondern auch und vor allem ihr a k t i v e r G e s t a l t e r war. D a ß in Konstantinow diese Einsicht erst im Prozeß des Schreibens reifte, findet im veränderten Herangehen an die Figur sowie im neuen Verhältnis der Binnenerzähler zu ihr Ausdruck. Wurden im ersten Teil bei der Figurenzeichnung soziale und nationale Züge in enger Verflechtung miteinander dargeboten, ein Umstand, der gelegentlich zur erwähnten Gleichsetzung Bai Ganjus mit dem bulgarischen Nationalcharakter schlechthin führte, so bemühte sich Konstantinow nun, den klassenbedingten Charakter seiner Figur besser hervortreten zu lassen und ihre Rolle im gesellschaftlichen Leben des Landes zu erhellen. Indem er Bai
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Ganju dabei als ein skrupelloses politisches Chamäleon, als einen Gesinnungsjongleur ohne jeden Anstand entlarvte, der vor keiner Gemeinheit und Brutalität zurückschreckt, um seine Gier nach Geld und Macht zu befriedigen, setzte er ihn klar von der großen Masse des bulgarischen Volkes ab, die der Autor auch nach der Befreiung vom osmanischen Joch als „versklavt" und verurteilt betrachtete, „für andere den Kopf hinzuhalten", die er als „hilflos" und „ratlos" zutiefst bemitleidete. 127 Mit der zunehmenden Profilierung Bai Ganjus zu einem s o z i a 1 e n Typ und mit seiner Abgrenzung von der Mehrheit des bulgarischen Volkes, d. h. von der kleinbürgerlichen Masse, der er entstammte, änderte sich auch Konstantinows Herangehen an ihn. Die im ersten Teil zu beobachtende „Nachsicht" wich offenkundigem Zorn und Abscheu, der Humor wurde durch beißende Ironie und Sarkasmus verdrängt. Doch auch jetzt hielt sich der Autor mit direkten Wertungen durch Kommentare der Erzählinstanz zurück, auch jetzt zog er es vor, sein Verhältnis zu Bai Ganju hauptsächlich über dessen - entsprechend wiedergegebene und akzentuierte Handlungen oder Äußerungen zu vermitteln. „Du kannst mich hinschicken, wo du willst, mein Lieber", läßt er z. B. an einer Stelle Bai Ganju seine bewährte Methode preisgeben, Abgeordnetenkandidaten bei Wahlen zum Erfolg zu verhelfen, „ich bringe dir jeden Kandidaten durch. Stell einen Esel auf - er wird gewählt, weiß der Satan! Ich brauche nur den Polizeiyorsteher mit seinen Gendarmen und ein-, zweitausend Lewa. Dann hol ich mir die rechten Kerle vom Pfahl oder vom Galgen, lieber Freund, so an die vierzig bis fünfzig verwegene Burschen, führe sie in zwei oder drei Kneipen am Stadtrand, setze ihnen ein gehöriges Quantum Schnaps vor und brülle: ,Drauf und dran! Es lebe Bulgarien!' Hehe - was meinst du, wie die losgehen! Das Blut schießt ihnen in die vorquellenden Augen, sie reißen die Messer aus dem Gürtel und hauen sie in den Tisch, johlen mit heiserer, überschnappender Stimme, daß es einem kalt über den Rücken läuft. Stelle dir vor, ich ziehe mit dieser wilden Meute nachts durch die Stadt. Glaubst du, da traut sich einer von der Opposition raus? Kein Teufel wagt meinen Leuten in die Quere zu kommen . . . Die Gendarmen halten am Stadtrand die Bauern zurück, meine vierzig bis fünfzig Galgenvögel sorgen vor dem Wahllokal für den nötigen Tumult, ich stecke ein paar Packen Stimmzettel in die Urne, und schon wird dein Esel Volksvertreter. Hahaha!" 1 2 8
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War der episodenhafte Aufbau der Bai-Ganju-Gestalt (eine Figurenstruktur übrigens, die nur mit populären Gestalten der bulgarischen Folklore wie etwa dem schlauen Peter vergleichbar ist) in hohem Maße durch die Entstehungsgeschichte des Werkes bedingt, so dcckt die Entwicklung, die Bai Ganju im zweiten Teil nimmt, einen wesentlichen Aspekt der Figurenkonzeption auf: Der Autor wollte keinen bereits fertigen sozialen Typ, nicht das Ergebnis einer Entwicklung präsentieren, sondern d e n P r o z e ß s e l b s t t y p i s i e r e n , den Prozeß der Verwandlung eines patriarchalisch geprägten bulgarischen Kleinbürgers in einen „Helden des Kapitals". Nahegelegt wurde Konstantinow diese Konzeption schon dadurch, daß dieser Prozeß objektiv in der Wirklichkeit noch nicht abgeschlossen war. Dies erklärt sowohl die Unsicherheit, den Zwiespalt des Autors gegenüber der Figur im ersten Teil als auch den gelegentlichen Eindruck, als hätten wir es hier mit einem noch nicht ganz fertigen und „einheitlichen" literarischen Helden zu tun. Bestärkt wird dieser Eindruck durch die eigenwillige Komposition des Werkes, durch die Aneinanderreihung von zunächst anekdotischen und im zweiten Teil feuilletonistisch-pamphletistisch gefärbten Erzählungen, die wie „Variationen eines Themas" 129 wirken bzw. wie eine Skizzensammlung, die der eigentlichen, genauen Porträtzeichnung vorausgeht. Doch gerade diesem Umstand, dieser „Unvollendung" des Werkes und seiner Titelfigur, die z. B. Pentscho Slawejkow so sehr bemängelte130, verdankte Bai Ganju letztlich seine große Popularität. Die recht lockere Verbindung zwischen dem Wesen (im Sinne von prägenden, die Gestalt typisierenden und stets wiederkehrenden Eigenschaften) und der jeweils konkreten Erscheinung Bai Ganjus als Grundprinzip des Aufbaus gab nicht nur Konstantinow die Chance, seine Figur (da er sie uneingeschränkt in räumlicher oder zeitlicher Hinsicht handhaben konnte) in die verschiedensten Situationen hineinzuversetzen, sie zu „testen" und so durch neue Züge und „Verwandlungen" zu ergänzen. Die „beweglichen" Konturen Bai Ganjus einerseits und seine Potenzen zur Charakterisierung menschlichen Verhaltens auch außerhalb des konkreten sozialhistorischen Milieus, dem er als Typ entstammte (auf Grund der zwei anderen Dimensionen der Figur - der nationalen und allgemeinmenschlichen) andererseits wurden vom Leser schnell erfaßt. Bai Ganju wurde bald zum Schimpfwort für Schmarotzer und Geizkragen, zum Synonym für ungehobelt-freches und aufdringliches 119
Verhalten, für einen primitiven und arroganten Ellbogenmenschen, der auf Kosten anderer zu leben und weiterzukommen sucht, und nicht zuletzt zur Bezeichnung von Personen, für die Politik hauptsächlich ein Mittel ist, sich eine gute gesellschaftliche Position und materielle Existenz zu sichern. So wurde Bai Ganju als literarischer Figur das seltene Los beschieden, bereits mit seinem Entstehen ein zweites, von seinem Schöpfer unabhängiges, außerliterarisches Leben zu beginnen. Wie zäh und unverwüstlich dieses Leben ist, zeigt die Tatsache, daß Bai Ganju bis zum heutigen Tag aus dem alltäglichen Sprachgebrauch der Bulgaren nicht verschwunden ist. Die Aufnahme Bai Ganjus seitens der bulgarischen Literaturkritik um die Jahrhundertwende illustriert einige „Berührungspunkte" sowie die Möglichkeit des partiellen Zusammengehens der verschiedenen Richtungen. Das Werk fand (im Unterschied zu den meisten Arbeiten von Wasow) ein positives Echo sowohl bei den Vertretern der frühen marxistischen Literaturkritik und den Anhängern der kritisch-realistischen Linie als auch beim individualistisch-sezessionistischen Kreis „Missal". Der Grund für diesen nicht alltäglichen Fall übereinstimmender Wertschätzung eines Werkes trotz der bestehenden ideell-ästhetischen Unterschiede ist in der offensichtlichen Leistung Konstantinows zu suchen, einen wichtigen, im gesellschaftlichen Leben immer stärker hervortretenden neuen sozialen Typ künstlerisch adäquat abgebildet zu haben, einen Typ zumal, dem alle literarischen Richtungen - wenn auch mit unterschiedlicher Konsequenz und unterschiedlichem Durchdringungsgrad - ablehnend gegenüberstanden. Sehr angetan von dem Werk wie überhaupt von Aleko Konstantinow als Schriftsteller war Blagoew. Er würdigte wiederholt das Talent des Autors - das „eine für die Gesellschaft außerordentlich nützliche Richtung genommen" habe - , „die Laster und die negativen Seiten zu beobachten und sie mit einem unnachahmlichen Humor zu verspotten" 131 , und er war überzeugt, daß der Schöpfer von Bai Ganju, hätte ihn sein früher und plötzlicher Tod nicht daran gehindert (Konstantinow fiel 1897 einem politischen Mordanschlag zum Opfer), sich zum sozialistischen Autor entwickelt hätte. 132 Von Blagoew wurde die Bai-Ganju-Gestalt in ursprünglichen Zusammenhang mit der Periode der Akkumulation des Kapitals in Bulgarien gebracht und als ein sozialer Typ mit nur ihm eigener, nationaler Spezifik definiert: ein „Gemisch von alter Primitivität, kleinbürgerlicher Naivität und der Dreistigkeit der neuen Ritter, die 120
durch Wucher, offenen Diebstahl (im Schutze der staatlichen Gesetze), durch kleine und große Geschäfte und Spekulationen in ihren Geldsäcken die Kraft des ,Kapitalisten' verspürt haben" 133 . Auch für die Hauptrepräsentanten der individualistisch-sezessionistischen Richtung um die Jahrhundertwende, Krastew und Slawejkow, stand Konstantinows Begabung als Humorist und Satiriker außer Frage. (Bai Ganju wurde auf den Seiten der von ihnen herausgegebenen Zeitschrift Misäl zuerst veröffentlicht!) Auch sie begrüßten die künstlerische „Entdeckung" und „Entlarvung" des von ihnen ebenso verabscheuten Typs eines bürgerlichen Parvenü, dem nicht nur soziales Gewissen und moralische Skrupel abgingen, der durch seine Brutalität nicht nur die politische Szene in Bulgarien prägte, sondern auch ein Kulturbanause war. Slawejkow schrieb 1901, daß die gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung Bai Ganjus sehr groß sei, „denn kein anderes literarisches Werk bei uns hat dermaßen zur Aufrüttelung des gesellschaftlichen Bewußtseins beigetragen" 131 . Zugleich wandte er aber ein, daß sein künstlerischer Wert unbefriedigend sei, handle es sich doch lediglich um „nachlässig geschriebene Skizzen" 13 '. Die abwertende Haltung zur spezifischen Struktur von Bai Ganju ist ihrerseits aufschlußreich für das Literaturkonzept des Kreises „Missal". Sie steht im engen Kontext mit Slawejkows Forderung nach einem in sich abgeschlossenen und psychologisch vertieften Figurenaufbau bei Verzicht auf publizistisch-didaktische Mittel und Elemente. In der humoristisch-satirischen Technik der Typisierung Bai Ganjus mittels anekdotischer Episoden oder feuilletonistischer Szenen (ohne psychologische Auslotung der Figur und mit Nutzung wenn auch in eingeschränktem Maße - von Kommentaren der Erzählinstanz) hat Slawejkow zweifelsohne eine modifizierte Fortsetzung der von ihm so leidenschaftlich bekämpften „publizistischtendenziösen" Linie der bulgarischen Literatur gesehen, zu deren Vertretern er Wasow ebenso wie Karawelow zählte und deren „Überwindung" er für unumgänglich hielt, wollte man die künstlerische Qualität der nationalen Literatur heben. Slawejkows Reserve gegenüber Konstantinows Kompositions- und Gestaltungsweise wurde zwei Jahrzehnte später von Bojan Penew, der diese „ästhetisierenden" Literaturauffassungen weitgehend teilte, folgendermaßen verallgemeinert: „In ,Bai Ganju' ist alles entweder karikiert oder aus der Warte einer ethischen, gesellschaftlichen oder politischen Idee gewertet. Es überwiegt das moralisierende und nicht das psycholo121
gische Gestaltungsprinzip." 136 Sieht man von Penews Apologie der psychologisierenden Gestaltung einmal ab, so enthält seine Verallgemeinerung Wesentliches nicht nur über Konstantinows Werk. Selten wurden Leistung und Grenzen des bulgarischen kritischen Realismus der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts seitens der bürgerlichen Literaturkritik so kurz und treffend charakterisiert. Abschließend einige Bemerkungen über Bai Ganju als Genre. Das Werk ist der erste bedeutende Zyklus von Erzählungen, der die gestalterischen Möglichkeiten der kritisch-realistischen Richtung und das Genrespektrum der bulgarischen Literatur schlechthin bereicherte. Auffallend ist, daß dieses Genre zu einem Zeitpunkt entstand, als im gesellschaftlichen Leben des Landes ein neuer sozialer Typ auftauchte, der bald eine wichtige Rolle in der Öffentlichkeit zu spielen begann. Und obwohl er sich noch im „Werden" befand, provozierte er gerade diejenigen Autoren, die sich noch immer für „die Stimme und das Gewissen der Nation" hielten, zu ersten künstlerischen Wertungen und Verallgemeinerungen. Der Zyklus von Erzählungen, so wie ihn Konstantinow handhabte, war zweifelsohne die seinerzeit effektivste Form der Literatur, auf diesen erst in Entwicklung befindlichen neuen „Helden" zu reagieren. Ihn konnte man in einer Kurzerzählung nur sehr einseitig und punktuell fassen, andererseits war er für eine zentrale Romanfigur noch ungenügend „fertig" und „gereift". Man könnte sagen, daß Konstantinow mit seinem Werk zwar etliche „romanhafte" Zielsetzungen (wie Analyse des politischen Lebens, Aufdeckung umfassender gesellschaftlicher Zusammenhänge usw.) anpeilte und auch realisierte, auf eine Romanstruktur aber aus dem genannten Grund wohl verzichten mußte. Insofern kann der Zyklus als ein eigenwilliger „Romanersatz" angesehen werden.
Der Beitrag des Kreises „Missal" zur Entwicklung der Kur^prosa. Die „Idyllen" von Petko Todoroiv W i e Anton Straschimirow, Zanko Zerkowski oder Pejo Jaworow gehört Petko Todorow zu jenen bulgarischen Autoren, die Anfang der neunziger Jahre unter dem Einfluß sozialistischer Ideen zu schreiben begannen, sich aber infolge der ideellen Krise, von der um die Jahrhundertwende ein großer Teil der bulgarischen Intelligenz betroffen war, von ihrem Jugendwerk distanzierten und auf 122
kritisch-realistische bzw. individualistisch-sezessionistische Positionen übergingen. Daß diese Entwicklung im wesentlichen durch die Verbindung der sozialistischen Bewegung mit dem Emanzipationskampf der Arbeiterklasse bedingt war, die einer weiteren kleinbürgerlichen - volkstümlerisch-sentimentalen bzw. utopischen - Auslegung des Sozialismus zunehmend die Basis entzog, darauf wurde im einleitenden Abschnitt des Kapitels eingegangen. Doch es spielten auch noch andere Faktoren eine Rolle. 137 Für Petko Todorows Abkehr von den sozialistischen Ideen war z. B. der Umstand von Bedeutung, daß er sich (wie Pentscho Slawejkow einige Jahre zuvor) von 1899 bis 1904 in Deutschland als Literaturstudent aufhielt. Das geistigkulturelle Leben des gerade in die imperialistische Phase seiner Entwicklung eingetretenen Kaiserreichs wirkte sich stark auf ihn aus - es beschleunigte die Wende in seinem Schaffen und prägte weitgehend sein neues Literaturverständnis, das ihn zu einem der profiliertesten Vertreter des Kreises „Missal" werden ließ. Erinnert sei kurz daran, was das literarische Leben in Deutschland um die Jahrhundertwende kennzeichnete. Dominierte bis etwa Anfang der neunziger Jahre der Naturalismus (in Zusammenhang mit den materialistischen und sozialkritischen Anregungen, die die Evolutionslehre Darwins, die Milieutheorie Taines und der wissenschaftliche Sozialismus der bürgerlichen Literatur vermittelten), so änderte sich das Bild mit dem Beginn des Imperialismus schnell. Das Anonymwerden der Beziehungen im ökonomischen Bereich erschwerte das analytische Eindringen in das Wesen der neuen Ä r a ; die Ausschaltung der freien Konkurrenz durch die Monopole unterminierte andererseits die Bedingungen bürgerlicher Demokratie und beeinträchtigte liberale und demokratische Bewegungen. Das begünstigte das Aufkommen neuer Ideologien, die von den sozialkritischen Intentionen des Naturalismus wegführten, sie als „überholt" erscheinen ließen und als Alternative dazu die esoterische Isolierung vom gesellschaftlichen Leben oder die aggressive Mobilisierung im Geiste des neuen Systems boten. Das „Lauschen nach innen" (Hermann Bahr) hatte die „Bewunderung der rauhen W i r k lichkeit" und die soziale Analyse verdrängt, völkische und rassistische Überlegenheitsansprüche ersetzten frühere Solidaritätsbekundungen mit den Armen und Unterdrückten. Nicht einmal der bedeutendste Vertreter des deutschen Naturalismus, Gerhart Hauptmann, konnte diesem Trend standhalten. Verunsichert über die Effektivität seines bisherigen sozialen Engage123
ments, änderte er seine Art, die Wirklichkeit zu interpretieren: Gegen Ende der neunziger Jahre ging er in seinen Dramen immer mehr dazu über, die sozialen Antagonismen zu vernachlässigen, dem Nationalen vor dem Sozialen den Vorzug zu geben, gesellschaftliche Konflikte in allgemeinmenschliche umzudeuten. 138 Bedenkt man, daß Hauptmann für den jungen Petko Todorow nach Ibsen d e r Dramatiker von weltliterarischer Relevanz war, so ist es naheliegend, daß die neue Tendenz von dem bulgarischen Studenten sorgfältig registriert wurde. Sie bestätigte ihm die „Richtigkeit" seiner eigenen „rechtzeitigen" Distanzierung vom Naturalismus, mit dem er schon als Schüler in Toulouse 1886/1887 in Berührung gekommen war, sowie der Ablehnung des Sozialismus. Die Aufgabe eines Autors kann nicht sein, „im Schmutz der Wirklichkeit zu wühlen" und „die Welt wissenschaftlich zu analysieren", versuchte Todorow Jahre später seine Abwendung vom Naturalismus zu begründen. Nicht auf diesem Wege, der „den Geist verwelken" ließe und ihn nur mit „unnützem Zeug" belaste, seien die Kompliziertheit der Welt und der eigentliche Sinn der menschlichen Existenz zu begreifen. Wichtig und ausschlaggebend seien nicht etwa die Kenntnisse, die ein Mensch besitzt, oder seine Tätigkeit, sondern „das sittliche Gefühl, das sie begleitet". Deshalb gebe es nichts Wichtigeres für den einzelnen und die Literatur, als daß sie sich mit den „sittlichen Problemen des Geistes auseinandersetzen". 139 Diese Überlegungen Todorows sind nicht nur in bezug auf sein Verhältnis zum Naturalismus von Belang. Sie werfen auch Licht auf sein neues Verständnis vom G e g e n s t a n d eines literarischen Werkes. Sie zeugen davon, daß Todorows Abgrenzung vom Naturalismus zugleich die Verabschiedung eines weit umfassenderen Literaturkonzepts bedeutete, dem die Gestaltung des Menschen vor allem unter dem Aspekt seiner sozialen Beziehungen, unter dem Aspekt seines wechselseitigen Verhältnisses zur Welt zugrunde lag. Anstelle dieses Aspektes sollte nun die i n n e r e Welt des Menschen, sein s i t t l i c h e s Wesen in den Mittelpunkt des künstlerischen Interesses rücken. Damit ist freilich nur die Hauptrichtung angedeutet, die Todorow in seiner Entwicklung als Schriftsteller nach 1899 einschlug. Wichtige Impulse für die konkrete Gestalt, die diese Entwicklung annahm, wurden ihm durch die neuen Faktoren und Erscheinungen im geistigen und literarischen Leben Deutschlands vermittelt, die die Ablösung des Naturalismus begleiteten: Nietzsche, die Lyrik der 124
„reinen Innerlichkeit" und - so befremdend dies auf den ersten Blick auch erscheinen mag - die sogenannte „Heimatkunst". D i e so unterschiedlichen „Quellen", aus denen Todorow Anregungen schöpfte, mögen den Eindruck erwecken, er habe beinahe wahllos die deutsche Literatur der Jahrhundertwende auf sich wirken lassen. Doch das Gegenteil war der Fall. Todorow orientierte sich ganz zielstrebig auf das, was ihm nicht nur „modern" und „zeitgemäß", sondern auch geeignet erschien, entsprechend verwertet zur Hebung des künstlerischen Niveaus der bulgarischen Literatur beizutragen. Denn nicht weniger als Pentscho Slawejkow war er geradezu besessen von dem Gedanken, alles zu tun, damit die bulgarische Literatur nicht länger weit hinter den fortgeschrittenen europäischen Literaturen zurückbliebe, damit sie diese „einhole" und Werke von weltliterarischem Rang schaffe. 1900 schrieb er in einem B r i e f : „Mich bewegt ständig die F r a g e : Können wir, die Söhne einer so kleinen Nation, in der Literatur eine bedeutende Rolle spielen? Oder wird jedes Interesse für uns nur das Interesse bleiben, das man einer Kuriosität entgegenbringt? Wären wir imstande, etwas Neues, etwas Großes zu schaffen, das die W e l t z w i n g e n würde, den Blick unserem schönen Balkan zuzuwenden?" 1 '' 0 Welche konkreten Anregungen erhielt Petko Todorow von der deutschen Literatur bei seinem Bestreben, die bulgarische Literatur zu „erneuern" und zu „europäisieren"? Und wie löste er die Aufgabe, das N a t i o n a l e dabei nicht untergehen zu lassen, sondern es gebührend im Werk zu berücksichtigen? Nietzsches Wirkung war besonders stark und vielfältig. Sie verschärfte nicht nur das ohnehin ausgeprägte Krisenbewußtsein T o dorows in bezug auf die Gegenwart, sie veranlaßte ihn auch, sich von der philisterhaften bürgerlichen Kultur und Moral sowie von jeglichen Ideologien und Massenbewegungen der Zeit zu distanzieren, welche Nietzsche alle als Ausdruck eines „Instinktes der H e r d e " 1 4 1 diffamierte. Auch Nietzsches Kult des „starken Individuums" beeindruckte Todorow nachhaltig, allerdings nicht so sehr in seinem Aspekt als „Übermensch", sondern vielmehr als Huldigung einer Persönlichkeit, die das Spießbürgerliche, Kleinliche und B a nale verachtet und in ihrem Drang nach Selbstverwirklichung sich kühn über die herrschenden Konventionen hinwegsetzt. Für die Ausprägung des Menschenbildes und besonders für die Themen- und Motivwahl in Todorows Schaffen nach 1899 erwies sich dieser Per125
sönlichkeitstyp von entscheidender Bedeutung, repräsentierte er doch des Autors neues Ideal von der „ i n n e r e n F r e i h e i t " , das das Ideal von der Befreiung der Menschheit von sozialer Ungerechtigkeit und Unterdrückung ersetzen mußte. Die Lyrik der „reinen Innerlichkeit" (George, Hofmannsthal, Rilke) bestärkte ihrerseits Todorows schon biographisch bedingte Affinität zu einem literarischen Helden, der sich im gesellschaftlichen Leben fremd, unverstanden und isoliert fühlte (Todorow mußte nämlich 1899 nach Deutschland fliehen, um einem Gerichtsprozeß wegen Beleidigung des Fürsten Ferdinand zu entgehen 1 '' 2 ) und der mit dem „Helden" Nietzschescher Prägung insofern stark korrespondierte, als ihm in der Persönlichkeitsstruktur auch der Konflikt mit der Gesellschaft zugrunde lag. Diese typisch spätbürgerliche Lyrik weckte bei Todorow im Zusammenspiel mit der von ihm rezipierten neukantianischen Ästhetik und der damals populären Theorie der Einfühlung, die an der Leipziger Universität von Johannes Volkelt vertreten wurde, den Sinn für präzise Beobachtung und Beschreibung seelischer Zustände. Sie gab ihm nicht zuletzt ein Beispiel, wie man soziale Beziehungslosigkeit als Überlegenheit gegenüber der „Masse" und somit dem Durchschnittsleser ausgibt, wie man diese Beziehungslosigkeit zu einem elitären Aristokratismus des Geistes kultiviert. Förderte die Lyrik der „reinen Innerlichkeit" Todorows angestrebten „Auszug" aus dem gesellschaftlichen Leben in einem mehr allgemeinen Sinne, so zeigte ihm die „Heimatkunst", wie sie sich in Werken von Adolf Bartels, Gustav Frenssen oder Friedrich Lienhard präsentierte, welche S t o f f e dazu geeignet wären, um die gesellschaftliche Sezession der Persönlichkeit als literarischen Gegenstand zu behandeln. Nicht die Figur des mit der „Scholle" verwurzelten Bauern, dargestellt als der „gesunde Gegenpol" zur verdorbenen „modernen" Welt und Stadtzivilisation, konnte dabei für Todorow von Interesse sein (darauf zu kommen, brauchte er nicht erst die deutsche „Heimatkunst" zu lesen, denn diese Figur gab es in der bulgarischen Literatur bereits seit der Wiedergeburtszeit, 143 und sie gehörte zu den Schlüsselgestalten des Volkstümlers Todor Wlaikow, der ein Zeitgenosse von Todorow war), sondern die Provinz und das Dorf als R a u m , in dem es noch möglich erschien, vor der fortschreitenden Kapitalisierung des Lebens und den damit verbundenen sozialen Konflikten zu fliehen. Im Unterschied zu den deutschen „Heimatkünstlern" brauchte Todorow diesen Raum aber 126
nicht in erster Linie dafür, dem Leser eine noch „heile" Welt vorzugaukeln, sondern um ungestört (d. h. unter weitgehender Ausschaltung des Historisch-Konkreten) seelischen und ethischen Problemen der individualistischen Persönlichkeit nachgehen zu können. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für Todorows Werk nach 1899 waren aber auch die Impulse, die ihm die bulgarische Literatur selbst und hier vor allem Pentscho Slawejkow vermittelte. Aus Todorows Briefen, die er als Student in Deutschland schrieb, geht hervor, daß er Slawejkow nicht nur als Autor von Blutiges Liedi>A mit Begeisterung las und in ihm einen hervorragenden Stilisten verehrte, sondern ihn auch für den Begründer einer neuen „Richtung" in der bulgarischen Literatur hielt. Zu dieser Richtung bekannte sich Todorow uneingeschränkt, weil sie ihm den Weg wies, w i e er d a s s p e z i f i s c h N a t i o n a l e a l s e i n e n w i c h tigen und o r g a n i s c h e n B e s t a n d t e i l s e i n e r Arb e i t e n h a n d h a b e n k o n n t e . Er ordnete ihr jene bulgarischen Schriftsteller der Jahrhundertwende zu, die sich - wie die Autoren der Wiedergeburtsperiode - sehr auf die Folklore orientierten, mit den alten Überlieferungen, Legenden und Volksliedern nun aber auf neue Weise umgingen. War die Folklore in der Wiedergeburt zuerst das große Vorbild für das individuelle Schaffen, das es nachzuahmen galt (vgl. Koslow, Shinsifow, das frühe Werk Petko Slawejkows und Ljuben Karawelows), und versuchte man sie später erst einmal als Poetik und Weltverhältnis überhaupt zu „überwinden", um die eigene, die Individualpoetik richtig behaupten zu können (Beispiel wäre das reife Werk Petko Slawejkows oder Botews), so nahm die Beziehung des individuellen Schaffens zur Folicl ore in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts schon den Charakter eines E r b e Verhältnisses an 145 . Der Kreis „Missal" war die erste literarische Gruppierung in Bulgarien, die mit der Distanz eines klar herauskristallisierten individuellen künstlerischen Bewußtseins an die Folklore heranging und ihr nun v o n d i e s e r P o s i t i o n a u s die Rolle zuwies, eine bevorzugte Quelle für Themen, Motive und Ausdrucksmittel zu sein. Pentscho Slawejkow gehörte zu den ersten, die - wie Todorow in seiner Korrespondenz hervorhob - die Folklore zu nutzen verstanden, um ihre intimsten individuellen Sehnsüchte und Ideen zum Ausdruck zu bringen. Diese „Projizierung" des psychisch-emotionalen und ideellen „Kosmos" der individualistischen Persönlichkeit auf Folklorematerial und somit seine Verbindung mit dem spezifisch Nationalen, die 127
Slawejkows Werk besonders kennzeichnet, wurde das große Beispiel für Todorows literarische Tätigkeit nach 1899. E r folgte ihm sowohl in seinen ldilii (Skizzen und Idyllen)m als auch in den Dramen und sorgte so dafür, daß die individualistisch-sezessionistische Richtung nicht allein auf dem Gebiet der Lyrik (wo neben Pentscho Slawejkow auch der sehr talentierte Pejo Jaworow Bleibendes schuf) ihre Vorschläge für eine „Erneuerung" der bulgarischen Literatur unterbreitete. Der näheren Betrachtung der Idyllen sei der Hinweis vorangestellt, daß es sich hier weder um die idealisierende Gestaltung naturhaft-patriarchalischer Verhältnisse noch um die „epische Darstellung des Vollglücks in der Beschränkung" (Jean Paul) handelt, sondern um Kurzprosawerke mit recht unterschiedlicher Genrestruktur. Was sie mit der Idylle der Antike oder der Rokokozeit verbindet, ist wohl nur der Raum, in dem Todorow seine Arbeiten rein sujetmäßig meist ansiedelte: das Dorf leben, aufgefaßt als eine von der Zivilisation und dem Kapitalismus kaum berührte, d. h. eine noch weitgehend ungebrochene und natürliche Welt, in der das Nationale mit seinen traditionell-beständigen Zügen in Erscheinung tritt, doch nicht etwa „verklärt", sondern als spezifischer Hintergrund für die Behandlung „ewiger", allgemeinmenschlicher Fragen. Nicht über die Genrebezeichnung „Idyllen" ließe sich also Wesentliches in Todorows Kurzprosa erschließen, nicht sie gibt eine gültige Antwort darauf, was die eigentliche Klammer dieser Arbeiten ausmacht, die der Autor 1908 in einem Band zusammenfaßte. Das Gemeinsame liegt vielmehr im angedeuteten thematischen Bereich und in der Motivwahl, erst in zweiter Linie in der Art, wie Todorow die ihn bewegende Problematik künstlerisch umsetzte. Denn dem recht genau abgesteckten Themen- und Motivkreis und dem damit verbundenen neuen literarischen Helden entsprach keineswegs eine stereotype Gestaltungsweise. Über den von Todorow in den Idyllen geprägten neuen literarischen Helden läßt sich allgemein sagen, daß ihm ein Verhältnis des Autors zur kapitalistischen Wirklichkeit zugrunde lag, bei dem die Ablehnung der Realität, die als Verkörperung des Spießbürgerlichen und Banalen empfunden wurde, zur Flucht in die Welt der reinen Geistigkeit und der Moral führte, in der allein eine Selbstverwirklichung des emanzipierten Individuums möglich erschien. Anstelle der sozial genau determinierten und im gesellschaftlichen Leben Bulgariens um die Jahrhundertwende fest verankerten Gestalten 128
(wie bei den kritischen Realisten) trat in Todorows Werk die bis dahin in der bulgarischen Literatur nicht gekannte Figur des Außenseiters und Einzelgängers auf. Für deren Aufbau und Charakterisierung war weder Soziales noch Tagespolitisches von Bedeutung, sondern einzig und allein das Verhältnis zu einigen „ewigen" und „allgemeinmenschlichen" Fragen wie Freiheit, Liebe oder Schöpfertum. Daß dies der bulgarischen Prosa eine beachtliche thematische Erweiterung einbrachte, liegt auf der Hand. Es ist aber auch festzuhalten, daß diese erstmalige Konzentration auf moralisch-ethische Fragen und Probleme der Künstlerpersönlichkeit aufs engste mit Todorows individualistischem Menschenbild verknüpft war, was sich auf die Konfliktstruktur vieler seiner Arbeiten entsprechend auswirkte. Nur relativ wenige Idyllen gründen auf dem Zusammenstoß des Freiheits- und Liebesanspruchs der Figuren mit hemmenden moralischen und sonstigen Normen der Gesellschaft, d. h. primär auf einem Konflikt objektiven Charakters, der mehr oder weniger auf bestimmte ahumane Wesenszüge der herrschenden Ordnung zurückzuführen ist. Ein Beispiel dafür wäre die Idylle Meckar (Der Bärenführer), in der das Bauernmädchen Kaiina erst mit jahrhundertealten Vorurteilen, mit den Geboten ihres christlichen Glaubens und mit dem Widerstand ihrer Nächsten fertig werden muß, um dem von ihr geliebten Zigeuner folgen zu können. Ein hoher Preis für ein kurzes Glück, den Kaiina aber ohne Zögern zahlt, denn - so die Moral von der Geschichte - auch ein kurzes Glück zählt mehr als jedes äußerlich geregelte und abgesicherte, aber gefühlsmäßig unerfüllte Leben. Die meisten Idyllen werden von Konflikten getragen, die sich aus der spezifischen Beschaffenheit der individualistischen Persönlichkeit selbst ergeben. Es handelt sich meist um innere Kollisionen, die auf dem Widerspruch zwischen der meist angeborenen Sehnsucht nach Selbstverwirklichung in der Liebe, nach dem Glück der Partnerbeziehung einerseits und dem Streben nach persönlicher Freiheit andererseits beruhen, letztere verstanden nicht nur als ihre Verteidigung gegen Borniertheit und Philistertum, sondern auch als Drang nach Ungebundensein, nach einem Leben „ohne Ketten" jeglicher Art und nach eigener Fasson. Ein typischer Träger dieses Konflikts ist Bojko in der Idylle Nesretnik (Unstet), dessen unbändiger Drang nach einem abwechslungsreichen Wanderleben, nach „Freisein", ihn sein Glück versäumen läßt: Die ihn liebende Kojka 9
W i t s c h c w , B u l g . Prosa
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wird des Wartens auf ihn müde und heiratet schließlich einen anderen. Bojko kehrt zu spät zu ihr zurück, er, der Fuhrmann, muß wieder hinaus auf seinen einsamen Weg in die weite Welt. Besonders beeindruckend ist der Freiheitsdrang, der das Verhalten der Figuren Todorows gravierend prägt und dem jede gefühlsmäßige Regung und jeder andere Trieb letztlich untergeordnet wird, in der Idylle Borba (Ein Kampf) gestaltet, die sich symbolisch in der Tierwelt abspielt. Ein junger Hirsch kämpft hier auf Leben und Tod mit einem älteren Artgenossen, weil er - der plötzlich aufgetauchte, ungebundene Wanderer - die langjährige Gefährtin zu sich gelockt hat. Doch nicht auf dauerhafte Bindung ist er aus. Nachdem er als Sieger aus dem Kampf hervorgeht, würdigt er die vom Verlust des Partners erschütterte Hirschkuh kaum noch eines Blickes und zieht allein seines Weges. Auch Odysseus in der Idylle Plennika na Kalipso (Der Gefangene der Kalypso) zieht die Freiheit der ewigen Jugend und der Unsterblichkeit, die ihm die Nymphe Kalypso verspricht, vor. Weder die göttliche Schönheit noch die leidenschaftliche Liebe der Nymphe können ihn halten. Er will nach Hause, wobei sein Sehnen nicht sosehr dem Wiedersehen mit Frau und Sohn als vielmehr der gefahrvollen Heimreise gilt, die ihm das Gefühl wiedergeben kann, vollwertig zu leben. Freilich bauen nicht alle Idyllen auf dem Konflikt Freiheit - Liebe auf. Einige der gelungensten Arbeiten, die Stoff und Motive unmittelbar aus der Folklore schöpfen, sind ausschließlich der Liebe gewidmet, deren Macht Todorow gelegentlich stärker sein läßt als den Selbsterhaltungstrieb des Menschen (Ovcari; Schäfer), ja sogar als den Tod (Nad cerkova; Über der Kirche), oder der er, wenn sie unerwidert geblieben ist, die Kraft einräumt, das Leben des Betroffenen völlig umzukrempeln, ihn zum Eremiten zu machen (Zmejno; Hexenliebe) oder - als produktive Variante - den Künstler in ihm zu wecken (Pevec; Der Sänger). Die letztgenannte Arbeit schlägt die Brücke zu einer anderen wichtigen Gruppe von Idyllen, in denen sich Todorows individualistisches Konzept von der schöpferischen, musisch oder geistig überdurchschnittlich begabten Persönlichkeit prägnant niederschlägt. Zu ihnen gehört Guslareva tnajka (Die Mutter des Spielmanns), wo der Leser mit dem Bajazzo-Motiv konfrontiert wird, mit dem Motiv vom Menschen, der „allen Freude bringt, doch den zu erfreuen, keiner da ist"147. Das Spezifische an der Handhabung dieses Motivs ist, daß der Autor nicht deshalb zu ihm griff, um etwa ein bestimmtes 130
individuelles Schicksal zu charakterisieren, sondern um das Los des Künstlers schlechthin zu verallgemeinern. Er, der schöpferische Mensch, der nach Todorow dazu auserwählt ist, durch sein Talent das Leben der anderen zu bereichern, ihm Schönheit und Glanz zu verleihen, der für die anderen unschätzbare emotionale und geistige Werte schafft, ist zugleich dazu verurteilt, nichts von den anderen zu bekommen, allein und unverstanden zu bleiben. Dabei handelt es sich um eine Einsamkeit, die mit dem Bewußtsein einhergeht, ein aus dem Rahmen fallendes Dasein nicht n e b e n , sondern ü b e r den anderen, über der „Masse", zu führen. Einsam in diesem Sinne ist z. B. auch die Sonne, die in der Gestalt eines jungen Mannes und als Verkörperung des schöpferischen Prinzips im Leben in der Idylle Släncova zßnitba (Die Hochzeit der Sonne) agiert, oder die Tochter des Königs von Troja, Kassandra, deren düsteren Prophezeiungen vom Untergang der Stadt keiner Glauben schenkt und deren göttliche Gabe, die Zukunft zu schauen, mit dem damit verbundenen Bewußtsein, eine „Auserwählte" zu sein, ihr nur Entfremdung, Unverständnis, Argwohn und Leid einbringt (Kasandra; Kassandra). Einsam ist auch Jesus in der Idylle Getsimanskata gradina (Im Garten von Gethsemane), doch wiederum nicht auf Grund seiner außergewöhnlichen religiösen Mission, sondern infolge der Überzeugung von der qualitativen Einmaligkeit der eigenen Persönlichkeit. Denn im Unterschied zum biblischen Messias unterläßt Todorows Figur es nicht, gezielte Vergleiche zwischen sich und den anderen Menschen anzustellen und deren „Gedankenträgheit und Willensschwäche"148 mit innerer Distanz herauszuheben. Von dieser kritischen Betrachtung sind nicht einmal die Apostel ausgeschlossen, was unweigerlich Spannungen mit ihnen heraufbeschwört. Bedenkt man noch Äußerungen wie „Wer einen Diamant von Seele in sich trägt . . . , der braucht sich weder auf andere zu stützen noch für andere etwas zu tun: er tut alles allein und für sich"149, so wird deutlich, wie sehr sich Todorows Figur vom Gottessohn, so wie ihn die Evangelien darstellen, abhebt. Sie weist vielmehr Gemeinsamkeiten mit Nietzsches Weisen Zarathustra auf, geschaffen nicht zuletzt, um die Gleichschaltung der Menschen, ihre Unifizierung sowie die „Sklavenmoral" im Christentum zu bekämpfen. Daß Todorow Nietzsches Religionskritik als Teil seiner umfassenden Ideologiekritik von individualistischen Positionen aus weitgehend teilte, geht übrigens auch aus einer weiteren Idylle hervor, die gleichfalls biblisches Material verarbeitet: V sjankata na Nazar9»
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janina (Im Schatten des Mannes von Nazaretb). Todorows polemische Haltung wird hier von einem Sklaven thrakischer Herkunft vertreten, der es ablehnt, sich zu Jesus zu bekennen, obwohl er zusammen mit ihm auf Golgatha gekreuzigt und Zeuge von übernatürlichen Erscheinungen wird: „Man will aus seinem Ruhm Gesetze für alles schaffen . . . Jeder möge sich selbst verleugnen und die Augen schließen, damit ihn ein anderer führt . . . Nein, ich lasse mir von keinem weismachen, was ich zu tun und zu lassen habe, kein fremdes Gesetz erkenne ich an." 130 Zu betonen wäre an dieser Stelle, daß das Streben der Figuren Todorows nach einer Lebensführung nach „eigenem Gesetz" weitgehend der Idee der „inneren Vervollkommnung", verstanden als ein Selbstvervollkommnungsprozeß, verpflichtet und nicht etwa antihumanistischen Intentionen wie gelegentlich der Eindruck entstehen könnte - entsprungen war. Der Kreis „Missal" rang um die moralische und intellektuelle Befreiung der modernen Persönlichkeit „von den Gespenstern der Vergangenheit, von Traditionen, Normen und Begriffen, die ihrem Willen Ketten anlegten und ihre Lebensfreude töteten" 151 , mit dem ausdrücklichen Ziel, den so „befreiten Geist" mit einem von M e n s c h l i c h k e i t geprägten Bewußtsein zu verbinden152. Wenn diese programmatische Forderung in ihrer humanistischen Komponente von Todorow nicht immer überzeugend und in manchen Arbeiten überhaupt nicht realisiert worden ist15-3, so lag das sicher nicht nur an seinem Talent, sondern vor allem am objektiven Widerspruch zwischen dem Kult des „persönlichen Willens" bzw. der „Treue zu sich selbst" und dem Wesenskern humanistischer Haltung, dem der Egozentrismus fremd ist. Der für die bulgarische Prosa völlig neuartige ideell-thematische Gehalt der Idyllen ging mit einigen bedeutenden Innovationen im Bereich der Gestaltung einher. Schon ein flüchtiger Vergleich mit der Erzählung Wasows oder Wlaikows läßt diese Neuerungen deutlich hervortreten: Dominanz der auktorialen anstelle der Ich-Erzählsituation, dabei g r u n d s ä t z l i c h e r V e r z i c h t a u f A u t o r e n k o m m e n t a r e und T e n d e n z z u r „ L y r i s i e r u n g " des Werkes. Man darf freilich den Zusammenhang zwischen diesen Neuerungen und den inhaltlichen Prioritäten in Todorows Idyllen nicht als eine lineare Beziehung auffassen, so, als würde die bevorzugte Behandlung moralisch-philosophischer Fragen aus individualistischer Sicht stets zu ein und derselben Gestaltungsweise führen. Neben dem gewählten 132
Gegenstand und dem spezifischen Verhältnis zu ihm spielte für die Ausprägung der Idyllen in struktureller und formästhetischer Hinsicht auch Todorows Verständnis vom Wesen und von den Aufgaben der Literatur und nicht zuletzt sein Bestreben eine Rolle, sich von der „Machart" der Werke der kritischen Realisten abzugrenzen. So resultierte z. B. der Verzicht auf Autorenkommentare nicht etwa primär aus Rücksichten auf das Genre „Idylle" (darauf hat Todorow prinzipiell nie Rücksicht genommen - man denke nur an die Konfliktstruktur seiner Arbeiten!), sondern ganz eindeutig aus der Abneigung des Autors, sein Schaffen als ein Mittel der Belehrung und Didaktik zu betrachten und dem Leser gegenüber als Erzieher aufzutreten. Die Rigorosität des Verzichts wird dabei erst aus der Praxis der bulgarischen kritischen Realisten der neunziger Jahre richtig verständlich, die für ihre didaktischen und erzieherischen Intentionen besonders gern die Autorenkommentare nutzten und diesen demzufolge - wie die Schriftsteller in der Wiedergeburtsperiode - einen ausgesprochen publizistischen Charakter verliehen. Publizistische Elemente gehörten aber nach dem Konzept des Kreises „Missal" zu den größten Schwächen der traditionellen Prosa, deren „Überwindung" unumgänglich erschien, wollte man deren künstlerisches Niveau heben. Auch die Dominanz der auktorialen Erzählsituation, die Vorliebe für den „allwissenden Erzähler", ergab sich nicht allein aus der Konzentration Todorows auf die Wiedergabe von inneren Vorgängen der Figuren. Erinnert sei daran, daß die bulgarischen Prosaautoren in der ganzen Zeitspanne seit der Wiedergeburt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sich bevorzugt der Ich-Erzählsituation bedienten - ein Entwicklungstrend, der einerseits durch ihren noch recht bescheidenen Erfahrungshorizont, andererseits aber dadurch bedingt war, daß sie die größtmögliche Authentizität ihres Schaffens anstrebten, wofür sich die autobiographisch-memoirenhafte Anlage nun einmal am besten eignete. Denn Authentizität versprach - angesichts der damaligen Erwartungen des Publikums und der mobilisierenden und erzieherischen Zielsetzungen der kritischen Realisten sowie ihrer Vorgänger Sofroni und Karawelow - die intensivste Wirkung auf den Leser. Dieser Trend hatte allerdings zur Folge, daß der „Realismus" dieser Autoren entweder einen stark dokumentarischen (Sofroni, Sachari Stojanow) oder aber einen betont deskriptiven, sich streng an die Formen des „Lebens selbst" haltenden, schwerfällig-„flügellosen" Charakter erhielt, der in der Regel auch 133
dann erhalten blieb, wenn der Übergang zur auktorialen Erzählweise gewagt wurde. Mit anderen Worten: Es handelte sich um einen Realismus, der zwar die Kunst der sozialen Typisierung und plastischen Individualisierung der Figuren sowie der Aufdeckung von gesellschaftlichen und national bedeutsamen Konflikten schon beherrschte, der aber die vielfältigen f i k t i o n a l e n Möglichkeiten für den Aufbau und die Realisierung eines literarischen Werkes wenig nutzte und sich bei der Wahl der Gestaltungs- und Verallgemeinerungsmittel weitgehend von dem aristotelischen Prinzip „Nachahmung der Realität" leiten ließ. Todorows Idyllen stellen die erste bulgarische Prosa dar, die nicht vom Bestreben nach Authentizität geprägt ist und die sich unverhohlen als Fiktion zu erkennen gibt. In der Distanzierung von der (von den kritischen Realisten zur Verstärkung der Glaubwürdigkeit der gestalteten Wirklichkeit so gern genutzten) Ich-Erzählsituation spiegelt sich die Überzeugung des Autors wider, daß diese „gestaltete Welt", auch wenn sie aus dem Material der realen gebildet ist, mit dieser nicht identisch ist und sein kann und daß es schon deshalb nicht in erster Linie auf die strikte Bindung des Erzählten an das reale Leben ankommt. Worauf es nach Todorow jedoch besonders ankam, war die Vermittlung des Ideengehalts des als „Kunstraum" aufgefaßten Werkes in einer p o e t i s c h e n Form, die dem Leser ästhetischen Genuß bereiten und seinen literarischen Geschmack kultivieren, seine Seele erleuchten und erheben und seinen Schönheitssinn fördern sollte. Um 1900 schrieb er aus Deutschland: „Unsere Zeit, die von Zeitungsartikeln und wissenschaftlichen Analysen ausgetrocknet ist, verlangt nach süßer Poesie: das verhärtete und gefühlslose Herz verlangt nach einer Religion der Schönheit . . . Ich denke, daß alle möglichen sozialen Situationen vergänglich sind, daß nur die Schönheit ewig ist." 154 In engem Zusammenhang mit diesem für Todorow und den ganzen Kreis „Missal" charakteristischen S c h ö n h e i t s k u l t , dessen ab>strakter Charakter aus dem Zitat unschwer herauszulesen ist, steht die „Lyrisierung" der Idyllen. S i e p r ä s e n t i e r t s i c h v o r a l l e m als eine S t i l i s i e r u n g des E r z ä h l t e n , als eine P o e t i s i e r u n g d e r S p r a c h e - ein Zug, der mehr oder weniger alle Arbeiten des Autors durchzieht - u n d e r s t i n z w e i t e r L i n i e a l s D e s t r u k t i o n d e r e p i s c h e n E r*Z ä h l s t r u k t u r , wie sie als Tendenz nur für einen Teil der Idyllen zutrifft. Deshalb lassen sich bei Todorows Kurzprosa grund134
sätzlich zwei Typen unterscheiden: 1. Arbeiten, die insofern „traditionell" geschrieben sind, als sie ein Sujet und einen episodischen Aufbau aufweisen (z. B. Unstet), die sich aber zugleich von der Erzählung der kritischen Realisten der neunziger Jahre dadurch abheben, daß die Handlung, die Milieubeschreibung und die Aufdeckung der sozialen Beziehungen der Figuren stark zurückgedrängt sind und die Hauptaufmerksamkeit des Autors der Wiedergabe von Vorgängen in deren innerer Welt gilt; dies geschieht auf emotionalem Wege, durch „einfühlende" Beschreibung seelischer Zustände und deren In-Beziehung-Setzen zur stimmungsvoll umrissenen Umwelt. Und 2. sujetlose Arbeiten, die von symbolischen Bildern und Gestalten getragen werden (z. B. Über der Kirche) oder aber den Charakter von impressionistischen Stimmungsbildern haben: Senokos (Heuernte), Kogato kokiceto cäfne (Wenn das Schneeglöckchen blüht). Hier ist neben dem weitgehenden Verzicht auf Handlung auch die rein sprachliche „Lyrisierung" im Sinne von Poetisierung und Stilisierung am stärksten ausgeprägt, realisiert vor allem durch Anlehnung an die Semantik der Folklore und Nutzung von volksliedhaften klanglichen und rhythmischen Effekten. Freilich gibt es zwischen diesen zwei Grundtypen viele Übergänge, so daß sich nicht jede Idylle ganz eindeutig dem einen oder dem anderen Typ zuordnen läßt. Was außer der „Lyrisierung" im erörterten Sinne fast jede Idylle kennzeichnet, ist der Versuch Todorows, sich nicht mehr an die von Wasow geprägte „fragmentare" innere Gliederung der Erzählung zu halten, die sich in einer klaren Aufeinanderfolge von einzelnen Teilen - wie Bericht der Erzähl* instanz, Landschaftsbeschreibung, Dialog, Autorenkommentar - ausdrückte, sondern diese einzelnen „Fragmente" ineinanderfließend zu gestalten und so die Erzählung zu „synthetisieren". Diese wichtige neue Tendenz in der Entwicklung der bulgarischen Kurzprosa wird gewöhnlich erst mit dem Werk Elin Pelins in Verbindung gebracht. Todorows Idyllen sind ein Zeugnis dafür, daß die individualistischsezessionistische ebenso wie die kritisch-realistische Richtung an dieser gattungsgeschichtlichen Entwicklung im nationalen Rahmen beteiligt gewesen ist, daß sie strukturell und formästhetisch nicht nur die „Lyrisierung" in der bulgarischen Prosa anbahnte. 155 Ergänzend sei darauf hingewiesen, daß es Todorow nicht immer gelang, Idee (Konflikt, verallgemeinernde Ebene) und konkretes Material (Stoff, milieugeburidene Ebene) zu einem harmonischen Ganzen zu verbinden. Der Hauptgrund ist darin zu sehen, daß die 135
Folklore als bevorzugte Materialquelle (in der sich das patriarchalische Bewußtsein des bulgarischen Volkes spiegelte) den Konflikt der individualistischen Persönlichkeit mit der Gemeinschaft, die erst die „moderne" Zeit mit sich brachte, nicht kannte und sich schon deshalb den Intentionen des Autors nur widerstrebend fügte.. Die vielen folkloristisch-realistischen Details andererseits, deren sich Todorow bediente, um seinen Arbeiten das gewünschte nationale Kolorit zu verleihen, zeichneten sich mehr durch traditionelle Deskriptivität als durch suggestive Expressivität aus. Sie ließen die Figuren oft zu sehr „milieugebunden" erscheinen und wirkten so gegen ihre Anlage und beabsichtigte Funktion, „romantische Symbole" 150 zu sein. Pejo Jaworow wies als erster auf diesen Widerspruch und den mit ihm verbundenen Qualitätsverlust hin, der von der bulgarischen „Moderne" etwas später als schwerwiegende Unzulänglichkeit gewertet wurde und ihre ablehnende Haltung zu Todorows Werk bestimmte. Bedenkt man aber, daß viele Idyllen gerade dieser relativen Fülle an realistischen Details nicht nur ihre nationale Atmosphäre, sondern auch ihre Lebensnähe verdanken, so wird klar, daß hier aus heutiger Sicht nicht undifferenziert von künstlerischer Schwäche gesprochen werden kann. Der Widerspruch veranschaulicht vielmehr, wie kompliziert das Verhältnis zwischen dem Kreis „Missal" und dem: bulgarischen kritischen Realismus am Ausgang des 19. Jahrhunderts war: Sosehr sich auch die Vertreter des Kreises programmatisch von Wasow oder Wlaikow distanzierten, in der P r a x i s kam es nicht selten zu mannigfachem Mit- und Ineinander. Dank diesem Umstand konnten sie ihrerseits um so stärker auf Wasows Nachfolger Elin Pelin oder Jordan Jowkow einwirken und wesentlich zur „Reife" des bulgarischen Realismus beitragen.
Die Ausbildung der „klassischen" Kur^er^äblung im Werk Elin Velins „Als sich im Dorf die Kunde verbreitete, Großvater Matejko sei gestorben, da wollte es zuerst niemand glauben, denn er hatte gern seinen Scherz mit den Leuten getrieben, und dann war auch bisher mit ihm noch nie so etwas passiert. Aber als Großmutter Jowa von seiner letzten Stunde erzählte, mußten sich schließlich alle überzeugen, daß er diesmal keinen Spaß machte. D a war der 136
Folklore als bevorzugte Materialquelle (in der sich das patriarchalische Bewußtsein des bulgarischen Volkes spiegelte) den Konflikt der individualistischen Persönlichkeit mit der Gemeinschaft, die erst die „moderne" Zeit mit sich brachte, nicht kannte und sich schon deshalb den Intentionen des Autors nur widerstrebend fügte.. Die vielen folkloristisch-realistischen Details andererseits, deren sich Todorow bediente, um seinen Arbeiten das gewünschte nationale Kolorit zu verleihen, zeichneten sich mehr durch traditionelle Deskriptivität als durch suggestive Expressivität aus. Sie ließen die Figuren oft zu sehr „milieugebunden" erscheinen und wirkten so gegen ihre Anlage und beabsichtigte Funktion, „romantische Symbole" 150 zu sein. Pejo Jaworow wies als erster auf diesen Widerspruch und den mit ihm verbundenen Qualitätsverlust hin, der von der bulgarischen „Moderne" etwas später als schwerwiegende Unzulänglichkeit gewertet wurde und ihre ablehnende Haltung zu Todorows Werk bestimmte. Bedenkt man aber, daß viele Idyllen gerade dieser relativen Fülle an realistischen Details nicht nur ihre nationale Atmosphäre, sondern auch ihre Lebensnähe verdanken, so wird klar, daß hier aus heutiger Sicht nicht undifferenziert von künstlerischer Schwäche gesprochen werden kann. Der Widerspruch veranschaulicht vielmehr, wie kompliziert das Verhältnis zwischen dem Kreis „Missal" und dem: bulgarischen kritischen Realismus am Ausgang des 19. Jahrhunderts war: Sosehr sich auch die Vertreter des Kreises programmatisch von Wasow oder Wlaikow distanzierten, in der P r a x i s kam es nicht selten zu mannigfachem Mit- und Ineinander. Dank diesem Umstand konnten sie ihrerseits um so stärker auf Wasows Nachfolger Elin Pelin oder Jordan Jowkow einwirken und wesentlich zur „Reife" des bulgarischen Realismus beitragen.
Die Ausbildung der „klassischen" Kur^er^äblung im Werk Elin Velins „Als sich im Dorf die Kunde verbreitete, Großvater Matejko sei gestorben, da wollte es zuerst niemand glauben, denn er hatte gern seinen Scherz mit den Leuten getrieben, und dann war auch bisher mit ihm noch nie so etwas passiert. Aber als Großmutter Jowa von seiner letzten Stunde erzählte, mußten sich schließlich alle überzeugen, daß er diesmal keinen Spaß machte. D a war der 136
Mann vom Holzholen gekommen, hatte sein Eselchen angebunden, ihm Heu vorgeschüttet; doch als er sich im Haus ans Feuer gesetzt und die Pfeife angezündet hatte, da war ihm etwas durch und durch gefahren, er hatte sich ausgestreckt, aufgestöhnt und . . . Zwar fand sich Großmutter Jowa ein, aber wer kann schon eine entfliehende Seele aufhalten? ,Ich rufe ihm noch zu', berichtete sie, ,daß er sich bekeuzigen soll, und es ist zu sehen, wie er sich abmüht, aber er kann keinen Finger rühren.' Man brachte ihm zur Stärkung ein Fläschchen Schnaps. Er nahm es und lachte, sogar seine Augen leuchteten, und dann . . . starb er."137 So beginnt eine der populärsten Arbeiten Elin Pelins, Na onja svjat (Im Jenseits), in der humorvoll sowie mit den Mitteln der märchenhaften Phantastik erzählt wird, was der Seele von Großvater Matejko nach dem Tod widerfährt: Matejko, der arme Schlucker und Trinker, der davon überzeugt ist, daß er schon längst im „Buch des Teufels" eingetragen ist und sich deshalb gleich auf den Weg zur Hölle macht, wird auf Grund seines schweren und leidvollen Lebens für „gerecht" erklärt und landet im Paradies. Doch der Alte, der den Schnaps so gern hat, kann sich darüber kaum freuen. Denn im Paradies, an dem Ort, wo angeblich alles zu haben ist, was das Herz begehrt, gibt es keine Kneipen. Kneipen bietet nur die Hölle, und wenn Großvater Matejko dem Himmelreich letztendlich doch nicht den Rücken kehrt, so nur, weil er erfährt, daß es dort auch das nicht gibt, wovor er sich auf Erden am meisten gefürchtet hat - die Steuereinnehmer! Zweierlei fällt an dieser 1902 entstandenen Erzählung auf: der bestechend schlichte, volkstümliche Plauderton und der anekdotische Aufbau. Dem Leser wird erst am Ende klar, worauf Elin Pelin eigentlich hinaus will. Die Harmlosigkeit des Erzählten erweist sich als trügerisch. Sie dient dazu, die Wirkung der unerwarteten Pointe, die die sozialkritischen Intentionen des Autors blitzartig erhellt, zu erhöhen. Auch viele andere Erzählungen Elin Pelins sind anekdotisch angelegt. Doch nicht darin wäre das sie besonders Kennzeichnende zu sehen, denn Aleko Konstantinows Bai-Ganju-Zyklus weist eine ähnliche Komposition auf. Die eigentliche Klammer der Kurzprosa von Elin Pelin, wofür Im Jenseits hier als Beispiel stehen soll, bildet vielmehr eine zwar ganz unmißverständliche, aber nie deklarierte oder kommentierte, sondern stets kunstvoll und unaufdringlich artikulierte soziale Engagiertheit des Autors. 137
Diese in der bulgarischen Prosa des 19. Jahrhunderts noch unbekannte Art, auf Soziales zu reagieren, entsprang keineswegs allein dem spezifischen Naturell Elin Pelins als Künstler oder etwa der regionalen Verbundenheit seines Schaffens mit dem Leben der Landbevölkerung aus der Umgebung von Sofia, der Schopen. Sie war aufs engste mit seiner neuen Sicht auf das Dorf und den bulgarischen Bauern schlechthin verbunden, und sie ging nicht nur mit wesentlichen Strukturveränderungen in der von Wasow geprägten Erzählung einher, sondern bestimmte die neue Qualität des bulgarischen kritischen Realismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts maßgeblich mit. Worin unterschied sich Elin Pelins Haltung zum bulgarischen Bauern im Vergleich zu der seiner Vorgänger, um welche Strukturveränderungen im Genre der Erzählung handelt es sich in seinem Werk und inwiefern stellt seine Prosa eine Weiterentwicklung der kritisch-realistischen Methode dar? Als Vorgänger Elin Pelins und „Entdecker" des Gegenstands Dorfleben in der bulgarischen Prosa nach 1878 gelten Todor Wlaikow, Michalaki Georgiew und Anton Straschimirow. Sie debütierten Ende der achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts, zur selben Zeit, als sich in Wasows Schaffen die Verlagerung des Akzents von Stoffen aus den nationalen Befreiungskämpfen auf die kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität im bürgerlichen Bulgarien vollzog. Orientierte sich aber Wasow hauptsächlich auf die Entlarvung der brutalen Praktiken in der Politik sowie auf die Darstellung des Verfalls der staatsbürgerlichen Tugenden und der Moral in der Großstadt, so ergänzten und erweiterten die genannten Autoren den Themenkreis der bulgarischen Prosa, indem sie Prozesse und Veränderungen reflektierten, die die Periode der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals a u f d e m L a n d e mit sich brachte. In dieser Zeit verarmten viele Bauern, die nach 1878 durch die Bodenreform zu einem Stück Land gekommen waren: Da es ihnen an Geld für notwendige Investitionen mangelte, wurden sie schnell zu Opfern von Wucherern, Händlern und Spekulanten, aus denen sich die Schicht der Dorfreichen, der Tschorbadshis, konstituierte. Manche Bauern verschuldeten so sehr, daß sie ihren Besitz verloren und sich gegen geringen Lohn als Knechte an die Dorfreichen verdingen mußten. Diese Differenzierung innerhalb der Bauernschaft, die soziale Not der armen und ruinierten Bauern, ihre Abhängigkeit 138
von Wucherern und Tschorbadshis einerseits und der gleichzeitige Zerfall der Großfamilie andererseits, die über Jahrhunderte eine Festung der patriarchalischen Lebensweise der Bulgaren gewesen war, stellen zwei gravierende Erscheinungen dar, die das nationale Leben um die Jahrhundertwende entschieden mitprägten. Darauf reagierten Wlajkow, Georgiew und Straschimirow mit großer Betroffenheit und sozialkritischer Schärfe, eine Haltung, die allerdings nicht nur viel Gemeinsames, sondern auch - je nach dem ideellpolitischen Standort des einzelnen Schriftstellers - einige Unterschiede aufwies. Die ausschlaggebenden gemeinsamen Momente in der Haltung der drei Autoren zu den Umwälzungen im bulgarischen Dorf beruhten darauf, daß sie alle - Wlaikow in besonderem - wichtige einschlägige Anregungen von der Volkstümlerbewegung erhalten hatten, die in Bulgarien gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Anlehnung an die russische entstand158 und viele Anhänger gerade unter der Intelligenz fand. Konkret äußerte sich der Einfluß der Volkstümlerideen in ihrem Prosawerk in zweifacher Hinsicht: erstens in der offenen Parteiergreifung für den verarmten, notleidenden Bauern, in dem man vor allem d e n T r ä g e r d e r h e r k ö m m l i c h e n p a t r i a r c h a l i s c h e n T u g e n d e n des bulgarischen Volkes (z. B. Fleiß, Sparsamkeit, strenge Moralbegriffe, ausgeprägter Sinn für Familienzusammengehörigkeit usw.) sah und den man als O p f e r der gesellschaftlichen Entwicklung des Landes nach 1878 betrachtete (sei es aus Naivität und Unwissenheit, wie z. B. Großvater Koljo in Michalaki Georgiews S tebisir i väglen (Mit Kohle und Kreide), sei es durch die verderblichen Auswirkungen der individualistischen Tendenzen und lockeren Moral der „neuen Zeit", die die alten und „allein glückbringenden" patriarchalischen Grundsätze und Moralvorstellungen verdrängten, wie dies der Grundtenor in vielen Werken Wlaikows ist, oder sei es auf Grund von klar gesehenen sozialen Antagonismen, auf Grund der Übermacht des sozialen Gegners und Ausbeuters - des Tschorbadshis, des Bürgermeisters oder des Popen - , hinter dem der kapitalistische Staat mit seiner Polizei und Justiz schützend steht, wie dies in temperamentvoll und mutig geschriebenen Erzählungen Anton Straschimirows zum Ausdruck kommt), und zweitens in der Darstellung dieses von sozialer Not erdrückten Bauern als unfähig, sich selbst gegen die Mächte, die für seine Lage verantwortlich sind, effektiv zu wehren, sowie in der daraus resultierenden Auffassung, daß er H i l f e v o n d r a u 139
ß e n , von anderen, mit ihm sympathisierenden sozialen Kräften braucht, wofür der auf dem Lande tätige Intellektuelle, vor allem aber der Dorflehrer, geradezu prädestiniert sei. Die Unterschiede innerhalb des gemeinsamen Herangehens der Autoren an die Bauernfrage ergaben sich aus deren ungleichem Verhältnis zum bürgerlichen Staat und aus den verschiedenen Zielsetzungen, die sie mit der Aktivität des Dorflehrers verbanden. Während Georgiews und Straschimirows Verhältnis zum Staat eindeutig negativ war und sie seine Funktion als Instrument zur Unterdrückung des werktätigen Volkes in den Händen der herrschenden Klasse durchschauten, was den von ihnen gestalteten sozialen Konflikten eine zusätzliche Schärfe verlieh, faßte Wlaikow (wie Wasow) den Staat und seine Organe als eine über den Klassen stehende, nationalintegrierende Institution auf, deren Fehlleistungen er auf den Mißbrauch der Macht durch selbstsüchtige Politiker zurückführte, die ihre Position ausnutzten, um sich persönliche Vorteile zu verschaffen und das Volk auszuplündern. Deshalb sah er die Aufgabe des Dorflehrers nicht nur darin, die Bauern, die durch die „moderne" Lebensweise verdorben, der Faulheit und dem Trunk verfallen waren, zur Rückkehr zu dem alten, „rettenden" Grundsatz „Arbeit und Sparsamkeit" zu animieren, sondern auch gegen ihre Unwissenheit anzukämpfen. Klärte man die Bauern auf, brächte man dem Volk bei, was es tatsächlich an Steuern dem Staat zu zahlen hat, welche Rechte ihm die Verfassung einräumt, dann würde es sich nicht betrügen lassen, dann würde es verstehen, seine wirtschaftliche Lage zu verbessern und eine Regierung zu wählen, die seine Interessen verträte. 139 Von solchen Illusionen war Anton Straschimirow weitgehend frei. D a er in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als sein Frühwerk entstand, sich nicht nur von den Volkstümlern, sondern auch von sozialistischen Ideen anregen ließ, gestaltete er seine Bauernfiguren klassenbewußter und die sozialen Konflikte weit unversöhnlicher als Wlaikow oder Georgiew. Der Lehrer in seinen Erzählungen sehnt sich nicht nach der „guten alten Zeit", er lenkt die Bauern nicht durch Utopien vom Klassenkampf ab. Er lehrt sie, sich den Machthabern zu widersetzen, wenn ihnen Unrecht geschieht, und die Gesetze als das anzusehen, was sie sind - ein Mittel zur Unterdrückung der Armen, eine Ursache für ihre elende Lage. Erwähnenswert ist, daß sich Straschimirow im Unterschied zu Wlajkow und Georgiew nicht nur mit den sozialen Umwälzungen 140
auf dem Lande und ihren Auswirkungen auf die Moral der Bauern auseinandersetzte. Er zeigte darüber hinaus großes Interesse für Fragen der Volkspsychologie. So versuchte er in einer Reihe von Erzählungen, in die verborgensten Winkel der „Volksseele" vorzudringen, ihre geheimsten Seiten zu erforschen. Dabei stellte er fest, daß es nicht allein die soziale Not war, die auf dem bulgarischen Bauern lastete, daß er sein „dunkles" Dasein nicht zuletzt den jahrhundertealten Ablagerungen in seiner Psyche, den Vorurteilen und dem Aberglauben, zu verdanken hatte, die ihn noch immer gefangen hielten, ihn zur leichten Beute von Scharlatanen machten oder zur Selbstzerstörung, zu Grausamkeiten und Verbrechen trieben. Durch das Aufgreifen dieser diffizilen Problematik bereicherte Straschimirow die bulgarische Prosa über das Dorf durch eine neue, bis dahin ungekannte psychologische Dimension, die die Vielschichtigkeit und Kompliziertheit der Thematik offenbarte und sich objektiv gegen ihre einseitige, die alte patriarchalische Ordnung idealisierende oder aber die neue Realität zu stark soziologisierende und politisierende Behandlung wandte. Straschimirows Hang zur Gestaltung von rebellierenden Lehrern und Bauern als den tragenden Figuren seiner Erzählungen erwies sich von relativ kurzer Dauer. Wie Petko Todorow (und nur wenige Jahre nach ihm) nahm er bald Abschied von den volkstümlerischen und sozialistischen Ideen, die sein Frühwerk prägten. Nach der Powest Krästopät {Am Kreuzweg; 1904), in der er die Bauernunruhen in Bulgarien um die Jahrhundertwende reflektierte und die zu den bedeutenden Leistungen des bulgarischen kritischen Realismus jener Zeit gezählt wird, 160 kehrte er sich endgültig von den sozialen Konflikten auf dem Lande ab. In den Mittelpunkt seines Schaffens rückten jetzt die Stadt, innere Erlebnisse sowie sozial-psychologische und philosophische Probleme von übergreifender Natur, in denen sich die ideelle Krise vieler bulgarischer Intellektueller zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ihr Übergang auf mehr oder weniger ausgeprägte individualistische Positionen (als Reaktion auf die abgelehnte, nun aber fest etablierte und scheinbar nicht mehr veränderbare gesellschaftliche Wirklichkeit) prägnant widerspiegelte. Die Lücke, die sich in der bulgarischen Prosa mit Dorfthematik durch die Orientierung Straschimirows, ihres talentiertesten Vertreters der neunziger Jahre, auf andere Gegenstände der Gestaltung aufgetan hatte, wurde durch das Schaffen Elin Pelins ausgefüllt, das zugleich eine neue Entwicklungsetappe einleitete. Zeigten Wlai141
kow, Georgiew und Straschimirow den verarmten Bauern vornehmlich als Opfer der neuen gesellschaftlichen Verhältnisse, weil er behaftet mit all den patriarchalischen Tugenden, wie sie in der patriotischen Folklore aus der Wiedergeburtszeit besungen worden waren nicht in der Lage war, sich den Wolfsgesetzen des Kapitalismus anzupassen, erschien er deshalb in ihrer Prosa als bemitleidenswert und hilfebedürftig, so trat derselbe Bauer in Elin Pelins Erzählungen wesentlich verändert auf. Der Autor knüpfte an die innere Bereitschaft vieler Figuren Straschimirows an, sich dem Bösen, in welcher Form auch immer, zu widersetzen, und baute diesen Zug, der bei seinem Vorgänger meist erst eines ordentlichen Anstoßes von draußen (vom Lehrer-Aufklärer oder durch ein außergewöhnliches Ereignis) bedurfte, um zum Druchbruch zu kommen, zu einer permanentenHaltung,zurGrundcharakteristik seiner Bauerngestalten aus: Der Fuhrmann Andreschko aus der gleichnamigen Erzählung läßt den Gerichtsvollzieher samt Fuhrwerk im Sumpf stecken, als er erfährt, daß dieser ins Dorf will, um das Getreide eines armen Nachbarn zu pfänden; Lipo aus Prestäplenie (Das Verbrechen) erschlägt den Sohn des Bürgermeisters, der seine Schwester geschändet hat, doch nicht aus blinder Rachsucht, sondern aus der Erkenntnis heraus, daß er auf dem Rechtsweg bei der herrschenden Klassenjustiz gegen den reichen Schurken nichts ausrichten kann; jeglicher Unterwürfigkeit oder Demut bar und vom Geist des Widerstandes erfüllt sind auch Lasarinka in Zakasnjalata niva (Der zurückgebliebene Acker), die stolz auf ihren Mann ist, obwohl er wegen Mordes eingesperrt wird, denn er hatte ihre menschliche Würde gegen die Nachstellungen eines Dorfreichen verteidigt, sowie die unglückliche Bäuerin in Ludata (Die Wahnsinnige), deren Schmerz über das Lös ihrer in der Stadt zum „Straßenmädchen" gewordenen Tochter sich während des Gottesdienstes in der Kirche in einem Aufschrei entlädt, der sich gegen alle „Autoritäten" der existierenden Ordnung richtet: „Es gibt keine Gerechtigkeit . . . es gibt keinen Gott! Hört ihr? Der Zar muß vom Thron! Der Bischof von seinem Stuhl! Der Pope aus der Kirche! Vater . . . Lügt uns nicht an . . ." 16i Sogar Großvater Matejko in der anfangs zitierten Erzählung, dem sonst so gutmütig-harmlos angelegten Alten, sind Fügsamkeit, senile Gleichgültigkeit und Resignation oder religiöse Demut fremd. Auch im Jenseits kämpft er darum, über sich selbst zu entscheiden, läßt er sich nicht widerspruchslos die „himmlische Rechtssprechung" gefallen. 142
Der andere Zug, der Elin Pelins Bauernfiguren besonders kennzeichnet und der ihren Widerstandswillen ständig „wachhält", ist das M i ß t r a u e n . Aleko Konstantinow hatte als erster diesen Zug des bulgarischen Bauern nach 1878 künstlerisch eingefangen, allerdings in einer stark modifizierten, satirisch zugespitzten Form (im Zusammenhang mit der Aufdeckung der sozialen Herkunft und nationalen Spezifik der Bai-Ganju-Figur). 162 Das Mißtrauen der armen Bauern in den Erzählungen Elin Pelins ist aufs engste mit ihrer Stellung als einer unterdrückten und von den Politikern immer wieder im Stich gelassenen und betrogenen Schicht der kapitalistischen Gesellschaft verbunden und in erster Linie klar gegen die Vertreter der Staatsmacht gerichtet, die der Autor selbst als „Stiefmutter" für die unteren sozialen Klassen bezeichnete.163 Daß Elin Pelins Schope (Bauer aus der Umgebung von Sofia) aber dazu neigte, zum „feindlichen Lager" nicht nur die Steuereinnehmer und den Bürgermeister, sondern oft auch den Popen, den ganzen Beamtenapparat und die Intelligenz zu zählen und sich deshalb ihnen gegenüber ebenso argwöhnisch verhielt, deutet darauf hin, daß der Autor, der vom Lande stammte und Geisteswelt und Psyche der Bauern gut kannte, für das Verhalten seiner Figuren mehr als nur aktuelle soziale Gründe wußte. In der Tat lassen manche Arbeiten von ihm das Gefühl aufkommen, als lebte in der mißtrauischen Natur seiner Figuren auch der für die Bogomilenbewegung im Mittelalter (die das geistige Leben des bulgarischen Volkes entschieden beeinflußte) so charakteristische Zweifel an der „Legitimität" jeglicher offizieller - weltlicher wie geistlicher - Institutionen weiter, deren prinzipielle Ablehnung als ein „Werk des Teufels". 164 Die langwierige osmanische Unterdrückung dürfte zur Verfestigung dieser antiautoritär-ketzerischen geistigen Haltung des bulgarischen Bauern beigetragen haben, und wenn sie als ein Wesenszug erst nach der Befreiung von 1878 literarisch „entdeckt" wurde, so deshalb, weil für die Schriftsteller der Epoche der Wiedergeburt andere - nationalpolitische und nicht volkspsychologische - Fragen im Vordergrund standen. Über den spezifischen Charakter des armen Bauern in Elin Pelins Schaffen sowie seine nationalrepräsentative Relevanz ließe sich noch manches sagen. Im Rahmen dieser Studie dürfte jedoch der Hinweis auf den Widerstandswillen und den mißtrauisch-oppositionellen, antiautoritären Geist genügen, um eine Vorstellung von der neuen Sicht des Autors auf die zahlenmäßig stärkste Bevölkerungsschicht 143
in Bulgarien zu vermitteln. Die Bedeutung dieser neuen Sicht - die Darstellung des unterdrückten Bauern als eines vitalen, pfiffigen, sich meist selbst aus der Patsche helfenden und wenn nötig auch Gewalt anwendenden Menschen - war groß: Durch sie wurden die bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschenden folkloristisch-idealisierenden Konzepte in der bulgarischen Prosa überwunden. Nach Elin Pelin fand sich kein seriöser Autor, der den bulgarischen Bauern nach dem alten, volkstümlerisch-sentimentalen Muster als naiv-hilfloses Opfer der neuen Zeit gestaltete. Das heißt freilich nicht, daß Elin Pelin mit seinem neuen Herangehen an die Dorfthematik den Bauernfiguren in seinem Schaffen alle traditionellen (und besonders in der Folklore immer wieder gepriesenen) Tugenden absprach. Auch seine Helden sind arbeitsam, tüchtig und respektvoll gegenüber den alten Moralbegriffen, auch sie haben ein reiches emotionales Leben, auch sie kennen die „große Liebe" und hängen an ihren Familien. Doch nicht mehr diese, sondern die oben besprochenen Züge erscheinen als prägend, während die herkömmlichen nun meist in einer stark modifizierten Form auftreten. So ist Boshan aus Geracite (Die Geraks) nicht weniger fleißig als die arbeitsamsten Figuren Wlaikows. Während diese aber dabei das Wohl der ganzen Großfamilie vor Augen haben, müht sich Boshan nur für sich selbst und die eigene Familie ab und scheut keine Mittel, um seinen persönlichen Besitz zu vergrößern. Er überwirft sich mit seinen Brüdern und trägt durch seine Verhaltensweise entschieden zum Untergang der patriarchalischen Großfamilie bei. Auch Laso in Kosaci (Schnitter) liebt seine Penka. Doch das hindert ihn nicht daran, sie - obwohl ganz jung vermählt - für längere Zeit allein zu lassen, weil es ihn reizt, um des besseren Verdienstes willen in einer abgelegenen Gegend zu arbeiten. Swilen in Kraj vodenicata (Bei der Mühle) liebt Milena. Doch er heiratet sie nicht - wie dies bei Wlajkow oder in der Folklore fast obligatorisch wäre, wo sich die Liebe stets über alle Hindernisse hinwegsetzt - , weil er, der Knecht, das Minimum an Mitteln für die Gründung einer Familie nicht aufbringen kann und Milena nicht in Armut stürzen will. Milena heiratet einen Reichen, trifft sich aber heimlich weiterhin mit ihm. Eine Lösung des Problems ganz modern, ganz im Sinne der neuen, verlogenen bürgerlichen Moral. So gelang es Elin Pelin nicht nur, die folkloristisch-volkstümlerischen, idealisierenden Konzepte seiner Vorgänger vom bulgarischen Bauern zu überwinden, sondern zugleich jene tiefgreifenden Ver144
änderungen in seinem geistigen und moralischen Leben einzufangen und die „Metamorphosen" zu zeigen, die die traditionellen bäuerlichen „Tugenden" unter dem Druck der kapitalistischen Gesellschaftsordnung durchmachen mußten. 165 Um so beeindruckender ist es, daß bei diesem ungeschminkten Realismus, bei all dieser nüchternen und genauen Bestandsaufnahme des vielfältigen, unaufhaltsamen Abschieds von der patriarchalischen Lebensweise auf dem Lande Elin Pelin seine skeptisch-gewitzten und etwas rohen Bauernfiguren zugleich mit einer Eigenschaft versah, die auf den ersten Blick zu ihrem Gesamtbild gar nicht recht paßte. So bedrückt sie von der sozialen Not sind, so argwöhnischironisch sie als in einer Art von Abwehrreaktion ihrer Umwelt gegenüber auch auftreten mögen, eines haben sie auf keinen Fall verloren - den Hang zum Träumen, die Fähigkeit, sich für das Schöne und Ideale zu begeistern. Dieser scheinbare Widerspruch in der Gestaltung ist außerordentlich aufschlußreich für Elin Pelins Humanismus, der einen deutlichen Bezug zur Bogomilentradition in der Geistesgeschichte des bulgarischen Volkes ebenso aufweist wie zur dualistischen Auffassung vom ständigen Kampf zwischen dem guten und bösen Prinzip nicht nur in der Welt global, sondern auch in der Seele des einzelnen Menschen. 166 Die angeborene Neigung zu träumen, selbst wenn diese Träume und Hoffnungen völlig illusorisch und absurd sind, erscheint als wichtigste Ausdrucksform des „guten Prinzips" in seinen Figuren, die sich ihrer sonst so nüchtern-materialistischen Lebenseinstellung und ihrem von „dunklen" Kräften und Leidenschaften stets bedrängten Innenleben 107 widersetzt, sie seelisch bereichert und beflügelt, sie überhaupt in die Lage bringt, sich menschlich zu fühlen. Eine große Macht, das Humane, das Höhere, das gute Prinzip im Menschen zu wecken und zu fördern, sprach Elin Pelin in diesem Zusammenhang der Kunst zu. Besonders einprägsam artikuliert ist dieser Wesenszug seiner Poetik in der bereits erwähnten Erzählung Schnitter. Hier wehrt Blagolash, ein älterer Arbeitsgenosse von Laso, die Vorwürfe des jungen Bauern, seine Märchen, die er abends am Lagerfeuer zu erzählen pflegt, seien „Altweibergeschichten" und „Hirngespinste", mit der Bemerkung ab, daß sie zwar „wundersam", aber „ s c h ö n " und deshalb von unübertrefflicher, den Menschen umwandelnder Wirkung wären: „Man lauscht und lauscht und vergißt sich dabei . . . Und eh du dich's versiehst, er10
Witschew, Bulg. Flosa
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scheint dir das Wundersame Wirklichkeit, du versinkst darin und wirst davongetragen. Dazu sind die Märchen da, dazu haben die Menschen sie ausgedacht. Auch die Lieder sind dazu da . . . daß sie dich der Wirklichkeit entreißen und du merkst, daß du ein Mensch bist . . ,"16S D a ß Elin Pelin mit „Wirklichkeit" etwas ganz Konkretes - das armselige, graue, noterfüllte und freudlose Dasein seiner Figuren meinte, das sie als Menschen abzustumpfen drohte, liegt auf der Hand. Blagolashs Worte werfen somit ein Licht auf Elin Pelins nähere Auffassung von den Aufgaben des literarischen Werkes. Es sollte nicht nur eine anklagende soziale Analyse sein, sondern dem Leser zugleich einen ästhetischen Genuß bereiten, in ihm die edelsten Gefühle und Sehnsüchte wecken und ihn so über die Misere erheben. Dieser neue, bei den kritisch-realistischen Schriftstellern vor Elin Pelin noch nicht sehr ausgebildete Akzent läßt einen deutlichen Bezug des Literaturverständnisses des Autors zum Konzept des Kreises „Missal" erkennen, speziell zu dessen Auffassungen von der Rolle der Kunst als eines Mittels zur ethischen Vervollkommnung und ästhetischen Erziehung des Menschen. Neigten aber die Vertreter des Kreises dazu, diese Aufgabe ihren individualistischen Intentionen unterzuordnen, so ist Elin Pelins Leistung insbesondere darin zu sehen, daß er sie aufs engste mit seinem sozialen Engagement verband. Daher auch jene eigenwillige und bestechende, in der bulgarischen Prosa erstmalige Mischung von analytischer Schärfe und emotionaler Ausstrahlung, von unbarmherzig-wahrhaftiger und zugleich „poetisch" gehobener Gestaltung der Wirklichkeit auf dem Lande; daher aber auch der fast nie fehlende vitale, optimistische Ton in seinen Erzählungen - trotz aller Trostlosigkeit der abgebildeten Realität. Erzielt wurde diese poetisierend-lebensbejahende Tendenz in Elin Pelins Werk mit den Mitteln der L y r i s i e r u n g und des H u m o r s . Die „Lyrisierung", von der hier die Rede ist, betrifft die semantisch-stilistische Ebene des Erzählers. Sie darf also weder mit der eigentlichen Lyrisierung in der Prosa - mit der Destruktion epischer Strukturen - noch mit jener „Lyrisierung" verwechselt werden, die sich aus einem unverhüllt wertenden Verhältnis des Erzählers zum Gegenstand der Gestaltung ergibt und genauer als „Subjektivierung" zu fassen wäre. Elin Pelins „Lyrisierung" unterschied sich aber auch von derjenigen in den Idyllen Petko Todorows. Präsentierte sie sich dort auf der semantisch-stilistischen Ebene vor 146
allem als Stilisierung des Erzählten, als eine Poetisierung der Sprache schlechthin, so erschien sie bei Elin Pelin hauptsächlich als spezifische Art der Handhabung der Naturbeschreibung. Der poetisierende Effekt wurde in der Regel durch Anthropomorphisierung der Natur realisiert, durch die Beschreibung ihrer Erscheinungen und Zustände mit Begriffen aus den semantischen Feldern menschlicher Gefühle und Gedanken bzw. durch Vergleiche, die auf Analogien zwischen menschlichen und Naturvorgängen hinweisen. Diente das Naturbild bei Wasow vor allem dazu, zusammen mit den Reflexionen der Erzählinstanz den geschilderten Vorfall zu umrahmen und das seelische Erlebnis der Figuren vorzubereiten oder zu ergänzen, so übertrug ihm Elin Pelin nun die wichtige Funktion, die psychologische Analyse der Gestalten weitg e h e n d z u e r s e t z e n , zum Träger „der Seele des Geschehens"169 zu werden. Ein Paradebeispiel dafür sind die Naturbeschreibungen in der Erzählung Schnitter, in deren Mittelpunkt der innere Konflikt Lasos steht, der zwischen dem Wunsch, mehr Geld zu verdienen, und der Sehnsucht nach seiner jungen Braut hin und her gerissen wird. Seine Eifersucht - jemand könnte seine Abwesenheit ausnutzen und seine Frau verführen - wird von seinen Arbeitskollegen geschickt angestachelt. Die Naturbilder setzt Elin Pelin hier ein, um Lasos schlecht verdeckte Eifersucht, die ihn der Lächerlichkeit preisgibt, als Schwäche gewissermaßen zu „neutralisieren", um den Leser anzuregen, sie mit „philosophischer" Nachsicht, als etwas Unumgängliches, als etwas, was zur menschlichen Natur einfach dazugehört, anzusehen. Die Naturbeschreibung vertieft so den trivial anmutenden Vorfall, verleiht ihm eine zweite Dimension, die zu einem „verallgemeinernden emotionalen Ausdruck für Vitalität, Sinnlichkeit und Bejahung des Naturhaft-Menschlichen" 170 wird: „Eine wunderbare kühle und frische Sommernacht senkte sich herab. Die endlose thrakische Ebene versank im Dunkel, schien darin zu entschwinden und gab sich unter dem eintönigen Quaken der Frösche und dem Zirpen der Grillen einer tiefen Ruhe hin. Friede und Kühle wehten aus dem tiefen Sternenhimmel. Die Erde öffnete ihre leidenschaftliche Brust und erstarb im süßen Schauer. Die Mariza wälzte ihre trüben Fluten mit leisem Rauschen dahin und breitete sich mit träger Gelassenheit zwischen den dunklen, mit Weiden und Gebüsch bewachsenen Ufern aus. Ihr unergründlicher Schoß verströmte Feuchtigkeit und Kühle." 171 10»
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Nicht zu trennen von der poetisierenden „Lyrisierung" und mit ihr gemeinsam den Grundton der meisten Erzählungen bestimmend, ist Elin Pelins Humor. Seine Spezifik ist zunächst darin zu sehen, daß er - im Unterschied zum Humor im Werk aller bulgarischen Prosaiker im 19. Jahrhundert - kein b e w u ß t gesuchtes und angewandtes Gestaltungsmittel ist. Bezeichnend dafür ist folgende Äußerung des Autors: „Über meinen Humor kann ich gar nichts sagen. Ich meine es ernst, was aber dabei herauskommt, ist Humor." 172 Sie deutet auf die entscheidende Bedeutung des „heidnischen"173 und skeptischrealistischen Weltverhältnisses Elin Pelins für die Ausprägung einer solchen ästhetischen Beziehung zur Wirklichkeit hin, die den Humor bzw. die Ironie als ein wesentliches Element ganz unbeabsichtigt und spontan miteinbezieht. Humoristische „Behandlung" erfahren deshalb bei Elin Pelin nicht nur bestimmte Seiten der Realität (z. B. kritikwürdige Erscheinungen in der Gesellschaft und „negative" Figuren, wie dies im Werk Karawelows, Wasows oder Aleko Konstantinows schon der Fall war), sondern das Leben in all seiner Vielfalt, d. h. auch Dinge, zu denen er durchaus „positiv" steht. Der Humor selbst ergibt sich dabei nicht auf stereotype Weise als bevorzugte „Technik" der Gestaltung (als Bestandteil des Erzählerberichtes und des Autorenkommentars wie bei Karawelow und Wasow oder als Situationskomik wie bei Aleko Konstantinow), sondern er erscheint in verschiedenen Formen und durchdringt sowohl die sujetbezogene und kompositioneile als auch die sprachlich-stilistische Ebene des Werkes. Realisierung und Funktion dieses vielfältigen und der realistischen Methode Elin Pelins implizierten Humors läßt sich an der Erzählung Zadu'snica (Totentag) besonders gut veranschaulichen. Hier treffen Stantscho, ein armer Witwer mit vier Kindern, und Stoilka, eine ebenso arme und kinderreiche Witwe, auf dem Dorffriedhof zusammen und beginnen ein gewöhnlich-ernstes, für die Situation übliches Gespräch, das allerdings damit endet, daß beide sich dazu entschließen, zum Popen zu gehen und sich trauen zu lassen. Die anekdotisch anmutende Begebenheit mit der überraschenden Pointe bildet nur die oberste, die gröbste „Schicht" des Komischen in der Erzählung. 174 Der eigentliche, feine Humor Elin Pelins ist woanders zu suchen. Er setzt bereits mit dem „lyrisierten" Entwurf der Ausgangsatmosphäre und -Situation ein, mit dem Ausmalen jenes „nassen und nebligen" Herbsttages auf dem Friedhof (an dem die 148
„letzten gelben Blätter von den kahl gewordenen Pappeln" fallen, die „trübselig und traurig" neben der alten Kirche stehen 175 ), um in dieses „elegisch-gehobene" Bild der Realität die für den Autor obligatorische zweite, „nüchtern-skeptische" und „vitale" Dimension hineinzutragen. Es sind kleine, scharf beobachtete Details, die diese Wirkung erzielen, etwa „das ärgerliche Schimpfen" des Popen mit den Frauen, als er mit seinem Räucherfaß von Grab zu Grab eilt und Gebete vorsingt, oder das Verhalten des Küsters, der ihm nachläuft und den mitgeschleppten Sack „eifrig mit den Gaben füllt", die der Pope bekommt. Dieser feine, unaufdringliche Humor durchzieht auch den Dialog zwischen Stantscho und Stoilka. Der komische Effekt entspringt dabei nicht nur aus den „äußeren" Umständen - aus dem Widerspruch zwischen dem eigentlichen Anlaß für das Aufhalten, von Stantscho und Stoilka auf dem Friedhof (das Gedenken der „lieben Toten") und dem, was sie daraus machen (den Versuch, die eigenen Probleme zu lösen). Er ergibt sich aus der ganzen Art und Weise, wie sich die beiden zu ihren Toten verhalten (bald werden sie beklagt und beweint, bald wird unverblümt über deren Schwächen hergezogen), wie sie sich an das Thema „Wiederheiraten" herantasten, sowie aus den vielen kleinen Listigkeiten, die Stoilka, der aktivere Teil des „Pärchens", anzuwenden weiß, um sich bei dem etwas schwerfällig-einfältigen Stantscho einzuschmeicheln, sich vor ihm ins rechte Licht zu stellen. Die Komik, die dieser „Flirt" der beiden nicht mehr jungen und von Armut und Sorgen geplagten Menschen auf dem Friedhof erzeugt, ist natürlich besonderer Natur. Sie ist allzusehr mit anderen ernsten und traurigen - Elementen vermischt und wirkt deshalb viel eher als Tragikomik, als ein „Lachen unter Tränen". D a ß Elin Pelin auch andere, „unbeschwertere" Arten von Humor kannte und anwandte, geht aus der Erzählung Im jenseits hervor. Die in Totentag enthaltene Humorvariante ist aber insofern wichtig, als sie die b e i d e n für sein Verhältnis zum bulgarischen Bauern charakteristischen Momente prägnant enthält: einerseits, daß der Autor bei all seiner Sympathie für den bulgarischen Bauern die Augen vor dessen Schwächen nie verschloß, und andererseits, daß er an seine „vitale" und „unverwüstliche" Natur, die ihn befähigte, jeglichen sozialen Nöten die Stirn zu bieten und sie zu „überdauern", unerschütterlich glaubte. So entscheidend für das Verständnis der Poetik Elin Pelins die 149
„Lyrisierung" im erläuterten Sinn und der Humor in der Prosa auch sind, sie stellen nur einen Teil der Neuerungen dar, die die bulgarische Erzählung hier erfahren hat. Diese Neuerungen prägten die Gesamtstruktur seiner Arbeiten im Vergleich zu dem von Iwan Wasow praktizierten Kurzprosatyp (an den sich übrigens auch Wlajkow, Georgiew und Straschimirow weitgehend hielten) so gravierend um, daß Elin Pelins Werk nicht nur eine neue Etappe in der bulgarischen Prosa mit Dorfthematik einleitete, sondern auch als eine neue Entwicklungsstufe der bulgarischen Erzählung als Genre gilt. Hier vollzog sich die Herausbildung der bulgarischen „klassischen" Kurzerzählung - ein „synthetischer" 176 Typ von Kurzprosa, dessen ästhetischer Reiz u. a. darin bestand, daß hier alle „Bauelemente" der Erzählung bei einem minimalen sprachlichen Aufwand optimal aufeinander abgestimmt und zu einem harmonischen Ganzen „verschmolzen" werden konnten. Zwei wichtige Voraussetzungen für die Realisierung dieses Effektes waren Elin Pelins grundsätzlicher V e r z i c h t a u f A u t o r e n k o m m e n t a r und die starke E i n s c h r ä n k u n g d e r M i l i e u b e s c h r e i b u n g . Bildete der Autorenkommentar bei allen bulgarischen Erzählern vor Elin Pelin bis auf Petko Todorow (der ein Altersgenosse von ihm war) in mehr oder weniger ausgeprägter Weise einen obligatorischen Bestandteil ihrer Werke, mit dessen Hilfe sie den geschilderten Vorfall erläuterten und verallgemeinerten und dabei ihr Verhältnis zu den Figuren sowie ihre belehrenden bzw. anklagend-kritischen Intentionen direkt artikulierten (was diesen Werken jenen publizistischen „Beigeschmack" verlieh), so verkürzte und „verdichtete" Elin Pelin seine Erzählung wesentlich dadurch, daß er diese Doppelung vermied: Er ließ den dargestellten Vorgang für sich selbst sprechen und übertrug die Funktion der Kommentierung dem bereits erörterten Humor und der „Lyrisierung". Hatte die Milieubeschreibung bei Wasow, Georgiew und Straschimirow, besonders aber bei Wlaikow einen hohen Stellenwert und spielte sie auch bei Todorow noch eine bedeutende Rolle, da größtenteils über sie die nationale Atmosphäre eingefangen bzw. die soziale Charakteristik der Gestalten vorgenommen wurde, und beanspruchte sie deshalb in der Regel auch relativ viel Raum innerhalb der Erzählstruktur (was die Kurzprosa dieser Autoren „zähflüssig" und „deskriptiv" machte), so schränkte Elin Pelin diese Komponente auf ein Minimum ein. Die ganze Szenerie - das Milieu und die näheren Umstände des Geschehens - werden bei ihm grund150
sätzlich nur flüchtig skizziert. Lediglich kleine Details, geschickt gruppiert und verteilt, deuten die Kulisse, den Hintergrund an. Die soziale und individuelle Charakteristik seiner Figuren offenbart sich daher fast ausschließlich in der Handlung und im Dialog. An der Handlung selbst als einem tragenden Element der Erzählung Elin Pelins fällt das Fehlen der Exposition auf - das Aussparen der Vorgeschichte sowie einer Motivation der Figuren in der dargestellten Situation. O f t beginnen die Texte unvermittelt mit dem Dialog, der die Handlung schnell zur Lösung treibt oder aber die Lösung, die Veränderungen, die durch den Konflikt bedingt sind, reflektiert. So wirken die meisten Erzählungen Elin Pelins wie ein aus dem Leben herausgerissenes Drama, bei dem sich von Anfang an alles zügig und geradlinig auf einen Höhepunkt zubewegt. Baute Wasow (und in Anlehnung an ihn auch Wlaikow, Georgiew und Straschimirow) seine Erzählung aus funktional klar voneinander zu unterscheidenden Teilen - wie Erzählerbericht, Dialog, Naturbeschreibung und Kommentar - auf, die oft auch sprachlichstilistisch stark differenziert waren, wodurch diese Prosa erst recht „fragmentar" wirkte, so schuf Elin Pelin durch das Aussparen von erklärenden Bemerkungen, Kommentaren und Milieubeschreibungen einerseits und durch die maximale funktionale Auslastung der Handlung und des Dialogs andererseits (eine Leistung, die dank des Humors und der „Lyrisierung" ermöglicht wurde) erstmalig einen „schlanken", straff organisierten und in sich „einheitlichen" bzw. „synthetischen" Kurzprosatyp in der bulgarischen Literatur: die bulgarische „klassische" Kurzerzählung. Bei aller Spezifik, die vor allem in der besprochenen Verflechtung von Humor und „Lyrisierung" zu sehen wäre, zeigt Elin Pelins Kurzprosatyp deutliche Bezüge zum Werk von zwei anderen, der „Weltliteratur" schon längst zugehörigen Kurzgeschichtenschreibern: Maupassant und vor allem Tschechow. Die Konzentration auf eine gestraffte Handlung und einen oft nur knappen Dialog, die aussparende Gestaltung der Figuren bei Verzicht auf Äußerlichkeiten, die „lyrische" Weitung der inneren, „zweiten" Dimension der Begebenheit sowie der Hang, den ganzen Vorfall in eine humoristische Pointe münden zu lassen, sind Elemente, die auch für Tschechows Erzählungen charakteristisch sind. Das ist kein Zufall; Elin Pelin hatte Tschechow schon als Jugendlicher gelesen und hob ihn immer wieder als d e n Autor hervor, der für seine Entwicklung als Schriftsteller eine bedeutende Rolle gespielt hatte. 177 Zu Maupassants inten151
siver Rezeption dürfte der Studienaufenthalt Elin Pelins in Frankreich 1906/1907 beigetragen haben. Auf Maupassants Einfluß sind vor allem gelegentliche naturalistisch-biologistjsche Momente in einzelnen Werken Elin Pelins zurückzuführen 178 , des weiteren die Art, wie manche Erzählungen von ihm „eröffnet" werden - mit einem Bild bzw. einer Naturschilderung (wie in Totentag,), die den atmosphärischen Grundton der Geschichte angibt. 179 Für die ästhetische Reife, die der bulgarische kritische Realismus im Schaffen Elin Pelins errang - die Überwindung der Deskriptivität und des publizistischen Pathos, die Schaffung der unaufdringlichen und doch packenden sowie sozial engagierten Alltagsschilderung, die fast immer ihre zweite, durch die „Lyrisierung" realisierte „menschheitliche" Dimension hat und in einer in ihrer volkstümlichen Schlichtheit vollendeten Sprache verfaßt ist - , haben freilich nicht allein seine neue Sicht auf den bulgarischen Bauern oder die Beispiele Tschechows und Maupassants eine Rolle gespielt. Von Bedeutung ist auch der Umstand, daß Elin Pelin im Unterschied zu Wasow keine traditionalistisch-konservative Haltung zur individualistisch-sezessionistischen Richtung in der bulgarischen Literaturentwicklung bezog, sondern - trotz des abwertenden Verhältnisses von Krastew zu seinem Werk und bei aller inneren Distanz zu dem antidemokratisch-elitären Gebaren der „Moderne" - ihre Neuerungsbestrebungen und Leistungen unvoreingenommen begrüßte. Dieser Haltung des Autors lag die Erkenntnis zugrunde, daß der Kreis „Missal" und besonders die ihm folgenden bulgarischen Symbolisten keineswegs eine „importierte Modeerscheinung" darstellten, sondern eine Gesetzmäßigkeit innerhalb der nationalen (als Teil der europäischen) Literaturentwicklung. Hatte Wasow den Symbolismus für die bulgarische Literatur und ihre Entwicklung als „fremd" und „schädlich" eingeschätzt und bekämpft, so sah Elin Pelin, daß es sich hier um eine spezifische, zeitbedingte künstlerische Reaktion auf die historischen Veränderungen im gesellschaftlichen Leben, auf die neue existentielle Lage des „modernen" Menschen handelte. 180 1921, kurz vor Wasows Tod, wagte Elin Pelin sogar eine offene Polemik mit ihm, dem sonst sehr verehrten „Riesen" im bulgarischen Literaturleben 181 , wobei er konkret benannte, was die nationale Literatur der europäischen „Moderne" und der eigenen individualistisch-sezessionistischen Richtung zu verdanken hätte und welche Anregungen diese - indirekt - ihm selbst vermittelten. Bezeichnenderweise berührte Elin Pelin nur kurz und ganz allgemein die 152
individualistischen Positionen der Richtung (denn nicht mit ihnen wollte er sich identifizieren!) und legte den Akzent auf ihren Versuch, das Leben gründlicher, unter Einbeziehung der „menschheitlichen" Dimension auf der Suche nach dem Schönen und Edlen, zu reflektieren und dabei neue Gestaltungsmittel sowie eine „veredelte" Sprache zu erproben.182 Berücksichtigt man dies, so wird klar, daß Elin Pelins Leistung als Erzähler nicht allein darin besteht, die Erfahrungen seiner kritisch-realistischen Vorgänger aus den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts schöpferisch weitergeführt zu haben; sein Werk ist zugleich - in viel ausgeprägterer Weise als die Idyllen Petko Todorows - ein Beispiel für die produktive Wechselbeziehung der kritisch-realistischen und der individualistisch-sezessionistischen Richtung, die um die Jahrhundertwende die bulgarische Literaturentwicklung prägten.
