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German Pages 332 Year 2019
Sarah Sandfort Bilder ohne Bildlichkeit?
Image | Band 153
Sarah Sandfort (Dr. phil.), geb. 1982, arbeitet in der Bildung und Vermittlung des Josef Albers Museum Quadrat Bottrop und ist als freiberufliche Kunsthistorikerin für verschiedene Bildungsinstitutionen tätig. Ihre Promotion erfolgte mit einem Stipendium des Cusanuswerks an der Ruhr-Universität Bochum.
Sarah Sandfort
Bilder ohne Bildlichkeit? Zur Produktion und Rezeption radiologischer Bilder
Von der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen im Jahre 2017.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © gmstockstudio/stock.adobe.com Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4748-8 PDF-ISBN 978-3-8394-4748-2 https://doi.org/10.14361/9783839447482 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
1
Bilder ohne Bildlichkeit? Thematisches Vorspiel | 7
1.1 Das Paradox des Bildes in der Radiologie | 11 1.2 Methodik und Aufbau der Arbeit | 16 1.3 Stand der Forschung | 23 2
Der Streit um Bildlichkeit: Einordnung im bildwissenschaftlichen Diskurs | 37
2.1 Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit als Spezifika des Bildes | 47 2.2 Thesen von Bildern ohne Bildlichkeit oder bildlosen Bildern | 51 2.3 Die Gegenüberstellung von Analog und Digital | 55 3
Die Radiologie als Bildkultur Eine historische Analyse | 59
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Das Ideal wissenschaftlicher Objektivität in der Medizin | 61 Einzug des Bildes in die medizinische Diagnostik | 65 Bilder des zerschnittenen Körpers | 85 Vorbedingungen und Entwicklungen digitaler Bildgebung | 94 Der Computer als ‚objektives‘ und bildgenerierendes Medium | 98
4
Neue digitale Bildgebungsverfahren der Radiologie | 107
4.1 Erste Schicht- und Schnittbilder: Computertomografie | 108 4.2 Weiterentwicklung digitaler Bildgebung: Magnetresonanztomografie | 137 4.3 Medizinische Informatik und Abbildtheorie | 156 5
Produktion von Computer- und Magnetresonanztomografien | 165
5.1 Radiologische Protokolle: Wirklichkeitskonstruktion | 170 5.2 Schritte der Bildproduktion | 178
6
Rezeption von Computer- und Magnetresonanztomografien | 201
6.1 Digitale Bilder und virtuelle Körper in der Medizin? | 208 6.2 Systematische Bildanalyse als Kern der Befundung | 214 Fazit 1: Vergleichendes Sehen als Methode in der Radiologie | 243 Fazit 2: Text-Bild-Beziehung in der Radiologie (Ekphrasis) | 262 7
Zusammenfassung und Ausblick | 281
Literaturverzeichnis | 293 Abbildungsnachweis | 329
1
Bilder ohne Bildlichkeit? Thematisches Vorspiel
Seit den 1990er Jahren wird in geistes- und naturwissenschaftlichen Disziplinen die Frage nach dem Bild, den Bildern und ihrer Bildlichkeit diskutiert. Die Kunstgeschichte nimmt in dieser Diskussion eine zentrale Position ein. Doch die bildwissenschaftlichen Bemühungen richten sich auf alle Bilder: Neben künstlerischen werden wissenschaftliche Bilder, Bilder der Werbung oder private und persönliche Bilder aufgegriffen und auf ihr Gemeinsames hin analysiert. Hervorzuheben sind dabei nicht nur die unterschiedlichen Bereiche, in denen Bilder eine Rolle spielen, sondern auch die technischen Veränderungen, die insbesondere durch das Digitale und die Einführung des Internets 1993 das Thema befeuerten. In diesem das Bildliche betreffende Konglomerat werden disziplinäre Grenzen überschritten. Besonders auffällig ist dabei die kunsthistorische Trennung zwischen künstlerischen und wissenschaftlichen Bildern, wie sie 2001 durch Gottfried Boehm auf die Losung von ‚starke versus schwache Bilder‘ gebracht wurde: In seinem Text Zwischen Auge und Hand. Bilder als Instrumente der Erkenntnis stellt er wissenschaftliche als ‚schwache‘ Bilder aufgrund ihrer Zweckgerichtetheit, ihrer Funktion und ihrer beabsichtigten Eindeutigkeit den ‚starken‘ künstlerischen Bildern gegenüber.1 Das Exempel statuiert er an bildgebenden Verfahren der Medizin und stellt den Bildstatus von Computer- und Magnetresonanztomografien in Frage, wenn es sich bei diesen Darstellungen des menschlichen Körpers letztlich um eine ‚Summe von Pixeln‘, um ein ‚ikonisches Konstrukt‘ handelt, das das Reale jedem direkten Blick verschließe.2 1
Vgl. Boehm, Gottfried: „Zwischen Auge und Hand. Bilder als Instrumente der Erkenntnis“, in: Bettina Heintz/Jörg Huber (Hg.), Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Wien/New York 2001, S. 4354, hier S. 52.
2
Vgl. ebd., S. 51.
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Boehms Formulierung ist paradigmatisch für einige, vorrangig kunsthistorische Positionen in der Diskussion um Bilder, die das künstlerische Einzelwerk oder das analoge Einzelbild in der Analyse präferieren.3 So schüren die Möglichkeiten digitaler Erzeugung und Bearbeitung von Bildern Zweifel an der Referenz des Bildes, wie Beat Wyss 2014 betont, und lassen den „Anspruch des Bildes auf visuelle Kronzeugenschaft“4 erlöschen. Dabei bezieht sich auch Wyss auf „computergenerierte Tomographien des menschlichen Körpers, die Karzinome darstellen“5 und als Kategorie fotografisch anmutender Bilder die Problematik von analog und digital unterstreichen. Digitalen Bildern wird seit den 1970er Jahren immer wieder ein prekärer Status im Sinne von „zweifelhaft, heikel und schwierig“ 6 zugeschrieben und sie werden mit dem Verdacht der Täuschung belegt. Dabei ist im Kontext der vorliegenden Studie nicht nur in Bezug auf digitale Bilder, sondern auch in Bezug auf Bilder der Medizin eine Marginalisierung hervorzuheben, wie sie in kunst- und bildwissenschaftlichen Publikationen häufig anzutreffen ist: So gelten (digitale) Computer- und Magnetresonanztomografien der Radiologie trotz interdisziplinärer Projekte7 als willkommene Beispiele für kunst- und bildwissenschaftliche Schilderungen einer digitalen Bildproduktion, die konstruierte Abbilder der Wirklichkeit erzeugt und deren Ergebnissen ein unangemessener Bilderglaube entgegengebracht wird.8 Für die Radiologie wird ein naives Bildverständnis konstatiert und
3
Vgl. zur Bevorzugung des Einzelbildes in der Kunstwissenschaft: Dunker, Bettina: Bilder-Plural. Multiple Bildformen in der Fotografie der Gegenwart, Paderborn 2018.
4
Wyss, Beat: „Die Wende zum Bild: Diskurs und Kritik“, in: Stephan Günzel/Dieter
5
Ebd.
6
Schneider, Birgit: „Wissenschaftsbilder zwischen digitaler Transformation und Mani-
Mersch (Hg.), Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2014, S. 7-15, hier S. 8.
pulation. Einige Anmerkungen zur Diskussion des ‚digitalen Bildes‘“, in: Martina Heßler/Dieter Mersch (Hg.), Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009, S. 188-200, Zitat S. 190, weitere Bezüge S. 198. 7
Zur Reflexion über das Bild oder die Bilder und die zunehmend interdisziplinären Auseinandersetzungen vgl. Fabris, Adriano/Lossi, Annamaria Lossi/Perone, Ugo: „Vorwort“, in: dies. (Hg.), Bild als Prozess. Neue Perspektiven einer Phänomenologie des Sehens, Würzburg: 2011, S. 7-9, hier S. 8. Beispiele für interdisziplinäre Forschungsgruppen sind die Projekte Das Technische Bild und Interdisziplinäres Labor Bild Wissen Gestaltung im Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik an der Humboldt-Universität zu Berlin.
8
Vgl. Schinzel, Britta: „Medizin/Radiologie“, in: S. Günzel/D. Mersch (Hg.), Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch (2014), S. 414-421, hier S. 419; und vgl. Belting, Hans:
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den Radiologen9 unterstellt, dass sie die Bilder nicht als Konstrukte, sondern als die Sache selbst betrachten.10 Der Bildstatus von Computer- und Magnetresonanztomografien wird grundsätzlich in Frage gestellt, wie unter Bezug auf Boehm schon angedeutet wurde. Weiteren Äußerungen Boehms zufolge sind Bilder, die nur der Vermittlung von Informationen dienen11 oder als Reproduktionen angesehen werden, mit einem ‚geringen Bildwert‘ ausgestattet und im „Sinne genuiner ikonischer Valenzen […] überhaupt keine Bilder, sondern Simulationen.“12 Nun lässt sich schon an der Bezeichnung bildgebende Verfahren 13 ablesen, dass es sich um Techniken handelt, die etwas – in der Radiologie: dem Inneren des menschlichen Körpers – im wortwörtlichen Sinne ‚ein Bild geben‘. Der Akt der Verbildlichung bringt diese Verfahren als essentielles Thema in die angesprochene, bildwissenschaftliche Diskussion, die sich spätestens seit der 1994 durch Boehm publizierten Anthologie Was ist ein Bild?14 auf Spezifika der Bilder, ihr
„Die Herausforderung der Bilder. Ein Plädoyer und eine Einführung“, in: ders. (Hg.), Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007, S. 11-23, hier S. 15. 9
Diese und andere Bezeichnungen, wie bspw. Radiologe, Mediziner oder Patient, werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht im geschlechtsspezifischen, sondern im generischen Sinne verwendet und schließen im Falle der Unbestimmtheit des Angesprochenen alle weiteren, geschlechtsspezifischen Formen mit ein.
10 Vgl. Bauer, Matthias/Ernst, Christoph: Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld, Bielefeld 2010, S. 261. 11 Vgl. Boehm, Gottfried: „Zu einer Hermeneutik des Bildes“, in: Hans-Georg Gadamer/ders. (Hg.), Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt a. M. 1978, S. 444-471, hier S. 463. 12 Boehm, Gottfried: „Vom Medium zum Bild“, in: Yvonne Spielmann/Gundolf Winter (Hg.), Bild – Medium – Kunst, München 1999, S. 165-177, hier S. 176. 13 Die Bezeichnung bildgebende Verfahren etablierte sich etwa um 1980. Vgl. Krestel, Erich (Hg.): Bildgebende Systeme für die medizinische Diagnostik. Grundlagen, Technik, Bildgüte, Berlin/München 1980, hier S. 44. 14 Vgl. Boehm, Gottfried (Hg.): Was ist ein Bild?, München 1994. Mit der gleichen Formulierung beginnt Hans Jonas 1973 das neunte Kapitel im Buch Homo Pictor. Der Mensch präsentiere sich als symbolisches Wesen, da er potentiell sprechend, denkend und erfindend ist. Jonas fragt, „was ein Bild ist, oder durch welche Eigenschaften ein Ding zum Bild eines anderen Dinges wird.“ Jonas, Hans: Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973, S. 228.
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Wesen oder ihre Ontologie bezieht.15 In besonderer Weise rückt die Bildlichkeit oder die Vielfalt der Bildlichkeit16 ins Zentrum der Überlegungen, um die Besonderheiten des Mediums zu erörtern. Die Kunsthistoriker Richard Hoppe-Sailer, Claus Volkenandt und Gundolf Winter sehen in den verschiedenen bildwissenschaftlichen Beiträgen einen Streit um Bilder und Bildlichkeit entfacht, der die Frage aufwirft, ob „jene, aus den klassischen Bildformen hervorgegangene Auffassung von Bildlichkeit für die Beschreibung und Bestimmung von Bildern ganz allgemein, vor allem aber der neuen und neuesten Medienbilder, überhaupt noch Gültigkeit beanspruchen“17 kann. Die im Titel der vorliegenden Studie gestellte Frage ‚Bilder ohne Bildlichkeit?‘ bezieht sich auf die geschilderte, kunsthistorische Ausgangslage bei der Untersuchung bestimmter, hier digitaler und radiologischer Bilder: Sind Computerund Magnetresonanztomografien der deutschsprachigen18 Radiologie Bilder ohne
15 Die folgende, nicht vollständige Auflistung belegt das Interesse an der Formulierung einer Bildwissenschaft und einer Ordnung der Bilder: Bergande, Wolfram/Netzwerk Bildphilosophie (Hg.): Bild und Methode. Theoretische Hintergründe und methodische Verfahren der Bildwissenschaft, Köln 2014; Günzel, Stephan/Mersch, Dieter (Hg.): Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2014; Pichler, Wolfram/Ubl, Ralph: Bildtheorie zur Einführung, Hamburg 2014; Rimmele, Marius u. a. (Hg.): Bildwissenschaft und Visual Culture, Bielefeld 2014; Hornuff, Daniel: Bildwissenschaft im Widerstreit. Belting, Boehm, Bredekamp, Burda, München 2012; Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, Paderborn 2011; Frank, Gustav/ Lange, Barbara: Einführung in die Bildwissenschaft, 2010; Hemingway, Andrew/ Schneider, Norbert (Hg.): Schwerpunkt: Bildwissenschaft und Visual Culture Studies in der Diskussion (= Kunst und Politik, Bd. 10), Göttingen 2008; Reichle, Ingeborg/Siegel, Steffen/Spelten, Achim (Hg.): Verwandte Bilder. Die Fragen der Bildwissenschaft, Berlin 2007; Sachs-Hombach, Klaus (Hg.): Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt a. M. 2005; Schulz, Martin: Ordnungen der Bilder. Eine Einführung in die Bildwissenschaft, Paderborn 2005. 16 Vgl. G. Frank/B. Lange: Einführung in die Bildwissenschaft, S. 40. 17 Hoppe-Sailer, Richard/Volkenandt, Claus/Winter, Gundolf: „Logik der Bilder. Präsenz – Repräsentation – Erkenntnis“, in: dies. (Hg.), Logik der Bilder. Präsenz – Repräsentation – Erkenntnis, Berlin 2005, S. 9-14, hier S. 9. 18 Die Bedingungen radiologischer Arbeit unterscheiden sich je nach Sprachraum und Landesgrenzen in Bezug auf die Benennungen und Definitionen von Krankheiten sowie auf die technische Ausstattung. Dabei ist für den ‚Westen‘ (hier gemeint: Nordamerika und Europa) ein Vergleich der radiologischen Disziplin bisher nicht durchgeführt worden. Der Mediensoziologe Amid Prasad hat diesen Vergleich für die MRT in den USA,
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Bildlichkeit? Ist diesen Bildern aufgrund ihrer Digitalität und ihrer Zweckgerichtetheit (Reproduktion des menschlichen Körpers) das Bildsein sogar abzusprechen? Ich werde im Folgenden zeigen, dass es sich bei Computer- und Magnetresonanztomografien durchaus um Bilder mit Bildlichkeit handelt und dass diese Bildlichkeit nicht nur in bildwissenschaftlichen Disziplinen, sondern in der Radiologie selbst thematisiert und diskutiert wird.
1.1 DAS PARADOX DES BILDES IN DER RADIOLOGIE Die digitalen bildgebenden Verfahren Computer- und Magnetresonanztomografie gelten seit den 1970er und 1980er Jahren als Meilensteine der medizinischen Diagnostik und als Zeichen des medizinischen Fortschritts. Im Anschluss an die Röntgentechnik ermöglichen mit diesen Verfahren erstellte Schnitt- oder Schichtbilder einen ‚Blick in den Körper‘ 19 und damit bahnbrechende Ergebnisse in Bezug auf das Erkennen und anschließende Behandeln von Krankheiten als essentielle Bestandteile medizinischer Arbeit. Der Fortschritt der Technik geht scheinbar mit einem Fortschritt der Erkenntnisse über den lebendigen Körper einher und steht in der Medizin20 für Leben verlängernde, Leiden lindernde und Lebensqualität verbessernde Entwicklungen.21 Allerdings verdeckt die Redewendung des
Großbritannien und Indien erstellt und wissenschaftshistorische Ansätze erstmals um eine postkoloniale bzw. transnationale Perspektive erweitert. Vgl. Prasad, Amit: Imperial Technoscience. Transnational Histories of MRI in the United States, Britain, and India, Cambridge/London 2014. 19 Dieser Ausdruck wird häufiger in medien- und kulturwissenschaftlicher als medizinischer Literatur verwendet; als Ausnahme aus der Nuklearmedizin vgl. Beer, Ambros u. a.: „Neue Blicke in den Körper“, in: forschung. Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft 36/S1 (2011), S. 30-35. 20 Die vorliegende Studie berücksichtigt, dass es die Medizin nicht gibt; sie bezieht sich allerdings auf den zeitgenössischen Hauptzweig klinisch-medizinischer Tätigkeit und Versorgung und schließt alternative Ansätze (Homöopathie etc.) nicht ein. 21 Insbesondere aus medizinethischer Sicht und vorrangig im Bereich der Sterbehilfe wird dieser (technische) Fortschritt ambivalent diskutiert, da er parallel ebenfalls zu verlängertem Leiden oder verschlechterter Lebensqualität führen kann. Vgl. Baumann-Hölzle, Ruth: „Ethische Entscheidungsfindung in der Intensivmedizin“, in: dies. u. a. (Hg.), Leben um jeden Preis? Entscheidungsfindung in der Intensivmedizin, Bern u. a. 2004, S. 117-146, hier S. 117.
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Blicks in den Körper, dass bildgebende Verfahren letztlich keinen Einblick in einen individuellen Patientenkörper ermöglichen, sondern dessen Inneres zu einem bestimmten Zeitpunkt über hochkomplexe, technische Mess- und Visualisierungsvorgänge verbildlichen.22 Passend zu der hier aufgegriffenen Bilderfrage erstellte die Deutsche Röntgengesellschaft (DRG) 2011 die Informationsinitiative Medizin mit Durchblick,23 um das Leistungsspektrum der Radiologie vorzustellen und das Vertrauen in die radiologische Arbeit zu stärken. Nebenstehende Abbildung (Abb. 1) zeigt das Design der dazugehörigen Plakatreihe, auf dem eine magnetresonanztomografische Abbildung eines Gehirns zu sehen ist sowie die Überschrift: „Sie sehen eine Walnuss? Wir sehen einen Schlaganfall.“ Der erste Satz im Text darunter lautet: „Um Krankheiten zu erkennen, braucht man einen speziellen Blick.“ Die Begriffe Sehen und Blick verweisen in diesem Design auf die tägliche Arbeit deutscher Radiologen: Von einem Patienten wurde in einer bildgebenden Untersuchung eine Ansicht des Körperinneren (Gehirn) erzeugt, die anschließend in Praxis- oder Krankenhausräumen angeschaut wird.24 Über Betrachtung und Analyse der Abbildung erhoffen sich die Radiologen Informationen zum gesundheitlichen Zustand des der Bildgebung zugrunde liegenden Körpers und sie gelangen bestenfalls zu einer Aussage über Gesund- oder Krankheit des Patienten. Den Titel der Informationsinitiative aufgreifend, wollen die Radiologen die Bilder ‚durchblicken‘, um auf den menschlichen Körper zu schauen. Daneben macht das Werbedesign auf die Problematik der Bilddeutung aufmerksam: Sehen wir eine Walnuss oder einen Schlaganfall? Die Informationsinitiative führt zwei Extreme an: Auf der einen Seite steht die Deklaration Walnuss als höchstmögliche Fehldeutung oder fantasievolles Missverständnis der gezeigten Abbildung. Wie wahrscheinlich dieser Irrtum ist, lässt sich im Rahmen der vorliegenden Studie nur vermuten.
22 Vgl. H. Badakhshi: Körper in/aus Zahlen, S. 204. 23 Vgl. http://www.medizin-mit-durchblick.de und die Pressemitteilung der DRG vom 25.11.2011: Medizin mit Durchblick. Strahleneinsetzende Mediziner starten Informationsinitiative, S. 1, http://www.drg.de/media/document/1764/Pressemitteilung-Medi zin-mit-Durchblick-25112011.pdf vom 01.02.2019. 24 Auf der Internetseite findet sich dementsprechend die Visualisierung der tätigen Radiologen mit den jeweiligen Aufnahmen in der Hand als Hintergrundbild des Auftritts. Auch das hier gezeigte Design der Abbildung 1 wird mit der genannten Überschrift aufgegriffen.
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Abbildung 1: Werbeplakat der Deutschen Röntgen Gesellschaft (DRG)
© Deutsche Röntgen Gesellschaft
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Magnetresonanztomografien sind im deutschsprachigen Raum durchaus bekannt und verbreitet, und selbst Radiologen gehen grundsätzlich davon aus, dass Patienten um die medizinische Bildgebung wissen, auch wenn sie keine anatomischen Zuschreibungen vornehmen können.25 Die radiologische Initiative konstruiert für den Werbeauftritt also eine mögliche (und fehlerhafte) Laieninterpretation, der sie auf der anderen Seite die suggerierte ‚richtige‘ und radiologische Deutung der Abbildung als Schlaganfall gegenüberstellt. Damit treten die Radiologen als Expertenkultur auf, die über das notwendige Wissen und die Erfahrung verfügt, die Abbildung nicht nur als magnetresonanztomografisch produzierte Darstellung des menschlichen Gehirns einzuordnen, sondern darüber hinaus aufgrund der Verbildlichung Rückschlüsse auf den der bildgebenden Untersuchung zugrunde liegenden menschlichen Körper und seinen gesundheitlichen Zustand zu ziehen – sie haben den ‚Durchblick‘. Die angeführte Deutung Schlaganfall ist letztlich eine medizinische Diagnose: Der Schlaganfall gilt in der heutigen Medizin als häufigste neurologische Erkrankung und als dritthäufigste Todesursache in Deutschland und anderen westlichen Industrienationen.26 Die Radiologie als Spezialisierung der Medizin ist daran interessiert, den Schlaganfall möglichst schnell und zeitnah zu diagnostizieren, da nur bei rechtzeitiger Behandlung innerhalb der ersten drei bis maximal sechs Stunden wirkungsvolle Therapien zur Verfügung stehen.27 Im schlimmsten Fall verweist die Bildgebung die Radiologen prognostisch auf einen zerebral bedingten Kreislaufstillstand und somit auf den Hirntod. 28
25 So betont bspw. die Radioonkologin Judith M. Tanner, dass sie bei ihren Patienten keine anatomischen Kenntnisse bei der magnetresonanztomografischen Bildbetrachtung voraussetzen kann. Vgl. Tanner, Judith M.: „Sich ein Bild machen. Semiotik und Radiologie“, in: Der Radiologe 56/5 (2016), S. 438-439, hier S. 438. 26 Vgl. Ringelstein, E. Bernd/Nabavi, Darius G.: Der ischämische Schlaganfall. Eine praxisorientierte Darstellung von Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie (= Klinische Neurologie), Stuttgart 2007, S. 47; und vgl. Kühnle, Katrin/Schrader, Joachim: „Schlaganfall und Demenz“, in: Thomas Lenz (Hg.), Hypertonie in Klinik und Praxis, Stuttgart 2008, S. 218-236, hier S. 218. 27 Vgl. Schwab, Stefan/Hacke, Werner: „Editorial: Schlaganfallmanagement – Von der Notfallversorgung bis zur maßgeschneiderten Behandlung“, in: dies. (Hg.), Die Notfalltherapie und Intensivtherapie bei Schlaganfall, Berlin/Heidelberg 2003, S. 1-2, hier S. 1; und vgl. Jansen, Olav u. a.: „Neuroradiologie“, in: Günter W. Kauffmann/Ernst Moser/Rolf Sauer (Hg.), Radiologie (3), München u. a. ³2006, S. 463-489, hier S. 470. 28 Vgl. Mennel, Hans-Dieter: „Zentralnervensystem“, in: Carlos Thomas (Hg.), Spezielle Pathologie, Stuttgart/New York 1996, S. 1-41, hier S. 32.
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Aus einer kunst- und bildwissenschaftlichen Perspektive offenbart nun die für den Werbeauftritt gewählte Formulierung – Wir sehen einen Schlaganfall – eine Verkürzung: Dass es sich um eine Verbildlichung handelt, deren Produktion unter komplexen (mess-)technischen sowie biophysikalischen und -chemischen und zusätzlich soziokulturellen Bedingungen stattgefunden hat, wird unterschlagen. Die magnetresonanztomografisch konstruierte Darstellung wird mit dem Schlaganfall beziehungsweise mit seinem physischen Substrat gleichgesetzt, da es sich beim Schlaganfall laut medizinischer Theorie um physikalisch-neurologische Veränderungen im menschlichen Körper handelt. Der eben erwähnte, zerebral bedingte Kreislaufstillstand kündigt sich in den Bildern beispielsweise über eine hyperdense, das heißt, deutlich heller als ‚normal‘ dargestellte Hirnarterie an; derartige Veränderungen im menschlichen Körper werden in der Radiologie über computeroder magnetresonanztomografische Bildgebung sichtbar gemacht. Die verkürzte Formulierung belegt ein abbildhaftes Bildverständnis der Radiologie: Die Magnetresonanztomografie ist das Abbild des menschlichen Körpers und mit diesem gleichzusetzen. Radiologisch ist nicht von Bedeutung, dass eigentlich ein Bild betrachtet wird, denn die Aussage lautet: „Wir sehen einen Schlaganfall“ und nicht „Wir sehen das Bild eines Schlaganfalls“. Auf diese Weise wird nicht nur das Medium der Vermittlung – das Bild – negiert, sondern darüber hinaus auch seine Eigenschaften: seine Bildlichkeit. Berücksichtigt werden weder die Art und Weise der Darstellung noch die mit ihr einhergehenden Aspekte zu Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit. Insofern die beschriebene Verbildlichung des Schlaganfalls aber in der radiologischen Expertenkultur keineswegs eindeutig als solche zu identifizieren ist – Fehldeutungen belaufen sich laut medizinischen Studien auf bis zu 25 Prozent29 – werden Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit der Bilder deutlich. Aus Sicht der vorliegenden Untersuchung ist bemerkenswert, dass die Radiologie zwar an einer Bestimmbarkeit der Bilder interessiert ist und über bildliche Darstellungen im Hinblick auf einen individuellen Patienten Krankheiten benennen und klassifizieren, bestimmen und einordnen möchte, damit aber an den Spezifika der Bilder selbst scheitert. Bilder sind durch Unbestimmtheit gekennzeichnet und lassen sich nicht auf eindeutige (sprachliche) Begriffe zurückführen. Für Kategorisierungen
29 In der medizinischen Fachsprache handelt es sich um falsch-positive Schlaganfalldiagnosen, die insbesondere aufgrund des Zeitdrucks bei der Diagnose selbst bei erfahrenen Radiologen erhoben werden. Vgl. Bassetti, Claudio L./Hermann, Dirk M.: „Fallgruben in der klinischen Diagnostik“, in: Dirk M. Hermann/Thorsten Steiner/Hans-Christoph Diener (Hg.), Vaskuläre Neurologie. Zerebrale Ischämien, Hämorrhagien, Gefäßmissbildungen, Vaskulitiden und vaskuläre Demenz, Stuttgart 2010, S. 321-325, hier S. 321.
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und Klassifikationen sind sie in ihrer Besonderheit ungeeignet. Darüber hinaus sind Bilder nicht nur unbestimmt, sondern auch mehrdeutig: Je nach Betrachtungsweise, Kontext- und Vorwissen lassen sie verschiedene Deutungen und Interpretationen zu. Das Paradox des Bildes in der Radiologie zeigt sich nun darin, dass die Arbeit der Disziplin essentiell an Bilder – Bildbetrachtungen und -deutungen – gebunden ist, dieselben aber nie zu den erhofften, eindeutigen Ansichten und Aussagen führen, wie sie im Rahmen medizinischer Diagnose notwendig wären. Immer bleiben, wie die folgende Studie ausführlich darlegen wird, Unbestimmtheiten und Mehrdeutigkeiten, denen die Radiologie in ihrer disziplinären Geschichte verschiedentlich zu begegnen versucht. Da diese Eigenschaften jedoch Teil des Bildes selbst sind, wird keine Strategie diesen Umstand beheben – auch wenn der Radiologie Bilder ohne Bildlichkeit gelegener kämen, wird sie dieselben ebenso wenig erzeugen können, wie kunst- und bildwissenschaftliche Positionen sie konstatieren. Gerade an der Digitalität der computer- und magnetresonanztomografischen Bilder, so ist zu zeigen, entbrennt die Frage um Bilder ohne Bildlichkeit für die Radiologie wie auch die Kunst- und Bildwissenschaften am heftigsten.
1.2 METHODIK UND AUFBAU DER ARBEIT Der Titel der vorliegenden Arbeit ist bewusst gewählt, um einerseits die Diskrepanzen innerhalb des bildwissenschaftlichen Diskurses zu wissenschaftlichen und künstlerischen sowie analogen und digitalen Bildern aufzugreifen, und um andererseits das angesprochene Paradox der Bilder in der Radiologie zu behandeln. Die Eigenschaften von Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit der Bilder sind einer hermeneutischen, kunst- und bildwissenschaftlichen Position bekannt, weshalb in der folgenden Analyse methodisch zwei mögliche Lesarten radiologischer Bilder bedacht werden: Eine kunst- und bildwissenschaftliche ist dabei die mir vertraute, die radiologische eine mir fremde Begegnung mit Bildern. 30 Vor diesem Hintergrund unterliegt die vorliegende Studie einer hermeneutisch-phänomenologischen Prägung der Bildwissenschaft und einer kunsthistorischen Funktionsgeschichte computer- und magnetresonanztomografischer Bilder in der Radiologie und prüft sie davon ausgehend auf ihre Darstellungslogik. Statt die Hermeneutik im Anschluss an Hans-Georg Gadamer in rein kunsthistorischer Prägung als die Frage nach der Struktur und Logik des Bildes als einem (Kunst-)
30 Vgl. Lüddemann, Stefan: „Einleitung. Stichwort Hermeneutik“, in: ders./Thomas Heinze (Hg.), Einführung in die Bildhermeneutik, Wiesbaden 2016, S. 15-19, hier S. 18.
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Werk31 aufzugreifen, wird „die Frage nach dem adäquaten Umgang mit der irreduziblen Duplizität des Bildes“32 als hermeneutische Herausforderung in den Mittelpunkt gestellt. Um das Leistungspotential von Bildlichkeit zu fassen, folgt die Untersuchung dem „Weg der Analyse von jener der gewohnten Werke zu jener der ungewohnten Bilder“33. Ausgehend von einer detaillierten Aufarbeitung der Geschichte der deutschsprachigen Radiologie, der Einführungen und Implementierungen von Computer- und Magnetresonanztomografie als bildgebenden Verfahren und der Produktions- und Rezeptionsprozesse in der Radiologie werden weder kunsthistorische Bildbegriffe oder -konzepte an den Anfang der Untersuchung gestellt noch den radiologischen Bildern aufgrund eines ästhetizistisch-phänomenologischen Missverständnisses34 ihre Bildlichkeit abgesprochen. Wichtige Fragen betreffen die Distinktion wissenschaftlicher und künstlerischer Bilder: Entscheidet die Funktion der Bilder und somit ihr disziplinärer Einsatz und Gebrauch darüber, ob es sich um radiologische oder künstlerische Bilder handelt? Oder lassen sie sich aufgrund ihrer Darstellung, der Entscheidungen zu Form und Inhalt, differenzieren? Und sollte der Kontext entscheidend sein für die Spezifizierung der Bilder, welche Gefahr birgt dann ein kunsthistorischer Bildbegriff für bildwissenschaftliche Analysen? Die letztgenannte Frage bezieht sich im Besonderen auf die Diskrepanzen im bildwissenschaftlichen Diskurs, wenn eine Bewertung von wissenschaftlichen und künstlerischen Bildern sowie eine Einordnung des Umbruchs von analogen zu digitalen Bildverfahren thematisiert werden. Kunsthistorische Positionen neigen zu einer Hierarchisierung von Bildern, die künstlerischen und analogen Darstellungen mehr Bildlichkeit und somit mehr (Bild-)Wert zusprechen. Die Untersuchung prüft daher nicht nur die Gefahren eines bestimmten kunsthistorischen Bildbegriffs, sondern auch die an digitale Bilder herangetragenen Überlegungen: Der Annahme, dass digitale Bilder aufgrund von Manipulation und fehlender Referenz den Bezug zur Wirklichkeit verlieren oder negieren, wird gegenübergestellt, dass besonders in der Medizin „das Processing, die Manipulation, gerade
31 Vgl. R. Hoppe-Sailer/C. Volkenandt/G. Winter: Logik der Bilder, S. 11. 32 Goppelsröder, Fabian: „Hermeneutik: Verstehen von Bildern“, in: S. Günzel/D. Mersch (Hg.), Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch (2014), S. 75-81, hier S. 80. 33 R. Hoppe-Sailer/C. Volkenandt/G. Winter: Logik der Bilder, S. 11. 34 Vgl. Buschhaus, Markus: „In großer Nähe so fern. Warum es ‚nicht-künstlerische Bilder‘ nur in der Kunstwissenschaft geben kann“, in: A. Hemingway/N. Schneider (Hg.), Schwerpunkt: Bildwissenschaft (2008), S. 101-115, hier S. 106.