Bulgarische Prosa 1 9 1 7 - 1 9 4 4
Allgemeine Tendenzen der Prosaentwicklung 1917-1944
in der Periode
In dieser Periode, die durch die vielfältigen Folgen der Oktoberrevolution (Umwandlung der sozialdemokratischen Partei Dimitar Blagoews in eine kommunistische Massenorganisation, Rezeption der Sowjetliteratur usw.) einerseits und den Vormarsch des Faschismus (Militärputsch vom 9. 6. 1923) andererseits geprägt war und in der der Klassenkampf zeitweilig besonders scharfe, bürgerkriegsähnliche Formen annahm (Septemberaufstand 1923, Partisanenbewegung 1941 bis 1944), machten alle drei Richtungen in der bulgarischen Prosa wichtige Entwicklungen durch. Die individualistisch-sezessionistische Richtung, repräsentiert von 1892 bis etwa 1907 durch den Kreis „Missal", trat danach bis Mitte der zwanziger Jahre in ihre zweite und letzte Phase als bulgarische „Moderne" (Symbolismus und Expressionismus) ein, deren Erfahrungen nach 1923 vor allem von der avantgardistischen „Septemberprosa" umfunktioniert genutzt wurden. Die weiterhin dominierende kritisch-realistische Richtung erfuhr zunächst durch den Einfluß der „Moderne", später zunehmend durch die Impulse der sozialistischen Literatur (vermittelt hauptsächlich durch deren Programmatik und Kritik) wesentliche Modifizierungen: Auf die Psychologisierung (im Werk Georgi Stamatows und Georgi Raitschews) und das Bekenntnis zu Konzepten, die Literatur und Kunst als „allgemeinmenschliche Repräsentanten" auffaßten und sie zum Dienst am „Menschen schlechthin" verpflichteten (im „ethischen" Realismus Jordan Jowkows und im „grotesken" Realismus Swetoslaw Minkows), folgte Anfang/Mitte der dreißiger Jahre die Rückkehr zum politischen und sozialen Engagement, zu antimilitaristischen und antifaschistischen Haltungen. Die sozialistische Prosa blieb in den zwanziger Jahren (wenn man vom Erzählwerk Angel Karalijtschews absieht) qualitativ und quantitativ hinter der bürgerlichen Prosa und der sozialistischen Lyrik 154
zurück. Erst zu Beginn der dreißiger Jahre gewann sie im nationalen Rahmen wieder an Bedeutung (vor allem durch Nutzung der Reportage) und erlangte Mitte bis Ende der deißiger Jahre in der Kurzprosa und den „Dorf-Romanen Georgi Karaslawows auch nationale Repräsentanz. Genremäßig bestimmend war in dieser Periode eindeutig die Erzählung, die bei den Vertretern der „Moderne" und der „Septemberprosa" in lyrisierten Formen auftrat. Von dieser Lyrisierung blieb auch der Roman in den zwanziger Jahren nicht unberührt (z. B. Reigen von Anton Straschimirow oder Bjalata päteka von Orlin Wassilew); er entfaltete sich in den dreißiger Jahren auffallend im Vergleich zu den vorausgegangenen zwei, drei Jahrzehnten und fand zu epischen Strukturen zurück. Wesentliches Merkmal dieser Entwicklung war, daß sie sich unter dem Zeichen der antifaschistischen Bündnispolitik als neue Funktionsdominante der Literatur vollzog. Die neuen antimilitaristischen und antifaschistischen Positionen bei den bürgerlich-demokratischen Autoren kristallisierten sich besonders in der Auseinandersetzung mit dem nationalgeschichtlichen Erbe heraus, das der bulgarische Faschismus für sich beanspruchen wollte (z. B. Der jüngste Tag, 1931-1934, von Stojan Sagortschinow). Sie festigten sich überdies bei der Gestaltung der jüngsten Vergangenheit, vor allem des ersten Weltkrieges und des Septemberaufstandes von 1923: Morava zvezda kärvava (Ein purpurroter Stern; 1935) von Konstantin Petkanow, Cholera (Cholera; 1935) von Ljudmil Stojanow, u. a.
Zum Traditionsbruch
der 33Moderne" und ryir der Prosa bis 1923
„Lyrisierung'
Die Oktoberrevolution und der revolutionäre Aufschwung in Bulgarien nach dem ersten Weltkrieg wirkten sich zunächst und vor allem auf die Entwicklung der bulgarischen sozialistischen Lyrik aus, die mit dem Werk Christo Smirnenskis erstmals nationalrepräsentativ wurde. Spezifisch scheint der Umstand zu sein, daß zur gleichen Zeit, d. h. zwischen 1917 und 1923, sich das Krisenbewußtsein einer beachtlichen Zahl bulgarischer Autoren vertiefte und der Einfluß der europäischen spätbürgerlichen Literatur gleichzeitig wuchs. Präsentierte sich die bulgarische „Moderne" bis 1917 155
zurück. Erst zu Beginn der dreißiger Jahre gewann sie im nationalen Rahmen wieder an Bedeutung (vor allem durch Nutzung der Reportage) und erlangte Mitte bis Ende der deißiger Jahre in der Kurzprosa und den „Dorf-Romanen Georgi Karaslawows auch nationale Repräsentanz. Genremäßig bestimmend war in dieser Periode eindeutig die Erzählung, die bei den Vertretern der „Moderne" und der „Septemberprosa" in lyrisierten Formen auftrat. Von dieser Lyrisierung blieb auch der Roman in den zwanziger Jahren nicht unberührt (z. B. Reigen von Anton Straschimirow oder Bjalata päteka von Orlin Wassilew); er entfaltete sich in den dreißiger Jahren auffallend im Vergleich zu den vorausgegangenen zwei, drei Jahrzehnten und fand zu epischen Strukturen zurück. Wesentliches Merkmal dieser Entwicklung war, daß sie sich unter dem Zeichen der antifaschistischen Bündnispolitik als neue Funktionsdominante der Literatur vollzog. Die neuen antimilitaristischen und antifaschistischen Positionen bei den bürgerlich-demokratischen Autoren kristallisierten sich besonders in der Auseinandersetzung mit dem nationalgeschichtlichen Erbe heraus, das der bulgarische Faschismus für sich beanspruchen wollte (z. B. Der jüngste Tag, 1931-1934, von Stojan Sagortschinow). Sie festigten sich überdies bei der Gestaltung der jüngsten Vergangenheit, vor allem des ersten Weltkrieges und des Septemberaufstandes von 1923: Morava zvezda kärvava (Ein purpurroter Stern; 1935) von Konstantin Petkanow, Cholera (Cholera; 1935) von Ljudmil Stojanow, u. a.
Zum Traditionsbruch
der 33Moderne" und ryir der Prosa bis 1923
„Lyrisierung'
Die Oktoberrevolution und der revolutionäre Aufschwung in Bulgarien nach dem ersten Weltkrieg wirkten sich zunächst und vor allem auf die Entwicklung der bulgarischen sozialistischen Lyrik aus, die mit dem Werk Christo Smirnenskis erstmals nationalrepräsentativ wurde. Spezifisch scheint der Umstand zu sein, daß zur gleichen Zeit, d. h. zwischen 1917 und 1923, sich das Krisenbewußtsein einer beachtlichen Zahl bulgarischer Autoren vertiefte und der Einfluß der europäischen spätbürgerlichen Literatur gleichzeitig wuchs. Präsentierte sich die bulgarische „Moderne" bis 1917 155
lediglich als Symbolismus und zudem fast ausschließlich auf dem Gebiet der Lyrik (das Schaffen Pejo Jaworows nach 1907, die Gedichte der jüngsten Lyrikergeneration: Teodor Trajanow, Nikolai Liliew, Dimtscho Debeljanow, Ljudmil Stojanow u. a.), bildeten folglich die Bogomilski legendi (ßogomilenlegenden; 1912) von Nikolai Rainow als symbolistische Prosa eine Ausnahme, so trat diese nun auch in ihrer Spielart als Expressionismus auf, und zwar sowohl in der Lyrik als auch in der Prosa (Geo Milew, Tschawdar Mutafow). In den Werken der bulgarischen „Moderne" vollzog sich das, was der Kreis „Missal" zwar programmatisch längst verkündet, in der Praxis aber nur teilweise realisiert hatte: die Durchsetzung der Autonomie der Kunst und der Bruch mit der Tradition. Der von Pentscho Slawejkow so sehr herbeigewünschte Aufbruch Bulgariens in das „moderne Zeitalter der Literatur" nahm immer deutlicher den Charakter einer tiefen Funktionskrise der bürgerlichen Literatur an. Gleichzeitig erreichte der Prozeß der „Lyrisierung" der bulgarischen Prosa, der mit den Idyllen Petko Todorows begonnen hatte, seinen Kulminationspunkt. Erinnert sei daran, daß der Kreis „Missal", so stark sein Bestreben war, das Niveau der bulgarischen Literatur nach dem Vorbild der europäischen „Moderne" um die Jahrhundertwende durch neue Gegenstände und neue künstlerische Verfahren zu heben, und sosehr er sich dabei von den überkommenen tagespolitischen und utilitaristischen Zielsetzungen, einschließlich des sozialen Engagements, distanzierte, letztendlich nicht wagte, der Literatur jede sinnvolle Funktion innerhalb der Gesellschaft abzusprechen und die Devise ,,1'art pour l'art" konsequent zu verfechten. So scharf auch Pentscho Slawejkow Wasow als „Traditionalisten" attackierte die Kritik zielte noch lange nicht auf eine Negierung der ganzen Tradition. Der Angriff galt vor allem den publizistisch-didaktischen Elementen in Wasows Werk sowie der bevorzugten Behandlung zeitgenössischer politischer und sozialer Fragen, nicht aber dem bloßen Umstand, daß der Schriftsteller seine Stoffe in der bulgarischen Wirklichkeit, im nationalen Sein suchte oder daß er gern Motive und' Gestaltungsmittel aus der Folklore bezog. Ganz im Gegenteil. Genauso wie bei Wasow spielte gerade das n a t i o n a l e Moment für die Vertreter des Kreises „Missal" - wie dies an den Idyllen Petko Todorows gezeigt wurde - eine große Rolle, waren sie doch alle davon überzeugt, daß nur über die Verbindung der allgemeinmenschlichen Problematik mit dem spezifisch Nationalen 156
der ersehnte Anschluß an die fortgeschrittenen europäischen Literaturen und damit auch an die Weltliteratur zu erreichen sei. Die Bedeutung, die der Kreis „Missal" dem nationalen Moment im künstlerischen Schaffen beimaß, verhinderte es, daß diese Autoren ihre programmatische Orientierung auf die innere Welt der Figuren verabsolutierten und den Bezug zur Wirklichkeit aufgaben. Da sie diesen Bezug nicht selten über die Milieubeschreibung realisierten, ließ sich - wenngleich auch in sehr reduzierter und modifizierter Form - die „traditionelle" Deskriptivität in ihrem Schaffen nicht vermeiden. Sosehr sie sich überdies als Individualisten und geistige Aristokraten gebärdeten, Literatur wurde von ihnen in praxi nie als eine esoterische Angelegenheit gehandhabt, sondern stets mit bestimmten Wirkungsabsichten verbunden, die insofern dem Leser galten, als er sie ohne große Mühe vom Text ablesen konnte (Zugänglichkeit des Textes, unverschlüsselte Aussage). Allein, es ging der Gruppe nicht mehr wie Wasow darum, den Leser zur vielseitigen gesellschaftlichen Aktivität zu mobilisieren, sondern sie beschränkte sich darauf, sein ethisches Empfinden anzusprechen, seinen Sinn für gedanklich und ästhetisch niveauvolle Lektüre zu fördern und Interesse für die ewigen Fragen des Seins sowie für die Probleme der Kunst zu wecken. Mag diese Verlagerung bzw. Einengung der Wirkungsabsichten des Kreises „Missal" im Vergleich zu Wasow aus heutiger Sicht gravierend erscheinen, den Vertretern der bulgarischen „Moderne" genügte sie nicht, beruhte sie doch in ihren Augen nach wie vor auf dem Prinzip der „anekdotischen", d. h. die Wirklichkeit beschreibenden, „rhetorischen" und moralisierenden Kunst. 183 Sich von dieser Art Kunst konsequent zu distanzieren und der Wirklichkeit eine aus dem Individuum heraus erschaffene „wahre" Realität entgegenzusetzen war ein Hauptanliegen der bulgarischen Symbolisten. Von daher zählten sie Slawejkow genau wie Wasow zu den „Alten" und faßten das Bestreben des Kreises „Missal", die Literatur zu erneuern, als etwas Gewolltes, jedoch nicht Vollbrachtes auf. Zur „echten" Erneuerung konnte die bulgarische Literatur - so die Theoretiker der „Moderne", Geo Milev und Iwan Radoslawow erst dann gelangen, wenn sie „unifiziert" würde (d. h., wenn sie die nationalen Elemente abbaue), das Nachahmungsprinzip in der Gestaltung ablehne, „Lebenssynthesen" mittels des Symbols als Kernstück der neuen Methode zu erreichen suche und sich strikt nach 157
der Regel richte, die „reiche, uferlose und unerschöpfliche individuelle Welt" als „Urquell" und alleinigen Gegenstand der Kunst zu betrachten. 184 Es liegt auf der Hand, daß ein solches Konzept, das die innere Welt dermaßen verabsolutierte und zugleich das nationale Moment aus dem Blickfeld verlor, zur Entstehung von Werken führen mußte, die sich vom Kreis „Missal" deutlich unterschieden, obwohl beiden Gruppierungen die gleiche Grundtendenz zur Verinnerlichung und zur Sezession als Alternative zur Abbildung der gesellschaftlichen Wirklichkeit eigen war. Dieser Unterschied ließe sich fassen als gewachsene „Subjektivierung" der Prosa der „Moderne" im Vergleich zu den Idyllen Petko Todorows, eine Subjektivierung, die sich bei den Expressionisten Geo Milew und Tschawdar Mutafow in der weitgehenden Annäherung der Prosa an die Strukturierungsmechanismen der Erlebnis- und Empfindungslyrik äußerte. Der Weg für diese Entwicklung wurde von Nikolai Rainows Bogomilski legendi gebahnt, dem ersten bulgarischen Prosawerk, dem nicht nur jegliche „Deskriptivität", sondern auch fast jeder Wirklichkeitsbezug fehlte. Bezeichnend für das Bestreben des Autors, der Realität so weit wie möglich zu entfliehen und in einen anderen, mythischen Raum auszubrechen, ist schon die Stoffwahl: die Orientierung auf althebräische und frühchristliche Legenden, die in engster Beziehung zum Alten und Neuen Testament stehen. Die Bezeichnung Bogomilski legendi weist dabei auf die Art hin, wie der Autor an das biblische Material heranging: nicht von der Warte des orthodoxen Glaubens, sondern von den Positionen häretischer Religionslehren (vor allem aber orientalischer Geheimlehren wie Kabbala und Okkultismus), die ihm einen freien Umgang mit der Heiligen Schrift ermöglichten. Mit den Legenden ging es Rainow nicht um die religiöse Erbauung des Lesers, sondern er wollte anhand dieses exotischen Materials bisher ungenutzte geistige Bereiche für die Literatur erschließen, Bereiche, die sich zugleich eigneten, das literarische Werk als ein Mittel gegen die Trivialisierung und die Banalität des Lebens einzusetzen. Somit gesellte sich Rainow zu jenen Vertretern des Symbolismus im weltliterarischen Maßstab, für die die Mystik ein wesentliches Element ihrer Poetik war und die sich gern einer mystischen Weltbetrachtung bedienten. Wie das im einzelnen vor sich ging, wie das biblische Material 158
umfunktioniert wurde, welche Ideen und Figuren Rainow dabei einsetzte, welche Erzählweise er anwandte und worin konkret der fortschreitende Prozeß der „Lyrisierung" der Prosa bestand, das soll an der Legende Daniii (Daniel) kurz umrissen werden. Daniel gehört zu den Autoren der „Prophetischen Bücher" im Alten Testament. E r war nach dem ihm zugeschriebenen Text ein Israelit, der als Gefangener am Hof des Königs Nebukadnezar von Babel lebte und die Gabe besaß, Träume zu deuten. Bezugsfeld für Rainows Legende bilden die ersten sechs Kapitel des prophetischen Buches (der Teil „Erzählungen Daniels"), in denen der erkenntnisvermittelnde und belehrende Akzent vor allem auf zwei Dinge gelegt ist: Die Gabe, Träume zu deuten und so in die Zukunft zu schauen, ist von Gott. Gott wählt die Menschen aus (ohne ihr Dazutun), die seinen in Traumbildern und sonstigen Zeichen manifestierten Willen enthüllen; Gott straft diejenigen, die überheblich sind und vergessen haben, was Demut heißt. Rainow verlagert in seiner Legende die Akzente. Zwar erscheint auch hier Daniel als ein Auserwählter Gottes, doch interessiert er ihn nicht in dieser Eigenschaft, sondern als Verkörperung des starken Individuums, das hart an sich gearbeitet hat, um jene innere Läuterung zu erwerben, ohne die es ihm nicht möglich ist, seine Seele mit den „kosmischen Kräften" zu vereinigen und so - praktisch als Magier - die Zeichen Gottes zu deuten und die Geheimnisse der Zukunft zu entschleiern. Während der biblische Daniel also lediglich ein williges Instrument Gottes ist, huldigt Rainow in seinem Daniel der ungewöhnlichen Persönlichkeit, die sich zu atemberaubenden geistigen Höhen emporzuarbeiten vermag. Doch alles hat seinen Preis. Für Rainows Daniel heißt er Askese. Auch hier gerät der Autor keineswegs in Widerspruch zu dem biblischen Material. Handelt es sich aber bei der Askese des alttestamentarischen Daniel lediglich um eine untergeordnete, ja selbstverständliche Angelegenheit, so erhält sie bei Rainows Figur einen ganz anderen Stellenwert. Sie wird zum Ansatzpunkt eines Konflikts, von dem die ganze Legende lebt und auf dem sich ihre ideelle Aussage gründet. Es ist der Konflikt zwischen dem keuschen Daniel und der ihn leidenschaftlich begehrenden Königin von Babel, aufgefaßt und realisiert als Zusammenstoß der zwei sich immer wieder bekämpfenden gegensätzlichen Lebensauffassungen in der Geschichte der Menschheit: des Strebens nach dem Vergeistigten, Höheren, Überweltlichen und Übersinnlichen bei Verzicht auf körper159
liehe Genüsse und des Bekenntnisses zur Lebensfreude und zur irdischen Sinnlichkeit. Rainow versuchte in seiner Legende, durch eine romantische Lösung beide Grundhaltungen zu versöhnen. Daniel bleibt seiner Askese treu, solange er als Gefangener am Hofe den Launen der Königin ausgeliefert, solange sie ihm durch ihre Machtposition überlegen ist. Als sie aber, nachdem Babel - so wie es Daniel vorausgesagt hatte - zerstört und der König ermordet ist, Schutz bei ihm sucht, läßt der Autor Daniels Herz erweichen und ihn seine letzte legendäre Tat am Ende des Lebens vollbringen: wieder zu einem M e n s c h e n zu werden. Denn kurz darauf sterben beide auf der Flucht in der Wüste. Die Erzählweise, der sich Nikolai Rainow in Daniii bedient, weist auf den ersten Blick viel Gemeinsames mit der mündlichen Redeweise, mit dem „Skas" der Folklore auf, der gewöhnlich bei Märchen und Sagen zu beobachten ist. Doch der „Skas" ist nur der Ausgangspunkt für eine im Vergleich zum Volksschaffen viel stärker „stilisierte" Prosa, die in gleichem Maße sowohl auf ein breites, episch angelegtes Erzählen und auf Milieubeschreibungen als auch auf psychologische Individualisierung der Gestalten sowie auf die soziale Motivation von Handlungen grundsätzlich verzichtet. Worauf sie baut, ist die Konzentration auf die philosophischen bzw. ethischen Fragestellungen und die seelischen Erlebnisse der tragenden Figuren unter Anwendung einer rhythmisch und klanglich sorgsam durchgeformten Sprache, die die Gedanken bald metaphorisch verschlüsselt, bald aphoristisch oder in antithetischer Anordnung darbietet. Die märchenhaft stilisierten Figuren, die stark lyrisierte Sprache und die mystischen Elemente in der (nur auf wenige handlungsarme Episoden reduzierten) Fabel der Legende lassen eine eigenwillige, vergeistigte, geheimnisumwobene und exotische Welt entstehen, die kaum noch einen Realitätsbezug aufweist und in der für das nationale Moment kein Platz mehr ist. Damit sind die wichtigsten Punkte fixiert, die eine Vorstellung von dem betont diskontinuitiven Verhältnis der Legenden Rainows zur ganzen vorausgegangenen bulgarischen Prosa und somit von dem „Traditionsbruch" geben, der sich hier manifestiert. Zu einer extremen Lyrisierung der Prosa gelangt Rainow dabei nicht (denn bei aller „Stilisierung" geht dem Text die „Skas"-Erzählhaltung nicht gänzlich verloren). Dies blieb den Expressionisten Geo Milew und Tschawdar Mutafow vorbehalten, in deren Werk die bulgarische 160
„Moderne" in formeller Hinsicht zwar ihren „Höhepunkt" erreichte, zugleich aber - wie sich dies vor allem an Milews Prosa belegen läßt - eine ihrer wichtigsten Positionen, die Flucht aus der W i r k lichkeit, nach und nach aufgab und durch Öffnung für Politik und soziale Widersprüche das Kommen der sie ablösenden Avantgarde vorbereitete. Für das Funktionsverständnis der Literatur des bulgarischen Expressionismus im Rahmen der Moderne sind die theoretischen Selbstverständigungen Geo Milews aufschlußreich. Sie zeugen davon, daß der Expressionismus als eine neue „moderne" Kunstrichtung nach dem Symbolismus auf Milew zunächst und in erster Linie auf Grund der zum Extrem geführten Gegenüberstellung von Ich und Welt, von Individuum und Gesellschaft wirkte, die die Erschaffung einer „neuen" und „wahren" Realität aus dem Individuum heraus als Alternative geradezu provozierte. Milew formulierte das, auf die künstlerische Schaffensmethode bezogen, folgendermaßen: „Nicht Widerspiegelung der Welt durch das Ich, sondern Widerspiegelung des Ichs durch die Welt. Das Ich wird Kosmos. Das Ich wird Ewigkeit. Das Ich wird Gottheit - das Alpha." 1 8 5 Der Individualismus und der subjektive Idealismus, wie sie sich hier konzentriert offenbaren, lassen verständlich werden, warum Milew den Expressionismus (bei allem Innovationswert, den er ihm einräumte) dem Symbolismus zunächst nicht entgegenstellte, sondern ihn lediglich als dessen neue Etappe begriff. Den Unterschied suchte er anfangs rein ästhetisch zu fassen: Der Expressionismus sei die Vervollkommnung des Symbolismus, indem er die Gesetze einer neuen Schönheit erschließe, der Schönheit der Dissonanzen. 186 Das obige Zitat ist noch in einer anderen Hinsicht wichtig. Es erhellt, warum Subjektivität und somit Lyrik bei den Expressionisten eine so große Rolle spielten, warum sie in noch stärkerem M a ß e als bei den Symbolisten verabsolutiert wurden. Nach Geo Milew ist die Lyrik nicht zufällig „die Kunst der neuen Zeit", war doch nur über die „emotionale Erkenntnis" der Welt deren „Neuerschaffung", auf die es ankam, überhaupt möglich. Auch von der Form dieser „Neuerschaffung" hatte Milew genaue Vorstellungen. Diese sollte über einen „fragmentarischen" Stil erfolgen, einen auf den Leser suggestiv einwirkenden Stil, der das Erzählen und die Deskriptivität nicht kennen und eine „Synthese" auf der Basis einzelner Bilder und Assoziationen herstellen sollte. W i e Milew das realisierte, zeigen seine Kurzprosaarbeiten. Das 11
Witsche,v, B u l g . Prosa
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Gemeinsame der Miniaturen in Grozni prozi (Unrosa Prosa) und Ekspresionisticno kalendarce (Kleiner expressionistischer Kalender für 1921) ist, daß hier an Stelle einer objektiv in sich abgeschlossenen Totalität, die sich dem Subjekt gegenüber entfaltet 187 , in Prosa gefaßte lyrische Abbilder individueller Gefühle, der Gefühle des Autors, geboten werden. Auf ihrer Entäußerung, auf ihrer Vermittlung an den Leser, liegt der Ak2ent, während die Realität nur insofern reflektiert wird, als Emotionen nicht losgelöst von ihren Ursachen zum Ausdruck gebracht werden können. Entscheidend und strukturbestimmend für diese Werke ist also nicht das Abbild der Realität, sondern das persönliche, gefühlsbetonte Verhältnis des Autors zu ihr. Anlaß (denn vom „Gegenstand" kann man hier nur bedingt reden) für die lyrische Prosa Milews in den erwähnten Sammlungen ist Europa in der Zeit unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg, vor allem die Novemberrevolution 1918 in Deutschland, die der Autor, der sich zu dieser Zeit in Berlin aufhielt, selbst miterlebte. So stellen fast alle Miniaturen in Unrosa Prosa emotionelle Reaktionen auf die Niederschlagung der Revolution dar, und zwar in Form von satirisch-zornigen Bildern, die die Wirklichkeit nur indirekt in Erscheinung treten lassen und sie grotesk verzerren. In Savanarola (Savonarola) z. B. wird überhaupt kein konkretes Ereignis reflektiert und auch kein direkter Bezug zur Realität hergestellt, sondern lediglich das Verhältnis des Autors zu den Feinden der Revolution artikuliert. Dies geschieht durch eine Aufzählung von Bildern und Begriffen, die als eine Art von Äquivalenten für die vielseitige und mosaikartige Enthüllung des Wesens der reaktionären Kräfte dienen. Dabei wird durch die Vermischung der Stilebenen innerhalb der Aufzählung ein ironischer Effekt erzielt, der die emotionale Wirkung zusätzlich erhöht: „Garde des gesetzlichen Diebstahls", „Helden der käuflichen Umarmungen", „Recken der Spekulation", „Prätorianer der Schande". 188 Auch für die Arbeiten Milews in Kleiner expressionistischer Kalender für 1921, die er als „soziale Poeme in Prosa" definierte, ist die theoretisch verfochtene „fragmentare" Charakteristik der Realität, die „Synthese" mittels Bildern und Assoziationen, nicht aber auf dem Wege der „Logik" und der Beschreibung, strukturprägend. Auch hier gibt es keine konkreten Vorfälle oder Ereignisse, kein „Erzählen" im üblichen Sinne des Wortes. In Septemvri (September) z. B. nimmt Milew die kapitalistische Großstadt zum Anlaß, um 162
einen Weltzustand, der dem Menschen nicht mehr gemäß ist und auf Änderung drängt, d. h. eine historische Zeitenwende, zu signalisieren. Dabei steht nicht der Zustand selbst, sondern Milews Betroffenheit im Vordergrund. Alles ist durch das Empfinden des Autors gebrochen und nimmt groteske Züge an, wobei Überdruß und Ekel die dominierenden Gefühle sind. In dieses Pathos der Ablehnung mischt sich am Ende der Arbeit eine Aufbruchstimmung, die Erwartung einer Veränderung: die Stadt liegt wie eine riesige tausendköpfige, tausendäugige Hydra, die eines Tages unversehens sich erheben wird, grausam und wild: vor den hellerleuchteten Fenstern mit Seidenvorhängen, über den sorglosen Dächern, unter denen Akkorde von Klavieren, Orchestern, Grammophonen tönen - feiste Schenkel, umspannt von glattgebügelten Hosen, sich auf weichen Sesseln und Ottomanen aus Plüsch räkeln - Frauenbeine, halbverhüllt von durchsichtigen Tüllkleidchen, sich auf papierblumengeschmückten Kleinbühnen verrenken - entblößte Brüste champagnerentfesselt vor groben, lüstern aufgeheizten Blicken wogen. O grausame Hydra der Vergeltung, tausendäugig, mit den zahllosen Lichtern der nächtlichen Stadt, welche die zwölfte Stunde erwartet. In der Ferne wird aus schwarzer Wolken Schoß ein blutiger Mond geboren."189 Innerhalb der ideell-ästhetischen Entwicklung Milews nimmt Kleiner expressionistischer Kalender für 1921 insofern einen besonderen Platz ein, als hier zum ersten Mal klar der Übergang des Verfassers, der bis dahin auf extreme Weise das Prinzip „l'art pour l'art" vertrat, auf die Positionen einer sozial engagierten Kunst signalisiert wurde. Für die bulgarische „Moderne" bedeutete das einen schweren Schlag, gehörte doch Milew zu ihren profiliertesten Autoren und Theoretikern. Freilich begriff Milew 1920/1921 noch nicht die Rolle des Spartakusbundes, auf den er in Noemvri (November) seines Kalenders anspielte, und die Revolution in Deutschland faßte er als eine spontane Revolte auf. Wesentlich ist aber, daß er das Thema der Revolution überhaupt berührte und so zu einer Stellungnahme gezwungen wurde, die die Prinzipien der absoluten Ethik (den Verzicht auf Gewaltanwendung), zu der sich der Autor früher bekannte, außer acht ließ. Milew bejahte nun die Revolution insofern, als er sie als ein praktikables Mittel für die Durchsetzung fortschrittlicher Ideen in der Menschheitsentwicklung reflektierte. Einen klaren revolutionären Standpunkt nahm Milew erst nach 11*
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dem antifaschistischen Septemberaufstand von 1923 in Bulgarien ein. E r erkannte jetzt, daß zwischen der Oktoberrevolution, der Novemberrevolution in Deutschland und dem Septemberaufstand ein tiefer Zusammenhang bestand, daß die Epoche der großen sozialen Umwälzungen, des „Mündigwerdens der Völker", angebrochen war und daß „der kolossalen Krise der heutigen Welt" der Klassenkampf zugrunde lag. Und das Wichtigste für ihn als Künstler: die Erkenntnis, daß es kein formales Neuerertum an sich mehr geben konnte, daß K u n s t - u n d L e b e n s e r n e u e r u n g H a n d i n H a n d g e h e n m u ß t e n . So wurde aus dem „Modernisten" Milew der bedeutendste Vertreter der bulgarischen „Avantgarde", der mit seinem Poem Septemvri (September) ein nationalrepräsentatives Werk von weltliterarischer Relevanz schuf. 190 Was die „Lyrisierung" der Prosa in der bulgarischen „Moderne" anbelangt, läßt sich zusammenfassend sagen, daß sie keineswegs nur auf innerliterarische Faktoren zurückzuführen ist. Das Phänomen hat einen starken Bezug zur existenziellen Situation der Autoren, und es darf schon deshalb nicht - wie dies bis unlängst immer wieder geschah - als bloßer „Manierismus", als ein „Spiel mit der Form" abgetan werden. Die gesteigerte Subjektivität, die sich in diesen Arbeiten manifestierte, war für die Verfasser ein Mittel, sich gegen die verabscheute Wirklichkeit zur Wehr zu setzen, den Protest gegen sie zu artikulieren. Sie war der gattungsspezifische Ausdruck des Krisenbewußtseins der bulgarischen bürgerlichen Dichter zwischen dem Beginn des 20. Jahrhunderts und 1923. Auch wenn diese lyrisierte Prosa heute nicht gerade zum „lebendigen Erbe" gehört, bedeutungslos für die Entwicklung der bulgarischen Prosa nach dem Septemberaufstand war sie keineswegs. Ihr literaturhistorischer Wert ist unumstritten. In Abwandlung halfen die Prosaerfahrungen der „Moderne" den Vertretern der bulgarischen Avantgarde, Werke mit großer künstlerischer Ausstrahlungskraft zu schaffen, was der Roman Reigen von Anton Straschimirow ebenso bezeugt wie der Erzählband Räz (Roggen) von Angel Karalijtschew.
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D er nexpressive" Romantyp der Avantgarde. n Reigen" von Anton Strascbimirorv Notwendig erscheinen einige Erläuterungen zum Begriff „bulgarische literarische Avantgarde", zumal dieser sich noch nicht allgemein durchgesetzt hat. Die mit dem Begriff hier anvisierten Werke werden in der bulgarischen Literaturgeschichtsschreibung gewöhnlich als „Septemberliteratur" gefaßt, als „Literatur, geschaffen nach dem Septemberaufstand 1923, die sein Pathos und die Stimmungen nach seiner Niederwerfung widerspiegelt"191. Das ist ein betont thematisches Herangehen an den Gegenstand, wie es für unsere Betrachtungen nicht ausreicht. Der Vorschlag, „Septemberliteratur" durch „bulgarische literarische Avantgarde" zu ersetzen, ergibt sich aus dem Grundanliegen dieses Bandes, literarische Phänomene und speziell Prosawerke unter gattungsgeschichtlichem und zugleich funktionalem Aspekt zu behandeln und sie vor allem auf diesem Wege mit Erscheinungen in den anderen europäischen Literaturen vergleichbar zu machen. Was berechtigt die Einordnung der bulgarischen „Septemberliteratur" in die europäische literarische Avantgardebewegung, und worin wäre in diesem Kontext ihre Spezifik zu sehen? Die Beantwortung dieser Frage, die den Rahmen für die Herausarbeitung des Stellenwertes des Romans Reigen innerhalb der bulgarischen Prosaentwicklung bilden soll, setzt eine Erklärung voraus, was unter „europäischer literarischer Avantgarde" zu verstehen ist. Dies zumal, als es sich um einen Gegenstand handelt, über den sowohl in sozialistischen als auch in kapitalistischen Ländern die Diskussionen noch nicht aufgehört haben und für dessen Bestimmung immer noch recht kontroverse Begriffe ins Spiel gebracht werden. In Anlehnung an die neuesten Forschungsergebnisse marxistischer Literaturwissenschaftler aus der DDR, der UdSSR und aus Ungarn192 wird hier „Avantgarde" nicht „als jeweils fortgeschrittenstes, auf Innovation drängendes künstlerisches Bewußtsein und Verhalten" 193 , sondern lediglich als die in dieser Beziehung radikalste europäische Literaturbewegung aufgefaßt, die „im Umfeld der revolutionären Zäsur des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus"194 entstand und „in der bürgerlichen wie in der entstehenden sozialistischen Gesellschaft (gemeint ist die UdSSR - D. W.) erste, unmittelbare Reaktion auf die Widersprüche und Konflikte der neuen Weltsituation"195 war. Andererseits wird die „Avantgarde" - und 165
das ist besonders wichtig - von der „Moderne" abgegrenzt. Diese Abgrenzung wird keineswegs primär über die formästhetische Seite der Phänomene vorgenommen, da gerade hier zwischen „Moderne" und „Avantgarde" viel Gemeinsames und Fließendes vorliegt, sondern über den funktionalen Aspekt. Unter diesem Aspekt stellt sich die „Moderne" als Funktionskrise traditioneller bürgerlicher Literatur dar, die zur Etablierung neuer Kunstfunktionen und einer neuen Kunst schlechthin führt. Insofern ist die „literarische Avantgarde" auch eine „Moderne". D e r Unterschied zu dieser ist darin zu sehen, daß die „Avantgarde" die neue Kunst mit dem Bestreben nach einer gesellschaftlichen Umwälzung verbindet, daß bei ihr „die Idee der Zusammenführung von Kunst- und Lebenserneuerung eine e n t s c h e i d e n d e B e d e u t u n g (Hervorhebung D . W . ) " 1 9 6 erlangt. E s ist naheliegend, daß es bei dem übergeordneten Charakter dieser Idee in der Avantgarde erst in zweiter Linie auf die konkrete Form künstlerischer Innovation ankam. Bedenkt man außerdem, daß die Vorstellungen von der angestrebten gesellschaftlichen Erneuerung oft recht unterschiedlich ausfielen, so wird verständlich, warum die Avantgardebewegungen in der Regel sowohl in bezug auf ihr künstlerisches Neuerertum als auch auf die ideell-politischen Intentionen ihrer Vertreter recht breit und diffus erscheinen, warum sie ein Phänomen darstellen, das sich literaturhistorisch nicht ohne weiteres dieser oder jener Richtung in der jeweiligen Nationalliteratur zuordnen läßt. D a s trifft z. B . in gravierender Weise für die bulgarische „Septemberliteratur" zu, die heute zwar „im großen und ganzen als eine Weiterführung der revolutionären Linie Christo Smirnenskis" 1 9 7 angesehen wird, bislang aber fast immer als eine Erscheinung für sich innerhalb der bulgarischen Literaturentwicklung behandelt wurde. Ihre Beziehung zur sozialistischen Literatur geriet nach dem jeweiligen Stand der Realismusauffassungen immer wieder neu in die Debatte. D e r Grund: Zu den Autoren der „Septemberliteratur" gehörten nicht nur junge proletarisch-revolutionäre Schriftsteller wie Assen Raszwetnikow, Nikola Furnadshiew und Angel Karalijtschew, sondern auch Vertreter der „Moderne" wie Geo Milew und Anton Straschimirow. Außerdem waren die Werke Raszwetnikows, Furnadshiews und Karalijtschews durch eine „suspekte" Öffnung für die formästhetischen Erfahrungen der „Moderne" gekennzeichnet. Was diese heterogene Gruppe von Autoren aus heutiger Sicht als Vertreter der bulgarischen literarischen Avantgarde erscheinen läßt,
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ist das sie alle auszeichnende Bewußtsein, Zeugen einer gesellschaftlichen Umbruchsituation im Weltmaßstab zu sein, das Verständnis des Septemberaufstandes als der lokale Ausdruck dieser weltweiten Krise (der die soziale und ideologische Spaltung der Nation so drastisch wie nie zuvor offenbarte) sowie das für sie alle charakteristische aktive Verhalten zu dieser Situation, die Parteinahme für das aufständische Volk und die Entlarvung des Faschismus. Dazu kam das von allen Autoren der „Septemberliteratur" geteilte Bestreben, ideelle Intentionen künstlerisch neu und „modern" umzusetzen. Diesen Gemeinsamkeiten der Vertreter der bulgarischen Avantgarde war ein intensives Umdenken vorausgegangen, das je nach dem ursprünglichen Standort des Künstlers in zwei Richtungen verlief: Die mit der Arbeiterbewegung verbundenen Raszwetnikow, Furnadshiew und Karalijtschew sahen die Revolutionierung der Ausdrucksmittel nun als Teil der gesellschaftlichen Umwälzungen, ja als die einzige Möglichkeit, auf die blutigen Klassenzusammenstöße künstlerisch adäquat zu reagieren. Dem Beispiel von Christo Smirnenski folgend, der bereits zu Beginn der zwanziger Jahre Elemente der symbolistischen Poetik für die Aufgaben der revolutionären Lyrik zu nutzen wußte, erweiterten sie die produktive Beziehung der proletarischen Literatur zum „Modernismus", indem sie dieser jetzt auch die formästhetischen Erfahrungen der zweiten, expressionistischen Phase der bulgarischen „Moderne" erschlossen. Zur gleichen Zeit gelangten Geo Milew und Anton Straschimirow zu einem neuen Funktionsverständnis der Literatur. (Dies gilt vor allem für Geo Milew; Straschimirow gehörte mit seinem Frühwerk zu den kritischen Realisten, als späterer Anhänger der europäischen „Moderne" war er widersprüchlich und inkonsequent.) Sie distanzierten sich nun entschieden von der Devise „l'art pour l'art" und traten - angesichts des damals wütenden weißen Terrors - mit einem beispielhaften Mut für eine politisch engagierte und anklagende Kunst ein. 1924 schrieb Geo Milew: „Über unsere Heimat ging ein Sturm, wie ihn weder wir noch unsere Väter bisher je erlebt haben. Davon erzitterten auch die fernsten Waldesstreifen des Balkans, die unzugänglichsten Schluchten unserer Gebirge. Bruderblut benetzte Gras und Gebüsch, Hirn von zerschmetterten Schädeln bespritzte die Mauern der Häuser. Männerschreie und Schluchzen der Mütter schlugen zum Himmelsgewölbe empor . . . Aus dem Staub der Illusionen, aus den Trümmern der Phantasiebilder tritt der Dichter hervor - geweckt 167
aus seinen rosa Träumen und blauen Sehnsüchten, bestürzt, entsetzt, geheilt von seiner Blindheit - und sieht vor sich das blutige Antlitz des Volkes, seines Volkes . . . Wir bleiben dort, wo das Volk ist, bei dem Volk, vor dem Volk." 198 Die Spezifik der bulgarischen Avantgarde wäre vor allem in drei Merkmalen zu sehen: erstens in dem gemeinsamen Gegenstand der Gestaltung - Septemberaufstand 1923 - und dem damit verbundenen a n t i f a s c h i s t i s c h e n Charakter der ideell-politischen Intentionen der entstandenen Werke; zweitens in der formästhetischen Orientierung der Autoren vorwiegend auf die Erfahrungen des E x p r e s s i o n i s m u s , die als Grundtendenz mit einer auffälligen „ V e r g r ö b e r u n g " und „Vergegenständl i c h u n g " der poetischen Sprache einherging und oft - wie z. B. bei der Kurzprosa A. Karalijtschews - von einer intensiven Nutzung der F o l k l o r e t r a d i t i o n begleitet war, und drittens in der relativ kurzen Dauer der Bewegung: von 1923 bis 1927. Dazu eine Erklärung: Ohne den Septemberaufstand 1923, den ersten antifaschistischen Aufstand in der Welt überhaupt, der von der Bulgarischen Kommunistischen Partei geleitet und im Bündnis mit breiten Schichten der Bauernschaft durchgeführt wurde, könnte man sich die Entstehung einer bulgarischen literarischen Avantgarde nur schwer vorstellen. Denn er zog durch seine brutale Unterdrückung „eine derartig tiefe, blutige Furche zwischen den Volksmassen und der faschistischen Bourgeoisie, daß sie durch nichts mehr ausgefüllt werden konnte" 199 . Nach der Oktoberrevolution und der mit ihr eingeleiteten Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus war der Aufstand d a s Ereignis im nationalen Rahmen, das die mit dem ersten Weltkrieg begonnene erneute 200 Linksorientierung eines großen Teils der bulgarischen Intelligenz und somit die Annäherung „modernistischer" und bürgerlich-demokratischer Autoren an proletarisch-revolutionäre Positionen forcierte und zur Bildung einer gemeinsamen Aktionsfront führte. Dadurch erst (und nicht sofort nach der Oktoberrevolution) wurde in der nationalen Literaturentwicklung ein neuer Abschnitt spürbar, der sich auf funktionaler Ebene als die Ablösung der „Moderne" durch die „Avantgarde" (im bereits besprochenen Sinn beider Begriffe) definieren läßt. Der gemeinsame Gegner, den es zu bekämpfen galt, der Faschismus, hatte sich in Bulgarien recht früh etabliert und machte sich in jener Zeit vor allem bemerkbar durch Abbau der Demokratie (Sturz der liberal-demokratischen Bauernregierung im Juni 1923, Verabschie168
dung des berüchtigten Gesetzes zum Schutz des Staates, das u. a. die Kommunistische Partei und deren Presseorgane verbot und die Zensur einführte) sowie durch Terror gegenüber ihren Verteidigern (so im Juni und September 1923, aber auch im April/Mai 1925, als nach einem Attentat auf den Zaren neben vielen Kommunisten und Anhängern des linken Flügels des Bulgarischen Bauernbundes auch eine Reihe linker Intellektueller, darunter Geo Milew, ohne Verfahren und Urteil verschleppt und ermordet wurden). W a s die dominante formästhetische Orientierung der bulgarischen Avantgarde auf den Expressionismus betrifft, so ergab sich dies zum einen aus der künstlerischen Biographie Geo Milews, der als führender Vertreter der bulgarischen „Moderne" vor dem Aufstand (und dann auch der „Avantgarde") bereits vor 1923 den Symbolismus als überholt ansah und die „neue" Kunst weitgehend mit der Poetik des Expressionismus identifizierte. Es l a g zum anderen daran, daß diese Poetik der spontanen und heftigen Reaktion der Autoren der „Septemberliteratur" auf den bürgerkriegsähnlichen Charakter des Aufstandes und seine grausame Niederwerfung in hohem Maße entgegenkam. Denn weder Milew und Straschimirow noch Furnadshiew, Raszwetnikow und Karalijtschew kam es auf eine Analyse der Ereignisse an. W a s sie zum Schreiben drängte, war die p e r s ö n l i c h e B e t r o f f e n h e i t durch das blutige Geschehen - eine explosive Gefühlsmischung von Entsetzen und Empörung, von tiefer Anteilnahme für die Opfer und unbändigem H a ß gegenüber ihren Henkern. Dies entlud sich in entsprechend emotional betonten Ausdrucksformen und Bildern, die keine ruhige oder episch ausholende Gestaltung zuließen, sondern verlangten, die Werke vielmehr „lyrisch"-bewegt zu strukturieren und in sie eine fragmentare, mit hypertrophierten Zügen ausgestattete, ja mitunter alptraumhaft verzerrte Wirklichkeit hereinzuholen. (An dieser Stelle muß allerdings hinzugefügt werden, daß die bulgarische Avantgarde bei aller Vorliebe für den Expressionismus nicht etwa ausschließlich davon, sondern auch vom Imaginismus, Futurismus u. a. „modernen" Kunstrichtungen beeinflußt war. Sie bildete keineswegs eine „Einheit", die um ein klar umrissenes Programm konzentriert w a r ! ) Wenn die Sprache dabei vorsätzlich „vergröbert" und „roh" erschien, so war das Ausdruck des Bestrebens, „lebensnah" zu sein und sich von der Poetik des Symbolismus, die in der bulgarischen Lyrik bis zum Aufstand vorherrschte und ihr ein „banal-süßliches und schematisch-glattes" 201 Gepräge verlieh, demonstrativ zu distan-
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zieren. Geo Milew meinte dazu: „Grob. Roh. Barbarisch. Aber neu. Die bulgarische Poesie bedarf der Barbarisierung. Sie bedarf der Säfte, in denen primitive Kraft ist, damit sie ihr Leben geben."202 Die bei Karalijtschew besonders deutliche Fusion der bulgarischen Avantgarde mit Folkloretraditionen, z. B. die Anlehnung an das Volkslied und das Märchen, ist ihrerseits aus dem wiedererwachten starken Interesse der Autoren für das „Nationale" (sei es als Charakter und Mentalität, sei es als „Schicksal", Geschichte oder kulturelles Erbe) erklärlich. Auch damit grenzten sie sich von der „Moderne" ab, die zu diesem Komplex wie zu vielen anderen Wirklichkeijtsbereichen fast jeden Bezug verloren hatte. Bevorzugte Gattung in der bulgarischen Avantgarde war die Lyrik. Dramen brachte sie nicht hervor. Repräsentiert wird sie durch die Lyrikbände 2ertveni kladi (Scheiterhaufen; 1924) von Assen Raszwetnikow und Proleten vjatär (Frühlingswind; 1925) von Nikola Furnadshiew, durch das Poem September (1925) von Geo Milew sowie durch die Erzählungen Angel Karalijtschews, gesammelt in dem Band Roggen (1925). Straschimirows Roman Reigen (1926) bildete im Grunde den künstlerischen Ausklang der Bewegung. Als „Zentren" der Avantgardeliteratur in Bulgarien fungierten drei Zeitschriften: Nov pät (1923-1925), ein Organ der nach dem faschistischen Putsch im Juni 1923 in die Illegalität gedrängten Kommunistischen Partei, redigiert von Georgi Bakalow, Geo Milews Plarnäk (1924-1925) und Anton Straschimirows Vedrina (1926-1927). Profilgebend für die Bewegung waren vor allem die beiden letztgenannten Zeitschriften, die neben einzelnen avantgardistischen Werken auch wichtige kunsttheoretische Äußerungen und publizistische Stellungnahmen der Autoren zu den aktuellen politischen Ereignissen enthielten. Die relative „Kurzlebigkeit" der bulgarischen literarischen Avaritgarde wurde durch ihren situationsbezogen-spontanen und zugleich weltanschaulich-heterogenen Charakter bedingt, wobei die Ermordung Geo Milews, des einzigen, der geeignet gewesen wäre, eine avantgardistische Kunstprogrammatik auszubauen, zweifellos dazu beigetragen hat. Von Bedeutung für den schnellen Zerfall der Bewegung waren aber auch die linkssektiererischen Tendenzen in der proletarisch-revolutionären Literatur, die nach dem Septemberaufstand im Zusammenhang mit der äußerst schwierigen Lage, in der sich die BKP befand (Illegalität, starke Dezimierung der Mitglieder, Verlust von vielen erfahrenen Leitungskadern), erneut verstärkt 170
auftraten und die sozialistischen Autoren daran hinderten, die sich bietende Chance zu nutzen, um mit bürgerlich-demokratischen, antifaschistisch gesinnten Schriftstellern eine organisierte Einheitsfront zu bilden. So traten im Verhältnis politische Avantgarde - literarische Avantgarde bald ernsthafte Störungen auf. Konkret äußerten sie sich zunächst im Bruch Furnadshiews, Raszwetnikows und Karalijtschews mit der Redaktion der Zeitschrift Nov pät und somit mit der proletarisch-revolutionären Literatur. Dazu kam es, weil Bakalow ihre Teilnahme an einer „offiziellen" Jaworow-Feier Ende 1924 scharf kritisiert hatte (der „Symbolist" Jaworow galt aus der Sicht Bakalows als ein bürgerlich-„dekadenter" Autor) 203 und die gleichzeitige Mitarbeit an bürgerlichen Literaturorganen nicht duldete. Einige Jahre später folgte das Zerwürfnis Anton Straschimirows mit der BKP und somit auch mit seinen jungen kommunistischen Mitarbeitern in Vedrina. Auch hier spielte mangelnde Toleranz eine entscheidende Rolle: Man erwartete von dem zwar antifaschistischen, individualistischen Ideen aber weiterhin verhafteten Schriftsteller das disziplinierte Verhalten eines Parteimitgliedes, man warf ihm anarchistisch gefärbtes Rebellentum vor. Trotz der kurzen Zeit ihres Bestehens vermochte die bulgarische Avantgarde der weiteren Entwicklung der nationalen Literatur wichtige Impulse zu vermitteln. Ihre formästhetischen Innovationen fanden - entsprechend modifiziert - eine Weiterführung sowohl in der bürgerlich-demokratischen Lyrik (E. Bagrjana, A. Daltschew) als auch in der proletarisch-revolutionären Prosa (O. Wassilew, G. Karaslawow). Durch ihre ideell-politische Stoßrichtung bahnte sie andererseits den Weg für die Gründung des „Bundes der Schriftsteller des Arbeitskampfes" im Jahre 1932, der zu den ersten antifaschistischen Schriftstellerorganisationen in Europa gehörte und als bulgarische Nationalerfahrung für Georgi Dimitroff wesentlich wurde, als er die auf dem VII. Kongreß der Komintern 1934 verabschiedete Volksfrontpolitik erarbeitete. Anton Straschimirows Reigen, das unbestritten bedeutendste Prosawerk der bulgarischen Avantgarde, ist für uns vor allem als ein neuer Romantyp von Interesse. Im Unterschied zu der Roman„Epopöe", wie sie Wasow Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts prägte, sowie dem künstlerisch wenig gelungenen Versuch Straschimirows, bereits vor 1923 einen „psychologischen" Romantyp in der bulgarischen Prosa zu etablieren (bedingt durch das Bestreben des Autors, die geistig-ideelle und moralische Krise vieler bulgari171
scher Intellektueller seit der Jahrhundertwende204 auf „moderne" d. h. das Biologische und das Unterbewußte im Menschen aufwertende - Weise zu beleuchten)205, haben wir es bei diesem Romantyp weder mit epischer Breite der Gestaltung noch mit der psychologischen Durchdringung der Vorgänge zu tun. Genrebestimmender Faktor im Reigen ist d a s V e r h ä l t n i s Straschimirows zum Gegenstand der Gestaltung und besonders zu den Henkern des aufständischen Volkes. Denn alles hier - sei es das konkrete Material und seine Organisierung, sei es die Figurenwahl oder die Gestaltungsweise insgesamt - wirkt wie eine Vergegenständlichung der emotionalen Reaktion des Autors auf die Unterdrückung des Aufstandes und dient vor allem dazu, seiner persönlichen Erschütterung und seinem Zorn einen unmittelbaren und zugleich auf den Leser aktivierend wirkenden Ausdruck zu verleihen. Daher die Charakterisierung des Romans als „expressiv", was allerdings nicht allein „ausdrucksstark", sondern auch „subjektiviert" und „dramatisch-verdichtet" (als Gegensatz zu „episch-distanziert" und „beschreibend") meint. Was dahinter im einzelnen steckt, läßt sich zunächst anhand der Fabel veranschaulichen: Mitscheto Karabeljowa, die verwaiste und einzige Erbin einer reichen Kaufmannsfamilie, wird wenige Tage nach der Volkserhebung im September 1923 mit dem Polizeivorsteher der Kreisstadt, in der die Handlung angesiedelt ist, getraut, obwohl er für den Tod ihres Bruders, eines Aufständischen, verantwortlich und ihr als Mensch zutiefst zuwider ist. Von ihm, der es vor allem auf ihr Geld abgesehen hat, kurz davor vergewaltigt und von den Mächtigen in der Stadt mit dem Bürgermeister, Baj Nako, und dem Garnisonskommandant, Oberst Gnojnischki, an der Spitze, im Stich gelassen, die sogar als Trauzeugen bei dieser brutal erzwungenen Vermählung fungieren, befindet sich die Frau in einem Schockzustand und läßt willenlos alles über sich ergehen. Während der Hochzeitsfeier, die im Haus der Karabeljows stattfindet, stirbt die vom Tod des Enkelsohnes Sascho völlig gebrochene Großmutter Mitschetos. Dies löst eine Kette von folgenschweren Ereignissen aus. Der Wachtmeister Mindilja beraubt die Verstorbene, wird aber beim Versuch, den gestohlenen Schmuck im Hinterhof des Hauses zu verstecken, überrascht und getötet. Der Täter gehört zu einer Restgruppe von Aufständischen, die das Ableben der alten Karabeljowa und das dadurch bewirkte Durcheinander ausnutzen, um Mitscheto, die Schwester 172
ihres Kampfgenossen, in Sicherheit zu bringen. Darunter ist der Jude Isko, den Mitscheto liebt. A n Mindilja geraten sie zufällig, als sie sich mit der jungen Frau über den Hinterhof hinausschleichen. Der Mord an dem Wachtmeister wird sehr bald vom Polizeivorsteher entdeckt, der ebenfalls hinter dem Schmuck her ist. A l s dann noch das Verschwinden von Mitscheto festgestellt und der Zusammenhang zwischen ihrer „Entführung" und der Ermordung des Polizisten klar wird, bricht die Hölle los. Im Handumdrehen verwandelt sich das feierlich geschmückte Haus einerseits in ein Polizeirevier, wo der wütende „Bräutigam" aus der Dienstmagd Marga, die zur Flucht der Braut beiträgt, Näheres über das Geschehene herausprügelt, andererseits in eine Beratungsstätte für die eilends zusammengerufene Exekutive der Stadtverwaltung. Der Beschluß der Exekutive weist sie als ein mustergültiges Organ des faschisierten Staates aus. Er lautet: Sofortige Hinrichtung von 17 verhafteten Bürgern, die dringend verdächtigt werden - das genügt völlig - , den Aufständischen bei ihren verbrecherischen Aktionen geholfen zu haben bzw. mit ihnen zu sympathisieren. Zu den ohne Gericht und Beweisführung Verurteilten gehören u. a. ein junger kommunistischer Anwalt, zwei Handwerker - Vater und Sohn Kapanow - sowie die einfältig-harmlose Dienstmagd Marga. Die Hinrichtung, die als Vergeltungsmaßnahme mit „belehrendem" Nebeneffekt geplant ist, findet noch in derselben Nacht im Hinterhof des Hauses statt, und zwar vor den Augen der weiblichen Angehörigen der Opfer, die mit Peitschen zusammengetrieben und genötigt werden, sich von ihren zu Vaterlandsverrätern erklärten Männern und Söhnen loszusagen und sie zu bespucken. A l s dies nicht so recht klappen will und der Garnisonskommandant Gnojnischki, der zusammen mit dem Vorsitzenden der Exekutive die Regie führt, feststellt, daß man vielleicht doch etwas zu weit gegangen ist, erteilt er den Frauen den Befehl, Reigen um die Leichen zu tanzen. Bedroht, auf der Stelle niedergemetzelt zu werden, wenn sie dem Befehl nicht Folge leisten, beginnen die entsetzten Frauen einen w i l d e n und w a h n w i t z i g e n T a n z um die Toten. W i e der Fabel unschwer zu entnehmen ist, fällt die Handlung als Bewegung der Figuren in Raum und Zeit für einen Roman äußerst knapp aus. Das Erzählte spielt sich bei einem minimalen Schauplatzwechsel innerhalb eines Tages und der darauffolgenden Nacht ab. Der kurze und geradlinige, äußerlich an den Aufbau eines klassizistischen Dramas erinnernde Handlungsablauf ist je-
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doch „überladen" mit Ereignissen und scharfen Konflikten. Voller Spannung und mit großer Dynamik strebt er seinem Höhepunkt, der Abschlußszene, dem Reigen, zu. Die Komposition des Werkes ist noch durch ein weiteres und sie als ästhetische Struktur in besonderem Maße prägendes Merkmal gekennzeichnet: durch das Prinzip des Kontrastes (im Sinne einer Vereinigung von total entgegengesetzten „Größen"), das bereits in den ersten Szenen eingesetzt wird und bis zum Schluß wirksam bleibt: Mitscheto heiratet den Mörder ihres Bruders; während sie heiratet, stirbt ihre Großmutter; Hochzeitsfeier und Exekution fallen zeitlich fast zusammen; die Frauen tanzen um ihre Toten, statt sie zu beklagen. Der Einfluß der expressionistischen Poetik ist hier unverkennbar, und der Effekt verfehlt nicht sein Ziel. Straschimirow gelingt der Entwurf einer alptraumhaften Wirklichkeit mit grotesken Zügen, die dem Leser das Anormale, das Absurde, das Ungeheuerliche als den vom Faschismus heraufbeschworenen Zustand in Bulgarien suggeriert. Wichtig ist in diesem Zusammenhang allerdings folgendes: Während die Expressionisten mit dem beschriebenen Verfahren meist ein Weltverhältnis artikulierten, in dem sich ihre Ablehnung und Kritik nicht auf einen historischen Zustand, sondern auf die Weltlage schlechthin bzw. auf das gesellschaftliche Wesen des Menschen bezogen, was der Kritik einen totalen Charakter verlieh, erhielt die Groteske bei Straschimirow dank ihrer konkreten Adressiertheit eine völlig neue Funktion. Indem sie ganz eindeutig den Faschismus anvisierte und sein ahumanes Wesen enthüllte, mobilisierte sie den Leser, legte ihm nahe, daß er eine Überwindung der Realität nicht in seinem Inneren (wie im Programm vieler Expressionisten), sondern nur über die Auseinandersetzung mit dieser Realität, durch ihre Bekämpfung anstreben sollte. Straschimirows Bezug zum Expressionismus ist deutlich auch bei der Figurengestaltung in Reigen zu beobachten. Hier fällt auf, wie schwer sich der Autor tut, Distanz zum Objekt der Darstellung zu gewinnen. Seine Gefühle fließen in der Regel mit dem Gestalteten zusammen, geben ihm das Gepräge, lassen so oft die Grenzen zwischen Innen und Außen, zwischen Subjekt und Objekt verschwinden. Ein Beispiel dafür ist das für den Roman charakteristische gegenseitige Durchdringen von Erzählerbericht und innerem Monolog der Figuren. Das Ergebnis ist eine w e r t e n d e S u b j e k t i v i e r u n g der geschilderten inneren Vorgänge, so etwa in 174
der Szene, in der die Haltung der Hochzeitsgäste zur Rolle des Bürgermeisters für das Zustandekommen der Trauung zum Ausdruck gebracht wird: „Die Hochzeitsgäste schwiegen. Es war klar, daß es zu keinem Skandal kommen durfte: Er, Baj Nako, der Bürgermeister, ist verpflichtet gewesen, die Stadt vor Schande zu bewahren. Und dies hat er auf die allerwürdigste Weise auch getan. Er hat sogar seine Frau eingeschaltet, wie denn sonst? Es war ja eine Frauengeschichte. Überhaupt hat Baj Nako das Bestmögliche unter den gegebenen Umständen - getan. Er hat den Oberst lange gebeten - das mußte er ja tun! - und überredet - was blieb ihm sonst übrig! - mitzumachen. Er hat ihn zuerst persönlich darum gebeten und zu überreden versucht, dann durch Freunde und schließlich auch durch seine Frau. Ja. Und er hat es geschafft!" 206 Das wertende Moment entspringt hier der ironisierenden Wiedergabe der Einstellung der Gäste zur Affäre (um die Ironie des Autors noch besser zu spüren, muß berücksichtigt werden, daß die Frau des Bürgermeisters mit dem Oberst seit langem ein Verhältnis hat, wovon die ganze Stadt weiß). Fehlt dieses wertende Moment, so dient das Zusammenfließen der Autorenrede mit dem inneren Monolog bzw. der erlebten Rede vor allem dazu, auch seelischen Vorgängen und Überlegungen der Figuren eine dynamisch-gestraffte und zugleich emotional geladene, kurz, „expressive" Form zu geben: „ . . . Das Haus der Karabeljows verödete. Marga war aufgewachsen und wurde alt in ihm. Und jetzt: Was blieb ihr noch hier? Nein, man müßte sie einfach an der Hand nehmen und zum Friedhof bringen. Verloren in der schrecklichen Nacht des Lebens kniete die alte Dienstmagd vor der verstorbenen Herrin. Händeringend. Wenn die Tote für einen Augenblick nur das eine Auge öffnen würde, wenigstens so lange, bis ihr Marga sagt, was sie von Saschko wußte und was mit Metscheto geschah . . . Jemand riß grob die Tür auf. Marga schluchzte auf: Sie verstand, bevor sie ihn sah. Der Bräutigam näherte sich ihr auf Zehenspitzen mit gerichteter Pistole und entsetzlich verdrehtem Schielauge. Die Alte schwankte zu der Toten zurück und klammerte sich an sie. Kein Lebender hätte ihr jetzt helfen können! Sotir packte sie am Haarnetz: ,Du Hündin!'" 207 Subjektivierung, aber auch Verzicht auf ein episches Sujet sowie maximale Verdichtung der Handlung erklären, warum die Figurengestaltung in Reigen nicht nur (im Vergleich zu den ihm vorausgegangenen Romanen in der bulgarischen Literatur) etwas ungewöhnlich ausfällt, sondern auch spürbar in den Hintergrund gerät. Das 175
Werk wird in erster Linie von der Szene, von der spannungsgeladenen Konfliktsituation getragen, in ihm fehlt der sorgfältig und nuanciert herausgearbeitete Charakter. D e r Autor hatte offensichtlich weder Zeit, noch hielt er es überhaupt für erforderlich, bei einer Figur lange zu verweilen und deren innere Erlebnisse detailliert zu verfolgen. D i e Ambition, „die Dialektik der menschlichen Seele" aufzudecken 208 , war ihm hier fremd. Was er in dieser Beziehung dem Leser bietet, ist lediglich die Fixierung von einzelnen seelischen und körperlichen Zuständen, von Charakterzügen, die aber - so flüchtig und fragmentarisch sie s i n d * - auf beeindruckende Weise die Figuren individualisieren und sozial typisieren, weil sie stets durch das unverhohlen wertende Verhältnis Straschimirows zu ihnen gefärbt sind und dadurch oft karikiert, ja grotesk wirken. Dies gilt besonders für den Aufbau jener Figuren, die als Träger des Faschismus in Bulgarien erscheinen bzw. die durch ihr politisches Verhalten seine gesellschaftliche Etablierung möglich machten: der Oberst Gnojnischki, der Polizeivorsteher Sotir Iwanow, der Vorsitzende der E x e kutive, der Bürgermeister B a j Nako, der Staatsanwalt Jatscho u. a. Sie alle haben schon rein äußerlich etwas Abstoßendes, Mißgestaltetes und Abartiges, das mit ihrem Innenleben und Charakter korrespondiert. D e r Oberst z. B. ist klein wie ein Gnom, seine kalten und stechenden grünen Augen lassen jeden erzittern. Als Verkörperung jener monarchistisch-nationalistisch und antidemokratisch gesinnten Militärkreise, die am faschistischen Putsch vom Juni 1923 maßgeblich beteiligt waren, ist er durch Roheit, Klassenhaß und Menschenverachtung gekennzeichnet, Züge, die in der Schlußszene des Romans pathologische Ausmaße annehmen. D a s krankhaft Brutale und Unmenschliche als Wesenskern dieser Figur signalisierte Straschimirow nicht zuletzt durch den Namen: „Gnojnischki" ist von „Eiter" abgeleitet. Widerlich als Erscheinung ist auch der Polizeivorsteher. E r schielt, und seine Augen treten bei Wutanfällen gräßlich aus den Höhlen. Brutalität ist auch seine hervorstechendste Eigenschaft. Während sie aber bei dem Oberst mehr einer kühlen Überlegung entspringt und von dessen stockreaktionären Überzeugungen genährt wird, hat sie hier eher den Anstrich eines „angeborenen" psychischen Sadismus, einer hemmungslosen Entfesselung des „Tierischen" im Menschen. So bereitet es Sotir Iwanow echtes Vergnügen, andere zu quälen und zu mißhandeln, er „liebt" Mitscheto am meisten, wenn sie unglücklich ist, wenn sie weint und leidet. Als sozialer Typ repräsentiert er jene nicht gerade schmale Schicht 176
von entwurzelten Abenteurern und Kriminellen jener Zeit, die, in Armut aufgewachsen, sich in den Dienst der herrschenden Klasse gestellt hatten und nun die bürgerkriegsähnlichen Verhältnisse in Bulgarien dazu ausnutzten, Karriere zu machen und sich zu bereichern. Alles andere als anziehend ist auch der Bürgermeister Baj Nako - „kurz, dick, ohne Hals, mit rundem Gesicht voller Flecken und mit fetten Säcken unter den Augen" 209 - , der als Vertreter der nach dem Putsch vorläufig „kaltgestellten" bürgerlichen Parteien fungiert und dem Faschismus nicht ganz unkritisch gegenübersteht. Sosehr er sich aber vor allem von seinen brutalen Methoden distanziert, ist er zugleich weit davon entfernt, sich etwa effektiv zu widersetzen und seinen Posten zu riskieren. Seine einzige Sorge ist es, sich vor der Verantwortung für die Repressalien zu drücken, was ihm allerdings völlig mißlingt. Als Mitglied der Exekutive kommt er nicht darum herum, das Protokoll für die Exekution zu unterschreiben. Dazu wird übrigens auch sein Stellvertreter Detschko, ein Sozialdemokrat, gezwungen, der vergeblich versucht, mit Parolen, die auf „Klassenharmonie" bauen („Wir sind alle Söhne und gleichberechtigte Bürger dieses Landes" oder „wir dürfen nichts tun, wofür sich unsere Kinder eines Tages schämen würden"), die Exekutive zur Milde zu bewegen. Unter dem Druck der faschisierten und tonangebenden Elemente setzt er seine Unterschrift auf das Papier, das den Tod für die 17 Bürger bedeutet. Bezeichnenderweise wird diese Figur vom Autor kaum karikiert, obwohl eine ironisierende Distanz auch hier deutlich spürbar ist. Sie kommt u. a. im Namen des stellvertretenden Bürgermeisters zum Ausdruck: „Detschko" hängt etymologisch mit „Kind" zusammen und läßt den Leser spontan „Unreife" und „Naivität" assoziieren. Allein diese vier Gestalten, so sparsam und eigenwillig sie gezeichnet sind, genügen, um zu erkennen, wie Straschimirow wesentliche Seiten des bulgarischen Faschismus zu erfassen suchte, wie kühn er jene Kräfte, auf die dieser sich stützte oder die mit ihm freiwillig oder gezwungenermaßen kollaborierten, demaskierte. Zu einer umfassenden und tiefgreifenden Faschismusanalyse gelangte er dabei nicht. Was ihm auf einmalige Weise gelang, war, die Erscheinungsformen des F a s c h i s m u s i n A k t i o n sichtbar zu machen. Hier liegt die Stärke des Romans, daraus folgt vor allem sein entlarvendes und anklagendes Pathos. Seine Schwäche ist dagegen die äußerst blasse und schematische Darstellung der Aufständischen sowie das Unvermögen des Autors, 12 Witschew. Bulg. Prosa
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den organisierten Charakter der Volkserhebung und die führende Rolle der BKP zu reflektieren. Hier kommen die weltanschaulichen Grenzen Straschimirows deutlich zum Vorschein, insbesondere seine Neigung zum Anarchismus, die ihm jede Partei, jede kollektiv herausgearbeitete Strategie und Taktik suspekt erscheinen ließ und ihn daran hinderte, auch Menschen, die sich diszipliniert verhielten, vorurteilslos zu betrachten. Aus diesem Blickwinkel erscheinen nicht nur Sozialdemokraten wie Detschko naiv und doktrinär beschränkt, sondern auch kommunistische Aufständische wie Isko oder die Studentin, die sich um Mitscheto nach deren Flucht kümmert und die angesichts der konkreten Umstände völlig deplazierte marxistische Zitate über den Klassenkampf und die Weltrevolution vorträgt. Nur gegenüber Sascho Karabeljow verhält sich der Autor ohne Ironie. Der uneigennützige Einsatz des vermögenden jungen Mannes für die Unterdrückten und für die Verteidigung der Demokratie wird sogar etwas romantisch überhöht. D a Sascho aber zu Beginn der Romanhandlung bereits tot ist, „leuchtet er nicht mehr mit eigenem Licht . . . Straschimirow hat sich so der Notwendigkeit entledigt, sich mit ihm zu befassen und seine seelischen Erlebnisse zu konkretisieren." 210 Weit besser als die ideelle und organisatorische Seite des Aufstandes vermochte Straschimirow seine Massenbasis und somit seinen Charakter als eine Volkserhebung gegen den Faschismus zu veranschaulichen. Träger des spontanen Widerstandes des Volkes sind im Roman vor allem die Kapanows. Der Brutalität der Faschisten ausgeliefert, verstehen sie ihre Menschenwürde zu verteidigen und ihrer Unbeugsamkeit sowie ihrem H a ß auf die Henker beredten Ausdruck zu verleihen. Hier macht sich die für die bulgarische literarische Avantgarde charakteristische Tendenz zur Vergröberung der Sprache stark bemerkbar. Die Redeweise Kapanows ist eine ursprünglich-spritzige und unverblümt-rohe Umgangssprache, „getränkt mit dem Schweiß ihrer Arbeit und dem Salz ihres Leides" 211 . Durch ihren hohen emotionalen Gehalt stellt sie ein weiteres Element dar, das zur „Expressivität" des Werkes beiträgt. Damit sind wir wieder an den Punkt gelangt, der uns besonders interessiert: die Genrespezifik des Romans. Sie wird von manchen Literaturhistorikern auf Grund der durch die Subjektivierung bewirkten ironisierten, karikierten und grotesken Darstellung der Figuren und der Wirklichkeit beschrieben als „pamphletistisch" bzw. „pamphletistisch-publizistisch". 212 Berücksichtigt man aber, daß diese
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- durch das unverhüllt wertende Verhältnis des Erzählers zum Gegenstand der Gestaltung bedingte - Subjektivierung nicht das ausschließliche Strukturierungsprinzip des Werkes ist, daß sie vielmehr mit einer Poetisierung des gesamten Textes (d. h. mit einer „Lyrisierung" auf der semantisch-stilistischen Ebene) einhergeht, so wird klar, daß mit Stichworten wie „Pamphlet" und „Publizistik" die Eigenart des Reigen nur recht einseitig zu fassen ist. Poetisierende Mittel, nicht allein oder nicht direkt mit einem gefühlsbetonten Verhältnis des Autors zum Objekt der Gestaltung erklärbar, sind z. B. das refrainartig wiederkehrende Motiv von den „weißen Septembernächten" (in denen Tausende von Antifaschisten ermordet wurden) und die gelegentliche Rhythmisierung des Erzählerberichtes, die zwar auch emotionalisierend wirken, vor allem aber kompositioneil und von der sprachlichen Gestaltung her den Roman mit profilieren. Diese poetisierenden Mittel haben wiederum andere Literaturhistoriker veranlaßt, den Roman vor allem als „lyrisierte Prosa" zu betrachten.213 Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden, die Zuordnung allein sagt aber wenig über die eigentliche Spezifik des Werkes aus, da unter „Lyrisierung" dreierlei verstanden werden kann: nicht nur „Subjektivierung" und „Poetisierung", sondern auch Destruktion epischer Strukturen. Der Vorschlag, den Roman als „expressiv" zu bezeichnen, zielt auf die erste der drei Möglichkeiten. Er versucht zu fassen, welcher ä s t h e t i s c h e E f f e k t durch die dominante s u b j e k t i v i e r e n d e Stoßrichtung der „Lyrisierung" erzielt worden ist.21'1 Die subjektivierende - Figuren und Realität mitunter bis zur Groteske deformierende - Gestaltungstechnik einerseits und der antifaschistisch-revolutionierende und demokratische Ideengehalt andererseits machen deutlich, warum jeder Versuch, Reigen einem der bis zum Septemberaufstand immer noch klar unterschiedenen drei Hauptstränge der bulgarischen Literatur zuzuordnen (dem kritisch-realistischen, dem individualistisch-sezessionistischen und dem proletarisch-revolutionären), erfolglos bleiben mußte. Das Werk ist neben dem Poem September von Geo Milew - d e r Beleg für die neue Qualität, die die Avantgarde in die nationale Literaturentwicklung einbrachte - die Verflechtung einzelner Elemente und Erfahrungen der herkömmlichen Stränge: Volksverbundenheit, Demokratismus, das betonte Nationalbewußtsein des kritischen Realismus, die formästhetischen - vor allem expressionistischen - Experimente der „Moderne" und deren ablehnende Haltung gegenüber dem 12*
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traditionellen, „deskriptiven" Realismus, dazu den sozialen, revolutionären Impetus der proletarischen Literatur. Daß diese neue Qualität nur infolge des außerordentlichen gesellschaftlichen Ereignisses, infolge des Aufstandes, in einer solchen Brisanz zustande kommen und sich als Tendenz nur für eine kurze Zeit behaupten konnte, wurde bereits festgestellt. Abschließend wäre zu ergänzen, daß Reigen das erste Werk in der Geschichte des bulgarischen Romans ist, das einen überzeugenden Nachweis erbrachte: Eine wahrhaftige Aussage, wesentliche Verallgemeinerungen und fortschrittlich-revolutionäres Ideengut werden nicht allein mit „realitätsgetreuen" Mitteln, nicht allein mit den „Formen des Lebens selbst" vermittelt. Das Werk lieferte schlagende Argumente dafür, daß Gestaltungstechniken und -verfahren nicht von vornherein „ideologiebelastet" sind und daß es stets auf die Funktion ankommt, die sie im ästhetischen Ganzen erfüllen. Daß d i e s e Erfahrung bis auf wenige Ausnahmen (dazu gehört z. B. Swetoslaw Minkow) fast bis zur Mitte der sechziger Jahre weder bei den kritischen noch bei den sozialistischen Realisten in Bulgarien Schule machte, ist ein Phänomen, das die nationale Spezifik des literarischen Prozesses in dieser Zeit mitprägt. Zurückzuführen wäre es einmal auf die in der bulgarischen marxistischen Literaturwissenschaft jahrzehntelang tonangebende Realismus-Antirealismus-Theorie, aber auch auf die enorme „Zähigkeit" und Wandlungsfähigkeit des „traditionellen" bulgarischen Realismus. Durch die vielen Modifizierungen, die er im Verlauf der Zeit als Reaktion auf die jeweils neuen gesellschaftlichen Konstellationen und Bedürfnisse erfuhr, förderte er in nur geringem Maße „Alternativentwicklungen" und damit einen Realismus, der die sogenannten „bedingten" (phantastischen oder symbolhaften) Formen der Gestaltung und künstlerischen Verallgemeinerung bevorzugt.
Der „ethische"
Realist
Jordan
Jowkow
„Was ich für die Gesellschaft tun kann, das geschieht mit den Mitteln der Literatur." 215 Ergänzt man diese Äußerung Jowkows, mit der er 1934 seine Distanz zum öffentlichen Leben in Bulgarien begründete, durch eine zweite aus dem Jahre 1930, so wird deutlich, daß der Auszug aus dem öffentlichen Leben zugleich ein Rückzug von der sozialen Verantwortung war: „Ich halte die Behandlung von sozialen Themen, die Lösung von sozialen Proble180
traditionellen, „deskriptiven" Realismus, dazu den sozialen, revolutionären Impetus der proletarischen Literatur. Daß diese neue Qualität nur infolge des außerordentlichen gesellschaftlichen Ereignisses, infolge des Aufstandes, in einer solchen Brisanz zustande kommen und sich als Tendenz nur für eine kurze Zeit behaupten konnte, wurde bereits festgestellt. Abschließend wäre zu ergänzen, daß Reigen das erste Werk in der Geschichte des bulgarischen Romans ist, das einen überzeugenden Nachweis erbrachte: Eine wahrhaftige Aussage, wesentliche Verallgemeinerungen und fortschrittlich-revolutionäres Ideengut werden nicht allein mit „realitätsgetreuen" Mitteln, nicht allein mit den „Formen des Lebens selbst" vermittelt. Das Werk lieferte schlagende Argumente dafür, daß Gestaltungstechniken und -verfahren nicht von vornherein „ideologiebelastet" sind und daß es stets auf die Funktion ankommt, die sie im ästhetischen Ganzen erfüllen. Daß d i e s e Erfahrung bis auf wenige Ausnahmen (dazu gehört z. B. Swetoslaw Minkow) fast bis zur Mitte der sechziger Jahre weder bei den kritischen noch bei den sozialistischen Realisten in Bulgarien Schule machte, ist ein Phänomen, das die nationale Spezifik des literarischen Prozesses in dieser Zeit mitprägt. Zurückzuführen wäre es einmal auf die in der bulgarischen marxistischen Literaturwissenschaft jahrzehntelang tonangebende Realismus-Antirealismus-Theorie, aber auch auf die enorme „Zähigkeit" und Wandlungsfähigkeit des „traditionellen" bulgarischen Realismus. Durch die vielen Modifizierungen, die er im Verlauf der Zeit als Reaktion auf die jeweils neuen gesellschaftlichen Konstellationen und Bedürfnisse erfuhr, förderte er in nur geringem Maße „Alternativentwicklungen" und damit einen Realismus, der die sogenannten „bedingten" (phantastischen oder symbolhaften) Formen der Gestaltung und künstlerischen Verallgemeinerung bevorzugt.
Der „ethische"
Realist
Jordan
Jowkow
„Was ich für die Gesellschaft tun kann, das geschieht mit den Mitteln der Literatur." 215 Ergänzt man diese Äußerung Jowkows, mit der er 1934 seine Distanz zum öffentlichen Leben in Bulgarien begründete, durch eine zweite aus dem Jahre 1930, so wird deutlich, daß der Auszug aus dem öffentlichen Leben zugleich ein Rückzug von der sozialen Verantwortung war: „Ich halte die Behandlung von sozialen Themen, die Lösung von sozialen Proble180
men nicht für so dringend, wie gewöhnlich angenommen wird. Die Kunst soll etwas anderes. Sie hat ihre Mittel für ihre Ziele. Sie muß eine besondere Freude bereiten - gleich, was sie behandelt. Diese Freude wird weder vom Charakter noch von der Gegenwärtigkeit des Themas oder des Problems erzeugt.. ," 2 1 6 Diese Haltung überrascht zunächst, wenn man bedenkt, daß sie in der bulgarischen Literatur bis dahin lediglich bei Vertretern der individualistisch-sezessionistischen Richtung anzutreffen war - beim Kreis „Missal" etwa und bei der „Moderne". Jowkow war aber von Anfang an - schon mit seinen Kriegserzählungen - tief in den realistischen Traditionen der bulgarischen Literatur verwurzelt, der „Modernist" Geo Milew ordnete ihn um 1920 nicht zufällig dem von Wasow und Elin Pelin repräsentierten Kreis von Autoren zu, die er als „Chronisten des bulgarischen Lebens" abzuwerten suchte. 217 Wie war es möglich, daß ein Schriftsteller, der eine der wesentlichsten Positionen des bulgarischen Realismus - das soziale Engagement - preisgab, sich dennoch als „großer Realist" der nationalen Literatur behaupten konnte, und was steckte hinter seinem Alternativvorschlag, Kunst habe vor allem „eine besondere Freude zu bereiten"? Die Beantwortung dieser beiden Fragen ist unumgänglich, will man verständlich machen, wie Jowkow zum Erneuerer der bulgarischen Erzählung Ende der zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre werden konnte und warum seine Arbeiten häufig als dritte Etappe in der Entwicklung der Kurzprosa nach Wasow und Elin Pelin angesehen werden. Vorauszuschicken ist, daß aus historisierender Sicht Jowkows Poetik trotz ihrer Spezifik keineswegs eine überraschende oder etwa Ausnahmeerscheinung innerhalb der Entwicklung der bulgarischen Prosa darstellt. Vorbereitet wurde ihre Entstehung durch die bedeutendsten Tendenzen im ästhetischen Denken Bulgariens Anfang bis Mitte der zwanziger Jahre, das die Grenzen zwischen den herkömmlichen - vor dem Krieg noch klar differenzierten - Richtungen und Methoden der bürgerlichen Literatur zunehmend fließend machte und Phänomene wie die Avantgarde hervorbrachte. Jowkow gehörte nicht zur Avantgarde, in seinem Werk gibt es aber mehr Berührungspunkte mit dieser als mit dem traditionellen Realismus. In diesem Sinne ist Jowkows Prosa eine Art Synthese. Vor allem jedoch ist sie ein Beleg für jene gravierenden Modifizierungen, die die kritisch-realistische Richtung in der bulgarischen Literatur in den zwanziger/Anfang der dreißiger Jahre erfuhr; ein Beleg für ihre 181
große Wandlungsfähigkeit und erreichte ästhetische Reife, aber auch für ihre Grenzen. Die Abwendung von der sozialen Problematik bzw. ihre Behandlung nur am Rande ist bis Anfang/Mitte der dreißiger Jahre nicht allein im Werk Jowkows zu beobachten. Auch bei anderen kritischen Realisten wie Georgi Raitschew oder Swetoslaw Minkow dominierte sie nicht mehr. In den Mittelpunkt des Interesses rückten jetzt moralisch-psychologische und allgemeinmenschliche (zivilisatorische, philosophische) Fragen, dazu das „Heimatliche" bzw. das Nationale. Stand der Kreis „Missal" vor dem Krieg mehr oder weniger allein in der Aufnahme dieser Problemkreise, so schenkte in den zwanziger Jahren jede bürgerliche Literaturgruppierung in Bulgarien dem Seelischen und Ethischen einerseits und dem Nationalen andererseits große - wenn nicht die entscheidende - Bedeutung. Diese Verlagerung des Hauptinteresses hängt im wesentlichen mit der Art und Weise zusammen, wie nach dem ersten Weltkrieg jener Teil der bürgerlich-demokratischen Intelligenz auf die neue Wirklichkeit reagierte, der sich vom revolutionären Kampf als Mittel für deren Veränderung distanzierte. Nach der Niederlage des antifaschistischen Septemberaufstandes 1923 und der Welle des weißen Terrors 1925, dem auch eine Reihe linksorientierter Kulturschaffender zum Opfer fiel, verstärkten sich bei den zu diesem Teil der Intelligenz gehörenden Künstlern die Tendenzen zur Privatisierung und Enthistorisierung. Unter den Bedingungen der relativen Stabilisierung des Kapitalismus in Bulgarien (1925-1929), in einer Zeit, in der der mit dem Militärputsch vom Juni 1923 begonnene Abbau der Demokratie fortgesetzt und das kulturelle Leben durch das berüchtigte „Gesetz zur Verteidigung des Staates" sowie die eingeführte Zensur mit geprägt wurde, zogen sie sich von jeglicher politischer Aktivität zurück. Gefördert wurde diese Haltung noch durch die Lage, in der sich die proletarischrevolutionäre Literatur in diesen Jahren befand: Sie war durch Repressalien und Emigration vieler Autoren nach 1923/1925 (bis zur politischen Amnestie im Jahre 1929) sehr geschwächt. Hinzu kommt, daß sie bis etwa 1932 zum großen Teil linkssektiererisch orientiert war. Beides hatte zur Folge, daß sie in dieser Zeitspanne relativ wenig Bedeutsames hervorbrachte und auch literaturkritisch und -theoretisch der bürgerlich-demokratischen Literatur kaum produktive Impulse vermittelte. Verbittert und enttäuscht von den sozialen Widersprüchen und 182
der klassenmäßigen Zerrissenheit der Nation, der wirtschaftlichen Misere nach den Kriegen 21 ^ und den brutalen Praktiken im politischen Leben, erfaßt von quälender Unruhe angesichts des damit einhergehenden Verlustes von „traditionellen Tugenden" und humanen Werten im bulgarischen Volk, versuchten diese bürgerlichen Künstler in der ethischen Vervollkommnung des Menschen, in der Bejahung und Bewahrung „unvergänglicher" und „über den Klassen" stehender Werte eine Alternative zur gewaltsamen Veränderung der Verhältnisse zu sehen. Damit wurden sie zu Vertretern jener übernational verbreiteten bürgerlichen Kunstkonzeption, nach der der Literatur und Kunst vor allem eine „ a l l g e m e i n m e n s c h l i c h e R e p r ä s e n t a n z " zukam und die in Deutschland Ende der zwanziger Jahre z. B. im Werk Hermann Hesses oder Franz Werfeis 2 1 9 belegt werden kann. Diese Konzeption lief auf funktionaler Ebene darauf hinaus, Kunst und Literatur nicht in den Dienst bestimmter gesellschaftlicher Kräfte, sondern des Menschen schlechthin zu stellen. Für ihre bulgarische Variante ist charakteristisch, daß sie zwar die B e w a h r u n g des Menschlichen als Hauptstoßrichtung des Humanismus eines Hesse oder Werfel teilte, dem nationalen Moment aber dabei eine ungleich größere Bedeutung einräumte. Die Bewahrung des Menschlichen deckte sich hier weitgehend mit der Bewahrung des bulgarischen Geistes, mit der Bewahrung der althergebrachten Tugenden. In der programmatischen Devise „Zurück zum Heimatlichen!" war das Heimatliche ein Inbegriff des Nationalen und Humanen zugleich. Bedingt wurde diese enge Koppelung des Humanen mit dem Nationalen durch die große Aktualität der Konzeption einer „Heimatkunst" im bulgarischen ästhetischen Bewußtsein Anfang bis Mitte der zwanziger Jahre. Sie nahm den Charakter einer Bewegung an, die Maler, Komponisten und Schriftsteller vereinte und von der die literarische Avantgarde wesentliche Impulse empfing. Kennzeichnend für diese Bewegung ist, daß sie ideell zur Zeit ihrer Entstehung (um 1920) weitgehend von einem konservativen Antikapitalismus getragen wurde, während sie sich in poetologischer Hinsicht als eine Art Opposition zum Symbolismus verstand. Die Devise „Zurück zum Heimatlichen" bedeutete vor allem „Zurück zum Patriarchalischen" bzw. „Zivück zum Ursprünglichen, zum Primitiven" 220 . Es handelte sich also um einen Antikapitalismus, der - ähnlich wie die Ideologie der deutschen „Heimatkunst" -
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auf „geistige Restauration" aus war und die Heimat einseitig als einen von der modernen Entwicklung noch „unverdorben" gebliebenen Raum faßte. 221 Weil die Bewegung n a c h dem Septemberaufstand 1923 aber auch auf die literarische Avantgarde übergriff und gerade hier zur großen ästhetischen Brisanz gelangte, erhielt sie einen aktuellen politischen, antifaschistischen Charakter. Die Beschwörung des Vergangenen wurde umfunktioniert. Sie mündete hier nicht - wie so oft in der deutschen „Heimatliteratur" - in völkische Überlegenheitsansprüche, förderte nicht primär den Nationalismus, sondern verband sich mit dem Bestreben nach Bewahrung des Humanen. Die Ablehnung des Symbolismus ihrerseits war nicht nur eine „innerliterarische" Reaktion auf dessen sprachlich-formal nivellierende und standardisierende Tendenzen, die sich vor allem in der bulgarischen Lyrik nach 1907 parallel zur Vervollkommnung des poetischen Ausdrucks bemerkbar machten222, eine Reaktion mithin, die der symbolistischen Stilisierung und Schematisierung der Wirklichkeit Ursprünglichkeit und Vitalität, Gegenständlichkeit und Konkretheit entgegensetzen wollte.223 Diese Ablehnung resultierte auch aus der Wiederbelebung und Weiterführung des Konzepts aus dem Kreis „Missal", nach dem die bulgarische Literatur den Anschluß an das Niveau der „europäischen" Literatur künstlerisch wie ideellthematisch nur unter der Beibehaltung ihres nationalen Charakters erreichen könne, eine Auffassung, die die Symbolisten (erinnert sei hier an Bogomilski legendi von Nikolai Rainow) weitgehend ignor rierten.22/' Erschöpfte sich aber das nationale Moment bei Pentscho Slawejkow oder Petko Todorow oft im besonderen Kolorit ihrer Werke und dem spezifisch bulgarischen Rahmen (Atmosphäre, Milieu, Bräuche), in dem sich das für sie Wesentliche - die inneren Widersprüche der individualistischen Persönlichkeit bzw. deren Konflikte mit der Gesellschaft - abspielte, so bekam dieses Moment bei der „Heimatkunst" eine weit wichtigere Funktion. Das Nationale wurde hier zur Existenzform, ja zur Verkörperung des Menschlichen und Ethischen schlechthin, das es gegen die zerstörenden Faktoren in der zeitgenössischen sozialen und politischen Wirklichkeit zu verteidigen galt. Wie unterschiedlich dies bei der Avantgarde und bei Jowkow vor sich ging, zeigt ein Vergleich mit Straschimirows Reigen. Dort sollte der Leser über das grotesk-erschreckende Bild v e r l o r e n e r nationaler Tugenden, über die Entlarvung und Anklage des Faschismu» 184
zur Bewahrung und Verteidigung humaner Werte mobilisiert werden. Jowkow wandte zum selben Zweck eine andere, den Bezug zum aktuellen politischen Geschehen und zu den brennenden sozialen Problemen meidende Wirküngsstrategie an. E r wollte dem Leser die humanen Werte, die im Nationalen steckten, direkt vorführen und auf ihn nicht - wie Straschimirow - durch das negative Beispiel, durch die Evokation negativer Gefühle und Empfindungen einwirken. D i e Einflußnahme hatte auf dem Wege der „inneren Läuterung", des „veredelnden emotionalen Erlebnisses" zu erfolgen, d. h. über einen komplizierten Mechanismus der Aktivierung schlummernder „positiver" seelischer Energien. Jowkows Spruch, die Kunst habe in erster Linie „besondere Freude zu bereiten", ist erst in diesem Zusammenhang richtig zu verstehen. Demnach hat ein künstlerisches Werk seinen Zweck dann erfüllt, wenn es dem Leser ein seelisch „erhebendes" und läuterndes Erlebnis zu bieten, das Menschliche in ihm anzusprechen und zu fördern vermag. D a ß es bei dieser funktionalen Verabsolutierung einer Vervollkommnung der ethischen Natur des Menschen bei Jowkow nicht in erster Linie auf den Stoff, sondern auf die W e i s e ankam, wie er bearbeitet wurde, ist naheliegend. Dies macht übrigens seine eingangs zitierte Äußerung begreiflich, daß es für die Kunst unerheblich sei, was sie behandelt bzw. woher - aus der Gegenwart oder der Vergangenheit - sie ihre Themen und Probleme bezieht. In Jowkows Schaffen zeigte sich jedoch, daß sich nicht jedes Material in gleichem Maße für diese Intentionen eignete, daß der Autor nicht sogleich die Stoffe und Themenkreise oder die Methode zu ihrer Bearbeitung fand, die sich reibungslos mit seinem Literaturverständnis in Einklang bringen ließen. Der erste große Materialkomplex, dem sich der Autor zuwandte und den er sich mehr als ein Jahrzehnt - zwischen 1913 und 1926 immer wieder vornahm, war der Krieg. D i e Orientierung auf diesen Stoff war biographisch bedingt. Jowkow war als Offizier sowohl an den beiden Balkankriegen 1912-1913 als auch am ersten Weltkrieg beteiligt, das Kriegsgeschehen gehörte daher zu den Grunderfahrungen seines Lebens. Bereits in dieser frühen Prosa, die - obwohl zum Teil recht skizzenhaft - ihm den Ruf eines hoffnungsvollen jungen Erzählers eintrug, versuchte Jowkow, sein humanistisches Ideal zur Geltung zu bringen und es mit bulgarischen Nationaltugenden zu verbinden. Wie schwierig dies angesichts des Kriegsstoffes und bei Jowkows Patriotismus war und wie oft - besonders in der ersten 185
Zeit - der Autor die beabsichtigte Wirkung verfehlte, davon zeugen Erzählungen wie Pametnijat den (Der denkwürdige Tag) oder Te pobedicha (Sie siegten), die die proletarisch-revolutionäre Literaturkritik dazu veranlaßten, im Verfasser einen Chauvinisten und Kriegsanhänger zu sehen. 225 Heute mag diese Ablehnung durch ihre Einseitigkeit und Zuspitzung befremden. Aus historisierender Sicht dürfte sie aber nicht völlig unberechtigt sein. In diesen ersten Erzählungen war Jowkow oft bemüht, die rauhe Wirklichkeit des Krieges mit den Tugenden und dem Leben des bulgarischen Bauern, der nun ein Soldatendasein führen mußte, in eine beinahe harmonische Übereinstimmung zu bringen. Er erzielte das, indem er die Bauern den Krieg als eine schicksalhafte Unausweichlichkeit, zugleich aber als eine Notwendigkeit, als eine Art „Arbeit" empfinden ließ, die sie mit der gleichen Selbstverständlichkeit und dem gleichen Pflichtgefühl verrichteten wie das Säen und Ernten in Friedenszeiten. 226 Auch fehlte in diesen Erzählungen nicht der Hang zum Ästhetisieren von Kriegsszenen. Jowkow wollte dem Leser ästhetischen Genuß bereiten und ihn seelisch beflügeln. Also ließ er sich vom kühnen, aufopferungsvollen Sturm der Soldaten auf feindliche Positionen (Edin spornen; Eine Erinnerung) oder vom Anblick galoppierender weißer Pferde (Belijat eskadron; Die weiße Schwadron) begeistern, von den zuckenden Blitzen und dem Getöse des Gefechts in eine fast mystische Ekstase versetzen (Kajpa; Kajpa). Fand er das „erhebende" Moment in der Schlacht selbst nicht, so versuchte er es dem Leser durch die eigentümliche Schönheit der Landschaft zu suggerieren, die nicht bloß die natürliche Kulisse für das Kriegsgeschehen war, sondern auch das „Heimatliche" verkörperte (Kraj Mesta; Neben Mesta). Fragt man sich, worin Jowkows Humanismus denn eigentlich zum Ausdruck kommt, so wird man die Antwort paradoxerweise vor allem in Dingen suchen müssen, die uns der Autor am Kriegsgeschehen bewußt vorenthält. Jowkows Bauernsoldaten werden in den verschiedensten Szenen und Situationen mit dokumentarischer Präzision dargestellt. Man erlebt sie bei langen, schweren Märschen und beim Träumen von Daheim. Man erfährt, was sie vor, während und nach der Schlacht bewegt. Eines aber bleibt tabu - das Töten des Feindes, der unmittelbare Zweikampf auf Leben und Tod. Bezeichnenderweise spart Jowkow nicht nur die Beschreibung solcher Episoden aus. Er vermeidet es auch konsequent, sie im Gespräch 186
und Bewußtsein seiner Figuren oder im Kommentar der Erzählinstanz zu reflektieren, obwohl sie zur Kriegswirklichkeit unbedingt gehören. Bis 1918 wagte sich der Autor nur in zwei Erzählungen an diese Problematik heran: Cudnijat (Der Wunderliche) und Bellte rozi (Die weißen Rosen). Dabei beschränkte er sich darauf, die seelische Belastung zu vermitteln, die der Anblick gefallener Soldaten oder das Leid ihrer Nächsten bei seinen einfachen, aber sensiblen Bauernfiguren bewirkte. Das Töten widersprach Jowkows Ethik zutiefst, es widersprach auch seinen Vorstellungen vom tugendhaften bulgarischen Bauern. Machte er es zum Gegenstand der Gestaltung, so hätte er sein ganzes Kriegsbild wesentlich korrigieren und schließlich eine pazifistische Haltung einnehmen müssen. Doch sein Patriotismus ließ das nicht zu. Um die Schärfe des angedeuteten Konflikts bei Jowkow zu verdeutlichen, muß darauf hingewiesen werden, daß sein Patriotismus keineswegs nur durch nationalistisches Ideengut geprägt - zumal hier zwischen dem Charakter des ersten und des zweiten Balkankrieges genau zu unterscheiden wäre227 - , sondern auch von einem ihn persönlich stark berührenden Faktor genährt wurde und schon deshalb besonders tief saß. Bulgarien hatte nämlich infolge des zweiten Balkankrieges erhebliche territoriale Verluste hinnehmen müssen, zu denen auch die Süddobrudscha gehörte.228 An diesem Gebiet aber hing Jowkow sehr: Er hatte dort die schönste Zeit seines Lebens verbracht - seine Jugend und die elf Jahre als Lehrer, in denen sich auch sein Weltbild weitgehend formte. Die Hoffnung, daß Bulgarien dieses Gebiet zurückerobern könne, hielt seine patriotischen Gefühle auch während des ersten Weltkrieges wach. Verallgemeinernd läßt sich sagen, daß viele Kriegserzählungen Jowkows ihre patriotische Wirkung auf den Leser zwar nicht verfehlten, daß sich in ihnen aber der Humanismus des Autors nicht immer recht entfalten konnte. Die meisten dieser Erzählungen sind gekennzeichnet von der Spannung zwischen Jowkows Überzeugung, den Krieg als eine Notwendigkeit und patriotische Pflicht ansehen zu müssen, und der Unvereinbarkeit der Kriegswirklichkeit mit dem Moralkodex seiner Bauern und mit seinem eigenen humanen Empfinden. Erst gegen Ende des ersten Weltkrieges und vor allem in der Zeit danach, als Jowkows Patriotismus zunehmend dem Gefühl der Ernüchterung und Enttäuschung wich, zumal die Süddobrudscha nun 187
endgültig verloren war, trat die humanistische Komponente seiner Kriegserzählungen unbelastet vom national-politischen Ressentiment hervor. Diese Entwicklung veranschaulicht Jowkows letzte Kriegserzählung, Posledna radost (Letzte Freude; 1926), eindrucksvoll. Ihre Hauptfigur ist nicht mehr der pflichtbewußte Soldat - wie Stoil in Zemljaci (Landsleute), auch wenn Jowkow ihn sich nach produktiver, friedlicher Arbeit sehnen ließ - , sondern der poetisch veranlagte und empfindsame Blumenverkäufer Ljuzkan, dessen patriotische Begeisterung an der Front sehr schnell verfliegt. Die Kriegsrealität verwirrt ihn, sie wird ihm zu einem Alptraum, an den er sich nicht gewöhnen mag. Getrennt von allem, was ihm lieb ist, seelisch traumatisiert von dem Grauen ringsumher, versucht er in eine eigene „innere Realität" zu flüchten, in der die Sehnsucht nach Schönheit und Harmonie weiterlebt. Auch sein Tod ist alles andere als heldenhaft. Er ist eine willkommene Erlösung von einer Welt, die unverständlich und unmenschlich geworden ist. Der letzte Blick Ljuzkans bleibt an einer kleinen weißen Kamille hängen, die mitten auf dem Schlachtfeld blüht, zur Verkörperung der „inneren Realität" der Figur wird und in ihrer schlichten Schönheit das ganze Kriegsgeschehen ad absurdum führt. Die Schaffung einer „zweiten" Realität als Projektion des Innenlebens einer Figur, der Jowkows ganze Sympathie galt, erwies sich als wichtige Erfahrung bei der Herauskristallisierung von Jowkows ästhetischen Verhältnis zur Wirklichkeit. Sie legte ihm die Möglichkeit nahe, einen Schritt weiterzugehen, indem er diese „zweite" Realität von ihrem konkreten Träger löste, sie „verselbständigte"' und zum eigentlichen Gegenstand der Gestaltung machte. Die Funktion dieser neuen Realität war klar: Sie hatte die Ideale des Autors zu verkörpern, das Modell einer Welt zu sein, die der zeitgenössischen Wirklichkeit entgegengesetzt werden und im Leser das „Gute" sowie die Besinnung auf die althergebrachten nationalen Tugenden fördern sollte. Nach Petko Todorows Idyllen, in denen die Realität - entsprechend folklorisiert und zum Teil enthistorisiert - lediglich als eine Arena zur Austragung der Konflikte der individualistischen Figur diente, war das der zweite bedeutsame Versuch in der bulgarischen Prosa, sich der Wirklichkeit gegenüber nicht nur „reproduktiv" zu verhalten (und erst durch die Art dieser „Reproduktion" die jeweiligen ideellen Intentionen zu realisieren), sondern sie von vornherein einem v o r g e f a ß t e n Modell bzw. Konzept von der Welt unterzuordnen. 188
Der r o m a n t i s c h - u t o p i s t i s c h e Kern des Jowkowschen „Weltmodells", das auf der sittlichen Kraft des Menschen, ja auf ihrer Allmacht gründete, liegt auf der Hand. Der Schriftsteller hat es mit großer Wirkungskraft an zwei Materialkomplexen umgesetzt, die mit der Kulturtradition und der Vergangenheit des bulgarischen Volkes aufs engste verbunden waren: an den nationalen Überlieferungen und am Leben der Bauern in der Dobrudscha vor den Balkankriegen. So entstand Jowkows reife Kurzprosa: Staroplartinski legendi (Balkanlegenden; 1927), der Erzählungsband Zensko särce (Ein Frauenherz; 1935) sowie die Zyklen Veceri v Antimovskija chan {Im Gasthof zu Antimowo; 1928) und Ako mozecha da govorjat (Wenn sie sprechen könnten; 1936). Dies zusammen stellt nicht nur in künstlerischer, sondern auch in gattungsgeschichtlicher Hinsicht das Bedeutendste in seinem Schaffen dar. 229 Im Rahmen unserer Studie kann nicht auf alle diese Werke eingegangen werden. Wir wollen uns hier weitgehend auf die Balkanlegenden beschränken, die die wesentlichen Momente der Neuleistung Jowkows enthalten. Zwei Fragen verdienen in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit: Wie ging Jowkow mit der Folklore als Quelle für seine Legenden um? Wie strukturierte er das Material, um den Effekt der „zweiten" Realität im besprochenen Sinne zu erreichen, einer Realität, die auf den Leser läuternd wirken oder - um mit den Worten des Schriftstellers selbst zu reden - ihm „eine besondere Freude" bereiten sollte? Zunächst zur Wahl der Legende. Im Gegensatz zu den biographisch bedingten Kriegserzählungen handelt es sich hier um Material, dem sich Jowkow ganz gezielt zuwandte, weil es ihm zur Realisierung seines Literaturkonzeptes, in dem der Verbindung von Nationalem und Ethischem entscheidende Bedeutung zukam, besonders geeignet erschien. Die auf Volksüberlieferungen, vor allem auf Sagen und Volkslieder bauenden litirarischen Legenden des Autors schöpften aus einer patriarchalischen Welt mit klaren und festen Lebensformen, für ihn die „Emanation" des Heimatlichen, des Nationalen. Wie sehr es Jowkow darum ging, Wesen und Wert dieses „Heimatlichen" herauszustellen, und was er damit bezweckte, ist einer Äußerung über Aleko Konstantinows Bai Ganju deutlich zu entnehmen: „In der Entwicklung unseres Volkes hat dieses Werk eine schädliche Rolle gespielt. Der Bulgare esse nicht wie der Europäer und bade nicht wie er, na und? Ist das der Kern eines Volkes? Und ist das die richtige Weise, um die Selbsterkenntnis des Bulgaren 189
zu fördern? Es paralysierte ihn. Der Bulgare schloß daraus, daß er den Europäer nachahmen, daß er .Europäer' werden solle, und er begann sich des Eigenen zu schämen . . . Auf diese Weise vollzog sich jener Bruch mit der Lebensweise und den Traditionen, jene Veränderung in der Seele des Bulgaren, die wir heute so bedauern und zu korrigieren suchen . . . Es ist wahr, Aleko machte sich nicht über das Volk lustig, sondern über die Intelligenz, die damals noch eine ,Halb-Intelligenz' war. Das ändert aber nichts an dem Malheur . . , " 2 3 0 Daß Jowkow das soziale Wesen der Baj-Ganju-Figur sehr ungenau faßte, ja weitgehend verkannte, ist ersichtlich.231 Für uns von Bedeutung ist aber die Schlußfolgerung, daß es dem Autor bei den Balkanlegenden (und auch in den Dobrudscha-Erzählungen) nicht so sehr um eine „Demonstration" nationaler Tugenden gegangen sein dürfte, sondern vielmehr um ihre „Rehabilitierung", um den Versuch, sie als „unvergängliche Werte", als beispielhaft und aktuell auch für die Zeitgenossen zu gestalten. Die unvergängliche Leistung ist darin zu sehen, daß Jowkow dennoch k e i n e g e i s t i g e R e s t a u r a t i o n d e r V e r g a n g e n h e i t b e t r i e b , daß es ihm gelang, im Gewand der zurückliegenden patriarchalischen Zeit eine eigene, Jowkowsche „Welt" zu bilden, die so beschaffen war, daß sie das nationale Selbstbewußtsein des Bulgaren stärken und vor allem zu seiner ethischen Vervollkommnung beitragen sollte. Erreicht wurde das durch ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren, die zugleich die Spezifik der Jowkowschen Balkanlegenden ausmachen. An erster Stelle wäre hier die weitgehende Enthistorisierung des Materials zu nennen. Forscher haben anhand der Folklorequellen ermittelt, daß die Legenden in der Zeit zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts und den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts anzusiedeln wären232, doch in keiner der zehn Arbeiten ist das historische Moment als eine konkrete soziale und politische Realität präsent. (Eine Ausnahme ist bis zu einem gewissen Grade die Legende Junaski glavi (Heldenköpfe), deren Sujet sich auf den Aprilaufstand von 1876 bezieht.) Auch bei der Anordnung der Legenden hat Jowkow auf jegliche historische Kontinuität verzichtet, so daß weder innerhalb der einzelnen Legende noch innerhalb des gesamten Zyklus das Historische als ein materialorganisierendes Prinzip erscheint. Im Gegenteil. Überall herrscht eine „abstrahierte", geschichtlich nicht genau fixierbare und deshalb my190
thisiert wirkende Zeit, die sich aus der Sicht des Autors anschaulich als „die Zeit der Helden und der Heldentaten" beschreiben läßt. 2 3 3 In dieser mythisierten Zeit war für „kleinliche" alltägliche Dinge oder für zeitgebundene und daher „vergängliche" soziale Widersprüche kein Platz. Was zählte, waren außergewöhnliche und bewundernswerte Taten, denen starke Leidenschaften oder überwundene schwere innere Konflikte zugrunde lagen und in denen sich „ewige" menschliche und ethische Werte offenbarten. Träger dieser Werte in den Legenden sind der starke und kühne Heiducke (Schibil, Indshe, Krajnalijata) und die junge Bäuerin, deren Schönheit für die Männer zum Schicksal wird. Sie krempelt deren ganzes bisheriges Leben um (Rada, Ranka, Shenda), ihre Liebe fürchtet nicht einmal den Tod (Ticha, Boshura). Würde, Stolz und die Entschlossenheit, den einmal gewählten Weg ohne Zögern bis zum - meist bitteren Ende zu gehen, aber auch Großmut und Selbstaufopferung zeichnen fast alle „positiven" Figuren aus. Idealisiert bzw. romantisch überhöht, sind sie vom einfachen, tugendhaften patriarchalischen Bauern weit entfernt. Sie stellen vielmehr Jowkows eigenes Ideal vom „richtigen" Bulgaren und Menschen dar, dessen Drang nach Selbstverwirklichung ihn zwangsläufig immer wieder mit seiner Umgebung, das heißt auch mit den Normen des patriarchalischen Lebens, in Konflikt führt. Freilich ging es Jowkow nicht in erster Linie um die Konflikte an sich. Entscheidend für ihn war, in der Verhaltensweise oder den inneren Wandlungen der Figuren jene „erhebenden Momente" künstlerisch einzufangen, die sie als Persönlichkeiten von hohem ethischen Wert reifen ließen und die beim Leser eine kathartische Wirkung auslösen sollten. Dies bedingte die oft sehr freie Umgangsweise mit dem Folklorematerial sowie die besondere Struktur der Legenden, ihren eigentümlichen „Lyrismus". Ein Beispiel für den freien Umgang mit der Folklore liefert die Legende Sibil (Schibil). Hier ist fast alles anders gestaltet, als die Volkslieder und Überlieferungen über den Räuber Mustafa, genannt Schibil, zu berichten wissen. Der gewöhnlich als untersetzt, wild und brutal beschriebene Mann 23 " hat Mitte des 19. Jahrhunderts nachweislich ganze Gegenden im Balkangebirge jahrelang in Schrekken versetzt. Im Gedächtnis des Volkes war er außer mit seinen Plünderungen und Morden auch mit seinem Verhältnis zu einer verheirateten Frau mit lockerem Lebenswandel namens Dshenda oder 191
Radka verhaftet. Der Tod soll ihn in einer Falle ereilt haben, die ihm die türkischen Häscher stellten. In Jowkows Legende wird der Räuber Schibil fast bis zur Unkenntlichkeit romantisch verklärt. Er, der gefürchtete Heiduckenanführer, wird von der Schönheit Radas, der Tochter eines Dorfreichen, die ihm absichtlich zugespielt wird, so beeindruckt, daß er sich binnen kurzer Zeit innerlich völlig wandelt. Er gibt das Rauben auf, trennt sich von seiner Schar und stellt sich den Behörden, nachdem man ihm durch Rada hat ausrichten lassen, daß man ihm alles vergibt und er sie zur Frau nehmen kann. Rada, die Schibils Liebe erwidert und von ihrer Rolle als Köder nichts ahnt, erwartet ihn am vereinbarten Tag. Als Schibil unbewaffnet und mit einer roten Nelke erscheint, wird auf ihn geschossen. Auch Rada, die ihm entgegenläuft, wird getroffen. „Wie ein Blutfleck zwischen den beiden Toten bleibt die rote Nelke auf dem Boden leuchten." 235 Man merkt: Vom Folklorematerial nutzte Jowkow nur den Fakt, daß Schibil ein Räuber war, und eine Situation - die Falle. Doch welche Schlüsselbedeutung Jowkow dieser Situation zur Realisierung der Legende beimaß, geht schon daraus hervor, daß er sie dem Text voranstellte: „An der Pforte stand Rada, Mustafa kam die Straße herauf." 236 Auf den ersten Blick scheint dieses Motto dem Erzählten lediglich eine Art von „Authentizität" verleihen zu sollen, und zwar ganz im Geiste des folkloristischen Bewußtseins, nach dem die Volkslieder als „Gedächtnis des Volkes" genauso glaubwürdig und „wahr" sind wie das Dokument. Betrachtet man aber diese Situation, wie sie dem Volkslied entnommen war, etwas näher, so fällt auf, daß sie in jeder Beziehung „offen" ist: sowohl in bezug auf die Fabel und den Charakter der Figuren als auch in bezug auf den Konflikt und dessen Lösung. 237 In Jowkows Legende erfährt die Situation durch die gründliche Umwertung des Quellenmaterials nicht nur eine neue und genaue Determinierung. Sie wird zugleich zum Kulminationspunkt der Handlung, die die Lösung des Konflikts unmittelbar einleitet, und sie erhält als Ausdruck des bedingungslosen Bekenntnisses Schibils zu seiner Liebe und seiner Bereitschaft, dafür auch das Leben zu riskieren (denn er schließt die Möglichkeit, in eine Falle zu geraten, nicht aus), jenes die Figur über das Alltägliche und Banale erhebende Moment, das im Leser das läuternde emotionale Erlebnis bewirken sollte. Es wäre natürlich eine grobe Vereinseitigung, würde man nur in 192
dem Motto, das übrigens ein durchgehendes Aufbauprinzip in allen Legenden ist, und seiner Funktion im Text die Rolle der Folklore bei der künstlerischen Umsetzung der ideellen Intentionen des Autors sehen. Den Volksliedern und Sagen entnahm Jowkow gelegentlich viele konkrete Details, die allerdings nie eine „dekorative", lediglich die patriarchalische Lebensweise illustrierende Funktion erfüllten (wie dies bei fast allen bulgarischen Realisten vor ihm und oft auch bei Petko Todorow im Umgang mit der Folklore der Fall war). Sie wurden stets mit der „Musik des Ganzen" 238 - mit der Charakterisierung der Hauptfigur und der an sie geknüpften moralischen Problematik - abgestimmt. Ein Beispiel dafür ist die Legende Indze (Indshe), in der Jowkows Bestreben, sich beim Fabelaufbau weitgehend an das Quellenmaterial zu halten, ihn nicht hinderte, durch entsprechende Selektion der überlieferten Details und ihre Verbindung mit fiktiven Momenten die Akzente so zu setzen, daß die sagenhafte Figur des Indshe eine neue Bedeutung erhielt. Ohne an dem Kern der Überlieferung zu rütteln, nach der Indshe sich nach jahrelangen Raubzügen plötzlich ändert und zum Beschützer der früher von ihm erbarmungslos ausgeplünderten Dorfbevölkerung wird, konzentrierte sich Jowkows Legende auf die Motivation für diese Wandlung sowie auf die näheren Umstände des Todes ihres Helden. Schenkte die Folklore dieser Motivation keine Aufmerksamkeit, weil für sie hauptsächlich die soziale Tat zählte, so widmete Jowkow in seiner Arbeit ganze Seiten jenen Ereignissen, die der ethischen „Metamorphose" Indshes vorausgingen und sie vorbereiteten: Indshes Frau verläßt ihn, nachdem er sein Kind zu töten versuchte, weil „ein Heiducke kein Kind ernährt" 239 ; einer seiner treuesten Gefährten schießt auf ihn und verletzt ihn, weil er sich so unmenschlich verhält; und schließlich wird er von einem Geistlichen verflucht, als Indshes Leute diesen umbringen. All das führt dazu, daß in dem grausamen Mann, der zuvor „nie zwischen Gut und Böse einen Unterschied machte und sich nie fragte, was Sünde sei"2'10, das Gewissen und damit auch der Wille zur „Wiedergutmachung" erwachen. Starb Indshe nach der Sage völlig „unschuldig" von der Hand eines geistesgestörten Buckligen, so ist in Jowkows Legende sein Tod die unausbleibliche Sühne für begangene Sünden, wobei sein eigener, durch ihn verkrüppelter Sohn als Mörder in Aktion tritt. War Indshe in der Erinnerung des Volkes vor allem der B e s c h ü t z e r geblieben, dem man die vorausgegangenen Untaten längst verziehen, ja fast vergessen hatte, so 13 Witschew, Bulg. Prosa
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sah ihn Jowkow in erster Linie als S ü n d e r , der trotz der ihn läuternden Wandlung für seine Verbrechen am Sohn und am Volk unweigerlich büßen muß. Auf diese Weise zerstörte Jowkow den in der Folklore primär auf die soziale Rolle Indshes bauenden Mythos und setzte ihm einen neuen, „Jowkowschen" Mythos von Indshe entgegen, der sich auf die beschriebene Verabsolutierung ethischer Werte gründete. 2,51 Zum Umgang mit der Folklore müßte noch ergänzt werden, daß Jowkow für seine Legenden nicht allein Überlieferungen über historische Persönlichkeiten, sondern auch Materialien nutzte, die von Notzeiten in der Vergangenheit (Prez cumavoto; In der Pestzeit) oder Glaubensvorstellungen des patriarchalischen Bauern (Kosuta; Die Hirschkuh) berichteten. Das Reizvolle solcher Überlieferungen bestand für Jowkow darin, daß Realität und Phantastik sich in ihnen verflochten. Dabei war weniger das Phantastische oder Irrationale an sich von Belang, als dessen Einbeziehung in die Erzählstruktur in der Funktion eines Mittels, das die Dinge und Ereignisse im „realen" Leben aus ihrer empirischen Eindeutigkeit herausführt und den in ihnen verborgenen „tieferen Sinn" - was für Jowkow immer den Zusammenhang mit hohen ethischen Werten bedeutete - erschließt. Auch in den Dobrudscha-Erzählungen, die aus dem Leben einfacher Menschen auf dem Lande schöpften und die ein beredtes Zeugnis für Jowkows demokratische Haltung ablegen, bediente sich der Autor gelegentlich solcher Überlieferungen (Mora; Alptraum). Im Unterschied zu Petko Todorow, der z. B.- dämonische Gestalten aus diesen Überlieferungen in seine Werke unreflektiert übernahm (bei ihm ist der Drache in Menschengestalt „wirklich" ein Drache 242 ) und ihnen eine Symbolfunktion übertrug, distanzierte sich Jowkow ironisch von der genutzten phantastischen Begebenheit oder Gestalt. Er verlieh ihr so eine Ambivalenz, die einerseits das Geschilderte als „Schein", als eine Frucht der Phantasie „entlarvte" oder „entmythisierte", andererseits aber die Wirklichkeit, in der es angesiedelt war, aus ihrer „Banalität" und „Gewöhnlichkeit" herausriß. In dieser Atmosphäre gewannen die inneren Erlebnisse der Figuren und die moralischen Werte, um die es Jowkow ging, an Bedeutung und Prägnanz, die ideelle Aussage erhöhte ihre Suggestivkraft. Gerade in solchen Arbeiten näherte sich Jowkow sehr dem ästhetischen Verhältnis der Avantgarde zur Wirklichkeit (aber nicht in Richtung des „grotesken Stils" Straschimirows, sondern in Richtung des „weichen Lyrismus" Angel Karalijtschews). Er entfernte sich 194
damit vom „Empirismus" und von der in der Regel „einschichtig"eindeutigen Aussage des vorausgegangenen bulgarischen Realismus. Jowkows grundsätzliche Abkehr von einer empirisch-deskriptiven Gestaltung der Wirklichkeit (die für den überwiegenden Teil seiner Kriegserzählungen mit ihrem Hang zum Chronikhaften und Dokumentarischen noch kennzeichnend war) und sein Bestreben, der Realität die für ihn einzig „wahre", innere geistig-moralische Dimension abzugewinnen, in der sich seine ethischen Vorstellungen spiegelten, zogen gravierende Neuerungen in der Struktur der Legenden und der Dobrudscha-Erzählungen nach sich. Auf eine kurze Formel gebracht, bestehen sie in der auffälligen Verminderung der Rolle des Ereignisses und der Handlung bei gleichzeitiger Erhöhung der Rolle der Komposition sowie des plastischen Details und des Bildes. Den Zusammenhang zwischen dieser spezifischen Struktur der reifen Kurzprosa, dem ästhetischen Verhältnis zur Wirklichkeit und dem Menschenbild bei Jowkow hat Iskra Panowa, eine bedeutende Jowkow-Forscherin in Bulgarien, folgendermaßen bildhaft reflektiert: „Die Welt ist nicht der Antrieb des Konflikts in der Erzählung Jowkows, sondern nur der Rahmen, der das Bild umfaßt und zugleich abhebt." 243 In der Jowkowschen „zweiten Realität" im oben besprochenen Sinne ist die Figur von der Welt und somit vom Ereignis weitgehend unabhängig. Die Figur hat ihr „beständiges menschliches Wesen", in ihr schlummern „ewige" ethische Werte. Das Ereignis, die Einwirkung der Wirklichkeit, verändert deshalb im Prinzip kaum ihren Kern. Es trägt lediglich dazu bei, daß dieser Kern ans Tageslicht tritt, daß er sich offenbart. Erfährt die Figur dabei doch eine innere Wandlung, so ist diese nichts weiter als ein Prozeß des Reifens, der Selbstfindung. Diese Wandlung ist kein qualitatives „Anderswerden". So gibt es in Jowkows Welt „nichts Neues, es gibt .Ewiges', es gibt einen ,Wesenskern', der auf das Ereignis wartet, um sich manifestieren zu können"2'1''. Die sich daraus beinahe zwangsläufig ergebende untergeordnete Funktion des Ereignisses bzw. der Handlung ist besonders in Jowkows späteren Arbeiten zu spüren, in denen mitunter kaum etwas „passiert" (viele Erzählungen im Zyklus Ako mozecha da govorjat). Die Offenbarung „ewiger" menschlicher Werte, die Exposition des geistig und emotional „überhöhenden" Moments wird hier bei einem zunehmend „neutralen" Erzählen (ohne Einmischungen und Wertungen seitens der Erzählinstanz) 243 weitgehend der Komposition und dem plastischen Bild überantwortet. 13*
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Die Aufwertung des plastischen Bildes läßt sich als Tendenz an fast jeder nach 1925 entstandenen Erzählung demonstrieren. In Albena (Albena) z. B., einer relativ frühen Dobrudscha-Erzählung, geschieht nichts weiter, als daß man - beinahe am Rande - erfährt, wer den Mann Albenas mit ihrer Beihilfe ermordet hat. Mittelpunkt der Gestaltung ist die Szene mit der Abführung Albenas oder, genauer, die Beschreibung jener seelischen Bewegung, die ihr großer persönlicher Charme in den Bauern - egal, ob Männer oder Frauen auslöst. In dieser Szene, die in ihrer plastischen Abgeschlossenheit und inneren Dynamik wie ein gemaltes Bild wirkt, offenbart sich eindrucksvoll die Sehnsucht der Bauern nach Schönheit, eine Sehnsucht, die sie läutert und „gut" macht und die sogar ihr Festhalten an traditionellen Moralgeboten für eine Zeitlang vergessen läßt: „Albena war schon ganz nahe. Sie ging voraus, und hinter ihr schritten die beiden Polizisten. Es gab niemand, der Albena nicht kannte, doch als man sie wieder aus der Nähe sah, hielten alle den Atem an. Albena war immer noch die gleiche, nur daß sie nicht lachte, ihre Augen blitzten nicht wie vordem, sondern blickten unter den feingeschwungenen Brauen zu Boden. Sie trug ein blaues Überkleid und ein kurzes, mit Fuchspelz verbrämtes Jäckchen. Die Hände hatte sie demütig gekreuzt, als ginge sie zur Kirche. Doch als sie durch die Menschenmauern schritt, hob sie den Blick. Dieser Blick, den jeder Mann kannte und der jetzt noch schöner war, weil Leid daraus sprach, diese feingeschwungenen Brauen und dieses bleiche Antlitz schienen einen Zauber auszustrahlen, der alle bezähmte und berauschte. Sie war sündig, diese Frau, aber sie war schön. Die Frauen, die sie hatten beschimpfen wollen, blieben stumm, und Großvater Wassiljus Stock rührte sich nicht."2/l6 Auf Jowkows Gabe, seine ideellen Intentionen anhand des plastischen Details oder Bildes und unter weitgehendem Verzicht auf psychologische Figurenanalysen zu realisieren, machte bereits 1947 der Kritiker Iwan Meschekow aufmerksam: „ . . . die äußeren Bewegungen der Figuren sind für Jowkow . . . ein Zeichen des inneren Seelenlebens. Er wählt nur diejenigen aus, die für ein grundlegendes seelisches Erlebnis typisch erscheinen, und er beschreibt nicht direkt . . . die Gefühle, die Gedanken und Empfindungen." 247 Diese Besonderheit seiner Poetik erklärt, warum Jowkow oft als ein „Maler der visuellen Welt" 248 bezeichnet wird, warum er selbst betonte, daß er zuerst nach einem geeigneten plastischen Bild suchte, ja dieses Bild unbedingt brauchte (z. B. die Szene mit der Falle in 196
Schibit), um ein Motiv überhaupt künstlerisch umzusetzen, um eine „Geschichte" zu schreiben. Auch diese gegenständliche und visuelle Gestaltungsweise, die ganze Partien des Textes wie Szenen aus einem Drehbuch wirken läßt, weist deutliche Bezüge zur Poetik der bulgarischen Avantgarde auf. Diese Gegenständlichkeit hatte genauso wie bei der Avantgarde nichts mehr mit der empirisch-deskriptiven Darstellung der Wirklichkeit gemeinsam, wie sie für die bulgarischen Realisten der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts kennzeichnend gewesen war. Sie war nach den Symbolisten zwar eine Rückkehr zum Konkreten und Materiellen im Leben, doch auf einer höheren Ebene, die sich durch geistige Durchdringung der Dinge, durch die Aufdeckung ihres verborgenen Wesens auszeichnete und die es vor allem ermöglichte, dem Realen und Alltäglichen einen poetischen Glanz abzugewinnen. Jowkows Reserviertheit gegenüber dem äußeren Ereignis als Mittel zur Aufdeckung der „wahren" Natur des Menschen und der Dinge zog auch eine eigenwillige, mitunter recht komplizierte Komposition der Erzählungen nach sich. Begann Elin Pelin seine Kurzprosa in der Regel mit einem Moment der Handlung, das der Lösung des Konflikts unmittelbar vorausging, und steuerte er den Erzählfluß ohne Umwege auf die Lösung zu, so ist in Jowkows Arbeiten eine solche „Geradlinigkeit" undenkbar. Er „eröffnet" zwar seine Erzählung auch häufig mit einer Szene oder Episode, die mit der inneren Wandlung der Figur oder einem anderen Höhepunkt der Handlung verknüpft ist, doch dieser Szene folgt dann sofort ein ausgedehnter Rückblick, in dem die Vorgeschichte des Falls oder Biographisches über die Figur erzählt wird (natürlich sehr selektiv und strikt auf die ethische Problematik bezogen, deren Träger die Figur ist). Da diese Rückwendungen nicht selten durch ein Fortschreiten der Haupthandlung unterbrochen werden, entsteht der Eindruck einer „Hin-und-Her-Bewegung" bzw. eines „Kreisens" um den Beginn 249 , bis schließlich die Finalszene alle kompositorischen „Umleitungen" in ein plastisches Bild münden läßt. Wie das plastische Bild, so übernahm auch die Komposition in Jowkows Erzählung wichtige Funktionen bei der Realisierung des ideellen Anliegens. Einerseits half sie, dem „behandelten Fall" durch entsprechende Anordnung der Fakten und die daraus resultierenden Akzentlegungen und assoziativen Beziehungen einen solchen „Sinn" zu geben, daß er - wie immer er liegen mochte -
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s t e t s a l s e i n „ e t h i s c h e r " F a l l B e d e u t u n g g e'w a n n. Andererseits trug sie gerade durch die gezielte Anordnung des Materials zur Herstellung jener spezifischen „lyrischen Stimmung" bei, dank derer das Individuelle und Konkrete in Jowkows Erzählung verallgemeinert und überhöht wurde. Mit der Bedeutung der Komposition innerhalb des Inhalt-FormVerhältnisses in Jowkows Erzählwerk hängt die auffällige Tendenz zur Zyklisierung in seiner Kurzprosa zusammen. Gründete sich diese Zyklisierung in den Balkanlegenden noch auf die Einheit des Raums (der Balkan) und der („epischen") Zeit, so erweiterte sich diese Basis später in Im Gasthof zu Antimowo und Ako mozecha da govorjat. Das erfolgte durch die Einführung von Figuren, die ohne unbedingt als Hauptfiguren zu fungieren - in den Erzählungen eines Zyklus mehrfach wiederkehrten. Dies wiederum veranlaßte viele Literaturwissenschaftler, etwa im Zyklus Ako mozecha da govorjat eine eigenwillige R o m a n struktur zu sehen, die - nach Bai Ganju von Aleko Konstantinow - einen weiteren Beleg für den „Zyklusstrang" innerhalb der „polygenetischen" Entwicklung der bulgarischen Prosa zu größeren epischen Genres lieferte. 250 Unserer Meinung nach hat Jowkow mit dem Prinzip der Zyklisierung weder subjektiv eine neue Romanstruktur angestrebt, noch objektiv eine geschaffen. Wie neueste Forschungen nachweisen, hat jede Erzählung in den genannten Zyklen ihre relative Selbständigkeit behalten. Sie kann den überwiegenden Teil ihrer ästhetischen Funktionen ohne weiteres auch allein, außerhalb des Zyklus erfüllen. 251 Von Belang für uns ist jedoch, daß Jowkow den Zyklus dazu benötigte, die Vielschichtigkeit und Komplexität einer bestimmten Problematik in den Griff zu bekommen. Durch eine einzige Erzählung konnte er das nicht erreichen, zumal er sich vom Autorenkommentar und von direkten Wertungen entschieden distanzierte und vor allem auf das Visuelle und dessen Suggestivkraft baute. Wenn wir Jowkows ideelles Anliegen in Ako mozecha da govorjat auf die Formel bringen: „Es besteht eine tiefe innere Verwandtschaft zwischen allen Formen der lebendigen Natur, und die ethischen Normen haben Allgemeingültigkeit in dieser Natur", so lassen sich die Erzählungen in diesem Zyklus wie folgt bestimmen: Sie sind Versuche, diese These und diese Problematik anhand alltäglicher Episoden und Erlebnisse aus dem kollektiven Leben und Schicksal von Menschen und Tieren auf einem Gut in der Dobrudscha immer wieder mit jeweils neuen Akzenten und aus verschiedenen Blick-
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winkeln zu erörtern. Keine dieser Erzählungen allein hätte das große Thema auch nur annähernd erschöpft. Durch das Zusammenwirken aller Erzählungen aber gewinnt die ideelle Aussage Jowkows ihre Geschlossenheit und Dichte, die unvermeidliche „Einseitigkeit" der einzelnen Arbeit wird „überwunden" bzw. relativiert. So erweist sich das Verhältnis der Erzählung vom Zyklus nicht als Teil zum Ganzen in dem Sinne, daß der Teil durch keinen anderen ersetzt werden könnte ( d a n n nämlich hätten wir eine Romanstruktur), sondern vielmehr als eine Variante zum Ganzen. Abschließend sei darauf hingewiesen, daß Jowkow nicht allein über die Struktur der Erzählung seine Idee vermittelte. Einen großen Anteil sowohl an der Realisierung des kompositorisch gesteuerten Lyrismus als auch an der Brisanz und Suggestivkraft des plastischen Bildes hatte die Sprache. Doch wiederum nicht allein und zuerst dank ihrer beinahe sprichwörtlichen schlichten Schönheit und Natürlichkeit (ein Effekt übrigens, den Jowkow u. a. durch das Aussparen wertender Adjektive erreichte 252 ). Von entscheidender Bedeutung für die hohe Wirksamkeit gerade der Sprache war ihre syntaktische Organisiertheit, bei der sich der Autor in hohem Maße an die „lebendige" Sprache, die Umgangssprache, anlehnte. Diese Orientierung bedeutete für Jowkow „eine grundlegende Transposition der Sprache von der Ebene der Logik auf die Ebene des Gefühls und dessen Logik" 253 . Das Ergebnis war die typisch „Jowkowsche", nicht primär durch Worte, sondern durch die Stellung der Worte innerhalb der Phrase erzielte „emotionalisierte" Aussage: ein mitunter recht kompliziert aufgebauter Satz, der sich aber stets durch eigenen Rhythmus, eigenes Tempo und Kolorit auszeichnete und so dem vermittelten Inhalt stets eine nuancenreiche „Gefühlsbegleitung" beigab.
Der Reportageroman „Sporilov" und die so^ialpsycbologischen Romane von Georgi Karaslawow Die einzelnen Gattungen der sozialistischen Literatur in Bulgarien entfalteten sich vor 1944 sehr unterschiedlich. Während proletarischrevolutionäre Lyrik 2 ° 4 bereits in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstand und dank Autoren wie Christo Smirnenski und Furnadshiew schon Anfang/Mitte der zwanziger Jahre nationale Repräsentanz erlangte 255 , brachte es das Drama bis zum zweiten Welt199
winkeln zu erörtern. Keine dieser Erzählungen allein hätte das große Thema auch nur annähernd erschöpft. Durch das Zusammenwirken aller Erzählungen aber gewinnt die ideelle Aussage Jowkows ihre Geschlossenheit und Dichte, die unvermeidliche „Einseitigkeit" der einzelnen Arbeit wird „überwunden" bzw. relativiert. So erweist sich das Verhältnis der Erzählung vom Zyklus nicht als Teil zum Ganzen in dem Sinne, daß der Teil durch keinen anderen ersetzt werden könnte ( d a n n nämlich hätten wir eine Romanstruktur), sondern vielmehr als eine Variante zum Ganzen. Abschließend sei darauf hingewiesen, daß Jowkow nicht allein über die Struktur der Erzählung seine Idee vermittelte. Einen großen Anteil sowohl an der Realisierung des kompositorisch gesteuerten Lyrismus als auch an der Brisanz und Suggestivkraft des plastischen Bildes hatte die Sprache. Doch wiederum nicht allein und zuerst dank ihrer beinahe sprichwörtlichen schlichten Schönheit und Natürlichkeit (ein Effekt übrigens, den Jowkow u. a. durch das Aussparen wertender Adjektive erreichte 252 ). Von entscheidender Bedeutung für die hohe Wirksamkeit gerade der Sprache war ihre syntaktische Organisiertheit, bei der sich der Autor in hohem Maße an die „lebendige" Sprache, die Umgangssprache, anlehnte. Diese Orientierung bedeutete für Jowkow „eine grundlegende Transposition der Sprache von der Ebene der Logik auf die Ebene des Gefühls und dessen Logik" 253 . Das Ergebnis war die typisch „Jowkowsche", nicht primär durch Worte, sondern durch die Stellung der Worte innerhalb der Phrase erzielte „emotionalisierte" Aussage: ein mitunter recht kompliziert aufgebauter Satz, der sich aber stets durch eigenen Rhythmus, eigenes Tempo und Kolorit auszeichnete und so dem vermittelten Inhalt stets eine nuancenreiche „Gefühlsbegleitung" beigab.