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Bedingung des referenziellen Bezugs der Bilder war und ist“35. In Herstellung und Wahrnehmung der Bilder finden die Aushandlungen der Radiologen statt, um über computer- und magnetresonanztomografische Visualisierungen auf einen individuellen menschlichen Körper zu schließen und Aussagen über diesen zu treffen. Dass die Mediziner dabei immer wieder an Grenzen stoßen, die aufgrund der Bilder und ihrer Bildlichkeit einer Nutzbarmachung in der beschriebenen Art entgegenstehen, wird im Folgenden in besonderer Weise berücksichtigt. So lässt sich in einer historisch-systematischen Untersuchung der Radiologie widerlegen, dass erst das digitale Bild die Vorstellung von ‚definitiv abgebildeten Körpern‘ obsolet macht.36 Diese Widerlegung stellt bisher ein Defizit der medizingeschichtlichen wie bildwissenschaftlichen Forschung dar, dem sich die vorliegende Studie zuwendet, indem sie die Rolle des Bildes in der Geschichte der Radiologie seit Einführung der Röntgentechnik Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Magnetresonanztomografie nachvollzieht. Dazu wird der Schwerpunkt nicht auf die öffentlichkeitswirksame Präsentation radiologischer Forschung in populären Zeitschriften oder anderen Medien gelegt, sondern auf die morphologische Bildgebung der Computer- und Magnetresonanztomografie in der Disziplin selbst. Sinnvoll erscheint dabei eine Konzentration auf Hirn- und Schädeldarstellungen des Menschen, insofern diese auch dem medizinischen Laien einen Zugang zum im Bild Dargestellten gewähren37 und verdeutlichen, inwiefern die Radiologie an eindeutigen Verweisen durch Bilder interessiert ist und doch immer wieder an deren Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit scheitert. Insofern die Studie einer hermeneutisch-phänomenologischen Prägung der Bildwissenschaft und einer kunsthistorischen Funktionsgeschichte folgt und den Weg der Analyse von den gewohnten Werken zu den ungewohnten Bildern ein-
35 Schröter, Jens: „‚Wirklichkeit ist überhaupt nur darzustellen, indem man sie konstruiert‘ (Andreas Gursky)“, in: M. Heßler/D. Mersch (Hg.), Logik des Bildlichen (2009), S. 201-218, hier S. 206. (Herv. i. O.) 36 Diese Einschätzung stammt vom Harun Badakhshi, vgl. Badakhshi, Harun: „Body in numbers. Medizinische Visualistik: Strategien, Technologien“, in: Verstärker. Ein Internetjahrbuch für Kulturwissenschaft 7 (2002), S. 1-44, hier S. 41. 37 Die Soziologin Gesa Lindemann verweist darauf, dass Computertomogramme des Schädels „auch einen Laien an einen Kopf denken“ lassen und somit eine Beziehung zwischen Dargestelltem und Darstellung ermöglichen. Lindemann, Gesa: „Der lebendige Körper – ein ou-topisches Objekt der szientifischen Wißbegierde“, in: Annette Barkhaus/Anne Fleig (Hg.), Grenzverläufe. Der Körper als Schnitt-Stelle, München 2002, S. 211-232, hier S. 221.
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schlägt, erweitert sie die bildwissenschaftliche Diskussion um eine kunsthistorische Position. Wie die Kunsthistorikerin Christiane Kruse betont, geht es „bei dem Projekt Bildwissenschaft […] nicht um die Erfindung eines neuen Fachs, sondern um die materielle wie methodisch-analytische Weiterentwicklung der Kunstgeschichte auf der Grundlage historischer und moderner Bildkulturen.“38 Bei der Untersuchung von Bildern in Bildkulturen ist zugleich ihre Performativität zu berücksichtigen, ihre Bildpraxis oder Bildpragmatik. Diesem Anspruch folgt der von Werner Busch im Funkkolleg Kunst 1984 formulierte und 1987 erstmals publizierte funktionsgeschichtliche Ansatz,39 den Busch allerdings für Kunstwerke ausführte. Die wichtigen Fragen lauten: „[W]ozu diente das Kunstwerk, wie wurde es benutzt, wem hat es wie genutzt, wer hat es warum so und nicht anders gemacht, gebraucht oder verstanden. Warum diente es plötzlich neuen Zwecken? Wie änderte sich dadurch sein Aussehen, seine Struktur?“ 40 Nach Werner Busch wurde dieser Vorschlag in den 1980er Jahren eher irritiert bis ablehnend aufgenommen und der Funktionsbegriff in der Kunstgeschichte erst in den 1990er Jahren ganz selbstverständlich genutzt.41 Dabei beruhte die Irritation in der internen, fachpolitischen Debatte nach Busch vor allem darauf, dass er und die am Projekt beteiligten Autoren weder eine Stil- oder Epochengeschichte noch eine Interpretation von Meisterwerken vorgelegt hatten.42 Historisch ist aufzugreifen, dass sich Busch mit seinem Vorschlag an dem Prager Strukturalisten Jan Mukařovský (1891-1975) orientierte, der seit den 1930er Jahren zeichentheoretische Überlegungen in seine literatur- und kunstwissenschaftlichen Schriften einfließen ließ. Mukařovský interessierten ästhetische Funktion, ästhetische Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten, wobei er sich auch der Bildenden Kunst zuwandte und sogar naturwissenschaftliche Bilder und Modelle aufgriff. Letztere dienen aus seiner Perspektive heraus nur der Mitteilung, das heißt, die ästhetische
38 Kruse, Christiane: „Positionen der Kunstwissenschaft als historische Bildwissenschaft“, in: Jan Kusber u. a. (Hg.), Historische Kulturwissenschaften. Positionen, Praktiken und Perspektiven, Bielefeld 2010, S. 81-104, hier S. 82. 39 Vgl. Busch, Werner (Hg.): Funkkolleg Kunst, München 1987. 40 Busch, Werner: „Kunst und Funktion – Zur Einführung in die Fragestellung“, in: ders. (Hg.), Funkkolleg Kunst, München 1987, S. 5-26, hier S. 25. 41 Vgl. Busch, Werner: „Funktionsgeschichte als kunsthistorisches Paradigma – Zum Problem der Vermittlung einer Geschichte der Kunst“, in: Kunsthistoriker 3/4 (1986), S. 12-16, hier S. 16; und vgl. Busch, Werner: „Nachwort 1997“, in: ders. (Hg.), Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen, München 21997, S. 799-800, hier S. 799. 42 Vgl. W. Busch: Funktionsgeschichte, S. 16.
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Funktion dieser naturwissenschaftlichen Bilder ist zwar vorhanden, aber nicht entscheidend.43 Für die vorliegende Untersuchung ist dieser Bezug wichtig, weil in ihm die auch von Gottfried Boehm vertretene Auffassung durchscheint, dass es Bilder gibt, die nur Informationen mitteilen oder weitergeben möchten, und Bilder, die aufgrund ihrer Ästhetik Ausdruck ihrer selbst sind. Diese Einteilung allerdings auf eine soziale Einbindung zu beziehen, wie Mukařovský es vorschlägt, verlegt sie von einer Bildontologie hin zu einer Bildpragmatik: Nicht die Bilder an sich sind mehr oder weniger Bild beziehungsweise mitteilend oder ästhetisch, sondern die Menschen in ihrer Bildpragmatik entscheiden darüber. Der Wechsel von einer Bildontologie hin zu einer Bildpragmatik kennzeichnet auch den Aufbau der vorliegenden Arbeit: Im Anschluss an den Forschungsstand zu medizinischen und insbesondere radiologischen Bildern (Abschnitt 1.3) wird im zweiten Kapitel Der Streit um Bildlichkeit: Einordnung im bildwissenschaftlichen Diskurs der theoretische, bild- und kunstwissenschaftliche Hintergrund dargelegt. Der angesprochene Streit um Bilder und Bildlichkeit ist ein wichtiger Ausgangspunkt, wie ich in meiner Studie Bilder und Bildlichkeit verstehe und diese in der Radiologie untersuche. Im Sinne der Hermeneutik leiste ich damit den ersten Schritt eines methodischen Vorgehens und reflektiere meine eigene Position, die ich in die Interpretation einbringe.44 Dabei vertrete ich die Position, dass sämtliche unter dem Begriff Bild subsumierte Phänomene durch Bildlichkeit gekennzeichnet sind und Bilder ohne Bildlichkeit nicht existieren. Die besondere Problematik, die vor dieser Annahme für die Radiologie entsteht, wird im Hauptteil der Untersuchung entfaltet. Das dritte Kapitel Die Radiologie als Bildkultur. Eine historische Analyse führt in wissenschafts- und institutionsgeschichtlicher Weise aus, wie sich die Radiologie in ihrer Einführung und Entwicklung als Bilddisziplin etabliert hat und essentiell an bildgebende Verfahren gebunden ist. Der Einsatz der Röntgentechnik in der medizinischen Diagnostik forderte eine Spezialisierung, die sich bis heute mit Bildern beschäftigt und dabei immer wieder in Frage stellt, wie sich der menschliche Körper in Bildern erfassen lässt. Das dritte Kapitel widmet sich der Vorgeschichte der sogenannten digitalen Verfahren und fragt nach Kontinuitäten und Brüchen in der Nutzung von Bildlichem und Bildern seit Etablierung einer modernen Medizin mit ihrem an Objektivität und Berechenbarkeit orientiertem Wissenschaftsverständnis.
43 Vgl. Mukařovský, Jan: „Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten (1936)“, in: ders. (Hg.), Kapitel aus der Ästhetik (1966), Frankfurt a. M. 1970, S. 7-112, hier S. 21. 44 Vgl. S. Lüddemann: Einleitung. Stichwort Hermeneutik, S. 18.
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Es folgt das vierte Kapitel Neue digitale Bildgebungsverfahren der Radiologie, welches die Digitalität und das Werkzeug Computer sowie die beiden für die Studie zentralen Techniken Computer- und Magnetresonanztomografie historisch-systematisch erläutert. In technischen Exkursen wird die Komplexität beider Verfahren aufgegriffen, deren grundlegendes Verständnis im Sinne einer Bildgebung für die folgenden Ausführungen wichtig ist. Die beiden Entwickler Godfrey N. Hounsfield und James Ambrose haben Anfang der 1970er Jahre wichtige Entscheidungen für die weitere Verwendung der Computertomografie getroffen, die ebenso erläutert werden, wie die anschließenden Weichenstellungen für die Magnetresonanztomografie Anfang der 1980er Jahre. Um die Geschichte des radiologischen Bildes und die Bildthemen der Radiologie nachzuvollziehen, wurden diskursanalytisch die beiden deutschen, radiologischen Fachzeitschriften, die Fortschritte auf dem Gebiet der Röntgenstrahlen oder kurz RöFo (Thieme Verlag, seit 1896) und Der Radiologe (Springer Verlag, seit 1961) herangezogen und deren Artikel auf Zusammenhänge und Aushandlungen zum Bild, den bildgebenden Verfahren, der radiologischen Profession und der Arbeit mit der Informatik oder dem Computer ausgewertet. Für ein vertiefendes Verständnis der wichtigen Bildkriterien, wie beispielsweise einer technisch fundierten Bildqualität oder der grundlegenden Funktionsweise von Computer- und Magnetresonanztomografie, dienten radiologische und medizinisch-informatische Fachliteratur sowie 2012 ein Forschungsaufenthalt im MedArchiv der Siemens AG in Erlangen. Zuletzt wurden die jeweiligen Themen durch Kongress- und Tagungsbesuche im Jahr 201245 sowie Gespräche mit auf den Gebieten der Medizin, Radiologie und der Medizintechnik Tätigen auf ihre Aktualität hin überprüft. Im fünften und sechsten Kapitel rücken Bildherstellung und Bildauswertung in den Mittelpunkt. Komparativ werden Computer- und Magnetresonanztomografie im fünften Kapitel Produktion von Computer- und Magnetresonanztomografien zuerst in ihren Produktionsprozessen aufgegriffen, um die Herstellung von Schädelansichten in der Radiologie zu erläutern und um die vielfältigen Entschei-
45 Es handelt sich dabei um die 56. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und funktionelle Bildgebung (DGKN) vom 15. bis 17. März 2012 in Köln, die 50. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Nuklearmedizin vom 25. bis 28. April 2012 in Bremen und die neuroRad – 47. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neuroradiologie vom 11. bis 13. Oktober 2012 in Köln. Neben den Vorträgen und den dazugehörigen Textmaterialien wurden Gespräche und Beobachtungen als mögliche Quellen für den Abgleich mit Ergebnissen aus der historischen Aufarbeitung notiert.
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dungen zu berücksichtigen, die in die Bildproduktion einfließen. An dieser Herstellung von Bildern sind verschiedene Berufszweige beteiligt: Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wird der Informatik oder Medizinischen Bildverarbeitung ein besonderer Stellenwert zugeschrieben, denn die beiden als digital bezeichneten Verfahren sind nicht nur durch die radiologische Disziplin bestimmt. Hard- und Software gelten als Mechanismen unterhalb der (Bild-)Oberfläche, als Tiefenstrukturen, die für die Bilder, ihre Produktion sowie ihre anschließende Rezeption, aufgegriffen werden müssen.46 Erfüllt wird damit das Forschungsdefizit, die Bedeutung unterschiedlicher kultureller Kontexte für Bildproduktion und -rezeption in bildwissenschaftlicher Perspektive zu berücksichtigen, wie es von einem bildhermeneutischen Ansatz gefordert und von der Interdisziplinären Arbeitsgruppe (IAG) Bildkulturen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in ihrem Jahresbericht 2010 für bildwissenschaftliche Studien im Allgemeinen formuliert wurde.47 Das sechste Kapitel Rezeption von Computer- und Magnetresonanztomografien fragt nach den Strategien der Bildbetrachtung in der Radiologie, die sich mit Entwicklungen in der Kunstgeschichte vergleichen lassen. Das Fazit zum Vergleichenden Sehen und das Fazit zur Ekphrasis belegen die durch die Bilder ausgelösten (Ver-)Handlungen, die jeweils disziplinär unterschiedlich ausfallen, jedoch im Kern an die Verhältnisse von Bild zu Wirklichkeit, Bild zu Bild und Bild zu Text gebunden sind. Die Spezifika der Bilder, ihre Bildlichkeit und damit einhergehende Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit, werden als transdisziplinäre Aspekte herausgestellt. Sie begründen die Forderung nach bildwissenschaftlichen
46 Die Kunsthistorikerin Birgit Schneider fordert für digitale Bilder eine Interpretation oder Analyse von der Oberfläche (oder Kultur) und von den Programmen (den Tiefenstrukturen) her. Vgl. B. Schneider: Wissenschaftsbilder, S. 197. Auch Dieter Mersch verweist darauf, dass die visuelle Präsenz digitaler Bilder ein Oberflächliches bleiben, der aber technische und algorithmische Tiefenstrukturen zugrunde liegen. Vgl. Mersch, Dieter: „Wissen in Bildern. Zur visuellen Epistemik in Naturwissenschaft und Mathematik“, in: Bernd Hüppauf/Peter Weingart (Hg.), Frosch und Frankenstein. Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft, Bielefeld 2009, S. 107-134, hier S. 126. Die Medienwissenschaftlerin Kathrin Friedrich hat in diesem Sinne in ihrer Untersuchung von 2018 bei Computertomografien eine „Ober-, Unter- und Zwischenfläche“ berücksichtigt. Friedrich, Kathrin: Medienbefunde. Digitale Bildgebung und diagnostische Radiologie, Berlin/Boston 2018, S. 16. 47 Vgl. Markschies, Christoph/Reichle, Ingeborg: „Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Bildkulturen“, in: Freia Hartung (Red.)/Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Jahrbuch 2010, Berlin 2011, S. 292-300, hier S. 292.
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Analysen, die nicht einem künstlerischen oder kunsthistorischem Bildbegriff folgen und von der Theorie her dem Gegenstand begegnen, sondern sich zuerst dem Gegenstand widmen, um daran anschließend die Theorien und Begriffe abzugleichen und gegebenenfalls zu verändern.
1.3 STAND DER FORSCHUNG Insofern es sich bei der vorliegenden Untersuchung um eine explizit interdisziplinäre Arbeit handelt, werden Bereiche wie Medizin, Radiologie und Anatomie als naturwissenschaftlich-medizinische Disziplinen sowie Wissenschafts- und Technikforschung, Kunst- und Bildwissenschaft als geisteswissenschaftliche Disziplinen berührt. Der medizinisch-radiologische Kontext ist von besonderer Wichtigkeit, weshalb er ausführlicher dargelegt wird als die geisteswissenschaftlichen Bezüge. Medizin und Radiologie In kursorischer Kürze geht es in den hier aufgeführten Positionen aus der Medizin und Radiologie um die Rolle des Bildes, um Methoden des Sehens, aber auch um die Einführung des Digitalen und daran anschließende Veränderungen der Bildarbeit oder des Bildverständnisses. Die Ansätze aus Medizin und Radiologie werden im Folgenden in einen bild- und kunstwissenschaftlichen Kontext eingebettet und dienen einer Standortbestimmung der Untersuchung. Für die medizinischen Positionen ist wichtig, dass die Radiologie heute vielfach als Bildermedizin bezeichnet wird und damit zwei gegenläufige Aspekte angesprochen werden: Auf der einen Seite stehen die unbestreitbaren medizinischen Erfolge durch die bildgebenden Verfahren bei der Aufklärung, Entdeckung und Behandlung von Krankheiten im menschlichen Körper, auf der anderen die Gefahren „einer Bildergläubigkeit, die mit einer gewissen medizinischen Blindheit einhergehen kann.“48 Diese Blindheit weist auf den Begriff Bildermedizin zurück, da sich die Radiologie vorrangig den Bildern des menschlichen Körpers und nicht dem Patientenkörper selbst zuwendet: „Als Radiologe nähert man sich dem Patienten zunächst einmal über das Bild […]. Die unvoreingenommene Bildanalyse ist der erste und zugegebenermaßen ein abstrakter, intellektueller Schritt.“49
48 Wandtner, Reinhard: „Unser Körper scheibchenweise“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7.10.2003, S. 2. 49 Oestmann, Jörg W.: Radiologie. Vom Fall zur Diagnose, Stuttgart 22005, S. 4.
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Die in der Radiologie produzierten Bilder werden als zweckgerichtet verstanden; sie sind eingebettet in einen Entstehungszusammenhang, der durch das Selbstverständnis der Medizin und ihre Krankheitstheorie begründet ist und kurz zusammengefasst einer Indikation bedarf, also einer medizinischen Fragestellung.50 Mit diesem Bildverständnis belegen die im interdisziplinären Forschungskontext veröffentlichten Beiträge aus Radiologie und Medizin scheinbar Boehms Überlegungen von 2001. Günter Klaß schreibt 2014 explizit: „Wir Ärzte betrachten in der täglichen Praxis das medizinische Bild selten als Bild, sondern verwenden das Bild instrumentell, funktional. Es hat einen definierten Zweck.“ 51 Bildgebende Verfahren gelten in der Medizin als Untersuchungsmethoden des menschlichen Körpers. Die durch sie erzeugten Bilder sollen denselben piktural repräsentieren52 und den Radiologen dessen jeweiligen gesundheitlichen Zustand aufzeigen. Damit changieren radiologische Bilder zwischen Repräsentation und Präsentation. Sie werden als Stellvertreter eines individuellen Körpers verstanden und torpedieren dieses Verständnis gleichzeitig durch ihre je eigene Erscheinungsweise. Schon 1992 (vor einem bildwissenschaftlichen Gewahrwerden digitaler Bilderströme) problematisiert der Kardiologe Frank Praetorius, dass sich die Koronarangiografie als Königsmethode oder Goldstandard seiner Disziplin „als ein höchst unvollkommener Stellvertreter der Wirklichkeit“ 53 erweist. Praetorius betrachtet die zeitgenössische Diagnosepraxis in der Kardiologie kritisch, die in einer erstaunlichen Reduktion auf das Abbild stagniere, einer Art Ikonismus mit dem „Glauben an die Wahrheit des Visuellen“54. Dabei geben die eingesetzten Bilder keine wiedererzeugte und außerhalb ihrer selbst liegende Welt zu sehen, sondern erzeugen laut dem Radiologen Norbert Hosten letztlich eine neue, ihnen eigene Welt.55 Auch die Radioonkologin Judith M. Tanner betont, dass eine Reflexion des Anspruchs um ‚objektives‘ Wissen durch Bilder präsent halte, „dass es eben nicht ‚die Wirklichkeit‘ ist, die wir da auf dem Bildschirm sehen. Was wir sehen, ist ein Produkt von Wahrnehmung und Interpretation und kann ‚in Wahrheit‘ vielleicht anders sein.“56
50 Vgl. G. Klaß: Röntgen – Bilder – Welten, S. 301. 51 Ebd. 52 Vgl. H. Badakhshi: Körper in/aus Zahlen, S. 199. 53 Praetorius, Frank: „Bilder oder Gedanken: Zur Dominanz des Auges in der Medizin“, in: Freiburger Universitätsblätter 3 (1992)S. 57-69, hier S. 58. 54 Praetorius, Frank: „Ärztliche Diagnose. Bilder machen oder Gedanken“, Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 44 (1990), S. 206-217, hier S. 208. 55 Vgl. N. Hosten: Denken in Röntgenbildern, S. 143f. 56 J. Tanner: Sich ein Bild machen, S. 439.
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Schon bei der Einführung der Röntgentechnik sieht sich die medizinische Disziplin mit dem Umstand konfrontiert, dass die produzierten Bilder keine Abbilder des menschlichen Körpers sind und somit keinen uneingeschränkten Einblick in dessen Inneres eröffnen.57 Die Radiologie implementiert daher in ihre Lehre und Forschung eine Reflexion auf das Sehen der Bilder, die gerade mit der rasanten Entwicklung der Technologien Ende des 20. Jahrhunderts unter Druck gerät, die Definition ihrer Kriterien und Parameter anzupassen, „was gesehen werden kann und wie gesehen werden soll.“58 Die radiologische Ausbildung ist durch eine bestimmte Schulung des Sehens geprägt, in der sich die Studenten und Assistenzärzte ‚Normalbilder‘ aneignen, wie beispielsweise ein Normalbild der Lunge im Röntgenbild59 – oder anders formuliert: eine standardisierte und normierte bildliche Darstellung der menschlichen Lunge in einem durch Röntgentechnik hergestellten Bild. Dabei ist aus bildwissenschaftlicher Perspektive die Frage nach den Darstellungsmöglichkeiten der drei hier genannten Verfahren (Röntgen, CT, MRT) bisher nicht bildwissenschaftlich aufgearbeitet worden, was die vorliegende Studie leistet. Über Röntgen-, computertomografische und magnetresonanztomografische Zeichen ziehen Radiologen Rückschlüsse auf mögliche Veränderungen oder krankhafte Zustände des menschlichen Körpers. Mit diesen Bildzeichen schließt die Radiologie an die Semiotik in der Geschichte der Medizin an, die sich vorerst auf eine traditionelle Symptomatologie beschränkte und seit den 1980er Jahren auch weitere medizinische Prozesse als Zeichenprozesse untersucht.60 Die Radiologie geht davon aus, dass die in den Bildern zu erkennenden Bildzeichen auf etwas außerhalb der Bilder Liegendes, im menschlichen Körper Befindliches verweisen. Das Erkennen der Bildzeichen setzt allerdings die mit der Ausbildung
57 Die Wissenschaftshistorikerin Monika Dommann beginnt ihre Untersuchung von 2003 mit der Schilderung, wie ein Mediziner um 1900 auf Erscheinungen in Röntgenbildern stößt, die keine Korrespondenz im jeweiligen menschlichen Körper haben: „Röntgenbilder sind […] keine Spiegelbilder der gewohnten anatomischen Körperansicht, sondern erweisen sich zuweilen als Trugbilder. Sie brechen radikal mit Seh- und Abbildungsgewohnheiten.“ Dommann, Monika: Durchsicht, Einsicht, Vorsicht. Eine Geschichte der Röntgenstrahlen 1896-1963, Zürich 2003, hier S. 14, sowie die einleitende Fallschilderung auf S. 7f. 58 H. Badakhshi: Körper in/aus Zahlen, S. 202. 59 Vgl. N. Hosten: Denken in Röntgenbildern, S. 143; und vgl. J. Tanner: Sich ein Bild machen, S. 438. 60 Vgl. Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik, Stuttgart/Weimar 22000, hier S. 2.
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etablierte Vorstellung eines Normalbildes des Körpers voraus: Erst wenn der Radiologe ein Wissen darüber hat, wie sich die gesunde Lunge oder das gesunde Gehirn des Menschen in den Bildern darstellt, lassen sich die Abweichungen, wie beispielsweise dunkle oder helle Flecken im betrachteten Bild, als Zeichen für krankhafte Prozesse interpretieren. Doch die im radiologischen Bild sichtbaren Zeichen verweisen im seltensten Fall eindeutig auf ein bestimmtes Krankheitsbild, wie Klaß 2014 betont: „Am häufigsten sind die Zeichen mehrdeutig, sie können im Kontext mehrerer Erkrankungen auftreten, sind je nach Vorgeschichte und Verlauf anders zu deuten. Wir haben dann Differentialdiagnosen vorliegen.“ 61 Statt zu einer eindeutigen Diagnose gelangen Radiologen zumeist zu Differenzialdiagnosen (synonym: Differentialdiagnosen), um mehrere, nach Wahrscheinlichkeit gelistete Krankheitsmöglichkeiten anzubieten. Statt einer eindeutigen Bezugnahme von Bild zu Wirklichkeit entstehen, bildwissenschaftlich betrachtet, Verunsicherungen, die das etablierte Bildverständnis der Radiologie ins Wanken bringen. Die bildgebenden Verfahren erzeugen keine Abbilder oder eindeutig interpretierbare Repräsentationen des menschlichen Körpers, sondern entwickeln aus bildwissenschaftlicher Perspektive mehrdeutige und unbestimmte Bilder jeweils eigener Präsenz. Das radiologische Bildverständnis gerät aber nicht nur durch die Schwierigkeiten der Bilddeutung ins Wanken. Wie an medizinisch-radiologischen Beiträgen aus interdisziplinär angelegten Publikationen nachzuvollziehen, führen insbesondere die Digitalisierung oder Digitalität der bildgebenden Verfahren und das sogenannte digitale Bild zu Unsicherheiten bezüglich des Gegenstandes. Nach Praetorius und Badakhshi gehören das ‚fertige Bild‘ oder das ‚Bild als Endprodukt‘ der Vergangenheit an.62 Badakhshi erläutert, dass Computer- und Magnetresonanztomografie zu neuen Bildformaten in der Medizin geführt und das ‚klassische Bild‘ „zugunsten eines dynamischen Systems aus Variablen zurückgedrängt“63 haben: „Die Maschine konstruiert keine ‚Bilder‘, obwohl sie noch konventionell so bezeichnet werden müssen, sie verarbeitet Daten, stellt sie als Zwischenprodukt graphisch dar und kann
61 G. Klaß: Röntgen – Bilder – Welten, S. 301. 62 Vgl. F. Praetorius: Bilder oder Gedanken, S. 60; und vgl. H. Badakhshi: Körper in/aus Zahlen, S. 205. 63 H. Badakhshi: Body in numbers, S. 39.
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jeden Moment in allen Details modifiziert werden. Der digitale Datensatz macht jede konventionelle Vorstellung von definitiv abgebildeten Körpern in einer mimetischen Funktion obsolet.“64
In einer ähnlichen Schlussfolgerung formuliert der Internist Albrecht Ohly 2004, „dass alle computergestützten bildgebenden Verfahren – von der Ultraschalluntersuchung in allen ihren Varianten bis zur Kernspintomographie – keine Bilder im herkömmlichen Sinne produzieren. Was wir als Bilder betrachten, sind vielmehr Ergebnisse einer Vielzahl komplexer Rechenoperationen, die uns einen digitalen Datenstrom zu Grauwerten oder auch Farben ‚analogisieren‘.“65
Während Ohly die bildgebenden Verfahren mit Computerunterstützung bis zur Einführung des Ultraschalls in den 1950er Jahren zurückdenkt, sieht Badakhshi den entscheidenden zeitlichen Einschnitt für die Medizin mit der Einführung der Computertomografie als digitalem Verfahren.66 Damit folgen sie unterschiedlichen Narrativen der Medizingeschichte und verschiedenen Deutungen über die Auswirkungen des Computers für die Disziplin. Diese Ungereimtheit wird in der vorliegenden Studie mit der Frage aufgegriffen, ob die Computertomografie als entscheidende Zäsur in der Bildgebung zu verstehen ist. Einig sind sich beide Autoren darin, dass die Produktion von Bildern mit Hilfe des Computers das klassische, konventionelle oder herkömmliche Bildverständnis aufgelöst hat. Dieses Bildverständnis kennzeichnet sich durch ein stabiles und fertiges Endprodukt, während die Möglichkeiten des Digitalen darin liegen, die Daten und die daraus berechneten Bilder beständig zu verändern. In radiologischer Praxis lässt sich daran anschließend beobachten, dass Radiologen die durch die Software angebotenen Werkzeuge digitaler Bildgebungstechniken selbstverständlich einsetzen. Auf diese Weise machen sie Daten auf der (Monitor-)Oberfläche
64 Ebd., S. 41. 65 Ohly, Albrecht: „Über die Macht der Bilder in der Medizin. Plädoyer für einen kritischen Umgang mit bildgebenden Verfahren“, in: Günter Frankenberg/Peter Niesen (Hg.), Bilderverbot. Recht, Ethik und Ästhetik in der öffentlichen Darstellung (= Frankfurter Vorlesungen zur Kommunikationsfreiheit, Bd. 1), Münster 2004, S. 137-149, hier S. 139. 66 Vgl. H. Badakhshi: Body in numbers, S. 38.
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sichtbar und passen die Darstellungen am Bildschirm den disziplinären Sehgewohnheiten an, damit teilweise überhaupt etwas zu sehen ist.67 Über die historischsystematische Analyse der vorliegenden Untersuchung wird widerlegt, dass erst das digitale Bild die Vorstellung von ‚definitiv abgebildeten Körpern‘ obsolet macht: Schon mit der Einführung der Röntgentechnik stellt die medizinische Disziplin fest, dass sich durch Voreinstellungen und Variationen in der Bildproduktion jeweils andere Darstellungen des menschlichen Körpers ergeben. Doch Medizin und Radiologie widmen sich bisher in ihrer Forschung und Reflexion nicht den spezifischen Möglichkeiten des Bildes und seiner Darstellung, um letztlich das prägnante Werkzeug der Disziplin in seiner Funktion einordnen zu können. In den Geisteswissenschaften In den Bild- und Kulturwissenschaften sowie der Wissenschafts- und Medizingeschichte werden Computer- und Magnetresonanztomografie als bildgebende Techniken und ihr Einsatz in der diagnostischen Radiologie nur zögerlich aufgearbeitet.68 Ein möglicher Grund liegt in der fehlenden historischen Distanz, die auch heute noch als ausschlaggebender Aspekt herangezogen wird, um Umbrüche oder Veränderungen im zeitlichen Ablauf einer Disziplin oder einer Kultur zu beurteilen.69 Demgegenüber lässt sich mit Verena Krieger und in Rückbezug auf die
67 Vgl. Friedrich, Kathrin: „‚Sehkollektiv‘: Sight Styles in Diagnostic Computed Tomography“, in: Medicine Studies. An International Journal for History, Philosophy, and Ethics of Medicine & Allied Sciences 2 (2010), S. 185-195, hier S. 192ff. 68 So betont Kathrin Friedrich in ihrer jüngsten Veröffentlichung, dass es eine Lücke in der geistes- und sozialwissenschaftlichen Literatur zur digitalen Bildgebung in der Medizin gibt, die für sie die CT als Routineverfahren betrifft; für die vorliegende Untersuchung ist die MRT hinzuzufügen. Vgl. K. Friedrich: Medienbefunde, S. 14. 69 Als frühe Position aus der Medizingeschichte: vgl. Vogt, Helmut: Das Bild des Kranken, München 1969, hier S. 58; als kritische kunsthistorische Position vgl. Krieger, Verena (Hg.): Kunstgeschichte & Gegenwartskunst. Vom Nutzen & Nachteil der Zeitgenossenschaft, Köln 2008, bzw. darin Krieger, Verena: „Zeitgenossenschaft als Herausforderung für die Kunstgeschichte“, S. 5-25, hier S. 10, sowie Steiner, Reinhard: „Auf der Schwelle des Augenblicks. Anmerkungen zu einer Kunstgeschichte der Gegenwart“, S. 47-57, hier S. 48; und vgl. Klotz, Heinrich: „Anfang der Kunstgeschichte? Ein Fach noch immer auf der Suche nach sich selbst“, in: Anne-Marie Bonnet/Gabriele Kopp-Schmidt (Hg.), Kunst ohne Geschichte? Ansichten zu Kunst und Kunstgeschichte heute, München 1995, S. 38-49, hier S. 40.