Der Reportageroman „Sporilov" und die so^ialpsycbologischen Romane von Georgi Karaslawow Die einzelnen Gattungen der sozialistischen Literatur in Bulgarien entfalteten sich vor 1944 sehr unterschiedlich. Während proletarischrevolutionäre Lyrik 2 ° 4 bereits in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstand und dank Autoren wie Christo Smirnenski und Furnadshiew schon Anfang/Mitte der zwanziger Jahre nationale Repräsentanz erlangte 255 , brachte es das Drama bis zum zweiten Welt199
krieg auf nur wenige und kaum nennenswerte Werke. Eine Mittelstellung nahm die sozialistische Prosa ein, die zwar ebenso früh wie die proletarisch-revolutionäre Dichtung einsetzte (mit den Feuilletons und humoristisch-satirischen Erzählungen Georgi Kirkows 256 ), jedoch - sieht man einmal von ihrem Anteil an der literarischen Avantgarde ab 257 - erst in den dreißiger Jahren künstlerisch überzeugende Werke vorlegen konnte, die zugleich die bulgarische Prosa genremäßig, in bezug auf Figuren- und Themenwahl sowie die Darstellungsmethode erneuerten. Den Aufschwung verdankte die sozialistische Prosa Kommunisten wie Georgi Karaslawow, Krum Welkow, Orlin Wassilew oder Krastjo Belew, aber auch bürgerlich-humanistischen Autoren wie Ljudmil Stojanow - ein ehemaliger Symbolist und engagierter Verfechter der Programmatik der bulgarischen „Moderne" - , Gjontscho Belew und Maria Grubeschliewa, die Anfang/Mitte der dreißiger Jahre ein antifaschistisches Bündnis mit den proletarisch-revolutionären Schriftstellern eingingen und sich weitgehend deren Positionen näherten. Organisationsformen dieses Bündnisses waren der Ende 1931 gegründete „Bund der Schriftsteller des Arbeitskampfes" 258 sowie eine Reihe von Periodika wie Front na trudovoborceskite pisateli v Bälgari^a (1932-1933), Stit (1933-1934) oder Kormilo (1935-1936). Waren die sozialistischen Prosaiker zu Beginn der dreißiger Jahre noch ausschließlich darum bemüht, die Kämpfe der Arbeiterklasse und die Rolle der Kommunistischen Partei künstlerisch zu reflektieren, so erweiterten sie Mitte/Ende der dreißiger Jahre entschieden den Gegenstand der Gestaltung. In Anbetracht der Erfordernisse des antifaschistischen Bündnisses waren sie nun bestrebt, nicht nur die Erfahrungs- und Gefühlswelt des Proletariats, sondern auch die anderer Klassen und Schichten zu erschließen. Indem sie sich dabei dem Alltag und der Psyche des bulgarischen Bauern oder aber der nationalen Vergangenheit zuwandten und diese „traditionellen" Themen neu beleuchteten, erhöhten sie ihre Wirkungsmöglichkeiten, vermochten sie einen weit größeren Leserkreis anzusprechen als zuvor. Zugleich vermittelten sie den bürgerlich-demokratischen Autoren wichtige konzeptionelle Impulse insbesondere bei der Bearbeitung historischer Stoffe, die zu einem bevorzugten Feld der ideologischen Auseinandersetzung mit dem Faschismus wurden (Der jüngste Tag, 1934, von Stojan Sagortschinow, Ein purpurroter Stern, 1934, von Konstantin Petkanow u. a.).
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Die angedeutete Entwicklung sowie das künstlerische Niveau der sozialistischen Prosa in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre und zu Beginn der vierziger Jahre läßt sich am Erzählwerk Georgi Karaslawows exemplifizieren, der zu dieser Zeit neben dem Lyriker Nikola Wapzarow 259 der bedeutendste Repräsentant der sozialistischen Literatur in Bulgarien war. Karaslawows Prosa in den dreißiger Jahren läßt sich - in deutlicher Korrespondenz zu den Phasen, die die sozialistische Literatur als Ganzes in diesem Jahrzehnt durchlief - in zwei Etappen gliedern. Die erste ist gekennzeichnet durch den Roman Sporzilov (,Sporilov; 1931), den Erzählungsband Na post (Auf Posten; 1932) und die Powest Selkor (Der Dorfkorrespondent; 1933), in der zweiten - die Zäsur bildet das Jahr 1934260 - entstanden die herausragenden Romane Tatul (Stechapfel; 1938) und Snacba (Die Schwiegertochter; 1942). Aus der ersten Etappe ist Sporzilov für uns von besonderem Interesse: einmal als eine neue Prosastruktur, als erster bulgarischer Roman mit reportagehaften Zügen, und dann als Beleg für das Aufgabenverständnis der sozialistischen Literaturbewegung in Bulgarien v o r der Orientierung auf das Programm des antifaschistischen Bündnisses. In diesem Aufgabenverständnis machten sich gerade zu Beginn der dreißiger Jahre - parallel zum Erstarken der sozialistischen Literatur in der Zeit abgeschwächter faschistischer Diktatur zwischen 1929 und 1934 - neue Momente bemerkbar, indem nun nicht mehr die Erkenntnis vom klassenmäßigen Charakter der Kunst allein, sondern dazu die Auffassung von der proletarisch-revolutionären Literatur als „Mittel zur Durchführung der Parteilinie" 261 zugrunde gelegt wurde. Dieser überaus wichtige neue Akzent hing aufs engste zusammen mit der Überprüfung der „Orthodoxie" der bis dahin in Bulgarien maßgeblichen Ästhetik Plechanows262 und der Durchsetzung der Ansichten Lenins über Literatur und Kunst in der marxistischen Literaturprogrammatik. 263 Wie kompliziert dieser Prozeß war und welche anfänglichen Einengungen - verursacht vor allem durch die linkssektiererischen Tendenzen in der BKP - ihn begleiteten, geht aus den Diskussionen hervor, die auf den Seiten von RLF, einem im Dezember 1929 gegründeten literarischen Wochenblatt der Kommunistischen Partei, geführt wurden. „Parteilich schreiben" bedeutete nicht lediglich „aus der Sicht der Avantgarde der Arbeiterklasse ein bestimmtes Material 201
behandeln". Die Devise wurde meist auch auf die Stoff- und Themenwahl sowie auf die Art des Schreibens bezogen. Gefordert wurde nicht nur, den Standpunkt der B K P zu vertreten, sondern zugleich „solche Sujets zu gestalten, die . . . den a k t u e l l s t e n A u f g a b e n d e r p r o l e t a r i s c h e n P a r t e i (Hervorhebung D. W.) entsprechen"26,5. Dazu gehörte „der Kampf gegen die Kriegsgefahr und die Gründung von Antikriegskomitees, die Organisierung der proletarischen Selbstverteidigung, der Kampf der Arbeitslosen, die Streikbewegung, die Verteidigung der proletarischen Klassenorganisation usw." 265 Bevorzugt wurden dabei Arbeiten, die einen a u t h e n t i s c h e n Charakter hatten, die auf konkreten Vorfällen und Ereignissen basierten. Bezeichnend dafür ist die von der RLFRedaktion an Leser und Korrespondenten gerichtete Aufforderung, ihre Erlebnisse im antifaschistischen Kampf seit 1923 aufzuschreiben und einzusenden. „Beschreiben Sie das, was Sie selbst erlebt, gesehen oder gehört haben, doch ohne überflüssige Ausschmückung, ohne Erörterungen und Verbesserungen. Beschreiben Sie die Fakten so, wie sie sind . . . Haben Sie keine Hemmungen, daß Sie vielleicht mit Schreibfehlern und ungeschickt berichten. Wichtig ist, daß das Geschriebene den Tatsachen entspricht."266 Die strikte thematische Orientierung auf die Kämpfe des Proletariats und seiner Partei einerseits und auf „Tatsachenliteratur" andererseits prägte entsprechend die Literatur. Es kam zu ersten Versuchen, den klassenbewußten Arbeiter lebensnah und ohne jene romantische Überhöhung zu gestalten, die für die revolutionäre Literatur der vorausgegangenen Zeit, Smirnenski eingeschlossen, kennzeichnend war. Die offen artikulierte Parteilichkeit verlieh den Werken publizistisches Pathos, während die ungeschmückte Wiedergabe von meist Selbsterlebtem Realitätsgewinn brachte und „journalistische" Genres wie die Skizze und die Reportage auf den Plan rief. Die große Beliebtheit gerade dieser Genres zu Beginn der dreißiger Jahre ist in RLF überzeugend dokumentiert. Krastjo Belew veröffentlichte hier z. B. eine Serie von Reportagen über den Bau des Kraftwerks „Väca" und über den Alltag der Arbeiter in verschiedenen Betrieben und Bergwerken. Auch Berichte über Selbstbeobachtetes im Ausland fehlten nicht: so die Reportage Moskva von Arbeiterführer Petko Napetow, der bis 1934 viele weitere über die Sowjetunion folgten, oder die Reportagen von Todor Genow über Paris. All diesen Arbeiten ist das Bestreben gemeinsam, K u n s t m i t
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P o l i t i k und I n f o r m a t i o n der Ö f f e n t l i c h k e i t zu k o p p e l n , den Begriff „Erzählkunst" wie zur Zeit der Wiedergeburt durch Genres zu erweitern, welche der Kreis „Missal" und seine Nachfolger aus der Sphäre der künstlerischen Prosa auszuklammern trachteten. Damit trugen die sozialistischen Autoren dem Bedürfnis ihrer Leser Rechnung, die angesichts der Verfälschungsversuche und Meinungsmanipulationen durch die Institutionen des faschistoiden bürgerlichen Staates „nach nicht nur glaubwürdiger, sondern auch beglaubigter Gestaltung ihrer eigenen Zeiterfahrungen verlangten" 2 6 7 . Daß es sich bei diesem Trend der bulgarischen sozialistischen Prosa zu Beginn der dreißiger Jahre nicht um eine nationalspezifische Erscheinung handelt, sondern vielmehr um die Ausprägung einer übernationalen Tendenz sozialistischer Literaturentwicklung in Europa nach 1917, davon zeugt die große Belebung der Berichtsliteratur seit Mitte der zwanziger Jahre sowohl in der Sowjetunion als auch in Deutschland, Ungarn oder der Tschechoslowakei. In Bulgarien vermochte allerdings diese „Tatsachenliteratur" sei es in Form von Prosa mit dokumentarischer Gegenständlichkeit des Erzählens, sei es in Form von Skizzen und Reportagen - im allgemeinen nicht jenen hohen künstlerischen Rang zu erreichen, den ihr ein Egon Erwin Kisch in der deutschsprachigen oder Julius Fucik in der tschechischen Literatur verschafften. Der Hauptgrund dafür war, daß das Linkssektierertum und die damit einhergehende Isolierung von den Massen die bulgarischen Werke schon vom Gegenstand her oft dermaßen einschränkte, „als gäbe es außerhalb des Parteiklubs, der Parteigruppe und -aktion kein Proletariat und keinen Kampf" 268 . Anstatt diesen Kampf „in organischer Verbindung mit der übrigen Wirklichkeit zu schildern" und als „logische Folgeerscheinung eines gesellschaftlichen Prozesses" zu reflektieren, ließen ihn die Autoren, wie der Lyriker Christo Radewski bereits 1932 kritisch vermerkte, häufig als „Wundertaten einer Gruppe mutiger Fanatiker" 2 6 9 erscheinen. Parallel zum Mangel eines Großteils der Erzählungen und Berichte, die Aktionen der Partei in einem zu engen und undifferenzierten gesellschaftlichen Kontext zu zeigen, machten sich in ihnen noch vulgarisierende und schematisierende Tendenzen breit. Im zitierten Artikel betonte Radewski, die Darstellung der Partei und ihrer Mitglieder als „ideale Größen" wäre ein Haupthindernis auf dem Weg „zu einer echten realistischen, dialektischen Widerspiegelung der Wirklichkeit" 2 7 0 . 203
Der Reportageroman Sporzilov zählt zu den wenigen nichtschematischen Werken jener Periode. Karaslawow stellte weder äußerliche Parteiaktionen noch den organisierten Arbeiter als solchen, sondern eine Gruppe von Handlangern in der Tschechoslowakei ins Zentrum der Gestaltung und gelangte dennoch zu wichtigen parteilichen Aussagen und Verallgemeinerungen. Die Materialwahl war biographisch bedingt. Karaslawow, der wegen Teilnahme an einem Studentenstreik von der Sofioter Universität relegiert worden war, hielt sich 1929/30 in Prag auf, wo er sein Landwirtschaftsstudium fortsetzte. Da er aber nicht über finanzielle Mittel verfügte, arbeitete er eine Zeitlang in Sporilov, einer Prager Vorstadt, auf dem Bau. Hier kam er mit tschechischen und slowakischen Tagelöhnern in Berührung, deren schwerer Arbeitsalltag den Romanstoff lieferte.'-'71 Über die Grenzen des Stoffes war sich Karaslawow von vornherein im klaren: „Zu dieser Zeit war die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei bereits relativ stark und gut organisiert . . . In Sporilov war jedoch das Klassenbewußtsein des Proletariats erst schwach entwickelt, und die Arbeiter erfaßten das Unwürdige ihrer Situation allenfalls empirisch."272 Karaslawow reizte es aber, Erfahrungen, Anschauungen und Psyche dieser Menschen genau festzuhalten. Er war davon überzeugt, daß sie eine noch nicht erschlossene Reserve der organisierten Arbeiterbewegung bildeten und schon deshalb mehr Aufmerksamkeit verdienten, als die Linkssektierer ihnen damals entgegenbrachten. Karaslawow schrieb das Buch nicht nach einem Vorbild 273 und hatte bei der Niederschrift nur eine vage Vorstellung von seinem Genrecharakter: „Ich hatte nicht vor, einen Roman zu verfassen. Ich schrieb e i n e A r t M e m o i r e n (Hervorhebung - D. W.)." 2 7 4 Das Besondere an diesen Memoiren war, daß sie nicht primär Autobiographisches darboten, daß die Bezeichnung „Erinnerungen" mehr für die Anlage der Arbeit als für die eigentliche Intention zutraf: Karaslawow wählte zwar die Ich-Form des Erzählens und ließ unmißverständlich erkennen, daß er sich selber hinter dem Ich-Erzähler verbarg, gestand diesem aber eine vorwiegend beobachtendberichtende Rolle zu und rückte die äußeren Umstände und Vorgänge - die Arbeitskollegen und den Alltag auf dem Bau - entschieden ins Zentrum der Darstellung. Die wie Tagebuchauszüge aufgebauten einzelnen Kapitel geben zwar Auskunft über die Beteiligung der Ich-Figur am Geschehen, doch ist das Hauptinteresse
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nicht darauf, sondern stets auf Verhalten und Äußerungen der anderen Figuren sowie auf die Ermittlung von Hintergründen und Ursachen konzentriert. Dementsprechend ist auch das Ergebnis. Der Leser wird in Sporzilov nicht mit der Entwicklung der Ich-Figur bzw. mit ihren Versuchen, sich selbst zu begreifen, konfrontiert, sondern mit ihrem Bemühen, das Wesen der beobachteten Menschen und Erscheinungen auf dem Bau mit dokumentarischer Präzision einzufangen, die „Wahrheit" und den Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Kontext zu ergründen. Bedingten Objekt und Ziel der Bemühungen - an einer Gruppe von Arbeitern soziale Widersprüche und Verhältnisse in ihrer gesellschaftlichen Verflechtung sowie in ihrer historischen Dynamik zu gestalten - die r o m a n h a f t e n Züge des Werkes, so brachte die auf „Tatsachenwiedergabe" orientierte und durch die innere Anteilnahme und durch Kommentare des Ich-Erzählers aufgelockerte Berichtsstruktur den R e p o r t a g e c h a r a k t e r ein. Die Neuleistung des Werkes liegt nicht nur darin, daß es sich um den ersten bulgarischen Roman handelt, in dem der Arbeiter im Mittelpunkt steht, sondern auch darin, daß die Arbeiterfiguren v i e l s e i t i g und d i f f e r e n z i e r t dargestellt wurden. Karaslawow begnügte sich nämlich nicht damit, lediglich Grundsätzliches über Arbeitscharakter und -bedingungen auf dem Bau festzuhalten (zermürbend eintönige und schwere körperliche Arbeit, elfstündige Arbeitszeit, kein Arbeitsschutz, skandalöse medizinische Betreuung usw.). Er blieb auch nicht bei der soziologischen Analyse des zwiespältigen Verhältnisses der Tagelöhner zum Arbeitsprozeß stehen („gut" arbeiten, doch nur unter Aufsicht und nur aus der Angst heraus, den „Job" angesichts der Armee von Arbeitslosen man schrieb das erste Jahr der Weltwirtschaftskrise 1929! - zu verlieren). Der Autor gelangte zu echter L e b e n s f ü l l e , indem er die jeweils persönliche Haltung der Figuren zu alltäglichen, aktuellpolitischen und übergreifenden weltanschaulichen Fragen fixierte, ihre private Sphäre in seine „Berichterstattung" einbezog und dabei auch nicht zögerte, sexuelle Probleme und Erfahrungen mit zu reflektieren (z. B. Sajsiks Minderwertigkeitskomplex als Mann oder die Ängste von Mazanec, sich eine Geschlechtskrankheit zugezogen zu haben). Dank der breiten Palette von Beobachtungen gelang es Karaslawow, die Figuren zu individualisieren und zugleich ein farbiges und differenziertes Bild vom nichtorganisierten Proletariat in der 205
Tschechoslowakei Ende der zwanziger Jahre zu zeichnen. So unterschied der Autor grundsätzlich Arbeiter mit und ohne Klassenbewußtsein in Sporilov. Zum Hauptunterscheidungsmerkmal unter den klassenbewußten Arbeitern machte er das Verhältnis zur internationalen revolutionären Arbeiterbewegung und besonders zur Sowjetunion. Während die Freunde der Ich-Figur und Hauptfiguren des Romans Bjanko, Pokorny und Sajsik Karaslawows Bekenntnis zur Weltrevolution und zur Sowjetunion teilen und - obwohl parteilos praktisch den Standpunkt des revolutionären Flügels der KPC275 einnehmen, zeichnet sich der Arbeiter mit dem Spitznamen „Menschlein", der sich für die Gründung einer Gewerkschaft ausspricht, durch unverhüllten Antisowjetismus aus. Mit dieser Figur deutete Karaslawow ein spezifisches Moment in der tschechischen Arbeiterbewegung jener Zeit an - den Umstand, daß sie zum Teil unter dem Einfluß von Opportunisten innerhalb der KPC oder aber von Sozialdemokraten stand, die damals das Land mitregierten, mit ihren reformerischen und reformistischen Programmen und Parolen die Werktätigen vom aktuellen politischen Kampf ablenkten und die Lage in der Sowjetunion in den schwärzesten Farben malten. Der Gruppe von Arbeitern ohne Klassenbewußtsein ordnete Karaslawow Lumpenproletarier wie Vävra zu, politisch desinteressiert und mit kriminellem Einschlag, vor allem aber die „Arbeiteraristokratie", auf dem Bau repräsentiert von den Meistern, dem Lagerverwalter und dem Aufseher Kepal. Das Verhältnis des Autors zu den einzelnen Gruppen ist klar fixiert. Während Bjanko, Pokorn^ und Sajsik die volle Sympathie und innere Anteilnahme der Ich-Figur haben und Vävra zwar distanziert, aber nicht ohne Nachsicht behandelt wird, so bleiben für „Menschlein" nur Ablehnung und für die Meister und Kepal nur Groll und Verachtung übrig. Es gehört zu den Leistungen des Romans, daß Karaslawow dieses differenzierte Verhältnis mit verschiedenen Mitteln realisierte und so der Gefahr entging, ins grob Tendenziöse und Deklarative abzugleiten. Darin unterscheidet sich Sporzilov z. B. von Ljuben Karawelows Powest Je Ii kriva sudbina?, der der Roman strukturell auffallend ähnelt. Karaslawow gab sich nicht wie sein Vorgänger aus der Wiedergeburtszeit damit zufrieden, die Figuren überwiegend in den publizistischen Textpartien, d. h. in den Kommentaren des Ich-Erzählers, zu charakterisieren.276 Er nutzte dazu in viel stärkerem Maße auch die „belletristische Ebene" des Romans - die Handlung, die Dialoge sowie das Porträtieren. 206
Wurde den Figuren durch die Handlung und den Dialog die Möglichkeit der „Selbstdarstellung" eingeräumt, so setzte Karaslawow das Porträt (parallel zu den publizistischen Partien) wirkungsvoll als ein künstlerisches Wertungsmittel ein, das bei Vertretern der „Arbeiteraristokratie" oft einen ausgesprochen satirischen Charakter annahm: „Aus dem Hauptlager kommt der Bauverwalter heraus und tritt uns gegenüber. Er schnauft wie ein kaputter Blasebalg. Ein kleines Bierfaß würde bequem in seinem Bauch Platz finden . . . Dicken Menschen bin ich schon oft begegnet, doch ein so formloses, stumpfsinniges, unbewegliches, tierisches Gesicht habe ich noch nicht gesehen. Zwei Äuglein blinzeln durch die Fettschichten, und sie allein verraten, daß dies keine Zuckermelone ist - von jener Sorte riesiger grauweißlicher Zuckermelonen, die im Mariza-Tal wachsen." 277 Die grotesk anmutende Figurenzeichnung erinnert an Gogol, auch an Karawelows Gestalten aus der Bukarester Periode seines Schaffens. 278 Karaslawow hat sich offensichtlich an beiden Autoren geschult, mit dem Ergebnis, daß die trocken-dokumentarische Struktur des Romans und die recht dürftige Handlung durch den Einsatz von Humor und Satire etwas ausgeglichen wurden, was den Unterhaltungswert des Werkes wesentlich erhöhte. Diese wirkungsästhetische Seite von Sporzilov ermöglicht es, über Werturteile hinauszugehen, die sich in der Feststellung erschöpfen, der Roman sei immerhin „das erste ernstzunehmende Werk" in der bulgarischen Prosa, „das das Sein des Proletariats, die Stimmungen der Arbeiter, die sich herausbildende Klassensolidarität und -unversöhnlichkeit widerspiegelt" 279 . Zur Reserviertheit der Literaturhistoriker mögen einige Textpartien der „publizistischen Ebene" des Romans beigetragen haben, die zwar den „Zeitgeist" treffen, doch heute eher deklarativ wirken und an Parolen der frühen fünfziger Jahre erinnern (wie diese Meditation der Ich-Figur über das Klassenbewußtsein eines seiner „Kumpel": „Er tut mir leid. Jan weiß nicht, daß die historische Entwicklung ihn auserkoren hat, der Erbauer der Zukunft zu sein, und daß er schon deshalb froh sein und gern die ihn peinigenden Nöte in Kauf nehmen müßte." 280 ). Fakt ist, daß es noch immer kaum Forschungen gibt, die sich mit Sporzilov als künstlerischem Dokument seiner Zeit oder als neuer Romanstruktur ernsthaft befassen und so seine Bedeutung über den rein thematischen Aspekt hinaus herausgearbeitet haben. 281 Aus ganz anderen Gründen auf wenig „Zuneigung" stieß Sporzilov 207
auch bei der Veröffentlichung im Jahre 1931. Die sozialistische Literaturkritik - von linkssektiererisch-schematisierenden Vorstellungen befangen - war nicht in der Lage, die produktiven Neuansätze des Romans zu erkennen und zu würdigen: die bestechende Lebensnähe der Gestaltung und den Versuch, den internationalen Charakter der Arbeiterbewegung sowie ihre Spezifik in der Tschechoslowakei Ende der zwanziger Jahre zu reflektieren. Sie nahm vielmehr Anstoß an diesen Neuleistungen. Karaslawow wurde „Objektivismus" (anstatt der geforderten Parteilichkeit) vorgeworfen, und man riet ihm, sich lieber mit dem bulgarischen Proletariat zu befassen.282 Als weitere „Sünden" wurden dem Roman das Fehlen des Parteifunktionärs sowie die Darstellung der Arbeiterklasse „lediglich als unterdrückt" und „ohne Bezug zu den Klassenkämpfen" angelastet. 283 Als beinahe einzig Positives wurde eingeräumt, daß sich Karaslawow hier erstmalig in seiner Entwicklung „positiven Klassensujets" zugewandt hätte.28,1 Bedenkt man, daß Karaslawow bereits vor Sporzilov parteilich schrieb, seine Stoffe aber fast ausschließlich aus dem Leben der Landbevölkerung bezog - wie im Erzählungsband Kavälat place (Die Hirtenflöte weint; 1927) - , so wird deutlich, wie verengt damals die Vorstellung von einem „positiven Klassensujet" war und welche Gefahren sich für die Entwicklung der sozialistischen Literatur daraus ergaben. Dagegen lehnten sich vor 1934 nicht nur Autoren wie Karaslawow und Radewski auf. Auch innerhalb der marxistischen Literaturkritik mehrten sich die Stimmen, die sich gegen eine „thematische" Anbindung der Parteilichkeit wandten. In Zusammenhang mit dem Erzählungsband Na post, der 1933 dem Roman Sporzilov folgte und in dem Karaslawow wieder Sujets aus dem Dorfleben aufgriff, grenzte sich der junge Kritiker Iwan Chadshidimow scharf von Besprechungen ab, die zwar die überzeugende Darstellung der Klassendifferenzierung im bulgarischen Dorf anerkennend registrierten, zugleich aber den Autor erneut zu belehren suchten, daß „es heute für die proletarische Kunst unnatürlich" sei, „eine Kunst des Dorfes zu sein".285 In dem polemischen Artikel Noch etwas über die Erzählungen von Genossen G. Karaslawow, veröffentlicht in RLF im Frühjahr 1933, gelangte Chadshidimow zu Verallgemeinerungen, die für das Umdenken der bulgarischen marxistischen Kritik jener Zeit charakteristisch sind: 208
- die Parteilichkeit darf nicht „aufgesetzt" wirken, „nicht mit der Wirklichkeit zusammengeflickt" werden, sondern muß „aus dem (dargestellten - D. W.) Leben selbst erwachsen", d. h. sich „aus der künstlerischen Wahrheit des Werkes" ergeben. Nur auf diesem Wege sei auch die aktuelle Frage nach der Qualität der sozialistischen Werke zu lösen, wofür die Erzählungen von Karaslawow ein überzeugender Beleg wären j286 - „Wir können von Karaslawow verlangen, tagespolitisch zu sein, wir können aber von ihm nicht verlangen, n u r (Hervorhebung D. W.) tagespolitisch zu schreiben!" 287 - „Wir können von Genossen G. Karaslawow nicht verlangen, daß er über die Stadt schreibt, die er noch nicht genügend kennt, wenn er das Dorf so gut kennt und zu gestalten versteht." Denn: „Das neue Dorf - das Dorf der Verarmung und Linksorientierung der Bauernmassen . . . das Dorf des beharrlichen Klassenkampfes - dieses Dorf fand in G. Karaslawow seinen hervorragenden Gestalter." 288 Die sich hier artikulierende vertiefte und erweiterte Auffassung vom Wesen der Parteilichkeit wurde als neugewonnene theoretische Position nach 1934 durch verschiedene Faktoren gefördert und gefestigt. Dazu gehörten nicht allein die Anregungen, die vom I. Kongreß der Sowjetschriftsteller ausgingen (vor allem die Debatten über die Methode des sozialistischen Realismus), oder die neuakzentuierten kulturpolitischen Aufgaben der BKP, die aus der auf dem VII. Kongreß der Komintern verabschiedeten Volksfrontstrategie resultierten. Auch die Verschärfung des monarchofaschistischen Regimes nach dem Militärputsch von 1934 spielte hier eine bedeutende Rolle. Nach dem Putsch war die Zeit der Streiks und Demonstrationen in Bulgarien vorbei. Die BKP mußte den Kampf mit halblegalen, oft mit illegalen Mitteln führen, und dies bei einer Ausdehnung der Front, denn es ging nun auch darum, Bündnispartner zu gewinnen. Die pathetischen Parolen der zwanziger und der frühen dreißiger Jahre eigneten sich wenig zu diesem Zweck. N u r stichhaltige Argumentation und geduldige, einfühlsame Überzeugungsarbeit, die alle Lebensbereiche berücksichtigte, versprachen Erfolg. Karaslawow gehörte zu den kommunistischen Schriftstellern, die sich relativ rasch auf die neuen Bedingungen einstellten. Weshalb er sich wieder dem ihm vertrauten Dorf zuwandte und sich an einen Romanzyklüs heranwagte, begründete er 1974 rückblickend in einem Interview wie folgt: „1934 führte ein erneuter faschistischer 14
Witschcw, Bulg. Prosa
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Putsch zur weiteren Verhärtung der Fronten, zur Beseitigung der Reste an Demokratie in Bulgarien. Die Presseorgane der Partei wurden verboten, die Arbeit der fortschrittlichen Schriftsteller wesentlich erschwert. Hatte man uns auch vor dem Putsch schon Hindernisse aller Art in den Weg gelegt - eines meiner Bücher war beschlagnahmt, ich selbst vorübergehend verhaftet worden - , so war die Herausgabe eines offen antifaschistischen Werkes unter den neuen Bedingungen gänzlich undenkbar. Und da kam ich auf die Idee, einen Romanzyklus über das Leben der Dorfbewohner, das ich ja von klein auf kannte, in Angriff zu nehmen. Besonders interessierte mich seinerzeit das Wesen des Privateigentums, das an dem ungeheuren sozialen Gefüge innerhalb der Gesellschaft und an der negativen Persönlichkeitsentwicklung vieler Benachteiligter die Schuld trug. Die auf Grund dieser Ausgangsüberlegungen entstandenen Romane waren Stechapfel (1938) und Die Schwiegertochter (1942) ." 289 Es war also nicht mehr der tagespolitische, sondern der s o z i a l e Aspekt innerhalb der Dorfthematik, der Karaslawow jetzt in erster Linie interessierte, es war das Streben nach höheren Verallgemeinerungen, das ihn zur Wahl der großen Form veranlaßte. Beide Romane repräsentieren den Übergang Karaslawows von der punktuellen, oft tagespolitischen Fixierung der Klassendifferenzen und -konflikte auf dem Lande hin zum Versuch, zu deren Ursachen und Auswirkungen auf Charakter und Psyche der bulgarischen Bauern vorzudringen. Damit wagte er den Vorstoß in einen Problembereich, der bislang als Domäne der kritisch-realistischen Schriftsteller gegolten hatte. Wie Karaslawow sein Vorhaben künstlerisch umsetzte und wie er sich von den einschlägigen Konzepten der kritischen Realisten abgrenzte, soll hier detailliert am Roman Stechapfel demonstriert werden. Die verschiedenen Fassungen des Werkes, die im Archiv des Autors erhalten sind, geben Auskunft darüber, wie lange und wie hartnäckig Karaslawow am gewählten Ausgangsmaterial - ein der Wirklichkeit entnommener Kriminalfall 290 - arbeitete, bis er es zu einem Roman mit sozialistischem Ideengehalt ausgebaut hatte. Die erste (bereits 1935 entstandene) Fassung umfaßt lediglich 42 Seiten und hat noch den Charakter einer novellistischen Erzählung. Die Handlung ist einsträngig und strikt auf die Erlebnisse der drei Hauptfiguren konzentriert. Alles spielt sich im Haus der Klein210
bäuerin Marjola ab, die nach dem Unfalltod des älteren Sohnes Mintscho den Entschluß faßt, die verwitwete Schwiegertochter Toschka zu vergiften, damit der schwer erworbene Familienbesitz im Falle ihrer Wiederverheiratung nicht etwa geteilt werden muß und in „fremde Hände übergeht". D i e dritte Hauptfigur - Iwan, der jüngere Sohn Marjolas - hat in dieser Fassung noch kein Profil. Schnell erliegt er dem Einfluß seiner Mutter, die ihn gegen Toschka aufhetzt, und nur seine Weichherzigkeit schützt ihn davor, von Marjola in die Planung und Durchführung des Verbrechens eingespannt zu werden. Das Ganze ist eine Familientragödie, zwar sozial und psychologisch motiviert, doch noch zu sehr in sich abgeschlossen, mit einem „Kammerspiel" vergleichbar, weil ohne ausreichende B e züge zum „gesellschaftlichen Ganzen" und ohne klare, verallgemeinernde Konzepte und Alternatiworschläge. Der 1938 schließlich veröffentlichte Roman war die vierte Fassung, die sich von der ersten nicht allein quantitativ erheblich unterschied (31 statt 9 Kapitel und 22 statt 5 Nebenfiguren). Neben dem Haupthandlungsstrang mit dem Konflikt Marjola - Toschka hatte Karaslawow nun einen zweiten eingeführt. Ihm legte er einen Rechtsstreit zwischen dem Großbauern Gantschowski und den D o r f bewohnern zugrunde: Gantschowski hat zunächst Weideland der Gemeinde und dann auch noch das beste Feld des armen Mangalow widerrechtlich an sich gerissen. In einem Verzweiflungsakt versucht Mangalow, den Großbauern zu töten, was ihm allerdings nur die Verhaftung einbringt. Durch diesen zweiten Handlungsstrang gelang es Karaslawow, das Familiendrama in einen relativ breiten W i r k lichkeitsausschnitt einzubetten, der dem Leser suggerierte, daß in der Klassengesellschaft die Gewalt notwendig dazugehört. So stellte er eine Verbindung zwischen der individuellen Entwicklung Marjolas und den herrschenden gesellschaftlichen Zuständen her und ließ ihr Verbrechen nicht primär als eine pathologische Tat, sondern vielmehr als einen „systemimmanenten" Extremfall des unerbittlichen Existenzkampfes im kapitalistischen Dorf erscheinen. Wesentlich anders war jetzt auch die Figur Iwans angelegt. In der veröffentlichten Romanfassung ist er zwar nach wie vor „weichherzig" und für den Einfluß seiner Mutter, die sein kleinbäuerliches Besitzdenken immer wieder zu schüren versteht, empfänglich, er macht nun aber eine entscheidende Entwicklung durch. Nach einer Untersuchungshaft im Zusammenhang mit dem Anschlag auf Gantschowski besinnt er sich auf das Beispiel seines verstorbenen Bru14*
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ders, der ein Kommunist war, und faßt den Entschluß, dessen Kampf für eine neue Gesellschaftsordnung fortzusetzen. Mit der so umfunktionierten Gestalt des Iwan erhielt der Roman den in den früheren Fassungen fehlenden Träger des Perspektivbewußtseins und der eigenen Überzeugung des Autors von der humanisierenden Kraft der sozialistischen Ideen. Der sozialen Analyse und der Gestaltung der Klassenspannungen gesellte sich so eine Alternative zur geschilderten Misere zu, die das Werk deutlich von allen vorausgegangenen Varianten kritisch-realistischer Dorfprosa abhob. Es gehört zu den Vorzügen von Stechapfel, daß der Autor vor allem die innere Welt der Figuren, ihre Gedanken, Vorstellungen und Bewußtseinsabläufe beleuchtete, so daß der Roman vom Inhalt u n d von der Gestaltungsweise her als s o z i a l p s y c h o l o g i s c h zu definieren wäre. Die psychologische Analyse als b e v o r z u g t e s Gestaltungsmittel hatten vor Karaslawow kritische Realisten wie Anton Straschimirow, Georgi Stamatow, Georgi Raitschew oder auch der junge Dimitar Dimow mit Erfolg erprobt, so daß er an deren Erfahrungen anknüpfen konnte. Diese Autoren hatten sich aber fast ausschließlich darauf konzentiert, geistige Krisen und moralische Verfallserscheinungen bei Vertretern der kapitalistischen Stadt - Intellektuelle, Künstler, Angestellte, Militärs usw. - zu reflektieren. Zudem war die Durchleuchtung des seelischen „Innenraums" (besonders bei Raitschew und Dimow) von naturalistischen und freudschen Tendenzen mitgeprägt gewesen.191 In der Dorfprosa hingegen war die psychische Analyse kaum vertreten. Die großen Meister der bulgarischen Erzählungen Elin Pelin und Jordan Jowkow gestalteten zwar eindrucksvoll seelische Erlebnisse ihrer Figuren, doch dies erreichten sie in der Regel mehr mittelbar und suggestiv (erinnert sei an die Rolle des Landschaftsbildes als der „Seele des Geschehens" bei Elin Pelin oder an die Rolle der Komposition und des „plastischen Bildes" bei Jowkow), nur selten indessen über eine ausgedehnte Schilderung von Bewußtseinsinhalten. Letzteres gilt mehr oder weniger auch für Ilija Wolen und Konstantin Petkanow, zwei weitere kritisch-realistische Erzähler, die sich in den dreißiger Jahren Stoffen aus dem Landleben zuwandten. Karaslawow war also praktisch der erste „Dorfautor", der von der direkten Analyse psychischer Vorgänge in ausgeprägter Weise Gebrauch machte. Im Unterschied zu Raitschew und Dimow setzte er dieses Verfahren nun nicht ein, um im Unterbewußtsein die Ursache für krankhafte seelische Zu212
stände zu suchen oder das Phänomen der „fatalen Frau" zu ergründen 292 , sondern um zu zeigen, wie soziale Faktoren die Psyche deformieren und aus einem völlig normalen und geistig gesunden Menschen einen Verbrecher machen können. Die Dominanz seelischer Vorgänge im Erzählverlauf gab dem Roman ein spezifisches Gepräge. Die äußere Handlung und der Bericht des auktorialen Erzählers sind in Stechapfel durch szenische Darstellungen (Dialoge) und vor allem durch die e r l e b t e R e d e spürbar zurückgedrängt. Die erlebte Rede erscheint in den meisten Kapiteln als b e s t i m m e n d e s S t r u k t u r e l e m e n t . Als Beispiel dafür und für das Verhältnis Erzählerbericht - erlebte Rede seien die Überlegungen Marjolas angeführt, die diese Figur anstellt, nachdem sie beschlossen hat, Toschka zu töten: „Die Alte verlor sich in Gedanken. Was könnte sie unternehmen? Es hieß, wenn man einem Schlafenden Quecksilber ins Ohr gieße, stürbe er, ohne aufzuwachen. Man erzählte sich auch, daß ein Mensch sofort tot sei, wenn er mit einer spitzen langen Nadel in den Nacken gestoßen wird; niemand könnte später feststellen, wodurch er gestorben war. Aber das waren alles Redereien. Die Alte hatte es nicht mit eigenen Augen gesehen und wußte nicht, ob es stimmte. Und wenn es ein Fehlschlag würde? Um Gottes willen! Dann wäre sie verloren! . . . Auf ihre alten Tage noch wer weiß wo herumgeschleppt zu werden nein, das durfte um keinen Preis geschehen! . . . Wenn man von einer Sache nichts versteht, soll man die Hände davon lassen. Außerdem gehört dazu ein hartes Herz . . . Etwas anderes wollte sie sich ausdenken, was sie nicht selbst mit eigener Hand vollbringen müßte, was wie ein Unglücksfall aussähe . . . Sie zufällig irgendwo hinstoßen . . . oder einen Kübel kochendes Wasser über sie gießen . . . Brandwunden sind furchtbar! Wird eine große Körperfläche bedeckt, ist eine Heilung kaum möglich . . . Aber wie kann sie ihr Opfer ganz übergießen? Wenn sie Toschka verbrüht - wahrscheinlich nur die Füße. Dann wird sie lahm werden . . . das wäre noch schlimmer - denn Arzneien kosten viel Geld . . ." 293 Man merkt: Die erlebte Rede rückt uns Marjolas Figur suggestiv nahe und läßt ihre Bewußtseinsvorgänge unmittelbar empfinden. In ihrer Verflechtung mit dem Erzählerbericht spielt sie ganz eindeutig die dominierende Rolle und drängt geradezu den auktorialen Erzähler zu einer „Personalisierung" 294 , einer Anpassung an den Charakter und den Wahrnehmungsmodus Marjolas, die ihn manchmal ohne ihn etwa ganz verschwinden zu lassen - soweit „tarnt", daß 213
eine Unterscheidung der erlebten Rede schwierig wird. (Im Zitat sind z. B. nur die Sätze mit der Bezeichnung „die Alte" eindeutig dem Erzählerbericht zuzuordnen.) Auch die relativ häufigen und gelegentlich ausgedehnten Dialogszenen gehören zu den hervorstechenden Merkmalen der Romanstruktur. Doch sie dienen, im Unterschied zur erlebten Rede, nicht allein der Charakterisierung der Figuren. O f t übernehmen sie darüber hinaus bedeutende Funktionen innerhalb des Handlungsablaufs, die in der E p i k gern dem Erzählerbericht überantwortet werden. So besteht z. B . das erste Kapitel des Werkes (Mintschos Begräbnis), das die Funktion einer Exposition erfüllt, zu 90 Prozent aus aneinandergereihten Gesprächsszenen, die auf die Vorgeschichte der Handlung eingehen, das Geschehen räumlich und zeitlich fixieren und erste Anhaltspunkte über die Familien- und Besitzverhältnisse der Hauptfiguren sowie über ihre Charaktere geben. D e r Erzählerbericht wird hier weitestgehend eingespart bzw. „in Szene gesetzt". Damit wird ein wichtiger „Nebeneffekt" erzielt: Eingebettet in D a r stellungen traditioneller Bräuche oder bäuerlicher Tätigkeit, vermitteln diese Dialoge zugleich ¿in anschauliches Bild vom Leben des bulgarischen Bauern und verhindern, daß der Erzählfluß sich in langatmigen Milieu- und Tätigkeitsbeschreibungen verliert. Man muß allerdings kritisch vermerken, daß Karaslawow nicht immer szenische Darstellung und Erzählerbericht so aufeinander abstimmte, daß „Überschneidungen" vermieden wurden. Gelegentlich faßt der Erzählerbericht unnötig die durch die Dialogszenen bereits mitgeteilten Inhalte zusammen. Auch in der Analyse des seelischen Innenraums von Marjola treten Wiederholungen auf. Beides steht im auffälligen Widerspruch zur sonst auf Bündigkeit und Meiden von Deskriptivität ausgerichteten Erzählweise des Autors und deutet den noch nicht ganz abgeschlossenen Prozeß seiner künstlerischen Reifung an. Als bedeutendste Leistung des Romans ist die einfühlsam vermittelte neue Sicht auf den bulgarischen Bauern anzusehen. Karaslawow distanzierte sich gleichermaßen von Vorgängern wie Jowkow, die ihre Bauernfiguren vor allem als Repräsentanten allgemeinmenschlicher ethischer Werte anlegten, und von zeitgenössischen „Dorfautoren" wie Konstantin Petkanow, die in Anlehnung an die Auffassungen der kritischen Realisten aus den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts (T. Wlaikow, M. Georgiew u. a.) die Anhänglichkeit des Bauern an die Scholle oder seinen ausgeprägten Familien-
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sinn weiterhin vorbehaltlos als „traditionelle nationale Tugenden" herausstellten. Dem Beispiel Elin Pelins folgend, den er von allen bulgarischen Prosaikern am meisten schätzte295, lehnte Karaslawow sämtliche Konzepte vom bulgarischen Bauern ab, die diesen folkloristisch-volkstümlerisch idealisierten und seine h i s t o r i s c h k o n k r e t e und s o z i a l d e t e r m i n i e r t e D a r s t e l l u n g vernachlässigten. Beiden Romanen, Stechapfel und Die Schwiegertochter, legte er seine Überzeugung zugrunde, daß es keine „ewigen" nationalen Züge gibt, daß die angestammten bäuerlichen „Tugenden" unter dem Druck der kapitalistischen Wolfsgesetze nicht nur modifiziert, sondern im Laufe der Zeit regelrecht pervertiert und zur Quelle von Kriminalität werden können.296 Die früher immer wieder gepriesene „Gebundenheit an die Scholle" nahm bei Karaslawows Figuren - auf ihre sozialen Ursachen und als zeitgenössische Geisteshaltung genau geprüft - die abstoßende Qualität von Besitzdenken an, das (wie unterschiedlich es sich auch von Fall zu Fall manifestierte) die Persönlichkeitsentwicklung unweigerlich negativ beeinflußte. Treibt Marjola die Angst, den unter größten Anstrengungen und Entbehrungen erworbenen Besitz zu verlieren, „eine Angst, die der Sorge um den Unterhalt der Familie entspringt und daher ein gewisses Verständnis abnötigt", zur Mordtat, so ist die „rücksichtslose und unstillbare Besitzgier nach Vergrößerung des Reichtums und damit nach mehr Macht über andere" 297 schon ein Grundzug der Persönlichkeitsstruktur von Großbauern wie Gantschowski oder Jurtalana (Hauptfigur in Die Schwiegertochter). Er macht sie skrupellos, brutal und hart, Eigenschaften, deren Opfer auch Blutsverwandte werden. Jurtalana wird nicht nur zum Totschläger eines Jungen, den er beim Stehlen in seinem Maisfeld erwischt, er läßt auch seinen kranken Sohn so schwer arbeiten, daß er dessen Tod verursacht. Es ist also festzuhalten, daß Karaslawow die negativen Auswirkungen des Besitzdenkens nicht pauschalierte, sondern konkret und in Verbindung mit dem jeweiligen sozialen Status der Figuren gestaltete. Auch ließ er sich zu keiner Schwarz-Weiß-Malerei hinreißen. Weder Marjola noch Jurtalana sind von Natur aus „böse"; Marjola hat nicht einmal ein „hartes" Herz, sie ist unfähig, Toschka mit eigener Hand umzubringen und überlegt wochenlang, wie sie es anstellen soll, daß nicht sie, sondern die Schwiegertochter selbst das tödliche Stechapfelpulver in ihre Weinschale schüttet. Jurtalana ist sehr arbeitsam und tüchtig, er bedauert zutiefst den „Unfall" mit dem Jungen und später den Tod seines Sohnes. Man spürt als Leser,
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daß Karaslawow beide Figuren - bei aller inneren Distanz - weder haßt noch verachtet, daß er den „guten Kern" in ihnen, so unterdrückt er auch sein mag und so schwach er zum Vorschein kommt, nicht aus den Augen verlieren kann und will. 298 Dies ist sehr aufschlußreich für Karaslawows Humanismus und hängt eng mit seinem Konzept von der S c h u l d f r a g e zusammen. Danach steckt das „Böse" - und somit die Schuld für begangene Verbrechen - nicht primär im Menschen, sondern in der Gesellschaft, die ihn geformt hat. Mit diesem Konzept, das die Schuldfrage an die Wirklichkeit delegierte, sind einige Besonderheiten der realistischen Methode des Autors verbunden. Es ist ein Realismus, der die Realität „ruhig und streng analysiert", der „präzise und gegenständlich" ist299, der aber zugleich eine bedrückende, düstere Atmosphäre erzeugt und im Unterschied zu Elin Pelin die Poesie und den entkrampfenden Humor nicht kennt. Man könnte ihn als einen „rauhen" Realismus bezeichnen, der allerdings über die empirisch geschärfte psychologische und sozialdeterminierte Menschengestaltung hinausgeht und für die Realisierung des Ideengehalts auch eindrucksvolle Symbole kennt. Ein Beispiel dafür ist der Titel Stechapfel, der nicht allein die gifthaltige Pflanze bezeichnet, die Toschka tötet, sondern auch eine bildhafte Verallgemeinerung der ideellen Intentionen des Autors - der verderblichen Kraft des Besitzdenkens - ist. Die Verabschiedung des „Mythos" von den „ewigen Nationaltugenden", eine dialektischere Sicht auf das Verhältnis von Nationalem und Sozialem und die künstlerisch überzeugende Gestaltung des Zusammenhanges zwischen individueller und gesellschaftlicher Entwicklung prägten die bulgarische Dorfprosa gegen Ende der dreißiger Jahre wesentlich um. Dank der Leistung, eine traditionell brisante Thematik und Problematik, in der sich die dominierenden Agrarverhältnisse in Bulgarien spiegelten, auf neue Weise niveauvoll behandelt zu haben, meldete die sozialistische Erzählkunst bereits vor 1944 ihren Anspruch auf nationale Repräsentanz an. Daß sie dies anhand der Gestaltung von Stoffen erreichte, die ihr das kapitalistische Dorf, nicht aber das Leben der Arbeiterklasse bot, macht sie z. B. mit der slowakischen sozialistischen Prosa der zwanziger und dreißiger Jahre vergleichbar, in der das bäuerliche Milieu ebenfalls das Thema nationalrepräsentativer Werke bildete.300 Stechapfel und Die Schwiegertochter gehören zum wertvollen Erbe, an das die bulgarische Prosa nach der Befreiung des Landes vom Faschismus anknüpfen konnte. 216
Übergangsperiode und entwickelte sozialistische Gesellschaft
Zur Prosaenttvicklung von
1944—1949
In die Zeit von 1944 bis 1949 fällt in Bulgarien die erste Phase der Übergangsperiode. Zu dieser Periode (1944-1956/58) wäre grundsätzlich zu sagen, daß sie ein revolutionärer Prozeß war, in dem sich antifaschistisch-demokratische und sozialistische Umgestaltung einheitlich und in wechselseitiger Abhängigkeit vollzogen. Sie beginnt daher nicht erst im Dezember 1948 (als auf dem V. Parteitag der B K P das Programm für den Aufbau der Grundlagen des Sozialismus verabschiedet wurde), sondern bereits am 9. September 1944. D a es sich in unserem Verständnis um Literatur mit einem „eigenen Begründungszusammenhang" handelt 301 , die einer längst abgeschlossenen Etappe der gesellschaftlichen Entwicklung angehört, wird sie hier nicht mit den für die Gegenwartsliteratur üblichen Bewertungskriterien, sondern mit historisierenden Methoden behandelt. Das eröffnet uns die Möglichkeit, der Spezifik der Literatur dieser Zeit besser gerecht zu werden und zu einer dialektischen Betrachtung der damaligen Funktionen und Leistungen zu gelangen, die Abwertungen wie auch eine angestrengte Verteidigung gleichermaßen ausschließt. Durch den Volksaufstand vom 9. September 1944, den die Sowjetarmee unterstützt hatte, wurde das monarchofaschistische Regime in Bulgarien gestürzt und die erste Regierung der Vaterländischen Front gebildet. Die Vaterländische Front war auf Initiative Georgi Dimitroffs nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion entstanden. Diese Bewegung verfolgte das Ziel, das seit 1941 bestehende Bündnis zwischen Deutschland und Bulgarien zu lösen, den Faschismus im eigenen Land zu beseitigen und Freundschaft mit allen Völkern anzustreben. Zunächst mobilisierte die neue Regierung alle Kräfte des Landes für die endgültige Zerschlagung Hitlerdeutschlands - Bulgarien entsandte Truppen an die Front, die bis Kriegsende an der Seite der Sowjetunion kämpften. Dann wurden 217
die ersten politischen und ökonomischen Maßnahmen der volksdemokratischen Revolution getroffen: Im März 1946 wurde die Bodenreform durchgeführt, ein halbes Jahr später die Monarchie beseitigt und in Bulgarien die Volksrepublik proklamiert. D e m Friedensvertrag von Paris im Februar 1947 folgten Gesetze über die Nationalisierung der Schlüsselindustrie, der Banken sowie die Annahme einer volksdemokratischen Verfassung. Nachdem die innere Opposition beseitigt war und die Kommunistische Partei sich im Mai 1948 mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Bulgariens vereinigt hatte, wurde schließlich auf dem V. Parteitag der B K P (Dezember 1948) die Errichtung der Grundlagen des Sozialismus beschlossen. Die Volksdemokratische Revolution und der damit eingeleitete Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus wiesen der Literatur in Bulgarien neue Aufgaben zu. In der ersten Phase der Übergangsperiode (1944-1949) rechnete die Regierung mit dem Faschismus ab, es dominierten allgemein-demokratische Zielsetzungen besonders im Bereich des Sozialwesens und der Kultur, die ihrerseits den Weg für eine sozialistische Umgestaltung ebneten. Als maßgebendes kulturpolitisches Dokument der B K P dieser Zeit gilt Georgi Dimitroffs Brief an den Bulgarischen Schriftstellerverband vom 14. Mai 1945, in dem der nationalen Literatur innerhalb der beginnenden Kulturrevolution eine verantwortliche Aufklärungs- und Erziehungsfunktion übertragen wurde. Von der Thematik her erhielten die Widerstandsbewegung und der Vaterländische Krieg gegen Nazideutschland, der Kampf gegen den großbulgarischen Chauvinismus, die Förderung der slawischen Gemeinsamkeit, die internationale Solidarität und die Freundschaft zur Sowjetunion den Vorrang. Entsprechend den Hinweisen Dimitroffs arbeitete Todor Pawlow seine bereits Ende 1944 dargelegten Auffassungen von einer „Vaterländischen Literaturfront" zu einem Programm der Nationalliteratur aus, das auf der ersten Konferenz der bulgarischen Schriftsteller im September 1945 verkündet wurde und bis 1949 in K r a f t blieb. Dieses Programm sah vor, daß die sozialistischen Schriftsteller ihr Bündnis mit den demokratischen Schriftstellern stärken, ästhetische und weltanschauliche Unterschiede tolerieren, dabei aber die Vorzüge der sozialistisch-realistischen Methode durch ihre Werke beweisen sollten. Die Politik der Toleranz, die mit freundschaftlicher Kritik und Überzeugung gepaart war, erleichterte es vielen demokratischen Schriftstellern, sich einen sozialistischen Standpunkt
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zu schaffen. Begünstigt wurde dieser Vorgang allerdings dadurch, daß die meisten Künstler ohnehin die mehr oder weniger faschistoiden Regierungen abgelehnt hatten, die seit dem militärfaschistischen Putsch im Juni 1923 einander gefolgt waren. So ist es nicht verwunderlich, daß sich bürgerliche Schriftsteller wie Elin Pelin, Konstantin Petkanow oder Dora Gabe ohne Zögern zur Demokratie und zum Sozialismus bekannten und sich von Anfang an am Aufbau der neuen Gesellschaft beteiligten. Es gab bis auf wenige Ausnahmen keine Opposition zur volksdemokratischen Macht, kein einziger bulgarischer Schriftsteller ging in die Emigration. In den Debatten der ersten Phase suchten die sozialistischen Autoren das Konzept einer aktuellen, wirklichkeitsorientierten und massenwirksamen Kunst durchzusetzen. D a die Literatur nun in erster Linie eine erzieherische und mobilisierende Funktion zu erfüllen hatte, kamen mehr und mehr die Methode und die Ideologie des Künstlers zur Sprache. Die größte Bedeutung wurde dabei der sozialistischen Weltanschauung beigemessen, weniger den Schaffensprinzipien, obwohl darüber seitens der marxistischen Literaturtheorie und -kritik klare Vorstellungen existierten. Sie fußten allerdings weitgehend auf der in Bulgarien schon in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre verbreiteten Realismus-Antirealismus-Theorie: Der sozialistische Realismus wurde als die Befruchtung des von dieser Theorie abgeleiteten Realismusbegriffs durch die kommunistische Weltanschauung und Parteilichkeit begriffen; das Verständnis der realistischen Methode als einer historischen Kategorie ging dabei verloren. Natürlich war die Annäherung an sozialistische Positionen nicht bei allen bürgerlichen Autoren schnell und unproblematisch. Manche von ihnen bekannten sich zwar zur neuen Gesellschaft, lehnten jedoch eine Politisierung der Kunst ab. So vertrat beispielsweise Atanas Daltschew die Ansicht, d a ß nur ein schwacher Künstler der Ideologie bedürfe, der begabte schaffe auch ohne ihre Hilfe W e r k e von bleibendem Wert. In dieser Haltung spiegelte sich der für jene Phase charakteristische Disput um den Charakter der Volksdemokratie deutlich wider. Ein Teil der beteiligten Parteien und Gruppierungen wollte diese als bürgerliche Demokratie praktiziert sehen und in diesem Sinne die „Freiheit des Künstlers", seine „politische Unabhängigkeit" unterstützen. In diesen Auseinandersetzungen beriefen sich die bulgarischen sozialistischen Schriftsteller auf die Erfahrungen der Sowjetlitera-
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tur, wobei sie durch das historisch begründete starke Interesse der bulgarischen Intelligenz für die russische und sowjetische Literatur und Kunst bestärkt wurden. In zahlreichen Artikeln wurden sowjetische Autoren gewürdigt, die Zahl der Übersetzungen nahm rapide zu. Zwischen 1944 und 1949 erschienen in Bulgarien etwa 150 russische und sowjetische Bücher, darunter fast lückenlos alle bedeutenden Werke der Sowjetprosa, von Furmanows Tschapajew und Serafimowitschs Der eiserne Strom bis hin zu den kurz nach Kriegsende abgeschlossenen Romanen Der wahre Mensch von Polewoi und Weggefährten von Wera Panowa. Diese Werke gaben den bulgarischen Autoren vielfältige Impulse insbesondere für die Gestaltung des Widerstandskämpfers, der damals den „positiven Helden" verkörperte. Zur Entwicklung der bulgarischen Literatur in dieser Phase trugen die Debatten um das nationalliterarische Erbe wesentlich bei. Der auf der ersten nationalen Konferenz der Schriftsteller 1945 unternommene Versuch, alle vorausgegangenen Erfahrungen aus der Sicht der historischen Wende zu werten, mußte auf Grund der recht unterschiedlichen ästhetischen und weltanschaulichen Standpunkte der Teilnehmer im Allgemeinen und Grundsätzlichen befangen bleiben. Dennoch gelangte die Konferenz zu einigen richtungweisenden Ergebnissen: Unbedingt angeknüpft werden sollte beim „klassischen", sozial engagierten Realismus der Jahrhundertwende (Wasow), bei der - auf wenige Namen und Spitzenleistungen reduzierten proletarisch-revolutionären Literatur sowie ihrer direkten Vorgängerin, der revolutionär-demokratischen Literatur des 19. Jahrhunderts (vor allem Botew). Vom Erbe ausgeschlossen blieben nur die Bücher einiger profaschistischer Autoren. Keine einzige literarische Strömung oder Gruppierung insgesamt, nicht einmal der Symbolismus, auf dessen Beitrag zur Vervollkommnung der poetischen Sprache viele Redner ausdrücklich hinwiesen, wurde als Tradition grundsätzlich abgelehnt. Die von 1944 bis 1949 vorherrschenden Prosaformen - Erzählung und Powest - waren bewährte, seit je häufig verwendete Genres. Hauptthemen der Prosa bis 1949 waren - wie in der Lyrik - der Widerstandskampf und der Vaterländische Krieg. Vor allem erschienen Chroniken und Memoiren, kleinere und größere dokumentarische Erzählungen, ganz unmittelbar und historisch getreu im Detail, geschrieben von Schriftstellern oder Laien, die Partisanen, politische Häftlinge oder Soldaten waren. In den besten Büchern, 220
etwa V Lopjanskata gora (Jm Wald von Lopjane; 1947) von Wesselin Andreew oder Pleneno jato. Zatvorniceska chronika (Die gefangene Schar. Eine Gefängnischronik; 1948) von Emil Manow, begnügten sich die Autoren nicht damit, authentische Fakten und Erlebnisse aufzuzeichnen, sondern sie bereiteten ihr Material künstlerisch auf. Werke, in denen das fiktive Element überwog, gelangen in der Phase bis 1949 kaum: Sie waren meist illustrativ, deklarativ und von einem äußerlichen Pathos getragen, ihre Figuren entweder nur positiv oder nur negativ und kaum individualisiert; der Aufbau folgt gewöhnlich dem Schema Unterdrückung, Kampf, Sieg. Dies gilt besonders für die Romanversuche. So baute Charalan Russew in Po strämninite (Auf steilen Wegen; 1948) die Handlung aus kleinen, illustrativen Episoden auf, in denen sich Widerstandskampf und gesellschaftliche Zusammenhänge in Bulgarien vor 1944 äußerst oberflächlich und simpel spiegeln. Solche Arbeiten sind heute vergessen. Damals vermochten sie jedoch durch ihren klaren Klassenstandpunkt und die gewiesene gesellschaftliche Perspektive auf das Publikum einzuwirken. Von den Schwierigkeiten, Themen wie Antifaschismus und Krieg in den ersten Jahren nach 1944 in der größeren Form zu behandeln, zeugt auch der Roman Stäpki v snega (Schritte im Schnee; 1946). Der Kommunist Andrej Guljaschki versuchte hier, schematischen Lösungen und Konstruktionen zu entgehen: Er verwandte bei der beabsichtigten Gesellschaftsanalyse und der Darstellung des Klassenkampfes weiterhin die Mittel der Abenteuer- und Trivialliteratur, zu denen er vor dem Krieg gegriffen hatte, um die Zensur zu täuschen. Guljaschkis Standpunkt, ein Buch müsse den Leser unbedingt erreichen und auf ihn wirken, enthielt zwar einen wahren Kern, doch realisierte er ihn mit überholten und für den neuen Zweck wenig geeigneten Mitteln. Auch Pawel Weshinows Versuch, die Gesellschaft am Vorabend des zweiten Weltkrieges mit dem Instrumentarium der bürgerlichen Trivial- und Sensationsliteratur zu analysieren und so den historisch bedingten Untergang der bulgarischen Bourgeoisie glaubhaft zu machen, mußte scheitern. Sein bereits 1942/43 entstandener, aber erst 1947 veröffentlichter Roman Sinijat zalez (Der blaue Sonnenuntergang) war in jeder Beziehung ein Anachronismus, zumal sich die ästhetischen Ansichten des Autors in der Zwischenzeit weitgehend geändert hatten. Ausschlaggebend dafür war Weshinows Auseinandersetzung mit dem Vaterländischen Krieg, an dem er Selbst als Frontkorrespondent teilgenommen hätte. 221
Davon zeugt die Powest Vtora rota (Die zweite Kompanie; 1949). Im Unterschied zu Autoren wie Jordan Waltschew, der aus einer pazifistisch-naturalistischen Sicht in dem Erzählungsband Boeve (Schlachten; 1946) nur die Schrecken des Krieges und das Leid der Soldaten schilderte, verstand es Weshinow hier, mit sparsamen künstlerischen Mitteln und ohne hohles Pathos den Charakter desVaterländischen Krieges zu enthüllen und wichtige Fragen der Übergangszeit wie das Zerschlagen der inneren Opposition und die Wandlungsproblematik zu erörtern sowie die führende Rolle der Kommunistischen Partei zu veranschaulichen. In diesen Jahren wurde die Prosa mit antifaschistischer Thematik vornehmlich durch Georgi Karaslawow repräsentiert. Mit Tango (Tango; 1948) gelang es ihm zu einer Zeit, als Operativität und umfassendere Abrechnung mit der jüngsten Vergangenheit gefragt waren, diesem Bedürfnis nachzukommen. Dabei nutzte er die Möglichkeiten der Powest maximal. Der eigenwillige Aufbau mit seinen nur durch die Fabel verbundenen Erzählteilen, in denen die Handlung fast synchron verläuft, gestattete es Karaslawow, wichtige Vorgänge während des zweiten Weltkrieges in ihrem Zusammenhang vorzuführen und eine künstlerische Synthese zu erreichen. Ihm kamen nun die Erfahrungen der soz'ialanalytischen Prosa der dreißiger Jahre sowie der von ihm selbst erreichte hohe Grad psychologischer Auslotung der Figuren zugute. So konnte er den moralischen Verfall der bürgerlichen Klasse und den opferreichen Kampf des Volkes gegen den Faschismus an einprägsamen Gestalten schildern. Die Widerstandsbewegung und den Krieg zu behandeln war für bürgerliche Autoren in ästhetischer und ideologischer Hinsicht sehr bedeutsam. Emilijan Stanew und Dimitar Dimow näherten sich dabei relativ rasch den Positionen der sozialistischen Literatur. Andere bürgerliche Schriftsteller, z. B. Konstantin Petkanow in Belite izvori (Die weißen Quellen; 1945), schrieben nach wie vor über die bäuerliche Vergangenheit, gingen dabei von einem abstrakten Humanismus aus und predigten die christliche Versöhnung mit dem Bösen. Bojan Bolgar verfaßte zeitlose und „kosmopolitische" Romane, deren allgemeinmenschliche Problematik weder historisch noch national ausreichend verankert war: Podjalba na stastieto (Teilung des Glücks; 1946) und Vratarjat na Sodom (Der Torwächter von Sodom; 1946). Emilijan Stanew, der in den dreißiger Jahren vor allem Naturerlebnisse beschrieben hatte und dessen gesellschaftliches Interesse 222
sich in kritischer Distanz zum kleinbürgerlichen Dasein erschöpfte, wandte sich mit der Erzählung V ticba vecer {An einem stillen Abend; 1948) einer Episode aus dem antifaschistischen Widerstand und somit erstmals einem politisch bedeutsamen Stoff zu. Wenn auch in der psychologisierenden und romantisch gefärbten Sicht der soziale Bezug verkürzt erscheint, markierte doch die Aufnahme eines neuen Helden, eines Kommunisten, die Wende in seinem Schaffen. Ein Jahr später entstand die formvollendete Rahmennovelle Kradecät na praskovi (Der Pfirsichdieb; 1948), in der Stanew die Figuren psychologisch erkundete und zugleich sozial fundierte. Diese Liebesgeschichte, in der das Aufbegehren einer Frau gegen kleinbürgerliche Moralkonventionen tragisch endet, ist eine packende Anklage gegen den imperialistischen Krieg (die Handlung der Binnenerzählung spielt während des ersten Weltkrieges). Ähnliches ist bei Dimitar Dimow zu beobachten. War er in den dreißiger Jahren von der Freudschen Psychologie allzusehr beeinflußt und wegen ungenügender sozialer Determinierung seiner Figuren im Roman Porucik Benc (Oberleutnant Benz; 1938) in Gegensatz zu den realistischen Traditionen der bulgarischen Literatur geraten, so überwand er bereits mit seinem ersten Werk unmittelbar nach Kriegsende die psychologische Verabsolutierung, und es gelang ihm, das Psychologische mit dem Gesellschaftlichen überzeugend zu verbinden. Im Roman Osädeni dusi (Verdammte Seelen; 1945) sollen das Schicksal und die Beziehungen der Hauptfiguren zueinander sowie zum revolutionären Spanien der Bürgerkriegszeit demonstrieren, daß der Untergang der spätbürgerlichen Gesellschaft unabwendbar ist. Mit diesem Werk begründete Dimow eine moderne intellektuellanalytische und philosophische Prosa, welche die sozialistisch-realistische Gestaltungsweise bereicherte und sich für die weitere Entwicklung der nationalen Literatur als höchst produktiv erwies.
Der Gesellscbaftsroman der fünfziger Jabre Die „epische Welle", die der bulgarischen Literaturentwicklung in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre das Gepräge gab - damals entstanden mehrere breit angelegte Gesellschaftsromane und Romanepen über Grundfragen des geschichtlichen Weges der Nation zur sozialistischen Gegenwart - , erregte in der bulgarischen Öffentlichkeit anfangs um so größere Aufmerksamkeit, als die nationale 223
sich in kritischer Distanz zum kleinbürgerlichen Dasein erschöpfte, wandte sich mit der Erzählung V ticba vecer {An einem stillen Abend; 1948) einer Episode aus dem antifaschistischen Widerstand und somit erstmals einem politisch bedeutsamen Stoff zu. Wenn auch in der psychologisierenden und romantisch gefärbten Sicht der soziale Bezug verkürzt erscheint, markierte doch die Aufnahme eines neuen Helden, eines Kommunisten, die Wende in seinem Schaffen. Ein Jahr später entstand die formvollendete Rahmennovelle Kradecät na praskovi (Der Pfirsichdieb; 1948), in der Stanew die Figuren psychologisch erkundete und zugleich sozial fundierte. Diese Liebesgeschichte, in der das Aufbegehren einer Frau gegen kleinbürgerliche Moralkonventionen tragisch endet, ist eine packende Anklage gegen den imperialistischen Krieg (die Handlung der Binnenerzählung spielt während des ersten Weltkrieges). Ähnliches ist bei Dimitar Dimow zu beobachten. War er in den dreißiger Jahren von der Freudschen Psychologie allzusehr beeinflußt und wegen ungenügender sozialer Determinierung seiner Figuren im Roman Porucik Benc (Oberleutnant Benz; 1938) in Gegensatz zu den realistischen Traditionen der bulgarischen Literatur geraten, so überwand er bereits mit seinem ersten Werk unmittelbar nach Kriegsende die psychologische Verabsolutierung, und es gelang ihm, das Psychologische mit dem Gesellschaftlichen überzeugend zu verbinden. Im Roman Osädeni dusi (Verdammte Seelen; 1945) sollen das Schicksal und die Beziehungen der Hauptfiguren zueinander sowie zum revolutionären Spanien der Bürgerkriegszeit demonstrieren, daß der Untergang der spätbürgerlichen Gesellschaft unabwendbar ist. Mit diesem Werk begründete Dimow eine moderne intellektuellanalytische und philosophische Prosa, welche die sozialistisch-realistische Gestaltungsweise bereicherte und sich für die weitere Entwicklung der nationalen Literatur als höchst produktiv erwies.
Der Gesellscbaftsroman der fünfziger Jabre Die „epische Welle", die der bulgarischen Literaturentwicklung in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre das Gepräge gab - damals entstanden mehrere breit angelegte Gesellschaftsromane und Romanepen über Grundfragen des geschichtlichen Weges der Nation zur sozialistischen Gegenwart - , erregte in der bulgarischen Öffentlichkeit anfangs um so größere Aufmerksamkeit, als die nationale 223
Romantradition bis dahin lediglich drei größere epische Werke von Rang aufwies: Iwan Wasows Roman-Epopöe Unter dem ]och, Sachari Stojanows Memoiren Der Aufbruch der fliegenden Schar. Chronik der bulgarischen Aufstände 1875/1876 sowie den historischen Roman Der jüngste Tag (1931-1934) von Stojan Sagortschinow. Vor diesem Hintergrund nahm sich das plötzliche Aufblühen großer epischer Formen in relativ kurzer Zeit für viele Kritiker in Bulgarien zunächst als ein nationalspezifisches Phänomen aus. Ein Blick auf die gleichzeitige Entwicklung in anderen sozialistischen Ländern legte dann jedoch die Schlußfolgerung nahe, daß es sich hier vielmehr um einen übernationalen literarischen Trend handelte. Dessen ungeachtet liegt auch in neueren bulgarischen Untersuchungen zur Struktur und Poetik des Romans dieser Periode noch immer der Akzent auf der nationalen Spezifik. Im epischen Werk werden z. B. grundsätzlich zwei Ebenen - die der realgeschichtlichen Ereignisse und die des Alltags der Figuren - unterschieden, deren Verhältnis zueinander gelegentlich sogar zur Klassifizierung der Romane genutzt wird.302 Der Begriff „episch" wird nicht nur auf die Gesamtstruktur des Werkes, sondern auch auf die Anlage der Figuren in dem Sinne bezogen, daß sie in erster Linie durch ihr eindeutiges Verhältnis zu den großen Ideen der Zeit und ihren festen Platz in der historischen Bewegung determiniert erscheinen.303 Dabei fällt auf, daß Fragen der Genreentwicklung vorwiegend mit Erscheinungen und Veränderungen der sozialen Basis in Zusammenhang gebracht, Überbaufaktoren wie Kulturpolitik und Literaturtheorie zwischen 1949 und 1956 aber grundsätzlich mit einem negativen Vorzeichen versehen werden. So herrscht beispielsweise die Ansicht vor, die Leistung des bulgarischen Gesellschaftsromans Anfang der fünfziger Jahre erkläre sich vor allem aus der endlich erreichten „epischen Reife", aus dem Sinn für „epische Dimensionen", wie er erst durch die geschichtliche Wende seit dem 9. September 1944 befördert worden sei. Dieser „epische Geist der Zeit" sei eben stärker als alle vom Dogmatismus und Schematismus der damaligen Literaturtheorie errichteten Hindernisse gewesen, künstlerisch überzeugende Werke zu schaffen.304 Die diffizile Problematik der Übergangsperiode wird aus solcher Perspektive folgendermaßen vereinfacht: „Es ist interessant und wichtig, in den damaligen Debatten, Polemiken und Wertungsschwankungen sowie in der Struktur der Romane die Merkmale jener widerspruchsvollen und rauhen Zeit aufzudecken, die später nicht zufällig .Periode des Personenkults' 224
genannt wurde und von Dogmatismus, Verletzung der Leninschen Normen für das parteiliche und gesellschaftliche Leben, von einer Simplifizierung und strengen Rationalisierung der Ästhetik und der Literaturbetrachtung gekennzeichnet war. Es muß betont werden, daß sich der Erfolg des bulgarischen Romans in dieser Periode n i c h t d a n k , s o n d e r n t r o t z (Hervorhebung D . W.) vereinfachender und dogmatisierender Ästhetik sowie trotz grober Administrierung erklärt." 305 Zu fragen ist demnach, ob die Gipfelleistungen der bulgarischen Epik in der Übergangsperiode nun wirklich „nicht dank, sondern trotz" der damaligen Theoriebildung und trotz des damaligen Funktionsverständnisses von Literatur sowie der damit einhergehenden kulturpolitischen Maßnahmen entstanden sind oder o b h i e r n i c h t v i e l m e h r ein k o m p l i z i e r t e s d i a l e k t i s c h e s V e r hältnis von wechselseitiger A n r e g u n g , Förder u n g u n d K o r r e k t u r v o r l i e g t . Diese Frage kann nicht beantwortet werden, ohne die literarischen und gesellschaftlichen Prozesse nach 1948 in Bulgarien näher zu betrachten. Die endgültige Lösung der Klassenfrage (durch Zerschlagung der politischen und ökonomischen Positionen der inneren Opposition), der Beschluß über den Aufbau der Grundlagen des Sozialismus auf dem V. Parteitag der BKP sowie die Eingliederung Bulgariens in das sich formierende sozialistische Weltsystem (Freundschaftsverträge mit der Sowjetunion und den anderen Volksdemokratien, Beteiligung an der Gründung des RGW) leiteten 1948/49 eine neue Phase in der Geschichte Bulgariens und in der nationalen Literaturentwicklung ein. Waren in der vorangegangenen Phase von 1944 bis 1948 die Kulturpolitik der BKP sowie die Tätigkeit des Bulgarischen Schriftstellerverbandes als einer den literarischen Prozeß unmittelbar lenkenden Organisation primär darauf gerichtet gewesen, das antifaschistische Bündnis der sozialistischen und der demokratischen Literatur fortzuführen, so wurde jetzt die Frage nach der Herausbildung einer sozialistischen Nationalliteratur offen ausgesprochen. In der Resolution des V. Parteitages der BKP zu Fragen der Kultur und zum Kampf an der ideologischen Front wurden schon Ende 1948 Maßnahmen gefordert, „die weitere Entwicklung der schöngeistigen Literatur auf dem Weg des sozialistischen Realismus zu sichern" 306 . In der Zeit nach 1956 sah man in dieser Resolution oft Ansätze zu einer „Administrierung" und „Dogmatisierung" des Kunstpro15
Witschew, Bulg. Prosa
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zesses. Dabei wurde ganz und gar außer acht gelassen, daß mit dem Übergang zur Diktatur des Proletariats Ende 1948 auch die Literatur Teil der politischen Machtausübung der Arbeiterklasse geworden war, was unweigerlich programmatische Anstrengungen erforderte. Nicht die Resolution an sich, die die Herausbildung einer sozialistischen Nationalliteratur entsprechend der herangereiften neuen gesellschaftlichen Situation forcierte, sondern ihre vulgarisierenden Interpretationen, die von übernationalen Tendenzen beeinflußten Anwendungspraktiken seitens einiger führender Literaturkritiker haben zu dieser Entwicklung geführt. So erkannte z. B. Stojan Karolew in der Resolution nicht die Dialektik von Weiterführung und Neuansatz, sondern stellte bewußt den Bruch zur Literaturpolitik von 1944 bis 1948 heraus: „Die bevorstehende Verabschiedung des Entwurfs einer Resolution zur marxistisch-leninistischen Bildung und zum Kampf an der ideologischen Front auf dem V. Parteitag der BKP wird entscheidend die irrtümliche Ansicht überwinden helfen, daß alle literarischen Strömungen und Methoden - sofern sie der Vaterländischen Front nicht feindlich gegenüberstehen - eine Existenzberechtigung bei uns hätten, daß es zwischen diesen Strömungen und Methoden ein Wettbewerbsverhältnis gäbe usw. . . . Eine solche Theorie bedeutet in der Praxis eine Förderung von formalistischer und reaktionärer Kunst, eine Verneinung der Möglichkeit und Notwendigkeit, daß der Schriftsteller seine Psyche und Methode verändert, um eine vollwertige Kunst im Dienst des Volkes zu schaffen." 307 Karolews schroffe, auf eine Revision der bisherigen (vor allem von Todor Pawlow geprägten) kulturpolitischen Konzeption der BKP hinauslaufende Haltung hing aufs engste mit der übernationalen Formalismus-Diskussion zusammen. Der Beginn des „kalten Krieges" machte effektivere Maßnahmen nötig, um den Kampfwert der sozialistischen Literatur und Kunst in der weltweiten Klassenauseinandersetzung mit dem Imperialismus zu erhöhen und dem Einfluß der feindlichen Ideologie entgegenzuwirken. Es lag gewiß nicht nur am damaligen Stand der Theoriebildung, sondern auch an der durch die internationale Lage erforderlichen schnellen und scharfen Abgrenzung von der bürgerlichen Kultur des Westens, daß nicht alle Erfahrungen und Möglichkeiten künstlerischer Wirksamkeit sozialistischer Literatur berücksichtigt und manche Auffassungen und Prinzipien simplifiziert, überzogen wurden. Auch in Bulgarien wurde die Leninsche Theorie von den zwei Kulturen 226
mechanisch angewandt, wurden Realismus oder Formalismus, allgemeinverständliche, volksnahe Kunst oder Dekadenz als Alternativen hingestellt, wurde praktisch die spätbürgerliche Literatur schlechthin undifferenziert als Verfallserscheinung abqualifiziert, die künstlerische Wahrheit auf die Einheit von kommunistischer Parteilichkeit und Gegenstandstreue der Gestaltung reduziert. All das führte zunächst zu radikalen Verengungen bei der Rezeption der Weltliteratur. Während man sich weiterhin auf die Werke der klassischen russischen und sowjetischen Literatur orientierte und jetzt auch das Interesse für die Literaturen der Volksdemokratien ständig zunahm, wurden aus der westeuropäischen und amerikanischen Literatur, von Balzac abgesehen, nur einige wenige kommunistische und fortschrittliche Gegenwartsschriftsteller wie Howard Fast, Jorge Amado, André Stil, Louis Aragon oder James Aldridge übersetzt. Einschneidende Veränderungen ergaben sich auch in bezug auf das nationale Literaturerbe. Der Ablehnung fielen nicht allein die nun als „dekadent" bewerteten Symbolisten und deren Vorgänger, die Gruppe um die Zeitschrift Misäl, anheim. Mit den „psychologischen" bzw. „ethischen" Realisten der dreißiger Jahre (Jordan Jowkow, G. Raitschew, K. Konstantinow und A. Karalijtschew) fiel ein weiterer wichtiger Erbestrang aus. 308 Da Hauptgegenstand seiner Gedichte die Privatsphäre war und blieb, wurde auch Atanas Daltschew zum dekadenten Dichter erklärt, 309 obwohl er durch seine gegenständliche Poesie Mitte bis Ende der zwanziger Jahre entscheidend dazu beigetragen hatte, daß sich die bulgarische Lyrik von der Poetik des Symbolismus abwandte. Umstritten war auch der Satiriker Swetoslaw Minkow; da er sich solcher „moderner", in der bulgarischen Prosa jedenfalls nicht geläufiger künstlerischer Mittel wie der Groteske bediente, sprach man seinem Werk die geforderte Allgemeinverständlichkeit und damit auch die Volksverbundenheit ab. 310 Am kompliziertesten gestaltete sich das Verhältnis zur bulgarischen Avantgarde, die als unmittelbare Reaktion auf die blutige Unterdrückung des antifaschistischen Septemberaufstandes von 1923 entstanden und als „Septemberliteratur" in die nationale Literaturgeschichte eingegangen war. 311 Ihre von linksorientierten und kommunistischen Schriftstellern geschaffenen, emotional geladenen und expressiven Werke brachen mit den Konventionen des bulgarischen Realismus der neunziger Jahre und bereicherten die revolutionäre 15*
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Literatur durch vielfältige künstlerische Verfahren, wie z. B. das Poem September von Geo Milew belegt. Milews revolutionäres Pathos und seine Volksverbundenheit wurden damals zwar hoch gepriesen, die im Poem umfunktionierten expressionistischen und futuristischen Ausdrucksmittel aber zu noch nicht überwundenen Resten modernistischer Einflüsse gestempelt. So wurde in der Erbebeziehung gerade das abgelehnt, was Milew am meisten auszeichnete: die Anwendung künstlerischer Mittel, die den revolutionären Inhalt einem Massenpublikum besonders wirksam vermitteln und erlebbar machen konnten. Ähnlich verfuhren einige Literaturkritiker auch mit anderen Vertretern der „Septemberliteratur". Ihre künstlerischen Darstellungsweisen wurden nicht nach der Funktion und Effektivität befragt, sondern nach ihrem Verhältnis zum Realismus Wasowscher Prägung bzw. zum damaligen Verständnis des sozialistischen Realismus. So geriet der spezifische Beitrag der Avantgarde zur Entwicklung der sozialistischen Literatur gänzlich aus dem Blickfeld, konnten ihre Intentionen für die Aufgaben der Gegenwart nicht produktiv genutzt werden. Die normative Abfragung eines Werkes nach starren Regeln, Forderungen und Erwartungen in bezug auf Inhalt und Form blieb nicht auf das Erbe beschränkt. In der Gegenwartsliteratur brachte das die ernste Gefahr mit sich, daß sich in den unifizierten Grundstrukturen auch die unverwechselbare persönliche Handschrift der Schriftsteller verlor. In der Lyrik wurde z. B. das Spektrum der „zulässigen" stilistischen Mittel so eingeschränkt, daß die Dichter kaum noch voneinander zu unterscheiden, ja ihre Verse austauschbar waren. Wie verhielt sich die „epische Welle" Anfang der fünfziger Jahre zu den hier skizzierten Entwicklungen in der Übergangsperiode? Wie schon eingangs gesagt, berufen sich viele Literaturwissenschaftler, die diesen Aufschwung des bulgarischen Romans heute lediglich aus einem negativen Verhältnis zur Ästhetik und zu den literarischen Verhältnissen in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre erklären, ausschließlich auf die geschichtliche Umwälzung vom 9. September 1944 sowie auf den zeitlichen Abstand von sechs bis sieben Jahren zu ihr: „Eine Bestätigung für einen solchen Ausgangspunkt der Betrachtung finden wir in der Theorie und Praxis des sowjetischen Romans, dessen größte, .kompakteste' Leistung eine gleiche zeitliche Distanz zu den großen Ereignissen aufweist." 312 Für diese Zeit seien „umfassende, monolithische Vorstellungen vom Menschen 228
und seinem Schicksal" kennzeichnend, die Betrachtung des literarischen Helden „als eines Teils, einer Episode, eines Details aus dem überwältigenden Panoramabild der Geschichte, der durch die historische Bewegung voll und ganz geprägt und determiniert ist". 313 Was diese an sich interessanten und wichtigen Beobachtungen zur Epikentwicklung vermissen lassen und sie einseitig macht, ist die ihnen zugrunde gelegte lineare Beziehung zwischen historischem Prozeß und künstlerischem Bewußtsein. Dabei steht außer Frage, daß gerade unter sozialistischen Gesellschaftsverhältnissen - und für die Übergangsperiode gilt das ganz besonders - die Literatur ein wichtiger Bestandteil des ideologischen Umerziehungsprozesses ist und Faktoren wie Literaturprogrammatik oder Publikumsverhältnis eine solche lineare Beziehung kategorisch ausschließen. In der Hinwendung zu einer monumentalen Prosa am Anfang der fünfziger Jahre spiegelt sich nicht primär eine gleichsam automatische, durch den zeitlichen Abstand bedingte Reaktion auf ein entscheidendes historisches Ereignis wider, sondern eher der g a n z b e w u ß t e und auch p r o g r a m m a t i s c h g e l e n k t e Wunsch der Schriftsteller, künstlerisch adäquat die historische Aktivität der Volksmassen zu würdigen, ihr Selbstbewußtsein als Subjekt der Geschichte in einer Zeit höchster Anspannung für die Überwindung der kapitalistischen Vergangenheit und für den Aufbau des neuen Lebens zu fördern. Die Wahrnehmung dieser aktivierenden und erzieherischen Funktion der Literatur war in der Übergangsperiode sowohl für die Stoffund Themenwahl als auch für den gesamten Aufbau und die innere Struktur eines Werkes von spezifischem Gewicht. Es gibt aber noch einen weiteren wichtigen Faktor, aus dem sich die auffallende Verbreitung großer epischer Formen in fast allen europäischen sozialistischen Ländern zu jener Zeit erklärt. Er liegt dort, wo ihn Literaturwissenschaftler, die den Aufschwung des Romans nur als Überwindung der Anfang der fünfziger Jahre verbindlichen literaturtheoretischen Ansichten und literaturpolitischen Maßnahmen betrachten, am wenigsten vermuten, ja geradezu ausschließen müssen: i n d e n d a m a l i g e n R e a l i s m u s a u f f a s s u n g e n s e l b s t , die direkt oder indirekt vom Realismuskonzept Georg Lukäcs' beeinflußt waren. In Bulgarien ist dieser Frage bisher nie bewußt nachgegangen worden, weil Lukäcs nie Gegenstand bedeutender Diskussionen gewesen ist. Seine Thesen sind hier über sowjetische Quellen sozusagen aus zweiter Hand und in modifizierter Form vermittelt wor229
den, so daß auch ihre Wirksamkeit durchaus begrenzt war. Sie äußerte sich weder in einem starken Interesse für die konkreten Erfahrungen des französischen oder russischen kritischen Realismus des 19. Jahrhunderts noch in einer Übernahme geschichtsphilosophischer Aspekte dieses Realismuskonzepts, sondern vielmehr in einer nirgendwo eindeutig formulierten, aber strikt p r a k t i z i e r t e n w e i t g e h e n d e n G l e i c h s e t z u n g d e s R e a l i s t ir s e h e n m i t d e m E p i s c h e n s c h l e c h t h i n , wobei Monumentalität, Breite und Totalität als wesenseigene Merkmale einer sozialistisch-realistischen Kunst erschienen. Von manchen bulgarischen Literaturkritikern wurden diese epischen Maßstäbe als unabdingbare Kriterien künstlerischer Qualität überhaupt angesehen und rigoros, ohne Rücksicht auf Gattungs- und Genrespezifik, auf jedes beliebige Werk angewandt. „Denkt an die Novelle An einem stillen Abend und an die Powest Der Pfirsichdieb von Emilijan Stanew", mahnte z. B. Pentscho Dantschew 1950 die Autoren. „Kann hier von einer Meisterschaft die Rede sein? Es ist eine gedämpfte und halbe Kunst - die Kunst einzelner Bilder, Landschaften und psychologischer Situationen, die zwar durch prägnante Darstellung beeindruckt* doch nicht imstande ist, das Leben umfassend, vertieft und konsequent wahrhaftig zu gestalten . . ," 3 i i Daß man von einer Novelle keine Totalität der abgebildeten Wirklichkeit verlangen kann und darf, respektierte auch Pantelej Sarew nicht: „In An einem stillen Abend ist die Vergangenheit des Helden nicht erhellt (abgesehen von der Andeutung, daß er ein Student ist). Deshalb verliert der Held, obwohl auch psychologisch klar umrissen, an Realitätsbezug und wird gewissermaßen zum Objekt einer psychologischen Etüde des Autors herabgewürdigt . . . Eine solche Gestaltungsmethode ist dem sozialistischen Realismus fremd . . ."315 Man sieht, wie das Verlangen nach komplexer Wirklichkeitsgestaltung hier mit der charakteristischen Voreingenommenheit gegenüber psychologischer Auslotung der Figuren einhergeht. Auf diese Weise wurden zwei der bedeutendsten Werke, die im Anfang der Übergangsperiode (1944 bis 1948) entstanden, als mögliche Muster für die Prosaentwicklung nach 1949 ausgeschaltet. Die Krise der bulgarischen Kurzprosa Anfang der fünfziger Jahre war eine logische Folgeerscheinung der von der Kritik postulierten „epischen Maßstäbe". Der Schriftsteller Krum Grigorow reflektierte diese Entwicklung sehr anschaulich: „In einer kleinen, 4 bis 5 Zeitungsspalten umfassenden Erzählung suchten die Kritiker mit 230
einem Vergrößerungsglas so viele Dinge, die beim besten Willen dort nicht untergebracht werden konnten. Gewöhnlich begannen sie damit: wo ist hier der Parteisekretär, wo ist der positive Held, wo ist der Feind, wo sind die Menschen aus dem Volk . . : Die fünf Spalten wären voll gewesen, wenn man all das auch nur aufgezählt hätte! Man ging bei der Kritik an einem Autor nicht vom Werk selbst aus, sondern umgekehrt - man suchte danach, was dort nach den Vorstellungen der Kritik unbedingt enthalten sein mußte." 316 Besonders folgenschwer wirkte sich die Anwendung epischer Maßstäbe auf die Lyrik aus, wo Genres wie das Liebes- und das Naturgedicht völlig verkümmerten. Sie bestimmte in dieser Gattung aber auch das Verhältnis zum Erbe (so bemängelte man z. B. an Daltschews Lyrik nicht nur „ein blasses und unrichtiges", sondern auch ein „unvollständiges" Bild der Wirklichkeit). Nur das Poem blühte als ein Genre auf, dem bescheinigt wurde, größere gesellschaftliche Zusammenhänge durchschaubar machen zu können. Die „epische Welle", die Ausrichtung auf Totalität der Darstellung und der damit verbundene Aufschwung des bulgarischen Romans Anfang der fünfziger Jahre ist also, so paradox es klingen mag, durchaus a u c h d a n k der damaligen „dogmatisierenden Ästhetik" zustande gekommen. Man darf allerdings diesen Erfolg nicht uneingeschränkt verallgemeinern, denn Vergangenheit und Gegenwart wurden in den großen epischen Werken unterschiedlich bewältigt. Während die Gestaltung der Klassenauseinandersetzungen in der kapitalistischen Gesellschaft bis 1944 sowie des antifaschistischen Widerstandskampfes meist gelang, scheiterten in der Regel Versuche, die Gegenwart, die grundlegenden Umgestaltungsprozesse der neuen Wirklichkeit ebenso breit und dabei künstlerisch überzeugend darzustellen. Diese Tatsache ist allerdings auf mehrere Faktoren zurückzuführen. So mußte die allgemeine Orientierung auf epische Maßstäbe bei Werken mit Gegenwartsthematik schon deshalb auf Schwierigkeiten stoßen, weil die bulgarische Literatur bei der Gestaltung von Industriearbeit und Produktion bis 1944 so gut wie keine Erfahrungen hatte. 31 ' Um diese bei der Erkundung der neuen Wirklichkeit, in der nun die Stadt und der Fabrikarbeiter, der Großbetrieb und seine Leitung in den Vordergrund traten, gewinnen zu können, wären kleinere Prosaformen zweifelsohne geeigneter gewesen als die radikale Hinwendung zur epischen Breite. Hinzu kamen Schwierigkeiten, 231
die objektiv aus der stürmischen Entwicklung der Gesellschaft resultieren (so die immensen Anstrengungen, die ökonomische Zurückgebliebenheit Bulgariens kurzfristig zu überwinden, die gewaltigen Umwälzungsprozesse auf dem Lande). D a hier die ästhetischen Erfahrungen von Iwan Wasow, Balzac oder Lew Tolstoi nicht weiterhalfen, blieb als einzige Inspirationsquelle die sowjetische Literatur mit Aufbauthematik. Doch auch von dieser gingen keineswegs nur positive Impulse aus. Bereits 1953 verwies der Literaturkritiker Jako Molochow nachdrücklich auf die negativen Begleiterscheinungen einer mechanischen Übertragung von Erfahrungen der Sowjetliteratur. 318 Auf dem II. Kongreß der Sowjetschriftsteller nahm Nikolai Tichonow offen dazu Stellung: „Die Konfliktlosigkeit, die sehr lange Gast in der Sowjetliteratur war, wirkte sich auch auf die Literaturen der Volksdemokratien aus." 319 In Bulgarien war davon vor allem der „Produktionsroman" betroffen. Appelle wie „Unsere Leser erwarten mit Ungeduld Werke, in denen die sozialistische Arbeit nicht mehr nur den Hintergrund, die Atmosphäre abgibt, sondern den Hauptinhalt bildet", wurden von manchen Autoren dahingehend beantwortet, daß der Mensch als Hauptgegenstand der Gestaltung durch die Beschreibung von Produktions- und technologischen Prozessen weitgehend überlagert wurde. Von den Lesern abgelehnt und auch von der Kritik, die sie herbeigewünscht hatte, scharf verurteilt, vermochten sich die Produktionsromane nur kurz (um 1952) zu behaupten. Sie signalisierten am deutlichsten die Gefahren voluntaristischer Gegenwartsgestaltung und forderten zur Überprüfung der gültigen literaturtheoretischen und ästhetischen Kriterien heraus. Wirksam verdrängt wurden sie von den gleichzeitig entstandenen Roman-Epopöen, in denen wichtige Ereignisse der ferneren und jüngsten Vergangenheit des bulgarischen Volkes gestaltet waren. Im Unterschied zu den Gegenwartsromanen wirkte sich die allgemeine Orientierung auf dös Realismusmodell des 19. Jahrhunderts hier förderlich aus. Daß ihre Autoren die Kontinuität zur nationalen realistischen Tradition (vor allem zum Realismus Wasowscher Prägung) bewahrten, erwies sich nicht nur für die Umsetzung ihrer künstlerischen Intentionen und für die Publikumswirksamkeit als Vorteil, sondern verlieh auch ihren neuen ästhetischen Lösungsvorschlägen innerhalb der aktuellen Literaturdebatten große Durchschlagskraft. Unter den für die „epische Welle" besonders repräsentativen Wer232
ken setzte die Tetralogie Dimitar Talews Zeleznijat svetilnik (Der eiserne Leuchter), Prespanskite kambani (Die Glocken von Prespa), 1 linden (Der Eliastag) und Glasovete vi cuvam (Ich höre eure Stimmen) die Tradition der Wasowschen Roman-Epopöe Unter dem Joch organisch fort.320 Ursprünglich (bereits vor dem zweiten Weltkrieg) als ein Familienroman von bescheidenem Umfang konzipiert, wurde dieses Werk zu einem monumentalen Geschichtsbild der bulgarischen Volksbewegung zur Zeit der nationalen Wiedergeburt. Talew hielt zwar am Familienroman fest, im Mittelpunkt der Handlung stehen drei Generationen einer Familie mazedonischer Bulgaren, der Glauschews. Doch er vermochte an ihrem Schicksal zu demonstrieren, wie das Vordringen der nationalen Wiedergeburtsideen in den vom feudalistischen osmanischen Reich unterdrückten Balkanvölkern Persönlichkeiten prägte und sich das erwachte nationale Bewußtsein allmählich zur leidenschaftlichen Solidarisierung mit dem von der Geschichte hart geprüften eigenen Volk steigerte, bis es schließlich zu revolutionären Aktionen gegen griechische Geistlichkeit und fremdnationale Herrschaft kam. Der Roman umfaßt alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens der Bulgaren im 19. Jahrhundert. Und jeder Bereich, sei es die Familie, der Markt mit den allmächtigen Handwerkerzünften, der Gemeinderat, die Schule oder die Kirche, wird zur Arena erbitterter, opferreicher Kämpfe zwischen den antagonistischen historischen Kräften und Tendenzen, bei denen es um die geistige und moralische Befreiung des Menschen aus mittelalterlichen Fesseln und zugleich um die Geburt der bürgerlichen Nation geht. Ebenso wie die Wasowsche wird auch Talews Figurengestaltung nicht von sozialer Zugehörigkeit, sondern von der Stellung in der nationalen Befreiungsbewegung bestimmt. Wasows Beispiel folgt Talew auch bei der Milieuschilderung, die auf nationale Besonderheit aus ist, sowie bei der Psychologisierung der Figuren. Kein anderer bulgarischer Schriftsteller hat das Familienleben des 19. Jahrhunderts in seinen historischen Wandlungen und Spannungen und als Hort des „Bulgarentums" unter fremdländischem Joch so treffend und differenziert gestaltet wie Talew. Und es gibt nur wenige, denen eine solche psychologische Auslotung und Individualisierung der Figuren überhaupt gelang. In dieser Beziehung ging Talew über Wasow hinaus und vereinigte in seinem Werk das Wasowsche Erbe mit dem psychologischen und ethischen Realismus eines Jordan Jowkow. Die große innere Plastizität seiner Figuren erreicht Talew vor allem über die variable Anwendung des inneren Monologs. Mit dem 233
Autorenkommentar geht er sparsam um. Im Unterschied zu Wasow, der Textpartien mit realgeschichtlichen Ereignissen gern zu essayistisch-publizistischen Erläuterungen nutzte, folgt Talew hier eher dem Beispiel Flauberts. Allerdings läßt es sein starkes inneres Engagement für den Gegenstand nicht zu, sich völlig hinter der Fiktion zu verbergen. Talews erster (und bester) Roman der Tetralogie, Der eiserne Leuchter, erschien 1952 und wurde, ungeachtet marxistischer Interpretation der dargestellten Geschichte, vom überwiegenden Teil der Kritik zunächst reserviert aufgenommen. Talew hatte bis dahin als konservativer bürgerlicher Realist gegolten, zumal er zwischen den beiden Weltkriegen zeitweilig nationalistischen Kreisen nahestand. Aber der Erfolg beim Publikum ließ aufhorchen. Dennoch tat sich die dogmatische Kritik schwer, den Roman als bedeutende künstlerische Leistungen zu würdigen: Sie forderte von Talew mehr gesellschaftliche Aktion und weniger Familienleben. 321 Von großer Wichtigkeit war jedenfalls die Tatsache, daß Talew bei aller Anerkennung des Internationalismus und des politischen und ökonomischen Zusammenschlusses der europäischen sozialistischen Länder schon damals nach dem „Woher", nach dem historischen Schicksal des eigenen Volkes fragte, das Augenmerk auch auf den nationalen Charakter und die nationale Psyche lenkte. Damit leistete er einen bedeutenden Beitrag zur Konstituierung der bulgarischen sozialistischen Nationalliteratur, wirkte korrigierend auf enge Konzepte, die in der nationalen Vergangenheit nur das Klassenmäßige und Soziale anerkannten und bereitete zugleich den Boden für die Entfaltung der bulgarischen Dorfliteratur in den sechziger Jahren. Im selben Jahr 1952 erschien der erste Band eines weiteren monumentalen Werkes - Obiknoveni chora (Einfache Leute, dt. u. d. T. Stanka) von Georgi Karaslawow. Aufbau und Gestaltungsweise dieser ca. 2 800 Seiten umfassenden Roman-Epopöe (ihr letzter, sechster Band wurde erst 1974 abgeschlossen) sind hochgradig traditionell. Ebenso wie bei Talew ist die Handlung chronologisch auf drei Generationen einer Familie und einen Ort konzentriert, wie bei Wasow und Talew finden sich chronikhafte Textpartien über realgeschichtliche Ereignisse, wie Talew hält Karaslawow fest an der Tradition des detailfreudigen, milieubeschreibenden Realismus, der nationale Atmosphäre schafft. Dennoch besitzt das Werk eine unverwechselbare Originalität in bezug auf Problemstellung und Darstellungsweise. Während Wasow 234
und Talew eine bürgerliche revolutionäre Bewegung im 19. Jahrhundert und die Lösung der nationalen Frage aufgreifen, gestaltet Karaslawow die antagonistischen Klassenwidersprüche innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft in Bulgarien im 20. Jahrhundert, legt also seinem Werk eine s o z i a l e u n d p o l i t i s c h e Konfliktstruktur zugrunde. Karaslawow läßt in seinem Roman-Epos moralisch-ethischen oder philosophischen Überlegungen keinen breiten Raum. Sein Konzept ist, anhand eines reichen Faktenmaterials zu zeigen, wie sich die sozialistischen Ideen in Bulgarien nach dem ersten Weltkrieg auch auf dem Lande verbreiteten, wie sie - nach 1923 mit antifaschistischen Aufgaben verbunden - allmählich zur organisierenden Kraft einer neuen Aktionseinheit der Massen wurden, deren Ziel nunmehr die Umgestaltung des nationalen Lebens war. Die epopöenhaften Züge des Werkes ergeben sich also weder aus der Treue des Volkes zu den althergebrachten Traditionen noch aus einem ausschließlich nationalen Anliegen, sie wachsen aus der Teilnahme an einem Kampf* in dem das Nationale und das Soziale ein untrennbares Ganzes bilden und der weitere Weg, das Schicksal der Nation, v o n d e r L ö s u n g d e r K l a s s e n f r a g e abhängig ist. Karaslawow, bereits vor 1944 Kommunist, war für eine solche künstlerische Aufgabe geradezu prädestiniert, hatte er sich doch schon in den dreißiger Jahren mit der sozialen Differenzierung und ideologischen Polarisierung auf dem Lande auseinandergesetzt. 322 Hatten ihn aber vor 1944 Zensurmaßnahmen gezwungen, sich auf sozialpsychologische Aspekte der kapitalistischen Wirklichkeit zu beschränken, 323 so rückte er jetzt den Prozeß der P o l i t i s i e r u n g der bulgarischen Bauern nach dem ersten Weltkrieg in den Vordergrund. Diese Politisierung zieht sich wie ein roter Faden durch alle sechs Teile der Epopöe und setzt an die Stelle überlebter patriarchalischer Sitten und Familienbande ein neuartiges Gemeinschafts- und Solidaritätsgefühl. Zu diesem Zweck mußte Karaslawow den traditionellen Familienroman umfunktionieren: Das Figurenensemble macht beinahe die ganze Bandbreite politischer Parteien und Gruppierungen im Bulgarien jener Zeit transparent. Im Mittelpunkt der Handlung steht Stanka, die Tochter von Krastju Toschwarow, nebst ihrem Mann und ihren Kindern. An ihrem Schicksal wird die Geschichte der KP in einem Dorf, der verlustreiche Kampf des Volkes gegen Kapitalismus und Faschismus veranschaulicht. Mit der Anfang der fünfziger Jahre verbreiteten Tendenz polemi235
sierend, dem „positiven Helden" Idealcharakter zu verleihen, gestaltete Karaslawow bewußt „gewöhnliche Menschen". Nicht besonders befähigte und kühne Einzelpersönlichkeiten, sondern normale, einfache Leute aus dem Volk ohne besondere Kennzeichen machen Geschichte, sie nehmen das Schicksal der Nation in ihre Hände und erkämpfen eine bessere Zukunft. Karaslawow ist bei diesem „epischen Querschnitt durch die Geschichte des bulgarischen Volkes und seiner kommunistischen Partei zwischen 1 9 1 4 und 1944" 3 2 4 auf möglichst große Authentizität bedacht und verarbeitet vielfältiges dokumentarisches Material 3 2 5 - eine Tendenz in der bulgarischen Gegenwartsliteratur, die in den sechziger und siebziger Jahren noch zunehmen sollte. Im Unterschied zu den Roman-Epopöen von Talew und Karaslawow, die die realistische Traditionslinie unter den aktuellen Bedingungen der sich konstituierenden sozialistischen Nationalliteratur organisch weiterführten, enthalten die Werke von zwei anderen Vertretern der „epischen Welle", Dimitar Dimow und Emilijan Stanew, starke Elemente der Diskontinuität, die für die weitere bulgarische Prosaentwicklung in mehrfacher Hinsicht bestimmend wurden. Das gilt in erster Linie für Dimitar Dimows Romanepos Tjutjun (Tabak), das fast gleichzeitig mit Talews und Karaslawows Büchern veröffentlicht wurde (Ende 1951) und in Bulgarien die folgenreichste literarische Debatte der frühen fünfziger Jahre auslöste. Sein Stellenwert innerhalb der „epischen Welle" erklärt sich in vielem aus der künstlerischen Biographie des Autors. Bereits in seinem Debüt Porucik Benc drang Dimow als einer der wenigen bulgarischen Schriftsteller jener Jahre in die Psyche des modernen Stadtmenschen ein, wobei er wie Georgi Raitschew unter dem Einfluß der Freudschen Tiefenpsychologie stand. Die verborgenen Mechanismen menschlichen Handelns suchte er ausschließlich im Unbewußten und Triebhaften. Die fehlende soziale Verankerung der Hauptfiguren (ein deutscher Militärarzt und eine großbürgerliche Bulgarin, die eine zerstörerische Leidenschaft in ihm entfacht) ließ das W e r k mit der realistischen Tradition kollidieren und den jungen Autor als Außenseiter in der nationalen Literatur erscheinen. In seinem zweiten Roman Verdammte Seelen (1945) gelang es Dimow, die Verabsolutierung der psychologischen Gestaltungsweise zu überwinden und das Psychologische mit dem Gesellschaftlichen zu verknüpfen. Auch in diesem Roman, der Spanienerlebnisse aus den Jahren 1943/44 reflektiert, steht eine fatale Leidenschaft im
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Zentrum: die unglückliche Liebe der reichen und exzentrischen Fanny Horn zu dem Jesuitenpater Heredia vor dem Hintergrund des spanischen Bürgerkrieges. Die ihrer parasitären Existenz überdrüssige Engländerin will durch ihre Liebe zu Heredia ihrem Leben einen Sinn geben. Dabei zerbricht sie - so absurd die herbeigesehnte Verbindung an sich schon ist - an der Erkenntnis, daß sich hinter der faszinierenden Unnahbarkeit und Sittlichkeit des Paters (dessentwegen sie ihr Leben aufs Spiel setzt und ihr Vermögen opfert) ein zutiefst menschenfeindlicher Fanatismus verbirgt. Fannys Unvermögen, über die private Sphäre hinaus Möglichkeiten für ihre Selbstverwirklichung zu finden und sich für soziale und politische Angelegenheiten zu engagieren, läßt sie in ihrem Liebesschmerz zum Rauschgift greifen. Sie ist eine von der spätbürgerlichen Gesellschaft geprägte Figur, eine „verdammte Seele", und deshalb ist sie wie Pater Heredia, der Mitorganisator des konterrevolutionären Putsches gegen die Spanische Republik, dem Untergang geweiht. Mit dem Roman Verdammte Seelen brachte Dimow seine Einstellung zum Grundkonflikt der Epoche klar zum Ausdruck und legte ein beeindruckendes künstlerisches Bekenntnis zum gesellschaftlichen Fortschritt in Bulgarien ab. Dimows neuer Prosatyp zeichnete sich durch eine betont intellektuell-analytische, auf die Wiedergabe von Bewußtseinsinhalten ausgerichtete Erzählweise, die Bevorzugung innerlich zerrissener, seelisch kranker Figuren, die Akzentuierung universeller, allgemeinmenschlicher moralisch-philosophischer Probleme fernab ihrer nationalen Spezifik sowie das Fehlen epischer Distanz, eine historisch-moralische Bewertung der Figuren im Autorenkommentar aus. Er hob sich damit deutlich von den Erfahrungen der realistischen bulgarischen Prosa ab, die nach Iwan Wasow eine zunehmende Objektivierung des Erzählens anstrebte (Elin Pelin - Jowkow Talew), fast ausschließlich auf das nationale Geschehen und den Nationalcharakter fixiert war, die Beschreibung äußerer Lebensumstände bevorzugte (eine Ausnahme bildet die Gruppe der „psychologischen" Realisten der dreißiger Jahre) und ungeachtet der Deformierung des Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft weiterhin am patriarchalisch verbrämten und illusionären Ideal einer Persönlichkeit festhielt, die sich ihre Menschlichkeit zu bewahren wußte. Die Modifikation dieses neuen Prosatyps gemäß den genrespezifischen Belangen des Romanepos brachte das nationalliterarische Phänomen Tabak hervor, worin sich Dimow der jüngsten bulgari237
sehen Vergangenheit zuwandte; Es gilt als bislang bestes künstlerisches Dokument über den gesetzmäßigen Untergang der bulgarischen Bourgeoisie. Auch hier wird ein Liebeskonflikt gestaltet, doch rückt ihn Dimow nicht ins Zentrum der Handlung. Sein Anliegen zielt auf Systemkritik. So greift er auch nicht wie Talew und Karaslawow auf den Familienroman zurück, sondern demonstriert an der Werkgeschichte des Tabakkonzerns „Nikotiana" - ein Symbol für Vergiftung durch das internationale Kapital - gesellschaftspolitische Prozesse, in denen antagonistische Interessen verschiedener Klassen und Schichten aufeinandertreffen und miteinander kollidieren. Dimow gruppiert um die Geschichte des Tabakkonzerns ein Figurenensemble von über 100 Personen und verteilt dieses auf mehrere Handlungsstränge, die dem Leser ein weitgespanntes Bild der gesellschaftlichen Entwicklung Bulgariens vom Anfang der dreißiger Jahre bis zum Ende des zweiten Weltkrieges vermitteln. Dabei bringt das Liebesverhältnis zwischen Boris und Irina die Grundidee des Werkes besonders anschaulich zum Ausdruck: Jeder Glücksanspruch und Selbstverwirklichungsversuch eines Individuums, der auf Anpassung an die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse hinausläuft, ist illusorisch, da er nur durch eine Preisgabe humaner Werte erkauft werden kann, die unausbleiblich zur Zersetzung und Zerstörung der Persönlichkeit führt. Weder private Abgeschlossenheit noch das Ausgeliefertsein an die kapitalistischen Wolfsgesetze, sondern erst der Kampf um das Wohl des Volkes in Übereinstimmung mit den objektiven Gesetzen der Geschichte ermöglicht es dem Individuum, seine menschliche Natur zu verwirklichen. Mit diesem humanistischen und moralisch-philosophischen Grundzug hob sich Tabak von der seinerzeit gültigen „politischen" Prosa deutlich ab. Bei der Figurengestaltung hat Dimow das Erbe Dostojewskis für die sozialistische Nationalliteratur zu einer Zeit produktiv gemacht, da das offizielle Verhältnis zu Dostojewski 326 und zu vielen westeuropäischen Schriftstellern, die die Deformierung des modernen Menschen unter spätkapitalistischen Verhältnissen darstellten, undifferenziert negativ war. Die Gestaltung von „kranken Seelen" verstand Dimow nicht als Ausdruck einer dekadenten Vorliebe für das Ungesunde und Disharmonische im Leben, wie es damals Dostojewski und seinen Nachfolgern im 20. Jahrhundert pauschal nachgesagt wurde, sondern als anklagendes Abbild kranker Gesellschaftsverhältnisse, als deren menschliches Äquivalent. 327 238
Was die Figur Boris Morew in die Nähe eines Raskolnikow bringt („Übermensch"-Anmaßung, skrupellose Ignoranz von Leben bei der Durchsetzung eigener Pläne), ist der leidenschaftliche Wunsch, aus einer trostlosen kleinbürgerlichen Misere auszubrechen, die ihm keine Chance gibt, seine Fähigkeiten zu entfalten. Den gleichen Wunsch haben auch die beiden Brüder von Boris. Während diese aber den Weg des Kampfes gegen das Elend, den W e g der Solidarität mit den Erniedrigten und Beleidigten einschlagen, setzt Boris seine K r a f t und Intelligenz ein, um zu Macht und Reichtum zu gelangen. Doch alles hat seinen Preis. E r muß sich von Irina trennen und die unheilbar nervenkranke Tochter des „Nikotiana"Chefs heiraten. Seine schwindelerregende Karriere als Tabakgroßhändler führt über blutige Auseinandersetzungen mit streikenden Arbeitern, erbarmungslose Konkurrenzkämpfe, über die Leiche seines jüngeren Bruders Stephan. Letztendlich geht es aber Boris nicht viel anders als Raskolnikow, denn er hat sein „Übermenschentum" überschätzt. Moralisch abgestumpft, treiben ihn wachsende innere Leere und Einsamkeit zum Alkoholismus. Auch Irina kann ihn nicht mehr retten, denn die „Nikotiana" hat ihr Verhältnis zerstört. D i e Gestalt der Irina ist anders angelegt. Auch diese intelligente Frau wird nach und nach vom Tabakkonzern moralisch zersetzt und sozial entwurzelt. Im Unterschied zu Boris macht sie sich aber ihre Lage und ihre sittliche Degradierung bei jedem Schritt bewußt, mit dem sie in den Sumpf der Tabakoligarchie einsinkt, wo hinter jeder Beziehung ein Geschäft oder eine Erpressung steckt, alles vermarktet wird. Gerade dieses Wissen um die Zerstörung ihrer Persönlichkeit bereitet Irina große seelische Qualen, verleiht ihr aber im Vergleich zu der mehr resultativ konzipierten Gestalt von Boris eine gewisse Überlegenheit sowie die Kraft, ihre Würde und humanistische Hilfsbereitschaft (sie ist von Beruf Ärztin!) nicht gänzlich zu verlieren. Das macht sie Fanny Horn vergleichbar, und der Leser kann nicht umhin, bei aller Distanz zu ihrem verfehlten Weg ihr E n d e - nervlich verbraucht und psychisch zerrüttet findet sie nach 1944 keine K r a f t mehr, neu anzufangen und begeht Selbstmord - als Verlust zu empfinden. D i e Figur der Irina gehört zu Dimows bedeutendsten künstlerischen Leistungen. Zu einer Zeit verengter Realismusauffassungen und der Neigung zu Schwarz-Weiß-Malerei verstand er es, die fortschrittlich-positive oder reaktionär-negative Figurenschablone zu
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durchbrechen und die erzieherische und mobilisierende Wirkung eines tragischen Heldentyps wie Irina unter Beweis zu stellen. Ihre reichen geistigen und humanen Werte, aber auch ihr Unvermögen, im großen Epochenümbruch den rechten Weg zu finden, erhellen den Rang des Dimowschen Realismus- und Humanismuskonzepts. Erzähltechnisch schränkte Dimow den Erzählerbericht ein und verlegte den Akzent auf den Dialog und den inneren Monolog. Dies verleiht dem Erzählten eine „dramatische" Qualität und ermöglicht die intensive und unvermittelte Gestaltung des inneren Lebens der Figuren. Mit der sparsamen Anwendung des Erzählerberichtes hängt eine weitere Innovation Dimows'zusammen - die Schaffung eines neuen epischen Strukturtyps in der bulgarischen Literatur. Wie bereits angedeutet, unterschied der nationalliterarische Kanon in bezug auf die Epopöe relativ exakt zwischen der Ebene der realgeschichtlichen Ereignisse und der Ebene des Alltags fiktiver Figuren. Die erste trug meist chronikhaften Charakter und bildete den stilistisch abgehobenen Rahmen, in den das alltägliche Dasein der Helden eingespannt wurde. An diese Werkstruktur, die Wasows Epopöe kennzeichnet, hielten sich Talew und Karaslawow. Dimow versuchte als erster, beide Ebenen zu integrieren, realgeschichtliches Ereignis und Alltag des Individuums miteinander zu verknüpfen.328 Dieses kunstvolle Ineinander von großer Geschichte und Alltag macht Tabak mit einem anderen bedeutenden Romanepos der sozialistischen Weltliteratur vergleichbar, das fast gleichzeitig entstanden ist - mit dem Roman Die Toten bleiben jung von Anna Seghers. Die typologische Ähnlichkeit beider Werke geht dabei über die Struktur des Epischen hinaus und bezieht sich auch auf seine Qualität. Beide Autoren verzichten auf die Fülle von realitätsträchtigen Details, die jene große Plastizität der dargestellten Wirklichkeit und der Figuren im epischen Werk Tolstois und Scholochows bewirkt. Sie beschränken sich bewußt auf das repräsentative Alltagsdetail, das die generelle Linie der historischen Entwicklung, ihr So-und-nicht-anders-Verlaufen-Können sowie die p o l i t i s c h s o z i a l e Typik der Helden unterstreicht. Eine Ausnahme bildet die Figur der Irina, die mit einer Scholochowschen Detailfülle ausgestattet ist. Bedenkt man aber die große Wirksamkeit gerade dieser Figur, so wird die Dialektik von Gewinn und Verlust bei der von Seghers und Dimow angestrebten Variante des Epischen deutlich. Hervorzuheben ist auch Dimows Beitrag zur Ausbildung internationalistischer Momente329 und vor allem zur Auseinandersetzung 240
mit dem deutschen Faschismus. Die darzustellenden geschäftlichen Beziehungen des „Nikotiana"-Konzerns zur deutschen Zigarettenindustrie drängten den Autor regelrecht, sich mit der wirtschaftlichen und politischen Expansion Hitler-Deutschlands in Bulgarien in den dreißiger Jahren und mit dem Wesen des Nationalsozialismus näher zu befassen. Mit erstaunlicher Souveränität läßt Dimow in Tabak deutsche Tabakexperten, Diplomaten, Gestapoagenten und Militärs agieren und räumt sogar einer dieser Figuren, dem Direktor der Abteilung für Orienttabake des „Deutschen Zigarettenkonzerns", von Geier, einen bedeutenden Platz in der Romanhandlung ein. Alle diese Figuren sind Nazis, und sie dienen den Interessen des deutschen Imperialismus. Trotzdem ist keine Figur der anderen gleich oder von vornherein ein Unmensch. Es sind glaubwürdige, lebendige Menschen, die (in Abhängigkeit von ihrer sozialen Herkunft, von ihrem geistigen Horizont und individuellen Charakter) unterschiedliche Verhaltensweisen an den Tag legen und ein jeweils unterschiedliches inneres Verhältnis zum Faschismus als Ideologie und Praxis haben. Begreift z. B. der preußische Offizier a. D. von Geier den Faschismus und den von ihm entfesselten Weltkrieg vor allem als mystisch-romantische „Selbstverwirklichung des deutschen Geistes" im Sinne der „Mission" Deutschlands, die Welt zu erneuern, und harrt er deshalb in „germanischer Treue" zu Führer und Reich bis zum bitteren Ende auf verlorenem Posten aus, so ist für seine Helfer, die Tabakexperten Baron von Lichtenfeld und Preibisch, eine nüchterne, pragmatische Grundeinstellung kennzeichnend. Für den Bauernsohn Preibisch ist der Faschismus weitgehend mit der Nazipartei identisch, die ihm einen gut bezahlten Posten verschafft und damit ein wohlhabendes Leben gesichert hat. Ohne viel nachzudenken, dient er diszipliniert dem Dritten Reich, eine innere Befriedigung darüber verspürend, daß der Nationalsozialismus seinem adligen Kollegen keine Privilegien einräumt, daß auch ein Baron seinen Arbeitsanteil für „das Wohl des deutschen Volkes" ableisten muß. Für den verarmten und von Standesdünkel geplagten Baron selber, einen egozentrischen und leichtfertigen Lebemann, ist der Faschismus schließlich eine politische und soziale Krankheit, eine Pest, mit der er sich so lange liiert, wie er sich dank ihrer über Wasser halten kann. Kurz vor dem Zusammenbruch der Hitlerwehrmacht auf dem Balkan scheut er keine Mittel, um sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Diese drei Gestalten belegen, wie eingehend sich Dimow mit 16
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dem deutschen Faschismus beschäftigte und so frühere schematische Darstellungen überwinden konnte. Er blieb nicht bei der Gestaltung von Gewalt, Kulturbarbarei und Rassismus stehen, sondern legte auch die gesellschaftlichen und sozialen Wurzeln des Faschismus bloß, in dem er keineswegs nur - wie es damals üblich war ein deutsches, rein nationales Phänomen erblickte. Das Romanepos Tabak, Bulgariens bedeutendster Beitrag zur weltliterarischen Auseinandersetzung mit der Epochenproblematik, stieß bei der Literaturkritik zunächst auf vehemente Ablehnung. Das Werk paßte hinsichtlich Struktur und Darstellungsweise in keines der damaligen Schemata hinein, es schien die Vorstellungen darüber, was Realismus und sozialistischer Realismus zu sein haben, zu untergraben. Die Anfang 1952 massiv erhobenen Vorwürfe betrafen Dimows Figurenwahl (da seine Haupthelden Vertreter der bürgerlichen Klasse waren); abgelehnt wurde auch die Typisierung der Gestalten (weil Dimow nicht eindeutig genug positive und negative Figuren unterschied und die politisch-soziale und somit universelle, nicht aber die nationale Typik der Figuren betonte) und seine Gestaltungsweise schlechthin (er neige zu Biologismus und Psychologismus). All das führte zu dem Fazit: Der Autor habe zwar vom Stoff und von der Idee her ein durchaus begrüßenswertes Werk angestrebt, es künstlerisch aber nur sehr mangelhaft realisiert, da seine Methode eine Mischung von kritisch-realistischen, sozialistisch-realistischen und „antirealistischen" Elementen sei.330 Diese Kritik stand in so kraßem Widerspruch zu dem enormen Publikumserfolg des Buches, daß das ZK der B K P sie korrigierte: Mit Tabak hätte Dimow ein künstlerisch meisterhaftes Werk geschaffen, hieß es; die Schwierigkeiten der Literaturkritik, es entsprechend zu würdigen, wären auf ihr Versagen zurückzuführen, die Literaturtheorie richtig anzuwenden.331 Obgleich diese Kritik an den Kritikern von Tabak darauf verzichtete, genauer zu hinterfragen, welchen künstlerischen Mitteln und Verfahren der Roman seinen Erfolg verdankte und wie sich das subjektive Versagen der Kritiker zum objektiven Stand der damaligen Theoriebildung verhielt, wirkte sie sich auf die weitere Entwicklung Dimows als sozialistischer Schriftsteller332 sowie auf das gesamte nationale literarische Leben positiv aus. Die nun unumgängliche Überprüfung der seit 1949 angewandten ästhetischen Wertungskriterien, allein schon die Zweifel an ihrer „Unfehlbarkeit", gaben den ersten Anstoß für den „Entdogmati242
sierungsprozeß" in Bulgarien, der sich in den Jahren 1952/54 freilich erst zögernd entfaltete und zunächst auf eine Revision verengter Erbeauffassungen gerichtet war. Wichtig ist jedoch, daß die Literaturkritik bereits zu diesem Zeitpunkt Erfahrungen in bezug auf das Verhältnis von literarischer Produktion und Publikum sammelte, woraus sich ein schöpferisches S p a n n u n g s v e r h ä l t n i s z u r L i t e r a t u r t h e o r i e entwickelte, das im Gefolge des II. Kongresses der Sowjetschriftsteller E n d e 1954 in eine umfassende Auseinandersetzung mit Erscheinungen des Schematismus und Dogmatismus mündete. D a s Aprilplenum des Z K der B K P 1956, das günstige kulturpolitische Bedingungen für eine erste Bilanzierung des erreichten neuen Standes der Theoriebildung schuf, signalisierte die entscheidende Phase dieses Prozesses und nicht - wie oft pauschal behauptet wird - seinen Beginn. So sehr Dimitar Dimow bemüht war, in Tabak den Forderungen nach epischer Totalität zu entsprechen, barg sein Werk im Vergleich zu den Roman-Epopöen von Wasow, Talew und Karaslawow neue Elemente, die im einzelnen kaum bedeutsam erscheinen mögen, zusammengenommen aber dem damaligen Kanon vom Epischen entgegenwirkten. Dazu gehören 1. die Integration der Ebene der realgeschichtlichen Ereignisse in die Ebene des Alltags der Figuren, wodurch deren persönlichen Konflikten größeres Gewicht verliehen wurde (Ansätze für eine Gestaltung des persönlichen Konflikts als Modell und nicht nur als Teil des Ganzen, was für die traditionelle epische Prosa kennzeichnend war); 2. das geringere Betonen des Nationalcharakteristischen der Figuren und der nationalen Atmosphäre der dargestellten Wirklichkeit und 3. die sehr dramatisch angelegte zentrale Figur der Irina, die durch ihren starken seelischen Konflikt von einem epischen Helden abweicht, der durch unmißverständliche, normative Haltung und abgerundeten, „monolithischen" Charakter bestimmte historische Tendenzen klar zum Ausdruck bringt und nicht auf den widersprüchlichen Einzelfall ablenkt. Wenn diese Elemente auch in erster Linie auf Dimows Werdegang als Schriftsteller, auf sein individuelles Realismus- und Humanismuskonzept zurückzuführen sind, so signalisierten sie bereits zu einem Zeitpunkt, als die „epische Welle" noch auf ihrem Höhepunkt war, die Notwendigkeit, neue Gestaltungsmöglichkeiten und Strukturen des epischen Werkes zu erkunden, um den komplizierten Erscheinungen der Wirklichkeit in der Literatur gerecht zu werden. Diese Ansätze einer „Entepisierung", der Verbindung des 16*
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sehen mit Mitteln und Verfahren, die seinem Wesen fremd, ja sogar entgegengesetzt sind, nahmen in Emilijan Stanews Werk Ivan Kondarev (Band 1: 1958, dt. u. d. T. Heißer Sommer; Band 2: 1964) eine ausgeprägte Form an. Die im Verlauf der Handlung zunehmende Brechung der Ereignisse (vor und während des Septemberaufstandes 1923) im Bewußtsein der Titelfigur sowie der Umstand, daß Kondarew, ein Kommunist, einen langen Entwicklungsweg voller Irrtümer, Zweifel und innerer Konflikte zurücklegt, bestimmten u. a. die Mittlerstellung dieses Romans zwischen dem herkömmlichen Romanepos und dem sogenannten „zentripetalen"333 Roman, in dem der Autor seine Allwissenheit aufgibt und den Blickwinkel der Figuren für die Wirklichkeitsgestaltung produktiv macht. Die Herausbildung und Durchsetzung dieses „zentripetalen" Romantyps, der gesellschaftliche und historische Vorgänge über das Erleben von Figuren vermittelt und dabei auf epische Breite verzichtet, war ein Teil der allgemeinen „Subjektivierung" und „Lyrisierung" der bulgarischen Prosa in den sechziger Jahren.33'1 Dieser Prozeß hing aufs engste mit dem Abschluß der Übergangsperiode (VII. Parteitag der B K P 1958) und der Aufwertung des „subjektiven Faktors" in der Geschichte zu Beginn des Aufbaus der entwickelten sozialistischen Gesellschaft zusammen. Darin kündigte sich ein neues Funktionsverständnis der Literatur und ein neues Verhältnis der Autoren zum Leser und zu den Veränderungen in der gesellschaftlichen Realität an.
Abschied von der bäuerlichen Vergangenheit der Nation Die Dorfprosa ist keine besondere Strömung innerhalb der bulgarischen Gegenwartsliteratur; vielmehr handelt es sich um Werke, die das Leben auf dem Lande thematisieren und von daher zu übergreifenden Fragestellungen hinfinden. Keinesfalls läßt sich ihre spezifische Qualität auf eine Problemsicht aus der Perspektive des Dorfbewohners oder auf die bäuerliche Herkunft der Autoren reduzieren. Die Gestaltung des Lebens auf dem Lande stand in der bulgarischen Literatur - die sozialistische Prosa inbegriffen - bis zum zweiten Weltkrieg immer wieder im Mittelpunkt des künstlerischen Interesses. Diese Tatsache ist dem Status des kapitalistischen Bulgarien als eines rückständigen Agrarlandes geschuldet und natürlich nicht ohne Bezug zur Herkunft der meisten Schriftsteller, die an den Problemen der Dorfbevölkerung stets regen Anteil nahmen. 244
sehen mit Mitteln und Verfahren, die seinem Wesen fremd, ja sogar entgegengesetzt sind, nahmen in Emilijan Stanews Werk Ivan Kondarev (Band 1: 1958, dt. u. d. T. Heißer Sommer; Band 2: 1964) eine ausgeprägte Form an. Die im Verlauf der Handlung zunehmende Brechung der Ereignisse (vor und während des Septemberaufstandes 1923) im Bewußtsein der Titelfigur sowie der Umstand, daß Kondarew, ein Kommunist, einen langen Entwicklungsweg voller Irrtümer, Zweifel und innerer Konflikte zurücklegt, bestimmten u. a. die Mittlerstellung dieses Romans zwischen dem herkömmlichen Romanepos und dem sogenannten „zentripetalen"333 Roman, in dem der Autor seine Allwissenheit aufgibt und den Blickwinkel der Figuren für die Wirklichkeitsgestaltung produktiv macht. Die Herausbildung und Durchsetzung dieses „zentripetalen" Romantyps, der gesellschaftliche und historische Vorgänge über das Erleben von Figuren vermittelt und dabei auf epische Breite verzichtet, war ein Teil der allgemeinen „Subjektivierung" und „Lyrisierung" der bulgarischen Prosa in den sechziger Jahren.33'1 Dieser Prozeß hing aufs engste mit dem Abschluß der Übergangsperiode (VII. Parteitag der B K P 1958) und der Aufwertung des „subjektiven Faktors" in der Geschichte zu Beginn des Aufbaus der entwickelten sozialistischen Gesellschaft zusammen. Darin kündigte sich ein neues Funktionsverständnis der Literatur und ein neues Verhältnis der Autoren zum Leser und zu den Veränderungen in der gesellschaftlichen Realität an.
Abschied von der bäuerlichen Vergangenheit der Nation Die Dorfprosa ist keine besondere Strömung innerhalb der bulgarischen Gegenwartsliteratur; vielmehr handelt es sich um Werke, die das Leben auf dem Lande thematisieren und von daher zu übergreifenden Fragestellungen hinfinden. Keinesfalls läßt sich ihre spezifische Qualität auf eine Problemsicht aus der Perspektive des Dorfbewohners oder auf die bäuerliche Herkunft der Autoren reduzieren. Die Gestaltung des Lebens auf dem Lande stand in der bulgarischen Literatur - die sozialistische Prosa inbegriffen - bis zum zweiten Weltkrieg immer wieder im Mittelpunkt des künstlerischen Interesses. Diese Tatsache ist dem Status des kapitalistischen Bulgarien als eines rückständigen Agrarlandes geschuldet und natürlich nicht ohne Bezug zur Herkunft der meisten Schriftsteller, die an den Problemen der Dorfbevölkerung stets regen Anteil nahmen. 244
Nach dem Sieg der sozialistischen Revolution ergab sich der aktuelle Stellenwert der Dorfprosa aus den vielfältigen Anstrengungen der Volksmacht in Bulgarien, den im Vergleich etwa zur D D R stärker ausgeprägten sozialen und kulturellen Gegensatz zwischen Stadt und Land abzubauen. Die Literatur wandte sich jenen gesellschaftlichen Umwälzungsprozessen zu, die mit der Kollektivierung der Landwirtschaft und der Industrialisierung zusammenhingen: Migration der Landbevölkerung, Verstädterung der Bauern bzw. Zusammenbruch ihres althergebrachten Weltbildes durch Kollision mit dem technisch-zivilisatorischen Fortschritt und dergleichen. War der bulgarischen Dorfprosa unter kapitalistischen Verhältnissen insbesondere daran gelegen, von bürgerlich-demokratischen bzw. sozialistischen Positionen die gesellschaftliche und soziale Wirklichkeit kritisch zu beleuchten und Alternativen zu entwickeln, so fiel ihr nach 1944 die Aufgabe zu, die gravierenden Veränderungen im bulgarischen Dorf zu bejahen, den Leser zum Kampf für die sozialistischen Formen und Normen zu mobilisieren. Diese in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus vorrangig bewußtseinsbildende und erzieherische Funktion vermochte die bulgarische Dorfprosa allerdings nur auf einem - aus heutiger Sicht - relativ niedrigen künstlerischen Niveau zu erfüllen. Die charakteristischen Schwächen waren: Konfliktlosigkeit, begrenzte Nutzung überkommener künstlerischer Mittel und Verfahren sowie bewußter Verzicht auf jegliche Formexperimente. Diese Schwächen, die sich aus den verengten Auffassungen von Realismus und sozialistischem Realismus erklären lassen, konnten in den Jahren der Festigung der Grundlagen des Sozialismus in Bulgarien (Ende der 50er und der 60er Jahre) überwunden werden, wobei zunächst mit dem Prinzip der Konfliktlosigkeit abgerechnet wurde: Zlatnoto runo (Das goldene Vlies; 1958) von A. Guljaschki, Märtvo välnenie (Toter Wellengang, dt. u. d. T. Und wenn ich dich Zwingen muß; 1961) von I. Petrow u. a. Mitte bis Ende der sechziger Jahre führten der antidogmatische Trend und die beginnende neue Etappe des sozialistischen Aufbaus zu bedeutenden Leistungen und Entdeckungen innerhalb der Dorfprosa, sie vermochte sowohl ihr künstlerisches Niveau zu heben als auch ihrem Gegenstand eine neue Dimension abzugewinnen. Was war in den voraufgegangenen Jahren geschehen? Ein festgefügtes und jahrzehntelang herrschendes soziales, aber auch moralischethisches Wertsystem kapitalistischer Prägung, in dem auf Grund
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der wirtschaftlichen Zurückgebliebenheit Bulgariens auch manche Tugenden aus der patriarchalischen Vergangenheit (Naturverbundenheit und Urwüchsigkeit) bewahrt worden waren, wurde radikal abgelehnt und verworfen. Das neue, sozialistische Wertsystem bildete sich aber gerade auf dem Lande (wo das Besitzdenken besonders stark verwurzelt war) nur zögernd heraus, was nicht zuletzt mit bestimmten falschen Praktiken der staatlichen Leitung zur Zeit des Personenkults zusammenhing. Kein Wunder also, wenn bei manchen Bauern das Gefühl eines moralischen Vakuums aufzukommen drohte - alles Alte war entwertet, das Neue erlebte seine Kinderkrankheiten. Diese Situation signalisierte nach 1956 335 kulturpolitisch die Notwendigkeit, parallel zur Wiederherstellung der sozialistischen Normen auch differenzierter auf das nationale Erbe in bezug auf Sitten, Bräuche und Moralbegriffe einzugehen und behutsamer zwischen rückständigen, wirklich hemmenden und demokratischen Wertvorstellungen und Überlieferungen zu unterscheiden, die nicht in Widerspruch zu den sozialistischen Zielsetzungen standen. Die Literatur reagierte hier mit einer wesentlich erweiterten Sicht auf das Dorf: Es wurde nun nicht mehr nur als ein Ort gestaltet, an dem sich in der Arbeits- und Lebensweise revolutionäre Umwälzungen vollzogen, sondern auch als eine unerschöpfliche Quelle des Volkslebens und - in offensichtlicher Anlehnung an Konzepte kritisch-realistischer Autoren vor 1944 - als ein Hort der „unverwechselbaren" Züge des Nationalcharakters. Der bulgarische Bauer wurde nicht allein in seiner sozialen Determiniertheit, seinen konkreten gesellschaftlichen Beziehungen gesehen, sondern nun auch als Träger nationalspezifischer Kulturtraditionen und hergebrachter moralisch-ethischer Wertvorstellungen, von denen er größtenteils Abschied nehmen mußte, um in die neue Epoche einzutreten. Dieses Abschiednehmen von der Vergangenheit faßte die bulgarische Dorfprosa in die Dialektik von Gewinn und Verlust. Darin drückte sich die globale Erkenntnis aus, daß der soziale Fortschritt zwar unausweichlich mit der Preisgabe von alten Werten einhergehen würde, daß es aber auch vermeidbare Verluste von Werten gab. Zu ihnen gehörten die in Jahrhunderten geformten moralischen Grundwerte des Volkes, die nicht verlorengehen durften und in das sozialistische Wertsystem zu integrieren waren. Je nach künstlerischem Temperament und persönlichen Erfahrungen gestalteten die einzelnen Autoren den Abschied von der bäuer-
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liehen Vergangenheit der Nation auf unterschiedliche Weise und legten den Akzent auf ganz verschiedene Seiten dieses komplizierten und in sich durchaus widerspruchsvollen Prozesses. Die Vielfalt an Haltungen und Lösungsangeboten sei hier am Werk von vier Schriftstellern kurz umrissen. Am schärfsten polemisierte Wassil Popow gegen ein Klischee wie „Alles Alte ist schlecht, alles Gute steckt im Neuen". In seinem Erzählzyklus Korenite (Die Wurzeln) fand das Mißtrauen mancher Bauern gegen die schnell vor sich gehenden Veränderungen auf dem Lande einen prägnanten Ausdruck in der Suche nach dem Unveränderlichen, nach dem „Unvergänglichen" und „Dauerhaften" im nationalen Leben und Charakter, nach den „Wurzeln" der „Volksseele". Popow stellt ein von den Migrationsprozessen in Bulgarien besonders stark betroffenes (fiktives) Dorf vor und läßt die dagebliebenen, vorwiegend alten Einwohner zu Symbolen nationaler Vitalität werden. Ungeachtet der bedrohlich dezimierten Mitgliederzahl funktioniert hier die Produktionsgenossenschaft weiter; alleinstehende bzw. verwitwete Einwohner verlieren ihre Lebensfreude nicht und lassen sich von ihren in die Stadt abgewanderten Kindern nicht hindern, zum Beispiel wieder zu heiraten - so geht das Leben auch in dieser vom Aussterben bedrohten Ortschaft trotz aller Widerwärtigkeiten weiter, es bleibt zäh und unverwüstlich wie die „Volksseele" selbst. Dieses etwas konstruiert wirkende, doch künstlerisch recht anspruchsvolle Werk (assoziative Schreibweise, häufige Anwendung des inneren Monologs) enthält starke nostalgische Elemente. Sie betreffen Charaktereigenschaften wie Standhaftigkeit und Widerstandsfähigkeit, Zähigkeit und Frohsinn, die sich Popow außerhalb des Dorfes nur schwer vorstellen kann, für die das Leben auf dem Lande sozusagen die „Wurzeln" bildet. Der Autor möchte diese Eigenschaften in den gesellschaftlichen Umwälzungsprozessen bewahrt wissen. Doch er hört mit der Erörterung des Problems dort auf, wo er eigentlich hätte beginnen müssen: Statt zu zeigen, wie die „Wurzeln", d. h. der ganze Komplex national-spezifischer Daseinsfaktoren auf dem Lande und die damit verbundenen dauerhaften Züge der „Volksseele", mit den neuen Lebensformen zusammenwachsen und welche Modifikationen sie dabei notwendigerweise erfahren, wählt er Handlungsort und Umstände so, daß sie einer Verselbständigung, Mythisierung des Problems Vorschub leisten. Unge247
achtet dessen erwies sich Popows Werk als produktiv: Es forderte in der bulgarischen Literatur zu einer Diskussion über die nach 1944 fast völlig zurückgedrängten Fragen der nationalen Identität unter psychologischem und charakterologischem Aspekt heraus. Ein nostalgischer Blick auf Werte der Vergangenheit, die durch die Zivilisation und den technischen und sozialen Fortschritt in Frage gestellt werden, kennzeichnet auch das Werk Nikolai Haitows. In seinem Erzählband Divi razkazi (Wilde Geschichten; 1967) führt der Autor seine Leser in das Rhodopen-Gebirge, eine Region, die bis vor kurzem noch kaum vom modernen Leben berührt war. Haitows Helden, denen die kapitalistische Verdinglichung und Entfremdung dank der krassen Zurückgebliebenheit dieses Gebietes weitgehend erspart geblieben ist, sind urwüchsige, naturverbundene Charaktere, die mit dem Ideal von der harmonisch entwickelten Persönlichkeit korrespondieren. Lebensformen und -haltungen solcher Figuren erscheinen in Haitows Erzählungen, die meist in der Form des Skas, d. h. mit den für einen Volkserzähler kennzeichnenden Stilmitteln, geschrieben sind, romantisch leicht überhöht, doch nicht idealisiert, denn eine feine Ironie schafft die nötige Distanz. Der Autor strebt keine Verklärung der Vergangenheit an, sondern sucht lediglich nach Bewahrenswertem. Haitows aufrechte, hilfsbereite, frische, manchmal auch etwas schrullige Figuren wollen uns ermahnen, nicht zuzulassen, daß wir dem Besitz- und Konsumdenken unterliegen und in unseren gefühlsmäßigen Bindungen zu den Mitmenschen, in unseren Beziehungen zur Welt überhaupt verarmen. Nicht alle Figuren Haitows sind in der ferneren oder jüngeren Vergangenheit der Rhodopenregion angesiedelt. Nachahmenswerte Haltung zeigt Haitow auch an Gestalten, die der Gegenwart entnommen sind. Sie belegen die Überzeugung des Autors, daß bestimmte Werte der Vergangenheit für unsere heutige Realität durchaus fruchtbar gemacht werden können. Da ist z. B. der naturverbundene Großvater Blascho in der Erzählung Päteki (Wege), der auf eigene Initiative und ohne Entlohnung im Gebirge Wege baut, weil es ihm einfach Freude bereitet, für seine Mitmenschen Nützliches zu schaffen. Doch dafür wird er zur Verantwortung gezogen. In den Augen des bürokratischen Vorstehers der Straßenaufsicht ist Blascho ein armer Irrer, jedenfalls ein Störenfried, wenn auch ein selbstloser Fanatiker. Dabei ist Blascho nur ein Mensch, dem es eine Halbtagsbeschäftigung sowie bescheidene materielle Ansprüche 248
erlauben, gleichsam als Hobby Wege anzulegen. Diese Arbeit ist für ihn nicht Opfer oder heroische Anstrengung, sondern schlicht ein Lebensbedürfnis. 3 3 6 Im Unterschied zu Popow und Haitow nehmen Jordan Raditschkow und Iwailo Petrow von der bäuerlichen Vergangenheit der Nation heiter Abschied. Von Raditschkows Schaffen wird oft gesagt, es spiegele den endgültigen Untergang des Althergebrachten mit seinen Sitten, Bräuchen und Mythen als Karneval wider - als ein großes Fest auf dem Dorfmarkt, auf dem man sich lachend über alles und über sich selbst von den alten Götzen trennt. 3 3 7 Raditschkow löst sich von der traditionellen, deskriptiven Gestaltung des Dorflebens wie von der umständlichen psychologischen Analyse, er bevorzugt assoziatives Denken, assoziative Bildhaftigkeit. Diese Stileigenheit geht bei ihm so weit, daß er in vielen Erzählungen auf Figuren im herkömmlichen Sinne verzichtet. Sie sind oft nur Bauer oder Bäuerin schlechthin; tragen sie wirklich einen Namen, dann sind sie kaum individualisiert, erscheinen eher als Projektanten von Positionen und Standpunkten des Autors. Raditschkow schenkt in der T a t nicht so sehr der Entwicklung der Charaktere oder der Fabel Aufmerksamkeit als vielmehr jenen Details, die die Beziehung der Figuren zur Wirklichkeit konkretisieren und zugleich ihren inneren Zustand ausdrücken. Hier liegt seine Stärke, hier versteht er es brillant, alles Merkwürdige des Daseins aufzuspüren, seine Widerwärtigkeiten und Konflikte, aber auch seine Poesie und seine „Wunder". Raditschkow gestaltet die Wirklichkeit nicht allein aus dem Blickwinkel von Menschen, sondern auch von Tieren und von ihm zum Leben erweckten Gegenständen. So erscheint seine poetische W e l t nicht als Produkt eines bestimmten Bewußtseins, sondern als ein Reich, in dem sich das Wirkliche und das Phantastische miteinander verflechten, das Abgebildete seine realen Züge leicht verändern oder verlieren und sich ins Groteske kehren kann. Auf diese Weise wird die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Veränderbarkeit und Widersprüchlichkeit, mit ihren Verquickungen von Komischem und Tragischem, von Erhabenem und Niedrigem, Großem und Kleinem, Altem und Neuem vorgeführt - auch und gerade in bezug auf die Sozialisierungsprozesse auf dem Lande. D i e tragischen Momente resultieren bei Raditschkow allerdings nicht schlechthin aus dem Konflikt des Alten mit dem Neuen (soweit die Figuren Träger überholter patriarchalischer Lebenshaltun-
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gen sind). Sie ergeben sich stärker daraus, daß positive Werte des alten mit negativen Erscheinungen des neuen Lebens konfrontiert werden. Die verheerenden Auswirkungen von bürokratischer Engstirnigkeit und Buchstabentreue usw. auf Raditschkows natürliche und naturverbundene Menschen mit ihrem angeborenen Gefühl für das Schöne und Gerechte legen überzeugend die Unvereinbarkeit solcher Erscheinungen mit dem Sozialismus bloß. Während bei Popow und Haitow, teilweise auch bei Raditschkow der Abschied von der Vergangenheit dramatische, ja tragische Züge annimmt, legt Iwailo Petrow in seinem Roman Predi da se rodja i sied tova (Bevor ich zur Welt kam und danach-, 1968) den Akzent auf das Überholte in dieser Vergangenheit. Er macht sich lustig über nostalgische Haltungen und warnt davor, bei der Suche nach dem „Unvergänglichen" im bulgarischen Nationalcharakter das Alte zu verklären und zu idealisieren. Mit parodistischen Mitteln desillusioniert der Autor eine Vergangenheitssicht, die auf folkloristischvolkstümlerische Konzepte und kleinbürgerliche Positionen in der bulgarischen Literatur zurückgeht, was sich u. a. in der Gestaltung der Armut als einziger Quelle für Tugenden oder in der Auffassung äußerte, daß für den Nationalcharakter der Bulgaren die seelische Befindlichkeit des Mittelbauern relevant sei.338 Schonungslos (wie Karaslawow, der bereits in den dreißiger Jahren z. B. die „Verbundenheit mit der Scholle" als eine Form des Besitzdenkens in Frage stellte) weist Petrow darauf hin, daß die zumeist beschönigten patriarchalischen Sitten und Gebräuche nicht allein menschliche Tugenden gefördert haben, sondern auch Nährboden für Rückständigkeit und rücksichtslose Ausbeutung gewesen sind. Er findet keine Romantik in den von manchen als exotisch bewunderten Resten von Primitivismus und Analphabetentum, im „verlorenen Paradies" des Armenglücks und in der Abhängigkeit von den Reichen und Starken. Die Dorfprosa gehörte in den sechziger und siebziger Jahren in Bulgarien zu der meist diskutierten Literatur. Zum einen, weil die Darstellung des Lebens auf dem Lande nicht in regionalistischer Beschränkung erstarrte, sondern eine gesamtnationale Dimension und allgemeinmenschliche Relevanz bekommen hatte. Zum anderen, weil hier die übergreifende Tendenz zur Erschließung neuer Gestaltungsmittel für die sozialistische Nationalliteratur besonders augenfällig wurde. Belegte sie doch die Produktivität von Mitteln und Verfahren wie assoziative Schreibweise, Bewußtseinsstrom, 250
Groteske, Destruktion der Fabel und der Figuren usw., die in den fünfziger Jahren für mehr oder weniger „dekadent" gehalten wurden, und trug sie entschieden zur Durchsetzung der Auffassung bei, daß sich die Gestaltungsmittel im Prinzip neutral zum Ideengehalt verhalten, daß es stets auf ihre Funktion im Werk, auf die Position des Künstlers ankommt, der sie anwendet. Die bulgarische Dorfprosa wurde durch unterschiedliche Schriftstellerhaltungen geprägt. Insgesamt vermittelten die Werke dem Leser die gleichen Erkenntnisse: Die große Umgestaltung des bulgarischen Dorfes mit all ihren komischen, tragischen und oft tragikomischen Begleiterscheinungen ist ein gesetzmäßiger und unumkehrbarer Prozeß, der dazu dient, auch auf dem Lande dem Sozialismus gemäße Lebensbedingungen für alle zu schaffen.
Pawel Weshinows Beitrag %ur moraliscb-etbiscben Problematik Ein Kenner der bulgarischen Gegenwartsliteratur wird mit dem Namen Pawel Weshinow mindestens drei Dinge assoziieren: urbane Thematik, Experimentierfreudigkeit und das Bestreben, die konkrete soziale und nationale Wirklichkeit mit übergreifender philosophischer und moralisch-ethischer Problematik zu verbinden. Polemische Zuspitzung käme noch hinzu. 1974 beurteilte Weshinow den Entwicklungsstand der nationalen Literatur so: „Unsere Literatur ist recht empirisch, alltäglich, man vermißt den Höhenflug der Gedanken. Das ist ihren Dimensionen und ihrer Tiefe sowie ihrer menschheitlichen Relevanz natürlich abträglich."™9 Dabei wußte Weshinow genau, daß seit den sechziger Jahren solche Verallgemeinerungen in bezug auf Schreibweise und Leistung der bulgarischen Literatur nicht mehr zutreffen, daß spätestens seit dieser Zeit auch die „Dorfliteratur" ihren traditionellen „Empirismus" abstreifte, durch die Aufnahme des Problemkreises MenschZivilisation-Natur über eine bloß regionale und nationale Bedeutsamkeit hinauswuchs und „menschheitliche Relevanz" erreichte. Worum es Weshinow mit seiner provokanten Äußerung ging, das war die Durchsetzung der Einsicht, daß in einem literarischen Werk der übergreifende, „menschheitliche" Bezug nicht fehlen darf, den er als „Entdeckung der modifizierten Form bereits bekannter großer Lebenswahrheiten unter den veränderten Bedingungen unserer Ge251
Groteske, Destruktion der Fabel und der Figuren usw., die in den fünfziger Jahren für mehr oder weniger „dekadent" gehalten wurden, und trug sie entschieden zur Durchsetzung der Auffassung bei, daß sich die Gestaltungsmittel im Prinzip neutral zum Ideengehalt verhalten, daß es stets auf ihre Funktion im Werk, auf die Position des Künstlers ankommt, der sie anwendet. Die bulgarische Dorfprosa wurde durch unterschiedliche Schriftstellerhaltungen geprägt. Insgesamt vermittelten die Werke dem Leser die gleichen Erkenntnisse: Die große Umgestaltung des bulgarischen Dorfes mit all ihren komischen, tragischen und oft tragikomischen Begleiterscheinungen ist ein gesetzmäßiger und unumkehrbarer Prozeß, der dazu dient, auch auf dem Lande dem Sozialismus gemäße Lebensbedingungen für alle zu schaffen.
Pawel Weshinows Beitrag %ur moraliscb-etbiscben Problematik Ein Kenner der bulgarischen Gegenwartsliteratur wird mit dem Namen Pawel Weshinow mindestens drei Dinge assoziieren: urbane Thematik, Experimentierfreudigkeit und das Bestreben, die konkrete soziale und nationale Wirklichkeit mit übergreifender philosophischer und moralisch-ethischer Problematik zu verbinden. Polemische Zuspitzung käme noch hinzu. 1974 beurteilte Weshinow den Entwicklungsstand der nationalen Literatur so: „Unsere Literatur ist recht empirisch, alltäglich, man vermißt den Höhenflug der Gedanken. Das ist ihren Dimensionen und ihrer Tiefe sowie ihrer menschheitlichen Relevanz natürlich abträglich."™9 Dabei wußte Weshinow genau, daß seit den sechziger Jahren solche Verallgemeinerungen in bezug auf Schreibweise und Leistung der bulgarischen Literatur nicht mehr zutreffen, daß spätestens seit dieser Zeit auch die „Dorfliteratur" ihren traditionellen „Empirismus" abstreifte, durch die Aufnahme des Problemkreises MenschZivilisation-Natur über eine bloß regionale und nationale Bedeutsamkeit hinauswuchs und „menschheitliche Relevanz" erreichte. Worum es Weshinow mit seiner provokanten Äußerung ging, das war die Durchsetzung der Einsicht, daß in einem literarischen Werk der übergreifende, „menschheitliche" Bezug nicht fehlen darf, den er als „Entdeckung der modifizierten Form bereits bekannter großer Lebenswahrheiten unter den veränderten Bedingungen unserer Ge251
genwart" 340 zu beschreiben versuchte. Wie schwer diese Forderung künstlerisch zu realisieren war, das wußte er aus eigener Erfahrung. Ihr zu genügen gelang ihm selbst erst Anfang bis Mitte der siebziger Jahre. Der 1914 geborene Weshinow debütierte in den dreißiger Jahren, als auch die ersten Bücher von Dimitar Dimow, Emilijan Stanew, Andrej Guljaschki oder Kamen Kaltschew erschienen. Dieser in ideeller und künstlerischer Hinsicht ziemlich heterogenen neuen Generation junger Schriftsteller, die die Entwicklung der bulgarischen Prosa in den nächsten drei Jahrzehnten entschieden mitprägen sollten, war ein betontes Interesse für die städtische Wirklichkeit gemeinsam. Damit brachten sie etwas Neues in die bulgarische Literatur ein, die bis zu diesem Zeitpunkt fast ausschließlich auf die Gestaltung des Dorfes orientiert war und nur wenige „Schriftsteller der Stadt" (Georgi Stamatow oder Swetoslaw Minkow) hervorgebracht hatte. Unter diesen jungen Autoren zeichnete sich Weshinow aus durch seine progressive Gesinnung - er war zusammen mit Guljaschki und Kaltschew Mitglied des literarischen Zirkels des Bundes der Arbeiterjugend „Christo Smirnenski"'541 - sowie durch seine Vorliebe für die kleineren Prösaformen. Hinzu trat in der frühen Periode seines Schaffens das Bemühen, bis dahin nur wenig erschlossene soziale Bereiche der städtischen Wirklichkeit zu gestalten: vor allem das Leben des „kleinen Mannes" in den Hinterhöfen und in der Vorstadt. Die von schlecht bezahlter Arbeit, Entbehrungen und Krankheit gezeichnete Existenz dieser einfachen Menschen - Handwerker, Arbeiter und kleine Angestellte, die schmutzige Mietskasernen oder miserable Privathäuschen ohne elektrisches Licht und Kanalisation bewohnen - vermochte Weshinow in seinem ersten Erzählungsband Ulica bez pavaz (Straße ohne Pflaster; 1938) mit einer fast dokumentarischen Genauigkeit festzuhalten. Bereits hier wurden einige charakteristische Merkmale seines Talents sichtbar: die Fähigkeit, interessant zu fabulieren, das Beobachtete ungeschminkt, aber psychologisch tiefgründig und zugleich ironisch-distanziert zu gestalten. Diese ironische Haltung nahm bei Weshinow im nächsten Buch Dni i veceri (Tage und Abende; 1942) zu und ging gelegentlich in einen satirischen Ton über. Der Autor richtete seinen Blick nun noch gezielter auf Spießbürgerliches und verband es noch enger mit dem Kleinbürgertum als dessen sozialem Hauptträger. Die Figuren in diesen Erzählungen sind „gutsituierte" Leute - meist Beamte 252
stolze Inhaber von Eigenheimen, doch keineswegs in einer sicheren materiellen Lage, geistig ziemlich beschränkt und stupide, ständig verwickelt in kleinliche Streitigkeiten und Intrigen innerhalb der Familie, im Betrieb oder in der Nachbarschaft. Weshinow desavouierte dieses Leben schonungslos, besonders die Verlogenheit der bürgerlichen Moral. Er zeigte hier viel Gemeinsames mit Swetoslaw Minkow. Aber im Unterschied zu seinem etwas älteren Kollegen griff er nicht zur Groteske, verneinte die Figuren nicht absolut, sondern war stets bemüht, auch ihre menschlichen Potenzen, die Revolten gegen die deformierenden bürgerlichen Konventionen, gegen die materielle Unsicherheit, aber auch die Sehnsucht nach einem sinnvollen und nützlichen Dasein, nach Glück zu gestalten. Dieses Moment in Weshinows frühen Erzählungen ist sehr wichtig. Darin äußert sich seine Erkenntnis von der in sozialer und politischer Hinsicht instabilen Stellung des Kleinbürgertums im Gesellschaftsgefüge, das einerseits eine natürliche Reserve für die Bourgeoisie, andererseits aber ein potentieller Verbündeter der Arbeiterklasse ist. In der konkreten politischen Situation des Jahres 1942 mobilisierten diese Erzählungen den Leser im Sinne der von Georgi Dimitroff initiierten „Vaterländischen Front", einer breiten nationalen Bewegung gegen den Faschismus. Der 1947 veröffentlichte Roman Sinijat zilez (geschrieben 1942/43) ist ebenfalls dieser Frühetappe in Weshinows Schaffen zuzuordnen. Die gesellschaftskritische Haltung der ersten Erzählbände steigerte sich darin zu einem politisch kühnen Konzept, nach dem die herrschende bürgerliche Klasse nicht nur in moralisch-ethischer Hinsicht deformiert, sondern auch als biologisch entartet erschien. 1947 wirkte allerdings dieser Roman, der den biologischen Auffassungen des Naturalismus verhaftet ist und sich der Mittel bürgerlicher Trivial- und Sensationsliteratur für Fabelführung und Figurenaufbau bedient, bereits als Anachronismus und wurde von der marxistischen Kritik zu Recht abgelehnt.342 Sieht man von diesem Buch einmal ab, so gehört Weshinow zu den ersten bulgarischen Schriftstellern, die sich nach dem zweiten Weltkrieg den neuen Aufgaben stellten und künstlerisch „umrüsteten".3'13 Seine Powesti Die zweite Kompanie (1949) und V poleto (Kampf in der Ebene; 1950) waren wichtige Beiträge zur Konstituierung der bulgarischen sozialistischen Nationalliteratur. In diesen Werken setzte sich Weshinow intensiv mit Krieg und antifaschistischem Widerstandskampf auseinander, den damals aktuellsten lite253
rarischen Gegenständen, an denen sich die ästhetische und weltanschauliche Wandlung vieler bulgarischer Schriftsteller vollzog. Hier begegnen wir zum ersten Mal in seinem Schaffen einem neuen Menschentyp, der nichts mehr gemein hat mit den Figuren der beiden ersten Erzählbände, die mehr oder weniger als wehrlose Objekte der Geschichte dastehen, sondern aktiv in den historischen Prozeß eingreift und ihn mitprägt. Dieser neue Epochenheld ist beispielsweise der Kommunist Leutnant Manew in der Powest Die Zweite Kompanie, einem der bedeutendsten Werke unter jenen, die dem Vaterländischen Krieg Bulgariens gegen das faschistische Deutschland nach dem Septemberaufstand 1944 gewidmet sind. Mit erstaunlicher Energie, Zähigkeit und Kompromißlosigkeit versteht dieser im Zivilleben äußerlich kaum auffallende Chemieingenieur, bei seinem Einsatz in der schnellformierten Volksarmee an der Front eine durch Sabotageaktionen demoralisierte und vor ihrer Auflösung stehende Kompanie in eine vorbildliche Kampfformation zu verwandeln und sie zur heldenhaften Teilnahme an schwierigen Kriegsoperationen zu befähigen. Was in dieser Powest auffällt und sie von anderen, ähnlich angelegten Werken positiv abhebt, ist das Fehlen künstlicher Pathetik und Überhöhung bei der Gestaltung des Kriegsgeschehens und des „positiven Helden". Weshinow hatte als Frontkorrespondent am Krieg teilgenommen und kannte aus eigener Erfahrung den Siegeszug der bulgarischen Soldaten, aber auch die vielfältigen Schwierigkeiten, mit denen die Leitung der Volksarmee fertig werden mußte. Das von Leutnant Manew Geleistete führt der Autor nicht allein auf dessen starke und zielbewußte Persönlichkeit zurück. Entscheidend ist seine Einsicht, daß es für die Umerziehung der Kompanie nicht ausreicht, den Feind in den eigenen Reihen zu entlarven und sich mehr um die Bedürfnisse der Soldaten zu kümmern, sondern daß es nottut, mit ihnen auch über den Sinn und die Bedeutung des geführten Krieges zu sprechen sowie das innere Engagement und die Verantwortung für die Verwirklichung der demokratischen und sozialistischen Zielsetzungen der Volksmacht zu fördern. Weshinow bot mit diesem Werk dem Leser nicht nur eine spannende Lektüre, sondern erörterte zugleich wichtige Fragen der jüngsten Vergangenheit und der Übergangsperiode (Charakter des Vaterländischen Krieges, Zerschlagung der inneren Opposition, Wandlungsproblematik) und erläuterte die leitende Rolle der B K P in dem großen Umwälzungsprozeß.