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Hermeneutik Hans-Georg Gadamers betonen, dass eine Historisierung der Gegenwart bedeutet, „das Bewusstsein der eigenen Historizität zu kultivieren und das Bestehende als Gewordenes und als Reaktion auf Gewesenes zu reflektieren.“ 70 Die vorliegende Studie schließt sich dabei auch der darauf folgenden Anmerkung von Krieger (in Anlehnung an Gadamer) an, dass eine Historisierung des Untersuchungsgegenstandes unumgänglich auch eine Historisierung der eigenen Betrachterposition mit einschließt.71 Die vorliegende Untersuchung knüpft an Vorarbeiten aus Medien- und Kulturwissenschaften, Medizingeschichte, Science-and-Technology-Studies beziehungsweise Wissenschafts- und Technikforschung, Sozialwissenschaften sowie Kunst- und Bildwissenschaft an. Insofern sich die untersuchten computer- und magnetresonanztomografischen Bilder in der Radiologie auf den menschlichen Körper beziehen, sind an erster Stelle Studien zur Geschichte und (Bild-)Kultur der Anatomie und zur Bedeutung des menschlichen Körpers zu berücksichtigen. Wegweisend sind dabei die Texte des Medienwissenschaftlers Markus Buschhaus, der sich in seiner Dissertation 2005 einer Medienarchäologie anatomischen Wissens72 gewidmet hat. In Anlehnung an Buschhaus wird die Radiologie – ähnlich der Anatomie – als visuelle Kultur oder Bildkultur gefasst, bei der sehr genau zu betrachten ist, wann die ‚neuen‘ (digitalen) Bilder gegen die ‚alten‘ beziehungsweise traditionellen oder konventionellen (analogen) Bilder ausgespielt werden. Buschhaus zeigt in seiner Untersuchung zur Anatomie auf, dass sich Bild- und Darstellungstraditionen fortschreiben und keine harten Brüche entstehen, was auch für die Radiologie anzunehmen ist. Gegen diese Brüche wendet sich 2008 auch der amerikanische Kulturanthropologe und Mediziner Barry F. Saunders in
70 V. Krieger: Zeitgenossenschaft als Herausforderung, S. 18. In Wahrheit und Methode bezeichnet Hans-Georg Gadamer den zeitlichen Abstand als Paradox, da der hermeneutische Prozess niemals abgeschlossen ist – auch wenn das zu Betrachtende einen zeitlichen Abstand zum Betrachtenden hat. Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), Tübingen
7
2010,
S. 303ff. 71 Vgl. V. Krieger: Zeitgenossenschaft als Herausforderung, S. 19. Hans-Georg Gadamer formuliert: „Ein wirklich historisches Denken muß die eigene Geschichtlichkeit mitdenken.“ H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 305. 72 Vgl. Buschhaus, Markus: Über den Körper im Bilde sein. Eine Medienarchäologie anatomischen Wissens, Bielefeld 2005.
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seiner sozialwissenschaftlichen Untersuchung zur Computertomografie in radiologischen Abteilungen.73 Er verortet die radiologische Arbeit im ‚Zeitalter des nichtinvasiven Schneidens‘ und sieht die bildgebende Technik nicht als ‚postmodern‘ an, sondern eingebettet in Projekte des 19. Jahrhunderts wie das Vergleichen, Interpretieren und Klassifizieren von morphologischen Mustern. Das Zerschneiden bei der Computertomografie geschehe nur nicht mehr invasiv, sondern virtuell und über Bildergebnisse.74 Verstärkt tritt damit ein medizinisches Interesse am Bild in den Vordergrund, welches der Medizinhistoriker Frank Stahnisch schon für das 19. Jahrhundert exponiert, da dort eine gesteigerte Thematisierung von Bildhaftigkeit des Wahrgenommenen auf mehreren Gebieten der Medizin zu verzeichnen sei.75 An die anatomische Bildgeschichte anknüpfend, widmet sich die Kunsthistorikerin Wibke Larink in ihrer Dissertation Bilder vom Gehirn. Bildwissenschaftliche Zugänge zum Gehirn als Seelenorgan (Berlin 2011) der kulturhistorischen Entwicklung sowie Wechselwirkung von Bildern und Vorstellungen vom 16. bis 19. Jahrhundert, und wagt einen Ausblick bis in die heutige Zeit und die funktionelle Bildgebung der Hirnforschung. Aus Perspektive der vorliegenden Untersuchung ist zu betonen, dass im Folgenden nicht die Bilder der Hirnforschung herangezogen werden, die häufiger in öffentlichen Medien präsentiert und diskutiert werden; stattdessen konzentriert sich die Studie explizit auf die morphologische Bildgebung der Radiologie, die – vor allem aufgrund ihrer Schwarz-Weiß- oder Grautöne – nicht so spektakulär erscheint.76 Wie Nicolas Langlitz 2008 betont,
73 Vgl. Saunders, Barry F.: CT Suite. The Work of Diagnosis in the Age of Noninvasive Cutting, Durham 2008. 74 Vgl. B. F. Saunders: CT Suite, S. 12. 75 Vgl. Stahnisch, Frank: „Nosologie der Dritten Dimension: Albert Neissers (1855-1916) Stereoscopischer Medicinischer Atlas zwischen Repräsentation, Ikonografie und vergleichender Pathologie“, in: Lena Bader/Martin Gaier/Falk Wolf (Hg.), Vergleichendes Sehen (= eikones), München 2010, S. 147-168, hier S. 148. 76 Im Forschungsfeld lässt sich eine Schwerpunktsetzung auf funktionelle Verfahren in den Neurowissenschaften betonen, wie sich neben Larinks Studie beispielhaft an folgenden Texten zeigen lässt: Fitsch, Hannah: … dem Gehirn beim Denken zusehen? Sicht- und Sagbarkeiten in der funktionellen Magnetresonanztomographie (= Technik | Körper | Gesellschaft, Bd. 5), Bielefeld 2014; Heinemann, Torsten: „‚Hirnforschung‘ zwischen Labor und Talkshow. Ideal der Wissenstransformation?“, in: Florian Hoof/Eva-Maria Jung/Ulrich Salaschek (Hg.), Jenseits des Labors. Transformationen von Wissen zwischen Entstehungs- und Anwendungskontext, Bielefeld 2011, S. 215-
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sind die zumeist grellen, farbigen Bilder des menschlichen Gehirns in Zeitschriften und Journalen eher einer „Ikonophilie des Wissenschaftsjournalismus und populärwissenschaftlichen Darstellungen“77 zuzuschreiben, als der täglichen Arbeit medizinischer Forscher. Der Blick auf die tägliche radiologische Arbeit bezieht Ansätze der Wissenschafts- und Technikforschung sowie die Laborstudien der 1980er und 1990er Jahre ein.78 Die amerikanische Soziologin Kelly A. Joyce hat 2008 wegweisende Untersuchungen zur Magnetresonanztomografie in Nordamerika vorgelegt79 und fragt beispielsweise, wie medizinische Experten den aus technischen Prozessen hervorgehenden Bildern Sinn als anatomische Abbildungen des menschlichen
237; Langlitz, Nicolas: „Neuroimaging und Visionen. Zur Erforschung des Halluzinogenrauschs seit der ‚Dekade des Gehirns‘“, in: Matthias Bruhn (Hg.), Ikonographie des Gehirns (= Bildwelten des Wissens 6,1), Berlin 2008, S. 30-42; Hagner, Michael: „Der Geist bei der Arbeit. Überlegungen zur visuellen Repräsentation cerebraler Prozesse“, in: Cornelius Borck (Hg.), Anatomien medizinischen Wissens. Medizin, Macht, Moleküle, Frankfurt a. M. 1996, S 259-286;; Groß, Dominik/Müller, Sabine: „Mit bunten Bildern zur Erkenntnis? Neuroimaging und Wissenspopularisierung am Beispiel des Magazins ‚Gehirn & Geist‘“, in: D. Groß/T. Duncker, Farbe – Erkenntnis – Wissenschaft (2006), S. 77-92; Groß, Dominik/Schäfer, Gereon: „Das Gehirn in bunten Bildern. Farbstrategien und Farbsemantiken in den Neurowissenschaften. Ein Forschungsaufriss“, in: Dominik Groß/Stefanie Westermann (Hg.), Vom Bild zur Erkenntnis? Visualisierungskonzepte in den Wissenschaften (= Studien des Aachener Kompetenzzentrums für Wissenschaftsgeschichte, Bd. 1), Kassel 2007, S. 271-282; Salaschek, Ulrich: Der Mensch als neuronale Maschine? Zum Einfluss bildgebender Verfahren der Hirnforschung auf erziehungswissenschaftliche Diskurse, Bielefeld 2012. 77 N. Langlitz: Neuroimaging und Visionen, S. 34. 78 Vgl. Latour, Bruno/Woolgar, Steve: Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts, Beverly Hills 1979; und vgl. Knorr-Cetina, Karin: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1984; und vgl. Blume, Stuart S.: Insight and Industry: On the Dynamics of Technological Change in Medicine, Massachusetts 1992. 79 Vgl. Joyce, Kelly A.: Magnetic Appeal. MRI and the Myth of Transparency, New York 2008.
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Körpers verleihen.80 Im gleichen Jahr beschreibt die Sozialwissenschaftlerin Regula V. Burri die Bildherstellung in der Radiologie.81 Die vorliegende Untersuchung knüpft in Bezug auf das Bildhandeln an die Arbeiten von Joyce und Burri an; zugleich treten in sozialwissenschaftlich motivierten Schriften die Bilder als Untersuchungsgegenstand in den Hintergrund, was der hier ausgeführten bildwissenschaftlichen Fragestellung widerspricht. Naturwissenschaftliche Bilder gelten als „Ergebnis eines komplexen Herstellungs- und Transformationsprozesses“82, bei deren Analyse neben den sozialen und kulturellen83 Komponenten auch ästhetische und technische Bedingungen der Bildentstehung mit einbezogen werden müssen.84 Die ästhetische Praxis in den Naturwissenschaften betont die Wissenschaftshistorikerin Martina Heßler schon 2004 in ihrer BMBF-Explorationsstudie Visualisierungen in der Wissenskommunikation (Aachen).85 Nach Heßler zeichnet sich „die wissenschaftliche Praxis der Bildproduktion unabdingbar durch eine ästhetische bzw. aisthetische Praxis aus. Bildproduktion meint per se ästhetische
80 Vgl. ebd., S. 3. 81 Vgl. Burri, Regula Valérie: Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder, Bielefeld 2008. 82 Heintz, Bettina/Huber, Jörg: „Der verführerische Blick: Formen und Folgen wissenschaftlicher Visualisierungsstrategien“, in: dies. (Hg.), Mit dem Auge denken (2001), S. 9-40, hier S. 12; vgl. ebenfalls Adelmann, Ralf u. a.: „Datenbilder und Bildpraxen“, in: dies. (Hg.), Datenbilder. Zur digitalen Bildpraxis in den Naturwissenschaften, Bielefeld 2009, S. 10-20, hier S. 12; und vgl. Stahnisch, Frank: „Mind the Gap: Synapsen oder keine Synapsen? – Bildkontrolle, Wortwechsel und Glaubenssätze im Diskurs der morphologischen Hirnforschung“, in: ders./Heijko Bauer (Hg.), Bild und Gestalt: Wie formen Medienpraktiken das Wissen in Medizin und Humanwissenschaften? (= Medizin & Gesellschaft, Bd. 13), Hamburg 2007, S. 101-124, hier S. 122; und vgl. Krewani, Angela: Technische Bilder: Aspekte medizinischer Bildgestaltung, in: IMAGE – Zeitschrift für interdisziplinäre Bildforschung 9 (2009), S. 81-90, hier S. 82, http://www. gib.uni-tuebingen.de/own/journal/pdf/buch_image9.pdf vom 01.02.2019. 83 Vgl. Burri, Regula Valérie: „Doing Images. Zur soziotechnischen Fabrikation visueller Erkenntnis in der Medizin“, in: B. Heintz/J. Huber (Hg.), Mit dem Auge denken (2001), S. 277-303, hier S. 277. 84 Vgl. R. Adelmann u. a.: Datenbilder und Bildpraxen, S. 12. 85 Vgl. Heßler, Martina (zus. mit Jochen Hennig/Dieter Mersch): Visualisierungen in der Wissenskommunikation (Explorationsstudie im Rahmen der BMBF-Förderinitiative „Wissen für Entscheidungsprozesse“), Aachen 2004, www.sciencepolicystudies.de/ dok/explorationsstudie-hessler.pdf vom 25.09.2015.
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Entscheidungen, ästhetisches Handeln.“86 Sie bemängelt jedoch, dass die Wissenschaftsforschung die Bilderfrage nicht angemessen reflektiert und sich zugleich Ansätze bildtheoretischer Analysen aus Philosophie, Kunstgeschichte und Medienwissenschaft nicht auf die Bildproblematik in den Naturwissenschaften einlassen.87 Vor diesem Hintergrund bezieht sich die vorliegende Untersuchung explizit auf die Bildproblematik der diagnostischen Radiologie, indem sie sich der Disziplin diskursanalytisch nähert und die Bilderfrage zuerst aus der Radiologie entwickelt, um sie mit bild- und kunstwissenschaftlichen Ansätzen zu vergleichen. In diesem Zusammenhang ist erneut die angebliche Opposition analoger und digitaler Bilder aufzugreifen, der sich auch der Medienwissenschaftler Ralf Adelmann und der Wissenschaftshistoriker Jan Frercks 2009 in Datenbilder. Zur digitalen Bildpraxis in den Naturwissenschaften zuwenden. Adelmann geht gemäß gegenwärtiger Theorien der Wissenschaftsforschung von einer naturwissenschaftlichen Bild- und Medientheorie by doing aus, die durch wissenschaftshistorische Analysen zu rekonstruieren sei.88 Dabei beschreiben Adelmann et al. für die Astronomie die Auswertung der durch das Digitale neu entstehenden Datenfülle als unbekannte Herausforderung,89 wie es parallel in der Medizin zur Klage einer nicht zu bewältigenden ‚Bilderflut‘90 kommt. Schon 1969 findet sich bei dem Mediziner Helmut Vogt die Anmerkung, dass „die Medizin mitten im Strudel jener Bilderflut [treibt, Anm. d. A.], welche den modernen Menschen auf allen Gebieten mit einer vormals nie dagewesenen Masse von Darstellungen überschwemmt.“ 91 Vogt führt die Bilderflut auf den durch das neue Medium Fotografie ausgelösten Wechsel zum 20. Jahrhundert zurück.92 Auch der Mediziner Gerhard Pott sieht 2004 die Möglichkeiten medizinischer Bildgebung kritisch, da der medizinische Alltag von ihr geprägt sei und aufgrund „der beliebigen Anwendbarkeit eine solche Flut von technischen Bildern entstanden ist, die das primäre Patientenbild
86 Heßler, Martina: „BilderWissen“, in: R. Adelmann u. a. (Hg.), Datenbilder (2009), S. 133-161, hier S. 144. 87 Vgl. M. Heßler: Visualisierungen in der Wissenskommunikation, S. 26. 88 Vgl. Adelmann, Ralf: „Implizite Bild- und Medientheorien“, in: ders. u. a. (Hg.), Datenbilder (2009), S. 162-178, hier S. 165. 89 Vgl. R. Adelmann u. a.: Datenbilder und Bildpraxen, S. 16. 90 Vgl. A. Ohly: Über die Macht der Bilder, S. 144. In den enormen Datenmengen wird die Gefahr gesehen, in „der Flut von Bildern […] einen Befund zu übersehen“, wie Stefan Delorme et al. betonen. Vgl. Delorme, Stefan u. a.: „Dunkle Flecken und ihre Schatten“, in: Der Radiologe 55/2 (2015), S. 92. 91 H. Vogt: Das Bild des Kranken, S. 57. 92 Vgl. ebd.
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überdecken.“93 Gerd Folkers und Samuel Zinsli betonen 2011 aus Perspektive der pharmazeutischen Chemie: „Die ganze wissenschaftliche Bilderflut dient im Hintergrund scheinbar nur einem Ziel, nämlich den ‚normalen‘ Menschen zu finden.“94 Nach kunst- und bildwissenschaftlichen Ansätzen hat sich die Kultur durch die Zunahme an Massenmedien verändert, wobei der Kunsthistoriker Martin Schulz die gängige Metapher der Bilderflut als Beschreibung dieser Veränderung für untertrieben hält.95 Aus seiner Sicht nutzen mächtige Institutionen die Bilder, um „die Wirklichkeit eher zu kaschieren denn sichtbar zu machen“96. Vor allem die Digitalität der Bilder scheint ausschlaggebend für ein sprunghaftes Ansteigen der Bilderflut97 oder aus körperhistorischer Perspektive gar für ein Ende der modernen Idee einer Identität von Körper und Ich.98 Demgegenüber greift der Kunsthistoriker Daniel Hornuff Überlegungen von Felix Thürlemann und David Ganz auf und gibt zu bedenken, dass der Begriff der Bilderflut darüber hinweg leite, dass manchmal die Zusammenstellung mehrerer Bilder nicht nur eine Anhäufung von Scheinhaftigkeit und Täuschungsenergien schaffe, sondern überhaupt die Entfaltung eines Sinnpotentials ermögliche.99 Insbesondere in der Radiologie braucht es eine bestimmte Anzahl Bilder, um sie sinnhaft verstehen und auf die Wirklichkeit beziehen zu können. Wie ist also mit dem Modewort Bilderflut umzugehen?100 Nach Christoph Asmuth sind die Bilderfluten unserer Gegenwart „gefühlte
93
Pott, Gerhard: Der angesehene Patient. Ein Beitrag zur Ethik in der Palliativmedizin, Stuttgart 2004, S. 1.
94
Folkers, Gerd/Zinsli, Samuel: „Bildeffekte in wissenschaftstheoretischer Perspektive“, in: Philipp Stoellger/Thomas Klie (Hg.), Präsenz im Entzug. Ambivalenzen des Bildes, Tübingen 2011, S. 475-517, hier S. 515.
95
Vgl. Schulz: Ordnungen der Bilder, S. 9.
96
Ebd., S. 10.
97
Vgl. Klinke, Harald: „Bildwissenschaft ohne Bildbegriff“, in: ders./Lars Stamm (Hg.), Bilder der Gegenwart. Aspekte und Perspektiven des digitalen Wandels, Göttingen 2013, S. 11-28, hier S. 16.
98
Vgl. Piller, Gudrun: Private Körper. Spuren des Leibes in Selbstzeugnissen des 18.
99
Vgl. D. Hornuff: Bildwissenschaft im Widerstreit, S. 100.
Jahrhunderts, Köln 2007, S. 29. 100 Die Kulturwissenschaftler Stefan Lüddemann und Thomas Heinze verweisen 2016 in ihrer Einführung in die Bildhermeneutik auf die Bilderflut als zeitgenössisches Modewort, vgl. Lüddemann, Stefan/Heinze, Thomas: „Einleitung. Aufbau und Ziele des Bandes“, in: dies. (Hg.), Einführung in die Bildhermeneutik (2016), S. 11-14, hier S. 11.
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Fluten, erzeugt durch besondere Bildtechniken, welche die Bilder heute elektronisch und digital potenzieren.“101 Im Rahmen einer eigenen Standortbestimmung in der bildwissenschaftlichen Diskussion scheint die Rede von der Bilderflut keine nüchterne Beschreibung der aktuellen Situation; bei genauerer Betrachtung offenbart sie eher eine Strategie, die Bedeutung einer bildwissenschaftlichen und medienkompetenten Position zu unterstreichen. Asmuth kategorisiert die beiden Haltungen als ein Ertrinken in oder ein Schwimmen mit den Bilderfluten: Entweder finden sich Verfallstheorien und „eine Angst vor dem gänzlichen Verlust eines authentischen Bilderlebens“ 102 durch Konsum und Vermarktung oder Bilderfluten geben Anlass zu hochgesteckten Aufklärungsplänen.103 Falls beim Bildumgang der Radiologie eine dieser Haltungen anzutreffen ist, so eher letztere. Denn der Verlust eines authentischen Bilderlebens würde den Bildgebrauch der Radiologie grundsätzlich in Frage stellen, geht die medizinische Disziplin doch davon aus, über die Bilder Erkenntnisse zum menschlichen Körper zu erlangen. Innerhalb der Radiologie ist somit auch nicht von einem angenommenen Referenzverlust der digitalen Bilder zur Wirklichkeit auszugehen, wie er teilweise in medien- und kulturwissenschaftlichen Überlegungen angeführt wird.104 Die Radiologie geht davon aus, dass computer- und magnetresonanztomografische Bilder den menschlichen Körper so repräsentieren, wie er ‚vermutlich‘ (präsumtiv, spätlat. praesumptivus) existiert.105
101 Asmuth, Christoph: Bilder über Bilder, Bilder ohne Bilder. Eine neue Theorie der Bildlichkeit, Darmstadt 2011, S. 22. Auch Harald Klinke betont, dass das digitale Bild „die Bilderflut sprunghaft ansteigen“ lasse. Vgl. H. Klinke: Bildwissenschaft ohne Bildbegriff, S. 16. 102 C. Asmuth: Bilder über Bilder, S. 23. 103 Vgl. ebd., S. 24. 104 Vgl. Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg: „Bild, Wahrnehmung und Phantasie. Performative Zusammenhänge“, in: dies. (Hg.), Ikonologie des Performativen, München 2005, S. 732, hier S. 20. 105 Jan Frercks schlägt im Bereich digitaler wissenschaftlicher Bilder einen dreifach gegliederten Referenzbegriff vor und unterscheidet zwischen inskriptiver, präsumtiver und kritischer Referenz. Diese Gliederung lässt sich auf die radiologischen Bildern anwenden. Vgl. Frercks, Jan: „Referenzverluste – Referenzgewinne“, in: R. Adelmann u. a. (Hg.), Datenbilder (2009), S. 179-194, hier S. 183.
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Allerdings hat die Disziplin ihre Bilder kritisch zu prüfen106 und bezieht sich dabei auf schon bestehende Verbildlichungen des menschlichen Körpers, wie sie beispielsweise in der Anatomie existieren oder durch die Röntgentechnik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts produziert werden. Für die vorliegende Untersuchung sind an dieser Stelle Monika Dommanns Geschichte der Röntgenstrahlen107 sowie Vera Dünkels Dissertation Röntgenblick und Schattenbild108 als wichtige Vorarbeiten zu nennen. Allerdings geht die Untersuchung über den historischen Ansatz Dommanns mit der Konzentration auf Bilder als Untersuchungsgegenstand hinaus, und wendet sich – entgegen Dünkels Ansatz – nicht einer künstlerischen, zeitlich parallelen Bildproduktion zu. Statt einen kunsthistorischen Bildbegriff als unumstößlich vorauszusetzen, wie es in kunsthistorischen Arbeiten durchaus vorkommt, 109 wird dieser ebenso befragt wie das Bildverständnis der Radiologie. Erst wenn ich meine eigene Position in das gesamte Ensemble einfüge und reflektiere, bietet der bildwissenschaftliche Ansatz die Möglichkeit, Potentiale und Limitierungen der eigenen Disziplin in Bezug auf Bilder zu erkennen.
106 Hier hat die ‚kritische Referenz‘ nach Frercks Gültigkeit, vgl. ebd., S. 187. 107 Vgl. M. Dommann: Durchsicht, Einsicht, Vorsicht. 108 Vgl. Dünkel, Vera: Röntgenblick und Schattenbild. Genese und Ästhetik einer neuen Art von Bildern, Emsdetten/Berlin 2016. 109 Vgl. bspw. Lammers, Anna: Der medizinische Blick. Medizinische Bilder des Körpers in zeitgenössischer Kunst am Beispiel von Mona Hatoums Corps étranger (1994) und Marilène Olivers Family Portrait (2002), Diss. phil. masch., Ruhr-Universität Bochum 2011, http://www-brs.ub.ruhr-uni-bochum.de/netahtml/HSS/Diss/LammersAn na/diss.pdf vom 01.02.2019; und Lauer, Natalie J.: Der Kontrakt des Zeichners mit der Medizin. Ästhetik und Wissenschaft im Bildatlas Bourgery & Jacob, Würzburg 2013.
2
Der Streit um Bildlichkeit: Einordnung im bildwissenschaftlichen Diskurs
Die 1994 formulierte und in bildwissenschaftlichen Ansätzen immer wieder aufgegriffene ikonische Wendung1 ist aus der vorliegenden kunsthistorischen Perspektive durchaus als Zäsur zu verstehen, mit der Bildern und ihrem Status eine erhöhte Aufmerksamkeit in Forschung und Lehre zukommt. Doch ob der iconic turn mit dem 1967 von Richard Rorty in der Philosophie proklamierten linguistic turn als gleichwertig eingestuft werden sollte, ob beide Wenden einen vergleichbaren methodischen Anspruch erheben, ist zu bezweifeln.2 Immerhin zeichnet sich der linguistic turn durch den Anspruch aus, alle erkenntnistheoretischen Probleme als sprachliche Probleme aufzufassen.3 Im deutschen Sprachraum erreichte der sprachanalytische Ansatz erst um 1990 seinen Höhepunkt, während Rorty und andere US-amerikanische Philosophen wieder Abstand von einer linguistischen Philosophie nahmen.4 Die Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick betont das Paradox, dass der iconic turn gerade in einer Zeit prägnant wurde, „in der die 1
Vgl. Boehm, Gottfried: „Die Wiederkehr der Bilder“, in: ders. (Hg.), Was ist ein Bild?
2
Der Philosoph Dimitri Liebsch hinterfragt die Gleichsetzung von iconic und linguistic
(1994), S. 11-38, hier S. 13. turn; er kritisiert, dass der iconic turn eben nicht das begriffliche durch ein metaphorisches oder bildliches Denken ersetzen kann, wie der linguistic turn philosophische Probleme durchaus in die Sprache und das begriffliche Denken verlegt hat. Vgl. Liebsch, Dimitri: „‚Uneigentliche Bilder‘. Zur (historischen) Bildsemantik und -metaphorik“, in: ders./Mößner, Nicola (Hg.), Visualisierung und Erkenntnis. Bildverstehen und Bildverwenden in Natur- und Geisteswissenschaften, Köln 2012, S. 58-80, hier S. 60 und S. 75ff. 3
Vgl. Edel, Geert: Hypothesis versus Linguistic Turn. Zur Kritik der sprachanalytischen
4
Vgl. ebd., S. 18ff.
Philosophie, Waldkirch 2010, S. 11.
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Kunstgeschichte (verspätet) auf den Zug des linguistic turn aufspringt und beginnt, die bildenden Künste als Zeichensysteme, textuelle und diskursive Phänomene zu entdecken.“5 Selbst wenn der iconic turn als „Gegenbewegung zum linguistic turn und seinem Diktum von der Sprachabhängigkeit aller Erkenntnis“6 zu verstehen ist, muss nach Bachmann-Medick hervorgehoben werden, dass Bilder Texte oder Sprache nicht einfach ablösen: Sie sind stattdessen auf (sprachliche) Interpretation angewiesen. Während es sich beim linguistic turn um einen methodologischen Umbruch handelte – der mittlerweile angezweifelt wird –, widmet sich der iconic turn nach Bachmann-Medick dem neuartigen Problem der Massen von Bildern, die durch neue Medien möglich wurden.7 In dieser Diskussion um Sprachlichkeit und Bildlichkeit lassen sich mit Philosophie und Ästhetik und seit Entstehen der Kunstgeschichte als akademischer Disziplin im 18. und 19. Jahrhundert vielfältige Überlegungen zu Konzepten und Begriffen von Bild und Bildlichkeit nachweisen.8 Jüngst griff die Kunsthistorikerin Lena Bader auf Bild-Prozesse des 19. Jahrhunderts und deren Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Kunstgeschichte heute zurück, insofern seit den 1850er Jahren „ein dominanter Fokus auf kunstbezogene Bilderfragen“ 9 in verschiedenen wissenschaftlichen und populären Periodika bemerkbar sei. Bader kritisiert die aktuelle bildwissenschaftliche Positionierung der Kunstgeschichte als prekär, da die stärkere Betonung der ikonischen Wendung der Moderne letztlich bildkritische Ansätze im Kontext der facheigenen Geschichtsschreibung ausblende.10 Dabei sind ihre Überlegungen von einer Diskussion geprägt, die seit den 1990er Jahren erst den Blick dafür geschärft hat, Vorgänger und Wegbereiter einer Bild- und Bildlichkeitsdiskussion vom Rand der Kunstgeschichte in den Fokus zu rücken. Eine Betrachtung der Engführung bildwissenschaftlicher Positionierung seit den 1990er Jahren oder der wissenschaftshistorischen Konstruktion einer bildwis-
5
Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissen-
6
Ebd., S. 349.
7
Vgl. ebd., S. 351.
8
Vgl. exemplarisch Voorhoeve, Jutta: Romantisierte Kunstwissenschaft. Franz Stern-
schaften, Hamburg 2006, S. 332.
balds Wanderungen von Ludwig Tieck und die Emergenz moderner Bildlichkeit, München 2010, S. 176; und vgl. Al-Taie, Yvonne: Tropus und Erkenntnis. Sprach- und Bildtheorie der deutschen Frühromantik, Göttingen 2015, S. 12. 9
Bader, Lena: Bild-Prozesse im 19. Jahrhundert. Der Holbein-Streit und die Ursprünge der Kunstgeschichte, München 2013, S. 23.
10 Vgl. ebd., S. 65.
Der Streit um Bildlichkeit | 39
senschaftlich geprägten Kunstgeschichte lässt sich ausweiten, da jüngere literaturwissenschaftliche, philosophische und kunsthistorische Forschungsarbeiten darauf verweisen, dass mit der Wende zum 19. Jahrhundert das Verhältnis von Sprachlichkeit und Bildlichkeit ebenso diskutiert wurde wie das Problem der Darstellbarkeit.11 Gottfried Boehm selbst erläutert, dass die aktuelle Debatte um Bilder an das seit dem 19. Jahrhundert gewachsene Darstellungsbewusstsein anknüpft;12 die Literaturwissenschaftlerin Sabine Schneider hebt heraus, dass um 1900 in „einer erstaunlichen Analogie zur heutigen Diskussion […] nach den Schnittstellen zwischen äußeren und inneren Bildern, zwischen medialen, kulturhistorischen und anthropologischen Ansätzen“13 gesucht wurde. Allerdings wurden diese Ansätze im Hauptstrang einer an Stil- und Epochengeschichte interessierten Kunstgeschichte zumeist nicht berücksichtigt und erfahren nun im Anschluss an die ikonische Wende ihre Aufwertung. Auch der Rückblick auf die seit den 1960er und 1970er Jahren betriebene Neuausrichtung der kunsthistorischen Disziplin14 (parallel zu anderen Geisteswissenschaften) unterstreicht die Bedeutung der Themen Bild, Bildlichkeit und Darstellung. In den späten 1970er Jahren etablierte sich, neben dem interdisziplinären Forschungsfeld der Visual Studies oder Visual Culture Studies im angloamerikanischen, auch im deutschsprachigen Raum ein vorrangig literatur-, kunst- und kulturwissenschaftlicher Diskurs um das Thema Bildlichkeit. 15 Im Hinblick auf meine eigene Verortung in der Kunstgeschichte und Gottfried Boehm als prägnanten Vertreter einer kunsthistorischen Bildwissenschaft ist auf Max Imdahl und dessen – an Konrad Fiedler anschließende – Überlegungen zu einer Ikonik sowie
11 Vgl. zur (Früh-)Romantik: Y. Al-Taie: Tropus und Erkenntnis, S. 479; und vgl. Simon, Ralf: Die Bildlichkeit des lyrischen Textes. Studien zu Hölderlin, Brentano, Eichendorff, Heine, Mörike, George und Rilke, München 2011. Weiter spielen Fragen der Darstellung seit dem 18. Jahrhundert in Bezug auf die ästhetische Erfahrung eine Rolle; vgl. Albes, Claudia: „Darstellbarkeit. Zu einem ästhetisch-philosophischen Problem um 1800. Einleitung“, in: dies./Frey, Christiane (Hg.), Darstellbarkeit. Zu einem ästhetischphilosophischen Problem um 1800, Würzburg 2003, S. 9-28, hier S. 9f. 12 Vgl. Boehm, Gottfried: „Das Paradigma ‚Bild‘. Die Tragweite der ikonischen Episteme“, in: H. Belting (Hg.), Bilderfragen (2007), S. 77-82, hier S. 78. 13 Schneider, Sabine: Verheißung der Bilder. Das andere Medium in der Literatur um 1900, Tübingen 2006, S. 4. 14 Vgl. Held, Jutta/Schneider, Norbert: Grundzüge der Kunstwissenschaft. Gegenstandsbereiche – Institutionen – Problemfelder, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 13f. u. S. 493. 15 Vgl. Prinz, Sophia: Die Praxis des Sehens. Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung, Bielefeld 2014, S. 23f.