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Auch in der Powest Kampf in der Ebene verband Weshinow aktionsreiche Handlung mit der Erörterung aktueller Fragen. Jetzt ging es ihm um die Aufhellung wichtiger wirtschaftlicher, politischer und militärischer Aspekte der Beziehungen zwischen Hitlerdeutschland und dem monarchofaschistischen Bulgarien während des zweiten Weltkrieges sowie um die Veranschaulichung der Bedeutung der Partisanenbewegung: einerseits die deutsch-bulgarischen Beziehungen zu stören und den Feind zu verunsichern, andererseits militärische Kräfte zu binden und den Widerstand der Bevölkerung gegen das faschistische Regime zu fördern. Die politischen Fronten sind im Werk scharf umrissen, sie gehen gelegentlich durch die Familie und spalten sie in zwei feindliche Lager. Wenn es Weshinow auch nicht ganz gelang, die damals übliche Schwarz-Weiß-Malerei zu vermeiden, so konnte er doch die Figuren individualisieren und ihre Handlungsweise psychologisch motivieren. Beachtung verdient die sprachliche Komponente der Powest Kampf in der Ebene und ihr Aufbau. Weshinow ging von der vereinfachten Sprache und Komposition in Die zweite Kompanie ab, kehrte zur Geschmeidigkeit und Originalität des Ausdrucks seiner frühen Werke zurück und verband mehrere Handlungsstränge kunstvoll miteinander. Die relative epische Breite entsprach allerdings weniger dem Naturell des Autors als dem damaligen Entwicklungstrend der bulgarischen Prosa: hin zur Totalität der Gestaltung. Der Entdogmatisierungsprozeß im bulgarischen literarischen Leben, der bereits 1952/53 mit den Debatten um den Roman Tabak von Dimitar Dimow eingesetzt hatte und nach dem Aprilplenum des ZK der B K P von 1956 den Charakter eines umfassenden Kampfes gegen den Schematismus annahm, wirkte sich auch auf das Schaffen Pawel Weshinows positiv aus. Doch geschah dies nicht in einem Zug. Die durch die neue kulturpolitische Richtung und den Abschluß des Aufbaus der sozialistischen Grundlagen geförderte Erweiterung des literarischen Horizontes (zur bislang dominierenden Formel „Der Mensch in der Welt" trat jetzt ein zunehmendes Interesse für „Die Welt im Menschen" sowie für dessen Privatsphäre) und vor allem die lebhaften Diskussionen um eine Präzisierung der bisherigen Vorstellungen vom „positiven Helden" fanden bei Weshinow in zunächst umstrittenen Werken wie Nasata sila (Unsere Kraft; 1957) und Dalec ot bregovete (Fern von den TJfern; 1958) ihren Niederschlag. Sie gehören zu den ersten Werken der bulgarischen Literatur, in 255
denen das antifaschistische Thema als A n l a ß genutzt wird, um moralisch-ethische Grundfragen der Gegenwart zu diskutieren. Sowohl der Kurzroman Nasata sila als auch der Roman Fern von den Ufern haben einen starken Bezug zu den damals aktuellen Auseinandersetzungen mit dem Personenkult sowie zu übergreifenden Problemen sozialistischer Ethik in der beginnenden Etappe der Festigung der errichteten Grundlagen des Sozialismus in Bulgarien. Im Vordergrund des Geschehens stehen Kommunisten, deren Parteizugehörigkeit allein nicht mehr so selbstverständlich wie früher sie als „positive Helden" mit einem mehr oder weniger „idealen" Charakter auftreten läßt. Erst das Verhältnis dieser Figuren zu Problemen wie individuelle oder kollektive Führung, blinder Glaube an die Sache der Revolution und des Kommunismus und kompromißlose Geradlinigkeit oder nüchterne Analyse der realen Bedingungen und eine davon abgeleitete Strategie und Taktik, Umerziehung durch Maßregelungen und Sanktionen oder mehr Vertrauen zu den Menschen und Uberzeugungsarbeit bei deren Umerziehung und anderes mehr erweist sich nun ausschlaggebend dafür, inwieweit sie als „beispielhaft" anzusehen sind, inwieweit ihre Haltung mit den ethischen Prinzipien eines Kommunisten tatsächlich übereinstimmt und den objektiven Erfordernissen des Kampfes und der sozialistischen Revolution entspricht. Die neue Problematik wirkte sich stark auf die Konfliktstruktur der Werke aus (in Nasata sila ist der Grundkonflikt in eine Partisanenformation verlegt) und führte zu neuen kompositioneilen Lösungen. So fällt zum Beispiel der Roman Fern von den Ufern, dem der Fluchtversuch einer Gruppe von Kommunisten nach der Sowjetunion in den dreißiger Jahren zugrunde liegt, durch seine Aktionsarmut auf: Die Handlung spielt sich in einem Boot ab, und die „epische Dimension" des Werkes wird - erzähltechnisch ganz ungewohnt durch die vielen und ausgiebigen Rückblenden erreicht, die die Vergangenheit der Figuren erhellen und ihre Positionen und Verhaltensweisen begründen. Die untergeordnete Handlung und die Konzentration auf die Erörterung der oben angedeuteten Probleme wirkte sich gravierend auf den Abschluß des Romans aus. Weshinow verläßt seine Figuren in einem Moment, als sie durch den heraufziehenden Sturm in Lebensgefahr geraten, und läßt die Frage, ob sie am Leben bleiben und ihr Fluchtversuch gelingt, völlig offen. Allein der Schluß dieses unkonventionell geschriebenen, experimentellen Werken war manchen zeitgenössischen Rezensenten Anlaß 256
genug, es zu kritisieren. Seine Komposition wurde vielfach mit Hemingways Meistererzählung Der alte Mann und das Meer in Verbindung gebracht und als deren wenig gelungene Nachahmung abgelehnt. D i e Unzulänglichkeiten dieses Romans sind jedoch kaum auf der Ebene der Komposition zu suchen. Darin spiegelt sich der allgemeine Zuwachs an Reflexion in der bulgarischen Prosa jener Zeit. Mißlungen ist vielmehr die Art, wie der Autor die ethischen Probleme diskutiert und die Figuren aufbaut. Denn sosehr die E r örterung von ethischen Problemen und Haltungen der Gegenwart am Vergangenheitsstoff ein legitimer Kunstgriff war und ist, er bedarf stets eines reifen historischen Bewußtseins des Künstlers, der die Bedeutung dieser Haltungen und Probleme in Abhängigkeit vom historischen Moment relativiert. Dies gilt um so mehr, wenn es sich nicht um allgemeinmenschliche, „ewige" ethische Fragen handelt, sondern um konkrete Haltungen eines Kommunisten, die von den spezifischen Aufgaben und Zielsetzungen einer Etappe der sozialistischen Revolution, von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen und nationalen Bedingungen abhängen. D i e ungenügende Berücksichtigung des komplizierten Verhältnisses zwischen Gestern und Heute bei der Projizierung gegenwärtiger Probleme kommunistischer Haltung und Ethik in die antifaschistische Vergangenheit führte besonders in der Powest Nasata sila stellenweise zu Unschärfe und Ungenauigkeit. Andererseits vergröberte der Autor den individuellen Charakter seiner Figuren, reduzierte ihn - wie oft in den Werken der frühen fünfziger Jahre - auf nur wenige Eigenschaften, da es ihm nicht so sehr um Einzelpersonen und -schicksale als vielmehr um den Zusammenstoß unterschiedlicher Thesen und Argumente ging. So vermochte Weshinow mit dieser Prosa trotz der angedeuteten Neuleistungen die Tendenz zum Schematismus aus den frühen fünfziger Jahren noch nicht ganz zu überwinden. Dies gelang ihm erst mit den Erzählungen, die in den sechziger Jahren entstanden, und vor allem mit dem Roman Zvezdite nad nas (Die Sterne über uns), durch den er in die Reihe der bedeutendsten Vertreter der bulgarischen Gegenwartsliteratur aufrückte. D i e Erzählungen aus den sechziger Jahren, gesammelt in den
Bänden Momceto s cigulkata (Der Junge mit der Geige;
1963) und
Däch na bademi (Ein Hauch von Mandeln; 1966), markieren die erneute Wendung Weshinows einerseits zur Gestaltung der Gegenwart und andererseits zu den ihm besonders liegenden kleineren 17
Witschew, Bulg. Prosa
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Prosaformen. Es ist bezeichnend für den Wandlungs- und Reifeprozeß, der sich in Weshinows Schaffen gerade in diesen Jahren vollzog, daß diese Erzählungen mit dem Roman Sucbata ravnina (Die trockene Rhene; 1952) - dem ersten wenig gelungenen Versuch des Schriftstellers, die neue Wirklichkeit künstlerisch zu bewältigen 344 - nicht nur genremäßig, sondern auch in bezug auf die Stoff- und Heldenwahl sowie die Konfliktgestaltung keine Gemeinsamkeiten aufweisen. Ihre Orientierung auf die städtische Wirklichkeit und auf das Alltagsleben des „durchschnittlichen", „gewöhnlichen" Bürgers erinnert eher an sein Frühwerk, läßt sie als eine Rückkehr des Autors zu den ihm vertrauten Wirklichkeitsbereichen, Menschentypen und Problemen erscheinen - als eine Art Rückkehr zu sich selbst. Auch diese Entwicklung war keineswegs isoliert vom allgemeinen literarischen Prozeß in Bulgarien. Sie korrespondiert mit der schon angedeuteten Korrektur in der Literatur, ihren Hauptgegenstand, den Menschen, nicht mehr einseitig und losgelöst vom Ensemble seiner sozialen Beziehungen, sondern als ein komplexes Wesen zu gestalten. Sie entspricht der Einsicht, daß die Umgestaltung des Landes nicht von „idealen Helden", sondern von „durchschnittlichen" Menschen vollbracht wird und deshalb das „Heroische", das „Erhabene" und das „Große" in deren Alltag zu suchen und zu finden sind. Diese wichtigen Elemente einer neuen Literaturprogrammatik sind in Weshinows Erzählung Los den (Ein schlechter Tag; 1963) geradezu exemplarisch enthalten. Der „positive Held" ist hier ein Feuerwehrmann, ein ehemaliger Bauer, der erst seit wenigen Jahren mit seiner Familie in der Großstadt wohnt und arbeitet, ein Mensch ohne große Ambitionen und besondere Zuneigung zu dem neuen Beruf, der aber peinlich darauf achtet, daß er sein Geld nicht „geschenkt" bekommt, einer, der seinen Pflichten gewissenhaft nachgeht und sogar sein Leben riskiert, wenn die Situation dies von ihm verlangt. Mit dieser Gestalt streifte Weshinow zwei wichtige Probleme, die auch von der „Dorfprosa" behandelt wurden: die Abwanderung der Bauern in die Stadt und die Bewahrung traditioneller „nationaler Tugenden" durch eben diese Bauern. In erster Linie aber ging es Weshinow um die Veranschaulichung eines neuen Typs von Heroismus unter den Bedingungen des friedlichen sozialistischen Aufbaus, eines Heroismus, dem Pose und Pathetik objektiv fremd sind, der keine innere Überwindung für 258
den Menschen bedeuten muß und eine massenhafte, alltägliche Erscheinung ist, die sich ganz natürlich aus der neuen Einstellung zur Arbeit und der Verantwortung vor der Gesellschaft ergibt. Schon ein flüchtiger Vergleich der Hauptfigur dieser Erzählung mit den Figuren aus Weshinows Frühwerk genügt, um festzustellen, welche wesentlichen Veränderungen in der Persönlichkeitsstruktur des einfachen Menschen aus der Zeit vor dem Sieg der sozialistischen Revolution vor sich gegangen sind. Das, wovon der kleinbürgerliche Ich-Erzähler in Lulata (Die P f e i f e ; 1942) nur träumen, was er sich als eine große ethische Leistung lediglich vorstellen kann - der uneigennützige riskante Einsatz für andere Menschen und für die Gemeinschaft ist bei dem Feuerwehrmann nicht nur Berufspflicht, sondern selbstverständliche ethische Norm. Natürlich haben nicht alle Erzählungen der erwähnten Bände einen solch direkten Bezug zu den aktuellen Diskussionen in der nationalen Literatur über den Charakter des „positiven Helden" und des Heroischen im sozialistischen Alltag. Diese Fragen sind vielmehr Teil einer umfassenden Auseinandersetzung des Schriftstellers mit grundlegenden moralisch-ethischen Fragen der Gegenwart. Bejahung und scharfe Kritik, lyrische Töne, aber auch beißende Ironie sind in den meisten Erzählungen eng miteinander verwoben und zeugen von dem differenzierten und feinfühligen Verhältnis Weshinows zur komplizierten Dynamik der Gesellschaft, die in eine neue Phase des sozialistischen Aufbaus eingetreten war. Es fehlen in diesen Erzählungen „große Ereignisse" oder scharfe soziale und gesellschaftliche Konflikte. Die Frage: Sozialismus ja oder nein? war schon entschieden; was Weshinows Interesse weckte, war der sozialistische Alltag und vor allem die Privatsphäre der Menschen, in der keineswegs alles reibungslos und ohne Zusammenstöße verlief. Auch dies war ein wichtiges Moment der Überwindung der Literaturprogrammatik der fünfziger Jahre, die fast ausschließlich auf das Vorbildhafte bei der Gestaltung der neuen Wirklichkeit aus war und die Entstehung von Werken förderte, in denen Wunschbilder für Realität ausgegeben wurden. Weshinow zeigte besonderes Interesse für städtische soziale Schichten wie Akademiker, Künstler und höhere Angestellte, Menschen mit einer leitenden Stellung in der Öffentlichkeit und mit einer mehr oder weniger gefestigten marxistischen Weltanschauung, deren familiäres und berufliches Leben jedoch oft nur dem Schein nach „intakt" oder durch eine ganz offene Krisensituation gekennzeichnet ist. Worauf 17*
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auch diese Disharmonien zurückzuführen sind, ob es sich hier um Rudimente des alten Lebens, um Auswirkungen nichtantagonistischer Widersprüche in der neuen Wirklichkeit, um charakterlich bedingte menschliche Schwächen oder um immer wieder auftretende Spannungen zwischen den verschiedenen Generationen handelt: Weshinow ist unduldsam in gleichem Maße gegenüber Heuchelei, doppelter Moral und Egoismus wie auch gegen Verantwortungslosigkeit, Gefühlsarmut und Leichtsinn, gegenüber allen Formen der Entleerung und Deformierung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Und überall ist zugleich seine Besorgnis zu spüren: sei es die Bewahrung des Zeitgenossen vor einem gestörten Verhältnis zur Umwelt und vor Konsumdenken, sei es die vielseitige Entwicklung der Persönlichkeit, sei es die Weitergabe der revolutionären Erfahrungen unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen. Wie ein roter Faden zieht sich durch all diese Erzählungen der Gedanke an das Schöne in seiner Vielfalt im neuen Leben, aber auch an seine Verletzbarkeit, an all die Erscheinungen, die Schönes verhindern und zerstören. Das prägt auch die spezifische Struktur der Erzählungen - fast ausnahmslos sind sie auf dem Prinzip der Konfrontation von zwei Menschen aufgebaut, die den Zusammenprall dieses Schönen (meist eine der sozialistischen Persönlichkeit und dem geschichtlichen Auftrag der neuen Gesellschaft gemäße Norm oder Haltung) mit gegensätzlichen Faktoren versinnbildlichen. Wesentlich ist dabei, daß Weshinow keinen fertigen Schemata folgt, sondern in viel stärkerem Maße als zuvor a u s d e m L e b e n s c h ö p f t und sich deshalb nicht scheut, auch solche Konfrontationen aufzubauen, bei denen eine Lösung als schwierig erscheint. In der Erzählung Välni otdalec (Wellen von fern) fordert zum Beispiel ein alter Mann vor Gericht materielle Unterstützung von seinem Sohn - und dies, obwohl er sich vor Jahren von der Familie getrennt und um den Sohn nicht gekümmert hatte. Angesichts der tatsächlich unterstützungsbedürftigen Lage entscheidet das Gericht den Rechtsstreit zugunsten des Vaters. Weshinow distanziert sich von dem Gerichtsurteil nicht, er billigt es im Grunde, doch er provoziert den Leser, auch über die Gewissenlosigkeit des Vaters nachzudenken und sich mit überkommenen moralischen Begriffen wie Schuld und Sühne einerseits und mit den Prinzipien des sozialistischen Humanismus andererseits auseinanderzusetzen - nicht weil sie sich etwa gegenseitig ausschlössen, sondern weil sie in diesem konkreten Fall dramatisch kollidieren. 260
Die Abwendung von simplen Konfrontationen und eindeutigen, einzig gültigen Lösungen, ja der bewußte Verzicht darauf ist ein weiteres wichtiges neues Element in diesen Erzählungen. Es spiegelt die erhöhten Forderungen Weshinows an den Leser, die Erwartung des aktiven Mitdenkens, und signalisiert so den Übergang des Autors zu einer veränderten Adressatenbeziehung: An die Stelle des bisher dominierenden Lehrer-Schüler-Verhältnisses tritt jetzt zunehmend eine partnerschaftliche Beziehung. Mit dieser neuen Einstellung hängt auch die in Däcb na bademi angewandte Erzähltechnik der Montage zusammen: die Gestaltung des Geschehens - hier ein Selbstmordfall - in chronologischer Abfolge, doch aus verschiedenen Blickwinkeln in Form von aneinandergereihten Einzelteilen der Erzählung. Angeregt wurde Weshinow dazu einerseits durch seine unmittelbaren Kontakte mit der Filmbranche und seine Erfahrungen als Drehbuchautor, andererseits aber auch durch die sich im bulgarischen Roman der sechziger Jahre etablierende „polyphone" Erzähltechnik als Sonderfall der Ich-Erzählsituation: das Auftreten zweier oder mehrerer sich variabel abwechselnder Ich-Erzähler in einem Werk anstelle eines einzigen fiktiven Erzählers. Beides - Montage wie „polyphone" Technik - reflektierte das mit dem fortschreitenden Aufbau der sozialistischen Gesellschaft gereifte Bewußtsein von der dialektischen Widersprüchlichkeit der Dinge sowie das Bestreben, die Wahrheit über die Gegenwart künstlerisch zu vertiefen. Der durch ihre Anwendung erzielte Zusammenstoß verschiedener bzw. entgegengesetzter Positionen und Ansichten war ein effektives Mittel, der dargestellten Wirklichkeit Farbe und Vielseitigkeit zu verleihen und ihre sozial-psychologischen Dimensionen anzureichern. 345 In diesem Kontext ist auch die Entstehung des Erzählzyklus Basta mi (Mein Vater), Procesan (Der Prozeß) und Rozdenijat den na Zachari (Der Geburtstag von Sacbari) zu sehen. Wie die einzelnen Teile der Erzählung Däcb na bademi sind die drei Erzählungen durch ein und dasselbe Geschehen - einen Autounfall verbunden und geben die Handlung und die daran beteiligten Personen sowie ihre Beziehungen zueinander aus drei verschiedenen Perspektiven wieder: aus der Sicht des jungen Mannes, der den Unfall verursacht, aus der Sicht seiner Freundin und aus der Sicht der Mitarbeiter des Vaters des jungen Mannes, der durch die Hintergründe des Unfalls schwer diskreditiert wird. Die Verselbständigung der unterschiedlichen Perspektiven in Einzelerzählungen stellte ein Novum in Weshinows Werk dar, das aus der Spannung 261
zwischen der zu größeren epischen Formen drängenden Technik der Montage und dem Bestreben des Autors resultierte, bei der kleinen Erzählform zu bleiben. Erzählzyklen, die auch bei anderen Schriftstellern - zum Beispiel Jordan Raditschkow, Kamen Kaltschew oder Wassil Popow - beobachtet werden können, sind kennzeichnend für die umfassenden Transformierungs- und Erneuerungsprozesse in der bulgarischen Prosa der sechziger Jahre. Sie zeugen von der komplizierten Bewegung innerhalb ihres Genreensembles bei der Aufnahme von neuen Fragestellungen und der Wahrnehmung von neuen Funktionen in der Zeit des Übergangs zur entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Aufschlußreich in dieser Beziehung ist auch der Roman Die Sterne über uns (1966), mit dem Weshinow wiederum das antifaschistische Thema aufgriff. Der Autor erzählt hier aus der Sicht eines jungen Arztes, der wegen erwiesener medizinischer Hilfe für einen Widerstandskämpfer zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt ist, die Geschichte einer Gruppe politischer Häftlinge in Bulgarien während des zweiten Weltkrieges. Im Mittelpunkt der Handlung steht die erfolgreiche Aktion der Häftlinge um die Rettung des Großvaters Schtiljan, der dank eines Versehens der Gefängnisverwaltung - ein anderer Häftling wird statt seiner hingerichtet - am Leben geblieben ist. Nach geglückter Flucht aus dem Gefängnis bilden diese Häftlinge eine Partisanenabteilung. Was diesen Roman besonders kennzeichnet, ist zunächst Weshinows Interesse nicht für den Ablauf, sondern für die Reflexion der Handlung. Davon zeugt schon die gewählte Ich-Erzählsituation, und zwar in jener Variante, bei der das erlebende Ich ins Zentrum der Darstellung rückt und sich die Spannung nicht aus dem Verhältnis zwischen dem erzählenden und dem erlebenden Ich, sondern aus der gedanklichen Auseinandersetzung des erlebenden Ich mit dem Geschehen ergibt. Dabei läßt der Schriftsteller dieses erlebende Ich - den jungen Arzt - einen komplizierten Wandlungsprozeß von einem politisch nicht engagierten Intellektuellen und Befehlsempfänger in der zaristischen Armee zu einem bewußten Antifaschisten durchlaufen. So wichtig dieser Wandlungsprozeß an sich ist Weshinow konzentrierte seine Aufmerksamkeit mehr auf die Erörterung der damit zusammenhängenden Fragen sittlicher, ethischer und philosophischer Natur, die über diesen konkreten Fall und die konkreten historischen Bedingungen weit hinausgehen und Anspruch auf universelle Verallgemeinerungen erheben. 262
Das stellte eine weitere Modifikation im Herangehen an das antifaschistische Thema dar: Ging es Weshiiiow in Fern von den Ufern und Nasata sila vor allem darum, aus einem konkreten Anlaß (die Debatten um den Personenkult) auf aktuelle Aspekte der kommunistischen Ethik und Moral einzugehen, so verlagerte er hier den Akzent auf übergreifende, relativ „zeitlose" philosophische und moralische Kategorien, oder anders ausgedrückt, auf die menschheitliche Relevanz der geführten Diskussion. Als Prüffeld für das erreichte sittliche und geistig-weltanschauliche Niveau seiner Figuren nimmt der Autor jetzt nicht allein ihr Verhältnis zum antifaschistischen und revolutionären Kampf beziehungsweise zu seiner Strategie und Taktik, sondern zunehmend auch ihr Verhältnis zu humanistischen Fragen sowie ihre Einstellung zur wissenschaftlichen Erkenntnis und zum Tod. Bei dem so erweiterten Kreis von Bezugspunkten treten zum Beispiel sofort die problematischen Seiten in der Haltung eines überzeugten und bewährten Kommunisten wie Bai Niko - der „Politvertreter" der Zelle - hervor, dem es lieber ist, ein Menschenleben zu opfern, als daß er sich auf einen Kompromiß mit dem Feind einläßt, der es vorzieht, „dreimal ungerecht zu sein", als daß er einmal irrt und sein Vertrauen mißbraucht wird, und für den Einsteins Relativitätstheorie und die Verwandlung der Materie in Energie ein „idealistisches Hirngespinst" sind und so lange bleiben werden, bis die Partei einen „offiziellen Standpunkt" dazu hat. Weshinow konfrontiert diese Figur geschickt mit einem anderen Kommunisten, Viktor - ein ehemaliger Physikstudent - , der es ablehnt, das einzelne Individuum lediglich als ein kleines Rädchen im großen Mechanismus des Kampfes und der Revolution zu betrachten, der sich für eine produktive Beziehung der Revolution zu den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft einsetzt und keine fertigen Parteistandpunkte abwarten will, sondern in der Lage ist, den Marxismus schöpferisch anzuwenden, wenn die spezifische existentielle beziehungsweise Kampfsituation oder eine „offene" wichtige Frage dies erfordern. Durch sein reiches emotionales und geistiges Profil, seinen selbstlosen Einsatz für die Kampfgenossen, sein fundiertes Wissen und sein reges Interesse für die Leistungen und Grenzen der menschlichen Erkenntnis übt Viktor den stärksten Einfluß auf die Wandlung des Ich-Erzählers und dessen weltanschauliche Entwicklung aus, während Bai Nikos Bemühungen, den Arzt auf dem direktesten und schnellsten Wege zum einsichtigen und disziplinierten Parteimitglied zu machen, zu ständigen Kontroversen führen. 263
Wichtig ist indes, daß Weshinow trotz aller Sympathie für Viktor und seiner oft ironischen Einstellung zu Bai Niko diese beiden Figuren nicht als Gegensätze aufbaut. Er macht klar, daß auch Viktor bedenkliche Schwächen hat und eigentlich eher dazu geschaffen ist, einen Kommunisten vom Typ „Bai Niko" zu ergänzen und zu korrigieren, als ihn ganz zu „ersetzen". (Viktor fehlt zum Beispiel Bai Nikos „feste Hand", die für die nötige Kampfdisziplin sorgt, er besitzt weder dessen Menschenkenntnis noch seine Umsicht und Lebenserfahrung - Eigenschaften, die sowohl für einen erfolgreichen Berufsrevolutionär als auch für einen Leitungskader in der friedlichen Phase der Revolution unabdingbar sind.) Von besonderem Gewicht für die Handlung des Romans und seinen Ideengehalt ist die Gestalt des Großvaters Schtiljan. Die außergewöhnliche und dramatische Lage, in der sich dieser alte Bauer befindet, nutzt Weshinow zum einen als einen Prüfstein für den erreichten moralischen und weltanschaulichen Reifegrad jedes Häftlings, zum anderen als Anlaß für die beeindruckende Solidaritätsbekundung der politischen Häftlinge, die für den Wandlungsprozeß des Ich-Erzählers zum bewußten Kämpfer eine wesentliche Rolle spielt. Signifikant ist diese Gestalt auch in bezug auf ein anderes ideelles Anliegen Weshinows: die Auseinandersetzung mit dem Tod und mit der Todesangst als eine folgenschwere Triebkraft menschlichen Verhaltens. Versuchen Viktor und der junge Arzt auf rein rationale Art und über die Nutzung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse mit diesem Problem fertig zu werden, so läßt Weshinow den ungebildeten Alten einen ganz anderen Weg beschreiten. Es ist der Weg des einfachen Menschen aus dem Volk zu Heldentum und sittlicher Größe, der in diesem konkreten Fall erst durch das Gefühl des Helden, in der Schuld anderer Menschen zu stehen - des statt seiner hingerichteten jungen Burschen und der politischen Häftlinge, die sein Leben vom Gefängniswärter regelrecht erkaufen - , möglich wird. Dieses Schuldgefühl gibt ihm die moralische Kraft, die lähmende Todesangst zu überwinden und sein weiteres Leben als „Geschenk" anzusehen. Der Autor zeigt in den Episoden nach der Flucht aus dem Gefängnis, welche wunderbaren menschlichen Tugenden, die bisher in ihm geschlummert haben, nun freigesetzt werden und wie dieser Alte sie bis zur völligen Selbstverleugnung für seine Kampfgenossen produktiv macht. Die „Verwandlung" des Großvaters Schtiljan provoziert natür264
lieh Fragen. Inwieweit ist zum Beispiel die Überwindung des Selbsterhaltungstriebs über den einzelnen Fall hinaus überhaupt möglich und wirklich erforderlich für eine ungehinderte Realisierung des Humanen im Menschen? Erlangt der einfache Mensch aus dem Volk diese sittliche Größe, diese Fürsorge für den Nächsten und gar die Selbstverleugnung nur über den beschriebenen Schuldkomplex? Weshinow kann hier weder eine erschöpfende noch die einzig gültige Antwort geben. Ihm liegt offenbar vor allem daran, zum Nach- und Weiterdenken über die Problematik anzuregen. Die angedeuteten Faktoren und Umstände, die zur beeindruckenden Wandlung des Alten beitragen, bieten zweifellos einen Ausgangspunkt dafür. Das Schicksal Großvater Schtiljans verkörpert in vieler Hinsicht die dramatische und leidvolle Geschichte des bulgarischen Volkes bis 1944, seine Distanzierung vom faschistischen bürgerlichen Staat und sein Bekenntnis zur sozialen Revolution und zum Sozialismus. Die Leistung Weshinows ist dabei vor allem darin zu suchen, an dieser Gestalt nicht nur die Anziehungskraft der revolutionären Ideen und deren persönlichkeitsbildende Kraft veranschaulicht, sondern auch den bedeutenden Beitrag reflektiert zu haben, den solche einfachen Leute zur revolutionären und antifaschistischen Bewegung leisteten.346 Nach dem Tod von Viktor ist der Alte derjenige, der den Ich-Erzähler mobilisiert und weiter formt, indem er der Resignation des jungen Intellektuellen die Zähigkeit, die innere Stärke und die Weisheit des im Leid gehärteten Mannes aus dem Volke entgegensetzt. Die in den Erzählungen aus den frühen sechziger Jahren aufgenommene Problematik des „positiven Helden" und des Heroischen fand damit in Weshinows Schaffen einen weiteren und abschließenden Kulminationspunkt. Nach den vielfältigen Erkundungen der neuen Wirklichkeit in Erzählungen der sechziger Jahre und dem Versuch, in Die Sterne über uns Fragen der sozialistischen Ethik und Moral mit Problemen von übergreifendem, „zeitlosem" Charakter in Verbindung zu bringen, reifte bei Weshinow Anfang der siebziger Jahre der Wunsch nach einer umfassenden Bilanz, nach einer Synthese der gesammelten Erfahrungen. Inzwischen erfolgte der Eintritt Bulgariens in die Phase der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, Fragen wie die Vertiefung des realen Humanismus, das Verständnis für die Dialektik der dem Sozialismus innewohnenden Widersprüche, die weiter gewachsene Rolle der Persönlichkeit und der wissenschaftlich-technischen
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Revolution rückten in den Vordergrund des gesellschaftlichen Bewußtseins. Sie drängten regelrecht nach Neuansätzen, nach einer Neuverteilung der Akzente innerhalb der Gegenwartsliteratur. Dem mußte sich Weshinow stellen. In diesem Sinne ist der 1975 erschienene Roman Nostem s bellte kone (Nachts mit weißen Pferden) nicht einfach eine Verallgemeinerung seiner Erfahrungen aus den sechziger Jahren, sondern eine Synthese, die diese Erfahrungen mit den neuesten und brisantesten Fragestellungen der siebziger Jahre aufs engste verknüpfte. Darin liegt in erster Linie die Leistung des Romans, und das erklärt auch den großen Anklang, den er bei einem großen Publikum weit über die Grenzen Bulgariens hinaus gefunden hat. Ursprünglich wollte Weshinow „einen Roman über Generationsfragen" 347 schreiben, er hat jedoch seinen Plan ausgeweitet. Der Autor läßt zwar einen alten Mikrobiologen und Krebsforscher, Professor Urumow, und dessen Neffen Sascho als Hauptfiguren agieren, beschränkt aber seine Analyse nicht nur auf das Verhältnis dieser beiden zueinander, sondern dehnt sie auf alle privaten und beruflichen Beziehungen aus, auf die Einstellung zu vielen Lebensfragen und ethischen Verhaltensnormen. Das anfänglich als „Generationsroman" konzipierte Buch wächst hinüber in einen eindrucksvollen Roman über moralische Werte, die der harmonischen Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft und darüber hinaus - auf Grund des Anspruchs dieser Gesellschaft, im Namen der ganzen Menschheit zu sprechen - jeder Gesellschaft zugrunde liegen müßten.3,18 In Übereinstimmung mit dem Ideengehalt des Romans erscheinen Urumow und Sascho nicht nur als Vertreter zweier Generationen mit all dem, was sie objektiv trennt und verbindet, sondern auch als Verfechter unterschiedlicher, von ihrer Generationszugehörigkeit unabhängiger Positionen und Haltungen, deren ethischer Wert, deren Stärken und Schwächen bei der Konfrontation mit Mängeln der gesellschaftlichen Praxis sowie im Bereich der persönlichen und alltäglichen Konflikte besonders deutlich hervortreten. Verbinden Urumow und Sascho zum Beispiel familiäre Eigenschaften wie Verantwortungsgefühl, würdevolle Haltung oder schöpferische Phantasie und repräsentieren sie gemeinsam den Typ des begabten und produktiven Wissenschaftlers, der gegenüber Dilettantismus unduldsam ist, so läßt Weshinow auch Saschos „Unfertigkeit" im Vergleich zu Urumows „Abgeklärtheit" sichtbar werden, seine etwas leichtfertige und oberflächliche Art, die Dinge im Leben zu nehmen, oder 266
das Streben nach Ungebundensein. Richtig spannend und interessant werden aber die Figuren erst dort, wo es dem Autor gelingt, sie über die altersbedingten Unterschiede hinaus zu charakterisieren, ihre Beziehung zu aktuellen Problemen zu zeigen wie: Welche ist die richtige Reaktion auf die Widersprüche in der sozialistischen Wirklichkeit - zwischen dem, wie es ist, und dem, wie es sein sollte oder könnte? Soll man sich an die Realität „anpassen", wenn ja, in welchen Fällen und inwieweit? Benötigt das heutige Leben, das zunehmend durch Wissenschaft und Technik geprägt ist, noch das Gefühl und die Poesie? Was können uns heute Kunst und Literatur noch geben? An solche Fragestellungen geht Weshinow äußerst behutsam und differenziert heran. Er verbirgt zum Beispiel seine Sympathie für die Prinzipienfestigkeit und den Edelmut Urumows nicht, doch er weist auf die Grenzen dieser Haltung hin. Sie hindert den Professor unter anderem daran, mit einem Karrieristen wie Asmanow, der Urumows Position als Direktor des Forschungsinstitutes untergraben will, fertig zu werden. Andererseits enthält sich der Autor des eindeutigen Urteils über die Haltung des Neffen und wissenschaftlichen Nachfolgers Urumows, der Asmanow unschädlich zu machen versteht, indem er sich dessen eigener Mittel bedient, obwohl dies in moralischer Hinsicht kaum vertretbar ist. Weshinow erkennt wohl die Gefahr, die Urumows Auffassung in sich birgt, um der eigenen moralischen Unversehrtheit wegen einem Widersacher gegenüber stets edelmütig zu bleiben, denn das bedeutet in letzter Konsequenz, an den Unzulänglichkeiten der Wirklichkeit scheitern zu müssen, zur konkreten Entwicklungsstufe der Gesellschaft in Gegensatz zu geraten. Die auf den ersten Blick wenig anziehende, ethisch fragwürdige, rein pragmatische Verhaltensweise von Sascho erweist sich als effektiver, und der Leser freundet sich mit ihr an, zumal sie auf dem Zwang der Notwendigkeit beruht und für die Gesellschaft positiv ist. Doch sosehr auch Saschos Pragmatismus und Anpassungsfähigkeit in diesem konkreten Fall gerechtfertigt und annehmbar scheinen, sie führen ihn - als charakterliche Veranlagung und geistige Haltung - in anderen Fällen an die Grenze der moralischen Gleichgültigkeit, werden zum Hemmnis für die Entfaltung und Realisierung aller seiner Wesenskräfte als Mensch. Dies zeigt sich prägnant in der privaten Sphäre seines Lebens, in der weder mit Ambition noch mit Talent - die für Sascho wichtigsten Eigenschaften eines 267
jungen Mannes - viel anzufangen ist, und besonders in der Liebe, wo ihn Egozentrismus und Rationalismus beinahe um sein Lebensglück bringen. Hier macht sich wiederum Weshinows Sympathie für Urumow bemerkbar, der auch in seinem fortgeschrittenen Alter zu tiefen Empfindungen und wahrer Liebe fähig ist und der zeitlebens unter der Kälte und Untreue seiner Frau gelitten hat. Mit seinem reichen Gefühlsleben, mit seiner großen Empfänglichkeit für das Poetische im Leben und für die Reize der Natur, mit seiner Wertschätzung der Kunst vereint der alte Wissenschaftler glücklich die rational-analytische Weltsicht mit ästhetischem und emotionalem Gespür und rückt so in die Nähe zum Ideal der vielseitig entwickelten Persönlichkeit, während sein Neffe Sascho eher die Gefahren einer einseitigen Ausbildung des Menschen in unserer Gegenwart signalisiert. Es ist hier nicht möglich, auf die ganze Problematik dieses vielschichtigen und bisher umfangreichsten der Romane Weshinows einzugehen und die Verflechtung und gegenseitige Durchdringung von neuen und bereits früher aufgeworfenen philosophisch-ethischen Fragen im einzelnen zu erörtern: die ewige Sehnsucht des Menschen nach allseitiger Verwirklichung, nach Schönheit und Vollkommenheit, die geistige Auseinandersetzung mit dem Tod, die Kraft des menschlichen Verstandes, aber auch dessen Schranken und die Grenzen des bisher erreichten Erkenntnisstandes, den Nutzen, aber auch die Schattenseiten der wissenschaftlich-technischen Revolution, ihre widersprüchliche Auswirkung auf Arbeit, Lebensweise und Moral des einzelnen Individuums und die mit ihr verbundenen Gefahren für die Existenz der Menschheit und so weiter. An dieser Stelle sei nur noch auf die Gesamtstruktur des Werkes hingewiesen, die nicht minder als sein Ideengehalt eine Synthese der bisherigen Erfahrungen Weshinows als Epiker und in vielem repräsentativ für eine wichtige Tendenz in der bulgarischen Prosa der siebziger Jahre ist: nämlich für den von mehreren Schriftstellern unternommenen Versuch, den bulgarischen Gesellschaftsroman der fünfziger Jahre zum Gegenstand der unmittelbaren Gegenwart wiederzubeleben wenn auch in einer stark modifizierten Form, da man in seine Struktur verschiedene Elemente des „postepischen" beziehungsweise „lyrischen" Romans der sechziger Jahre einfließen ließ. In Nachts mit weißen Pferden findet das einerseits in der sorgfältigen Herausarbeitung der gesellschaftlichen und historischen Determinanten für die behandelte Problematik, in der Betonung des Zusammenhangs 268
zwischen der individuellen Beschaffenheit der Persönlichkeit und der wirkenden gesellschaftlichen Mechanismen sowie in der Objektivierung des Erzählens durch die Rückkehr Weshinows zur auktorialen Erzählweise Ausdruck. Andererseits markieren einzelne Momente im Aufbau des Werkes - zum Beispiel die kleine Zahl handelnder Figuren, die häufige Anwendung der Retrospektive (kennzeichnend für die Struktur der ,,Bilanz"-Romane) und die Beschränkung der eigentlichen Handlung auf relativ wenige Episoden und auf einen relativ kurzen Zeitabschnitt - die organische Weiterführung spezifischer Erfahrungen der größeren Prosaformen aus den sechziger Jahren, die die frühere panoramahafte Breite der Darstellung vermissen ließen, dafür aber um so intensiver und differenzierter den gewählten „kleinen" Wirklichkeitsbereich weltanschaulichemotional zu bewältigen und nach seinem Gewordensein, nach seiner Geschichte zu befragen vermochten. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre orientierte sich Weshinow erneut auf kürzere Prosaformen. Dazu gehören solche Novellen und Powesti wie Barierata (Die Barriere; 1976), Belijat guster (Die weiße Eidechse; 1977), Ezernoto momce (Der Seejunge; 1977) und lzmerenija (Dimensionen; 1979), in denen er einzelne Aspekte der im Roman Nachts mit weißen Pferden enthaltenen philosophischmoralischen Problematik wieder aufgriff und durch Anwendung neuer künstlerischer Mittel und Verfahren weiter vertiefte. Es handelt sich um Prosawerke, die, obwohl ganz eindeutig auf die Gestaltung unserer Gegenwart ausgerichtet und ein determiniertes Modell der Welt vermitteln3''9, in ihrer Struktur phantastische Elemente aufweisen. Das Phantastische ist in allen vier angeführten Werken von gleicher Art. Es ist an die Ungewöhnlichkeit der jeweiligen Hauptfigur gebunden, die der Autor in einer sonst wirklichkeitsgetreu abgebildeten Alltäglichkeit agieren läßt. In Barierata kann die nervenkranke Doroteja Gedanken lesen und wie ein Vogel fliegen, in Belijat guster beginnt Nessi, ein durch radioaktive Einwirkungen auf die Gene entstandenes Wunderkind, bereits mit zwei Monaten zu sprechen und macht mit zehn Jahren sein Abitur, in Ezernoto momce unterhält sich Valentin, ein ganz anders geartetes, überempfindliches Kind, dessen starke Einbildungskraft die Grenzen zwischen Realität und Phantasie in seinem Bewußtsein verwischt, mit Tieren. In lzmerenija ist der Ich-Erzähler in der Lage, ein unmittelbar bevorstehendes Erdbeben früher als der empfindlichste Seismograph zu registrieren und anzukündigen. 269
Mögen solche übernatürlichen Eigenschaften auf den ersten Blick befremden, sie haben ihre tiefere, symbolische Bedeutung und erfüllen im Werk eine wichtige Funktion. Sie verleihen den durch sie geprägten Figuren eine spezifische, verfremdende Sicht auf die Wirklichkeit, das heißt eine besondere Schärfung des Blickes für die Realität und deren Widersprüche. 350 Das zentrale Problem, das Weshinow dabei immer wieder bewegt, ist die harmonisch entwickelte Persönlichkeit, die ihn nicht allein in ihrer Wechselbeziehung zur sozialistischen Gesellschaft interessiert, sondern auch in ihrer übergreifenden Bedeutung als Menschentyp, der dem Autor angesichts der weltweiten widersprüchlichen Auswirkungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts auf alle Bereiche des Lebens ein wichtiges Unterpfand für eine hoffnungsvolle Zukunft des Menschengeschlechts schlechthin bietet. Es sei darauf hingewiesen, daß einzelne Aspekte dieser Problematik in der bulgarischen Literatur und besonders in der „Dorfprosa" seit Mitte der sechziger Jahre immer wieder aufgegriffen wurden. Weshinow erreichte hier zweifellos die bedeutendsten künstlerischen Verallgemeinerungen. Dies gilt besonders für Belijat guster und Barierata, wo die potentielle Gefahr einer einseitigen Fehlentwicklung des Menschen mit verschiedenen damit korrespondierenden Faktoren und Folgen an den Gestalten von Nessi und Doroteja exemplifiziert wird. So verkörpert Nessi - ein mathematisches Genie mit der Präzision eines Roboters, gefühlskalt und ohne moralische Skrupel, was ihn der schwersten Verbrechen fähig macht das abschreckende Endprodukt einer Entwicklung, bei der lediglich das Rationale im Menschen, der Verstand gefördert und nur auf die Befriedigung der Konsumbedürfnisse geachtet worden ist, während Doroteja die Konsequenzen einer Entwicklung signalisiert, die ins andere Extrem gehen könnte. Als Gegensatz zu Nessi konzipiert - ein gefühlsbetonter, intuitiver, phantasievoller und kunstbegabter Mensch, der sich über das Alltägliche und Kleinliche im Leben erheben kann (künstlerisch verdichtet in ihrer Fähigkeit zu fliegen) - , ist Doroteja zugleich so empfindlich und verletzlich, daß sie in einer krankhaften Verinnerlichung Schutz vor den Widersprüchen des Lebens suchen und bei der ersten Konfrontation mit der Realität zerbrechen muß. Wie wichtig Elternhaus und Schule für eine allseitige Entwicklung des Kindes und für die Vermeidung solch krankhafter, ja selbstzerstörerischer Verinnerlichung ist, versucht Weshinow auch in Ez^noto momee zu erläutern. Hier geht 270
der achtjährige Valentin einerseits an der Lieblosigkeit und dem gespannten Verhältnis seiner egozentrischen Eltern und andererseits an der Verständnislosigkeit und dem platten Pragmatismus der Klassenlehrerin zugrunde, die für sein verträumtes Wesen und seine unbändige Phantasie nur Unduldsamkeit und Hohn aufbringt. Die Unversöhnlichkeit, mit der Valentin auf die Wirklichkeit reagiert, erinnert stark an das Schicksal des Jungen in Tschingis Aitmatows Erzählung Der weiße Dampfer. Wie dieser Junge bleibt auch Valentin sich selbst treu und kehrt seiner Wirklichkeit den Rücken: Ein Dasein ohne ausreichende menschliche Wärme, ohne Geborgenheit, ohne Träume, Phantasie und Poesie kann nicht lebenswert sein. Das tragische Ende Dorotejas und Valentins erschüttern um so mehr, als die von ihnen verkörperten wertvollen menschlichen Potenzen, Eigenschaften und Bedürfnisse gerade in unserer Gesellschaft mehr denn je verwirklichbar sind. Es mobilisiert den Leser deshalb stark, seinen persönlichen Beitrag zu leisten und die vielfältigen Möglichkeiten, die der Sozialismus bietet, besser zu nutzen, damit die Gefahr solcher folgenschweren Entwicklungen gebannt und die Erziehung der heranwachsenden Generation zu harmonischen Persönlichkeiten garantiert wird. In den Werken aus der zweiten Hälfte der siebziger Jahre manifestierte sich stark Weshinows Experimentierfreudigkeit, seine ständige Bereitschaft, neue Wege der literarischen Gestaltung einzuschlagen, noch relativ wenig genutzte künstlerische Mittel und Verfahren zu erproben. Sie kündigten nicht nur in Weshinows Schaffen, sondern auch im Rahmen der bulgarischen Literatur insgesamt einen Trend an, der fast zur gleichen Zeit auch in anderen sozialistischen Literaturen zu beobachten war - den Trend zur „Freisetzung der Phantastik"351, zur Lösung von linear wirklichkeitsgetreuen Bildern und Gestalten und die Konzentration auf Symbolisches. Es ist naheliegend, daß bei einer solchen „metaphorischen"352 oder „assoziativen" Gestaltungsweise, die mit der Grundsätzlichkeit und Tiefe der philosophischen oder moralischen Fragestellung korrespondiert, nicht der ganze Reichtum der möglichen Beziehungen von Individuum und Gesellschaft künstlerisch reflektiert werden kann (worauf es hier ankommt ist nicht die Fülle, sondern die Qualität des repräsentativen Details!) und nicht so sehr die soziale Charakteristik, sondern die psychologische Auslotung der Figuren im Vordergrund steht. Und wenn Weshinow während der lebhaften Diskussionen seiner neuen Werke Ende der siebziger Jahre in Bulgarien noch manche 271
Vorwürfe gemacht wurden, so handelte es sich doch meist um Widerstände, die auf noch nicht ganz überwundenen überholten Vorstellungen von realistischer Methode beruhten. Heute gibt es kaum noch einen bulgarischen Literaturkritiker, der diese Werke Weshinows und damit die Gleichberechtigung von „assoziativer Gestaltungsweise" beziehungsweise Mitteln der „freigesetzten Phantastik" und der bewährten Darstellung der Wirklichkeit „in den Formen des Lebens selbst" ablehnt. In dieser Haltung spiegelt sich die differenziertere Vorstellung vom Realismus sowie die Erkenntnis von der gewachsenen Reife des Lesers, dem man eine Darstellung der gesellschaftlichen Totalität in ihrer Verdichtung in wichtigen philosophisch-ethischen Problemstellungen durchaus zumuten kann und der auch in der Lage ist, das so verkürzte Gesamtbild durch seine eigenen Erfahrungen zu ergänzen.
Zum Phantastischen in der Prosa der sechziger und siebziger Jahre Voran eine Abgrenzung und Präzisierung: Gegenstand dieser Studie ist nicht das Phantastische in all seinen Erscheinungsformen. AußerhalbunsererBetrachtungbleibtdasPhant a s t i s c h e a l s g e n r e b e s t i m m e n d e D o m i n a n t e - in der „wissenschaftlichen" oder der aus Folklore und Mythologie schöpfenden phantastischen Literatur, in der es gewöhnlich nicht nur ein bevorzugtes Gestaltungsprinzip ist, sondern auch den Ideengehalt wesentlich bestimmt. Dazu gehören vor allem jene Werke, in denen - unabhängig davon, ob die phantastischen Bilder und Gestalten einen symbolischen oder selbständigen Charakter haben ein nicht determiniertes Modell der Welt bzw. der Wirklichkeit gestaltet wird (z. B. in den Märchen oder in ihren modernen Entsprechungen, bei denen praktisch alles „möglich" ist), sowie Werke, die eine Zukunftsvision von der menschlichen Zivilisation (Utopien und Antiutopien) enthalten. Erzählungen und Romane, in denen das Phantastische die genrebestimmende Dominante ist353, begleiten die Entwicklung der Literatur seit ihren Anfängen, wobei ihr Wert und ihre Bedeutung stets umstritten gewesen sind. Daran konnte im Prinzip auch ihre - mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt zusammenhängende und besonders in den letzten Jahrzehnten zu beobachtende - große Ver272
Vorwürfe gemacht wurden, so handelte es sich doch meist um Widerstände, die auf noch nicht ganz überwundenen überholten Vorstellungen von realistischer Methode beruhten. Heute gibt es kaum noch einen bulgarischen Literaturkritiker, der diese Werke Weshinows und damit die Gleichberechtigung von „assoziativer Gestaltungsweise" beziehungsweise Mitteln der „freigesetzten Phantastik" und der bewährten Darstellung der Wirklichkeit „in den Formen des Lebens selbst" ablehnt. In dieser Haltung spiegelt sich die differenziertere Vorstellung vom Realismus sowie die Erkenntnis von der gewachsenen Reife des Lesers, dem man eine Darstellung der gesellschaftlichen Totalität in ihrer Verdichtung in wichtigen philosophisch-ethischen Problemstellungen durchaus zumuten kann und der auch in der Lage ist, das so verkürzte Gesamtbild durch seine eigenen Erfahrungen zu ergänzen.
Zum Phantastischen in der Prosa der sechziger und siebziger Jahre Voran eine Abgrenzung und Präzisierung: Gegenstand dieser Studie ist nicht das Phantastische in all seinen Erscheinungsformen. AußerhalbunsererBetrachtungbleibtdasPhant a s t i s c h e a l s g e n r e b e s t i m m e n d e D o m i n a n t e - in der „wissenschaftlichen" oder der aus Folklore und Mythologie schöpfenden phantastischen Literatur, in der es gewöhnlich nicht nur ein bevorzugtes Gestaltungsprinzip ist, sondern auch den Ideengehalt wesentlich bestimmt. Dazu gehören vor allem jene Werke, in denen - unabhängig davon, ob die phantastischen Bilder und Gestalten einen symbolischen oder selbständigen Charakter haben ein nicht determiniertes Modell der Welt bzw. der Wirklichkeit gestaltet wird (z. B. in den Märchen oder in ihren modernen Entsprechungen, bei denen praktisch alles „möglich" ist), sowie Werke, die eine Zukunftsvision von der menschlichen Zivilisation (Utopien und Antiutopien) enthalten. Erzählungen und Romane, in denen das Phantastische die genrebestimmende Dominante ist353, begleiten die Entwicklung der Literatur seit ihren Anfängen, wobei ihr Wert und ihre Bedeutung stets umstritten gewesen sind. Daran konnte im Prinzip auch ihre - mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt zusammenhängende und besonders in den letzten Jahrzehnten zu beobachtende - große Ver272
breitung als Science-fiction-Literatur im Weltmaßstab nicht viel ändern. Nach wie vor werden diese Werke meist als Randerscheinung innerhalb des literarischen Prozesses behandelt - als eine Variante der Trivial- und Unterhaltungsliteratur neben den Kriminalromanen und den Abenteuerbüchern für Jugendliche. Daher bleibt die Herausarbeitung ihrer genrespezifischen Funktionen sowie überhaupt ihre vertiefte theoretische Erfassung als Genre noch immer aus.35'1 Mögen das niedrige künstlerische Niveau und die minderwertigen (apologetischen, biologistischen, technizistischen, Katastrophen enthaltenden usw.) Konzepte zahlreicher Science-fiction-Bücher in der bürgerlichen Literatur, die mit Recht zur Trivial- und Schundliteratur gezählt werden 353 , oder gestalterische Schwächen sowie übertriebene didaktische Intentionen in nicht wenigen Werken der sozialistischen Phantastik dies erklären: Gerechtfertigt ist die Zurückhaltung der Literaturwissenschaftler nicht, bedenkt man, daß auch in diesem Genre Bedeutendes und Bleibendes geschaffen worden ist330 und daß das Leserinteresse für diese Literatur und somit ihre Wirkungspotenz ständig zunimmt. Uns interessieren hier lediglich jene Werke, in denen das Phantastische weder Selbstzweck noch Ziel ist, sondern ganz eindeutig eine H i l f s f u n k t i o n erfüllt. Das sind Werke, in denen ein determiniertes Modell der Welt vermittelt wird, das Phantastische also mitten im Realen steht und - sei es als Gestalt, Idee oder Element des Sujets - einen symbolischen Sinn hat, in dem sich reale Lebensinhalte und -beziehungen spiegeln und der im Vergleich zur Symbolik in den Märchen oder in der Science-fiction-Literatur viel konkreter zu deuten und zu assoziieren ist. Werke, in denen das Phantastische keine genrebestimmende Dominante ist und eine solche untergeordnete Rolle spielt - die Grenzen zu den Märchen bzw. zur Science-fiction-Literatur können natürlich gelegentlich fließend sein! - , treten in der bulgarischen Gegenwartsprosa seit etwa Mitte der sechziger Jahre häufiger auf und prägen ihr Profil wesentlich mit. Im Unterschied zu den Science-fictionWerken sind sie als „seriöse" Literatur nie angezweifelt worden. Im Gegenteil, viele von ihnen (z. B. Pawel Weshinows Barierata) gehören zu den allgemein anerkannten repräsentativen Leistungen der bulgarischen Literatur in der letzten Zeit und haben zum Teil sogar weltliterarische Bedeutung erlangt. Sie sind darin vergleichbar mit Shakespeares Macbeth in der englischen Literatur, Goethes Faust, E. T. A. Hoffmanns Lebensansichten des Katers Murr, Chats
Witschew, Bulg. Prosa
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missos Peter Scblemibls wundersame Geschichte in der deutschen klassischen und romantischen Literatur, der Erzählung Unter den Linden von Christa Wolf in der DDR-Literatur oder Gorkis Die alte lsergil, Bulgakows Der Meister und Margarita, Aitmatows Der weiße Dampfer in der russischen und sowjetischen Literatur. Das Phantastische - so variabel es sich auch präsentiert - besitzt hier keinen Eigenwert: Es erscheint als ein in die Methode der Autoren integriertes Gestaltungselement, daß die Möglichkeiten der künstlerischen Verallgemeinerung erweitert. Die Erwähnung Shakespeares, Goethes, E. T. A. Hoffmanns, Chamissos, Gorkis, Bulgakows, Aitmatows, Christa Wolfs und Weshinows - man könnte auch noch Puschkin, Gogol, Anna Seghers, Granin u. a. anfügen - will mindestens dreierlei besagen: daß die Verwendung des Phantastischen als eines untergeordneten Gestaltungselements in der Struktur unterschiedlichster Werke (was ihre ideelle und künstlerische Konzeption angeht) beobachtet werden kann, daß es nicht ausschließlich von „Romantikern", sondern ebenso gern von vielen „Realisten" der Vergangenheit und Gegenwart genutzt worden ist und genutzt wird; daß die intensivierte Anwendung des Phantastischen in der bulgarischen Literatur seit Mitte der sechziger Jahre kein nationales Phänomen ist, sondern eine Erscheinung, die (mehr oder weniger ausgeprägt) auch in anderen sozialistischen Literaturen im gleichen Zeitraum auftritt und daß es sich hier keineswegs um etwas völlig Neues handelt, sondern um Belebung und Weiterführung bestimmter Traditionen der Weltliteratur einschließlich früherer Erfahrungen der sozialistischen Literatur selbst. Neu erscheinen zum Teil nur die Art der Anwendung sowie einige Funktionen des Phantastischen im literarischen Werk. Bevor am konkreten Material darauf näher eingegangen wird, seien folgende Fragen gestellt: Worauf ist diese Zunahme des Phantastischen in den letzten zwei Jahrzehnten zurückzuführen, welchen Charakter hat sie in der bulgarischen Gegenwartsprosa - einen zufälligen bzw. nachahmenden oder einen gesetzmäßigen? Warum sind in der bulgarischen Literatur in der Zeitspanne zwischen Ende der vierziger und Mitte der sechziger Jahre keine Werke mit phantastischen Elementen in dem besprochenen Sinne entstanden? Die Antworten müßte man vor allem im veränderten Funktionsverständnis der Literatur sowie in der Überwindung der dogmatischen und schematischen Vorstellungen vom Realismus und vom sozialistischen Realismus suchen. 274
Als Ausgangspunkt bietet sich hierfür die enge Wechselbeziehung zwischen den Neuerungsbestrebungen des Schriftstellers in der sozialistischen Gesellschaft und den spezifischen Aufgaben der Literatur in jeder Etappe und Phase ihres Aufbaus, eine Wechselbeziehung, die ihren Niederschlag auch in der Literaturtheorie findet. In der Ubergangsperiode - als die Literatur aktuellen politischen Aufgaben unterstellt war und im Rahmen der Kulturrevolution vor allem erzieherische und erkenntnisvermittelnde Funktionen zu erfüllen hatte, sich der Autor zum Leser infolgedessen wie ein Lehrer zum Schüler verhielt, als Faktoren wie der „kalte Krieg" und die nötige Abgrenzung von der spätbürgerlichen Kultur eine undifferenzierte Ablehnung vieler künstlerischer Mittel und Verfahren als „dekadent" bewirkten und zu den bekannten einengenden Realismusauffassungen führten - da war der Kreis der von den sozialistischen Schriftstellern angewandten formalen und stilistischen Mittel recht begrenzt. D e r Schematismus in der literarischen Produktion war nur eine Folge davon. In der Periode nach 1956/1958 veränderte sich die Lage sehr. Beim Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft machte sich in der Literatur immer mehr das Bestreben bemerkbar, die abgebildete Realität in einem umfassenderen historischen und moralisch-philosophischen (allgemeinmenschlichen) Kontext erscheinen zu lassen und diese Aufgabe immer mehr unter Berücksichtigung des ästhetischen Genusses und des Spiels als wesenseigener Elemente der Kunst zu lösen. Diese Tendenz brachte nicht nur eine vertiefte Auseinandersetzung mit Kategorien wie „wahr" und „wirklich" in bezug auf die im literarischen Werk gestaltete Realität mit sich 3 5 7 , sondern auch eine im Vergleich zu der Zeit vor 1956 bedeutende Erweiterung des Reservoirs der künstlerischen Mittel und Techniken, vor allem eine Zunahme der symbolischen und phantastischen Formen 3 5 8 der Abbildung sowie des Spielelements bei der Realisierung des Werkes. Man darf natürlich nicht vergessen, daß diese Entwicklung in Bulgarien durch den veränderten Status des Lesers möglich wurde: dank seiner gereiften sozialistischen Bewußtheit, dank seiner gewachsenen kulturellen Bedürfnisse sowie seines inzwischen anspruchsvoller und differenzierter gewordenen ästhetischen Geschmacks, Entwicklungen, die ihn in zunehmendem M a ß e zum gleichberechtigten Partner des Schriftstellers machten. Letzterer brauchte nun weniger zu befürchten, daß die Anwendung phantastischer Formen für künstlerische Gestaltung und Verallgemeinerung 18*
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vom Adressaten nicht oder falsch verstanden würde, daß die Kritiker ihm die Förderung eines unwissenschaftlichen Weltbildes oder antidemokratische Haltung (im Sinne von Unzugänglichkeit des Werkes für das breite Publikum - ein Einwand, der in der Übergangsperiode großes Gewicht hatte) vorwerfen würden. Auf dem Gebiet der Literaturtheorie fand diese Entwicklung in der Überwindung des Realismus-Antirealismus-Gegensatzes ihren Ausdruck, des weiteren in der Ablehnung der These von der „ideologischen Vorbelastung" bestimmter künstlerischer Mittel und Verfahren (z. B. Bewußtseinsstrom, Destruktion der Fabel usw.), in der Auffassung von der entscheidenden Rolle der F u n k t i o n , die diese Mittel und Verfahren im literarischen Werk erfüllen, sowie der ideellen Position des Autors, der sie anwendet. Wurde diese Ansicht in den fünfziger Jahren im Prinzip nur von einzelnen sozialistischen Künstlern, wie z. B. Brecht, vertreten, so ist sie spätestens seit etwa Mitte/Ende der siebziger Jahre auch in Bulgarien allgemein anerkannt. Dazu trug hier wesentlich die von den sowjetischen Literaturwissenschaftlern B. L. Sutschkow und D. F. Markow erarbeitete Konzeption vom sozialistischen Realismus als einem historisch offenen ästhetischen System bei.359 All das läßt die Schlußfolgerung zu, daß das gewachsene Interesse für das Phantastische, seine zunehmende Einflechtung in die Strukturen der Gegenwartsliteratur weder zufällig noch eine Modeerscheinung ist, die etwa dem „magischen Realismus" oder den „modernistischen" Handschriften in der spätbürgerlichen Literatur nacheifert, sondern als ein Teil der allgemeinen Tendenz zur verstärkten Nutzung von symbolischen Formen der Gestaltung in der bulgarischen Literatur betrachtet werden muß. Das Phantastische als ein untergeordnetes Element der Gestaltung könnte man in der bulgarischen Gegenwartsprosa je nach seiner Beziehung zur Folklore bzw. Mythologie in zwei Gruppen untergliedern: folkloristische Phantastik (mit einer direkten genetischen Beziehung zu den Märchen, Sagen und Mythen) und konstruierte Phantastik (bei der der originelle Einfall des Autors oder die Beziehung zur weltliterarischen nichtfolkloristischen Phantastik dominiert). Die folkloristische Phantastik vom uns interessierenden Typ tauchte Mitte der sechziger Jahre zuerst im Schaffen Jordan Raditschkows auf. Sie hatte einen großen Anteil an der Herausbildung einer neuen Stilrichtung in der bulgarischen „Dorfprosa", die den traditionellen deskriptiven Realismus überwand. Zu ihr gehören auch 276
Autoren wie Jordan Waltschew, Dimitar Jaramow oder Georgi Aleksiew. Für die Formen dieser folkloristischen Phantastik und ihre Funktionen im literarischen Werk sind besonders die Arbeiten von Raditschkow und Aleksiew charakteristisch. Bei Raditschkow ist das Phantastische aufs engste mit dem Realen verflochten und erscheint meist als Groteske: als Vermenschlichung von Tieren, Verlebendigung lebloser Gegenstände, Personifizierung von abstrakten Begriffen und moralischen Kategorien sowie als Deformation der tatsächlichen Dimension der Dinge (Hyperbolisierung oder Verkleinerung). Dabei fällt der gelegentlich betonte Spielcharakter dieser Phantastik einerseits und das unverhohlen ironisierende, teils auch parodierende Verhältnis des Autors zu ihr andererseits auf. Dieses Verhältnis schafft Distanz, es neutralisiert gewissermaßen die Ungewöhnlichkeit der phantastischen Figuren und Bilder und legt zugleich den Gedanken nahe, daß - bei allem Spaß am Spiel, der hier zutage tritt - diese Figuren und Bilder kein Selbstzweck sind, sondern einen tieferen Sinn enthalten, der dem Kontext abzugewinnen ist. Damit ist allerdings die Funktion der folkloristischen Phantastik in Raditschkows Werk lediglich angedeutet. Zu unterscheiden wären hier mindestens drei Funktionsebenen : - das Phantastische als wesentliches Gestaltungselement eines künstlerischen Systems, das die großen sozialen und geistig-moralischen Veränderungen im bulgarischen Dorf, die durch den fortschreitenden sozialistischen Aufbau bedingt sind, ästhetisch brisant zu erfassen sucht: als ein Mittel innerhalb dieses Systems, das besonders dazu geeignet erscheint, den Zusammenstoß des Neuen mit dem Alten im Sein und Bewußtsein des bulgarischen Bauern in all seiner Kompliziertheit und Widersprüchlichkeit und in all jenen grotesken Verflechtungen von Archaischem und Supermodernem, von Erhabenem und Niedrigem, von Komischem und Tragischem effektund wirkungsvoll zu verdeutlichen; — das Phantastische als immanente Komponente einer volkstümlichen assoziativen Erzählweise, die in Anlehnung an die Folklore bunt, bedenkenlos, oft unwahrscheinlich, doch stets lebenswahr bleibt, die auf eine sinnlich-expressive Weltaneignung aus ist und dem trockenen Rationalismus sowie der flügellosen Deskriptivität in der Literatur den Kampf ansagt, die einen hohen Unterhalüungswert hat und zur Erweiterung der ästhetischen Genußfähigkeit des Lesers beiträgt, und 277
- das Phantastische nicht nur als Struktur- und Stilelement, nicht nur als eine künstlerische Adaption der aus der Folklore bezogenen Phantastik und ihre Anreicherung mit neuem symbolischem Sinn, sondern auch als ein Versuch, die nationalpsychologischen Grundlagen dieser Phantastik freizulegen, d. h., das Phantastische als Material auch für die Veranschaulichung des „Woher" in bezug auf den nationalen Charakter zu nutzen. Die Belebung der in der Folklore und Mythologie bewahrten archetypischen bzw. alten nationalen Verhaltens- und Denkmuster mit ihren irrationalen und phantastischen Elementen sowie ihre Konfrontation mit unserer Gegenwart dient dabei einem doppelten Zweck: zum einen das Überholte an ihnen der Lächerlichkeit preiszugeben, zum anderen aber auch den Leser zu ermahnen, sich diesen Werten gegenüber traditionsbewußt zu verhalten, nicht undifferenziert alles Althergebrachte zu veräußern, zumal manches davon in den moralischen Grundfesten des Volkes verankert ist. Besonders ausgeprägt ist die letztere Funktion des Phantastischen in der Roman-Dilogie Georgi Aleksiews Krästopät na oblaci (Kreuzweg der Wolken) und Duchovete na Cibrica (Die Geister von Zibriza). Die Gestaltung von magischen Ritualen und folkloristischem Aberglauben will hier nicht allein die balladeske Atmosphäre der Dilogie verstärken. Diese exotisch-phantastischen Elemente vermitteln zugleich wesentliche Züge der geistigen Kultur und des heidnischen Bewußtseins der alten Bulgaren und machen ihre Bedeutung als kulturelles Erbe und Quelle zur Erforschung der Wurzeln der nationalen Mentalität bewußt. Die Dilogie ist übrigens ein Beispiel dafür, wie folkloristische Phantastik und Mythologisches innerhalb eines konkreten sozial-historischen Kontextes eingesetzt und als „wahr" empfunden werden können, unabhängig von dem nicht distanzierten Verhältnis des Autors zu ihnen. Denn im Unterschied zu Raditschkow pflegt Aleksiew die von ihm genutzten phantastischen Elemente weder zu ironisieren noch zu parodieren, auch gibt er sich - wie andere Schriftsteller - keine Mühe, diese „wissenschaftlich" zu erklären. Damit nähert er sich typologisch am meisten der Phantastik im „magischen Realismus" der lateinamerikanischen Literatur. Trotz dieser Nähe stellt Aleksiews Dilogie keine neue „Mythenschöpfung" dar, da sie die Arbeit eines Autors ist, dessen Phantasie auf der Kenntnis der Gesetze der historischen Entwicklung beruht und der bestrebt ist, die realen Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft widerzuspiegeln. Die aus der Folklore 278
und Mythologie geholten phantastischen Elemente sind in der Dilogie so integriert, daß dem Leser klar wird, daß die Weltsicht der Gestalten, die sie tragen, mit der Weltsicht des Autors nicht identisch ist. Die folkloristische Phantastik als ein untergeordnetes Element tritt nicht oft in den sozialistischen Nationalliteraturen auf der gegenwärtigen Etappe ihrer Entwicklung auf. Während sie in der bulgarischen oder multinationalen sowjetischen (Aitmatow u. a.) zeitgenössischen Prosa relativ häufig zu beobachten ist, bildet dieser Typ von Phantastik z. B. in der Literatur der DDR fast eine Ausnahmeerscheinung. Die Gründe dafür sind in der nationalspezifischen Entwicklung der jeweiligen Literaturen zu suchen, in ihren unterschiedlich intensiven aktuellen Beziehungen zur Folklore und zur Mythologie. In der DDR-Literatur überwiegt entschieden die nichtfolkloristische oder konstruierte Phantastik als Hilfselement im literarischen Werk (z. B. Die Reisebegegnung (1972) von Anna Seghers oder Selbstversuch (1974) von Christa Wolf). Diese Phantastik kennzeichnet auch eine Reihe von sowjetischen Prosawerken: so Der Platz für das Denkmal (1969) von Daniii Granin oder Fremdes Herz (1969) von Juri Nagibin. In der bulgarischen Gegenwartsliteratur ist sie in Werken wie Ljuben Dilows Paradoksät na ogledaloto (Das Paradox des Spiegels; 1976), Rossen Bossews Portreti na nebesni tela (Porträts von Himmelskörpern; 1979), Dragomir Assenows Naj tezktjat grjacb (Die schwerste Sünde; 1980) und vor allem im Schaffen von Pawel Weshinow seit etwa Mitte der siebziger Jahre präsent. Die konstruierte Phantastik als untergeordnetes Element ist in der bulgarischen Literatur äußerst traditionsarm. Als einziger Vorläufer der genannten Werke können die Erzählungen Svetoslaw Minkows aus den zwanziger und dreißiger Jahren angesehen werden. Minkow verwandte als erster das Phantastische als ein satirischgroteskes Mittel, um bestimmte Seiten der kapitalistischen Wirklichkeit - z. B. technizistische Tendenzen mit antihumanistischer Intention, Verlust an Persönlichkeitswerten und Entfremdung des bürgerlichen Zeitgenossen - zu kritisieren. Auch bei Weshinow ist das Phantastische organisch mit dem Realen und Alltäglichen verflochten, weist aber im Unterschied zu Raditschkow oder Aleksiew keine direkten Bezüge zur Folklore oder Mythologie auf. Es erscheint meist in Form von ungewöhnlichen, mitunter übernatürlichen Eigenschaften mancher Figuren, die 279
sonst sozial-historisch völlig determiniert sind. Das Verhältnis Weshinows zu diesen Eigenschaften ist zwiespältig: Der Versuch, sie „wissenschaftlich" zu erklären bzw. wissenschaftlich-phantastisch zu motivieren, geht Hand in Hand mit dem Bestreben, dem Leser zu verdeutlichen, daß letztendlich nicht diese Eigenschaften (sosehr sie bisweilen auf dem Glauben des Autors an die im Menschen verborgenen ungenutzten Fähigkeiten, z. B. Telepathie und Ähnliches, beruhen) das Wesentliche und Eigentliche sind, sondern der in sie hineingelegte tiefere Sinn. Diesen zu deuten und zu erraten überläßt der Autor dem Leser, zu dem er sich partnerschaftlich verhält. Auf diese Weise ist die Grundfunktion des Phantastischen bei Weshinow unmittelbar mit dem Symbolcharakter verbunden (die Fähigkeit Dorotejas in Barierata zu fliegen als Symbol für den Drang im Menschen, sich über das Kleinliche, Banale und Alltägliche im Leben zu erheben; die Wachträume Valentins in Ezernoto momce als eine Form von Protest gegen die lieb- und verständnislose Umwelt, in der er aufwächst u. a.). Eine zweite Funktion der ungewöhnlichen Fähigkeiten der Figuren kann als Verfahren des Autors umschrieben werden, sich durch sie eines „verfremdeten" Blicks auf die Wirklichkeit zu bedienen, einer Sicht, die an den Alltag nicht adaptiert ist, sich mit seinen Gegebenheiten nicht abgefunden hat und sie deshalb mit besonderer Schärfe registriert. Diese Sicht ermöglicht es dem Autor, sowohl das Wichtige im Leben als auch seine Unzulänglichkeiten und beunruhigenden Tendenzen eindringlich zu vermitteln, das Verhältnis von Lebensideal und -Wirklichkeit prägnant darzustellen. Eine interessante Variante von konstruierter Phantastik in untergeordneter Rolle bietet Ljuben Dilow in dem Roman Paradoksät na ogledaloto, die in gewisser Korrespondenz mit der Phantastik in Swetoslaw Minkows Erzählung Covekät, kojto dojde ot Amerika (Der Mensch, der aus Amerika kam; 1932) steht. Hier dient die Fähigkeit des kybernetischen Organismus von außerirdischer Herkunft, sich in haargenaue Doppelgänger der Figuren zu verwandeln, als ein verfremdendes Mittel für deren Konfrontation mit sich selbst, mit der schonungslosen und unverfälschten Wahrheit über ihr Wesen und ihren Wert als Persönlichkeiten und Charaktere. Eine ähnliche Funktion - satirisch-groteske Aufdeckung des wahren Wesens bestimmter Dinge, Beziehungen und Menschen - erfüllen auch die phantastischen Visionen und Erlebnisse des schwerkranken Haupthelden im Roman Naj tezkijat grjacb von Assenow, die ein 280
Produkt der krankheitsbedingt deformierten und somit verfremdeten Psyche sind. Fehlendes Maß für den Spielcharakter des Phantastischen sowie seine unpräzise bzw. nicht genau durchdachte Anwendung als Symbol oder Verfremdungsmittel führen nicht selten zu seiner Diskreditierung und zu Ablehnung seitens der Kritik. Solcherart Ablehnung ist nicht nur gerechtfertigt, sie ist für die Entwicklung der durch den Gebrauch phantastischer Elemente geprägten neuen Genrerichtung in der bulgarischen Gegenwartsliteratur geradezu förderlich. In den siebziger Jahren gab es aber auch Ablehnung, die auf Unverständnis für die Besonderheit der hier behandelten Arbeiten beruhte. In diesen Werken dominiert gewöhnlich die moralisch-psychologische, nicht aber die soziale Charakteristik der Figuren. Die Autoren sind weder bestrebt noch imstande, die Beziehung Individuum-Gesellschaft in ihrer ganzen Fülle sowie in der ganzen Dynamik ihrer Entwicklung darzustellen. Diese objektiven Grenzen (vor allem der verkürzte soziale Bezug, der auf die Erfahrung und das Mitdenken des Lesers als Partner des Autors baut) sind bei der Wertung solcher Werke zu berücksichtigen, will man ihnen gerecht werden. Es wäre z. B. kaum vertretbar, Wahrhaftigkeit und Überzeugungskraft der Gestaltung in Weshinows Belijat guster oder Ezernoto momce als eine Größe zu betrachten, die man linear von der „Dichte" der abgebildeten Wirklichkeit ableiten könnte.360 Mehr als in anderen Werken ist hier nicht die Quantität, sondern die Qualität der ausgewählten, repräsentativen Details von Bedeutung. Denn die spezifische Leistung der Werke mit untergeordneten phantastischen Elementen ist weder in einer panoramahaften epischen Widerspiegelung der Wirklichkeit noch in einem breiten sozialen Querschnitt der Gesellschaft zu suchen, sondern in der Darstellung des gesellschaftlichen „Ganzen" in seiner Verdichtung in wichtigen moralisch-ethischen und philosophischen Fragestellungen. Der metaphorisch-assoziative Stil und die spezifische (oft groteske) Bildhaftigkeit dieser Werke, beides eng verbunden mit dem Ideengehalt, sind eine bedeutende Errungenschaft der bulgarischen Prosa in der gegenwärtigen Etappe ihrer Entwicklung. Sie knüpfen an einige in der Übergangsperiode vernachlässigte und ungenutzte Traditionen der nationalen und Weltliteratur an, führen diese weiter und bereichern spürbar die Möglichkeiten für künstlerische Gestaltung und Verallgemeinerung. In diesem Sinne stellen Werke, die untergeordnete phantastische Elemente beinhalten, eine Erschei281
nung dar, die - man denke vor allem an die Leistung Raditschkows oder Weshinows - den nationalen Rahmen überschreitet und auch im Weltmaßstab einen beachtlichen Platz in der Durchsetzung einer neuen produktiven Stil- und Genrerichtung in der gegenwärtigen sozialistischen Literatur einnimmt.
„ Poeben auf Unersetzlich keit". Der historische Roman „Der schlaue Peter" von Marhowski Georgi Markowski (geb. 1941) ist Vertreter der „jungen Prosa", einer relativ selbständigen Strömung innerhalb der bulgarischen Literatur, die heute bereits weitgehend in sich differenziert ist und den gegenwärtigen Prozeß entscheidend mitprägt. Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre signalisierte diese Bezeichnung das Debüt von Autoren wie Dimitar Paunow, Stanislaw Stratiew, Wladimir Sarew, Georgi Welitschkow, Ljuben Petkow, Raschko Sugarew, Dimitar Korudshiew, Janko Stanoew und anderer, die vor allem an das Interesse der älteren Schriftstellergenerationen für moralisch-ethische Fragen der Gegenwart sowie für die nationale Eigenart und Identität anknüpften und diese Problem- und Themenkreise auf neue Weise zu behandeln versuchten. Das Neue äußerte sich einmal in der Dominanz des autobiographischen Elements ihrer Erstlingswerke sowie in der damit verbundenen Frische, Aufrichtigkeit und Unmittelbarkeit der künstlerischen Aussage. Es zeigte sich zum anderen in dem Vermögen, Bedeutendes auch im „grauen" Alltag zu entdecken, Widersprüche der gesellschaftlichen Entwicklung spontan aufzugreifen und die zwischenmenschlichen Beziehungen kritisch zu sichten. Unter formalem Aspekt auffällig und überraschend war die Ablehnung jeglicher Deskriptivität und die Souveränität, mit der moderne Erzähltechniken (z. B. freier Umgang mit Zeit und Raum) gehandhabt wurden. Besonders kennzeichnend wurde für die „junge Prosa" der „infantile Held": eine jugendliche „Kollisionsfigur", die den auf ein „Happy End" programmierten Entwicklungshelden der „Ankunftsliteratur" 361 der sechziger Jahre insofern gravierend modifizierte, als die Autoren diesem Helden die Eingliederung in die Gesellschaft wesentlich erschwerten. Geprüft wurde, ob und inwieweit sie auf eine „Anpassung" hinauslief. Die Hauptfunktion dieser jugendlichen Figur 282
nung dar, die - man denke vor allem an die Leistung Raditschkows oder Weshinows - den nationalen Rahmen überschreitet und auch im Weltmaßstab einen beachtlichen Platz in der Durchsetzung einer neuen produktiven Stil- und Genrerichtung in der gegenwärtigen sozialistischen Literatur einnimmt.