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seine Orientierung an zeitgenössischer Malerei seit den 1960er Jahren zu verweisen.16 1982 betont Imdahl in der Auseinandersetzung mit moderner Bildlichkeit ein Nachdenken „über das Verhältnis zwischen Bildlichkeit und Sprache und über das jeweilige Leistungsvermögen von beiden“17. Dabei ist Imdahls Position insofern von Bedeutung, als er die Bildlichkeit in den Mittelpunkt rückt und das Bild als eigenständiges Erkenntnismedium betrachtet, dessen Sinn durch nichts anderes, vorrangig nicht durch Sprachliches zu ersetzen ist.18 Der schon in der Frühromantik begonnene Diskurs zu Sprachlichkeit und Bildlichkeit in Bezug auf die moderne Kunst und das künstlerische Bild oder Kunstwerk setzt sich somit in Positionen seit den 1960er Jahren fort.19 Doch gerade die Anbindung an und Konzentration auf das künstlerische Bild oder Werk wird in der aktuellen Debatte an einer aus der Kunsthistorik betriebenen Bildwissenschaft kritisiert – vor allem, wenn es um die Analyse von Bildern geht, die nicht aus einem künstlerischen Kontext stammen. Philosophische Positionen sind an einem Bildbegriff interessiert, der sich auf alle Bilder und eben nicht nur künstlerische erstreckt.20 Die Kritik von Markus Buschhaus an einem ästhetizistisch-phänomenologischen Missverständnis wurde schon angeführt: So soll nicht das künstlerische Bild das Maß sein, an welchem bildwissenschaftlich alle anderen Bilder gemessen werden.21 Ebenfalls 2008 betont die Kunsthistorikerin Gabriele Werner, dass mit iconic und pictorial turn ein Bildbegriff konstituiert werde,
16 Vgl. Führ, Eduard: „Ikonik und Architektonik“, in: Jörg H. Gleiter/Norbert Korrek/Gerd Zimmermann (Hg.), 10. Internationales Bauhauskolloquium: Die Realität des Imaginären. Architektur und das digitale Bild, Weimar 2008, S. 49-61, hier S. 49. 17 Imdahl, Max: „Zu Picassos Bild ‚Guernica‘. Inkohärenz und Kohärenz als Aspekte moderner Bildlichkeit“, in: Rainer Warning/Winfried Wehle (Hg.), Lyrik und Malerei der Avantgarde, München 1982, S. 521-575, hier S. 526. 18 Vgl. Lüddemann, Stefan: „Die ‚Ikonik‘ Max Imdahls“, in: ders./T. Heinze (Hg.), Einführung in die Bildhermeneutik (2016), S. 158-166, hier S. 160. 19 Vgl. bspw. Wang, Andreas: Der ‚Miles Christianus‘ im 16. und 17. Jahrhundert und seine mittelalterliche Tradition. Ein Beitrag zum Verhältnis von sprachlicher und graphischer Bildlichkeit (= MIKROKOSMOS. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung, Bd. 1), Bern u. a. 1975, S. 11; und vgl. Meier, Christel/Ruber, Uwe: „Einleitung“, in: dies. (Hg.), Text und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste in Mittelalter und früher Neuzeit, Wiesbaden 1980, S. 9-18, hier S. 9. 20 Vgl. Wiesing, Lambert: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt a. M. 2005, S. 13. 21 Vgl. M. Buschhaus: In großer Nähe so fern, S. 106.
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„der das Wesen des Bildlichen, das Wesen des Zeigens und des Sehens, vom Denkbaren und somit von Sprache unterscheiden soll. Untrennbar verbunden mit dieser Konstruktion einer fundamentalen Differenz ist ein von der Kunst abgeleiteter Bildbegriff, wie er historisch durch die Phänomenologie und durch die Hermeneutik begründet wurde.“ 22
Werner kritisiert an diesen Ansätzen, dass dem Bildlichen ein von Sprache oder Sprachlichkeit unabhängiges Sein zugesprochen wird, – wobei doch gerade bei naturwissenschaftlichen Bildern erst diskursive und kommunikative Prozesse sowie bestimmte Produktionsbedingungen zum Bild führen.23 Ebenso wie Buschhaus widmet sich Werner somit nicht künstlerischen, sondern naturwissenschaftlichen und insbesondere technischen Bildern und fordert eine „vom Technischen her gedachte Bildtheorie“, die „nach den unterschiedlichen Handlungen mit Bildern“24 fragt. Verschiedene Positionen betonen, dass sich Bildliches und Sprachliches nicht als ein Entweder-Oder verstehen lassen: 1978 thematisiert Gottfried Boehm in seinem Aufsatz zur Hermeneutik des Bildes die Suche nach Gemeinsamkeiten von Bild und Sprache, die er in die Ebene der Bildlichkeit legt.25 Der Philosoph Christoph Asmuth hebt in seiner Theorie der Bildlichkeit 2011 hervor, „dass es offenkundig sinnlos ist, Bilder und Sprache als alternative Zugänge zur Wirklichkeit zu betrachten.“26 Vielmehr ist davon auszugehen, dass beide aufeinander angewiesen sind: Sprache auf Bilder wie Bilder auf Sprache.27 Damit sollen nicht ihre Unter-
22 Werner, Gabriele: „Bilddiskurse. Kritische Überlegungen zur Frage, ob es eine allgemeine Bildtheorie des naturwissenschaftlichen Bildes geben kann“, in: Horst Bredekamp/Birgit Schneider/Vera Dünkel (Hg.), Das Technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder, Berlin 2008, S. 30-35, hier S. 31. 23 Vgl. ebd., S. 33. Rolf F. Nohr bestätigt in seiner Untersuchung, dass gerade an naturwissenschaftlichen Laborbildern die Verbindung von Wissen als Diskurs und Bild, also sprachlich formuliertem Wissen und Bildern exemplarisch aufzuweisen ist. Vgl. Nohr, Rolf F.: Nützliche Bilder. Bild, Diskurs, Evidenz, Münster 2014, S. 16. 24 G. Werner: Bilddiskurse, beide Zitate S. 35. 25 Vgl. G. Boehm: Zu einer Hermeneutik des Bildes, S. 447. 26 C. Asmuth: Bilder über Bilder, S. 142. 27 Ähnlich betont Ralf Simon in Bezug auf die lyrische Bildlichkeit: „Es ist also nicht von einer Konkurrenz von Bild und Sprache um die Position des Ursprungs auszugehen, sondern vielmehr von einer in komplexer Gleichzeitigkeit zu denkenden Konvergenz. Nimmt man den Standpunkt dieses Ursprungsgedankens ein, dann ist damit zugleich
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schiede eingeebnet, aber die Schärfe ontologischer und epistemologischer Fragestellungen und Ansätze gedämpft werden, die von einer Opposition ausgehen. Bei der Deutung von Bildern und der Frage nach ihrer Sinnhaftigkeit sind beide Zugänge – Sprache und Bild, Sprachlichkeit und Bildlichkeit – zu berücksichtigen. Bezogen auf die bisherige Thematisierung des Bildes und einer Bildhermeneutik ist die Konzentration auf Bilder der Kunst auffällig. Sie ist besonders für Gottfried Boehms Formulierung einer Logik der Bilder zu unterstreichen; so geht er in seiner Hermeneutik des Bildes von 1978 für seine Nachforschungen, „wie Bild und Sprache an einer gemeinsamen Ebene der ‚Bildlichkeit‘ partizipieren“28, vom Werk oder vom gemalten Bild aus.29 Auch die von Stefan Lüddemann und Thomas Heinze 2016 publizierte Bildhermeneutik konzentriert sich auf Beispiele der Kunst.30 In der historischen Betrachtung handelt es sich seit den 1990er Jahren nicht um neue Fragen: Die Gegenüberstellung von Bildlichkeit und Sprachlichkeit weist eine längere Tradition auf, die mindestens an den Beginn von Kunstgeschichte und Ästhetik als akademische Disziplinen zu setzen ist.31 Das Missverständnis der kunsthistorischen Bildtheorien, künstlerische Bilder als Ausgangspunkt der Analysen zu nutzen, begründet sich einerseits aus dieser historischen Genese – andererseits aus der scheinbaren Notwendigkeit, sich verstärkt seit den 1990er Jahren in institutions- und wissenschaftspolitischen Fragen des Bildungssystems auf eine Unersetzbarkeit der Kunstgeschichte bei Fragen zu Bildern und Bildlichkeit zu berufen.32 Diese Entwicklung unterstreicht der Kunsthistoriker Daniel Hornuff, wenn er sich, bezogen auf kunsthistorische Positionierungen, gegen
eine wesentliche Bildlichkeit des Wortes und eine wesentliche Sprachlichkeit des Bildes gedacht.“ R. Simon: Die Bildlichkeit des lyrischen Textes, S. 29f. (Herv. i. O.) 28 G. Boehm: Zu einer Hermeneutik des Bildes, S. 447. 29 Vgl. ebd., S. 451 und S. 461. 30 Vgl. S. Lüddemann/T. Heinze: Einleitung, S. 12. 31 Vgl. C. Asmuth: Bilder über Bilder, S. 45. 32 Beispielhaft konstatiert Horst Bredekamp, dass die Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts die moderne Bildwissenschaft begründet habe. Vgl. Bredekamp, Horst: „Bildwissenschaft“, in: Ulrich Pfisterer (Hg.), Metzlers Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart 2003, S. 56-58, hier S. 56. Die Kunst- und Bildwissenschaftlerin Astrid Schmidt-Burkhardt nimmt die inflationäre Rede der turns zum Anlass, Gründe „einer strategischen Positionierung im Wettstreit um die akademische Vorreiterrolle“ aufzudecken. Schmidt-Burkhardt, Astrid: Die Kunst der Diagrammatik. Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas, Bielefeld 2012, S. 23. Rolf N. Nohr thematisiert außerdem wissenschaftspolitische Argumentationen in Bezug auf
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die „teilweise ausufernden Methodenschlachten, die kaum Greifbares liefern und folglich zu den bizarren Auswüchsen eines akademischen Selbsterhaltungstriebs beitragen“33, wendet. Zusätzlich zu dem Widerspruch gegenüber einem aus der Kunst oder Kunstgeschichte stammenden Bildbegriff für bildwissenschaftliche Untersuchungen wird die Konzentration der Kunstgeschichte auf das (Kunst-)Werk oder Einzelbild in Frage gestellt. Hans Belting beschreibt 2007, dass sich die Kunstgeschichte durch die bildwissenschaftliche Debatte in ihrem Werkbegriff bedroht fühle, weil das Werk in der Kunst fassbarer sei als das Bild.34 Er sieht eine kunstgeschichtliche Herangehensweise an einen „so ungesicherten und ungewissen Bildbegriff“ über „die historische und die heutige Bildpraxis“35 als möglich an. Damit befürwortet er einen gebrauchs- oder handlungstheoretischen Ansatz, wie ihn beispielsweise Markus Buschhaus, Gabriele Werner oder der Philosoph Tobias Schöttler36 vertreten. Bezogen auf die vorliegende Studie lässt sich Markus Buschhaus’ Äußerung bezüglich der Frage nach Bild und Werk heranziehen, dass sich Bilder in der klinisch-medizinischen Diagnostik aus dem Blickwinkel einer kunstwissenschaftlichen Analyse „kaum für einschlägige Strategien im Namen eines wie auch immer zu begründenden Meisterwerks“37 eignen. Dabei zählt die Kunstgeschichte zu denjenigen Disziplinen, „die in traditioneller Weise von einer ‚Bildhoheit‘ ausgehen, d. h. das Bild als Werk begreifen“38. Die bildwissenschaftliche Debatte stellt die Kunstgeschichte daher vor eine Zerreißprobe, ob sie weiterhin bei ihren Werken bleibt oder sich anderen Bildern öffnet.39 Bei der Konzentration auf das Einzelbild sieht Daniel Hornuff die ikonische Differenz im bildwissenschaftlichen Diskurs überspannt; stattdessen deutet
Hoch- und Populärkultur innerhalb der bildwissenschaftlichen Diskurse. Vgl. R. Nohr: Nützliche Bilder, S. 32. 33 D. Hornuff: Bildwissenschaft im Widerstreit, S. 11. 34 Vgl. H. Belting: Die Herausforderung der Bilder, S. 15. 35 Beide Zitate ebd. 36 Vgl. Schöttler, Tobias: Von der Darstellungsmetaphysik zur Darstellungspragmatik. Eine historisch-systematische Untersuchung von Platon bis Davidson, Münster 2012. 37 Buschhaus, Markus: „‚Bilderflut‘ – ‚Bilderrausch‘ – ‚Bildermedizin‘: Anmerkungen zum medizinischen Bildhaushalt“, in: F. Stahnisch/H. Bauer (Hg.), Bild und Gestalt (2007), S. 57-74, hier S. 74. 38 R. Hoppe-Sailer/C. Volkenandt/G. Winter: Logik der Bilder, S. 11. 39 Vgl. ebd.
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„der strikte Fokus auf das Einzelbild an, dass es der Bilderfrage um ein Bildverständnis geht, das in einer Analogie zur Praxis des ‚white cube‘ steht: In beiden Fällen wird ‚das‘ Bild seinem jeweiligen Kontext enthoben und zu einem singulären, autonomen, allein aus sich heraus sinnstiftenden Phänomen gesteigert.“40
Ähnlich resümiert Rolf F. Nohr 2014, dass der kunsthistorische Bildbegriff letztlich von einer „am Begriff der ästhetischen Praxis orientierten Denkweise getragen wird: positive Bildwirkung entsteht aus autonomer ästhetischer Komplexität des distinkten Werks.“41 Als Lösung geht Hornuff davon aus, dass die bildhermeneutische Vorgehensweise um eine Analyse der Produktionsprozesse ergänzt wird; es braucht einen Bildbegriff, „der das Bild als Summe bedingender Voraussetzungen beleuchtet“ und verhindert, „dass Bilder nur auf Grundlage ihrer momentanen und singulären Verfassung ausgedeutet werden.“ 42 Diesen kritischen Positionen versucht die vorliegende Studie zu begegnen. Sicherlich ist die Spannweite von einer Darstellungslogik hin zu einer Funktionsgeschichte eine Herausforderung für die Untersuchung: Einerseits geht es darum, wie etwas dargestellt wird und wie sich die Darstellung bildlich manifestiert. Andererseits wird das Bild als Gegenstand angesehen, der genutzt wird und über den die Radiologen Erkenntnisse über den menschlichen Körper erlangen möchten. Um beiden Punkten gerecht zu werden, basiert die Untersuchung auf einem historisch-systematischen Teil, in welchem Bilder als Gegenstand der Radiologie in ihrer Geschichte aufgearbeitet werden, und einem produktions- und rezeptionsästhetischen Teil, in welchem Herstellung und Betrachtung computer- und magnetresonanztomografischer Bilder in der zeitgenössischen Radiologie detailliert analysiert werden. Produktion und Rezeption, Darstellung und Funktion bedingen sich gegenseitig. In ähnlicher Weise wird aktuell ein Konzept von Bildlichkeit vertreten, das verstärkt Bildprozesse in gegenseitiger Beeinflussung denkt und nicht davon ausgeht, dass die Darstellung oder die Funktion den Anfangs- oder Endpunkt derselben ausmachen. Bei Christoph Asmuth findet sich diese Überlegung als eine andere logische Ordnung: Zumeist wird nach der Analogie der Referenz die Ordnung des zeitlichen Verlaufs angenommen, indem es einen Gegenstand gibt, zu
40 D. Hornuff: Bildwissenschaften im Widerstreit, S. 56. 41 R. Nohr: Nützliche Bilder, S. 32. 42 Beide Zitate: D. Hornuff: Bildwissenschaften im Widerstreit, S. 105.
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dem als Zweites eine Abbildung hinzutritt. Doch Asmuth sieht das Bild als Ausgangspunkt, wie es schon durch Hans-Georg Gadamer formuliert wurde:43 „Das Bild erzeugt erst ein Abgebildetes als Abgebildetes. Das Bild setzt den Gegenstand als abgebildeten ins Bild. Erst mit dem Bild gibt es ein Abgebildetes.“ 44 Aus Asmuths Perspektive erzeugt die Bildlichkeit den Primat des Bildes vor der gegenständlichen Wirklichkeit. Eine wichtige Annahme, die in Asmuths Theorie in diese Überlegungen einfließt, ist Bildlichkeit als gedanklicher Unterschied. Damit wendet er sich gegen die ontologische Betrachtung und die Frage, „ob und warum oder gar wann etwas ein Bild ist. Die Theorie der Bildlichkeit geht davon aus, dass die Als-Struktur des Bildes gar keine Dingeigenschaft ist, sondern eine Frage der Dingcharakterisierung. Sie beruht […] auf seiner gedanklichen Konstituierung.“45 Bildlichkeit ist somit etwas, das Menschen aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten erzeugen; die Möglichkeit, in Etwas etwas Anderes zu sehen, ist dem Menschen gegeben.46 In vielen bildwissenschaftlichen Positionen werden daran anschließend die Duplizität zwischen Bildträger und Bildobjekt (oder Bildinhalt)
43 Gadamer formuliert, dass eine Modifikation oder gar Umkehrung des ontologischen Verhältnisses von Urbild und Abbild stattfindet, „wenn das Bild ein Moment der ‚Repräsentation‘ ist und damit eine eigene Seinsvalenz besitzt. Das Bild hat dann eine Eigenständigkeit, die sich auch auf das Urbild auswirkt. Denn strenggenommen ist es so, daß erst durch das Bild das Urbild eigentlich zum Ur-Bilde wird, d. h. erst vom Bilde her wird das Dargestellte eigentlich bildhaft.“ H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 146f. 44 C. Asmuth: Bilder über Bilder, S. 127. 45 Ebd. 46 Diese Position hat vor allem der Philosoph Richard Wollheim (in Abgrenzung zu Ernst Gombrichs ‚Aspektsehen‘) mit der Unterscheidung von seeing-as und seeing-in entwickelt. Vgl. Wollheim, Richard: „Seeing-as, seeing-in, and pictorial representation (1980)“, in: ders. (Hg.), Art and its Objects (Second Edition, with six supplementary essays), Cambridge 72015, S. 137-151; und vgl. Schweppenhäuser, Gerhard: Ästhetik: Philosophische Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Frankfurt a. M. 2007, S. 260. Auch Gottfried Boehm greift auf Wollheims Überlegungen zurück und expliziert, dass sich im ‚Sehen-in‘ die menschliche Wahrnehmung zu einer spezifisch bildlichen Wahrnehmung modelliert. Vgl. Boehm, Gottfried: „Botschaften ohne Worte. Vom Sprachcharakter der bildenden Kunst“, in: Oswald Panagl/Hans Boegl/Emil Brix (Hg.), Der Mensch und seine Sprache(n) (= Wissenschaft Bildung Politik, Bd. 5), Wien/Köln/Weimar 2001, S. 252-271, hier S. 271.
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und die Frage nach ihrer Relation als Kern der Bildlichkeit herausgestellt. 47 Der Philosoph Dirk Rustemeyer sieht Bildlichkeit beispielsweise „als Form einer symbolisch geführten sinnhaften Bestimmung von etwas als etwas“ und nimmt 2003 die „Frage der symbolischen Struktur von Wahrnehmung, Denken und Kommunikation auf.“48 Über diese Duplizität hinaus geht eine dreifache Bestimmung des Bildes oder ein triadisches Modell des Bildbegriffs, in denen neben dem Darstellenden (Bildträger) und der Darstellung (Bildinhalt) auch ein Dargestelltes angenommen werden,49 die immer erst durch den Menschen und dessen Betrachtung (Sehen) hergestellt werden. Nun ist es möglich, das Dargestellte als etwas außerhalb des Bildes anzunehmen, sozusagen als Objekt der Realität, das in dem Bild (Darstellendem) seine Darstellung findet.50 Im Sinne der Bildlichkeit als gedanklichem Unterschied ist es ebenfalls möglich, das Dargestellte nur als etwas innerhalb des Bildes Existierendes aufzufassen, denn wie Christoph Asmuth und HansGeorg Gadamer betonen, wird erst durch das Bild das Dargestellte erzeugt. In diesen Alternativen liegt die Schwierigkeit der Referenz des Bildes: Bezieht sich das Bild auf etwas außerhalb seiner selbst? Gerade am Beispiel computer- und magnetresonanztomografischer Bilder in der Radiologie ist diese Annahme ausschlaggebend für die Erzeugung und Betrachtung der Bilder im diagnostischen Prozess: Diese Bilder sollen einen individuellen menschlichen Körper visualisieren, damit über diese Bilder Aussagen zu diesem Körper getroffen werden können. Wenn nun aber mit Asmuth und Gadamer das Dargestellte in der Form, wie das Bild es zur Darstellung bringt, nur im Bild und nicht außerhalb desselben existiert, ist eine Bezugnahme von computerund magnetresonanztomografischen Bildern auf einen Körper problematisch – es muss unumgänglich eine Übersetzung geleistet werden.
47 Vgl. Finke, Marcel/Halawa, Mark A.: „Materialität und Bildlichkeit. Einleitung“, in: dies. (Hg.), Materialität und Bildlichkeit. Visuelle Artefakte zwischen Aisthesis und Semiosis, Berlin 2012, S. 9-18, hier S. 14; und vgl. Mersch, Dieter: „Blick und Entzug. Zur ‚Logik‘ ikonischer Strukturen“, in: Gottfried Boehm/Gabriele Brandstetter/Achatz von Müller (Hg.), Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen, München 2007, S. 55-69, hier S. 56. 48 Rustemeyer, Dirk: „Vorwort“, in: ders. (Hg.), Bildlichkeit. Aspekte einer Theorie der Darstellung (= Wittener Kulturwissenschaftliche Studien, Bd. 2), Würzburg 2003, S. 78, beide Zitate S. 8. 49 Vgl. L. Wiesing: Artifizielle Präsenz, S. 33. 50 Nach Christoph Wulf und Jörg Zirfas existieren Bilder „durch die Differenz von Bildgegenstand und dem auf oder in ihm transportierten Gegenstand des Bildes als Bilddarbietung.“ C. Wulf/J. Zirfas: Bild, Wahrnehmung und Phantasie, S. 19.
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Als Spezifika der Bildlichkeit, die vorrangig im Umgang mit Bildern auftreten, werden für die vorliegende Studie Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit der Bilder herangezogen. Wie Gottfried Boehm 2006 betont, ist Unbestimmtheit unverzichtbar für die qualitative Transformation in seiner Logik der Bilder: „In ihr wandelt sich das Faktische ins Imaginäre, entsteht jener Überschuss an Sinn, der bloßes Material (Farbe, Mörtel, Leinwand, Glas usw.) als eine bedeutungsvolle Ansicht erscheinen lässt. […] Unbestimmtheit ist dafür unverzichtbar, denn sie schafft erst jene Spielräume und Potentialitäten, die das Faktische in die Lage versetzen, Sich zu zeigen und Etwas zu zeigen.“51
Ob aus dualistischer oder triadischer Perspektive betrachtet, erscheint das im Bild Dargestellte unbestimmt aufgrund der spezifischen Eigenart des Bildes und dessen Wahrnehmung durch den Menschen. In Bezug auf computer- und magnetresonanztomografische Bilder der Radiologie wird daher die These aufgegriffen, dass sie sich aufgrund ihrer Bildlichkeit durch Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit auszeichnen und dass diese Eigenarten für ihren prekären Status in der Radiologie verantwortlich sind.
2.1 MEHRDEUTIGKEIT UND UNBESTIMMTHEIT ALS SPEZIFIKA DES BILDES Im ersten Kapitel wurde betont, dass die vorliegende Studie im Rahmen der Frage nach der Bildlichkeit computer- und magnetresonanztomografischer Bilder von der grundsätzlichen Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit der Bilder ausgeht. Dabei werden die Phänomene im bildwissenschaftlichen Diskurs unter so verschiedenen Begriffen wie Mehrdeutigkeit, Polyvalenz, Ambivalenz, Ambiguität oder Unbestimmtheit diskutiert.52 Insbesondere die Begriffe Ambivalenz (von lat. ambo = beide und valere = gelten) und Ambiguität (von lat. ambo = beide und ambiguus = doppeldeutig, mehrdeutig, uneindeutig) sind durch ihre Vorsilbe eigentlich auf eine Zwei- oder Doppeldeutigkeit ausgelegt, während Mehrdeutigkeit und Polyvalenz eine stärkere Offenheit betonen. Für die Ambiguität wird seit den 1970er Jahren vorrangig in den Literaturund Kunstwissenschaften über engere oder offenere Definitionen des Begriffs
51 Boehm, Gottfried: „Unbestimmtheit. Zur Logik des Bildes“, in: Bernd Hüppauf/Christoph Wulf (Hg.), Bild und Einbildungskraft, München 2006, S. 243-253, hier S. 252. 52 Vgl. V. Krieger: Zeitgenossenschaft, S. 15.
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nachgedacht. Die Kunsthistorikerin Claudia Pinkas erläutert, angelehnt an das Ambiguitätskonzept des Literaturwissenschaftlers Slomith Rimmon aus den 1970er Jahren, dass zwischen ambiguen und mehrdeutigen Bildern zu unterscheiden ist: Bei ambiguen Bildern bestehe „eine Unentscheidbarkeit zwischen verschiedenen Deutungsvarianten des Bildes“53, die aber aufgrund der Gegenständlichkeit des Bildes präzise benannt werden können. Mehrdeutige Bilder sind hingegen durch tendenzielle Offenheit, Abstraktivität und einen mangelnden Referenzbezug des Dargestellten gekennzeichnet.54 Es handelt sich dabei um eine semantische Mehrdeutigkeit von Bildern: Es stehen mehrere Interpretationsvarianten nebeneinander, „die jeweils gleich stark in dem Abgebildeten angelegt sind“55. Verschiedene bildwissenschaftliche Positionen vertreten eine prinzipielle Mehrdeutigkeit der Bilder, der aus literaturwissenschaftlicher Perspektive die Mehrdeutigkeit von Sprache und Text hinzuzufügen ist. Während in diesen einleitenden Passagen der Blick auf die Benennung von Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit bei Bildern gerichtet wird, findet die Ausarbeitung einer literarischen oder text-sprachlichen Mehrdeutigkeit in der Betrachtung der radiologischen Bildbeschreibung und deren Bezüge zur Ekphrasis in Fazit 2 statt. Außerdem wurden mit Claudia Pinkas und Ralf Simon literaturwissenschaftlich geprägte Ansätze zur Untersuchung von Bildlichkeit angeführt, die über eine text-sprachliche Mehrdeutigkeit hinaus die Ähnlichkeit von Sprachlichkeit und Bildlichkeit hervorheben. 56 Beat Wyss beschreibt das Bild 2014 als „wesentlich mehrdeutig“57, was sich in seiner ikonischen Differenz manifestiert. Das Bild ist eben nicht die dargestellte Sache, sondern eine Darstellung eigener Präsenz, die somit eine Spannung zwischen einer möglichen Referenz, dem Dargestellten, und der Darstellung aufbaut. Wyss sieht das Bild in diesem Sinn als Metapher, als Verschiebung, dem „aller-
53 Pinkas, Claudia: Der phantastische Film. Instabile Narrationen und die Narration der Instabilität, Berlin/New York 2010, S. 43. 54 Vgl. ebd. 55 Ebd., S. 42. 56 Eine weitere wichtige Position ist diejenige von Monika Schmitz-Emans, die ebenfalls literaturwissenschaftlich die Interaktion zwischen Bild und Text betont und verdeutlicht, „da sie Vieldeutigkeiten erzeugen und zur spielerischen Erprobung alternativer Interpretationen stimulieren.“ Schmitz-Emans, Monika: „Das visuelle Gedächtnis der Literatur. Allgemeine Überlegungen zur Beziehung zwischen Texten und Bildern“, in: Manfred Schmeling/dies. (Hg), Das visuelle Gedächtnis der Literatur, Würzburg 1999, S. 17-34, hier S. 20. 57 B. Wyss: Die Wende zum Bild, S. 12.
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dings nicht der Zwang angetan werden [darf, Anm. d. A.], Mehrdeutigkeit aufzulösen.“58 Für die Kunsthistorikerin Heike Schlie ist das Bild ebenfalls seinem Wesen nach schon immer mehrdeutig59 und sie formuliert bezogen auf ihre Forschung zu Bildern im Mittelalter Wandelbarkeit und Mehrdeutigkeit als Stärke der Bilder.60 Die Begriffe Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit und ihre Phänomene im Bereich der Bilder sind zumeist auf die Analyse künstlerischer Bilder bezogen und werden als Kriterien im kunstwissenschaftlichen Diskurs aufgegriffen. Vor diesem Hintergrund entsteht eine Apotheose der Bildlichkeit und der Bilder im Sinne des Kunstwerks, die sich insbesondere durch die genannten Positionen (Pinkas, Simon) einer ebenfalls mehrdeutigen, aber literarischen Bildlichkeit entkräften lässt. Die genannten Ansätze gründen auf der Annahme, die Boehm als Unterscheidung der schwachen wissenschaftlichen von den starken künstlerischen Bildern betont hat: Wissenschaftliche Bilder haben einen Zweck, eine Funktion außerhalb ihrer selbst und sind (möglichst) eindeutig, während künstlerische Bilder ihren Zweck in sich selbst haben und durch ihre Deutungsoffenheit, ihren Interpretationsspielraum geprägt sind. So schreibt die Musikwissenschaftlerin Ingrid Allwardt 2003: „Die Form eines Kunstwerkes markiert diese Gleichzeitigkeit von Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Dazu bedient es sich einer symbolischen Ordnung, die auf die Struktur eines begrifflich geführten linearen Denkens, wie sie wissenschaftliche Darstellungen charakterisiert, nicht zu reduzieren ist.“61
Ähnlich erläutert der Philosoph Gerhard Gamm die Differenz von Kunst und Wissenschaft und greift die These des offenen Kunstwerks (Umberto Eco) auf, um Offenheit oder Unbestimmtheit, Mehrdeutigkeit oder Uneindeutigkeit als konstitutiv für Kunstwerke zu benennen. Im Gegensatz zur Kunst zielen die Wissen-
58 Ebd. 59 Schlie, Heike: „Die Autoritätsmuster der ‚Gregorsmesse‘ – Umdeutungen und Auflösungen eines Zeichensystems“, in: Frank Büttner/Gabriele Wimböck (Hg.), Das Bild als Autorität. Die normierende Kraft des Bildes, Münster 2004, S. 73-101, hier S. 98. 60 Vgl. ebd., S. 99. 61 Allwardt, Ingrid: „Diotima – Eine Miniatur“, in: D. Rustemeyer (Hg.), Bildlichkeit. Aspekte einer Theorie der Darstellung (2003), S. 9-33, hier S. 9.
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schaften nach Gamm „auf eine Schließung im Sinne von genau definierten Lösungen“62. Damit werden Kunst und Wissenschaft als zwei Kulturen getrennt, die unterschiedliche Ziele vertreten und deren Protagonisten somit unterschiedlich denken und vorgehen. Dieser Annahme der Mehrdeutigkeit von Kunstwerken setzt der Medienphilosoph Dieter Mersch die prinzipielle Mehrdeutigkeit auch mathematischer und wissenschaftlicher Diagrammatiken entgegen, 63 zu denen – im Sinne einer Theorie des Diagrammatischen64 – auch computer- und magnetresonanztomografische Bilder gezählt werden.65 Insofern Mersch Diagramme als schriftbildliche Hybride klassifiziert, denen Metriken und Skalierungen zugrunde liegen, können sie mehr in die eine oder andere Richtung tendieren, also mehr das Schriftliche oder Bildliche betonen: „Je mehr bildliche Elemente in die Darstellung eingehen, desto uneindeutiger wird sie, weil ‚Zeigen‘ alternative Deutungen zulässt und nie klar sein kann, worauf es zeigt.“66 Wenn unklar ist, worauf Bilder zeigen, und wenn die Bilder – wie der Kunstpädagoge Stefan Hölscher 2012 hervorhebt – in ihrer Unbestimmtheit beziehungs-
62 Gamm, Gerhard: „Vom Wandel der Wissenschaft(en) und der Kunst“, in: Dieter Mersch/Michaela Ott (Hg.), Kunst und Wissenschaft, München 2007, S. 36-51, hier S. 49. 63 Vgl. D. Mersch: Wissen in Bildern, S. 124. 64 Astrid Schmidt-Burkhardt betont 2012, dass es keine kunstwissenschaftliche Methode gibt, um Diagramme zu analysieren; es handle sich bei Diagrammen um Visualisierungen von Daten und Fakten, die „zeitliche und kausale Zusammenhänge darstellen, Wissen in erweiterter Form von Schrift und Bild fixieren und neue Erkenntnisprozesse generieren.“ A. Schmidt-Burkhardt: Die Kunst der Diagrammatik, S. 7f. Vgl. zum diagrammatic turn Bogen, Steffen/Thürlemann, Felix: „Jenseits der Opposition von Text und Bild. Überlegungen zu einer Theorie des Diagramms und des Diagrammatischen“, in: Alexander Patschovsky (Hg.), Die Bildwelt der Diagramme Joachims von Fiore: zur Medialität religiös-politischer Programme im Mittelalter, Ostfildern 2003, S. 1-23, hier S. 3. 65 Vgl. Schulz-Buchta, Andreas: „Geschichte und Aspekte der medizinischen Abbildung“, in: Klaus Reichert/Hoffstadt, Christian F. (Hg.), ZeichenSprache Medizin. Semiotische Analysen und Interpretationen (= Aspekte der Medizinphilosophie, Bd. 2), Bochum/ Freiburg 2004, S. 76-108, hier S. 104. 66 D. Mersch: Wissen in Bildern, S. 124.
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weise vielfachen Bestimmbarkeit unserem Versuch, etwas Bestimmtes zu erfassen, einen Widerstand entgegensetzen,67 dann offenbart sich insbesondere bei computer- und magnetresonanztomografischen Bildern der Radiologie die Schwierigkeit im Umgang mit ihnen. Mit Claudia Pinkas wurde für die Mehrdeutigkeit der mangelnde Referenzbezug bei Bildern angesprochen, und auch Mersch betont, dass bei Bildern unklar ist, worauf sie zeigen. Die Radiologie ist möglicherweise eine Disziplin, in der gerade diese Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit der Bilder problematisch wird, da es bei den bildgebenden Verfahren um die Verbildlichung eines ganz bestimmten Gegenstandes, eines klar definierten Referenten geht. Wie in der Einführung schon angesprochen wurde, stellt sich die Frage, ob der Radiologie Bilder ohne Bildlichkeit gelegener kämen.
2.2 THESEN VON BILDERN OHNE BILDLICHKEIT ODER BILDLOSEN BILDERN Bei der Frage, was mit Bildern ohne Bildlichkeit oder bildlosen Bildern gemeint ist, spielt im bildwissenschaftlichen Diskurs die Abbildtheorie eine wichtige Rolle. Bilder ohne Bildlichkeit oder bildlose Bilder sind dann diejenigen Bilder, die sich aufgrund ihrer Abbildlichkeit (fast) nicht von dem in ihnen Dargestellten unterscheiden. Das Bild würde in diesem Fall als das Dargestellte selbst aufgefasst, es wäre kein Bild mehr von etwas, sondern der abgebildete Gegenstand selbst. Letztlich ist diese Annahme paradox und bildwissenschaftliche Autoren gehen nicht davon aus, dass wirklich die Gefahr einer Verwechslung von Bild und Dargestelltem besteht. Beat Wyss betont 2014: „Die ikonische Differenz markiert den reflexiven Fortschritt, ein Bild nicht mit der Sache zu verwechseln, auf die jenes zeigt. Das Bild ist ein Etwas, das ‚für etwas‘ steht.“68 Trotzdem wird die Annahme der Abbildlichkeit herangezogen, um unterschiedliche Grade von Bildlichkeit zu betonen, – die auf der untersten Ebene beziehungsweise mit der höchsten Abbildlichkeit fast verschwindet. Die Kunsthistorikerin Martina Dobbe greift 2007 auf den Ausdruck bildlose Bilder in der Auseinandersetzung mit dem Status des Bildes im Medienzeitalter zurück, der auch für die vorliegende Studie von Interesse ist. Dobbe thematisiert Abbildlichkeit als
67 Vgl. Hölscher, Stefan: „Im Sehen über das Sichtbare hinaus. BildGeschichte als Moment einer reflexiven Praxis der Bildwahrnehmung“, in: ders./Rolf Niehoff/Karina Pauls (Hg.), BildGeschichte. Facetten der Bildkompetenz, Oberhausen 2012, S. 147167, hier S. 153. 68 B. Wyss: Die Wende zum Bild, S. 11.
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eine mögliche Form des Bildlichen, die nicht ontologisch zum Bild gehört. Allerdings lässt sich nach Dobbe Bildlichkeit durch zu viel Abbildlichkeit unterbieten, womit sie bildlose Bilder als diejenigen Bilder kategorisiert, die in einer Art vollendeter Abbildlichkeit entstehen und damit Bildlichkeit aufheben.69 Ähnlich hebt die Kunsthistorikerin Sabine Flach 2008 hervor, dass vollendete Abbildlichkeit „bildlose Bilder entstehen [lässt, Anm. d. A.], d. h. sie konvergieren mit der perfekten Ikonoklastik.“70 Das Bild wird als Bild aufgehoben, was in der Radiologie der Möglichkeit entspräche, dass Radiologen mit computer- und magnetresonanztomografischen Bildern nicht mehr als Bilder umgehen, sondern sie für den abgebildeten Gegenstand – einen individuellen menschlichen Körper – selbst halten. Schon im ersten Kapitel wurde dargelegt, dass sich die Radiologie mit ihren Bildern auseinandersetzt; die Gefahr einer Verwechslung scheint nicht gegeben. Trotzdem sind diese Überlegungen für eine bildhermeneutische und funktionsgeschichtliche Analyse der Radiologie zu berücksichtigen, da es einen Bildgebrauch zu geben scheint, der die Möglichkeit bildloser Bilder nahelegt. Dobbe und Flach geht es nun aus kunsthistorischer Perspektive um die Betonung des Mehrwerts der bildlichen Bilder, den sie gerade für Bilder der Kunst herausarbeiten. Nach Dobbe müssen sich bildliche Bilder auf die Möglichkeiten des Mediums beziehen, was sie beispielhaft an Fotografien von Thomas Ruff dekliniert.71 Flach daneben sieht den Mehrwert jedes künstlerischen Bildes und der Kunst generell mit Paul Valéry darin, über die bloße Abbildung der Welt hinauszugehen: Kunst gibt nicht notwendig das Sichtbare wieder, „sondern vielmehr jenes, was man zuvor nicht gesehen hat.“72 Zurückgeführt auf die Frage, worin sich künstlerische Bilder von anderen Bildern letztlich unterscheiden, gehen die beiden Autorinnen also von einem Mehrwert der künstlerischen Bilder aus, der sich durch ihre Bildlichkeit manifestiert. Bildlichkeit ist aber – wie schon mit Christoph Asmuth angeführt wurde – ein Aspekt der Bilder, der sich schwer analytisch freilegen lässt. Wenn Bildlichkeit erst durch menschliche Handlungen mit Bildern entsteht, muss dieser Mehrwert künstlerischer Bilder durch Bildlichkeit in Frage gestellt werden. Damit ist nicht gemeint, dass sich künstlerische und radiologische
69 Vgl. Dobbe, Martina: „Bildlose Bilder? Zum Status des Bildes im Medienzeitalter“, in: dies. (Hg.), Fotografie als theoretisches Objekt. Bildwissenschaft – Medienästhetik – Kunstgeschichte, München 2007, S. 129-146, hier S. 130. 70 Flach, Sabine: „Realfiktionen. Versuchsanordnungen von Olafur Eliasson“, in: Matthias Bruhn/Kai-Uwe Hemken (Hg.), Modernisierung des Sehens. Sehweisen zwischen Künsten und Medien, Bielefeld 2008, S. 287-299, hier S. 288, Fußnote 5. 71 Vgl. M. Dobbe: Bildlose Bilder?, S. 134-143. 72 S. Flach: Realfiktionen, S. 288.
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Bilder in ihrer Darstellung und Funktion nicht unterscheiden, sondern dass künstlerischen Bildern nicht selbstverständlich aufgrund ihrer Einbindung in die Kunst eine höhere Wertigkeit zugesprochen werden darf. Die Konstruktion eines high and low ist kritisch zu hinterfragen. Martina Dobbe gibt 2007 abschließend einen weiteren Hinweis, der sich einfügt in die Diskussion um analoge und digitale Bilder, wie sie im folgenden Unterkapitel detailliert aufgegriffen wird. Sie formuliert, „daß bildlose Bilder auch jene Bilder heißen könnten, die jenseits des Visuellen, die im Rechner entstehen, Bilder, die sich, wie es neuerdings immer öfter heißt, nur noch vorübergehend und eher peripher visuell zu erkennen geben“73. Bilder aus dem Computer sind für Dobbe – ähnlich wie für Gottfried Boehm – über Simulationsmedien produzierte Bilder; neben den Simulationsmedien sieht Dobbe die neuen Medien durch Reproduktionsmedien wie Fotografie, Film, Fernsehen und Video gekennzeichnet.74 Zu der Einordnung von bildlosen Bildern als Bilder, die auf Abbildlichkeit hin ausgelegt sind, tritt also zusätzlich eine Einordnung der technischen Bildmedien, die abbildliche Bilder scheinbar erleichtern. Unter dem Stichwort Simulation wird kritisch reflektiert, ob der Unterschied von Bild und Gegenstand, von Darstellung und Dargestelltem aufgehoben werden kann. Nach Gottfried Boehm arbeitet die ‚schöne neue Welt der Simulation‘ genau daran: „Wenn sich erst einmal das genetische Material des menschlichen Körpers in der rechten Weise formen ließe, dann wäre endlich die Lücke zwischen Darstellung und Dargestelltem geschlossen, der Mensch zu seinem eigenen Repräsentanten und seinem dauernden Denkmal erhoben.“75
Aufgeworfen wird damit die problematische Frage, ob über den Computer generierte Bilder überhaupt noch Bilder sind. Hans Belting konstatiert 2007 dahingehend eine Flut von Bilddaten und problematisiert, dass die „Produktion visueller Daten, die wie Bilder zirkulieren, aber keine Bilder mehr sind“ 76, zu Irritationen beim Bildbegriff geführt hat. Dieter Mersch widerspricht Belting medien- und bildhistorisch; zwar stimmt er der Produktion von (Bild-)Daten zu, die aufgrund
73 M. Dobbe: Bildlose Bilder?, S. 130. (Herv. i. O.) 74 Vgl. ebd., S. 132. 75 Boehm, Gottfried: „Repräsentation – Präsentation – Präsenz. Auf den Spuren des homo pictor“, in: ders./Stephan E. Hauser (Hg.), Homo pictor, München/Leipzig 2001, S. 313, hier S. 7. 76 Belting: Die Herausforderung der Bilder, S. 18.
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der technischen Entwicklungen und dem Aufkommen von Apparaten und Maschinen im 19. und 20. Jahrhundert möglich wurde, die sich aber vorrangig der Mathematik, der Herrschaft der Rechnung, unterordnet: 77 „Kurz, das Visuelle in wissenschaftlichen Diskursen tendiert zur Mathematikförmigkeit. Wie diese aber in ihrer algebraischen Gestalt selbst ohne Bilder auszukommen scheint, ergibt sich das Paradox, dass die Bildlichkeit zunehmend einem Schema unterworfen wird, das sie verleugnet. Das technisch und mathematisch errechnete Bild gerät zur Bildlosigkeit.“78
Nach Mersch entstehen in den Naturwissenschaften ‚graphematische Bilder‘; diese Bilder fungieren weder „als Abbilder oder Repräsentationen von etwas, noch als Spuren oder Protokolle, sondern sie erweisen sich als Hybride zwischen Schrift und Bild. Nichts anderes meint im Übrigen die Paradoxie vom ‚bildlosen Bild‘: Es geht nicht darum, dass solche Hybride keine Bilder seien oder nicht als Bild wahrgenommen werden können, sondern dass an ihnen systematisch unklar bleibt, von was sie Bilder sind.“79
Im Gegensatz zu Belting spricht Mersch den in den Naturwissenschaften hergestellten und auf mathematischen Regeln basierenden graphematischen oder diagrammatischen Bildern ihr Bildsein oder ihre Bildlichkeit nicht ab – Bildlosigkeit entsteht vielmehr durch eine Referenzlosigkeit, da sich das Dargestellte nicht mehr auf ein außerhalb des Bildes liegendes Ding oder Objekt zurückführen lässt. Wiederum lässt sich die Frage stellen, inwiefern also das im Bild Dargestellte (im Anschluss an Asmuth und Gadamer) eine eigene Seinsweise besitzt, die sich nicht mit einer Referenz in Einklang bringen lässt.
77 Vgl. Mersch, Dieter: „Das Bild als Argument. Visualisierungsstrategien in der Naturwissenschaft“, in: C. Wulf/J. Zirfas (Hg.), Ikonologie des Performativen (2005), S. 322344, hier S. 333. 78 Ebd., S. 333. (Herv. i. O.) 79 Ebd., S. 337.
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2.3 DIE GEGENÜBERSTELLUNG VON ANALOG UND DIGITAL Der von Gabriele Werner angeführte Ansatz einer vom Technischen her gedachten Bildlichkeit ordnet sich in einen Diskurs ein, der sich mit dem Einschnitt der neuen, digitalen Technologie auseinandersetzt und der neben dem Sprachlichen und Bildlichen das Numerische in den Mittelpunkt rückt. Vorrangig Martina Heßler und Dieter Mersch knüpfen an Überlegungen von Gottfried Boehm zu einer Logik des Bildes neben einer Logik der Sprache an und fügen eine Logik der Zahl hinzu. Die Kulturtechniken Bild, Schrift und Zahl seien allerdings nicht strikt voneinander zu trennen, sondern weisen „wechselseitig Elemente der jeweils anderen auf“80. Zugleich plädieren Heßler und Mersch nicht dafür, die Unterschiede zwischen diesen Logiken fallen zu lassen,81 sondern die jeweiligen Änderungen bei Überführungen von der einen in die andere Kulturtechnik zu berücksichtigen. Sie betonen in diesem Zusammenhang die Hybridität wissenschaftlicher Visualisierungen (im Sinne des Graphematischen oder Diagrammatischen) zwischen Bild und Schrift: „Wissenschaftliche Visualisierungen, wie sie vor allem auf der Basis graphematischer Verfahren wie Tabellierung, Strukturmodelle, aber auch MRT, Röntgenspektrogramme […] usw. entstehen und zumeist digital aufbereitet werden, sind genau von dieser Art, weil sie ebenso Aussagen treffen, die richtig oder falsch sein können, zudem deiktisch operieren und gleichzeitig nicht umhin können, sich ästhetischer Mittel zu bedienen und etwas zu sehen geben, zeigen.“82
Dieter Mersch analysiert die mit der Digitalisierung einhergehenden Veränderungen bezogen auf die Mathematik und eine Dominanz der Berechenbarkeit; dabei problematisiert er 2003 eine Universalität des Technischen, insofern Wort, Bild
80 Heßler, Martina/Mersch, Dieter: „Bildlogik oder Was heißt visuelles Denken?“, in: dies. (Hg.), Logik des Bildlichen (2009), S. 8-62, hier S. 10. Schon 2003 hat Dieter Mersch die Modalitäten medialen Darstellens auf vier Kulturtechniken bezogen: Wort, Bild, Ton und Zahl. Vgl. Mersch, Dieter: „Einleitung: Wort, Bild, Ton, Zahl – Modalitäten medialen Darstellens“, in: ders. (Hg.), Die Medien der Künste. Beiträge zur Theorie des Darstellens, München 2003, S. 9-49. 81 Vgl. M. Heßler/D. Mersch : Bildlogik, S. 17. 82 Ebd., S. 32. (Herv. i. O.)
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und Ton seiner Analyse nach „unter die alleinige Herrschaft von Zahl und Digitalität“83 gestellt sind. Bei Fragen zum Bild greifen gerade kunstwissenschaftliche Positionen auf diese Herrschaft der Zahl zurück: Digitale Bilder basieren auf hochkomplexen Berechnungen und mathematischen Verfahren, die eine Anbindung an einen externen Referenten aufgrund der fehlenden Indexikalität scheinbar ausschließen. Kritisch erläutert die Kunsthistorikerin Birgit Schneider, dass der prekäre Status des digitalen Bildes in dessen heikler Ontologie begründet liegt, nämlich „in der Verbindung des digitalen Bildes zwischen dem, ‚was sich zeigt‘ und dem Code, der nicht sichtbar ist“84. Gerade in Bezug auf das Kunstwerk schreibt sie: „Digitale Bilder im Gegensatz zum Tafelbild müssen sich dem Vorwurf einer Travestie stellen, da sie angeblich immer ein Wechselspiel betreiben zwischen dem, was sie zeigen und dem, was sich hinter ihnen verbirgt, also zwischen der Sichtbarkeit des Bildes und der Unsichtbarkeit des Codes und dieses Spiel nie zur Ruhe kommt.“85
Das ungelöste Krisenmoment betrifft nach Schneider das Verhältnis von Bildcode, Bild und Bildträger.86 Dem stimmt auch der Bildwissenschaftler Thomas West zu, da sich gerade bei der angenommenen und hier angesprochenen Duplizität von Bildern für digitale Bilder das Problem ergibt, worin eigentlich der Bildträger besteht: Ist es Bildschirm oder Monitor, ist es der Datenträger wie die Festplatte oder gar der algorithmische Code?87 Aufgrund ihrer Unsichtbarkeiten bezüglich des Codes, der ablaufenden Prozesse und ihrer möglichen Manipulation sowie aufgrund ihrer Flüchtigkeit und angeblichen Immaterialität werden digitale Bilder „wiederholt mit dem Generalverdacht der Täuschung belegt“ 88. Der Kunstwissenschaftler Beat Wyss steigert diese Aussagen: Aus seiner Position heraus sind digitale Bilder selbstreferenziell und beziehen sich nicht mehr auf externe
83 D. Mersch: Einleitung: Wort, Bild, Ton, Zahl, S. 43. (Herv. i. O.) 84 B. Schneider: Wissenschaftsbilder, S. 190; vgl. dazu ebenfalls Hennig, Jochen: Bildpraxis. Visuelle Strategien in der frühen Nanotechnologie, Bielefeld 2011, S. 88. 85 B. Schneider: Wissenschaftsbilder, S. 191. 86 Vgl. ebd., S. 190. Vgl. dazu ebenfalls: Rautzenberg, Markus: „Wirklichkeit. Zur Ikonizität digitaler Bilder“, in: M. Finke/M.A. Halawa (Hg.), Materialität und Bildlichkeit (2012), S. 111-125, hier S. 118. 87 West, Thomas: „To interact or not to interact – Die differentia specifica des Digitalbildes“, in: H. Klinke/L. Stamm (Hg.), Bilder der Gegenwart (2013), S. 33-54, hier S. 47. 88 B. Schneider: Wissenschaftsbilder, S. 192. Zu Täuschung und verlorenem Wirklichkeitsbezug vgl. ebenfalls J. Schröter: Wirklichkeit, S. 202.
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Referenten.89 Insgesamt ist im Zeitalter des digitalen Bildes, das Wyss seit den 1990er Jahren angebrochen sieht, der authentische Anspruch von Bildern generell brüchig geworden.90 Berechtigt ist demgegenüber die Frage des Medienwissenschaftlers Jens Schröter, warum sich Ärzte, Naturwissenschaftler und Meteorologen auf „digital nachbearbeitete oder erzeugte Bilder verlassen, um eine je ‚spezifische Wirklichkeit‘ […] zu analysieren und ggf. zu verändern.“91 Verschiedene Autoren plädieren für einen bildpragmatischen Ansatz, der nicht die Ontologie von analogem und digitalem Bild in den Fokus rückt, sondern den Bildgebrauch der jeweiligen Disziplinen oder Bildnutzer. Stephan Günzel resümiert hierzu: „Erst die Verwendung entscheidet folglich darüber, ob das digitale Bild referenziell gebraucht wird oder nicht.“92 In der folgenden Analyse werden nicht nur der Gebrauch der Bilder oder die Handlungen mit Bildern betrachtet, sondern mit Birgit Schneider auch „die Prozesshaftigkeit der digitalen Bilder und ihre Mathematik sowie ihr Bezug zur ‚Realität‘“93 berücksichtigt. Die Bedeutung der Oberflächen- und Tiefenstrukturen für radiologische Bilder wurde schon benannt, weshalb gemäß den zeitgenössischen Bildtheorien eine Analyse digitaler Bilder als doppelte Bilder aufgegriffen wird: Sichtbar über den Monitor und manipulierbar durch den Prozessor. 94 Aus diesem Grund behandelt die vorliegende Studie neben der Radiologie die Medizinische Bildverarbeitung als ausschlaggebende Bildkultur für Computer- und Magnetresonanztomografie im diagnostischen Gebrauch.
89 Vgl. Wyss, Beat: Vom Bild zum Kunstsystem, Köln: Walther König 2006, S. 20. 90 Vgl. Ebd., S. 9. 91 J. Schröter: Wirklichkeit, S. 202. 92 Günzel, Stephan: „Die Geste des Manipulierens. Zum Gebrauch statischer und beweglicher Digitalbilder“, in: Stefanie Diekmann/Winfried Gerli (Hg.), Freeze Frames. Zum Verhältnis von Fotografie und Film, Bielefeld 2010, S. 115-129, hier S. 129. 93 B. Schneider: Wissenschaftsbilder, S. 198. 94 Vgl. Nake, Frieder: „Algorithmus, Bild und Pixel: Das Bild im Blickfeld der Informatik“, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Bildwissenschaft zwischen Reflexion und Anwendung, Köln 2005, S. 101-121, hier S. 116.
3
Die Radiologie als Bildkultur Eine historische Analyse
Die Geschichte der diagnostischen Radiologie als Bildkultur der Medizin beginnt Ende des 19. Jahrhunderts, als sich die Röntgentechnik für medizinisches Handeln und diagnostische Entscheidungen etabliert. Zwar waren verschiedene Vorgehensweisen zur Aufzeichnung von (Patienten-)Daten in grafischer Form und zu diagnostischen Zwecken bekannt, doch erst das Sichtbarmachen der Röntgenstrahlen führte zu spezifisch bildlichem Material. Die Radiologie zeichnet sich, angefangen bei den Röntgenbildern und fortgeführt über die Bildergebnisse der digitalen Verfahren Computer- und Magnetresonanztomografie, durch die Etablierung und Verwendung dieser verschiedentlich erzeugten Verbildlichungen des menschlichen Körperinneren aus. Ihr Bildgebrauch ist geprägt durch das Verständnis einer theoriegeleiteten und modellgebundenen Abbildlichkeit oder Ähnlichkeit von Bild und Referenz im Sinne einer Wiedererkennbarkeit, wie sie in der bildwissenschaftlichen Diskussion bezüglich naturwissenschaftlichen Bildhandelns aufgegriffen und auf den Einsatz technischer Apparate und Maschinen bezogen wird.1 Die Ende des 19. Jahrhunderts mit dem physikalischen Verfahren Röntgen erzeugten Bilder waren bei Weitem nicht selbsterklärend oder eindeutig auf ihre Referenten zu beziehen, was zu einer Auseinandersetzung mit denselben und in diesem Zusammenhang zur Spezialisierung und Professionalisierung einiger 1
Der Medientheoretiker Manfred Faßler schreibt: „In bildlichen (bildgebende, bildgenerierende) Verfahren geht es dann um modellgebundene visuelle Wiedererkennbarkeit, also um die Bestätigung eines mehr oder minder verabredeten Codes der Sichtbarkeit. In ihm ist die Vermutung zur Gewissheit verschlüsselt, dass ein sinnlich nicht zugängliches Objekt durch das Maschinenauge ‚tatsächlich‘ so sichtbar gemacht werden kann […].“ Faßler, Manfred: Bildlichkeit. Navigationen durch das Repertoire der Sichtbarkeit, Wien/Köln/Weimar 2002, S. 157. (Hervor. i. O.)
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Ärzte führte. Eingebettet in den Entwicklungsstrang einer (natur-)wissenschaftlich orientierten Medizin, legten die selbst ernannten Röntgenologen Wert auf die Objektivierbarkeit der Ergebnisse. Ihre Bemühungen galten Standardisierungen und Normierungen der Herstellungs- und Deutungsverfahren, die für eine bildwissenschaftliche Betrachtung von besonderem Interesse sind. Diese sich in der Anfangszeit herauskristallisierenden Schwerpunkte lassen sich als Themen der Radiologie bis heute nachvollziehen: Mit jedem neuen Bildgebungsverfahren und jeder Veränderung der Technik bemühen sich die Mediziner, Herstellung sowie Deutung des Bildmaterials zu klären und durch Standardisierung und Normierung für einen (natur-)wissenschaftlich objektiven Status desselben zu sorgen. Doch die Reglementierungen dienen nicht nur einem der Medizin mittlerweile inhärenten wissenschaftlichen Selbstverständnis, sondern auch dem Anspruch der Ärzte, auf der Grundlage der Bilder möglichst eindeutige diagnostische Aussagen zu treffen. In historisch-systematischer Analyse der Radiologie zeigt sich das für die vorliegende Arbeit ausschlaggebende Paradox, dass die medizinische Spezialisierung an einer Eindeutigkeit ihrer Aussagen und somit auch ihres (Bild-)Materials interessiert und um diese bemüht ist, gleichzeitig jedoch immer wieder an der spezifischen Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit der Bilder scheitert. Der Anspruch an die Bilder, dass ihre mögliche Aussage über die Realität auf der Grundlage von Normierungs- und Standardisierungsprozessen beurteilbar wird, erfährt durch menschliche Wahrnehmungsprozesse in Wechselwirkung mit der Bildlichkeit der Untersuchungsergebnisse eine Einschränkung.2 Die folgende Darstellung der Entwicklung von der Einführung der Röntgentechnik über das Verfahren der Tomografie und die Standardisierungs- und Rechenmaschine Computer bis hin zur digitalen Computer- und Magnetresonanztomografie fokussiert dieses Paradox und zeigt die spezifisch auf die Bilder bezogenen Entscheidungen und Veränderungen auf.
2
Gabriele Werner benennt ebenfalls dieses Paradox und konstatiert, dass naturwissenschaftliche Bilder in ihrem Anspruch, durch Normierungs- und Standardisierungsprozesse funktionsfähig und beurteilbar zu sein, eingeschränkt werden, weil eine Wahrnehmung Grenzen setzt, die „primär […] von konkreten Vorstellungs- oder ‚inneren‘ Bildern geprägt ist.“ G. Werner: Bilddiskurse, S. 33.
Die Radiologie als Bildkultur | 61
3.1 DAS IDEAL WISSENSCHAFTLICHER OBJEKTIVITÄT IN DER MEDIZIN Um die Standardisierungs- und Normierungsprozesse in Bezug auf Herstellung und Deutung des Bildmaterials in der Radiologie nachzuvollziehen, ist ein kurzer Rückgriff auf die Entwicklung der Medizin hin zu einer (natur-)wissenschaftlich orientierten Disziplin hilfreich. Daran schließt die euphorische Aufnahme der Röntgentechnik als Aufzeichnungs- und Bildverfahren an, das Ende des 19. Jahrhunderts an etablierte Werkzeuge des diagnostischen Handelns anknüpfte. In der Wissenschafts- und Medizingeschichte wird mit der Bezeichnung Moderne Medizin auf einen Zeitabschnitt hingewiesen, in dem sich die Disziplin ab Mitte des 18. Jahrhunderts veränderte und stärker an naturwissenschaftlichen Verfahren orientierte. Die Entwicklung des solidarpathologischen Krankheitskonzeptes, pathologische Veränderungen des menschlichen Organismus’ als organmorphologische Strukturveränderungen zu interpretieren, bewirkte eine schrittweise Umwandlung zu einer als Wissenschaft verstandenen Medizin. Mit der Solidarpathologie wird das Krankheitsgeschehen aus Veränderungen oder Störungen der Körperstrukturen oder aus physikalischen Eigenschaften und Wirkzusammenhängen des Körpers erklärt.3 Sie ist maßgeblich für die Entwicklung dessen, was heute als klinische Diagnostik verstanden wird, und beruht nicht nur auf einem neuen Konzept des Pathologischen, sondern grundlegend auf dem anatomischen Wissenshaushalt.4 An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert kennzeichnen außerdem die Entwicklungs- und Konzeptionslinien der Naturwissenschaften Chemie und Physik sowie radikale Veränderungen des Wirtschafts- und Soziallebens die Entstehung der modernen klinischen Medizin.5 Dabei betrifft die neue Perspektive die
3
Vgl. Eckart, Wolfgang U.: Geschichte der Medizin: Fakten, Konzepte, Haltungen, Heidelberg 62009, S. 170f.; und vgl. Winau, Rolf: „Krankheitskonzept und Körperkonzept“, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.), Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt a. M. 1982, S. 285-298, hier S. 293.
4
Vgl. M. Buschhaus: Bilderflut, S. 60.
5
Vgl. Michel Foucaults Untersuchung der klinischen Medizin von 1963: Mittels der Diskursanalyse geht er der Entwicklung zur Klinik nach und untersucht visuelle Wahrnehmung und Sprache: „Betrachtet man sie aber in ihrer Gesamtstruktur, so erscheint die Klinik als eine für die Erfahrung des Arztes neue Profilierung des Wahrnehmbaren und des Aussagbaren […].“ Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München 1973, S. 16.
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Behandlung des Patienten, der durch die Anwendung physikalischer und chemischer Untersuchungsmethoden zum ‚messbaren Patienten‘ wurde. 6 Parallel dazu ist auf die in den 1890er Jahren einsetzende Entwicklung mathematischer Verfahren zu verweisen, mit denen die Ansicht verbunden war, dass die Statistik die „sicherste Basis jeder Methodik“7 sei und sich auch die Medizin ihrer bediente. Vor allem in der Öffentlichkeit wurde die Statistik als vertrauensvolle Grundlage für Entscheidungen angesehen und ebenso für den Effizienznachweis medizinischer Prozeduren herangezogen.8 In der Medizin erlangten quantitative Werte zunehmend Bedeutung, um ein normiertes und aus kunst- und wissenschaftshistorischer Sicht ideales Körpermodell festzulegen.9 Essentielle Bedeutung für das medizinische Körpermodell erhielten grafische Aufzeichnungsverfahren, als Ergebnisse der Körpermessungen im 19. Jahrhundert in Durchschnittswerte übertragen und in Tabellen geordnet wurden – die Idee eines Durchschnittskörpers gewann an vermeintlicher Objektivität. 10 Ende des Jahrhunderts bestimmten Messinstrumente und physikalische Untersuchungsapparaturen die medizinischen Abläufe in Diagnose und Therapie und durch die Entwicklung diagnostischer Instrumente erfuhren medizinische Verfahren eine Pro-
6
Vgl. W. Eckart: Geschichte der Medizin, S. 188f.; und vgl. R. Winau: Krankheitskon-
7
Unger, Felix: Paradigma der Medizin im 21. Jahrhundert, Heidelberg 2007, S. 95.
8
Vgl. Porter, Theodore M.: The Rise of Statistical Thinking, 1820-1900, Princeton/New
zept, S. 293.
Jersey 1986, S. 3. 9
Wie die Kunsthistorikerin Annette Haug 2012 betont: „Im bildlichen Image des Menschen werden statt des realen Körpers normative und idealtypisch überprägte Körperentwürfe vorgestellt. Bilder vom Körper des Menschen werden zu machtvollen Ausdeutungen der sozialen Realität.“ Haug, Annette: Die Entdeckung des Körpers, Berlin/ Boston 2012, S. 6.
10 Vgl. Bondio, Mariacarla Gadebuch: Medizinische Ästhetik. Kosmetik und plastische Chirurgie zwischen Antike und früher Neuzeit, München 2005, S. 13. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts war aus den Gesellschaftswissenschaften auch der Begriff des ‚Durchschnittsmenschen‘ bekannt, wie er durch den Statistiker und Astronomen Adolphe Quetelet (1796-1874) im Rahmen seiner ‚sozialen Statistik‘ als homme moyen geprägt wurde. Die Soziologin Bettina Heintz widmet sich 2012 diesem Phänomen, um Statistiken als ‚Weisen der Welterzeugung‘ und kulturelle Dokumente zu belegen, die Wirklichkeit sowohl darstellen als auch herstellen. Vgl. Heintz, Bettina: „Welterzeugung durch Zahlen. Modelle politischer Differenzierung in internationalen Statistiken, 19482010“, in: Soziale Systeme 18 (2012), S. 7-39, hier S. 7f. und 15ff.
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fessionalisierung, wie an der Entstehungsgeschichte von Stethoskop, Ophthalmoskop oder Endoskop nachzuvollziehen ist.11 Diese seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten Instrumente dienten dem Zugang zum lebendigen Körper und seinen für das Auge unsichtbar bleibenden Prozessen und Strukturen, so dass der diagnostizierende Arzt einen bisher Anatomen oder Pathologen vorbehaltenen ‚Einblick‘ in diesen Körper erhielt.12 Für die Medizin veränderte sich in dieser Zeit das Verhältnis zwischen Anatomie und Physiologie sowie zwischen Struktur und Funktion in signifikanter Weise. Im Rahmen der medizinischen Semiotik wurden Zeichen am vorrangig lebendigen menschlichen Körper gesucht, die auf Krankheiten hinweisen. Das Interesse der Mediziner wandelte den aus Obduktionen und über Anatomie und Pathologie bekannten toten in einen über Zeichen interpretierbaren lebendigen Körper.13 Im Vordergrund standen dabei Hilfsmittel, die dem Arzt präzise, quantifizierbare und aufzeichenbare Informationen über die Kondition des Patienten lieferten, wobei bezüglich der Art der Aufzeichnung grafische Methoden profiliert wurden: die Fieberkurven des Thermometers, die qualitative und quantitative Messung des Pulses oder die Wellendarstellungen der Elektrokardiogramme sind Beispiele für Verfahrensweisen der Medizin, die über diagnostische Instrumente erhaltenen Messwerte grafisch umzusetzen.14
11 Vgl. W. Eckart: Geschichte der Medizin, S. 229f; und vgl. M. Buschhaus: Bilderflut, S. 61. 12 Vgl. M. Dommann: Durchsicht, S. 29f. Bei der historischen Betrachtung ist allerdings zu beachten, dass die Medizin die Möglichkeit des Einblicks inszenierte, wie die Kunsthistorikerin Vera Dünkel in Bezug auf die Röntgentechnik herausgearbeitet hat. Vgl. V. Dünkel: Röntgenblick, S. 189 und 193f. 13 Auf die im 19. Jahrhundert stattfindenden Veränderungen und Verschiebungen zur ‚Sektion des Lebendigen‘ verweist die Wissenschaftssoziologin Bernike Pasveer in ihren Untersuchungen zu Röntgenbildern in der Medizin, vgl. Pasveer, Bernike: „Representing or Mediating. A History and Philosophy of X-ray images in Medicine“, in: Luc Pauwels (Hg.), Visual Culture of Science: Rethinking Representational Practices in Knowledge Building and Science Communication (= Interfaces: Studies in Visual Culture), Dartmouth 2006, S. 41-62, hier S. 45. 14 Vgl. Hess, Volker: „Gegenständliche Geschichte? Objekte medizinischer Praxis – die Praktik medizinischer Objekte“, in: Norbert Paul/Thomas Schlich (Hg.), Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt a. M. 1998, S. 131-152; und vgl. Lüderitz, Berndt: „Historische Entwicklung der Arrhythmiebehandlung“, in: ders./ Thorsten Lewalter (Hg.), Herzrhythmusstörungen. Diagnostik und Therapie, Heidelberg 62010, S. 1-23, hier S. 4.