„ Poeben auf Unersetzlich keit". Der historische Roman „Der schlaue Peter" von Marhowski Georgi Markowski (geb. 1941) ist Vertreter der „jungen Prosa", einer relativ selbständigen Strömung innerhalb der bulgarischen Literatur, die heute bereits weitgehend in sich differenziert ist und den gegenwärtigen Prozeß entscheidend mitprägt. Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre signalisierte diese Bezeichnung das Debüt von Autoren wie Dimitar Paunow, Stanislaw Stratiew, Wladimir Sarew, Georgi Welitschkow, Ljuben Petkow, Raschko Sugarew, Dimitar Korudshiew, Janko Stanoew und anderer, die vor allem an das Interesse der älteren Schriftstellergenerationen für moralisch-ethische Fragen der Gegenwart sowie für die nationale Eigenart und Identität anknüpften und diese Problem- und Themenkreise auf neue Weise zu behandeln versuchten. Das Neue äußerte sich einmal in der Dominanz des autobiographischen Elements ihrer Erstlingswerke sowie in der damit verbundenen Frische, Aufrichtigkeit und Unmittelbarkeit der künstlerischen Aussage. Es zeigte sich zum anderen in dem Vermögen, Bedeutendes auch im „grauen" Alltag zu entdecken, Widersprüche der gesellschaftlichen Entwicklung spontan aufzugreifen und die zwischenmenschlichen Beziehungen kritisch zu sichten. Unter formalem Aspekt auffällig und überraschend war die Ablehnung jeglicher Deskriptivität und die Souveränität, mit der moderne Erzähltechniken (z. B. freier Umgang mit Zeit und Raum) gehandhabt wurden. Besonders kennzeichnend wurde für die „junge Prosa" der „infantile Held": eine jugendliche „Kollisionsfigur", die den auf ein „Happy End" programmierten Entwicklungshelden der „Ankunftsliteratur" 361 der sechziger Jahre insofern gravierend modifizierte, als die Autoren diesem Helden die Eingliederung in die Gesellschaft wesentlich erschwerten. Geprüft wurde, ob und inwieweit sie auf eine „Anpassung" hinauslief. Die Hauptfunktion dieser jugendlichen Figur 282
bestand nicht mehr primär darin, die erzieherische Rolle der Arbeit und die Bedeutung des sozialistischen Kollektivs zu veranschaulichen, sondern Unzulänglichkeiten im Leben der erwachsenen „konformistischen" Generationen - angefangen mit harmlosen Banalitäten bis hin zum folgenschweren moralischen Versagen - deutlich herauszustellen. 362 Einige Vertreter der „jungen Prosa" waren weniger auf die Erprobung der naiv-provokatorischen Sicht unerfahrener Jugendlicher als auf eine differenzierte Betrachtung und philosophische Vertiefung moralischer und zwischenmenschlicher Probleme aus. Dementsprechend waren ihre Werke nicht so sehr durch den Blickwinkel der „nichtangepaßten" Gestalt als durch solche Erzählweisen geprägt, die der angestrebten Vertiefung entgegenkamen und in denen die Fabel weitgehend zurücktrat, dafür aber der Assoziation, der Retrospektive, dem essayistischen Exkurs sowie der wechselnden Erzählperspektive ein hoher Stellenwert eingeräumt wurde. Hier sind auch Markowskis zwei erste Erzählungsbände Po zeljaznata stälba (.Auf der Eisentreppe; 1971) und Usporedni svetove (Parallele Welten; 1975) einzuordnen, in denen der Akzent voll und ganz von der Handlung auf die (meist mittels Erinnerungen und Reflexionen der Hauptfiguren realisierte) Erörterung sozialer und philosophischer Probleme verlagert ist. Häufig ist es das faustische Streben nach Ergründung der Wahrheit, der Erkenntnisdrang des Zeitgenossen oder sein spannungsvolles Verhältnis zu anderen Lebensinhalten und Werten, was Markowski in dieser Kurzprosa bewegt. Belegen kann dies die Novelle Star djado s bjala brada (Ein alter Mann mit weißem Bart; dt. 1974) 363 aus dem erstgenannten Band. Diese Affinität zur Erkenntnisproblematik kommt besonders im zweiten Band zum Tragen, wo sie - in Zusammenhang mit dem Streben des Menschen nach Entfaltung seiner Wesenskräfte, nach Selbstverwirklichung - den eigentlichen thematischen Kern der Erzählungen bildet. Die Überwindung des eng Autobiographischen, das die Erzählungen des ersten Bandes noch zum großen Teil prägt, wurde hier von einem Vorstoß zu beachtlichen künstlerischen Verallgemeinerungen begleitet, der Markowskis Platz unter den hoffnungsvollen jungen Talenten der bulgarischen Literatur festigte und ihm den Ruf eines originell und zugleich betont konzeptionell schreibenden Autors einbrachte. Trotzdem war der 1978 erschienene eigenwillige Schelmenroman Chitär Petär (Der schlaue Peter) für viele Leser und Kritiker in 283
Bulgarien eine Überraschung, ja eine echte Herausforderung. Mit diesem Werk, das keine Vorläufer in der nationalen Literatur hat und zu den interessantesten Erscheinungen der bulgarischen historischen Prosa zählt, betrat Markowski in mehrfacher Hinsicht Neuland. Es war nicht nur für seine persönliche Entwicklung von Belang, sondern brachte auch einige wichtige neue Tendenzen in der nationalen Literaturentwicklung prägnant zum Ausdruck: den Durchbruch zu größeren Prosaformen (ein Trend, der auch bei anderen Vertretern der „jungen Prosa" ab Mitte der siebziger Jahre zu beobachten war), die Erörterung der Künstlerproblematik sowie der nationalen Geschichte und Mentalität auf der Grundlage von Folklorematerial und vor allem den Versuch, Funktion und Wesen eines literarischen Werkes unter den Bedingungen des fortgeschrittenen sozialistischen Aufbaus in Bulgarien neu zu akzentuieren. Der schlaue Peter ist also nicht schlechthin ein „interessantes" Buch. Er ist auch keine im üblichen Sinne romanhafte Biographie einer populären Folkloregestalt, die als Held vieler auf die Zeit der fremdnationalen Unterdrückung bezogener Anekdoten im Bewußtsein des bulgarischen Volkes lebt und den Typ des Schelms - so wie ihn fast jede Nationalliteratur kennt - verkörpert. Mag der vom Autor eingeführte mediale Erzähler - ein Pope, der nur um eine Generation jünger ist als der schlaue Peter - den Eindruck des Biographischen, des sorgfältig gesammelten und zusammengetragenen Materials durchaus erwecken wollen: Das Buch als solches reiht sich ein in jene Werke der bulgarischen Prosa der siebziger Jahre, die sich mit einer noch nie dagewesenen Intensität der Künstlerproblematik zuwandten. Auffällig ist, daß in diesen oft stark autobiographischen Werken, die subtile Beobachtungen zur Psychologie künstlerischen Schaffens enthalten - das gilt vor allem für die Romane Iwan Dawidkows 364 und Bogomil Rainows 3 '" - , die überkommene Vorstellung vom Dichter als Stimme und Gewissen der Nation in einer abgewandelten Form weiterlebt und die Künstlerpersönlichkeit in einem romantischen Licht erscheint. So ist zum Beispiel in Dawidkows betont lyrischer Prosa das Schöpfertum in erster Linie eine Rebellion gegen jegliche Routine, gegen die erdrückende Tyrannei der Alltäglichkeit, ein besonderes Weltverhältnis also, das sich bei Rainow gelegentlich zu einem eigentümlichen „Heldentum" steigert, Bequemlichkeit und Sich-Anpassen in sich ständig niederzukämpfen, und gelegentlich sogar den Charakter von einer Art Selbstverleugnung, 284
ja von einem Lebensstil gegen den „gesunden Menschenverstand" annimmt. Auf den Leser, der mit der Geschichte des bulgarischen Volkes und seinen kulturellen Traditionen weniger vertraut ist, mögen solche Künstlergestalten und die ihnen zugrunde liegenden Konzeptionen vielleicht etwas seltsam und überspannt oder einfach überholt wirken. Bücher wie Der schlaue Peter können jedoch hilfreich sein, wenn Verständnis für die nationale Spezifik dieser Problematik geweckt werden soll. Denn in diesem Roman werden das Schicksal des Künstlers und seine Bedeutung für das Volk unter den Bedingungen der fast 500 Jahre währenden osmanischen Unterdrückung in eindringlicher Weise veranschaulicht, es wird damit Einblick gegeben in ein bedeutendes kulturelles Erbe, das bis heute lebendig geblieben und in den Künstlerkonzeptionen von Dawidkow oder Rainow weiter wirksam und produktiv ist. Markowski geht es in seinem Buch nicht in erster Linie darum, die mythische Gestalt vom schlauen Peter, die in der Folklore und in den Überlieferungen tatsächlich lebt, künstlerisch zu verdichten. Wer sich vom Buch verspricht, einem bulgarischen Till Eulenspiegel oder Nasredin Hodsha in all seiner Einprägsamkeit als einem unverwüstlich-lebenskräftigen Spaßmacher zu begegnen (denn der schlaue Peter hat als Folkloreheld mit diesen Gestalten viel gemein), der wird unweigerlich enttäuscht sein. Zwar fehlt es dem Roman nicht an pikaresken Zügen, an Streichen und Anekdoten. Sie lassen den schlauen Peter im Einklang mit den Überlieferungen als einen scharfsinnig-gewitzten Menschen erscheinen, der durch seinen Humor und Einfallsreichtum Vorteile für sich selbst und für das unterdrückte Volk zu erringen versteht. Markowski ordnet aber diesen sozialen und patriotischen Gehalt der Figur seinem Konzept vom schlauen Peter als Auserwählter und Retter unter und legt den Akzent - im Gegensatz zum Folklorematerial - auf moralischethische, philosophische und national-charakterologische Aspekte. Umstritten war zunächst die Art, wie Markowski diese Akzentverlagerung realisiert hat. Während der schlaue Peter als Gestalt der Folklore keine reale Biographie und keinen individuellen Charakter kennt, sondern lediglich als Schelm mit verallgemeinerten Zügen in Aktion tritt, wird seine Existenz in Markowskis Buch zeitlich und räumlich genau fixiert. Dabei läßt ihn der Autor einen mit zahlreichen Details beschriebenen Lebensweg durchlaufen, der in seinen wichtigen Stationen an das Leben Jesu, so wie es im Matthäus285
Evangelium dargestellt ist, erinnert. (Es beginnt damit, daß er als Findelkind von einem Tischler namens Josif und dessen kinderloser Frau Maria großgezogen wird, daß er wie Jesus Jünger hat und von einem dieser, dem Buckligen, verraten wird, und endet mit dem Tod am Kreuz als gefürchteter Gegner der fremden Unterdrücker und vor allem der reichen, mit den Türken kollaborierenden und dem eigenen Glauben abtrünnigen Bulgaren.) Durch die offenen Parallelen zum Leben Jesu, die der Autor durch fast wörtliche Übernahme einiger Textpartien aus der Bibel ausbaut und untermauert, entsteht eine Gestalt, die viel eher ein bulgarischer Christus als etwa ein bulgarischer Till Eulenspiegel ist. Für manche Leser und Kritiker schien allein diese eigenwillige gleichzeitige Nutzung von folkloristischem und biblischem Material beim Aufbau der Figur zu genügen, um Markowskis schlauen Peter als unannehmbar zu empfinden, da - wie zum Beispiel Dragan Nitschew zu bedenken gab - eine Folkloregestalt, die der Phantasie des Volkes entsprungen und dessen Geistes Kind sei, sich nicht in den Kanon der Evangelien pressen ließe. 366 Auch wenn dieser Einwand schwerwiegend und einleuchtend klingt, erweist er sich bei näherer Betrachtung als wenig stichhaltig. Das liegt an der Art, wie Markowski mit dem biblischen Material umgegangen ist, und an der Funktion, die es im Buch erfüllt. Der Autor hat die von der Bibel entnommenen Fabelelemente und Textpartien nicht nur der damaligen Wirklichkeit in Bulgarien angepaßt, sondern sie auch - gelegentlich sogar mit derben, ironisierend-parodierenden Mitteln - von allen mystischen Elementen gereinigt und Gott als höchste und allmächtige religiöse Instanz konsequent durch das Volk ersetzt. Was in der Bibel die Stimme und der Wille Gottes ist, ist in diesen Textstellen stets die Stimme und der Wille des Volkes. Diese Eingriffe versöhnen den Bibeltext mit dem folkloristischen Material. Die vorgenommene Umdeutung läßt den schlauen Peter nicht als Sohn und Auserwählten Gottes erscheinen, dem eine Mission im Sinne der christlichen Religion auferlegt ist, sondern als eine dank ihren geistigen und künstlerischen Gaben dafür prädestinierte Persönlichkeit, einen wichtigen gesellschaftlichen und nationalen Auftrag zu erfüllen. Dieser Auftrag hat durch die historischen Umstände und fehlenden staatlichen Einrichtungen weitgehend politischen Charakter und heißt: geistigen Widerstand leisten, mit Witz und Humor versuchen, die nationalen und sozialen Unterdrücker der Lächerlichkeit preiszugeben und damit in den finstersten 286
Zeiten fremder Herrschaft das nationale Bewußtsein des Volkes und dessen Hoffnung auf eine bessere Zukunft wachzuhalten. „Denn", so Markowski, „das Wort hat weder Knochen noch Blut, kein Tyrann kann es bezwingen." Der schlaue Peter stirbt im Roman am Kreuz, doch seine Worte und Streiche, die von geistiger Unerschrokkenheit und Überlegenheit über den Gegner zeugen, bleiben in der Erinnerung des Volkes. Sie dienen ihm als Stütze und geben ihm Mut auch in schwerster Not. Mit der Parallele zwischen dem Tod des schlauen Peters und der Kreuzigung Christi weist Markowski auf den hohen Preis hin, den die Träger der geistigen und künstlerischen Werte bei der Realisierung ihres gesellschaftlichen Auftrages oft zu zahlen hatten, auf jenes hohe Maß von Selbstverleugnung und die Bereitschaft zur Selbstopferung für die nationalen und sozialen Interessen. Dieses Opfer, das den schlauen Peter zur unsterblichen Legende werden läßt, hat im Buch nicht die Spur eines religiösen Charakters. Es ist voll und ganz diesseitsorientiert und mit der Bereitschaft der Nationalrevolutionäre aus der Zeit der bulgarischen Wiedergeburt, ihr Leben für die Freiheit zu geben, vergleichbar. Damit wären wir an einen anderen umstrittenen Punkt des Romans gelangt: Der historisch verbürgte schlaue Peter gehört ins 18. oder 19. Jahrhundert, seine geistige Haltung als Freidenker und seine nationalpatriotischen Intentionen sind nur in Verbindung mit der bulgarischen Wiedergeburt denkbar. Markowski verstößt gegen diese Wahrheit. Seine Figur lebt und wirkt Ende des 14. und zu Beginn des 15. Jahrhunderts, das heißt in den Jahrzehnten unmittelbar nach der osmanischen Eroberung, als es in Bulgarien mehr denn je an gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Voraussetzungen für die Ausprägung eines solchen unverwechselbaren Renaissancetyps, wie es der überlieferte schlaue Peter ist, fehlte. Mag dieser freie Umgang mit der Geschichte manchen befremden, er ist ein überlegter und geradezu notwendiger Kunstgriff des Autors, der zur Erweiterung des künstlerischen Gehalts der Gestalt vom schlauen Peter dient. Der Widerspruch zwischen der konkreten Biographie des schlauen Peters im Roman und ihrer Ansiedlung in einer historischen Epoche, in der es dafür noch keine realen Voraussetzungen gibt, unterstreicht die symbolische Bedeutung der Biographie, ihren Gleichnischarakter in bezug auf das Leben Jesu. Er deutet aber auch darauf hin, daß Markowskis schlauer Peter weder eine konkret-historische Persön287
lichkeit noch lediglich der überlieferte Folkloreheld, der gewitzte Schelm, sein kann. Er ist als eine Gestalt aufzufassen, die geistige Widerstandsfähigkeit und Standhaftigkeit des leidgeprüften bulgarischen Volkes nicht nur während der nationalen Wiedergeburt, sondern auch in Zeiten finsterster nationaler und sozialer Unterdrückung verallgemeinert, als Gestalt, die diese nationalen Züge über das Historisch-Konkrete hinaus in sich trägt, symbolisiert. Die für die Struktur des Romans charakteristischen Wiederholungen im Sujet-Aufbau, die mit der Poetik der Volksmärchen und -lieder korrespondieren, die Verwendung von Volksliedern, von Sprichwörtern und volkstümlichen Zungenbrechern verleihen dem Buch ein ausgeprägtes nationales Kolorit. Sie bilden darüber hinaus einen stilisierenden (stellenweise allerdings überladenen) Rahmen, der seinerseits dazu beiträgt, daß die historisch-konkreten Elemente der Fabel relativiert und die verallgemeinernden Absichten des Autors betont werden. Die Schlußfolgerung liegt nahe, daß man dem Roman von Markowski nicht gerecht werden kann, wenn die Konzeption des schlauen Peter lediglich mit den Maßstäben der Überlieferung und der Geschichte gemessen wird. In all den Punkten, in denen offensichtliche Widersprüche zu den historischen Erkenntnissen vorliegen, manifestiert sich eine neuartige Wirkungsabsicht und ein bislang ungewohntes Verhältnis zur Geschichte. Beides wäre als Versuch zu definieren, Funktion und Wesen des literarischen Werkes in einer klaren Abgrenzung von der Wissenschaft zu bestimmen. Markowskis künstlerische Ambitionen laufen nicht darauf hinaus, einem bekannten historischen Sachverhalt bildliche Gestalt zu verleihen (was früher manche historischen Werke zur bloßen Illustration geschichtlicher Vorgänge werden ließ), sondern er will etwas mitteilen, das wie zum Beispiel manche nationalspezifischen Züge und Haltungen in wissenschaftlicher Erkenntnis nicht aufgeht, nicht aufgehen kann. Die Überzeugung, daß Literatur sich nicht damit begnügen solle, lediglich Illustration wissenschaftlicher Erkenntnisse zu sein, prägt nicht allein bulgarische historische Romane in letzter Zeit. Sie gilt auch für Autoren von Prosawerken, die vom Stoff her in der Gegenwart angesiedelt sind. Ein brisantes Beispiel wäre hier der Roman Vezni {Waage; 1982), in dem Pawel Weshinow mit großem Engagement die Gefahren erörtert hat, die sich für die Menschheit aus der Verabsolutierung des rationalen Prinzips und der zunehmenden Verdrängung und Unterdrückung des Emotionalen ergeben könn288
ten. 367 Kurz vor seinem Tode im Jahre 1983 erklärte Weshinow in einem Interview, daß ein Schriftsteller mit den Gesellschaftswissenschaften (der Soziologie, der Pädagogik, der Anthropologie u. a.) „erfolgreich streiten" könne und solle. Dabei seien nicht der Streit und der Zweifel an sich wichtig, sondern die Möglichkeit, durch neue Sichten und kühne Hypothesen den erreichten Erkenntnisstand bei der Erforschung des Menschen und der Gesellschaft zu vertiefen und vereinseitigenden Auffassungen entgegenzuwirken. 368
Die Romane Der schlaue
Peter von Markowski und Vezni von
Weshinow stehen für einen Trend in der bulgarischen Gegenwartsprosa, der auch in der zeitgenössischen DDR-Literatur zu beobachten ist. Gemeint sind Autoren wie Peter Hacks, Franz Fühmann, Erwin Strittmatter oder Christa Wolf, in deren Schaffen sich in variabler Weise ein ähnliches partnerschaftliches Verhältnis zu den Gesellschaftswissenschaften sowie eine Kunstauffassung ausspricht, bei der sich die Literatur „nicht länger als nachvollziehendes Organ einer auf andere Weise ebenso erreichbaren Erkenntnis sieht, sondern auf ihre ,Unersetzlichkeit' pocht" 369 . Natürlich haben auch diese neuen Auffassungen und Positionen ihre Grenzen, und es ist selbstverständlich, daß man sie weder als einzig zeitgemäß noch als in jedem Fall akzeptabel betrachten kann. Doch nicht darum geht es jetzt. Wichtig ist die Erkenntnis, d a ß diese Konzepte der sozialistischen Literatur zusätzliche Möglichkeiten erschließen, ihr die Wahrnehmung neuer Funktionen einräumen, die die gewachsenen und differenzierter werdenden Bedürfnisse und Erwartungen des Publikums besser befriedigen.
Die Gegenwartstbematik in der Prosa der siebziger und der ersten Hälfte der achtziger Jabre Die siebziger und achtziger Jahre weisen zunächst fast alle wesentlichen Tendenzen der vorausgegangenen sechziger Jahre a u f : eine differenzierte Sicht auf das Individuum, das nicht mehr lediglich unter dem Aspekt seiner sozialen und politischen Rolle in der Gesellschaft gestaltet wird, ein erhöhtes Interesse für moralische Fragen sowie für die nationale Eigenart, wobei die Vielfalt an Stilrichtungen und das reiche Angebot an „unkonventionellen" Genres auffallen. Die neuen Akzente hängen einerseits mit den Diskussionen über die entwickelte sozialistische Gesellschaft zusammen, deren theore19
Witschew, Bulg. Prosa
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ten. 367 Kurz vor seinem Tode im Jahre 1983 erklärte Weshinow in einem Interview, daß ein Schriftsteller mit den Gesellschaftswissenschaften (der Soziologie, der Pädagogik, der Anthropologie u. a.) „erfolgreich streiten" könne und solle. Dabei seien nicht der Streit und der Zweifel an sich wichtig, sondern die Möglichkeit, durch neue Sichten und kühne Hypothesen den erreichten Erkenntnisstand bei der Erforschung des Menschen und der Gesellschaft zu vertiefen und vereinseitigenden Auffassungen entgegenzuwirken. 368
Die Romane Der schlaue
Peter von Markowski und Vezni von
Weshinow stehen für einen Trend in der bulgarischen Gegenwartsprosa, der auch in der zeitgenössischen DDR-Literatur zu beobachten ist. Gemeint sind Autoren wie Peter Hacks, Franz Fühmann, Erwin Strittmatter oder Christa Wolf, in deren Schaffen sich in variabler Weise ein ähnliches partnerschaftliches Verhältnis zu den Gesellschaftswissenschaften sowie eine Kunstauffassung ausspricht, bei der sich die Literatur „nicht länger als nachvollziehendes Organ einer auf andere Weise ebenso erreichbaren Erkenntnis sieht, sondern auf ihre ,Unersetzlichkeit' pocht" 369 . Natürlich haben auch diese neuen Auffassungen und Positionen ihre Grenzen, und es ist selbstverständlich, daß man sie weder als einzig zeitgemäß noch als in jedem Fall akzeptabel betrachten kann. Doch nicht darum geht es jetzt. Wichtig ist die Erkenntnis, d a ß diese Konzepte der sozialistischen Literatur zusätzliche Möglichkeiten erschließen, ihr die Wahrnehmung neuer Funktionen einräumen, die die gewachsenen und differenzierter werdenden Bedürfnisse und Erwartungen des Publikums besser befriedigen.
Die Gegenwartstbematik in der Prosa der siebziger und der ersten Hälfte der achtziger Jabre Die siebziger und achtziger Jahre weisen zunächst fast alle wesentlichen Tendenzen der vorausgegangenen sechziger Jahre a u f : eine differenzierte Sicht auf das Individuum, das nicht mehr lediglich unter dem Aspekt seiner sozialen und politischen Rolle in der Gesellschaft gestaltet wird, ein erhöhtes Interesse für moralische Fragen sowie für die nationale Eigenart, wobei die Vielfalt an Stilrichtungen und das reiche Angebot an „unkonventionellen" Genres auffallen. Die neuen Akzente hängen einerseits mit den Diskussionen über die entwickelte sozialistische Gesellschaft zusammen, deren theore19
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tische Grundlagen auf dem X . Parteitag der B K P (April 1971) erarbeitet wurden. Diese Diskussionen fanden auch in den Beschlüssen des II. Kongresses des Bulgarischen Schriftstellerverbandes (1972) ihren Niederschlag; gefordert wurde eine umfassendere, das E r reichte bilanzierende Gestaltung der sozialistischen Gegenwart, eine moderne, anspruchsvoll geschriebene „sozialistische nationale Klassik" von weltliterarischem Rang. Neue Aspekte wurden in der Literatur andererseits durch die allgemeine Erfahrung und Erkenntnis gewonnen, daß nach der sehr dynamischen Anfangsphase der Etappe der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in den sechziger Jahren (Auseinandersetzung mit dem Personenkult, tiefgreifende soziale Umstrukturierung durch die Migration der Bauern in die Stadt usw.) das Land allmählich in einen Zustand eingetreten war, in dem vieles zwar weiterhin nicht ohne Widersprüche, aber doch ohne einschneidende und sofort sichtbare Veränderungen ablief. Dafür nahm das Gewicht übernational wirkender Faktoren zu: die Folgen der wissenschaftlich-technischen Revolution, darunter die Rolle der Massenmedien für das Wirksamwerden von Kunst und Literatur. Ins Blickfeld rückte immer mehr die komplizierte Weltlage einschließlich der wechselseitigen Abhängigkeit der beiden Gesellschaftssysteme von Rohstoffvorräten, Ökologie, Kriegsgefahr u. a. m. D i e bulgarische Literatur der siebziger und achtziger Jahre reagierte hierauf mit einer erhöhten Sensibilität für die Dialektik der sozialismuseigenen Widersprüche, für die Bedeutung des „subjektiven" Faktors bei der Lösung von Gegenwartsproblemen sowie mit einer intensiven Selbstverständigung über die Aufgaben der Kunst unter den gewandelten Bedingungen. Bei der Darstellung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft setzte sich nun die Tendenz durch, stärker die allgemeinmenschliche und menschheitsgeschichtliche Dimension des Nationalen herauszuarbeiten: Probleme der sozialistischen Gegenwart, die Befindlichkeit des Zeitgenossen oder Fragen von nationaler Eigenart und Identität wurden im Zusammenhang mit Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Glück und Selbstverwirklichung des einzelnen erörtert und mit dem Schicksal der ganzen Menschheit, mit deren „Woher" und „Wohin" verbunden. Diese seit den siebziger Jahren charakteristische philosophische Vertiefung der Literatur geht in der Regel mit einem ausgeprägten Geschichtsbewußtsein der Autoren einher. D i e Beziehung von Individuum und Gesellschaft sowie die Selbsterkenntnis des
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Menschen erscheinen akzentuiert als ein historischer, noch nicht abgeschlossener Prozeß. Die Experimentierfreudigkeit im Formalen (Gestaltungsmittel, Werkkomposition usw.) hielt auch in diesen Jahren an, doch war sie im Vergleich zu den sechziger Jahren nicht immer darauf gerichtet, Traditionelles aufzusprengen, sondern suchte oft durch eine Synthese bereits vorliegender Erfahrungen Neues zu erreichen. Bei der Wirklichkeitsaneignung traten nun die zwei entgegengesetzten Tendenzen viel stärker auf: die strenge Bindung an die Realität (durch die bestimmende Rolle des Authentischen - des" Dokumentarischen und des Berichts) und die „Freisetzung der Phantastik" (gelegentlich auch in folkloristisch-mythologischen Formen). Hier spiegelte sich wohl am augenfälligsten der seit den siebziger Jahren gewonnene hohe Differenzierungsgrad in der Vorstellung vom Realismus wider. Die angedeuteten neuen Akzente betreffen die gesamte bulgarische Literaturentwicklung seit den siebziger Jahren; sie sind in der Prosa besonders deutlich zu spüren. Auffallend ist hier vor allem die Belebung der größeren Genreformen wie der Powest und des Romans, auf die ich mich in den weiteren Ausführungen konzentrieren möchte. Diese Belebung resultierte aus dem Bestreben der Prosaschriftsteller, die Gegenwart umfassend zu gestalten, nachdem sie in den sechziger Jahren die gesellschaftlichen Veränderungen nach dem Aprilplenum des ZK der BKP 1956 zwar vielfältig erkundet, doch vorwiegend ausschnittartig und von einer betont subjektivierten Sicht aus dargestellt hatten. Als geeignet dafür erwies sich ein neuer Typ von Gesellschaftsroman, der die Erfahrungen des epischen Romans der fünfziger Jahre und der darauf folgenden „lyrisierten" Prosa gleichermaßen nutzte. Da dieser neue Romantyp die Wirklichkeit komplexer abbilden sollte, wurden in ihm meist kunstvoll verschiedene Problemkreise miteinander verbunden. Die gleichzeitige philosophische Vertiefung gab verallgemeinernden Symbolen ein größeres Gewicht, die - als tragende Achse, auf die sich unterschiedliche Fragestellungen bezogen - oft schon im Titel erschienen. Beispiele dafür sind einige für die siebziger Jahre besonders kennzeichnende Werke: Rekata (Schatten über dem Fluß; 1974) von Diko Futschedshiew - ein Symbol des durch negative Folgen der wissenschaftlich-technischen Revolution bedrohten Lebens und nationalgeschichtlichen Erbes; Nizinata (Die Niederung; 1977) von Wassil Popow - ein Sinnbild Bulgariens, das einem riesigen Bauplatz gleicht, 19»
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auf dem sich Arbeiter und Vertreter der technischen Intelligenz zu bewähren haben und sich der einstige Bauer auf eine andere Lebensund Arbeitsweise einstellen muß; Pawel Weshinows Nachts mit weißen Pferden (1975) - ein Symbol für die nie ganz zu ergründenden Geheimnisse des Seins und die in jedem Individuum verwurzelte Sehnsucht nach Schönheit, Harmonie und allseitiger Persönlichkeitsbildung, oder Barierata (1976) von demselben Autor - eine Versinnbildlichung der durch Pragmatismus, Phantasielosigkeit und Selbstsucht gelähmten Fähigkeit des Menschen, sich über den Alltag zu erheben und die veredelnde Kraft sowie den wundertätigen Zauber einer auf tiefem Vertrauen beruhenden Liebe zu erfahren. Schon ein flüchtiger Blick auf die Struktur dieser Werke läßt das Neue im Vergleich zum Typ der „lyrisierten" größeren Prosaformen der sechziger Jahre klar erkennen: Die Schriftsteller kehrten meist zur Sicht des auktionalen Erzählers zurück, sie arbeiteten sorgfältiger den Zusammenhang zwischen der Beschaffenheit der Persönlichkeit und den auf sie einwirkenden gesellschaftlichen Faktoren heraus, lehnten aber zugleich entschieden die epische Breite und den sozialen Querschnitt ab. Hierin ahmten sie die sechziger Jahre nach, in denen das enger eingegrenzte Sujet bevorzugt und die eigentliche Handlung durch häufige Anwendung der Retrospektive auf relativ wenige Episoden beschränkt, der gewählte Wirklichkeitsausschnitt jedoch psychologisch und emotional um so intensiver und differenzierter erfaßt wurde. Im Unterschied dazu vermochten es die Autoren jetzt jedoch besser, diesen Ausschnitt in seinen vielfältigen Beziehungen zum gesellschaftlichen Gesamtprozeß zu sehen und nach seinem historischen Gewordensein zu fragen. Besondere Bedeutung gewannen bei dieser Synthese unterschiedlicher Erfahrungen die sogenannten Romane der „kollektiven" und „individuellen Lebensbilanz". Die Struktur des erstgenannten Typs, für den Nizinata typisch ist, ist durch Popows Erfahrungen als Verfasser von Erzählungszyklen geprägt. Es ist ein Roman ohne Fabel, in dem über den Lebensweg Dutzender Menschen berichtet wird, die ein großes Industrieobjekt errichten. Das Mosaik von unterschiedlichen Schicksalen, menschlichen Charakteren und Beziehungen fügt sich zu einem beeindruckenden Bild vom erreichten Stand des sozialistischen Aufbaus in Bulgarien und läßt Geleistetes und Ungelöstes, Fortschritt sowie Widersprüche und Gefahren der Entwicklung sichtbar werden. Durch Beschränkung auf das individuelle Schicksal der Gestalten und zugleich durch den Versuch, das Be292
deutsame in deren Alltag aufzuspüren, unterscheidet sich dieser Romantyp deutlich vom „Produktionsroman" der frühen fünfziger Jahre. Das gilt auch für den ebenso mosaikartig angelegten Roman Denjat na netärpenieto (Der Tag der Ungeduld; 1975) von Wladimir Sarew, einem Autor aus der Ende der sechziger Jahre debütierenden Generation junger Prosaschriftsteller. Wie in Nizinata werden hier nicht ein Baugeschehen schlechthin, sondern moralische Prüfungen geschildert, die von den am Bau Beteiligten im Streben nach beruflicher und privater Selbstverwirklichung zu bestehen sind. Neben der originellen Komposition - anstelle einer durchgängigen Fabel haben wir es mit der Gruppierung einzelner Teile und Episoden um eine zentrale Idee zu tun, eine Struktur, die mit vielen Fernsehserien vergleichbar ist - weisen diese Werke ein weiteres gemeinsames Merkmal auf: Hier treffen „Arbeiterthematik" und „Dorfprosa" zusammen. Viele Gestalten sind nicht nur ihrer Herkunft nach Bauern, sie sind noch dabei, ihre Bauernmentalität aufzugeben und ein neues Klassenbewußtsein auszubilden. Wichtig ist, daß hier - wie in der ganzen „Dorfprosa" der siebziger Jahre in Bulgarien (sofern diese Bezeichnung bei der veränderten Problematik überhaupt noch angebracht ist ) - nicht mehr der Abschied von der Vergangenheit vorherrschendes Erlebnis ist, sondern der Gewinn einer neuen sozialen Stellung. Dieser Held des „sozialen Übergangs" mit all seiner - durch Reste kleinbürgerlichen Denkens bedingten - Zwiespältigkeit, seinen ernsthaften seelischen und moralischen Konflikten bestimmt z. B. den Charakter der Powest Otdalecavane (Entfernung; 1973) von Georgi Mischew und des Debüts von Dimitar Schumnaliew Takova mälcanie, takava vojna ... (So ein Schweigen, so ein Krieg ...; 1975). Im Unterschied zu den Romanen „kollektiver Bilanz", die von der Anlage her eine neuartige epische Struktur in der bulgarischen Literatur darstellten, knüpften Nachts mit weißen Pferden von Pawel Weshinow, Schatten über dem Fluß und Zelenata treva na pustinjata (Das grüne Gras der Wüste; 1978) von Diko Futschedshiew an die Erfahrungen der „Bilanzromane" der sechziger Jahre an, zugleich hoben sie sich aber von ihnen durch eine Umorientierung in bezug auf Problematik und Gestaltung ab. Behandelte die erste „Welle" von „Bilanzromanen" vor allem die Folgen des Personenkults auf dramatisch zugespitzte Art mit Verfahren der „lyrisierten" Prosa, so wandten sich nun die Autoren einer mehr traditionellen Schreibweise und moralisch-philosophischen Aspekten des Seins zu. 293
Das Interesse für moralisch-philosophische Fragestellungen kündigten Anfang der siebziger Jahre zwei essayistische, betont experimentell geschriebene Romane an: Lavina (Die Lawine; 1971) von Blaga Dimitrowa 370 und Ciklopät (Der Zyklop; 1974) von Gentscho Stoew. Beide Male überdenken die Figuren in einer Grenzsituation ihr Leben und bekennen sich zu moralischer Standhaftigkeit. Diese Haltung korrespondiert mit den oben erwähnten Werken Weshinows und Futschedshiews, deren Protagonisten angesichts des Todes auf ihr Leben zurückblicken. Trotz der Widersprüche und Schwierigkeiten stehen sie zu einem als richtig erkannten Ideal und sind bereit, es unter allen Umständen und ohne Rücksicht auf Persönliches zu verteidigen. Dabei drängen sich existentielle Fragen auf: Was ist der Sinn des Lebens? Was versteht man unter Glück, und worin ist es vor allem zu suchen - in der Liebe, im Schöpfertum, im Kampf um sozialen Fortschritt? Die Lebensbilanzen der Figuren geben darauf keine endgültigen Antworten, sie legen aber dem Leser nahe, daß jede ersehnte Selbstverwirklichung des Menschen nur im Einklang mit den humanistischen Erfordernissen der Zeit und mit den sozialistischen Idealen denkbar ist. Damit ist allerdings nur e i n Hauptanliegen dieser Werke benannt, hinter dem sich ein reicher Ideengehalt verbirgt. Denn trotz ihres nur auf die Lebensgeschichte einer Figur beschränkten Sujets reflektieren diese Romane umfassende gesellschaftliche Zusammenhänge, berühren sie viele Problemkreise. Zwei davon verdienen besondere Aufmerksamkeit, da sie auch für den überwiegenden Teil der bulgarischen Prosa der siebziger Jahre mit Gegenwartsthematik bestimmend waren: die Wechselbeziehungen von wissenschaftlich-technischer Revolution, ökologischer Verantwortung und sozialistischer Moral sowie das Verhältnis von Kunst, Schöpfertum und Leben. Die Erkenntnis, daß Fortschritt weder mit Zerstörung der Natur noch mit Verletzung der sozialistischen Ethik vereinbar ist, da beides zum Verlust seines humanistischen Wesens führt, prägt die Haltung der Autoren zum ersteren Problemkreis. Ihr Anliegen realisierten sie auf unterschiedliche Weise. Während sich im Roman 5chatten über dem Fluß von Futschedshiew die anvisierten Widersprüche im inneren Konflikt der Hauptfigur Graschew spiegeln (er hat den Aufbau eines Betriebes zu verantworten, der seiner industriell zurückgebliebenen Heimatregion den Anschluß an die moderne Zeit ermöglichen soll, zugleich aber den Fluß zum Sterben verurteilt),
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verdeutlichen andere Autoren ihr Problembewußtsein durch die Konfrontation zweier oder mehrerer Gestalten. In Nachts mit weißen Pferden von Weshinow, Svetät vecer, svetät sutrin {Die Welt am Abend, die Welt am Morgen; 1973) von Atanas Nakowski oder Domät s machagonovoto stälbiste (Das Haus mit der Mahagonitreppe; 1975) von Andrej Guljaschki legen Angehörige der wissenschaftlich-technischen Intelligenz in leitender Stellung ein recht unterschiedliches sittliches Verhalten bei der Wahl ihrer Mittel an den Tag. So erhielt die bulgarische Literatur wieder einen „negativen" Helden: Wurde der Leitungskader in der Prosa der sechziger Jahre vor allem danach beurteilt, inwieweit sein Führungsstil den leninistischen Normen des parteilichen und gesellschaftlichen Lebens entsprach, und war er Anfang der siebziger Jahre geeignet, noch einmal die These vom „Zurückbleiben des Bewußtseins gegenüber der Entwicklung der materiellen Basis" durchzuspielen (indem man den Leiter als einzigen mit entsprechendem Bewußtseinsgrad ausstattete und ihn in scharfe Konflikte mit dem Kollektiv verwickelte), so erfuhr er jetzt eine weitere Verwandlung. Nun wurde dem prinzipienfesten, moralisch integren Typ des Leiters und Wissenschaftlers der wendige und deshalb meist auch viel erfolgreichere Pragmatiker entgegengestellt, der es mit der Moral nicht so genau nahm und nach dem Motto handelte: „Der Zweck heiligt die Mittel." Angemerkt sei, daß dieser neue Figurentyp - obwohl eigentlich als Antipode zum Vorbildhelden konzipiert - durchaus nicht immer eindeutig negativ ist, sondern gelegentlich eher als Verkörperung dessen erscheint, was dem unbeweglichen moralischen Rigoristen fehlt - die Bereitschaft zu notwendigen Zugeständnissen und Kompromissen, mit denen allein bestimmte Ziele zu verwirklichen sind. Die Problematik des Wissenschaftlers in leitender Stellung muß natürlich in einem größeren Zusammenhang gesehen werden. Die Autoren bewegten vor allem übergreifende Überlegungen: Welches ist die richtige Einstellung auf die Widersprüche in der gesellschaftlichen Praxis? Soll man sich an die im Vergleich zum Ideal unvollkommene Wirklichkeit anpassen? Wenn ja, in welchen Fällen und inwieweit? Ein Beispiel für behutsames und differenziertes Herangehen an diese Fragen bietet Weshinow in Nachts mit weißen Pferden, indem er das Verhalten Professor Urumows, eines Menschen und Leiters von unerschütterlicher Prinzipienfestigkeit und Moral, und seines Nachfolgers, des talentierten, doch pragmatischen 295
und allzu opportunistischen Neffen Sascho, einfühlsam auf Wert und Grenzen prüft.371 Die Probleme, die sich aus der wissenschaftlich-technischen Revolution für die Ökologie sowie für Arbeit, Lebensweise und Moral ergeben, wurden in den siebziger Jahren zum Hauptgegenstand der wissenschaftlich-phantastischen Prosa, eines Genres, das sich in der bulgarischen Literatur - wenn man von einigen Arbeiten Tschawdar Mutafows und Swetoslaw Minkows in den zwanziger und dreißiger Jahren absieht - erst in den sechziger Jahren etablierte. Als beliebtes Verfahren setzte sich in diesen Werken der Zukunftsentwurf der Menschheit durch, in dem verschiedene Varianten durchgespielt wurden - angefangen von optimistischen Visionen einer klassenlosen Gesellschaft, in der Mensch, Technik und Natur eine harmonische Einheit bilden, bis hin zur ausgesprochenen Warnliteratur wie Zavrästaneto na inzener Nadin (Die Rückkehr des Ingenieurs Nadin; 1972) von Andrej Guljaschki, Nad vsicko (Über alles; 1973) von Pawel Weshinow oder Galakticeska bufonada (Galaktische Farce; 1978) von Emil Manow, in der die Gefahren einer menschenfeindlichen Entwicklung der Technik (z. B. der Schrecken einer von Robotern beherrschten Gesellschaft) und die Folgen einer verantwortungslosen Vernichtung der Natur sowie einer Verkümmerung des Gefühlslebens veranschaulicht werden. Von diesen Werken sind Prosaarbeiten zu unterscheiden, in denen das Phantastische lediglich ein untergeordnetes Element ist und sozusagen „mitten im Realen steht". Hier handelt es sich um eine sehr produktive Form der Genremischung, die oft als eine neue und in sich differenzierte Stilrichtung in der bulgarischen Gegenwartsliteratur betrachtet wird. Sie ist auch in den achtziger Jahren noch relativ stark vertreten, nachdem sie ihren ersten Höhepunkt mit Jordan Raditschkows Schaffen in den sechziger und siebziger Jahren sowie Weshinows Barierata oder Ezernoto momce (1977) erreicht hatte.372 Die Hinwendung mehrerer Autoren verschiedener Generationen zur Künstlerproblematik bereicherte wesentlich die bulgarische Prosa der siebziger Jahre. Zweierlei scheint sich in der geradezu explosiven Erschließung dieses bis dahin kaum oder nur am Rande behandelten Gegenstandes zu spiegeln: zum einen das erwachte starke Bedürfnis der Schriftsteller, sich - über die gewonnenen programmatischen Einsichten hinaus - auch im künstlerischen Werk mit der eigenen Problematik auseinanderzusetzen, zum anderen die Erkennt296
nis, daß diese besonders geeignet ist, eine allgemeine Tendenz der Zeit - das Streben nach schöpferischer Selbstverwirklichung und individueller Selbstbehauptung - prägnant auszudrücken. Charakteristisch für diese oft autobiographisch angelegten Werke ist, daß die überkommene Vorstellung vom Dichter als Stimme und Gewissen der Nation in einer abgewandelten Form weiterlebt. Die Künstlergestalt erscheint hier romantisch überhöht. So ist in Dawidkows lyrisierten Romanen Veieren razgovor s däzda (Abendgespräch mit dem Regen; 1973) oder Bjal kon do prozoreca (Weißes Pferd am Fenster; 1975) das künstlerische Schaffen in erster Linie eine Rebellion gegen jegliche Routine, gegen die erdrückende Tyrannei der Alltäglichkeit. Dieses besondere Weltverhältnis nimmt bei Bogomil Rainow in Elegija z& märtvite dni (Elegie über die toten Tage; 1976) und Tozi stranen zana)at (Dieses seltsame Handwerk; 1976) gelegentlich den Charakter eines eigentümlichen Heldentums an, ständig gegen Bequemlichkeit und Sich-Anpassen anzugehen, ja es steigert sich sogar zu einer Art Selbstverleugnung.373 Auch bei Georgi Welitschkow in Stärkel v snega (Storch im Schnee; 1977) ist das Motiv der Opferbereitschaft zugunsten einer vollständigen Ausbildung des Talents und dessen gesellschaftlicher Verantwortung von großer Bedeutung, gepaart übrigens mit einer unduldsamen Haltung gegenüber dem Mißbrauch der Kunst für profane Zwecke und gegenüber Stümperei. Romantische Überhöhung in Zusammenhang mit der Erörterung anderer Aspekte - des Verhältnisses von Kunst und Volk sowie von Kunst und den ewigen Fragen des Seins - prägt auch Futschedshiews Künstlerfigur im Roman Zelenata treva na pustinjata. Eine weitere Gemeinsamkeit all dieser Werke ist die ihnen zugrunde gelegte Überzeugung der Autoren, Kunst sei durch nichts anderes zu ersetzen. Dieses Verständnis von Kunst kommt in der Powest Cernite lebedi (Die schwarzen Schwäne; 1977) von Bogomil Rainow und im Roman Praska {Schleuder; 1975) von Jordan Raditschkow gravierend zum Ausdruck. Im erstgenannten Werk erscheint künstlerische Betätigung nicht allein als Sache überdurchschnittlich begabter Menschen, da die Selbstverwirklichung nach Auffassung des Autors nicht erst im Ergebnis, sondern bereits im Bemühen, etwas zu leisten, erreicht wird; und in Raditschkows Roman wird das Schreiben für den jugendlichen Helden, der mit seiner rückständigen heimatlichen Umgebung in Konflikt gerät, zum Mittel, sich über seinen Platz in der Gesellschaft Klarheit zu verschaffen und sich seiner Individualität voll bewußt zu werden. 297
Das große Interesse für den Problemkreis Kunst/Schöpfertum hielt auch in den achtziger Jahren an. Im Vergleich zu den siebziger Jahren wurde die Problematik nun aber in einen größeren Kontext gestellt und vielfach zum Ausgangspunkt für eine komplexere Wirklichkeitsbewältigung genommen. Die Autoren beschränkten sich nicht mehr darauf, Fragen der nationalen Tradition, der Spezifik und der Rolle des künstlerischen Schaffens sowie dessen Verhältnis zu „ewigen" Kategorien wie Liebe oder Tod zu erörtern. Sie strebten jetzt eine vertiefte Auslotung der vielfältigen Beziehungen des Künstlers bzw. des schöpferisch tätigen Intellektuellen zu den verschiedensten Bereichen der konkreten nationalen Wirklichkeit an. Als Fragen traten in den Mittelpunkt: Wie bewähren sich diese Menschen im Privatleben, vor allem in der Familie? Inwiefern vermag ihr Schaffen mit der gesellschaftlichen Entwicklung Schritt zu halten, rechtzeitig und effektiv auf Veränderungen zu reagieren und vorhandene oder neu aufkommende Widersprüche aufzuspüren? Bedarf der begabte sozialistische Künstler der aktiven Teilnahme am politischen Leben, ist es sinnvoll, daß er sich für zeitaufwendige Leitungsfunktionen zur Verfügung stellt? Solcherart Fragestellungen sind z. B. für zwei sehr anregende „Künstlerromane" der jüngsten Zeit kennzeichnend: Gresich dokra) (Ich ging fehl bis zuletzt; 1984) von Gertscho Atanassow und Zazdata, kojato ni izgarja (Der Durst, der uns verbrennt; 1984) von Diko Futschedshiew. Darin verbindet sich Künstlerproblematik organisch mit einer Diskussion über die angemessene Haltung zu übergreifenden sozialen, moralischen und politischen Fragen, die für jeden Zeitgenossen von Belang sind. Hinzu kommt, daß die Künstlerfiguren in diesen Romanen weit nüchterner und differenzierter als in den siebziger Jahren gesehen und daher auch mit ernsthaften Schwächen und Fehlern behaftet sind. Damit büßten sie ihre Vorbildfunktion ein. In dem Maße aber, wie diese Figuren in der Fülle ihrer sozialen Beziehungen und mit all ihrer Widersprüchlichkeit entstanden, wurden sie zunehmend zu Identifikationsfiguren, gewannen sie die Qualität der allgemeinen Repräsentanz des Zeitgenossen. Eine weitere Anreicherung ihres Gehaltes erfuhren einige Gestalten von schöpferisch tätigen Intellektuellen in Werken wie Gradinata s kosovete (Der Garten mit den Amseln; 1984) von Dimitar Korudshiew, Istorijata i teoriite na edin Pigmalion (Erlebnisse und Reflexionen eines Pygmalion; 1983) von Tontscho Shetschew und Vezni (1982) von Pawel Weshinow. Sie erhielten eine zusätzliche 298
Dimension, indem sie in stärkerem Maße als etwa die Figuren Atanassows und Futschedshiews in einen über unsere sozialistische Gegenwart hinausgehenden bzw. allgemeinmenschlichen Kontext rückten. Erreicht wurde das auf variable Weise: durch die intensive geistige Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen von weltweiter Relevanz, durch die Einbeziehung von mythologischen Stoffen in die Werkstruktur sowie durch die kühne Handhabung der Hauptfigur als Modellfall, an dem Fragen der Menschheitsentwicklung exemplifiziert und erörtert werden können. Da die erwähnten fünf Werke nicht nur für den zur Zeit dominanten thematischen Trend, sondern auch für die Leistungsfähigkeit größerer Formen gegenwartsorientierter fiktionaler Prosa in der bulgarischen Literatur der achtziger Jahre repräsentativ sind, sei hier etwas näher auf Ideengehalt und Genrestruktur eingegangen. Festzuhalten ist zunächst, daß all diese Werke „Monopowesti" und „Monoromane" sind - im Mittelpunkt des Interesses steht lediglich eine Gestalt, der - als dem Hauptträger der Intentionen des Autors - das übrige Figurenensemble weitestgehend untergeordnet ist. Die tiefgründige und vielseitige Erkundung der Befindlichkeit dieser Gestalt sowie ihre mehrschichtige Anlage verleihen den Werken eine neuartige „epische Qualität", die mit Breite oder Totalität der Darstellung nichts mehr zu tun hat. Es ist die „Epik" des Individuums, gesehen nicht mehr, wie in den fünfziger Jahren, als winziges Teilchen eines sich wandelnden welthistorischen Ganzen, auch nicht mehr nur als eine „Kasusfigur" für die Diskussion einzelner aktueller Probleme (wie dies meist in den sechziger und siebziger Jahren der Fall war), sondern zunehmend als ein „Kosmos", der über das Hier und Heute hinaus auch die ganze Entwicklung des Menschengeschlechts - seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - in sich trägt. Dementsprechend ist die Konfliktstruktur dieser Werke. Sie ist nicht durch Konfrontationen zwischen Klassenfeinden oder politischen Gegnern wie in den fünfziger Jahren und nur noch in geringem Maße durch die sozialismusinterne Auseinandersetzung zwischen Gleichgesinnten wie in den sechziger und siebziger Jahren geprägt. Was sie kennzeichnet, sind die i n n e r e n Spannungen und Konflikte der Hauptfigur, die man verallgemeinernd als die Widersprüchlichkeit der existentiellen Befindlichkeit des Zeitgenossen bezeichnen könnte. Sosehr das Gemeinsame der genannten Werke ins Auge sticht, 299
sie lassen sich nach der Art der Organisierung des Materials bzw. nach der Genrestruktur und den jeweiligen Akzenten in den ideellen Intentionen der Autoren durchaus differenzieren. Gresich dokraj von Atanassow und Zazdata, kojato ni izgarja von Futschedshiew knüpfen an Erfahrungen der „Bilanzromane" der sechziger und siebziger Jahre an. Anlaß für die Lebensbilanz der Hauptfiguren sind in diesen Romanen nun aber keine Grenzsituationen (erinnert sei hier an die in den siebziger Jahren besonders beliebte „Finalbilanz" angesichts des Todes), sondern das Zusammenspiel verschiedener Umstände, die in ihnen den Zweifel an der „Vollwertigkeit" des bisherigen Berufs- und Privatlebens wecken. Einmal ausgelöst, nimmt der Prozeß der selbstkritischen Befragung des zurückgelegten Weges den Charakter einer tiefen inneren Krise an, die in die Einsicht mündet, daß Korrektur und Neuanfang notwendig sind. Doch reicht dafür die Lebens- und Schaffenskraft noch aus? Für den sechzigjährigen Schriftsteller Njagolow in Atanassows Werk ist es für eine Wende fast zu spät. Er hat zwar erkannt, daß er anders als bisher an die Gegenwart herangehen und seine Haltung zum Leser verändern müßte. Läßt sich aber Routine so leicht abtun? Viel zu lange hat er in seinen Büchern nur „Halbwahrheiten" geboten und die Widersprüche der Zeit lediglich oberflächlich gestreift. Und viel zu wenig hat er sich darum bemüht, den Leser auch emotional für seine Intentionen zu gewinnen. Auch der Maler Rukow in Futschedshiews Roman ist über fünfzig Jahre alt, als er von einem Freund, einem Parteifunktionär, zu einer Selbstverständigung über das Verhältnis von Kunst und Nation sowie von Kunst und Politik angeregt wird und in diesem Zusammenhang sein Schaffen und sein Leben überdenkt. Dabei gelangt Rukow, der bäuerlicher Herkunft ist, zu der Überzeugung, daß es für die „große Kunst" nicht ausreicht, mit dem Heimatboden, mit der nationalen Vergangenheit und den überkommenen Traditionen des Volkes verbunden zu sein. In der Kunst - so seine Erkenntnis käme es nicht allein auf die Frage nach dem „Woher", sondern auch nach dem „Wohin" an. Und dieses „Wohin", die gesellschaftliche Perspektive, läßt sich in das Kunstwerk schwer einbringen, wenn man - wie er bislang - zur Wirklichkeit lediglich eine Beobachterposition einnimmt. Das Ergebnis der Bilanz ist, daß sich Rukow - so schwer ihm eine Umstellung in seinem Alter auch fällt - zu einem aktiven gesellschaftlichen und politischen Engagement bekennt und seine Aufnahme in die Kommunistische Partei 300
beantragt. Daraufhin folgt eine weitere Krise, ausgelöst diesmal durch die Haltung von Kollegen, Bekannten und sogar der eigenen Frau zu dieser - aus ihrer Sicht - etwas plötzlichen und späten Entscheidung des Malers. Man unterstellt ihm Karrierismus und Machtstreben und beginnt auch in seinem Privatleben nach Angriffspunkten zu suchen, um seine Integrität in jeder Hinsicht in Frage zu stellen. Rukow findet die Kraft, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe abzuweisen, doch der Preis dafür ist hoch. Aus dem Rhythmus seiner relativ ruhigen Existenz geworfen, seelisch und emotional destabilisiert und nervlich überreizt, verunglückt der Maler bei einer unüberlegten gefährlichen Nachtfahrt mit dem Auto tödlich. Das Fehlen eines Happy-End in beiden Romanen ist auffallend. Es wäre allerdings falsch, daraus abzuleiten, die Autoren würden die Effektivität der Wende im Leben ihrer Figuren anzweifeln. Für Atanassow wie Futschedshiew ist im Prinzip unerheblich, wie sich das Schicksal „ihrer" Künstler nach der Wende im einzelnen gestaltet bzw. in welchem Maße sie die neugewonnenen Einsichten in die Praxis umsetzen. Worauf es beiden Autoren ankommt - und d a s führen sie dem Leser überzeugend vor Augen - ist, daß die Figuren trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse die Kraft zur Selbstüberwindung finden, um sich von Routine, Selbstgefälligkeit, Bequemlichkeit und überholten Ansichten zu lösen und sich als Künstler und Persönlichkeiten besser mit den Erfordernissen der Zeit und der Gesellschaft in Übereinstimmung zu bringen. Auf diesen Akt bzw. Prozeß der Selbstüberwindung ist die Aufmerksamkeit gerichtet, darin vor allem wird die für unsere Gegenwart und unsere Gesellschaftsverhältnisse angemessene produktive Haltung des Individuums erblickt und als Vorbild suggeriert. Daß es sich hier um Konzepte handelt, die die Lösung der Probleme unserer Zeit letztlich in der Selbstvervollkommnung des Menschen sehen, d. h. vor allem auf die Rolle des subjektiven Faktors bauen und Literatur in überkommener Weise in erster Linie als eine moralisierende Instanz begreifen, liegt auf der Hand. Auf eine Selbstvervollkommnung des Individuums laufen bezeichnenderweise auch die Intentionen Pawel Weshinows in Vezni hinaus. Die Selbstvervollkommnung wird aber nicht wie bei Atanassow und Futschedshiew lediglich als Schritthalten mit der sich wandelnden Wirklichkeit und den Bedürfnissen der Gesellschaft verstanden, sondern dem Leser als Unterpfand für die Erhaltung des Menschengeschlechts schlechthin nahegebracht. Im Unterschied zu Gresich 301
dokraj und Zazdata, kojato ni izgarja ist das Material in Weshinows Roman nach dem Strukturierungsmodell „Herausfall aus der Welt der Gewöhnungen" 374 organisiert. Lebensbilanz spielt zwar auch hier eine Rolle, doch nur als Teilaspekt und in spezifisch gebrochener Form - von der W a r t e d e s v e r f r e m d e t e n B l i c k e s her, mit dem die Hauptfigur, ein Architekt in verantwortlicher Leitungsposition, plötzlich auf die Wirklichkeit und sich selbst schaut. Zum Träger des verfremdeten Blickes wird der Architekt durch den Sturz von einem Bau, bei dem er sein Gedächtnis und damit seine sämtlichen Erfahrungen und Gewöhnungen an die Realität verliert. Das Kühne in diesem Roman ist, daß Weshinow den Zustand seiner Hauptfigur nicht nur dafür nutzt, um Widersprüche in unserer Gegenwart sowie ein Verhalten, das mit den Normen sozialistischer Moral und Humanität kollidiert, in grellem Licht erscheinen zu lassen. (Im Laufe der Wiederherstellung seines Gedächtnisses ist der Architekt z. B. von der Tatsache erschüttert, daß er früher als Leiter das Leistungsprinzip dermaßen verabsolutiert angewandt hatte, daß er in den Mitarbeitern den Menschen völlig ignorierte und ausschließlich den Fachmann und seine Produktivität gelten ließ.) Der Autor nutzt die allmähliche Genesung des Architekten auch dazu, um an den einzelnen Etappen der Überwindung der Amnesie den ganzen Prozeß der stufenweisen Herausbildung des menschlichen Bewußtseins über Millionen von Jahren zu veranschaulichen. Aufgabe dieser Ebene der Darstellung ist es, die Ebene der konkreten Erfahrungen der Hauptfigur, ihre persönlichen und beruflichen Beziehungen und Kollisionen in einen menschheitsgeschichtlichen Kontext zu stellen. Was Weshinow zu diesem gewagten Kunstgriff veranlaßt, ist die ihn seit den siebziger Jahren immer wieder bewegende Frage nach der - seiner Überzeugung nach - zunehmend gestörten inneren Harmonie des heutigen Menschen, die er als Folgeerscheinung bestimmter Trends der Zivilisationsentwicklung im Weltmaßstab sieht. Auf einen Nenner gebracht, finden diese Trends Ausdruck in einer immensen Erweiterung des Wirkungsbereichs des Verstandes, die auf Kosten des emotionalen Prinzips im Individuum geht, d. h. in der Etablierung eines sich immer mehr festigenden Ratio-Kults bei gleichzeitig sich verstärkender Unterdrückung und Verdrängung der Gefühlswelt. Anhand der Reaktionen des „kranken" Architekten auf seine Umwelt, anhand von Charakterzügen und Verhaltensweisen seines „Ichs" vor dem Unfall (an die er sich während der Genesung 302
wieder erinnert) versucht Weshinow darzulegen, daß das Gefühl die erste Ursache und die Grundlage des Bewußtseins, der Ausgangspunkt seiner Ontogenese sei, daß die Ausprägung der Persönlichkeit ohne das Vorhandensein eines emotionalen Gedächtnisses einfach undenkbar ist. Und schließlich, daß es für die Menschheit keine Zukunft geben kann, wenn sie in ihrer weiteren Entwicklung lediglich das rationale Prinzip fördert und dadurch praktisch die „eigentlichen" Grundlagen ihrer Existenz zerstört. Es ist hier nicht möglich, alle zu diesem Komplex gehörenden Fragestellungen und Ansichten des Autors darzulegen und auf ihren Bestand hin zu prüfen. D a ß es sich zum großen Teil um Hypothesen handelt, hat Weshinow in Interviews selbst zugegeben. Wesentlich ist, was er mit seinem Roman zu erzielen vermag: Durch die provokative und ungewöhnliche Sicht seiner Figur auf Kategorien wie Verstand, Gedächtnis, Einbildungskraft oder Zivilisation sowie durch alle in diesem Zusammenhang evozierten Einwände und Einsprüche (Weshinow berührt z. B. kaum die Frage der unterschiedlichen Potenzen der beiden Gesellschaftssysteme, negative Begleiterscheinungen des zivilisatorischen Fortschritts zu bewältigen) wird der Leser zum Nachdenken angeregt. Er wird herausgefordert, sich mit diesen Dingen selbst produktiv auseinanderzusetzen und sich so ihrer Kompliziertheit und Widersprüchlichkeit bewußt zu werden. So bewirkt der Autor beim Leser, daß er seine oftmals oberflächliche und bequeme Einstellung zu einigen für sein Selbstverständnis und seine Welthaltung grundsätzlichen Dingen aufgibt und seine Unversöhnlichkeit gegenüber einseitigen und simplifizierenden Auffassungen und Konzepten schärft. In diesem Sinne ist der Roman Vezni von Weshinow ein brisantes und für die neuere bulgarische Prosa signifikantes Beispiel, wie für die moralisierenden und warnend-mobilisierenden Intentionen der Literatur Wege und Mittel gefunden werden, die sich klar von denen der Wissenschaft abgrenzen. Zugleich zeugt der Roman von einem Funktionsverständnis des Autors, bei dem die Betonung auf die Unersetzlichkeit der Literatur, auf die besondere Qualität der von ihr vermittelten Erkenntnis gelegt wird. Anders als bei Weshinow wird „menschheitliche Dimension" in Gradinata s kosovete von Korudshiew und in Istorijata i teoriite na edin Pigmalion von Shetschew erzielt. Die Bezeichnung dieser Werke als Powesti seitens der bulgarischen Literaturkritik ist eine Verlegenheit, die der Genrestruktur kaum besser gerecht wird als die 303
Bezeichnung „Novelle", mit der Korudshiew sein Buch in das Genreensemble der Prosa einzuordnen versuchte (Shetschew verzichtete überhaupt darauf, sein Buch näher zu definieren). Beide Werke sind Fälle von Genremischung, die in der bulgarischen Prosa als Trend bereits seit den sechziger Jahren zu beobachten ist, ein Trend, für den die Einbeziehung von Dokumenten, größeren essayistischen Partien und phantastischen Elementen in die Werkstruktur kennzeichnend ist. Hier haben wir es mit jenem Typ von Genremischung zu tun, der sich aus der Verbindung fiktionaler Prosa mit den Möglichkeiten des Essays ergibt. Dies geschieht in den genannten Werken in variabler Weise. So ist Gradinata s kosovete autobiographisch angelegt. Der IchErzähler erinnert sich an die Zeit seines Militärdienstes. Doch die Erlebnisse, die er sich dabei vergegenwärtigt, erfüllen nur eine Hilfsfunktion. Nicht sie, die sozusagen dem Buch einen sujetmäßigen Rahmen geben, sondern die essayistischen Reflexionen, die sich daran oft seitenlang anknüpfen und über den konkreten Anlaß weit hinausgehen, bilden den eigentlichen Kern der Aussage. Authentizität und ein bekenntnishafter Ton sind die hervorstechenden Merkmale dieser Prosa. Durch die Mischung von Erinnerung und Reflexionen gelingt es Korudshiew, zweierlei zu erzielen: zum einen glaubwürdig und mit psychologischer Genauigkeit Auskunft über die gesellschaftliche Atmosphäre in der Zeit unmittelbar nach dem Aprilplenum des ZK der BKP im Jahre 1956 zu geben, durch die seine Generation geprägt wurde (erinnert sei hier an die Abrechnung mit dem Personenkult bei gleichzeitiger Aufwertung des subjektiven Faktors und an den damit verbundenen Kampf gegen Nivellierungstendenzen in bezug auf Individualität und künstlerisches Schaffen); und zum anderen seine durch dieses geistige Klima beförderten persönlichen Ansichten über eine Reihe von aktuellen Fragen von nationaler und internationaler Relevanz zu artikulieren. Von den letzteren ist es das Verhältnis zwischen dem Erkenntnisdrang der Menschheit bzw. der wissenschaftlich-technischen Revolution als wesentlichem Inhalt unserer Epoche einerseits und dem Streben jedes Individuums nach Glück und innerer Harmonie andererseits, das Korudshiew besonders bewegt. Seine Antwort darauf ist, daß Erkenntnis nur dann sinnvoll und gerechtfertigt zu sein scheint, wenn sie als Basis zur Lösung m o r a l i s c h e r Fragen dient; des weiteren, daß die wissenschaftlich-technische Revolution 304
keineswegs schlicht mit Fortschritt gleichzusetzen sei und daß es an der Zeit wäre, als Fortschritt nur das zu betrachten, was zur moralischen Vervollkommnung des Menschen beiträgt und die glücklichen Augenblicke in seinem Leben vermehrt. Die Erlangung von innerer Freiheit und Harmonie sei das höchste Gut, das der Mensch durch Arbeit an sich selbst in unserer unruhigen Zeit anstreben müßte. Essayistisches in Form von Erörterung eines mythologischen Stoffes und als Teil der Binnenerzählung eines fiktionalen Erzählrahmens kennzeichnet dagegen die Struktur von Shetschews lstorijata i teoriits na edin Pigmalioti. In der Rahmenhandlung läßt der Autor den Ich-Erzähler, einen jungen bulgarischen Werbefilmregisseur, auf der Mittelmeerinsel Zypern mit einem Landsmann zufällig zusammentreffen. Der Landsmann, ein Archäologie-Professor, der mit der Kulturgeschichte der Insel bestens vertraut ist, übernimmt die Funktion des Binnenerzählers. Was er dem Regisseur zu berichten weiß, ist eine recht banale Liebesgeschichte, die aber - durch den Bezug zur Pygmalionsage, die der Professor parallel zu seinen Erlebnissen darlegt und neu interpretiert - unerwartet an Tiefe gewinnt. Ausgangspunkt und Basis für die gewagte Parallele ist Shetschews Konzept von der bestimmenden Rolle des kontinuitiven Moments in der Menschheitsgeschichte, das sich auch in der emotionalen Sphäre des Lebens prägnant manifestiere. Demnach sind unsere persönlichen Erfahrungen auch auf dem Gebiet der Liebe keineswegs nur individueller Natur. Hier kommen immer wieder Verhaltensmuster und Verlaufsmodelle zum Tragen, die sich bereits seit Tausenden von Jahren herauskristallisiert und irgendwann die feste Gestalt von Märchen oder Sagen angenommen haben. Ein solches „ewiges" Verhaltensmuster sei nach der Überzeugung des Professors, daß man sich meist nicht in eine „reale Person" (in eine Person, wie sie wirklich ist), sondern in eine „ideale" Vorstellung von ihr verliebt. Deshalb sei auch die Enttäuschung, die darauf folgt, eigentlich unumgänglich und nur eine Frage der Zeit. Das habe er an seiner Liebe zu einer Studentin selber erfahren. In diesem Zusammenhang erhält die Pygmalionsage eine neue Deutung. Nach Auslegung des Professors verliebt sich der mythologische König und Bildhauer in die von ihm geschaffene Mädchenstatue nicht deshalb, weil sie seinem Schönheitsideal entspricht, sondern weil sie ihm die Verkörperung der „idealen Liebe" ist und als solche nicht nur sein Liebesbedürfnis stillt, sondern ihm auch 20
Witschcw, Bulg. Prosa
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weitere Liebesenttäuschungen erspart. Pygmalion wird so zum Träger der Sehnsucht nach Liebe ohne Enttäuschung, einer Sehnsucht, die angesichts unserer Unvollkommenheit leider noch nicht realisierbar sei. Dies - so der Professor - dürfte allerdings nicht zur Flucht vor der Liebe bzw. zu ihrem Ersatz durch „Sex pur" führen. Auch wenn die Liebe für den Liebenden oft ein schweres Kreuz bedeute und ihm viel Leid einbringe, so gäbe es doch nichts, was ihn innerlich mehr bereichere und adele, was seine schöpferischen Fähigkeiten mehr entfalte. D i e Niederlage in der Liebe sei insofern stets eine heroische, als sie das Objekt der Gefühle jeweils positiv verändere. D i e Quintessenz der ganzen essayistischen Partien ist: Nichts Materielles, auch nicht die Schönheit - die Liebe sei es, die letzten Endes die W e l t „retten" werde. Auch in diesem Werk geht es also um allgemeinmenschliche Problematik, auch hier wird vom Autor ein Lösungsvorschlag gemacht. Und wie bei Weshinow oder Korudshiew läuft dieser Vorschlag auf eine Vervollkommnung des Menschen hinaus, verstanden vor allem als ein Selbsterziehungsprozeß - sei es durch die Gewinnung von neuen Einsichten, die eine Verhaltenskorrektur nach sich ziehen, sei es einfach als bewußtes Streben nach Erlangung eines höheren moralischen Status und nach innerer Harmonie. D i e Achillesferse dieser Vorschläge ist der mangelhafte Bezug zur sozialen Basis, die diese Vervollkommnung als Prozeß real ermöglichen könnte. In den essayistischen Überlegungen fehlt die Analyse der konkreten Verhältnisse hinsichtlich der Faktoren, die den Selbsterziehungsbemühungen förderlich sind und ihnen die Chance einräumen, nicht allein Produkte des Wunschdenkens der Autoren zu sein. Erst recht fehlen aber Hinweise auf jene sozialen Umstände bzw. sozialismusinternen Widersprüche, die der Entwicklung des Individuums zu einer harmonischen Persönlichkeit im Wege stehen. Diese sozialanalytische und kritische Funktion übernehmen innerhalb des Ensembles der bulgarischen gegenwartsorientierten Prosa der achtziger Jahre überwiegend Werke, die nicht unbedingt eine menschheitliche Relevanz der Aussage anstreben, vor allem aber die Gestaltung von repräsentativen Identifikationsfiguren strikt ablehnen und sich statt dessen mit Vorliebe Sonderlingen, schrulligen alten Menschen, Pechvögeln, ja auch Asozialen und psychisch Kranken zuwenden. Dieser zweite, von der bulgarischen Literaturkritik noch relativ wenig untersuchte Prosastrang mit Gegenwartsthematik wird hauptsächlich von jüngeren Autoren vertreten. E r scheint in
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¡modifiziertet Form die traditionelle Behandlung des „kleinen Mannes" bzw. des einfachen Menschen in der bulgarischen Literatur weiterzuführen, der allerdings nun recht unterschiedlich gesehen und mit verschiedenen Funktionen beladen wird - bald als kauziger Hüter all jener positiven Werte zwischenmenschlicher Beziehungen (wie Güte, Wärme und einsichtsvolles Verständnis für den anderen), die in der Hast des Alltags und auf der Jagd nach ehrgeizigen beruflichen und materiellen Zielen verlorenzugehen drohen, bald als „Versager", der ins Asoziale abgerutscht ist, oder als Außenseiter und „Aussteiger", der einfach mit dem Leben nicht zurechtkommt. In "welcher Variante sich die Figur dieses Stranges auch immer präsentiert, erkannt werden kann sie stets (auch dann, wenn sich der Autor zu ihr ausgesprochen bejahend-mitfühlend verhält) an den deutlichen Zügen eines „Anti-Helden", an ihrer bewußten Anlage als einer Art Opposition zum bekannten Klischee der positiven Vorbildfigur. Die Produktivität dieses Figurentyps als eines Mittels zur Erforschung der Befindlichkeit des Zeitgenossen und zur Aufdeckung kritikwürdiger Erscheinungen der Gegenwart ist stark umstritten.375 Zwei Gründe dafür: Erstens ziehen es die Autoren meist vor, den Spannungs- und Konfliktzustand der Gestalten lediglich zu umreißen, ohne ihn in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang einzuordnen, was die Gefahr der Verabsolutierung des behandelten Falls nach sich zieht; zweitens bieten sie für den Fall keinerlei Lösung an. Hinzu kommt die ausgesprochene Experimentierfreudigkeit dieser Autoren auch in bezug auf die Form. Mitunter auf die Spitze getrieben, erschwert sie ernsthaft das Verständnis der Aussage, verleiht sie den ideellen Intentionen Ambivalenz.376 Ein gravierendes Beispiel für diesen Trend in der bulgarischen Prosa mit Gegenwartsthematik ist der Roman Otkaz ot nasledstvo (Verzicht auf Erbe; 1984) von Raschko Sugarew. Das Ungewöhnliche an ihm ist zunächst, daß es sich um den Bericht eines psychisch gestörten Psychiaters über seine Erlebnisse und Erfahrungen während der Krankheit handelt, einen Bericht, den er - wie wir am Ende erfahren - unmittelbar nach seiner Genesung verfaßt hat. Doch die behauptete Wiederherstellung des psychischen Gleichgewichts wird durch die Art des Berichtens in Frage gestellt. Nicht weil hier etwa auf Chronologie und nähere Umstände der geschilderten Erlebnisse grundsätzlich verzichtet wird und die Gedanken von diesem zu jenem Ereignis im früheren Leben des Arztes - von seiner Kind20»
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heit bis zur Erkrankung und dann wieder zur Kindheit - bald assoziativ, bald völlig unvermittelt springen. Bedenklich stimmen die Sprache, die das Erlebte oft in einer von der Norm abweichenden Syntax wiedergibt (auch dann, wenn keine Bewußtseinsabläufe direkt reflektiert werden), und vor allem die Mischung aus wahren, möglichen und eindeutig eingebildeten Wahrnehmungen und Ereignissen, die aus der Sicht des Berichterstatters völlig undifferenziert als „wirklich" dargelegt werden. D e r E f f e k t ist die Verwischung der Grenze zwischen Realität und kranker Phantasie, der Leser wird total darin verunsichert, was er vom Ganzen schließlich zu halten hat: Hat der Tod des Patienten, der den Arzt in eine komplizierte innere und äußere Krisensituation gebracht und zur Erkrankung geführt hatte, wirklich stattgefunden, oder hat er sich lediglich in seinem schon seit langem „wirren K o p f " zugetragen? Wurde gegen den Arzt tatsächlich der absurd anmutende Gerichtsprozeß angestrengt, obwohl er nur aus ärztlichem Pflichtbewußtsein und von dem Wunsch getragen, ein Menschenleben zu retten, gegen gewisse Vorschriften gehandelt hatte? Waren das Familienklima und die gesellschaftliche Atmosphäre in der Übergangsperiode wirklich so voller „Übertreibungen" und „Maßlosigkeiten", daß sie den Arzt bereits im Knabenalter psychisch gänzlich destabilisierten? Irgendwann bei der Lektüre wird dem Leser klar, daß der Autor ihn mit Absicht im dunkeln tappen läßt und diese Verunsicherung einfach zur Wirkungsstrategie gehört. Sugarew liegt nicht daran, die beschriebenen Erfahrungen des kranken Arztes unbedingt als „wahr" auszugeben und sie uns als ein groteskes Abbild unserer Wirklichkeit und ihrer Vorgeschichte zu suggerieren. E r will offensichtlich nur vorführen, wie leicht diese Erfahrungen zum Alltag und zur Realität werden könnten, wenn man manche „Übertreibungen" aus der Zeit der Übergangsperiode wieder aufleben ließe oder bestimmte Widersprüche in der gesellschaftlichen Praxis in unserer unmittelbaren Gegenwart unterschätzte. Ein Problem ist und bleibt zweifelsohne die „Lesbarkeit" des Romans. E s sind recht hohe Anforderungen, die an den Rezipienten in bezug auf Mitarbeit und Geduld für die Dechiffrierung der Botschaft gestellt werden.
Abschließend kann festgestellt werden, daß sich die bulgarische Prosa mit Gegenwartsthematik in den siebziger und der ersten Hälfte der achtziger Jahre als ein dynamischer und in sich differen-
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zierter Prozeß präsentiert. Die Erschließung neuer Problemkreise und Gegenstände ist für diesen Prozeß genauso kennzeichnend wie die genremäßige und strukturelle Vielfalt der Werke. Zu betonen ist, daß das beobachtete große Interesse für allgemeinmenschliche Fragen keine Abkehr von dem konkreten gesellschaftlichen Geschehen und den aktuellen Problemen der Zeit bedeutet. Vielmehr handelt es sich hier um das Bemühen der Autoren, die Gegenwart philosophisch vertieft zu gestalten, ihre Bedeutung als Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft der Menschheit mit zu reflektieren. Auch wenn das moralisierende Pathos eindeutig dominiert, so fehlen doch keineswegs Werke, die - in welcher Form auch immer - von sozialanalytischer Brisanz sind und in denen das erzieherische Anliegen mit sozialkritischen Intentionen gekoppelt ist. Dank dieser Polyfunktionalität als Ensembleleistung einerseits und dank dem künstlerisch anspruchsvollen Niveau andererseits vermag die bulgarische Prosa mit Gegenwartsthematik nicht nur ihrem gesellschaftlichen Auftrag gerecht zu werden, sondern auch ihre führende Stellung innerhalb des Gattungsgefüges qualitativ und quantitativ 377 zu behaupten.
Anmerkungen
Abkürzungen Dimow/Witschew
Bulgarische marxistische Literaturtheorie und Literaturkritik 1891-1941. Hg. v. Georgi Dimow u, Dobri Witschew. Berlin 1978 (Literatur und Gesellschaft)
LF
Literaturen front
LM
Literaturna misäl
Verteidigung •
Verteidigung der Menschheit. Antifaschistischer Kampf und Aufbau der sozialistischen Gesellschaft in der muttinationalen Sowjetliteratur und in Literaturen eoropäischer sozialistischer Länder. Hg. v. Edward Kowalski. Berlin 1975.