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Die stärkere Wertschätzung von Messverfahren und apparativen sowie grafischen Aufzeichnungssystemen veränderte die Struktur medizinischer Anamnese, Diagnose und Prognose:15 Der Patient wurde in ein Objekt der medizinischen Wissenschaft transformiert, da Messung und Aufzeichnung die Ideale einer mechanischen, alle individuellen Eingriffe und Unwägbarkeiten eliminierenden Objektivität16 verwirklichten.17 Kurven, Wellen und Messwerte ließen sich qualitativ und quantitativ vergleichen und ihre Produktionsverfahren garantierten aus der Perspektive der Medizin eine interindividuelle Reproduzierbarkeit. Aufgrund der verschiedenen Verfahren und in Folge der ebenfalls eintretenden Arbeitsteilung in medizinischen Institutionen lagen zum Ende des 19. Jahrhunderts zu einem einzelnen Patienten Informationen aus unterschiedlichen Prozessen vor: In diese Sammlung aus physikalischen, chemischen und biologischen Messdaten und grafischen Aufzeichnungen reihen sich die Bildergebnisse der Röntgentechnik ein, wobei sämtliche Informationen aus Gründen der eindeutigeren Zuordnung zu Patienten und der leichteren Verfügbarkeit die Einführung der Patientenakte unterstützten. War es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts unüblich gewesen, den Krankheitsverlauf eines einzelnen Patienten zu dokumentieren oder diagnostische und therapeutische Maßnahmen zu vereinheitlichen, legte die Patientenakte den
15 Der Philosoph Winfried Nöth erläutert im Handbuch der Semiotik, dass seit Galen die medizinische Semiotik dreigeteilt wurde in Anamnese (Aufnahme der Fallgeschichte), Diagnose (Untersuchung der gegenwärtigen Symptome) und Prognose (Vorhersage über den weiteren Verlauf des Falles). Vgl. W. Nöth: Handbuch der Semiotik, S. 2 16 Die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston widmet sich einer ‚Kultur der Objektivität‘ und erläutert, dass die Naturwissenschaften (und hier dem naturwissenschaftlichen Ideal folgend auch die Medizin) eine „Kultur der wissenschaftlichen Objektivität“ aufweisen. Das Wort Objektivität sowie darauf bezogene Ideale und Praktiken haben nach Daston eine erstaunlich kurze Geschichte, die vor allem um die Wende zum 19. Jahrhundert zum Tragen kommt. Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt sich dann eine Form der Objektivität, die von Daston als ‚mechanische Objektivität‘ bezeichnet und durch das Ausschalten aller Formen des menschlichen Eingriffs in die Natur sowie durch den Einsatz von Maschinen oder durch die Mechanisierung wissenschaftlicher Prozeduren (wie z. B. die Entwicklung statistischer Auswertemethoden) charakterisiert wird. Vgl. Daston, Lorraine: „Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität“, in: Michael Hagner (Hg.), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a. M. 2001, S. 137-158, hier S. 141ff. 17 Vgl. V. Hess: Gegenständliche Geschichte?, S. 142.
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Schwerpunkt auf die Dokumentation medizinisch-naturwissenschaftlicher Informationen zu einer Person.18 Die Professionalisierung der Medizin im Sinne einer Wissenschaft hängt in enger Weise mit der Sammlung und Dokumentation der Informationen zu den jeweiligen Patienten oder Patientengruppen zusammen: Die Akteure schufen damit nicht nur einen Wissensbestand zu ihrem Objekt – dem menschlichen Körper –, das in Hinsicht auf Ideale wie Quantifizierbarkeit, Reproduzierbarkeit oder Vergleichbarkeit gefestigt schien, sondern das auch im Hinblick auf die Aus- und Weiterbildung die notwendige Grundlage bildete. Diese Forderungen der Modernen Medizin an ihre Professionalisierung als Wissenschaft zeigen Auswirkungen auf die Einführung bildgebender Verfahren zum Ende des 19. und im Verlauf des 20. Jahrhunderts; vermutlich bilden sie sogar einen entscheidenden Ausgangspunkt für die schnelle und euphorische Aufnahme der Röntgentechnik.
3.2 EINZUG DES BILDES IN DIE MEDIZINISCHE DIAGNOSTIK Ausgehend von dem Stellenwert, den die Medizin Ende des 19. Jahrhunderts chemischen und physikalischen Verfahren für die Untersuchung des menschlichen Körpers zusprach, wurden die Ergebnisse des Physikers Wilhelm Conrad Röntgen (1845-1923) zur Röntgenstrahlung schnell aufgegriffen und für medizinische Zwecke genutzt. Die Art und Weise der Aufzeichnung und Dokumentation, die Röntgen nutzte, stellt sich als ausschlaggebend heraus: Nachdem der Forscher in Experimenten auf das neue Phänomen gestoßen war, griff er zu fotografischen Negativplatten, um die eigentlich unsichtbare Strahlung zu fixieren. In seiner Abhandlung Über eine neue Art von Strahlen (Dezember 1895) veröffentlichte er erste ‚Photographien‘19: Besondere Bedeutung erlangte in diesem Zusammenhang
18 Vgl. Manzei, Alexandra: „Zur gesellschaftlichen Konstruktion medizinischen Körperwissens. Die elektronische Patientenakte als wirkmächtiges und handlungsrelevantes Steuerungsinstrument in der (Intensiv-)Medizin“, in: Reiner Keller/Michael Meuser (Hg.), Körperwissen, Wiesbaden 2011, S. 207-229, hier S. 214. 19 Wilhelm C. Röntgen erläutert, dass sich fotografische Trockenplatten als empfindlich für die Röntgenstrahlen erwiesen: „Man ist imstande, manche Erscheinung zu fixiren, wodurch Täuschungen leichter ausgeschlossen werden; und ich habe, wo es irgend anging, jede wichtigere Beobachtung, die ich mit dem Auge am Fluorescenzschirm machte, durch eine photographische Aufnahme controllirt.“ Röntgen, Wilhelm Conrad:
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das am 22. Dezember 1895 produzierte Röntgenbild der Hand seiner Ehefrau Bertha (Hand mit Ringen), das am 5. Januar 1896 als Illustration auf der Titelseite der Presse in Wien erschien und von dort aus als Bildphänomen in verschiedenen Zeitschriften und über die Welt verteilt aufgegriffen wurde.20 Der dazugehörige Artikel verweist auf die Röntgentechnik als „sensationelle Entdeckung“ sowie auf das „photographische Beweismaterial“21. Für Röntgen waren die der Fotografie verwandte Technik und die damit produzierten Bilder Mittel zum Zweck, um einen objektiven Existenznachweis der von ihm entdeckten Erscheinungen vorzulegen.22 Röntgenstrahlung ist aus heutiger Sicht Teil des elektromagnetischen Spektrums, gehört allerdings zu der Art elektromagnetischer Wellen, die für das menschliche Auge unsichtbar bleiben.23 Um das Phänomen der Röntgenstrahlung also sichtbar und damit erkennbar zu machen, brauchte der Physiker ein Aufzeichnungssystem, welches er in strahlungssensiblen Gelatinetrockenplatten24 fand. Bezogen auf die Rezeption seiner Entdeckung war Röntgen nicht daran interessiert, die Erfindung des heute in der
Über eine neue Art von Strahlen (Vorläufige Mittheilung) (= Sitzungsberichte der physikalisch-medizinischen Gesellschaft zu Würzburg, Jahrgang 1985), Würzburg 21896, S. 6. Im eigentlichen Sinn handelt es sich bei den Abbildungen Röntgens nicht um Fotografien, wie im Weiteren erläutert wird. Das Dispositiv von Kamera und Linse entfällt bei dem von Röntgen eingesetzten Aufzeichnungsverfahren. Allerdings wurde sein Bildmaterial als Fotografien rezipiert. 20 Vgl. V. Dünkel: Röntgenblick, S. 9; und vgl. Dünkel, Vera: „Annäherung an Graustufen. Die frühen Röntgenbilder als Testbilder“, in: Felix Prinz (Hg.), Graustufen (= Bildwelten des Wissens, Bd. 8,2), Berlin 2011, S. 28-37, hier S. 28f; und vgl. Kevles, Bettyann Holtzmann: Naked to the Bone: Medical Imaging in the Twentieth Century, New Brunswick/New Jersey 31997, S. 20ff. 21 Vgl. Anonym: „Eine sensationelle Entdeckung“, in: Die Presse vom 5. Januar 1896. 22 Vgl. M. Dommann: Durchsicht, S. 48. 23 Physikalisch erstreckt sich das elektromagnetische Spektrum von dem im Alltag benutzten Wechselstrom über Radiowellen, Infrarotstrahlung, sichtbares Licht, Ultraviolettstrahlung, Röntgenstrahlung und deren Sonderbereich der Gammastrahlung. Im Kontext der bildgebenden Verfahren kommen neben der Röntgenstrahlung auch Radiowellen in der Magnetresonanztomografie zum Einsatz. Vgl. zu den physikalischen Grundlagen: Dumm, Thomas/Schild, Hansruedi: Strahlenoptik, Schwingungen und Wellen, Zürich 2009, S. 148f. 24 Vgl. Artz, Carolin: „Index/Indikator. Fotografisches Aufnahmematerial und die Visualisierung von Strahlen“, in: M. Finke/M.A. Halawa (Hg.), Materialität und Bildlichkeit (2012), S. 196-211, hier S. 209.
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Medizin bekannten, nicht-invasiven bildgebenden Verfahrens für sich zu beanspruchen, und die zeitgenössische Rezeption des Fotografierens störte ihn sogar; sein Hauptaugenmerk lag auf der Erforschung der Strahlung und nicht auf der Art und Weise ihrer Fixierung.25 Rückblickend liegt seine Leistung aber nicht nur in der Entdeckung des physikalischen Phänomens, sondern in dessen grafischer Dokumentation, die für Furore sorgte und das neue Verfahren in kürzester Zeit bekannt machte.26 In den ersten Artikeln und Zeitungsberichten 1896 wurde die Technik als ‚photographischer Prozess‘ mit einer neuen Art von Licht und somit als Erweiterung der Fotografie begrüßt.27 Die Medizin hatte sich des fotografischen Mediums bald nach dessen Entstehung im 19. Jahrhundert bedient, „indem sie erstmals in bestechender Wirklichkeitstreue den gesunden Menschen in seinen bislang verborgenen physiologischen Abläufen […] konkret abbildete.“28 In diesem Zitat schildern die Medizinhistoriker Uwe Eckart und Robert Jütte nicht nur die früh mit dem Medium verbundene Auffassung, dass es verborgene Abläufe und Ansichten des menschlichen Körpers sichtbar mache, sondern ebenfalls eine wirklichkeitsgetreue Abbildung garantiere. In gleicher Weise erläutert Bernike Pasveer, wie die Fotografie bald nach ihrer Entstehung mit der wahrheitsgemäßen Aufnahme realer Geschehnisse verbunden worden ist.29 Dass die Ästhetik der Fotografie sich um 1900 bereits etabliert hatte30 und prägend für naturwissenschaftliches und medizinisches Bildhandeln war, wurde bei der Einrichtung der Röntgentechnik (bild-)rhetorisch genutzt, um an bekannte An-
25 Vgl. Hensel, Thomas: Wie aus der Kunstgeschichte eine Bildwissenschaft wurde. Aby Warburgs Graphien, Berlin 2011, S. 150; und vgl. Walther, Silke: „Index des Realen. Die Hand in der Fotografie (1849-1930)“, in: Mariacarla Gadebuch Bondio (Hg.), Die Hand. Elemente einer Medizin- und Kulturgeschichte (= Kultur: Forschung und Wissenschaft), Berlin 2010, S. 265-287, hier S. 271f. 26 Vgl. B. H. Kevles: Naked to the Bone, S. 24. Vera Dünkel betont, dass gerade das Bildmotiv der Hand für Furore sorgte. Vgl. V. Dünkel: Röntgenblick, S. 89f. 27 Vgl. Dünkel, Vera: „Vergleichendes Röntgensehen. Lenkungen und Schulungen des Blicks angesichts einer neuen Art von Bildern“, in: L. Bader/M. Gaier/F. Wolf (Hg.), Vergleichendes Sehen (2010), S. 361-380, hier S. 366; vgl. B. F. Saunders: CT Suite, S. 26. 28 Eckart, Wolfgang U./Jütte, Robert: Medizingeschichte. Eine Einführung, Köln u. a. 2007, S. 61. 29 Vgl. B. Pasveer: Representing or Mediating, S. 42. 30 Vgl. V. Dünkel: Vergleichendes Röntgensehen, S. 365.
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nahmen und Sehgewohnheiten anzuknüpfen. Diese Rhetorik erscheint beispielsweise in der medizinischen Fachliteratur Anfang des 20. Jahrhunderts über Äußerungen zum guten, schönen, klaren, kontrastreichen oder naturgetreuen Bild, wobei sich derartige Bewertungen bis heute nachvollziehen lassen und eine längere Geschichte aufweisen. Die Bild- und Medienwissenschaftlerin Wibke Larink verweist auf Bücher der Anatomiegeschichte seit den ersten Atlanten um 1500, in denen immer wieder eine besondere Realitätsnähe, Naturtreue, Wirklichkeit oder Wahrheit von Bildern gerühmt oder bekundet wird.31 Ebenso war die Fototechnik in der Etablierungsphase des Röntgens bei der Prüfung der medientechnischen Produktionsbedingungen an der Herstellung guter, das heißt scharfer, detail- und kontrastreicher Bilder interessiert.32 Derartige Zuschreibungen beziehen sich zumeist auf die Darstellung des menschlichen Körpers in diesen Bildern. Vor allem der Zuspruch der Naturtreue verweist auf einen den Bildern unterstellten Realitätsbezug: Sie zeigen den menschlichen Körper, wie er ‚in Wirklichkeit‘ ist. Die Wertschätzung der angestrebten Realitäts- oder Wirklichkeitsnähe bezieht sich auf den jeweiligen Inhalt des Bildes und dessen im Bild zu sehende Darstellung, wobei die erwähnte Strategie des fotografischen Abbilds prägend scheint. 33 Ausschlaggebend für den Aufgriff des röntgenologischen Verfahrens durch die Medizin war unter anderem die Suggestion des durch die Technik möglichen, auf Fotoplatten fixierten ‚Blicks in den menschlichen Körper‘; diese Auffassung bestimmte das Verfahren als diagnostisches Hilfsmittel, wie es am 30. Januar 1896 anlässlich des klinischen Ärztetages 180 Medizinern vorgeführt wurde.34 Mit der Vorstellung einer uneingeschränkten Sichtbarkeit des Körperinneren verband sich die Hoffnung, den menschlichen Organismus zu entschlüsseln und alle bekannten Pathologien sicht- und damit erkennbar beziehungsweise diagnostizierbar zu machen. Die breite Rezeption der Entdeckung 189635 täuscht allerdings über den Umstand hinweg, dass es sich bei der Röntgentechnik eben nicht um die schon be-
31 Vgl. Larink, Wibke: Bilder vom Gehirn. Bildwissenschaftliche Zugänge zum Gehirn als Seelenorgan, Berlin 2011, S. 10. 32 Vgl. V. Dünkel: Annäherung an Graustufen, S. 31. 33 Vgl. zur realistischen und kulturrelativistischen Position in der Fotografie: Dörfler, Hans-Diether: „Das fotografische Zeichen“, in: ders./Jutta Schmitt u. a. (Hg.), Fotografie und Realität. Fallstudien zu einem ungeklärten Verhältnis (= Forschung Soziologie, Bd.73), Opladen 2000, S. 11-52, hier S. 4. 34 Vgl. M. Dommann: Durchsicht, S. 53ff. 35 Vgl. B.H. Kevles: Naked to the Bone, S. 23.
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kannte Fotografie handelte, sondern zur Produktion von auswertbarem Bildmaterial chemisches, physikalisches und technisches Wissen notwendig war. Die langwelligen Röntgenstrahlen weisen gegenüber dem kurzwelligen Licht ein beträchtliches Durchdringungsvermögen auf: Statt von Oberflächen reflektiert zu werden, durchstrahlen sie bestimmte Stoffe oder werden von diesen unterschiedlich stark absorbiert, was den Physiker Röntgen in seinen Experimenten besonders interessierte. Der Einsatz der Fotoplatten diente ihm zur Registrierung der aus einem physikalischen Körper wieder austretenden Strahlung, was unterstreicht, dass dieses Vorgehen keine fotografischen Abbildungen der Gegenstände erzeugt. Stattdessen erhielt Röntgen sogenannte Schattenbilder, in denen nach der Filmverarbeitung zu Positiven weiße Flächen für hohe Werte von austretender Strahlung und niedriger Absorption, schwarze Flächen hingegen für die Aufnahme der Strahlen und damit den ‚Schatten‘ des jeweiligen Stoffes (zum Beispiel Knochen) stehen.36 Die verschiedenen Grauwerte oder unterschiedlich starken Schatten werden durch die Dichte des jeweiligen Stoffes verursacht; damit sind Röntgenbilder nicht mit den bekannten fotografischen Ansichten zu vergleichen, weil sie in Form von Schattenprojektionen sonst unsichtbare Dichteverhältnisse visualisieren. 37 Physiker und Chemiker waren an diesen Dichteverhältnissen interessiert, wie auch Wilhelm C. Röntgen, der in seinen Experimenten eine Abhängigkeit der Schattendarstellungen mit der Dicke und Dichte des durchstrahlten Körpers feststellte, aber nicht beweisen konnte.38 Entgegen der medizinischen Hoffnung einer uneingeschränkten Sichtbarkeit im Sinne einer eindeutigen (begrifflichen) Identifizierung des Dargestellten ist das Wissen um die Röntgenstrahlung und ihre Eigenschaften notwendig für die zweckgerichtete Nutzung und Deutung des Bildmaterials, wie sich 1896 für medizinische Aufträge zur Erstellung von Röntgenaufnahmen zeigte. Ärzte wandten sich dazu vorrangig an Physiker, die in ihren Laboren über die notwendige technische Ausrüstung und als Personen über das erforderliche Wissen zur Bildproduktion verfügten. Der Wandel in der Funktionalität des Bildmaterials ist dabei nicht zu unterschätzen: Waren die Physiker an den Eigenschaften der Strahlung sowie ihrer Wechselwirkung mit verschiedenen Stoffen interessiert, die sie über Fotoplatten zumindest teilweise fixieren und sichtbar machen konnten (siehe Röntgen), galt die Aufmerksamkeit der Mediziner von Anfang an der bildlichen
36 Vgl. Flesch, Udo: „Eigenschaften energiereicher Strahlen“, in: Werner Schlungbaum/ ders./Uwe Stabell (Hg.), Medizinische Strahlenkunde, Berlin/New York 71993, S. 79122, S. 99; und vgl. B.H. Kevles: Naked to the Bone, S. 20f. 37 Vgl. V. Dünkel: Vergleichendes Röntgensehen, S. 366. 38 Vgl. V. Dünkel: Annäherung an Graustufen, S. 29f.
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Darstellung des menschlichen Körperinneren. Ärzte forderten die Technik für ihre eigenen Anwendungen ein, da der Bedarf an Bildmaterial rapide wuchs und die Frequentierung physikalischer Labore umständlich war. Im gleichen Jahr erfolgten Angebote für medizinische Röntgengeräte: Die elektrotechnischen Firmen erkannten den neuen Markt und produzierten passende Apparate. 39 Ein am Bildmaterial der Zeit nachvollziehbarer Wandel betrifft die Filmentwicklung: Die Röntgentechnik zeichnet sich in ihrer Verwandtschaft zur Fotografie als Positiv/Negativ-Verfahren aus. Grundlegend dafür sind die eingesetzten Fotoplatten mit ihrer fotografischen Schicht (Emulsion) aus unterschiedlich strukturierten Silberhalogenidkristallen.40 Die ersten Röntgenbilder wurden der fotografischen Tradition entsprechend als Positivabzüge entwickelt: Knochen erscheinen darauf sehr dunkel, während weiches Gewebe oder durchlässige Stoffe (wie zum Beispiel Luft) durch helle Flächen gekennzeichnet sind. In der medizinischen Anwendung des Verfahrens setzte sich allerdings das Negativbild durch, in welchem Knochen als Objekte mit der höchsten Absorptionsdichte als Flächen in Weiß oder hellen Grautönen dargestellt werden. Die von den Medizinern getroffene Entscheidung, in der Diagnostik mit Röntgennegativen zu arbeiten, wurde durch einen weiteren Unterschied zwischen Röntgenverfahren und Fotografie forciert: Bei den Aufnahmen mit Röntgenstrahlen fällt das entscheidende Dispositiv der Fotografie, nämlich die Optik von Kamera und Linsen, weg. 41 In diesem Zusammenhang schreibt Markus Buschhaus: „Anders aber als in der Photographie, in welcher die Entwicklung des Positivs auch zu einer Inversion der Bildverhältnisse beiträgt, bringt die Entwicklung eines Röntgenpositivs aufgrund der Zentralprojektion lediglich eine Inversion der Graustufenverteilung mit sich […].“42
Der höhere technische, materielle und zeitliche Aufwand der Positiventwicklung erschien vor diesem Hintergrund nicht lohnend, da der Wechsel von Negativ zu Positiv keine weiteren, über den visuellen Sinn erfahrbaren Informationen liefert.
39 Vgl. Dommann, Monika: „Von der Radiographie zur Radiologie: Zur Technik- und Wissenschaftsgeschichte einer Profession“, in: Werner Bautz/Uwe Busch (Hg.), 100 Jahre Deutsche Röntgengesellschaft, Stuttgart 2005, S. 20-23, hier S. 20. 40 Vgl. U. Flesch: Eigenschaften energiereicher Strahlen, S. 98. 41 Vgl. V. Dünkel: Vergleichendes Röntgensehen, S. 366. 42 Buschhaus, Markus: „Zwischen Büchern und Archiven. Ikonotopische Annäherungen an das Röntgenbild“, in: I. Hinterwaldner/ders. (Hg.), The Picture’s Image (2006), S. 145-159, hier S. 150.
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Die Entscheidung der Mediziner für das Negativ hatte zugleich Auswirkungen auf die Firmen, die sich mit der Herstellung und Weiterentwicklung der Apparate beschäftigten, sowie auf die Zulieferer von Fotoplatten und Filmen. 43 Dabei zeichnet sich der Bildhaushalt der Medizin durch eine „auf Grautonwerten basierende Sichtbarkeit im Bild“44 aus, die sich bis zu den Verfahren Computer- und Magnetresonanztomografie und ihren Darstellungen in Grauwerten fortschreibt und im Rahmen der radiologischen Bildkultur ein „Mittel zur Erkenntnisgewinnung“ 45 bildet. Wie der Kunsthistoriker Felix Prinz 2011 betont, vermögen „bisweilen allein Graustufen sichtbar zu machen […], was in bunten Farben nicht zu erkennen ist. Grauwerte sind kein Ausdruck eines Defizits, sondern ein Mittel zum Zweck, dass [sic] sich zugleich eine Besonderheit optischer Wahrnehmung zunutze macht, das Sehen in feinsten Kontrasten.“46
Obwohl die Entscheidung für Grauwerte anfangs durch die Möglichkeiten der Bildtechnik vorgegeben war, hält sie im Bereich morphologischer Bildgebung bis heute an. Statt der Vermutung des Kunsthistorikers Michael Diers zu folgen, dass im Anschluss an die traditionellen grafischen Schwarz-Weiß-Techniken die Repräsentation der Welt in Graustufen mit der Vorstellung korrespondierte, „die Fotografie liefere das authentische und beglaubigte Abbild der Realität“ 47, geht die vorliegende Studie eher vom Sehen der feinsten Kontraste aus: Eine farbige Darstellung der aufgezeichneten Röntgenstrahlen – oder später der gemessenen Werte in Computer- und Magnetresonanztomografie – erbrachte keine Vorteile in der Differenzierung von interessierenden Bildflächen und -formen. Ganz im Gegenteil wird angemerkt, dass Farbe das Erkennen von wichtigen Bildbereichen erschweren kann. Der Medizinphysiker Jürgen Hennig begründet die Beibehaltung der Grauwerte 2006 mit der höheren Empfindlichkeit zur Diskriminierung feiner Helligkeitsnuancen bei Grauwertdarstellungen im Vergleich zur Farbwahrnehmung:
43 Vgl. V. Dünkel: Annäherung an Graustufen, S. 30f; und vgl. Brevern, Jan von: „Die Wissenschaft vom Verzicht. Farbenlehren der Schwarz-Weiß-Fotografie im 19. Jahrhundert“, in: F. Prinz (Hg.), Graustufen (2011), S. 54-64, hier S. 56. 44 V. Dünkel: Annäherung an Graustufen, S. 37. 45 Ebd. 46 Prinz, Felix: „Editorial“, in: ders. (Hg.), Graustufen (2011), S. 5-6, hier S. 6. 47 Diers, Michael: „Grauwerte. Farbe als Argument und Dokument“, in: ders. (Hg.), FotografieFilmVideo. Beiträge zu einer kritischen Theorie des Bildes (= Fundus, Bd. 162), Hamburg 2006, S. 52-82, hier S. 58.
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„Die Wahrnehmung und damit auch die Interpretation eines Schwarz-Weiß-Bildes sind gegen Änderungen der Darstellung und der Beobachtungsbedingungen sehr robust und somit lassen sich Schwarz-Weiß-Bilder leichter kategorisieren. So ist zum Beispiel eine Abweichung von der Norm durch einen pathologischen Befund […] fast unmittelbar möglich.“ 48
In der Radiologie ist in der historischen Analyse zu beobachten, dass Medienwechsel immer wieder die Frage nach der Realisierung von Graustufendarstellung aufgeworfen haben.49 Seit der Einführung der Röntgentechnik wurde die Nutzung von Farbbildern oder eingefärbten Bildern wiederholt diskutiert, ist aber für die morphologischen Verfahren – zu denen Computer- und Magnetresonanztomografie zählen – nicht aufgenommen worden. Der Grauwertdarstellung wird bis heute eine unkompliziertere Interpretation der Bildverhältnisse im Gegensatz zur Farbdarstellung zugesprochen50 und betont, dass Grauwertbilder intuitiv und fast ohne anatomische Kenntnisse zu erfassen seien.51 Archive, Atlanten und Bilder in Serie Die Röntgentechnik wurde zwischen 1896 und 1905 in die Medizin implementiert und in Kliniken und Krankenhäusern installiert. Zwar waren die Disziplin und ihre Institutionen anfangs auf die Zusammenarbeit mit Physikern, Chemikern und (Foto-)Technikern angewiesen, doch der enorme Zuspruch für das neue Verfahren erlaubte eine schnelle Spezialisierung und Autonomisierung: 1899 etablierte sich in Berlin die Röntgengesellschaft, die 1905 zur Gründung der Deutschen Röntgengesellschaft führte; zur gleichen Zeit entstanden in Deutschland die ersten
48 Hennig, Jürgen: „Farbeinsatz in der medizinischen Visualisierung“, in: Vera Dünkel (Hg.), Farbstrategien (= Bildwelten des Wissens, Bd. 4,1), Berlin 2006, S. 9-16, hier S. 11. 49 Vgl. J. Hennig: Bildpraxis, S. 97. 50 Vgl. Grillenberger, Annemarie/Fritsch, Eveline: Computertomographie. Eine Einführung in ein modernes bildgebendes Verfahren, Wien 2007, S. 23f.; und vgl. Thomas, Adrian M. K./Banerjee, Arpan K./Busch, Uwe: „Introduction“, in: dies. (Hg.), Classic Papers in Modern Diagnostic Radiology, Berlin/Heidelberg 2005, S. 1-4, hier S. 1; und vgl. Gobo, Dean J.: „Localization Techniques: Neuroimaging and Electroencephalography“, in: Samuel H. Greenblatt (Hg.), A History of Neurosurgery. In Its Scientific and Professional Contexts, Illinois 1997, S. 223-246, hier S. 237. 51 Vgl. J. Hennig: Farbeinsatz, S. 11f.
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Röntgeninstitute.52 Im Sinne ihrer Professionalisierung lösten sich die Röntgenärzte aus ihren Abhängigkeiten, wobei einer der wichtigsten Schritte in der Errichtung der Röntgenarchive und der damit zusammenhängenden Ausbildung eines eigenen, vorrangig bildlichen Wissenskorpus’ bestand. In diesen Archiven wurden Röntgenbilder gesammelt und systematisch geordnet, um anschließend die ersten spezifischen Röntgenatlanten der Medizin zu veröffentlichen. Die Sammlungs- und Ordnungsprinzipien des Bildmaterials richteten sich nach dem einzelnen Patienten, Patientenkollektiven und spezifischen Körperregionen sowie Erkrankungen, womit die röntgenologische Spezialisierung eigene Kategorisierungen schuf. Im innerfachlichen Bildvergleich ermöglichten die Archive, Bilder eines Patienten diachron oder einer bestimmten Krankheit oder Körperregion (bei mehreren Patienten) synchron in Beziehung zu setzen.53 Die Röntgenologie und das durch ihr Vorgehen ausgebildete Wissen profilierten sich aufgrund eines Bildmaterials, das durch physikalisch-chemische und technische Verfahren produziert wurde. Darüber hinaus führten die Mediziner das wissenschaftliche Ideal der Quantifizierbarkeit und Vergleichbarkeit fort, indem sie Bilder und röntgenologische Bilderscheinungen sammelten und einer Ordnung unterwarfen. Archive sind für die Medizin allerdings nicht als Neuerung durch das Röntgenverfahren und dessen Bildmaterial zu verstehen: An das Argument der Fotografie als (bild-)rhetorische Disposition anknüpfend, hatten sich schon im 19. Jahrhundert fotografische Sammlungen bestehend aus Serien von Fall- und Krankheitsdokumentationen für pädagogische Zwecke etabliert, wie beispielsweise durch den deutsch-österreichischen Chirurgen Theodor Billroth (18291894). 1894 gründete außerdem Ludwig Jankau die Internationale MedizinischPhotographische Monatsschrift und an der Charité in Berlin entstand ein ‚photo-
52 Vgl. Busch, Uwe: „Von Röntgens Entdeckung zur Gründung der DRG“, in: W. Bautz/ ders. (Hg.), 100 Jahre Deutsche Röntgengesellschaft (2005), S. 8-12, hier S. 11; und vgl. Kauffmann, Günter W. u. a.: „Einführung“, in: G.W. Kauffmann/E. Moser/R. Sauer (Hg.), Radiologie (3) (2006), S. 3-8, hier S. 5; und vgl. Taupitz, Jochen: Die Standesordnungen der freien Berufe, Berlin/New York 1991, S. 292, Fußnote 514; und vgl. Pieper, Christine: Die Sozialstruktur der Chefärzte des Allgemeinen Krankenhauses Hamburg-Barmbek 1913 bis 1945. Ein Beitrag zur kollektivbiografischen Forschung, Münster 2003, S. 69. 53 Vgl. M. Dommann: Durchsicht, S. 114.
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graphisches Department‘, das als disziplinäres Bildarchiv von Studenten und ausgebildeten Medizinern genutzt werden konnte.54 Diese Entwicklungen lassen sich einerseits in umfassende Professionalisierungsbestrebungen der Medizin einordnen, zu denen vor allem die Entwicklung einer standardisierten, akademisch-wissenschaftlichen Expertenausbildung auf der Grundlage von Wissenserzeugung und Wissensbeherrschung gehörten.55 Andererseits stehen sie im Rahmen der vorliegenden Untersuchung für eine spezifisch visuelle Ausbildung, die sich mit den Grundlagen bildlicher Darstellungen und ihren Medien beziehungsweise Medientechniken zu beschäftigen hatte. Nun steht die Fotografie paradigmatisch für das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, wie es Walter Benjamin 1936 in seinem Aufsatz in Bezug auf das Kunstwerk analysiert.56 Kritisch greift Benjamin den Stand technischer Reproduzierbarkeit um 1900 durch das neue Medium auf. Dabei spielt die Fotografie nicht nur für die Kunst eine bedeutende Rolle, sondern ebenfalls für die Naturwissenschaften und die Medizin. Der Begriff der Serie verändert sich in seiner Bedeutung, wie auch serielle Verfahren einen anderen Stellenwert einnehmen und maschinelle Reproduktionsprozesse affirmativ implementiert werden. 57 Paradigmatisch ist die Serienfotografie zu nennen, die seit 1878 durch Eadweard Muybridge (1830-1904) für das Festhalten von Bewegungsabläufen oder durch Étienne-Jules Marey (1830-1904) für die Zerlegung von Sprechvorgängen genutzt wurde.58 Wie Ralph Köhnen in seiner Mediologie des optischen Wissens betont: „Parallel zur Serienfotografie verändert sich jedoch das Sehen des Körpers auch in der klinischen Praxis der Bewegungsaufzeichnung. Im minutiösen Protokoll hat der Physiologe Gille de la Tourette [1886, Anm. d. A.] den menschlichen Gang nachgezeichnet […].“59
54 Vgl. Curtis, Scott: „Photography and Medical Observation“, in: Nancy Anderson/Michael R. Dietrich (Hg.), The Educated Eye. Visual Culture and Pedagogy in the Life Sciences, Hanover/New Hampshire 2012, S. 68-93, hier S. 76f. 55 Vgl. Huerkamp, Claudia: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert. Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten: Das Beispiel Preußens, Göttingen 1985, S. 17ff. 56 Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), Frankfurt a. M. 1963. 57 Vgl. Heinrich, Christoph: „Serie – Ordnung und Obsession“, in: Uwe M. Schneede (Hg.), Monets Vermächtnis. Serie – Ordnung und Obsession, Ostfildern-Ruit 2001, S. 7-12, hier S. 8. 58 Vgl. Köhnen, Ralph: Das optische Wissen. Mediologische Studien zu einer Geschichte des Sehens, München 2009, S. 426. 59 Ebd., S. 458.
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Fotografische Serien der Fall- und Krankendokumentation im medizinischen Kontext lassen sich auf verschiedene Topoi beziehen, die auch in der kunstgeschichtlichen Diskussion von Serie, Serialität und seriellen Verfahren aufgegriffen werden. Zuvorderst ist sicherlich auf die Unterscheidung des Ganzen zu seinen Teilen hinzuweisen: „Immer heißt das Arbeiten in Serie auch, sich mit dem Ganzen und seinen Teilen auseinander zu setzen, also ein Verfahren, das Analyse und Synthese gleichermaßen beinhaltet.“60 Bezogen auf die menschliche Physis darf hier allerdings mit dem Zitat von Köhnen nicht der Eindruck entstehen, dass die Fotografie als revolutionäre Medientechnik ein absolut neues Verständnis ihres Gegenstandes – dem menschlichen Körper – erzeugt habe. Wie der Wissenschaftsforscher Christoph Hoffmann 2006 herausarbeitet, lässt sich die neue Beobachtungsperspektive der Naturforschung bezogen auf das Ganze und seine Teile auf den Anfang des 19. Jahrhunderts zurückführen, als französische Forscher wie die Anatomen Xavier Bichat und Georges Cuvier und der Physiologe Pierre Flourens „die Gesamtheit des Körpers systematisch in ‚fonctions‘“61 gliedern, also den Körper in Bezug auf seine funktionellen Einheiten und deren Verhältnis beobachteten und untersuchten. Medizinische Bildserien, sei es in der Fotografie, der Röntgentechnik oder später in der Computer- und Magnetresonanztomografie, sind mit dem Anspruch auf Ganzheit beziehungsweise Vollständigkeit versehen. Sie dürfen kein Detail auslassen, das für den Mediziner wichtig sein könnte. Mit diesem Konzept von dokumentarischer Vollständigkeit offenbaren sich die einzelnen Bilder einer Serie aber verstärkt als Fragmente62 oder fragmentarische Ansichten des menschlichen Körpers, der mit ihnen erfasst werden soll.63 Angelehnt an die Struktur des Mediums Fotografie offenbart sich auch für die Röntgentechnik, dass sich in beiden Medientechniken das Bild immer nur als Fragment bestimmt, nur einen Ausschnitt
60 C. Heinrich: Serie – Ordnung und Obsession, S. 8. 61 Hoffmann, Christoph: Unter Beobachtung. Naturforschung in der Zeit der Sinnesapparate, Göttingen 2006, S. 10. 62 Zum fragmentarischen Status von Bildern in Serien der Kunst vgl. Bippus, Elke: Serielle Verfahren. Pop Art, Minimal Art, Conceptual Art und Postminimalismus, Berlin 2003, S. 33. 63 Der Kunstwissenschaftler Philipp Weiss betont, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Körper als stabile Einheit mehr und mehr in Frage gestellt wurde. Vgl. Weiss, Philipp: Körper in Form. Bildwelten moderner Körperkunst, Bielefeld 2010, S. 125.
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der Wirklichkeit fixiert: „Der Versuch, das ‚Ganze‘ zu erfassen, muß auch hier mißlingen und führt unabdingbar zu einer seriellen Bilderproduktion.“ 64 Bezogen auf die Rolle der Fotografie in der Medizin arbeitet die Medizinhistorikerin Marielene Putscher schon 1972 heraus, dass sich in „jedem einzelnen Bild […] das grundsätzlich Fragmentarische aller wissenschaftlichen Erkenntnis [zeigt, Anm. d. A.], sobald diese sich auf etwas real Vorhandenes bezieht, das stets verschiedene ‚Ansichten‘ zeigt.“65 Günter Klaß betont demgemäß 2014 das notwendige Bewusstsein der Radiologen, dass sie „im CT-Bild nur Ausschnitte des Körpers und nie den gesamten Körper sehen.“ 66 Daneben ist auch über eine (erkenntnistheoretische) Ästhetik des Fragments nachzudenken, die sich seit der Frühen Neuzeit durch das Prinzip der anatomischen Zerlegung etablierte. Nach Helmar Schramm sind es „Methoden des Zerlegens, Instrumente des Schnitts, bewaffnete Augen und scharfe Begriffe“67, die seit der Frühen Neuzeit die Produktion von Wissen genauso wie die Praktiken in den Künsten, im Rechtswesen, in Politik und Kultur prägen. Zerlegen und Inventarisieren sind Bestandteil vielfältiger Kulturtechniken geworden, und seit dem 17. Jahrhundert wirkt ein neues Modell der Konstellation von Körper und Geist, „das durch Techniken des systematischen Schnitts charakterisiert ist, dessen folgenreiche Etablierung bis in die Gegenwart nachwirkt“68. Wie im Folgenden zur Etablierung der Röntgentechnik aufzuzeigen und für Computer- und Magnetresonanztomografie fortzuführen ist, erweist sich das radiologische Bildmaterial auch im Rahmen der medizinischen Theorie als fragmentarisch: Zuerst macht das einzelne Bild in der Medizin kaum oder selten Sinn, weshalb es „einerseits – nämlich in der klinischen Diagnostik – eingebettet ist in eine Serie weiterer CTs [oder Bilder, Anm. d. A.] und andererseits – nämlich etwa
64 Käufer, Birgit: „True Bodies? Von der Suche nach dem echten Körper und dem Finden der Kunstfigur“, in: Gisela Febel/Cerstin Bauer-Funke (Hg.), Menschenkonstruktionen. Künstliche Menschen in Literatur, Film, Theater und Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts (= Querelles. Jahrbuch für Frauen und Geschlechterforschung, 2004), Göttingen 2004, S. 128-147, hier S. 141. 65 Putscher, Marielene: Geschichte der medizinischen Abbildung. Von 1600 bis zur Gegenwart, München 21972, S. 143. 66 G. Klaß: Röntgen – Bilder – Welten, S. 305. 67 Schramm, Helmar: „Einleitung: ‚Cutting machines‘. Zur Anatomie von Melancholie und Avantgarde“, in: ders./Ludger Schwarte/Jan Lazardzig (Hg.), Spuren der Avantgarde: Theatrum anatomicum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich, Berlin/New York 2011, S. XI-XXVI, hier S. XI. 68 Ebd., S. XIII.
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in anatomischen Atlanten – mittels Zeichnung, Fotografie und Röntgenbild einer kontrastiven Lektüre unterworfen wird.“69 Anschließend ist nur auf der Grundlage der Verbildlichungen zumeist keine eindeutige Diagnose zu formulieren. Die Bildergebnisse sind immer mit weiteren diagnostischen Verfahren der klinischen Medizin in Bezug zu setzen, um sinnhafte Aussagen herzuleiten. Trotzdem stellt sich die Bildserie als entscheidend für die visuelle Ausbildung der Röntgenologen und Radiologen heraus, denn erst durch die Betrachtung der immer unter gleichen Bedingungen angefertigten Ausschnitte wird ihr Blick auf die Unterschiede, Veränderungen und Variationen des Motivs gelenkt. Die serielle Grundform und ihr Prinzip der Wiederholung dienen als didaktische Mittel dem Vergleich oder dem vergleichenden Sehen70 und „[s]eit Erfindung der Photographie gehörte das Sammeln und Zusammentragen der Spezies einer Gattung, der Typen einer Kategorie zu den zentralen Aufgaben, für die das neue Medium eingesetzt wurde.“71 Das vergleichende Sehen als Methode wird daher innerhalb der vorliegenden Studie in Fazit 2 explizit erörtert. Der Radiologe Norbert Hosten erläutert 2010 zum Denken in Röntgenbildern, dass durch die „Betrachtung von mehreren tausend normalen Röntgenbildern der Lunge […] bei ihm [dem jüngsten Assistenten, Anm. d. A.] nach einiger Zeit ein Gesamtbild der Lungen [erzeugt wurde, Anm. d. A.], das alles enthielt, was in jeder Röntgenaufnahme der Lunge gleich ist: Das Normalbild der Lunge.“72
Das Serielle setzt Hosten mit der Fotografie von Bernd und Hilla Becher gleich, die das in der Radiologie angewandte Verfahren aus seiner Perspektive verdeutlichen, denn auch Röntgenbilder könnten wie diese seriellen Fotografien präsentiert werden. Beispielhaft nennt Hosten die Röntgenbilder von sechs Frauen und deren Lungen und Brustkörben, bei denen ein Bilddetail auf die eine Frau mit der Brustkrebserkrankung verweise.73 Dass sich Hosten auf die Stilmerkmale von Bernd
69 M. Buschhau: Bilderflut, S. 69. 70 Vgl. C. Heinrich: Serie – Ordnung und Obsession, S. 9f; und vgl. van Lil, Kira: „This and this and this. Die ‚Serial Attitude‘ in der Minimal Art“, in: U. M. Schneede (Hg.), Monets Vermächtnis (2001), S. 33-40, hier S. 34; und vgl. Görgen, Annabelle: „‚Die Unschuld des Auges‘ Serielle Wiederholung und die Suche nach den Ursprüngen“, in: U. M. Schneede (Hg.), Monets Vermächtnis (2001), S. 45-52, hier S. 45. 71 C. Heinrich: Serie – Ordnung und Obsession, S. 10. 72 N. Hosten: Denken in Röntgenbildern, S. 143. 73 Vgl. ebd.
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und Hilla Becher bezieht, prononciert die Bedeutung einer bestimmten Präsentation der radiologischen Bildergebnisse: Die Standardisierung der Bildgebung, also der Perspektive, des Bildausschnitts, der Lichtgebung, der Grauwerte und anderer Aspekte, rückt Darstellungsweise und Medium in den Hintergrund, um dem Inhalt menschlicher Körper Vorrang zu gewähren. Förderlich dafür ist einerseits das Arbeiten in Serie als pragmatische, handwerkliche Haltung, die zweckmäßig und ökonomisch ist, nach erprobten Regeln funktioniert 74 und Normalität herstellt.75 Andererseits betont die Kunsthistorikerin Kira van Lil 2001 die charakteristische Ästhetik der seriellen Struktur, die „Ausdruck einer bestimmten Grundhaltung [ist, Anm. d. A.]: nüchtern, emotionslos, auf das Faktische konzentriert, von übergeordneten Werten oder Inhalten befreit.“76 Gerade als Bestandteil einer maschinellen und technischen Vorgehensweise wird der seriellen Bildproduktion zugeschrieben, gewissermaßen objektiv einen Gegenstand sichtbar zu machen. Daher greift die Radiologie auf diese Darstellungstradition und Präsentation zurück, um sich ihres Objekts menschlicher Körper zu vergewissern. Neben dem angesprochenen Problem, dass auch die Bildserie nicht das Ziel medizinischer Diagnose garantiert, zeigen verschiedene Berichte über Phantome, Bildfehler und -störungen wiederum, dass Darstellungsweise und Medium immer zu reflektieren sind, soll im Rahmen einer Referenzierung die Überführung des Gegenstandes Körper in das Bild nachvollzogen werden. Nachdem zu Anfang der Röntgentechnik erste Bildfehler registriert wurden, ist ein Wissen um die Produktionstechnik Bestandteil der Medizin geworden. Da technischen Reproduktionsverfahren immer wieder das Ausschalten eines subjektiven Einflusses nachgesagt wurde und wird, bestärkten Fotografie, Röntgentechnik und weitere bildgebende Verfahren den objektiven Status der Bildergebnisse.77 Die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston führt dazu den Begriff der mechanischen Objektivität ein, insofern diese Art der Objektivität
74 Vgl. C. Heinrich: Serie – Ordnung und Obsession, S. 8. 75 Vgl. Sykora, Katharina: „Yi Yi oder Ein Bunny sieht rot. Verkörperte Serialität und das analoge Bild“, in: U. M. Schneede (Hg.), Monets Vermächtnis (2001), S. 53-58, hier S. 57. 76 K. van Lil: This and this and this, S. 38. 77 Wie Elke Bippus für die Minimal Art der 1960er Jahre erläutert, wurden Verfahren der industriellen Serientechnik eingesetzt, um jeglichen Subjektivismus auszuschließen und wissenschaftliche Arbeitsweisen zu assoziieren. Vgl. E. Bippus: Serielle Verfahren, S. 65.
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„auf die Ausschaltung aller Formen des menschlichen Eingriffs in die Natur ab[zielt, Anm. d. A.], entweder durch den Einsatz von Maschinen – denken wir an Vorrichtungen, die automatisch etwas registrieren und aufzeichnen oder an den Photoapparat – oder durch die Mechanisierung wissenschaftlicher Prozeduren“.78
Nach Daston griffen im 19. Jahrhundert verschiedene Wissenschaften auf diese Form der Objektivität zurück, um einer ‚Verfälschung‘ der Gegebenheiten oder Daten der Natur beispielsweise nach ästhetischen Aspekten entgegenzuwirken. 79 Doch weder in der Ausbildung oder im Studium noch im späteren Beruf erweist sich das radiologische Bildmaterial als selbsterklärend – und auch die Fotografien waren es nicht. Stattdessen sind die Mediziner als Subjekte80 bei der Bildinterpretation und -auswertung notwendig, worin sich das einleitend genannte Paradox aufzeigt, wenn diese Interpretationen keine eindeutigen Aussagen zulassen. Anatomische Atlanten waren die Publikationsform, in der die Fotografien die akademischen Sammlungen in serieller Produktion verließen und den Studenten sowie Medizinern zugänglich waren. Diese Form der Bild- und Wissenspublikation wurde von den Röntgenologen Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts aufgegriffen, wobei sie über diese Röntgenatlanten Produktion und Rezeption der Bilder standardisierten und normierten. Die ersten Röntgenatlanten um 1900 sollten die Ärzte dementsprechend bei der Herstellung und Deutung der Bilder anleiten, weshalb in ihnen auch ein Wissen über die Eigenarten und Schwierigkeiten des Bildmaterials implementiert wurde. Sowohl Markus Buschhaus als auch Vera Dünkel beziehen sich in ihren Forschungen auf den Münchner Chirurgen Rudolf Grashey (1876-1959), der 1905 einen Vortrag über Fehlerquellen und diagnostische Schwierigkeiten beim Röntgenverfahren hielt und im gleichen Jahr den Atlas typischer Röntgenbilder von normalen Menschen81 veröffentlichte. 1912 erschien
78 L. Daston: Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität, S. 153. 79 Vgl. ebd. 80 Vera Dünkel resümiert in ihrer Dissertation, dass Rudolf Grashey und Hans Virchow zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine neue Auffassung von Objektivität in der Medizin vertreten, „in der das Subjektive einen konstitutiven Platz einnimmt.“ Bei Virchow wurde gar der „subjektive, gestaltende Eingriff […] zum notwendigen Teil der Bildinterpretation.“ V. Dünkel: Röntgenblick, S. 196 u. S. 197. 81 Im Ganzen lautet der Titel: Atlas typischer Röntgenbilder vom normalen Menschen: Ausgewählt und erklärt nach chirurgisch-praktischen Gesichtspunkten, mit Berücksichtigung der Varietäten und Fehlerquellen, sowie der Aufnahmetechnik (Dr. med. Rudolf Grashey, München: J. F. Lehmann’s Verlag 1905).
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der Atlas in erweiterter Auflage und enthielt Anweisungen zur sorgfältigen Einstellung der Röntgenröhre, der optimalen Positionierung des Untersuchungsgegenstandes, der Entwicklung des Röntgenbildes und der Art und Weise, wie das Röntgenbild bei der Lektüre gegen das Licht zu halten ist. Medientechnische und bildpraktische Angaben dieser Art beruhten auf der Erfahrung der Mediziner, dass technisch bedingte Fehler von der Auswahl der Geräte über die Bildaufnahme bis zur Entwicklung der Röntgenbilder an der Tagesordnung waren und somit einen bewussten Umgang damit notwendig machten.82 Klärung der Referenz und Medientechnik Anfang des 20. Jahrhunderts bemühten sich die Röntgenärzte, ihre Profession auszubilden und medientechnisch das Röntgenverfahren in die Medizin und deren (wissenschaftliche) Zielsetzungen zu implementieren sowie einen einheitlichen (bildkulturellen) Umgang mit den Bildergebnissen zu profilieren. Die anfängliche Euphorie über die unerwarteten Einblicke in den menschlichen Körper wurde schnell durch alltägliche Prozesse gebremst, als die Röntgenärzte zwar in langwierigen Durchleuchtungsuntersuchungen Frakturen und Veränderungen des Skeletts oder Fremdkörper im menschlichen Gewebe lokalisieren und darüber diagnostizieren konnten, diese Erkenntnisse jedoch nicht zur gewünschten Aufklärung aller (bekannten) Pathologien führten.83 Vielmehr zeigten erste Bildgebungen durchaus verwirrende Ergebnisse, wenn das Bildmaterial Fremdkörper im Patienten sichtbar machte, die im nächsten Schritt chirurgisch nicht nachzuweisen waren.84 Dass es sich nicht um fotografische Abbildungen des menschlichen Körpers handelte, wurde schnell deutlich; die Bildergebnisse waren weder direkt auf den Patientenkörper zu beziehen noch selbsterklärend, weshalb die Mediziner sich im Rahmen ihrer Professionalisierung um eine Verwissenschaftlichung und Standardisierung des Bildmaterials bemühten.85
82 Vgl. V. Dünkel: Vergleichendes Röntgensehen, S. 368; und vgl. M. Buschhaus: Über den Körper im Bilde sein, S. 173. 83 Vgl. U. Busch: Von Röntgens Entdeckung, S. 8. 84 Monika Dommann beginnt ihre Geschichte der Röntgenstrahlen mit der Schilderung derartiger Fälle, in denen röntgenologische Bilderscheinungen keinerlei Entsprechung im menschlichen Körper besaßen, um zu unterstreichen, dass Röntgenbilder keineswegs selbstevident sind oder über eine inhärente Bedeutung verfügen. Vgl. M. Dommann: Durchsicht, S. 7ff. 85 Vgl. U. Busch: Von Röntgens Entdeckung, S. 8.
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Mit der Aufnahme der neuen Technologie bestand die umfassendste Aufgabe der Röntgenärzte in der Klärung des Bildmaterials, da die in der Röntgentechnik entstehenden ‚Schattenprojektionen‘ nicht ohne komplexes Kontextwissen und Interpretation auf den menschlichen Körper als dem der Bildgebung zugrunde liegenden Gegenstand übertragbar waren. In diesem Sinn betont Bernike Pasveer, dass ein Röntgenbild keine naturgetreue oder wahrheitsgemäße Repräsentation des Körperinneren ist, sondern eine ganz bestimmte Perspektive auf diesen Körper zeigt; um diese Bilder und die damit zusammenhängenden Bemühungen in der Medizin zu verstehen, müssen analytisch die Dekodierungsprozesse betrachtet werden.86 Die Überführung des dreidimensionalen Objekts in ein zweidimensionales Bild erschwerte den Röntgenologen den Zugang und infolgedessen die Lokalisation und Benennung der jeweiligen Bilderscheinungen, weshalb Röntgenbilder nicht nur als Schatten-, sondern auch als Summationsbilder bezeichnet werden. Der Begriff erläutert das medientechnische Verfahren: Bei der Durchstrahlung des menschlichen Körpers fallen alle Schichten desselben in eine (Bild-) Ebene und überlagern sich, wobei Tiefenräumlichkeit verloren geht und sich die Schatten einzelner Organe in einer Fläche summieren. Die gewohnte Deutung von Licht und Schatten ist bei der Betrachtung von Röntgenbildern zu verabschieden. 87 Stattdessen sind die physikalischen Grundlagen ausschlaggebend: Der menschliche Knochen stellt einen sehr dichten Stoff des Körpers dar, der einen Großteil der eingestrahlten Röntgenwellen absorbiert. Wie schon angesprochen, verweisen helle oder weiße Flächen in den Negativen wie Schatten auf den Knochenbau oder dessen Eigenschaften. Aufgrund der starken Dichteunterschiede zwischen Knochen und Weichteilgewebe führt die Aufzeichnung der den Körper passierenden Röntgenstrahlung zu Darstellungen starker Hell-Dunkel-Kontraste. Zugleich entsprechen die Veränderungen der Helligkeitsverhältnisse nicht den Grundsätzen sichtbaren Lichts und somit der bekannten Wirkung von Licht und Schatten, sondern beziehen sich auf die Dicke und Dichte des Körpergewebes und die damit zusammenhängende Absorption der Röntgenstrahlen. Die Mediziner hatten es mit einem bis zu diesem Zeitpunkt nicht sichtbaren Phänomen zu tun, dessen bildliche Fixierung sie mit aus Anatomie und Pathologie bekannten Zuständen des menschlichen Körpers in Bezug setzen mussten. Eine besondere Schwierigkeit stellt dabei die sogenannte Streustrahlung dar, die in der Geschichte der Röntgentechnik detailliert aufgearbeitet wurde: Beim Auftreffen von Röntgenstrahlen auf Materie entsteht Streustrahlung, das heißt ein Großteil der eingestrahlten Röntgenwellen wird durch den Kontakt mit Gewebe oder der
86 Vgl. B. Pasveer: Representing or Mediating, S. 43. 87 Vgl. V. Dünkel: Annäherung an Graustufen, S. 36.
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Röntgenapparatur in verschiedene Richtungen abgelenkt, statt den menschlichen Körper zu passieren und hinter diesem in paralleler Projektion auf die Fotoplatte zu treffen. Zum Teil gelangen diese abgelenkten Röntgenstrahlen trotzdem zum Bildträger, so dass sie aus physikalischer und medizinischer Perspektive keine durch die Strahlengeometrie eindeutig zu definierende Abbildung der Objektstrukturen liefern. Stattdessen führen sie zu einer Herabsetzung des Bildkontrasts und der Detailerkennbarkeit, was auch mit dem Begriff des Signal-zu-RauschVerhältnisses angegeben wird.88 In diesem Zusammenhang ist der menschliche Körper selbst als eines der größten Probleme für die medizinische Bildgebung zu nennen, was im Verlauf der vorliegenden Untersuchung deutlicher wird. Ein wichtiger Begriff in Bezug auf irreführende Bilddetails ist seit Anfang der Röntgenologie derjenige des Artefakts. Aus dem Lateinischen stammend (art, artis = Handwerk und factum = das Gemachte), verweist er auf vom Menschen Gemachtes oder auch ‚künstlich Erzeugtes‘. 1905 erläutert Rudolf Grashey in seinem Kapitel zur Beurteilung von Röntgenbildern, dass beim Sehen feiner Veränderungen auf einem Röntgenogramm, „die von einem unter gleichen Bedingungen aufgenommenen ‚Normalbild‘ abweichen, […] folgende Fragen zu beantworten“ sind: „Können diese Veränderungen nicht Kunstprodukte sein? Kann nicht ein Platten- oder Entwicklungsfehler vorliegen?“89 Die im Röntgenbild zu sehenden Schatten müssen nach Grashey nicht vom Körpergewebe verursacht worden sein und können den Betrachtenden somit über den Zustand des jeweiligen menschlichen Körpers in die Irre führen. Fachspezifische Artikel in medizinischen Zeitschriften geben Anfang des 20. Jahrhunderts Aufschluss darüber, dass Artefakte teilweise unkontrollierbar zu Täuschungen und Verwechslungen führten.90 Um die entstehenden Bilderscheinungen trotzdem mit gesunden Strukturen sowie Pathologien im menschlichen Körper korrelieren zu können, griffen die Röntgenärzte in der Etablierungsphase der Technik auf verschiedene, in der Medizin schon etablierte Wissensbestände zurück. Eine lange Tradition besitzt der anatomische Bildhaushalt der Medizin, der seit dem 16. Jahrhundert ein Wissen über den menschlichen Körper in zweidimensionalen Darstellungen profilierte
88 Vgl. Lackner, Klaus-Jürgen: „Geschichte und technisch-physikalische Grundlagen“, in: Egon Bücheler/ders./Manfred Thelen (Hg.), Einführung in die Radiologie. Diagnostik und Interventionen, Stuttgart 112006, S. 1-44, hier S. 7. 89 Beide Zitate: R. Grashey: Atlas typischer Röntgenbilder, S. 12. 90 Vgl. Schlesinger, Emmo: „Das röntgenologisch Erkennbare beim Ulcus duodeni“, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 40/23 (1914), S. 1155-1161, hier S. 1155.
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und im Zusammenhang mit der erwähnten Solidarpathologie zu einem „topografischen Krankheitsregister“91 führte. Anatomie und Pathologie standen mit der Konstituierung des ‚normalen‘ und ‚pathologischen‘ Körpers durch Leichensektionen am Anfang der klinischen Diagnostik, die im Wesentlichen mit der Lokalisierung von Läsionen im lebendigen Patientenkörper beauftragt ist. Die in anatomischen Zeichnungen und Fotografien festgehaltenen Ansichten des menschlichen Körpers sowie seiner normalen oder pathologischen Erscheinung, wie sie in anatomischen und pathologischen Atlanten zu finden sind, dienten den Röntgenärzten als Vergleichsmöglichkeiten für ihre ebenfalls bildlich fixierten Darstellungen. Ebenso fungierten histologische Präparate als Referenzen. Allerdings konnten viele Strategien, die der Verifikation der im Röntgenbild zu identifizierenden Erscheinungen in Bezug auf den menschlichen Körper dienten, erst nach der Bildproduktion ansetzen: Über Operationen und Obduktionen wurden aufgrund des Bildmaterials getroffene Aussagen der Röntgenärzte bestätigt oder verworfen, so dass aus diesen Verfahrensweisen hervorgehende Erkenntnisse rückwirkend in Produktion und Deutung der Bilder einflossen und damit das Handeln mit und durch diese beeinflussten.92 So ist es gerade das anatomische und pathologische, vom Leichnam ausgehende Wissen, das in der Relation zum lebendigen Körper und der historischen, zeitlichen Natur der Krankheit bedeutsam wird. Der Filmwissenschaftler Scott Curtis benennt daher den lebendigen Körper als das fundamentale Dilemma der medizinischen Hermeneutik: „This back-and-forth movement – between life and death, present and past, part and whole – exemplifies the medical task.“93 Zuletzt ist in besonderer Weise für diese Phase der Etablierung und Stabilisierung einer neuen Technik in der Medizin zu betonen, dass nicht nur auf bestehendes Wissen zurückgegriffen wurde, um neues Wissen auszubilden. Dieses bestehende Wissen erfuhr zugleich Veränderungen durch neue Erkenntnisse. Als die Röntgentechnik eingeführt wird, findet sich in den Atlanten der schon erwähnte Wissensbestand der Anatomie und Pathologie, wobei diese Atlanten bessere Er-
91 M. Buschhaus: Bilderflut, S. 61. Aus der Medizinhistorik verweisen Wolfgang U. Eckart und Robert Jütte 2007 auf das 16. Jahrhundert als „Zeit der anatomischen (Sektions-) Abbildung“. W. Eckart/R. Jütte: Medizingeschichte, S. 59. 92 Vgl. U. Busch: Von Röntgens Entdeckung, S. 8; und vgl. B. Pasveer: Representing or Mediating, S. 48. 93 Curtis, Scott: „Still/Moving. Digital Imaging and Medical Hermeneutics“, in: Lauren Rabinovitz/Abraham Geil (Hg.), History, Technology, and Digital Culture, Durham/ London 2004, S. 218-254, hier S. 233f.
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kenntnis- und Deutungsinstrumente für die Medizin darstellten und Vergleichbarkeit und Bezugnahme durch verschiedene Medien oder Darstellungsweisen ermöglichten. Ende des 19. Jahrhunderts fanden sich neben Fotografien und Zeichnungen auch Schemata und Texte in dieser Publikationsform, die bis heute zur Wissenserzeugung in Beziehung gesetzt werden.94 Zu beachten ist, dass die anatomischen Atlanten die Normalanatomie des menschlichen Körpers oder den typischen gesunden Körper über die verschiedenen medialen Umsetzungen konstruieren, während pathologische Atlanten den pathologischen oder kranken Körper thematisieren.95 Die Anfang des 20. Jahrhunderts publizierten Röntgenatlanten schließen hier an und machten das Normale oder Pathologische des menschlichen Körpers in Röntgenbildern sicht- und erkennbar. Damit dienen sie als Beispiele für die spezialisierte Professionalisierung innerhalb der Medizin, da die Röntgenärzte einen Wissensbestand an Normbildern etablierten, um Gesundheit und Krankheit des jeweiligen Patienten über Bilder bestimmen zu können. Doch ebenso, wie schon der anatomische Körper eine Konstruktion der Medizin darstellte, auf die die Röntgenologen zurückgriffen, schufen sie über die Röntgenbilder eine neue Körpervorstellung, die retrospektiv anatomisches Wissen beeinflusste.96 Darüber hinaus zeigen die erwähnten Standardisierungen der Bildproduktion und -interpretation, wie sie in Grasheys Atlas von 1912 aufgegriffen werden, das Bewusstsein der Röntgenologen, dass es sich bei der Röntgentechnik ähnlich wie bei der Fotografie um ein Hilfswerkzeug handelt, insofern beide keineswegs rein automatische und vom Untersuchenden unbeeinflusste Vorgänge darstellen.97 Die Protagonisten der sich herausbildenden Spezialisierung stellten fest, dass sich das die Krankheit kennzeichnende Symptom aus der Betrachtungs- und Anamnesepraxis selbst nicht erkennen ließ. Die meisten (Röntgen-)Bilder gaben im Regelfall nicht den Normalzustand ärztlicher Praxis wieder oder ließen sich
94 Vgl. F. Stahnisch: Nosologie der Dritten Dimension, S. 154; und vgl. V. Dünkel: Vergleichendes Röntgensehen, S. 372. 95 Vgl. M. Buschhaus: Zwischen Büchern und Archiven, S. 152. 96 Diesen Umstand erläutert Bernike Pasveer, da die medizinische Anatomie der erste Referenzrahmen für die neuen Bilder und ihre Schattendarstellung war, jedoch fragliche Erscheinungen eine Umformung des bestehenden Wissens notwendig machten: „X-ray workers did not employ this stable anatomical version of the body only to encode the images. In particular, when they were unable to translate a shadow into an anatomical structure, the anatomical body was modified explicitly in order to produce likenesses: to become as much like the image as to be able to be its referent.“ B. Pasveer: Representing or Mediating, S. 46f. 97 Vgl. F. Stahnisch: Nosologie der Dritten Dimension, S. 158.