1 Christo Botev: Zadacata na v. „Zname" (Die Aufgabe der Zeitung „Sname"). In: Izbrani proizvedenija (Ausgewählte Werke). Sofija 1969, S. 206-207. 2 Ebenda, S. 207. 3 Beginn und Ende der bulgarischen Wiedergeburt sind umstritten. Forscher, die an diese Epoche vorwiegend geistes- bzw. kulturgeschichtlich herangehen, neigen dazu, zur Wiedergeburt auch ihre kulturellen Vorläufer im 17. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (die Tätigkeit der bulgarischen Katholiken, die Damaskinenliteratur oder einzelne Werke der bildenden Kunst) sowie ihren ideell-ästhetischen Ausklang in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu zählen. Der vorliegenden Studie wurde der Periodisierungsvorschlag zugrunde gelegt, nach dem die bulgarische Wiedergeburt mit der Entstehung der Slavobulgarischen Geschichte von Paissi, d. h. mit dem ersten deutlichen Zeichen eines erwachten nationalen Bewußtseins im Jahre 1762, beginnt und mit der Befreiung Bulgariens von fremdnationaler Unterdrückung, d. h. mit dem Abschluß des Übergangs von der feudalen zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung im Jahre 1878, endet. 4 Über die Gründe für das verspätete Auftreten der Renaissance in Bul-
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garien (die Ideen der Aufklärung fanden hier fast zur gleichen Zeit wie in den entwickelten europäischen Ländern Verbreitung) wird noch immer diskutiert. Neben dem jahrhundertelangen Verlust an nationaler Eigenstaatlichkeit und der hemmenden Rolle der griechischen Geistlichkeit werden auch solche Faktoren angeführt wie die beinahe vollständige Ausrottung des bulgarischen Adels bereits zu Beginn der Fremdherrschaft, das Fehlen einer Renaissancebewegung im gesellschaftlichen Leben der osmanischen Eroberer, das relativ spät erwachte politische und kulturelle Interesse Westeuropas und Rußlands für die Bulgaren (im Vergleich zu ihren fast nie ganz unterbrochenen Kontakten zu anderen unterjochten Balkanvölkern wie den Griechen oder den Serben) u. a. m. Vgl. d a z u : Ivan Radev: Bälgarska väzrozdenska literatura (Bulgarische Wiedergebuctsliteratur). Sofija 1980, S. 10-20. 5 Die bulgarische Kirche wurde nach der Eroberung Bulgariens durch die Osmanen der griechischen angegliedert und ihr unterstellt. Erst 1870 wurde ihre Unabhängigkeit nach jahrzehntelangem, zähem Ringen erkämpft. Das war ein großer Erfolg der bulgarischen Befreiungsbewegung, der die Erlangung der nationalen Eigenstaatlichkeit im Jahre 1878 vorbereitete. 6 Vgl. Anm. 4. 7 Der Grund dafür war, daß das Osmanische Reich nach dem Krimkrieg seine Märkte für die billige europäische Industrieproduktion öffnete, 8 Sie wurde mit Unterstützung der serbischen Regierung gebildet und ber teiligte sich am türkisch-serbischen Konflikt im Jahre 1862. Rakowski hoffte, daß dies der Beginn eines Krieges wäre, der günstige Bedingungen für einen Aufstand in Bulgarien schaffen könnte. Der Konflikt wurde aber bald beigelegt und die Legion aufgelöst. 9 Vgl. Petär Dinekov: Mezdu folklora i literaturata (Zwischen der Folklore und der Literatur). Sofija 1978, S. 43. 10 Vgl. Vanda Smochovska-Petrova: Pärvata beletristicna tvorba v novata bälgarska literatura (Das erste Prosawerk in der neubulgarischen Literatur). In: LM 25 (1981) 5, S. 31. 11 Zu den wichtigsten Quellen für Paissis Geschichte gehören historiographische Werke wie Annales ecclesiastica a Christo nato ad annum 1198 des italienischen Kardinals Caesare Baronio und II Regno de gil Slavi hoggt coTTOttamente detti Schiavoni des in Dubrovnik zu Beginn des 17. Jahrhunderts wirkenden Mönchs Mauro Orbini. 12 Näheres über Paissi von Chilendar, den ersten Ideologen der bulgarischen Wiedergeburt, siehe in: Bayer/Endler: Bulgarische Literatur im Überblick. Berlin 1983, S. 6 1 - 6 5 . 13 Vgl. Georgi Gacev: Uskotennoe razvitie literatury. Moskva 1964. 14 Vgl. Stefana Tarinska: Uskoreno razvitie i istoriceski proces (Beschleunigte Entwicklung und historischer Prozeß). I n : Literaturna istorija 1/1977, S. 24. 15 Vgl. Ljudmila Boeva: „Istorija slavenobolgarskaja" kato literaturno proizve-
311
denie („Slavo-bulgarische Geschichte" als literarisches Werk). In: Za literaturnite zanrove prez bälgarskoto väzrazdane (Die literarischen Genres in der bulgarischen Wiedergeburt). Sofija 1979, S. 46. 16 Nadezda Dragova: Kam zanrovata Charakteristika na „Istorija slavjanobälgarska" (Zur Genrebestimmung der „Slavo-bulgarischen Geschichte"). In: Ebenda, S. 4 2 - 4 3 . 17 Diese Auffassung ist eine indirekte Polemik gegen Standpunkte, die die Vielfalt der Wege, die zur gattungs- und genremäßigen Differenzierung der neubulgarischen Literatur führten, ignorieren und einzelne Seiten dieses Prozesses (wie die Anlehnung an die Erfahrungen anderer Literaturen oder die Transformationen des Folklorematerials) verabsolutieren. 18 Vgl. Georgi Gacev: Uskorennoe razvitie literatury. Moskva 1964, S. 229. 19 Tonco Zacev: Opit za teoreticeska istorija na literaturata (Versuch einer theoretischen Literaturgeschichte). In: LM 9 (1965) 4, S. 145. 20 Ein Beispiel dafür ist Ilija Konews 1974 erschienene Arbeit über die bulgarische Literatur in der Epoche der Wiedergeburt unter dem Aspekt ihrer Wechselbeziehungen mit den anderen Balkanliteraturen - Literaturni vsaimootnosenija i literaturen proces (Literarische Wechselbeziehungen und Literaturprozeß). Sofija 1974. 21 Es handelt sich um die Komödie Der Bischof von Lowelscb oder das Mißgeschick des Uhrmachers von Lowetsch von Teodosij Ikonomow. 22 Desertierte und in Banden organisierte türkische Soldaten. 23 Im Unterschied zu vielen anderen Autoren in der bulgarischen Wiedergeburt idealisierte Sofroni seine Landsleute nicht. Der schonungslose Realismus, mit dem er sich selbst darstellte, zeichnet auch sein künstlerisches Verhältnis zu den in der Autobiographie skizzierten Bulgaren aus. Angst und Habgier (denn nur wer Geld hatte, konnte sein Sklavendasein einigermaßen erträglich gestalten) sind im Werk wiederkehrende Motive für ihre Handlungsweise; die Lüge, die Heuchelei und sogar der Verrat gehörten zum Preis, den sie zahlen mußten, um zu überleben. 24 Vgl. B. M. Eichenbaum: Wie Gogols „Mantel" gemacht ist. In: Texte der russischen Formalisten. Bd. 1, München 1969, S. 129. 25 Vgl. Ivan Radev: Bälgarska väzrozdenska literatura (Bulgarische Wiedergeburtsliteratur). Sofija 1980, S. 107. 26 Aus dem Türkischen stammende Bezeichnung für die reichen bulgarischen Kaufleute, Tierzüchter und -händler sowie Grundbesitzer und Unternehmer. Nach 1878 allgemeine Bezeichnung für wohlhabende Menschen. 27 Die ersten drei Druckereien mit bulgarischer Schrift innerhalb des Ostnanischen Reiches wurden 1835 in Samokow, 1838 in Saloniki und in Istanbul gegründet. 28 Näheres dazu in: Dobri Witschew: Methodologische Fragen der Rezeption der deutschen Literatur in Bulgarien bis 1878. Christoph von Schmid und die bulgarische Wiedergeburt. In: Zeitschrift für Slawistik 29 (1984) 5, S. 686-695.
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29 Der Grad der „Bulgarisierung" der übersetzten Werke ist recht unterschiedlich gewesen. Die von manchen Forschern praktizierte Überbewertung dieser Adaption (in Form einer von Fall zu Fall wenig unterschiedenen, undifferenziert hohen Einschätzung ihrer Möglichkeiten, Inhalt und Ideengehalt des rezipierten Werks für die Belange des bulgarischen Lesers umzufunktionieren) führt gewöhnlich zu einer weitgehenden Nivellierung von unterschiedlichen Rezeptionslinien der ausländischen Literatur in der Epoche der Wiedergeburt. Näheres dazu ebenda, S. 686. 30 Vgl. Bojan Nicev: Uvod v juznoslavjanskija realizäm (Einführung in den südslawischen Realismus). Sofija 1971, S. 184. 31 Vgl. Vasil Drumev: Nestastna familija (Unglückliche Familie). Sofija 1937, S. 1 - 2 . 32 Aus christlichen Gefangenen, die meist bereits im Knabenalter zum Islam bekehrt wurden, gebildete Elitetruppen der türkischen Sultane. Seit dem 17. Jahrhundert ohne großen militärischen Wert. 1826 von Mahmud II. auf Grund ihrer zunehmenden UnZuverlässigkeit als Stütze der zentralen Gewalt aufgelöst und durch Massaker ausgerottet. 33 Vgl. z. B. den in Unglückliche Familie in Klammern eingeflochtenen Hinweis, daß zehn Jahre nach den geschilderten Ereignissen der Sultan die Janitscharentruppen aufgelöst hat, womit die Handlung auf das Jahr 1816 datiert ist. 34 Vgl. Doco Lekov: Problemi na bälgarskata beletristika prez väzrazdaneto (Probleme der bulgarischen Prosa in der Wiedergeburt). Sofija 1970, S. 116-135. 35 Ein gravierendes Beispiel dafür ist die Betrachtung der bulgarischen Literatur in der Epoche der Wiedergeburt als „eine ästhetische und ideelle Einheit". Vgl. Nadezda Andreeva: Grundtendenzen der Rezeption der deutschen Literatur in Bulgarien zur Zeit der Wiedergeburt. In: Wiss. Zeitschrift der KMU Leipzig, Gesellschafts- und Sprachwissenschaftl. Reihe 28 (1979) 4, S. 421. 36 Diese Elemente kommen in Blaskows zweiter Powest Unglückliche Krastinka (1870) erst richtig zum Tragen. Sie äußern sich vor allem in einer Zivilisationskritik, die in der Urbanisierung des Lebens die Hauptursache für die Zerstörung herkömmlicher moralischer Werte erblickt. Der „verdorbenen" und „unbulgarischen" Stadt setzte der Autor sein Ideal von einem „aufgeklärten" und „gesunden" Landleben entgegen, in dem alle patriarchalischen Tugenden erhalten geblieben sind. 37 Im Hatt-i-Scherif und Hatt-i-Humajun wurden alle seit Sultan Selim III. (1788-1807) unterbreiteten Reformvorschläge zusammengefaßt. Dazu gehörten vor allem die bürgerliche und religiöse Gleichstellung aller Bürger im osmanischen Reich, die Abschaffung der Steuererhebung durch Privatpersonen, die Sicherheit des Vermögens, die Genehmigung zur Einfuhr von Auslandskapital. 38 Als „erster" in Bulgarien, denn im gleichen Jahr erscheint in Rußland
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Karawelows Erzählung Woiwode, in der ein Haiducke die Hauptfigur ist. Vgl. S. 4 1 - 4 2 dieses Bandes. 39 Der Einfluß der sentimental-romantischen Übersetzungsliteratur auf das weitere Schaffen Drumews und Blaskows nahm merklich ab. Das gilt vor allem für Drumews zweites, unvollendetes Werk XJcenik i blagodeteli (Schüler und Wohltäter). 40 Vgl. z . B . Oda na Sofroni (Ode an Sofroni; 1813) von Dimitar Popski oder Opisanie sledstvennich proizsestviju sobivsichsja ot znamenitago tureckago Cbatiserifa (Beschreibung der auf das berühmte türkische Hatt-i-Scherif- gefolgten Ereignisse; 1839) von Neofit Rilski. 41 Eine vom zaristischen Regime unterstützte Organisation, die 1858 in Moskau mit dem Ziel gegründet wurde, den russischen politischen und kulturellen Einfluß auf die slawischen Balkanvölker nach dem Krimkrieg (als das osmanische Reich seine Märkte für die westeuropäische Industrieproduktion öffnete) zu verstärken. 42 Vgl. Pamjatniki narodnogo byta bolgar (Denkmäler des Volkstums der Bulgaren). Hg. v. L. Karavelov. Moskva 1861. 43 Vgl. dazu Ilija Konev: Beletristät Karavelov (Der Prosaschriftsteller Karawelow). Sofija 1970, S. 38. 44 Vgl. Cveta Undzieva: Izgrazdaneto na Karavelov kato beletrist (Die Entwicklung Karawelows als Prosaschriftsteller). In: LM 10 (1966) 4, S. 99 bis 100. 45 Dazu Näheres in: Bojan Nicev: Uvod v juznoslavjanskija realizäm (Einführung in den südslawischen Realismus). Sofija 1971, S. 2 1 3 - 2 1 5 . 46 Die Präsenz volkstümlerischer Ideen in der bulgarischen Literatur der Wiedergeburt ist vor allem im Schaffen Ilija Blaskows (1819-1884) zu spüren. 47 Vgl. Velco Velcev: Ljuben Karavelov i ruskata literatura (Ljuben Karawelow und die russische Literatur). In: Velco Velcev: Bälgarsko-ruski literaturni vzaimootnosenija prez X I X - X X v. (Bulgarisch-russische Literaturbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert). Sofija 1974, S. 7 9 - 8 6 oder Erika Knudsen: Za charaktera na gogolevoto vlijanie värchu Karavelov i Vazov (Über den Charakter des Einflusses von Gogol auf Karawelow und Wasow). In: LM 25 (1981) 1, S. 4 9 - 6 6 . 48 Vgl. Bojan Nicev: Uvod v juznoslavjanskija realizäm (Einführung in den südslawischen Realismus). Sofija 1971, S. 229-230. 49 Vgl. Michail Arnaudov: Ljuben Karavelov. Sofija 1972, S. 279. 50 Ljuben Karavelov: Nasata knizevnost (Unsere Literatur). In: Ljuben Karavelov: Izbrani tvorbi (Ausgewählte Werke). Sofija 1980, S. 287-288. 51 Ljuben Karavelov: Velislava, bälgarska knjaginja (Welislawa, bulgarische Fürstin). In: Ebenda, S. 293. 52 Gemeint sind der Fürst Michael, der im Mai 1868 ermordet wurde, und sein Neffe und Nachfolger Milan. 53 Serbien erhielt seine Unabhängigkeit von der Türkei wie Bulgarien im
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Jahre 1878, war aber bereits seit 1817 ein autonomes Fürstentum im Osmanischen Reich und dadurch Bulgarien in mancher Hinsicht voraus: Die kapitalistischen Verhältnisse konnten sich hier zügiger und ungehinderter entfalten, dementsprechend aber auch die Kehrseite der bürgerlichen Kultur. So tauchten hier früher als in Bulgarien antidemokratische und apologetische Tendenzen sowie Ansichten auf, die auf eine Autonomie der Kunst hinausliefen. 54 Die von Karawelow begonnene Polemik gegen die idealistische Ästhetik der serbischen Romantiker wurde von Svetozar Markovic (1846-1875) fortgesetzt und vertieft. Markovic hielt sich bis 1870 in Rußland auf und kehrte nach Serbien als überzeugter revolutionärer Demokrat zurück. E r beteiligte sich maßgeblich an der Organisierung der serbischen revolutionären Arbeiterbewegung. 55 Vgl. Bojan Penev: Istorija nä novata bälgarska literatura (Geschichte der neubulgarischen Literatur). Bd. 4. Sofija 1978, S. 4 9 5 - 5 0 1 oder Michail Arnaudov: Ljuben Karavelov. Sofija 1972, S. 272-280. 56 1848 gegründete politische Vereinigung der serbischen Intelligenz, die eine positive Rolle in der antitürkischen nationalen Bewegung spielte und sich vorwiegend gegen den österreichisch-ungarischen und serbischen Absolutismus richtete. Zerfall 1872. 57 Vgl. die Stellungnahme der Redaktion der Zeitschrift Matica, in der die Powest erschien. Zit. in: Bojan Penev: Istorija na novata bälgarska literatura (Geschichte der neubulgarischen Literatur). Bd. 4. Sofija 1978, S. 261. 58 Damit wird nicht etwa Bojan Penews (1881-1927) These unterstützt, Karawelow sei überhaupt der Begründer des Realismus in der serbischen Prosa. Karawelows Verdienst ist darin zu sehen, daß er als erster in Serbien theoretisch sowie als Autor in ganz bewußter Opposition gegen jegliche Art von Literatur auftrat, in der man den aktuellen Bezug zur Realität und die kritische Sicht auf sie vermißte. 59 Ljuben Karavelov: Kriva Ii e sädbata (Ist das Schicksal schuld?). Sofija 1948, S. 3 9 - 4 0 . 60 Karawelow wurde nach der Ermordung des Fürsten Michael Obrenovic, die der Regierung den Anlaß gab, gegen die Omladina-Bewegung und die ihr nahestehenden Kreise vorzugehen, verhaftet und verbrachte ohne Urteil 7 Monate im Gefängnis. 61 Vgl. S. 15 dieses Bandes. 62 1872 wurde die Zeitung Nezavisimost (Unabhängigkeit) umbenannt. 63 Ljuben Karavelov: Izbrani säcinenija (Ausgewählte Werke). Bd. 3. Sofija [1944], S. 145, 148. 64 Christo Botev: Izbrani proizvedenija (Ausgewählte Werke). Sofija 1969, S. 371. 65 Vgl. Anm. 35. 66 Christo Georgiew starb 1872. Sein 1882 die Sofioter Universität.
315
Bruder, Ewlogi Georgiew, stiftete
67 Diese Krise Karawelows fand vor allem in der von ihm 1875/76 herausgegebenen Zeitschrift Znanie (Wissen) Niederschlag, wo er sich von Erörterung politischer Fragen distanzierte und für die Hebung des Bildungsniveaus seiner Landsleute eintrat. Damit begab er sich praktisch auf die Positionen der Schriftsteller-„Aufklärer'.'. Vgl. Bayer/Endler: Bulgarische Literatur im Überblick. Leipzig 1983, S. 102. 68 Grundbegriffe der Literaturanalyse. Hg. v. K. Kasper und D. Wuckel. Leipzig 1982, S. 198. 69 Vgl. N. A. Groznova/V. A. Kovalev: Sovremennaja sovetskaja povest'. Leningrad 1975, S. 14-15. 70 Grosnowa und Kowalew z. B. unterscheiden innerhalb der klassischen russischen Literatur fünf Typen der Powest. Vgl. Grundbegriffe der Literaturanalyse. Leipzig 1982, S. 199. 71 Vgl. Ljuben Karavelov: Izbrani tvorbi (Ausgewählte Werke). Sofija 1980, S. 294. 72 Dazu griff Karawelow z. B. in Ist das Schicksal schuld, wo die Auszüge von Kalmics Tagebuch einen Abschnitt der Powest für sich darstellen, der mehr als 10 Seiten umfaßt. 73 Deutschland, Österreich-Ungarn und besonders Großbritannien befürchteten, daß die Gründung eines großen bulgarischen Staates den Einfluß Rußlands auf dem Balkan über Gebühr stärken würde, da sie davon ausgingen, daß sich Bulgarien außenpolitisch auf Rußland orientieren würde. 74 Ein etwa 35 000 km2 großes Gebiet mit Plowdiw als Hauptstadt. 75 Den Krieg erklärte der serbische König Milan Bulgarien, weil er die Gebietserweiterung seines östlichen Nachbarn als eine Bedrohung für Serbien empfand. Obwohl die bulgarischen Streitkräfte an der türkischen Grenze konzentriert waren, konnten sie bei Slivnica die serbischen schlagen und den Krieg gewinnen. 76 1912 schufen Bulgarien, Griechenland, Serbien und Montenegro den Balkanbund zum gemeinsamen Kampf gegen die Türkei und begannen den ersten Balkankrieg. Sie befreiten Westthrakien, Makedonien und Albanien vom türkischen Joch. Der Streit um die Verteilung der befreiten Gebiete führte zum zweiten Balkankrieg (1913). Bulgarien kämpfte nun allein gegen seine ehemaligen Verbündeten, auf deren Seite auch Rumänien und die Türkei traten. Bulgarien wurde geschlagen, es mußte die Süddobrudsha an Rumänien abtreten. Von dem beanspruchten Makedonien erhielt es nur einen kleinen Teil (Pirin-Makedonien). 77 Vom demokratischen Charakter der Verfassung von Tarnowo zeugen vor allem die für die damalige Zeit sehr fortschrittlichen bürgerlichen Rechte wie das allgemeine, geheime und gleiche Wahlrecht, das Presse-, Redeund Versammlungsrecht, umfangreiche Befugnisse für die örtlichen Staatsorgane u. a. m. 78 1881 löste Battenberg die Volksversammlung auf und versuchte, eine Diktatur zu errichten, was ihm aber nur für relativ kurze Zeit gelang,
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da er in Konflikte mit der von ihm selbst eingesetzten Regierung geriet. 1883 wurde die Verfassung wieder in Kraft gesetzt. 79 Gemeint sind der zweite Balkankrieg und der erste Weltkrieg, die nicht nur territoriale Verluste für Bulgarien nach sich zogen, sondern das Land auch wirtschaftlich ruinierten. 80 Deutliche Differenzen gab es zwischen den bürgerlichen Parteien nur auf dem Gebiet der Außenpolitik. Diese richtete sich weitgehend danach, zu welchem großen europäischen Staat die wirtschaftlichen Beziehungen der jeweiligen Parteimitglieder überwogen.
So setzten
sich z. B. gegen das
Ende des 19. Jahrhunderts die Volkspartei, die Progressiv-Liberale Partei und die
Demokratische
Partei
für
eine
russophile
Außenpolitik
ein,
während die Liberale Partei und die Volksliberale Partei danach strebten, Bulgarien auf die westlichen Großmächte zu orientieren. 81 Der Bauemvolksbund setzte sich das Ziel, die Interessen aller Bauernschichten zu vertreten und in diesem Sinne als Partei des „Bauernstandes" zu fungieren. Dies bedingte sein instabiles und oft recht widerspruchsvolles politisches Programm. E s war zwar vor allem auf die Befriedigung der Belange der Mittelbauern ausgerichtet, schwenkte aber bald nach links, bald nach rechts, je nachdem, von woher der Druck gerade stärker war - von den Großbauern oder von den Kleinbauern und den landlosen Lohnarbeitern. 82 Bis 1894 wuchs die Zahl der größeren Industriebetriebe in Bulgarien auf 72. D i e neunziger Jahre gelten in der ökonomischen
Entwicklung
des
Landes als die Abschlußphase der bereits vor der Befreiung begonnenen Periode der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals. 83 Die Angaben stammen von Dimitar Blagoew. Vgl. Istorija na bälgarskata kommunisticeska
partija
(Geschichte
der
bulgarischen
kommunistischen
Partei). Hg. von R. Avramow, V. Chadzinikolov u. a. Sofija 1969, S. 59. 84 Für enge Kontakte mit der deutschen Literatur, Ästhetik und Philosophie um die Jahrhundertwende sorgten u. a. längere Aufenthalte der Vertreter des Kreises „Missal" in
Deutschland. Als Philosophie- bzw.
Literatur-
studenten weilten hier Krastew ( 1 8 8 5 - 1 8 8 8 ) , der in Leipzig bei W . Wundt promovierte, Slawejkow ( 1 8 9 2 - 1 8 9 8 ) und Todorow ( 1 8 9 9 - 1 9 0 4 ) . 85 Es handelt sich um den Aufstand der Bevölkerung von Makedonien und Westthrakien, die nach dem Herrschaft Inneren
verblieb.
Berliner Kongreß 1878 unter osmanischer
Der Aufstand
Makedonischen
wurde
Revolutionären
von
der
Organisation
1893
gegründeten
(IMRO)
geleitet,
die die Autonomie der beiden Gebiete erkämpfen wollte. Der Aufstand, von dem sich sowohl die Großmächte als auch die bulgarische Regierung (auf Grund der linken Positionen der I M R O ) distanzierten, wurde von den Türken blutig niedergeschlagen. Der tragische Ausgang des Aufstandes und die Haltung der bulgarischen Regierung trugen wesentlich dazu bei, daß sich Autoren wie Pejo Jaworow vollkommen von den politischen und sozialen Problemen der Zeit abwandten und resigniert ihr künstlerisches Interesse auf die Gestaltung der Innenwelt verlagerten.
317
86 Der Bezug der zweiten Etappe der individualistisch-sezessionistischen Richtung zur bulgarischen Prosaentwicklung wird im dritten Kapitel der Arbeit behandelt. : 87 Vgl. Heinrich Olschowsky: Lyrik in Polen. Strukturen und Traditionen im 20. Jahrhundert. Berlin 1979, S. 72 (Literatur und Gesellschaftj. 88 Dimitär Blagoev: Säcinenija (Werke). Bd. 1. Sofija, S. 435. 89 Vgl. Zelju Avdziev: Borba za nov svjat i nova literatura (Kampf um eine neue Welt und Literatur). Sofija 1968, S. 7. 90 Vgl. Dimitär Blagoev: Sto e socializäm i ima Ii toj pocva u nas? (Was ist Sozialismus und hat er Boden bei uns?). Tärnovo 1891. 91 Konservative Partei, die 1894 gegründet wurde und die Interessen des Großkapitals vertrat. Wasow sagte sie vor allem deshalb zu, weil sie außenpolitisch auf Rußland orientiert war. 92 Angewidert vom politischen Leben in Bulgarien, wandte sich z. B. Wasow nach 1899 von der Gegenwart ab und bearbeitete bis zu den Balkankriegen fast ausschließlich Stoffe aus der ferneren Vergangenheit des Landes. 93 Vgl. Artikel von Elin Pelin wie Za edni majka, za drugi mastecha (Für die einen Mutter, für die anderen Stiefmutter; 1902) oder Erzählungen wie Andresko (Andreschko; 1903). 94 Vgl. z. B. Tonco Zecev: Bälgarskijat roman sied Deveti Septemvri (Der bulgarische Roman nach dem 9. September 1944). Sofija 1980, S. 11-12. 95 Vgl. Tonco Zecev: Ebenda, S. 9 und B. Nicev: Sävremennijat bälgarski roman (Der bulgarische Gegenwartsroman). Sofija 1978, S. 17. 96 Vgl. z. B. Petär Dinekov: Ivan Vazov na prechoda mezdu dve epochi (Iwan Wasow am Übergang zweier Epochen). In: Ivan Vazov. Sbornik po slucaj 125-godisninata ot rozdenieto na pisatelja (Iwan Wasow: Sammelband. Anläßlich seines 125. Geburtstages). Plovdiv 1976, S. 23. 97 Zit. nach Milena Zaneva: Ivan Vazov. Sofija 1983, S. 15. 98 Ebenda, S. 21. 99 Darauf wird später, im Abschnitt über Wasows Erzählungen, näher eingegangen. 100 Die aus 130 politischen Emigranten zusammengesetzte Freischar wurde im Sommer 1868 nach Bulgarien entsandt, um die Bevölkerung zu einem spontanen Aufstand zu veranlassen. Der Versuch scheiterte. Daraufhin wurde die Freischartaktik in der bulgarischen revolutionären Befreiungsbewegung aufgegeben. 101 Ivan Vazov: Nemili-nedragi (Die Verfemten). In: Säcinenija (Werke). Bd. 2. Sofija 1982, S. 82. 102 Ebenda, S. 89. 103 Vgl. Stefan Elevterov: Povestite na Ivan Vazov (Iwan Wasows Powesti). In: LM 22 (1978) 6, S. 65. 104 Als engagierter Russophiler mußte Wasow 1886 Bulgarien verlassen, um sich vor den Verfolgungen der rußlandfeindlichen Regierung Stambolows in Sicherheit zu bringen. 318
105 Iwan Wasow: Unter dem Joch. Berlin 1957, S. 307-308. 106 Ein Dorf in den Rhodopen, das sich am Aprilaufstand beteiligte und dessen sämtliche Einwohner von den Osmanen niedergemetzelt wurden. 107 Iwan Wasow: Unter dem Joch. Berlin 1957, S. 393. 108 Wasow ließ einen Ausschnitt aus Tolstois Roman für ein Schulbuch übersetzen, das er 1884 zusammen mit dem Schriftsteller Konstantin Wlitschkow herausgab. 109 Besonders aufschlußreich sind in dieser Hinsicht z. B. das Kapitel Die Spinnstube in Altynowo und die erste Szene im Roman - im Hof von Tschorbadshi Marko - , die eine genaue Vorstellung von der Lebensweise in einer patriarchalischen Familie der damaligen Zeit geben, außerdem die Szenen der Jahresabschlußprüfung in der Schule sowie der Laienaufführung von Genoveva, in denen der Geist der Zeit einprägsam eingefangen ist. 110 Bei manchen Forschern, die die historisierende Sicht auf Wasows Werk aussparen, ist die Tendenz zu beobachten, seine Grenzen in ideeller Hinsicht weitgehend zu ignorieren bzw. zu bagatellisieren. Daß dies die Gefahr einer undifferenzierten Aufwertung nach sich zieht, liegt auf der Hand. 111 Dimitar Blagoev: Öffentliche Antwort. In: Dimow/Witschew, S. 77. 112 Vor Wasow haben sich in der Wiedergeburtszeit Karawelow und Drumew in der Romanform versucht, was allerdings völlig mißlang. Karawelow schrieb eine historische Trilogie ohne jeglichen künstlerischen Wert, und Drumew konnte seinen Roman Schüler und Wohltäter, den er biographisch anlegte, nicht vollenden. 113 Auf Grund der notwendigen starken Selektion des Materials und der Priorität des gattungsgeschichtlichen Aspekts mußte hier auf eine Studie über Georgi Kirkow, den ersten bulgarischen sozialistischen Erzähler, verzichtet werden. Er schrieb satirische Kurzprosa, in der er bevorzugt die politischen Repräsentanten der herrschenden Klasse entlarvte. Sein Verdienst ist vor allem darin zu sehen, daß er als erster den Handwerker, der zum Proletarier und sich seiner neuen sozialen Lage bewußt wird, als den neuen positiven Helden reflektierte. Typologisch steht seine Kurzprosa in großer Nähe zur feuilletonistischen Erzählung, so wie sie Aleko Konstantinow, Kirkows Vorbild, kurz zuvor geprägt hatte. Näheres über den Autor in Bayer/Endler: Bulgarische Literatur im Überblick. Leipzig 1983, S. 154-155. 114 Vgl. Simeon Janev: Tradicii i zanr (Tradition und Genre). Sofija 1975, S. 56. 115 Vgl. Ivan Vazov: Säcinenija (Werke). Bd. 2. Sofija 1982, S. 353. 116 Ivan Vazov: Säbrani säcinenija (Gesammelte Werke). Bd. 8. Sofija 1976, S. 331. 117 Satirischer Mittel bediente sich Wasow hauptsächlich in seinen Bühnenstücken. Mit dem satirischen Kurzerzählungstyp des Autors, auf den hier
319
nicht extra eingegangen wird, weil er sich strukturell von seiner übrigen Kurzprosa mit Gegenwartsthematik
kaum
unterscheidet, hat sich u. a.
Simeon Chadshikossew speziell befaßt. E r hebt auch seinen publizistischskizzenhaften Charakter hervor und macht auf typologische Bezüge zur Prosa der französischen Aufklärung aufmerksam. Vgl. Simeon Chadzikosev: Sred nesabravimite stranici (Unvergeßliche Seiten). Sofija 1984, S. 3 5 - 3 7 . 118 Iwan Wasow: Ein Landschaftsbild. I n : Die brennenden Garben. Leipzig 1978, S. 136. 119 Ebenda, S. 1 3 6 - 1 3 7 . 120 Ivan Vazov: Säcinenija (Werke). Bd. 2. Sofija 1982, S. 443. 121 Im August 1886 übernahm Stefan Stambolow die Regierung (durch einen Staatsstreich), worauf er sich außenpolitisch von Rußland ab wandte und auf Österreich-Ungarn orientierte. 122 Darauf wies bereits M. Zanewa hin. Vgl. Milena Caneva: Ivan Vazov. Sofija 1983, S. 114. 123 Ivan Vazov: Säcinenija (Werke). Bd. 2. Sofija 1982, S. 448. 124 Vgl. Georgi Canev: Literaturni studi (Literarische Studien). Sofija 1938, S. 4 8 - 4 9 . 125 Aleko Konstantinow: Bai Ganju, Der Rosenölhändler. Leipzig 1974, S. 11. 126 Ebenda, S. 87. 127 Vgl. ebenda, S. 136. 128 Ebenda, S. 1 2 1 - 1 2 2 . 129 Vgl. Stefan Elevterov: Poet po dusa, satirik po sädba (Ein Dichter der Seele nach, ein Satiriker dem Schicksal nach). In: Septemvri 26 (1983) 1, S. 242. 130 Vgl. Penco Slavejkov: Aleko Konstantinov
spomeni i belezki
(Aleko
Konstantinow. Erinnerungen und Bemerkungen). I n : Säcinenija na Aleko Konstantinov (Aleko Konstantinow. Werke). Bd. 1. Sofija 1901. 131 Dimityr Blagoew: Über Aleko Konstantinow. I n : Das Leben Literatur.
Kritische Aufsätze
zur bulgarischen
Literatur.
und die
Berlin
1979,
S. 125. 132 Vgl. ebenda. 133 Dimityr Blagoew: Das Leben und die Literatur. I n : Ebenda, S. 1 0 4 - 1 0 5 . 134 Penco Slavejkov:
Aleko Konstantinov spomeni
i belezki (Aleko Kon-
stantinow. Erinnerungen und Bemerkungen). I n : Säcinenija na Aleko Konstantinov (Aleko Konstantinow. Werke). Bd. 1, Sofija 1901. 135 Ebenda. 136 Bojan Penev: Prevrästenijata na baj Ganja (Bai Ganjus Verwandlungen). I n : Slatorog 4 (1923) 1, S. 22. 137 Dazu gehören: der Abbau illusionärer Hoffnungen auf eine rasche Gesellschaftserneuerung nach
dem Fall der
diktatorischen
Regierung
Stefan
Stambolows im Jahre 1894, das zunehmend zwiespältige Verhältnis nicht nur zur Arbeiterbewegung selbst, sondern auch zu ihrer Kultur u. a. m. Vgl. Georgi Bakalow: Literarischer Umbruch. In: Bulgarische marxistische
320
Literaturtheorie und Literaturkritik. 1891-1941. Berlin 1978, S. 8 2 - 8 5 sowie Zelju Avdziev: Vlijanieto na socialisticeskite idei värchu bälgarskata literatura (Der Einfluß der sozialistischen Ideen auf die bulgarische Literatur). Sofija 1968, S. 14-15. 138 Vgl. Kurze Geschichte der deutschen Literatur. Hg. v. Kurt Böttcher und Hans Jürgen Geerdts. Berlin 1981, S. 505. 139 Vgl. Petko Todorow: Tolstoj v Bälgarija (Tolstoi in Bulgarien). I n : Misäl 17 (1907), S. 720-722. 140 Petko Todorov: Pisma (Briefe). Sofija 1966, S. 81. 141 Friedrich Nietzsche: Aus dem Nachlaß der achtziger Jahre. In: Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Bd. 3. München 1956, S. 839. 142 Todorow hielt Anfang September 1899 in der Lesestube seiner Heimatstadt Elena eine antimonarchistische Rede, in der er den Fürsten Ferdinand als einen „österreichischen Agenten" bezeichnete und die Anwesenden aufforderte, sein Bild von der Wand zu entfernen. 143 Gemeint sind die Bauernfiguren in Ilija Blaskows Powest Unglückliche Krastinka, die Träger patriarchalischer Tugenden sind und die der Autor den moralisch verdorbenen Städtern entgegenstellte. Vgl. dazu auch Anm. 35. 144 Pentscho Slawejkows kühnstes und unvollendet gebliebenes Werk, in dem er in Anlehnung an Mickiewiczs Pan Tadeusz versuchte, die Epoche der bulgarischen Befreiungsbewegung mit den Mitteln des großangelegten Versepos zu würdigen. 145 Vgl. dazu Bojan Nicev: Petko Todorov i drugite (Petko Todorow und die anderen). In: LM 9 (1965) 6, S. 69-70. 146 Ebenda, S. 70. 147 Petko Todorov: Guslareva majka (Die Mutter des Spielmanns). I n : Säbrani säcinenija v cetiri toma (Gesammelte Werke in vier Bänden). Bd. 1. Sofija 1979, S. 81. 148 Vgl. Petko Todorov: V Getsimanskata gradina (Im Garten von Gethsemane). In: Ebenda, S. 207. 149 Ebenda, S. 208. 150 Petko Todorov: V sjankata na nazarjanina (Im Schatten des Mannes von Nazareth). In: Ebenda, S. 233. 151 Penco Slavejkov: Säbrani säcinenija v osem toma (Gesammelte Werke in acht Bänden). Bd. 5. Sofija 1959, S. 204. 152 Ebenda, S. 205. 153 Z. B. in der Idylle Ein Kampf. 154 Petko Todorov: Pisma (Briefe). Sofija 1966, S. 104. 155 Der Übergang von dem „fragmentaren" zum „monolithischen" Typ der Erzählung in der bulgarischen Prosa wird im Abschnitt über Elin Pelin näher betrachtet. 156 Vgl. Bojan Nicev: Petko Todorov i drugite (Petko Todorow und die anderen). In: LM 9 (1965) 6, S. 75. 21
Witschew, Bulg. Prosa
321
157 Elin Pelin: Im Jenseits. In: Die Versuchung. Erzählungen. Berlin 1977, S. 32. 158 Ein Vorläufer der Volkstümlerbewegung in Bulgarien aus der Zeit vor 1878 war zweifelsohne Ilija Blaskow mit seiner Powest Unglückliche Krastinka (1870). Vgl. Anm. 35. 159 Vgl. dazu: Dimitar Blagoew: Unsere schöngeistige Literatur. In: Dimow/ Witschew, S. 57. 160 Vgl. Bayer/Endler: Bulgarische Literatur im Überblick. Berlin 1983, S. 89. 161 Elin Pelin: Die Wahnsinnige. In: Die Versuchung. Erzählungen. Berlin 1977, S. 89. 162 Vgl. Aleko Konstantinow: Bai Ganju. Der Rosenölhändler. Leipzig 1974, S. 16. 163 Vgl. Elin Pelin: Za edni majka, za drugi mastecha (Für die einen Mutter, für die anderen Stiefmutter). In: Säsinenija v sest toma (Werke in sechs Bänden). Bd. 6. Sofija 1973, S. 7 - 1 0 . 164 Das Bogomilentum war eine religiös-häretische, ihrem Wesen nach antifeudale Bewegung, die im 10. Jahrhundert einsetzte und die progressivste Ideologie des mittelalterlichen geistigen Lebens in Bulgarien darstellte. Der Bewegung lag eine dualistische Weltanschauung zugrunde, nach der die sichtbare Welt ein Werk des Satans, das Geistige und Jenseitige aber göttlicher Herkunft wären und diese beiden Welten demnach zwei Prinzipien verkörperten - das Böse und das Gute - , die sich im ständigen Kampf miteinander befänden. Da der Zar, die Bojaren und die Kirche der sichtbaren Welt angehörten, forderten die Bogomilen das Volk auf, sich keinen Gesetzen zu beugen und keine Vertreter der offiziellen Machtorgane zu respektieren. 165 Da in Bulgarien auf Grund der schwachen Industrialisierung um die Jahrhundertwende nur ein geringer Teil der verarmten Bauern in der Stadt Lohnarbeit finden und sich „proletarisieren" konnte, blieb Elin Pelin bei der Gestaltung der Landbevölkerung, d. h. von Figuren, für die patriarchalische Lebensweise und Moral zwar schon der Vergangenheit angehörten, die aber weiterhin auf dem Dorf wohnten und keine Beziehungen zur Ideologie und zum Kampf der Arbeiterklasse hatten. 166 Vgl. Penjo Rusev: Razcvetät i razpadaneto na cöveskata licnost v tvorcestvoto na Elin Pelin (Blüte und Zerfall der menschlichen Persönlichkeit im Werk Elin Pelins). In: Elin Pelin. Sto godini ot rozdenieto mu (Elin Pelin. Zum 100. Geburtstag). Sofija 1978, S. 32. 167 Dieser Aspekt in Elin Pelins Schaffen ist z. B. in den Erzählungen Morast oder Die Weide von Nane Stoitschkow enthalten. 168 Elin Pelin: Schnitter. In: Die Versuchung. Erzählungen. Berlin 1977, S. 2 6 - 2 7 . 169 Iskra Panova: Belezki värchu stila na Vazov, Elin Pelin i Jovkov. C.II. „Dusata" na säbitieto (Bemerkungen über den Stil von Wasow, Elin
322
Pelin und Jowkow. Teil 2 : Die „Seele" des Geschehens). In: LM 6 (1962) 3, S. 36. 170 Ognjan Saparev: Elin Pelin i problemite na komicnoto (Elin Pelin und die Probleme des Komischen). In: Elin Pelin. Sto godini ot rozdenieto mu (Elin Pelin. Zum 100. Geburtstag). Sofija 1978, S. 117. 171 Elin Pelin: Schnitter. In: Die Versuchung. Erzählungen. Berlin 1977, S. 25. 172 Elin Pelin: Kak pisa (Wie ich schreibe). In: Säcinenija v sest toma (Werke in sechs Bänden). Bd. 6. Sofija 1973, S. 230. 173 Vgl. Pantalej Zarev: Panorama na bälgarskata literatura (Panorama der bulgarischen Literatur). Bd. 2. Sofija 1977, S. 200. 174 Krastjo Krastew hat die Erzählungen Elin Pelins zu „Anekdoten" abgewertet. Vgl. Elin Pelin: Kak piäa (Wie ich schreibe). In: Säcinenija v sest toma (Werke in sechs Bänden). Bd. 6. Sofija 1973, S. 231. 175 Vgl. Elin Pelin: Totentag. In: Die Versuchung. Erzählungen. Berlin 1977, S. 96. 176 Diese Bezeichnung als Charakterisierung der neuen Struktur der Erzählung Elin Pelins im Vergleich zu Wasows Kurzprosa hat vor allem Simeon Janew benutzt. Vgl. Simeon Janev: Tradicii i zanr (Traditionen und Genre). Sofija 1975, S. 97. 177 Vgl. Elin Pelin: Kak pisa (Wie ich schreibe). In: Säcinenija v sest toma. (Werke in sechs Bänden). Bd. 6. Sofija 1973, S.' 209, 234. 178 Vgl. Pantalej Zarev: Panorama na bälgarskata literatura (Panorama der bulgarischen Literatur). Bd. 2. Sofija 1977, S. 211. 179 Auf diese für Maupassant typische „Eröffnung" der Erzählung macht z. B. Ruth Kilchenmann aufmerksam. Vgl. R. Kilchenmann: Die Kurzgeschichte. Formen und Entwicklung. Stuttgart 1968, S. 56. 180 Vgl. Elin Pelin: Pismoto na Iv. Vazov (Der Brief von Iwan Wasow). In: Säcinenija v sest toma (Werke in sechs Bänden). Bd. 6. Sofija 1973, S. 34-35. 181 Vgl. Elin Pelin: Ivan Vazov. In: Ebenda, S. 69. 182 Vgl. Elin Pelin: Pismoto na Iv. Vazov. In: Ebenda, S. 3 4 - 3 5 . 183 Vgl. Ivan Radoslavov: Bälgarskijat simvolizäm (Der bulgarische Symbolismus). In: Chiperion 4 (1925) 1/2, S. 19. 184 Vgl. ebenda, S. 20. 185 Geo Milev: Nebeto (Der Himmel). In: Vezni 1 (1919/1920) 10, S. 299 bis 300. 186 Vgl. Geo Milev über Rimbaud. In: Vezni 3 (1921/1922) 20, S. 349-350. 187 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Bd. 2. Berlin 1955, S. 400. 188 Vgl. Geo Milew: Tag des Zorns. Gedichte. Berlin 1975, S. 35. 189 Ebenda, S. 48. 190 Näheres über Milews Entwicklung als Künstler und das Poem September in: Dobri Witschew: Vom „Grausamen Ring" zum „September". Der 21»
323
bulgarische Dichter Geo Milew und die frühe Auseinandersetzung mit dem Faschismus. In: Verteidigung, S. 201-221. 191 Vgl. Recnik na bälgarskata literatura (Lexikon der bulgarischen Literatur). Bd. 3. Hg. v. G. Canev, B. Angelov u. a. Sofija 1982, S. 256. 192 Vgl. Künstlerische Avantgarde. Annäherungen an ein unabgeschlossenes Kapitel. Hg. u. eingel. v. K. Barck, D. Schlenstedt u. W. Thierse. Berlin 1979 (Literatur und Gesellschaft). 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203
204 205
Ebenda, S. 8. Ebenda, S. 9. Ebenda. Ebenda. Recnik na bälgarskata literatura (Lexikon der bulgarischen Literatur). Bd. 3. Sofija 1982, S. 257. Geo Milew: „Und das Licht scheint in der Finsternis . . .". In: Dimow/ Witschew, S. 111. Georgi Dimitroff: Ausgewählte Schriften in drei Bänden. Bd. 3. Berlin 1958, S. 546. Die erste „Linksorientierungswelle" setzte in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein. Vgl. S. 7 2 - 7 3 dieses Bandes. Geo Milev: Poezijata na mladite (Die Poesie der jungen Dichter). In: Izbrani proizvedenija (Ausgewählte Werke). Bd. 2. Sofija 1965, S. 219. Ebenda, S. 221. Vgl. Georgi Bakalov: Javorov i individualisticnata inteligencija (Jaworow und die individualistische Intelligenz). In: Nov pät 2 (1924) 5, S. 149 bis 156. Vgl. S. 122-123 dieses Bandes. Gemeint sind vor allem die Romane Sresta (Treffen; 1904), Visjast most (Hängende Brücke; 1910) und Bena (Bena; 1921). Als „Modernist" war Straschimirow vom Symbolismus beeinflußt. Seine Vorbilder waren Maeterlinck und Strindberg, deren Wirkung besonders in seinem dramatischen Schaffen zu spüren ist.
206 Anton Strasimirov: Choro (Reigen). In: Esenni dni. Izbrani tvorbi (Herbsttage. Ausgewählte Werke). Sofija 1979, S. 625. 207 Ebenda, S. 639. 208 Vgl. Efrem Karanfilov: Anton Strasimirow i dusevnostta na bälgarina (Anton Straschimirow und das Seelenleben des Bulgaren). Sofija 1979, S. 189. 209 Anton Strasimirov: Choro (Reigen). In: Esenni dni. Izbrani tvorbi (Herbsttage. Ausgewählte Werke). Sofija 1979, S. 596. 210 Minko Nikolov: Izbrani proizvedenija. Anton Strasimirov. Christo Smirnenski. Brecht. (Ausgewählte Werke. Anton Straschimirow. Christo Smirnenski. Brecht). Sofija 1979, S. 157. 211 Ebenda, S. 158. 212 Vgl. Pantelej Zarev: Panorama na bälgarskata literatura (Panorama der bulgarischen Literatur). Bd. 2. Sofija 1977, S. 431 oder Boris Sajkevic:
324
Zanrovoto svoeobrazie na romana „Choro" ot Anton Strasimirov (Die Genrespezifik des Romans „Reigen" von Anton Straschimirow). In: Ezik i literatura (1983) 3, S. 66, 69. 213 Vgl. z. B. Christina Balabanova: Lirizirane na prozata i zanrovi promeni (Lyrisierung der Prosa und Genreveränderung). In: Problemi na stavnitelnoto literaturoznanie (Probleme der vergleichenden Literaturwissenschaft). Sofija 1978. 214 Dieser Vorschlag ist nicht neu, neu bzw. präzisiert ist lediglich seine Begründung. So ist z. B. für Minko Nikolow das Expressive in Reigen auch genrebestimmend, doch nicht in seiner Eigenschaft als ästhetischer Effekt bzw. als Funktion der subjektivierenden Gestaltungsweise, sondern als „grundlegendes" und „strukturierendes" Prinzip im Roman, das die Handlung „drehbuchartig und assoziativ" organisiert. Was in der Studie als Resultat oder Folge eines bestimmten Verfahrens betrachtet wird, erscheint also bei Nikolow als das Verfahren selbst, dessen Mechanismus ungeklärt bleibt. 215 Spiridon Kazandziev: Sresti i razgovori s Jordan Jovkov (Begegnungen und Gespräche mit Jordan Jowkow). Sofija 1960, S. 77. 216 Ebenda, S. 38. Vgl. Geo Milev: Protiv realizma (Gegen den Realismus). In: Säcinenija V tri toma (Werke in drei Bänden). Bd. 2. Sofija 1976, S. 352. Dazu trugen u. a. die hohen Reparationen bei, die Bulgarien nach dem 218 ersten Weltkrieg zahlen mußte. 217
219
Gemeint ist sein postexpressionistisches Werk, etwa der Roman Barbara oder die Frömmigkeit (1929).
220
Vgl. Sirak Skitnik: Tajnata na primitiva (Das Geheimnis des Primitiven). In: Zlatorog 4 (1923) 1, S. 4.
Vgl. Kurze Geschichte der deutschen Literatur. Berlin 1981, S. 515. 221 222 Vgl. Ivan Sarandev: V sveta na „Staoplaninski legendi" (In der Welt der Balkanlegenden). Sofija 1980, S. 14. 223 Vgl. S. 1 6 9 - 1 7 0 dieses Bandes. 224 Vgl. S. 158 dieses Bandes. 225 Vgl. z. B. Georgi Bakalows Rezension über Jowkows Kriegserzählungen in: Zvezda (1932) 1, S. 4 1 - 4 2 . 226 Vgl. die Erzählung Pametnija den (Der denkwürdige Tag). 227 Der erste Balkankrieg hatte insofern einen progressiven Charakter, als Bulgarien, Griechenland, Serbien und Montenegro, die gemeinsam gegen die Türkei kämpften, Westthrakien, Makedonien und Albanien von fremdnationaler Unterdrückung befreiten und damit auch den für das türkische Feudalsystem charakteristischen ökonomischen Verhältnissen auf dem Balkan ein Ende setzten. Dem zweiten Balkankrieg lag der Streit um die Verteilung der befreiten Gebiete zugrunde, woraus sich sein nationalistisch-imperialistischer Charakter ergab. 228 Die Süddobrudscha mußte Bulgarien nach
325
dem zweiten
Balkankrieg,
den es gegen die anderen Balkanstaaten führte und verlor, an Rumänien abtreten. Das Gebiet erhielt Bulgarien 1940 zurück. 2 2 9 Außer
Kurzprosa
schrieb
Jowkow
auch
drei
Romane
sowie
einige
Theaterstücke. 2 3 0 Spirodon Kazandziev: Sresti i razgovori s Jordan Jovkov
(Begegnungen
und Gespräche mit Jordan Jowkow). Sofija 1960, S. 94. 231 Vgl. S. 1 1 1 - 1 2 2 dieses Bandes. 232 Vgl.
Svetla Gjurova: Minaloto
v „Staroplaninski
gangenheit in den „Balkanlegenden"). Novi izsledvanija (Jordan Jowkow
legendi"
(Die
In: Jordan Jovkov
Ver-
1880-1980.
1 8 8 0 - 1 9 8 0 . Neue Untersuchungen).
Sofija 1982, S. 5 9 - 6 0 . 233 Vgl. ebenda, S. 60. 234 Vgl. Ivan Sarandev: V sveta na „Staroplaninski legendi" (In der Welt der „Balkanlegenden). Sofija 1980, S. 34. 235 Vgl. Schibil. I n : Jordan J o v k o v : Ausgewählte Erzählungen. Sofija 1965, S. 116 - hier periphrasiert wiedergegeben. 236 Ebenda, S. 107. 237 Vgl. Ljudmila Parapulova: Jordan Jovkov i bälgarskijat folklor (Jordan Jowkow und die bulgarische Folklore). In: L M 19 (1965) 4, S. 34. 238 Vgl. Iskra Panova: „Muzikata" na cjaloto (Die „Musik" des
Ganzen).
I n : L M 10 (1966) 5, S. 76. 239 Vgl. Indshe. I n : Jordan Jovkov: Ausgewählte Erzählungen. Sofija
1965,
S. 136. 240 Vgl. ebenda, S. 135. 241 Vgl. Svetla Gjurova:
Minaloto v „Staroplaninski legendi". I n : Jordan
Jovkov 1 8 8 0 - 1 9 8 0 . Novi izsledvanija. Sofija 1982, S. 62. 242 Vgl. Ljudmila Parapulova:
Jordan
Jovkov i bälgarskijat
folklor.
In:
L M 19 (1965) 4, S. 38. 243 Iskra Panova: „Muzikata" na cjaloto. I n : L M 10 (1966) 5, S. 94. 244 Vgl. ebenda. 245 Vgl. Jochen Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Opladen 1978, S. 28. 2 4 6 Jordan Jovkov: Ausgewählte Erzählungen. Sofija 1965, S. 16. 247 Ivan Mesekov: Jordan Jovkov -
romantik realist. Sofija 1947, S. 199.
248 Vgl. Iskra Panova: Chudoznikät na vidimija svjat (Ein Maler der sichtbaren Welt). I n : L M 10 (1966) 6, S. 72. 249 Vgl. Iskra Panova: „Muzikata" na cjaloto. I n : L M 10 (1966) 5, S. 86. 2 5 0 Vgl. Anm. 136. 251 Vgl. Dobrin Dobrev:
Za ciklicnostta v tvorcestvoto na Jovkov
(Die
Zyklen im Schaffen Jowkows). I n : Ezik i literatura (1983) 2, S. 7 2 - 7 8 . 252 D a ß Jowkow dies ganz bewußt tat, weil er der Meinung war, Adjektive paßten nicht zu seiner Art, die Wirklichkeit künstlerisch zu reflektieren (d. h. zu dem von ihm angestrebten „neutralen" Erzählen), davon zeugen seine
Äußerungen,
die
Spiridon
Kasandshiew
festgehalten
hat.
Vgl.
Spiridon Kazendziev: Sresti i razgovori s Jordan Jovkov. Sofija 1960, S. 73.
326
253 Ebenda, S. 40. 254 Bezeichnung für die frühe sozialistische Lyrik in Bulgarien, die sich lediglich als Dichtung der Arbeiterklasse verstand und artikulierte. 255 Vgl. Dobri Witschew: Parteilichkeit und Traditionsverhältnis. Das lyrische Schaffen Christo Smirnenskis Anfang der 20er Jahre. In : Literaturen europäischer sozialistischer Länder. Universeller Charakter und nationale Eigenart sozialistischer Literatur. Berlin 1975, S. 8 6 - 1 0 5 , sowie Tontscho Shetschew: Nikola Furnadshiew. In: Literatur Bulgariens 1944 bis 1980. Einzeldarstellungen. Berlin 1981, S. 112-128. 256 Vgl. Anm. 113. 257 Vgl. S. 166-167 dieses Bandes. 258 Näheres über den Bund in : Wassil Kolewski : Der „Bund der Schriftsteller des Arbeitskampfes" in Bulgarien. In: Weimarer Beiträge 22 (1976) 2, S. 63-76. 259 Vgl. Dobri Witschew: Nikola Wapzarow. In: Literatur Bulgariens 1944 bis 1980. Einzeldarstellungen. Berlin 1981, S. 151-162. 260 Die Zäsur ist mit dem Staatsstreich vom 15. 5. 1934 verbunden, der die Reste von Demokratie beseitigte und die Errichtung einer offenen monarchofaschistischen Diktatur im Jahre 1935 vorbereitete. Von nun an wurden die Regierungen unter dem Diktat des Hofes gebildet und setzten sich aus nicht parteigebundenen Politikern zusammen. 261 Vgl. Georgi Bakalow: Gegen den Menschewismus in der Literaturwissenschaft. In: Dimow/Witschew, S. 213. 262 Vgl. ebenda, S. 193. 263 Vgl. Georgi Dimow: Einleitung. In: Ebenda, S. 30-40. 264 Wladimir Topentscharow : „Auf Wache". Erzählungen von Georgi Karaslawow. In: Ebenda, S. 248. 265 Ebenda, S. 249. 266 Zit. nach Vasil Kolevski: RLF, borec za partijna literaturà (RLF, ein Kämpfer für Parteiliteratur). Sofija 1964, S. 108. 267 Geschichte der deutschen Literatur. Hg. v. Hans-Günther Thalheim, G. Albrecht, K. Böttcher u . a . Bd. 10: 1917 bis 1945. Berlin 1973, S. 301. 268 Christo Radewski: Der Kampf um künstlerische Qualität an unserer Literaturfront. In: Dimow/Witschew, S. 242. 269 Ebenda, S. 243. 270 Ebenda. 271 Vgl. Georgi Karaslawow: Über „gewöhnliche Leute" (Gesprächspartner: Dobri Witschew). In: Verteidigung, S. 636. 272 Ebenda. 273 Vgl. Elka Konstantinova : Beletristikata na Georgi Karaslavov prez tridesette godini (Georgi Karaslawows Belletristik in den dreißiger Jahren). In: Septemvri 24 (1971) 4, S. 229. 274 Zit. nach ebenda.
327
275 Mitte/Ende der zwanziger Jahre machten sich in der KPC opportunistische Tendenzen breit. Auf dem V. Parteitag im November 1929 (Wahl Klement Gottwalds zum Generalsekretär) siegte die revolutionäre Richtung gegen Opportunismus und Renegatentum. 276 Vgl. S. 54 dieses Bandes. 277 Georgi Karaslavov: Sporzilov (Sporilov). In: Izbrani proizvedenija (Ausgewählte Werke). Bd. 10. Plovdiv 1979, S. 59. 278 Vgl. S. 57 dieses Bandes. 279 Stefan Kolarov: Georgi Karaslavov i negovijat svjat (Georgi Karaslawow und seine Welt). Plovdiv 1984, S. 10. 280 Georgi Karaslavov: Sporzilov. In: Izbrani proizvedenija . . S . 91. 281 Zu den relativ wenigen Arbeiten, in denen auf Sporilov etwas näher eingegangen wird, zählt die Monographie des Leningrader Bulgaristen W. D. Andreew über das Schaffen Karaslawows. Vgl. V. Andreev: Georgij Karaslavov. Kritiko-biograficeskij ocerk. Leningrad 1972, S. 4 2 - 4 8 . 282 Vgl. R L F , Nr. 58 v. 17. 9 . 1 9 3 1 . 283 Vgl. Wladimir Topentscharow: „Auf Wache". Erzählungen von Georgi Karaslawow. In: Dimow/Witschew, S. 247. 284 Vgl. ebenda. 285 Vgl. ebenda, S. 249. 286 Vgl. Iwan Chadshidimow: Noch etwas über die Erzählungen von Genossen G. Karaslawow. In: Ebenda, S. 2 4 9 - 2 5 0 . 287 Ebenda, S. 251. 288 Ebenda. 289 Georgi Karaslawow: Über „gewöhnliche Leute". In: Verteidigung, S. 635 bis 636. 290 Vgl. Simeon Sultanov: Kogato preprocitach „Tatul" i „Snacha" (Als ich „Stechapfel" und „Die Schwiegertochter" wieder las). In: Septemvri 29 (1976) 11, S. 110. 291 Z. B. Veranschaulichung der Auswirkungen des Milieus nicht an Trägern von sozialen Grundkonflikten, sondern an Außenseiterexistenzen, dabei meist Liebes- und Sexualkonflikte im Vordergrund, oder aber Versuche „tiefenpsychologischer" Auslotung krankhafter seelischer Zustände, isoliert von deren sozialen Ursachen. 292 Vgl. den Roman Oberleutnant Benz von D . Dimow. Näheres darüber in: Dietmar Endler: Dimitar Dimow. In: Literatur Bulgariens 1944 bis 1980. Berlin 1981, S. 2 5 4 - 2 5 5 . 293 Georgi Karaslawow: Stechapfel. Berlin 1964, S. 1 3 4 - 1 3 5 . 294 Vgl. Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. Göttingen 1979,' S. 254. 295 Stefan Kolarov: Georgi Karaslavov i negovijat svjat (Georgi Karaslawow und seine Welt). Plovdiv 1984, S. 39. 296 Vgl. Karl Gutschmidt: Nachwort. In: Georgi Karaslawow: Stechapfel. Berlin 1964, S. 335.
328
297 Eduard Bayer: Georgi Karaslawow: I n : Literatur Bulgariens 1944
bis
1980. Berlin 1981, S. 181. 298 In einem
seiner letzten Interviews von 1979 äußerte Karaslawow die
Meinung, daß ein Typ wie Jurtalana - würde er unter den Bedingungen des sozialistischen Dorfes in Bulgarien nach 1944 leben -
„evolvieren"
und sich
Vgl.
sogar zum „Leitungskader"
entwickeln
könnte.
Stefan
Kolarov: Georgi Karaslavov i negovijat svjat. Plovdiv 1984, S. 134. 299 Vgl. Georgi Canev: Georgi Karaslavov, „Tatul". I n : Izkustvo i kritika (1939) 5, S. 2 6 4 - 2 6 5 . 300 Vgl. die Ausführungen über Peter Jilemnickys Beitrag zur slowakischen sozialistischen Epikentwicklung in: Ludwig Richter: Slowakische Literatur. Entwicklungstrends vom Vormärz bis zur Gegenwart. Berlin
1979,
S. 7 9 - 8 5 (Literatur und Gesellschaft). 301 Vgl. Ingeborg Münz-Koenen: Einleitung. I n : Literarisches Leben in der D D R 1945 bis 1960. Literaturkonzepte und Leseprogramme. Berlin 1979, S. 15 (Literatur und Gesellschaft) und Ingeborg Münz-Koenen/Heinrich Olschowsky/Ludwig Richter: Rückschau auf die eigene Geschichte. Internationale Erfahrungen aus Literaturen europäischer sozialistischer Länder 1 9 4 4 / 4 5 - 1 9 6 0 / 1 9 6 3 . I n : Zeitschrift für Slawistik 2 9 (1984) 5, S. 653. 302 Vgl. Simeon Janev: Tendencii v sävremennata proza (Tendenzen in der Gegenwartsprosa). Sofija 1977, S. 50. 303 Ebenda, S. 5 1 - 5 5 . 304 Vgl. Bojan Nicev: Sävremennijat bälgarski roman. Käm istorija i teorija na epicnoto v sävremennata bälgarska chudozestvena proza (Der gegenwärtige bulgarische Roman. Zur Geschichte und Theorie des Epischen in der gegenwärtigen bulgarischen schöngeistigen Prosa). Sofija 1978, S. 78. 305 Tonco Zecev: Devati septemvri i razvitieto na bälgarskija roman (Der Neunte September und die Entwicklung des bulgarischen Romans).
In:
L M 18 (1974) 4, S. 13. 306 Rezoljucija po marksistko-leninskata prosveta i borbata na ideologiceskija front
(Resolution über marxistisch-leninistische Bildung und den Kampf
an der ideologischen Front). I n : Rabotnicesko delo, Nr. 307 v. 27. 12. 1948. 307 Stojan Karolev: Za socialisticeski
realizäm v literaturata
(Über
sozia-
listischen Realismus in der Literatur). I n : Ebenda, Nr. 297 v. 17. 12. 1948. 308 Vgl.
Pantelej
Zarev:
Bälgarska
literatura.
Problemi
na
razvitieto
i
(Bulgarische Literatur. Probleme ihrer Entwicklung). Sofija 1950, S. 4 9 7 , wo der Autor meint,
daß mit diesen Schriftstellern
„der Verfall des
Realismus" in der bürgerlichen Literatur begonnen habe. 309 Vgl. Christo Radevski: Tvorceski postizenija i nedostatäci na literaturata ni prez 1949 godina (Schöpferische Errungenschaften und Unzulänglichkeiten unserer Literatur im Jahre 1949). I n : L F Nr. 41 v. 15. 6. 1950, S. 5. 310 Vgl. Pantelej Zarev: Bälgarska literatura. Problemi na razvitieto i (Bulgarische Literatur. Probleme ihrer Entwicklung). Sofija 1950, S. 527.
329
311 Vgl. S. 165-171 in diesem Band. 312 Tonco Zecev: Deveti septemvri i razvitieto na bälgarskija roman (Der Neunte September und die Entwicklung des bulgarischen Romans). I n : LM 18 (1974) 4, S. 12. 313 Vgl. Tonco Zecev: Literatura i obstestvo (Literatur und Gesellschaft). Sofija 1976, S. 63. 314 Penco Dancev: Väprosi na literaturata i izkustvoto (Fragen der Literatur und der Kunst). Sofija 1955, S. 143. 315 Pantelej Zarev: Bälgarska literatura. Problemi na razvitieto i (Bulgarische Literatur. Probleme ihrer Entwicklung). Sofija 1950, S. 842. 316 Zit. nach: Vasil Kolevski: Literatura na svobodata (Literatur der Freiheit). Sofija 1969, S. 144-145. 317 D a s gilt auch für die bulgarische sozialistische Literatur, die - wie am Werk G. Karaslawows exemplifiziert wurde - rein thematisch gesehen bis 1944 vorwiegend eine Dorfliteratur war. Eine Ausnahme ist das Werk Nikola Wapzarows (1909-1942), und der war ein Lyriker! 318 Vgl. Jako Molochov: Sästojanie i zadäci na nasata beletristika (Zustand und Aufgaben unserer Belletristik). In: LF Nr. 48 v. 26. 11. 1953, S. 2. 319 Nikolaj Tichonov: Sävremennata progresivna svetovna literatura (Die zeitgenössische progressive Weltliteratur). In: LF, Nr. 1 vom 6. 1. 1955, S. 3. 320 D a s trifft vor allem auf die ersten drei Teile der Tetralogie zu, die bis 1954 entstanden sind. Der letzte, erst 1964 abgeschlossene Teil ist weniger breit angelegt. Agierten in den ersten Teilen mehrere Hauptfiguren, so rückte der Autor hier eine einzige Gestalt in den Mittelpunkt der Handlung. 321 Vgl. Andrej Guljaski: Za pälnoceflna beletristicna tvorba (Vom vollwertigen belletristischen Werk). In: LF, Nr. 48 v. 28. 11. 1953, S. 3. 322 Vgl. die Studie über G. Karaslawow in diesem Band. 323 Vgl. ebenda. 324 Georgi Karaslawow: Über „Gewöhnliche Leute". In: Verteidigung, S. 638. 325 Nach seinen eigenen Äußerungen hat Karaslawow nicht nur die gesamte ökonomische und politische Entwicklung Bulgariens zwischen den beiden Weltkriegen gründlich studiert, sondern auch reiches autobiographisches Material genutzt sowie die Ergebnisse aus der Befragung von mehr als 500 Personen, die Zeugen der geschilderten Ereignisse gewesen sind. 326 Dostojewski, Block, Brjussow und Jessenin gehörten zu den wenigen bedeutenden russischen und sowjetischen Autoren, die in der Übergangsperiode in Bulgarien nicht rezipiert wurden. 327 Dimow brauchte Jahre, ehe er zu dieser Überzeugung kam, die in auffälliger Korrespondenz mit Karaslawows Menschenbild in dessen „Dorfromanen" vor 1944 steht. Seine Affinität zu Dostojewski rührte noch aus der Zeit, als er sich für Freuds Tiefenpsychologie begeisterte. Ihn sprachen Dostojewskis außergewöhnliche, unbeugsame, kompromißlose und
330
zugleich psychisch labile, unausgeglichene, von Leidenschaften und unlösbaren Konflikten innerlich zerrissene Figuren in ihrer s p e z i f i s c h ä s t h e t i s c h e n Qualität besonders an. Weitgehend nach ihrem Muster schuf er auch seine Hauptfiguren in Oberleutnant Benz. Suchte er aber damals mit Freuds Hilfe hinter das Geheimnis ihrer Disharmonie zu kommen, so gelangte er (über die in Verdammte Seelen vorgenommene Korrektur) in Tabak zur Erkenntnis von der ausschlaggebenden Bedeutung der konkreten sozial-historischen Wirklichkeit für die „Krankheit der Seele" als ein Ursache-Wirkung-Verhältnis. 328 Bevorzugte Form dafür ist in Tabak die Einbeziehung des realen Geschehens in den Dialog der Figuren, seltener in ihre gedanklichen Reflexionen. Oft läßt der Autor die Helden direkt an den geschichtlichen Ereignissen teilnehmen, und der Leser kann das Geschehen aus ihrer Perspektive nachvollziehen. 329 Es sind nicht allein bulgarische Partisanenformationen, die in Tabak gegen die deutschen Truppen in Aktion treten. Dimow hat auch Episoden eingefügt (z. B. Aktionen der von der griechischen KP organisierten „roten Truppen" in den okkupierten Mittelmeerregionen), die die Vorgänge in Bulgarien als einen Teil des weltweiten Kampfes gegen den Faschismus verdeutlichen. 330 Vgl. Pantelej Zarev: Za pälna pobeda nad antirealisticnite vlijanija (Für einen vollen Sieg über die antirealistischen Einflüsse). In: LF, Nr. 10 v. 6. 3. 1952, S. 3. 331 Vgl. Za romana „Tjutjun" i negovite zlopolucni kritici (Über den Roman „Tabak" und seine unglückseligen Kritiker). In: Rabotnicesko delo, Nr. 76 v. 16. 3.1952. 332 Dimow legte 1953 eine zweite Fassung des Romans vor, in der er dem allgemeinen Wunsch des Publikums und der Kritik nachkam, den zweiten Hauptstrang in seinem Werk, den von der BKP geführten organisierten Kampf gegen den Kapitalismus und Faschismus, stärker herauszuarbeiten. Relativ nahtlos fügte er seinem Romanepos über 200 Seiten neuen Text hinzu, in dem er die Gestalt von Pawel, dem älteren Bruder von Boris Morew, zur Figur eines Kommunisten ausbaute, die Tabaksarbeiterin Lila als Kontrastfigur zu Irina einführte und an ihrem Entwicklungsweg die dramatischen innerparteilichen Kämpfe um die Überwindung des Linksradikalismus in der BKP in den dreißiger Jahren veranschaulichte. 333 Vgl. Dmitri Satonski: Der Roman und das 20. Jahrhundert. Berlin 1978. 334 Näheres dazu in: Dobri Witschew: Einleitung. In: Literatur Bulgariens 1944 bis 1980. Einzeldarstellungen. Berlin 1981, S. 51-52. 335 Das Aprilplenum des ZK der BKP im Jahre 1956, das zwei Jahre vor dem Abschluß der Übergangsperiode stattfand, gilt in Bulgarien als die eigentliche Zäsur bei der Periodisierung des Literaturprozesses. Seine Bedeutung ergibt sich aus dem Umstand, daß es die Auswirkungen des Personenkults auf Partei und Gesellschaft kritisierte und sehr günstige 331
kulturpolitische Bedingungen schuf, um Schematismus und Dogmatismus in Literaturkritik und -praxis zu überwinden. 336 Vgl. E v a Kaufmann: Sozialismus, Arbeit, Persönlichkeit. I n : E v a Kaufmann/Hans Kaufmann: Erwartung und Angebot.
Studien zum gegen-
wärtigen Verhältnis von Literatur und Gesellschaft in der D D R . Berlin 1975, S. 1 2 5 - 1 2 7 (Literatur und Gesellschaft). 337 Vgl. Krastjo Kujumdziev:
Fenomenät
Radickov
(Das Phänomen
Ra-
ditschkow). I n : L M 21 (1977) 1, S. 10. 338 Vgl. Cavdar Dobrev: Sävremennost i proza. Ivajlo Petrov
(Gegenwart
und Prosa. Iwailo Petrow). I n : Vreme i tvorci (Zeit und Schöpfer). Sofija 1976, S. 110. 3 3 9 Razgovor s pisatelja Pavel Vezinov (Gespräch mit Pawel Weshinow). I n : Septemvri 27 (1974) 1, S. 95.
dem
Schriftsteller
340 Ebenda, S. 92. 341 Der Zirkel, in dem der Nachwuchs für die bulgarische antifaschistische Literatur erzogen
und gefördert wurde, existierte zwischen
1933
und
1941. Ihm gehörten etwa sechzig junge Autoren an, außer den im Text genannten z . B . auch Bogomil Rainow (1919), Krum Welkow (1902 bis 1960), Emil Manow
(1918-1982),
Pantelej Sarew
(1911)
und Iwan
Rush (1909). 342 Bei der Beurteilung des Romans aus heutiger Sicht darf natürlich nicht vergessen werden, daß er bereits 1943 veröffentlicht werden sollte, als im Lande eine durch den Krieg verschärfte monarchofaschistische Diktatur herrschte.
Für alle fortschrittlichen Schriftsteller galt
es damals, Um-
wege zu suchen, äsopische Darstellungsweisen anzuwenden, ja sogar offen Kompromisse einzugehen, damit ihre Bücher die Zensur überwinden und den Leser erreichen konnten. 343 Vgl. S. 2 2 1 - 2 2 2 dieses Bandes. 344 Das Werk zählt zu den sogenannten „Produktionsromanen" der frühen fünfziger Jahre, in denen der Mensch als Hauptgegenstand der Gestaltung durch
Beschreibung
von
Produktionsprozessen
verdrängt
wurde.
Vgl.
S. 232 dieses Bandes. 345 Vgl. Sabina Beljaeva: Preobrazenijata na geroja (Die Verwandlungen des Helden). Sofija 1977, S. 15, 18. 346 Vgl. Katja Janeva: Antifasistkata tematika v tvorcestvoto na Pavel Vezinov (Die antifaschistische Thematik im Schaffen von Pawel Weshinow). I n : L M 13 (1969) 4, S. 1 4 8 - 1 5 0 . 347 Das Äußerste an Kraft. Interview mit dem bulgarischen
Schriftsteller
Pawel Weshinow. I n : Sonntag 16/1977, S. 10. 348 Vgl. ebenda. 349 Näheres zur Genrespezifik dieser Werke ist auf S. 2 7 9 - 2 8 2 dieses Bandes ausgeführt. 3 5 0 Vgl.
Adelheid
Latchinian:
Erkundung
des
Fragen der Gestaltung in der zeitgenössischen
332
Erzählens.
Zu
einigen
sowjetischen und D D R -
Epik. In: Literatur und Geschichtsbewußtsein. Entwicklungstendenzen der DDR-Literatur in den sechziger und siebziger Jahren. Berlin - Weimar 1976, S. 205. 351 Vgl. Dieter Schlenstedt: Wirkungsästhetische Analysen. Poetologie und Prosa in der neueren DDR-Literatur. Berlin 1979, S. 259 (Literatur und Gesellschaft). 352 Diese Bezeichnung benutzte Weshinow selbst. Vgl. Dobri Witschew: Interview mit Pawel Weshinow. In: Weimarer Beiträge 26 (1980) 7, S. 67. 353 Auskunft über solche Werke in der bulgarischen Gegenwartsliteratur gibt Elena Luther in einem Artikel, der in der Zeitschrift für Slawistik 26 (1981) 5, S. 7 3 0 - 7 3 5 veröffentlicht wurde. 354 Das gilt vor allem für die DDR-Literaturwissenschaft, während in anderen Ländern, wie z. B. in der Sowjetunion, in der B R D , in der VR Polen oder in den USA, bereits bedeutende Untersuchungen vorliegen, die allerdings sehr unterschiedlich an das Objekt herangehen. Vgl. z. B. Jörg Hienger: Literarische Zukunftsphantastik. Göttingen 1972, und Juli Kagarlizki: Was ist Phantastik? Berlin 1979. 355 Vgl. Manfred Nagl: Science Fiction in Deutschland. Untersuchungen zur Genese, Soziographie und Ideologie der phantastischen Massenliteratur. Tübingen 1972. 356 Man denke nur an Utopia (1516) von Thomas Morus, Der Sonnenstaat (1623) von Tommaso Campanella, Die Zeitmaschine (1895) von Herbert George Wells oder an Fahrenheit 451 (1953) von Ray Douglas Bradbury, Solaris (1961) von Stanislaw Lern, Fluchtversuch (1962) von Arkadij und Boris Strugazki. 357 Bezeichnend dafür sind z. B. die Überlegungen von Anna Seghers in der Erzählung Die Reisebegegnung (1972), in der sie Geträumtes auch zur Wirklichkeit zählt und dementsprechend die Träume als Form der Realität ebenso als „wahr" und „wirklich" gelten läßt wie das Sichtbare und Greifbare. Vgl. Anna Seghers: Sonderbare Begegnungen. Berlin 1973, S. 118-119. 358 In Bulgarien werden diese Formen in Anlehnung an die sowjetische Literaturwissenschaft als „uslovni" („bedingte") gefaßt - eine Sammelbezeichnung für alle Verfahren, die Realität nicht „in den Formen des Lebens selbst" widerspiegeln. 359 Vgl. Veröffentlichungen wie: Dmitrij F. Markov: Istoriceski otvorena sistema za pravdivo izobrazenie na zivota (Ein historisch offenes System für wahrhaftige Gestaltung des Lebens), in: LM 21 (1977) 5, S. 2 7 - 5 0 . 360 Dazu neigte z. B. G. Markow bei der Bewertung von Die weiße Eidechse. Vgl. G. Markov: Die sittliche Problematik in der zeitgenössischen bulgarischen Prosa. In: Wiss. Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig, Gesellschafts- und Sprachwiss. Reihe 28 (1979) 4, S. 382. 361 Vergleichbar mit der DDR-„Ankunftsliteratur" der sechziger Jahre, z. B. mit Brigitte Reimanns Erzählung Ankunft im Alltag (1961).
333
362 Vgl. Christo Stefanov: Pogledi kam sävremennata proza i poezija (Blicke auf die zeitgenössische Prosa und Lyrik). Sofija 1979, S. 142. 363 Veröffentlicht in: Erkundungen. 18 bulgarische Erzähler. Berlin 1974. 364 Vgl. Abendgespräch mit dem Regen (1973), Weißes Pferd am Fenster (1975) u. a. 365 Vgl. vor allem Elegie der toten Tage (1976), Dieses seltsame Handwerk (1976) und Der dritte Weg (1976). 366 Vgl. Dragan Nicev: Nopriemliv Hitär Petar (Ein unannehmbarer schlauer Peter). In: Plamäk 24 (1980) 1, S. 173. 367 Näheres über den Roman S. 2 6 6 - 2 6 9 dieses Bandes. 368 Vgl. Biografija na edna kniga. Razgovor s Pavel Vezinov (Biographie eines Buches. Gespräch mit Pawel Weshinow). In: Plamäk 27 (1983) 3, S. 107. 369 Vgl. Hans Kaufmann: Veränderte Literaturlandschaft. In: Weimarer Beiträge 27 (1981) 3, S. 40. 370 Näheres über den Roman bei Elena Nährljch-Slatewa: Blaga Dimitrowa: Die Lawine. In: Ebenda 30 (1984) 3, S. 476-485. 371 372 373 374
Näheres dazu S. 2 6 6 - 2 6 8 des Bandes. Vgl. die Studie über Pawel Weshinow in diesem Band. Vgl. S. 284 dieses Bandes. Vgl. Dieter Schlenstedt: Wirkungsästhetische Analysen. Poetologie und Prosa in der neueren DDR-Literatur. Berlin 1979, S. 293 (Literatur und Gesellschaft).
375 Vgl. z. B. Simeon Chadzikosev: Dostojna za narodnite väzdelenija (Würdig für die Bestrebungen des Volkes). In: LF, Nr. 37 vom 15. 9. 1983, S. 3. 376 Vgl. Elka Konstantinova: Za osmisljane na tvorceskija eksperiment (Für eine Sinngebung des schöpferischen Experiments). I n : LF, Nr. 26 vom 27. 6.1985, S. 2. 377 Ein Beleg d a f ü r : 1984 erschienen in Bulgarien insgesamt 27 Romane in erster Auflage. 19 davon enthielten Gegenwartsthematik, 2 griffen auf Material der Übergangsperiode zurück und 6 behandelten historische Stoffe.
334
Zeittafel 1762-1971
Die Zeittafel soll dem Leser helfen, die behandelten Werke besser in den nationalen Kontext einzuordnen. Die chronologische Übersicht über historische und kulturelle Ereignisse erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Das gilt besonders für die Angaben zur Literaturentwicklung. Hier werden neben einigen Gipfelleistungen vor allem Werke angeführt, die - unbeschadet ihrer ästhetischen Qualität - einen Neuwertcharakter haben bzw. für einen wichtigen Trend stehen.
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