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nicht den Kategorialisierungen unterordnen, sondern verwiesen auf einen unvergleichbaren Zustand des individuellen Patienten oder Körpers. Unvergleichbares, Singuläres und Individuelles widersprachen den medizinisch-wissenschaftlichen Bestrebungen zu einem objektivierbaren Durchschnittskörper.98
3.3 BILDER DES ZERSCHNITTENEN KÖRPERS Die Schwierigkeiten der Projektionsbilder, die in der Röntgentechnik entstanden und auch als Schatten- oder Summationsbilder bezeichnet wurden, führten Anfang des 20. Jahrhunderts neben Klärungen über das Abbildsystem innerhalb der medizinischen Spezialisierung zu weiteren technischen Entwicklungen. Der defizitäre Aspekt der Röntgentechnik, dass sich die inneren Körperstrukturen in den Bildergebnissen in gegenseitiger Überlagerung darstellen und somit eine Auswertung der räumlichen Lageverhältnisse und deren Identifikation für die Röntgenologen erschweren, beförderte Vorhaben der Techniker, Physiker und Mediziner, andere Darstellungsweisen mit Hilfe der Technologie zu erproben. Gerade mit dem Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung auf den Bildgebungsverfahren Computer- und Magnetresonanztomografie muss auf den bisher in wenigen Forschungsarbeiten berücksichtigten Umstand verwiesen werden, dass die sogenannte Tomografie oder die ihr zugrunde liegenden tomografischen Methoden und Verfahren nahezu so alt sind wie die medizinische Röntgentechnik selbst. Im Speziellen geht es um das Schichtbildverfahren, das sich durch die Überlegung auszeichnet, „Bilder einzelner Körperschichten zu liefern, die möglichst wenig unter Überlagerungen schichtfremder Strukturen leiden.“99 Diese Überlagerungen wurden in den ersten Jahren der Röntgentechnik unter dem Summationseffekt diskutiert: Das radiografische Bild ist eine Summe der Schatten aller Objekte, die zwischen Röntgenröhre und Fotoplatte liegen, was eine
98 Vgl. ebd., S. 163. 99 Härer, W./Lauritsch, G./Mertelmeier, T.: „Tomographie – Prinzip und Potenzial der Schichtbildverfahren“, in: Theodor Schmidt (Hg.), Handbuch diagnostische Radiologie. Strahlenphysik, Strahlenbiologie, Strahlenschutz, Berlin 2003, S. 191-202, hier S. 191.
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eindeutige Zuordnung der interessierenden Ebene innerhalb des Körpers erschwert.100 Problematisch sind dabei vor allem Summationseffekte, die durch Variationen der normalen Anatomie oder durch projektionsbedingte Abweichungen von der Norm verursacht werden, wozu beispielsweise die Überlagerungen durch Strukturen der Knochen, Knorpel, Weichteile sowie der lufthaltigen oder mit Weichgeweben gefüllten Hohlräume gezählt werden.101 Gerade im Rahmen der Entwicklung zu einer wissenschaftlichen Medizin betrachteten die Röntgenärzte ihre Ergebnisse zu Patienten als reproduzierbar und quantifizierbar und trennten damit die Krankheit und ihre jeweiligen Erscheinungen vom Erkrankten selbst. 102 Variationen der normalen Anatomie oder projektionsbedingte Abweichungen von der Norm erschwerten dieses wissenschaftlich idealisierte Verständnis des menschlichen Körpers und damit die Interpretation des produzierten Bildmaterials. Aus diesem Grund wurde mit der medizinischen Implementierung des Röntgenverfahrens darüber nachgedacht, wie über die eingesetzten Strahlen und deren fototechnische Aufzeichnung dreidimensionale Informationen über den menschlichen Körper zu gewinnen seien.103 Eine erste Möglichkeit dreidimensionaler Bildgebung stellte Elihu Thomson (1853-1937) im Frühjahr 1896 mit der Verwendung stereoskopischer Röntgenbilder für die Diagnose von Knochenbrüchen sowie die Lokalisation von Fremdkörpern im menschlichen Körper vor.104 Spätestens ab 1914 erfolgten verschiedene Vorschläge, durch eine synchrone Bewegung von Röntgenquelle und Röntgendetektor artefaktfreie, das heißt ohne überlagernde Schattendarstellungen produzierte Schichtbilder zu erstellen. Ab 1917 arbeitete der Pariser André-EdmundMarie Bocage an einer solchen Idee und reichte 1921 ein Patentgesuch ein, das 1922 bewilligt wurde.105 Der Kern seiner Bemühungen lag in der Überlegung, von
100 Vgl. Van Tiggelen, R.: „In Search for the Third Dimension: From Radiostereoscopy to Three-Dimensional Imaging“, in: Journal Belge de Radiologie – Belgisch Tijdschrift voor Radiologie 85/5 (2002), S. 266-270, hier S. 266. 101 Vgl. Pasler, Friedrich A.: Zahnärztliche Radiologie, Stuttgart 52007, S. 98f. 102 Vgl. B.H. Kevles: Naked to the Bone, S. 39. 103 Vgl. W. Härer/G. Lauritsch/T. Mertelmeier: Thomographie, S. 191. 104 Vgl. Hege, Hans-Christian: „Hintergrund-Informationen zum Artikel ‚Neue Bilder für die Medizin‘“, 2005, S. 2, http://www.zib.de/visual-publications/sources/src-2005/ mdmv13-3-hegeInfo.pdf vom 01.02.2019; und vgl. Carlson, Bernard W.: Innovation as a Social Process. Elihu Thomson and the Rise of General Electric, 1870-1990, Cambridge 1991, S. 272ff; und vgl. R. Van Tiggelen: In Search for the Third Dimension, S. 266. 105 Vgl. C. Hege: Hintergrund-Informationen, S. 3.
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einer einzelnen fixierten Ebene oder Schicht des menschlichen Körpers eine Abbildung zu erzeugen, indem jedem Punkt innerhalb dieser Ebene ein Bildpunkt auf der Fotoplatte entspricht; während diese Ebene dann scharf abgebildet wird, formen andere Organe oder Strukturen nur diffuse Schatten.106 Somit entwickelte er eine radiografische Prozedur, die ein ‚Zerschneiden‘ des menschlichen Körpers in vertikal-frontale beziehungsweise longitudinale107 Schichten erlaubte und das Selektieren einer einzelnen Ebene; die heute aus der Computertomografie bekannten horizontalen beziehungsweise axialen 108 Schichtbilder entstanden erst in den 1970er Jahren auf der Grundlage weiterer Entwicklungen der 1940er Jahre. 109 Die von Bocage erfundene Planigrafie wird in der medizinischen und medizinhistorischen Forschung als theoretischer Beginn der selektiven Schichtdarstellung bezeichnet, die allerdings keine Implementierung in die klinische Praxis fand.110 Insofern sich die meisten Entwickler in dieser Zeit an der nationalen Fachliteratur orientierten, hatte der holländische Ingenieur und damalige Medizinstudent Bernard G. Ziedses Des Plantes (1902-1993) im Jahr 1922 dieselbe Idee wie Bocage, dessen Arbeiten er nicht kannte. Ziedses Des Plantes griff diese Idee 1928
106 Vgl. B. F. Saunders: CT Suite, S. 95. Saunders zitiert A. Brocage aus dessen Schrift „Methods of, and Apparatus for, Radiography on a Moving Plate“ von 1921. 107 Bei dem Begriff longitudinal handelt es sich um eine standardisierte Lage- und Richtungsbezeichnung der medizinischen Anatomie. Diese Bezeichnungen werden auf die ‚anatomische Nullstellung‘ beim aufrecht stehenden Menschen bezogen. Die Longitudinalachse ist in diesem Fall die Vertikal- oder Längsachse und verläuft von oben nach unten (oder umgekehrt), also von Kopf bis Fuß oder vom Scheitel zur Sohle. Vgl. Braun, Thomas: „Allgemeine Anatomie, Gewebelehre und Histogenese“, in: Mark Buchta/Andreas Sönnichsen (Hg.), Das Physikum. Kompendium zum 1. Abschnitt der Ärztlichen Prüfung, München 22010, S. 17-48, hier S. 18. 108 Der Begriff axial entstammt der radiologischen Fachsprache; mit der axialen Schnittebene beziehen sich die Mediziner auf die anatomische Transversalebene, die parallel/horizontal zur (gedachten) Standfläche und senkrecht zur Longitudinalachse verläuft – also beim stehenden Menschen von der rechten zur linken Körperhälfte (oder umgekehrt). Vgl. Kirsch, Joachim: „Bauplan des Körpers“, in: ders. u. a. (Hg.), Taschenlehrbuch Anatomie, Stuttgart 2011, S. 1-14, hier S. 7f. 109 Vgl. R. Van Tiggelen: In Search for the Third Dimension, S. 267; und vgl. B. F. Saunders: CT Suite, S. 97. 110 Vgl. W. Härer/G. Lauritsch/T. Mertelmeier: Thomographie, S. 193; und vgl. Webb, Steve: From the Watching of Shadows. The Origins of Radiological Tomography, Bristol 1990, S. 8.
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wieder auf und verwirklichte bis 1931 in Utrecht das erste praktische Schichtaufnahmeverfahren als Planigrafie, „das durch lineare, zirkulare oder spiralförmige Bewegung geometrisch einwandfreie Bilder erzeugte.“ 111 Der Ingenieur und Medizinstudent wird oft als Erfinder der klassischen Tomografie bezeichnet, da seine Vorrichtung als eine der ersten in die Praxis umgesetzt worden zu sein scheint und seine ersten klinischen Untersuchungen Schädelaufnahmen betrafen. 112 Zugleich verdeckt der generische Titel der klassischen Tomografie, dass es zwischen 1914 und 1930 viele unterschiedliche Ansätze und Techniken der dreidimensionalen Verbildlichung des menschlichen Körpers unter so verschiedenen Bezeichnungen wie Stratigrafie, Planigrafie, Tomografie, Laminografie, Planeografie, Serioskopie, Stereoradiografie und body-section radiography (äquivalent dem deutschen Schichtbildverfahren) gegeben hat.113 Der heute verallgemeinernde Oberbegriff aller Schichtverfahren, Tomografie, wurde 1934 nach einer Präsentation der Technik auf dem vierten radiologischen Kongress in Zürich festgesetzt.114 Der Terminus Tomografie setzt sich aus griechischen Wörtern zusammen: tome, τομή für Schnitt (abgeleitet auch von temnein, τέμνειν für schneiden, (zer-) teilen) sowie graphëin, γράφειν für schreiben, zeichnen.115 Tomografische Aufnahmetechniken bilden durch eine geeignete Relativbewegung von Röntgenquelle und -detektor nur eine Schicht des durchstrahlten Objekts, wie beispielsweise des menschlichen Körpers, auf dem Film oder der Fotoplatte scharf ab. Da sich bei diesem Vorgehen nur eine Ebene scharf abzeichnet, ober- und unterhalb liegende Ebenen hingegen ‚verwischt‘ werden, hat sich auch die Bezeichnung Verwischungstomografie durchgesetzt.116 Die Vorteile und Ziele der Tomografie betreffen die Lokalisation und Deutung bestimmter Strukturen, die auf der röntgenologischen Übersichtsaufnahme bereits sichtbar werden, für deren Klärung als nor-
111 C. Hege: Hintergrund-Informationen, S. 3. 112 Vgl. W. Härer/G. Lauritsch/T. Mertelmeier: Thomographie, S. 193. 113 Vgl. S. Webb: From the Watching of Shadows, S. 6f; und vgl. B. F. Saunders: CT Suite, S. 95. 114 Vgl. R. Van Tiggelen: In Search for the Third Dimension, S. 268. 115 Vgl. Buzug, Thorsten M.: Einführung in die Computertomographie. Mathematischphysikalische Grundlagen der Bildrekonstruktion, Berlin/Heidelberg 2005, S. 42; und vgl. W. Härer/G. Lauritsch/T. Mertelmeier: Thomographie, S. 193; und vgl. S. Webb: From the Watching of Shadows, S. 7. 116 Vgl. C. Hege: Hintergrund-Informationen, S. 3.
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male Vorkommnisse oder pathologische Prozesse allerdings die Darstellung bestimmter anatomischer Details wünschenswert ist.117 Insgesamt wurde die tomografische Aufnahmetechnik bei ihrer Einführung und Implementierung in die klinische Praxis zum Ende der 1930er Jahre als Qualitätsgewinn gegenüber einfachen Durchleuchtungen gewertet, obwohl die verwischten Informationen der anderen Ebenen natürlich nicht verschwanden, sondern sich als Grauschleier über die jeweils gewählte scharfe Abbildungsebene legten. Für die entstehenden Darstellungen ist somit ein erheblicher Kontrastverlust zu verzeichnen.118 Bei dem Einbezug von (bild-)kulturellen Voraussetzungen der Tomografie bietet sich in erster Linie die Wortbedeutung an, die den Bezeichnungen Schnittschreibung oder Schichtzeichnung (und dem jeweils anderen Kompositum) am nächsten kommt. Die Handlung des Schneidens sowie die Aufzeichnung oder Illustration der jeweiligen Schnitte oder daraus entstehender Schichten besitzen für die Medizin eine lange Tradition in der Anatomie und der Erforschung des menschlichen Körpers. Forschungsarbeiten zu anatomischen Atlanten der Frühen Neuzeit verweisen nicht nur auf die Darstellung des ‚aufgeschnittenen Körpers‘, sondern ebenso auf didaktische Abbildungen zur geeigneten (chirurgischen) Schnitttechnik und dem dazu notwendigen Instrumentarium. 119 Darüber hinaus wurden Schnittbilder um 1870 in der biologischen Forschung für mikroskopische Untersuchungen eingesetzt, in deren Folge sich die Schicht zu einer gebräuchlichen Form der Repräsentation in vielen biomedizinischen Disziplinen wie Anatomie, Zellbiologie, Biochemie, Pharmazie und eben Röntgenologie entwickelte. 120 Die Leichensektion ließ den menschlichen Körper in der Geschichte der Medizin zu einem zerteil- und zerschneidbaren Objekt der medizinischen Wissenschaft werden, so dass über die Handlung des Schneidens Informationen und Wissen gewonnen wurden. Die entstehenden Einsichten in den menschlichen Körper wurden in erster Linie grafisch, wie zum Beispiel durch von Künstlern angefertigte
117 Vgl. Balzer, Hilke: Informationsgehalt und Einsatzmöglichkeiten eines kombinierten Schichtgerätes (SCANORA) in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Diss. phil. masch. Hamburg 2000, S. 5, http://d-nb.info/961043970/34 vom 01.02.2019. 118 Vgl. T. M. Buzug: Einführung in die Computertomographie, S. 42. 119 Vgl. H. Schramm: Cutting machines; und vgl. Mandressi, Rafael: „Zergliederungstechniken und Darstellungstaktiken. Instrumente, Verfahren und Denkformen im Theatrum anatomicum der Frühen Neuzeit“, in: H. Schramm/L. Schwarte/J. Lazardzig (Hg.), Spuren der Avantgarde (2011), S. 54-74. Diese Tradition lässt sich bis ins 19. Jahrhundert nachvollziehen, vgl. N. Lauer: Der Kontrakt des Zeichners, S. 164ff. 120 Vgl. B. F. Saunders: CT Suite, S. 42.
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anatomische Abbildungen, festgehalten und dem medizinischen Studium zugänglich gemacht. In historischer Betrachtung ist für die Tomografie zu betonen, dass trotz der Entwicklungen Anfang des 20. Jahrhunderts und weiterer Arbeiten zwischen den 1930er und 1960er Jahren der Durchbruch der Methode erst mit der Verfügbarkeit leistungsfähiger Computer erfolgte. 121 Neben der geschilderten Problematik, dass bei tomografischen Aufnahmen ein Kontrastverlust der Abbildung hinzunehmen war, ergab sich die sehr spezifische Aufgabe, welche Schichten des menschlichen Körpers bei einer bestimmten diagnostischen Fragestellung zu verbildlichen sind. Der Umstand, dass bei röntgenologisch erstellten Übersichtsaufnahmen teilweise ein einziger Durchleuchtungsvorgang ausreicht, damit der Röntgenologe eine Übersicht des zugrunde liegenden Patientenkörpers und dessen etwaigen pathologischen Erscheinungen erhält, ist hier von Bedeutung. Wird der menschliche Körper oder das interessierende Körperteil tomografisch in mehrere Schichten zerlegt, die verbildlicht werden müssen, steigen die benötigte Untersuchungszeit und das entstehende Bildmaterial immens an. Die bis in die 1960er Jahre verfügbare analoge Technik der Tomografie machte es für viele Röntgenologen undenkbar, das Untersuchungsobjekt Millimeter für Millimeter zu durchleuchten, wobei ein weiterer wesentlicher Aspekt hier sicherlich die Strahlenbelastung ist, der der Patient ausgesetzt wird. Die in den 1940er und 1950er Jahren entwickelte Computertechnologie machte es Anfang der 1970er Jahre möglich, mit nur einem Durchleuchtungsvorgang mehrere Schichtbilder eines Patienten zu erstellen: Die Computertomografie wurde entwickelt. In den 1960er Jahren konstatieren die Radiologen selbst, dass die Schichtbildgebung als Methode der Röntgenuntersuchung in ihrem Anwendungsbereich noch nicht geklärt ist und innerfachlich zu lebhaften Kontroversen führt. 122 Fragen wie zur Darstellung von Einzelheiten oder zur einfacheren Ansicht des Körpers und Erstellung der Diagnose zeigen auf, dass den Medizinern das tomografische Verfahren bekannt war, es aber als spezialisiertes Verfahren angesehen wurde.123 Aus bildwissenschaftlicher Perspektive stehen dieser Darstellung Behauptungen aktueller Forschungsansätze gegenüber, in der die Anfang der 1970er Jahre eingeführte Computertomografie als das neue Verfahren der Medizin und als ausschlag-
121 Vgl. C. Hege: Hintergrund-Informationen, S. 3. 122 Vgl. Muntean, Eugen: „Untersuchungsmethoden und Aufnahmetechnik des knöchernen Schädels“, in: Lothar Diethelm/Franz Josef Strnad (Hg.), Röntgendiagnostik des Schädels I, Berlin 1963, S. 1-21, S. 1. 123 Vgl. ebd., S. 13f. u. S. 16.
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gebende Veränderung der Bild- und Blickweisen angeführt wird. Die Sozialwissenschaftlerin Regula Valérie Burri erläutert in ihrer Untersuchung Doing Images von 2008, dass sich ein Interpretieren und Verstehen der computertomografischen Bilder für die Radiologie nicht aus konventionellen Röntgenbildern herleiten ließ, insofern erstere „durch eine digitale Schnittbild-Methodik fabriziert wurden.“124 Sie stützt sich dabei auf Ergebnisse aus Interviews mit Protagonisten des medizinischen Feldes, wobei die Ärzte „nicht die Magnetresonanztomographie, sondern die Einführung der Schnittbildtechniken, zu denen bereits der Ultraschall und die Computertomographie zählten, als den eigentlichen Umbruch in der Blickweise“125 wahrnahmen. Markus Buschhaus geht in seiner Medienarchäologie von 2005 auf die Einführung des digitalen Verfahrens in die Medizin ein und führt aus, dass die Computertomografie als Konvergenz von Röntgen- und Computertechnik technische und diagnostische Unzulänglichkeiten des traditionellen Röntgenbildes ausgleichen sollte, insofern eben keine Summationsbilder, sondern Darstellungen von Schnittebenen in Scheiben produziert werden.126 Für die 1970er Jahre betont Buschhaus, dass für die Computertomografie nach bereits etablierten Bildstrategien gesucht wurde, die es in Bezug auf transversale beziehungsweise axiale Schnittbilder im Bereich anatomisch motivierter Bildstrategien nicht gegeben habe.127 Beruhend auf der hier geleisteten Aufarbeitung der viel früher einsetzenden Anwendungen und Diskussionen der Schicht- oder Schnittbildgebung, berücksichtigen die Forschungsarbeiten von Burri und Buschhaus nicht zu Genüge die schon aus der Röntgenologie stammenden und in den tomografischen Verfahren fortgesetzten Seh- und Bildtraditionen, die der computertomografischen Bildgebung als Implementierungsgrundlage dienten. Beschreibt Burri die Computertomografie als neues und den medizinischen Blick veränderndes Verfahren, ordnet sie sich historisch betrachtet der Selbstdarstellung der Medizin und Medizintechnik unter, wenn die Computertomografie als revolutionäres Verfahren von ähnlichem Rang wie die Röntgentechnik beschrieben wird.128 Wie hier im Rahmen ei-
124 R. V. Burri: Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder, S. 94. 125 Ebd., S. 19. 126 Vgl. M. Buschhaus: Über den Körper im Bilde sein, S. 183. 127 Vgl. ebd., S. 193. 128 Zur Computertomografie als revolutionäre Entwicklung vgl. Reith, Wolfgang: „Die Entwicklung der Neuroradiologie. Von der Darstellung der Knochen bis zum molekularen Imaging“, in: Der Radiologe 45/4 (2005), S. 327-339, hier S. 331; und vgl.
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ner historischen Diskursanalyse geleistet, lässt sich für Röntgenologie und Radiologie eine Beschäftigung mit tomografischen Verfahren und Schichtbildstrategien in der transversalen Körperebene seit den 1930er Jahren nachweisen. Der Mediziner Alfred Gebauer formuliert 1949 in der RöFo, „daß die transversale Körperschichtaufnahme das Blickfeld des Röntgenologen erweitert und für die verschiedenen Fachgebiete der Medizin eine wichtige Untersuchungsmethode zu werden verspricht.“129 1951 berichtet Gebauer außerdem über die Prüfung der diagnostischen Vorteile der Körperschichtaufnahmen in transversalen gegenüber vertikalen beziehungsweise longitudinalen Ebenen.130 Zuletzt offenbart sich das lineare Narrativ und die Einteilung in konventionelle oder klassische Tomografie und Computertomografie auch heute als irreführende Darstellung, da das konventionelle Verfahren weiterhin Anwendung findet, um spezielle Fragestellungen der Knochenuntersuchungen wie beispielsweise Entzündungsprozesse zu klären. 131 Vor diesen Ergebnissen sind die Beurteilungen von Burri und Buschhaus als verkürzt zu bezeichnen, die erst mit der Computertomografie vom transversalen Schnittbild ausgehen. Aus bildwissenschaftlicher Perspektive betrifft der hervorzuhebende Unterschied dagegen die Herstellungsprozesse der entstehenden Schichtbilder, insofern die computertomografischen Bildergebnisse nicht auf der Schwächung der Röntgenstrahlen und deren Registrierung auf Fotoplatten oder Film-Folien-Systemen beruhen, sondern durch in Zahlen transformierte und gemessene Schwächungswerte des menschlichen Gewebes Bilder errechnet und darüber konstruiert werden. Die Darstellung des menschlichen Körpers erfolgt zwar weiterhin über die Registrierung von Strahlen, allerdings nicht mehr in einer direkten Weise, also dass die Röntgenstrahlen die zugrunde liegenden Aufzeichnungsmedien verändern; die Strahlen sind in der Computertomografie der Ausgangspunkt für eine
Heilmann, Hans-Peter/Tiemann, J.: „Datenverarbeitung in der Radiologie: Resümee und Ausblick“, in: RöFo 143/6 (1985), S. 679-685, hier S. 682. 129 Gebauer, Alfred: „Körperschichtaufnahmen in transversalen (horizontalen) Ebenen“, in: RöFo 71/5 (1949), S. 669-696, hier S. 696. 130 Vgl. Gebauer, Alfred: „Diagnostische Vorteile und Indikationsstellung der Körperschichtaufnahmen in transversalen Ebenen gegenüber denen in vertikalen“, in: RöFo 75/7 (1951), S. 9-20. 131 Vgl. Informationen auf der Internetseite der Radiologischen Klinik des Universitätsklinikums Bonn, http://www.uni-bonn-radiologie.de/front_content.php?idart=368 vom 01.02.2019; und vgl. Lasserre, Anke/Bloehm, Ludwig: Kurzlehrbuch Radiologie (GK 2 und GK 3), München/Jena 3 2003, S. 23.
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Reihe von Rechenleistungen, die dann in ein weiterhin veränderbares Bild auf dem Monitor münden. Bei der Veränderung des medizinischen Blicks ist also weniger von der Schnittbild-Methodik als von der Art und Weise der Transformation von Information über den menschlichen Körper in eine Verbildlichung auszugehen. Statt – wie beispielsweise Regula V. Burri – den Narrativen der Medizin zu folgen, muss der in eine lineare Abfolge gebrachte Entwicklungsstrang der Computertomografie durchbrochen werden: Die Schnittbildtechnik war seit den 1930er Jahren bekannt, doch in ihrer Umsetzung erst ökonomisch und diagnostisch sinnvoll in Verbindung mit der Computertechnologie einsetzbar. Statt von der durch das tomografische Verfahren ermöglichten Bilddarstellung oder Ansicht auszugehen, muss die bildwissenschaftliche Analyse explizit die medientechnischen Veränderungen berücksichtigen, die mit dem Computer auf berechnete Bilder verweisen. Trotzdem stellt sich im Zusammenhang mit der Entwicklung bildgebender Verfahren in der Medizin die Einführung der Computertechnologie als bedeutend heraus. Die bisher beschriebene Röntgentechnik und ihre Erweiterung um tomografische (oder andere) Methoden basiert grundsätzlich auf analogen Verfahren. Ein aus Perspektive der Röntgenologen immenser Mangel des Röntgens war die nicht berechenbare Stärke der eintreffenden Strahlung auf Fotoplatten oder FilmFolien-Systemen; erst über die Implementierung des Computers als Rechen- und Standardisierungsmaschine sowie die damit zusammenhängende Entwicklung der Computertomografie wurde es für die medizinische Spezialisierung möglich, eindeutige Zahlenwerte statt schwer zu differenzierender und nur visuell zu detektierender Grautöne anzugeben. Interessanterweise behielten die Röntgenologen jedoch die visuelle Deutung und Interpretation ihrer Ergebnisse bei: Statt sich Zahlenwerte ausgeben zu lassen, blieben sie beim Bildmaterial als Untersuchungsergebnis, wie in Kapitel vier anhand der Computertomografie in den 1970er Jahren gezeigt wird. Bevor allerdings dieser wichtige Schritt in der Bildgebung betrachtet wird, soll die Einführung des Computers und die damit einhergehenden Veränderungen im medizinischen Alltag in die Analyse mit einbezogen werden. Dadurch wird deutlich, dass die Medizinische Informatik als zweite (Bild-)Kultur für die Bedeutung und bildspezifischen Entscheidungen in der Medizin herangezogen werden muss, da sie essentielle Umstrukturierungen begleitete und eigene Vorstellungen sowie (Seh-)Konventionen in die Bildproduktion eingebracht hat.
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3.4 VORBEDINGUNGEN UND ENTWICKLUNGEN DIGITALER BILDGEBUNG Das Bestreben der Medizin zu einer modernen Wissenschaft schuf die Vorbedingungen digitaler Bildgebung: Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhundert stellten Beobachtung, Experiment und Messung das eine Standbein wissenschaftlichen Vorgehens dar, Mathematik und Berechnung das andere. 132 Die Sammlung und Dokumentation der Untersuchungsdaten zu einzelnen Patienten in der Patientenakte führten zu einer Umstrukturierung der klinischen Diagnostik: Die Arbeit der Ärzte fand nun an Krankenbetten in Kliniken statt und die vielfältigen Untersuchungs- und Messmethoden forderten arbeitsteilige Abläufe, die sinnvoll zusammengeführt werden mussten. Es entstanden Probleme wie die Bewältigung der steigenden Masse an Daten und Informationen in der Medizin sowie der objektiven Auswertung von Röntgenbildern in der Radiologie. Der Computer wurde in den 1950er und 1960er Jahren als Lösung dieser Probleme angepriesen, wobei nicht zu unterschätzen ist, inwiefern die Einführung dieser Technologie Verfahrensweisen und das Verständnis der jeweiligen Arbeit veränderte. Die Vorbedingungen und Entwicklungen digitaler Bildgebung in der Radiologie sind daher nicht nur vom medizinischen Verständnis und der Disziplin beeinflusst, sondern müssen zugleich an den Schnittstellen zu Computertechnologie und Informatik in den Blick genommen werden. Hervorzuheben ist, dass sich der Röntgenbefund, das radiologische Untersuchungsergebnis, von chemischen und physikalischen Befunden absetzt, insofern es sich dabei aus Perspektive der Radiologen „nicht um eine labormäßige Ermittlung qualitativ und quantitativ faßbarer Größen, sondern um die Beobachtung und Deutung pathologischer Prozesse und Funktionen innerer Organe“ 133 handelt. In erster Linie arbeiteten die Radiologen mit Bildergebnissen und deren Betrachtung und nicht mit eindeutig fassbaren Messdaten und Zahlen. Mit der Verschiebung von einer auf Erfahrung basierenden medizinischen Deutung des Bildmaterials hin zu einer wissenschaftlich, also mathematisch und statistisch formulierten Aussage versuchte die medizinische Spezialisierung ‚eindeutigere‘ Zugänge zu ihrem Material zu entwickeln. Die Radiologie gliedert sich damit in den übergreifenden Zusammenhang der Diskussion um das Verständnis wissenschaftlicher Objektivität
132 Vgl. Gramelsberger, Gabriele: Computerexperimente. Zum Wandel der Wissenschaft im Zeitalter des Computers, Bielefeld 22010, S. 39 u. S. 46. 133 Zdansky, Erich: „Der Röntgenbefund heute“, in: RöFo 95/6 (1961), S. 724-727, hier S. 726.
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oder Objektivität überhaupt ein, wie er von den Wissenschaftshistorikerinnen Lorraine Daston und Karin Knorr-Cetina untersucht wird. Unter dem Stichwort der Modernen Medizin und der starken Anbindung an naturwissenschaftliche Verfahren verschreibt sich die Radiologie nicht nur dem besagten ‚Ideal der Objektivität‘134, sondern weist eine bestimmte ‚Wissenskultur‘ auf. Bezogen auf die Ergebnisse von Karin Knorr-Cetina ist sogar von „Wissenskulturen“135 zu sprechen, denn wie die vorliegende Untersuchung aufzeigt, kämpfen die Mediziner mit der Zwiespältigkeit ihres naturwissenschaftlich-mathematischen Objektivitätsideals auf der einen und der subjektiv-empirischen Deutung von Diagnoseergebnissen auf der anderen Seite. Zugespitzt auf die Radiologie, offenbart sich das diese Arbeit leitende Paradox, eindeutige Aussagen auf der Grundlage mehrdeutigen Bildmaterials treffen zu wollen. Der Anspruch von Maß und Zahl sowie der damit zusammenhängenden Berechenbarkeit von Ergebnissen lässt sich in der Radiologie aufgrund innerfachlicher Diskussionen nachvollziehen. In den beiden großen deutschen radiologischen Zeitschriften Fortschritte auf dem Gebiet der Röntgenstrahlen (RöFo) und Der Radiologe finden sich verschiedene Ansätze und daraus hervorgehende Diskussionen um die Möglichkeiten und Methoden der quantitativen Bestimmung bei radiologischen Bildinterpretationen. Vorgeschlagen wird beispielsweise, die Bilderscheinungen in ihrer Größe abzumessen und anschließend mit den ‚Normmaßen‘ von Organen in röntgenologischen Darstellungen zu vergleichen. Unproblematisch ist dieses Vorgehen nicht: Schon in der ersten Ausgabe von Der Radiologe im Jahr 1961 findet sich in zwei Artikeln der Zwiespalt, dass „zunächst die Größenbeurteilung der Ventrikel entscheidend“136 für die röntgenologische Differenzialdiagnose am Herzen ist, bei der Aortenstenose allerdings „ein stark vergrößertes Herz für eine hochgradige Aortenstenose spricht, ein normalgroßes oder nur wenig vergrößertes Herz diese aber nicht ausschließt.“137 Maß und Zahl und der
134 Vgl. L. Daston: Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität, Fußnote 321. 135 Karin Knorr-Cetina betont 2002 in Bezug auf zeitgenössische Naturwissenschaften deren ‚Nicht-Einheit‘ und führt in ihr Analysevokabular den Begriff der Wissenskulturen ein, um die Strategien und Prinzipien untersuchen zu können, die auf die Erzeugung von ‚Wahrheit‘ oder äquivalente Erkenntnisziele gerichtet sind. Vgl. Knorr-Cetina, Karin: Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt a. M. 2002, S. 11 u. 15. 136 Thurn, Peter: „Probleme und neuere Ergebnisse in der Röntgendiagnostik der Mitralfehler“, in: Der Radiologe 1/1 (1961), S. 2-18, hier S. 5. 137 Loogen, Franz: „Die Röntgendiagnostik der Aortenfehler“, in: Der Radiologe 1/1 (1961), S. 19-26, hier S. 26.
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Vergleich mit Normgrößen bieten den Radiologen einerseits entscheidende Hinweise für die Differenzialdiagnose des menschlichen Herzens, wie das Zitat aus dem ersten Artikel belegt; doch gleichzeitig ist ein fehlender Größenunterschied von untersuchtem Objekt und dessen Normgröße im Spezialfall der Aortenstenose kein hinreichendes oder notwendiges Kriterium für ein gesundes Herz. Welche Aussagekraft die über das Bild zu erfassenden Größenunterschiede und -abweichungen haben, die als objektive Faktoren die Wissenschaftlichkeit medizinischen Vorgehens unterstreichen sollen, wird von Anfang an in Frage gestellt. Stattdessen rückt das Vorgehen der Differenzialdiagnose in den Vordergrund: Jedes Untersuchungsergebnis zu einem Patienten wird für die abschließende Beurteilung von Krankheit oder Gesundheit mit allen zu ihm vorliegenden Ergebnissen in Beziehung gesetzt und nach Wahrscheinlichkeiten beurteilt. Um dem Vorwurf der Subjektivität entgegenzuwirken, ist die Radiologie ebenfalls durch Annahmen zu einer mechanischen Objektivität und dazugehörigen Handlungsweisen geprägt: Wie Lorraine Daston diese Objektivität beschreibt, wird der technische Apparat, die Maschine oder die Mechanisierung wissenschaftlicher Prozeduren zwischen den Wissenschaftler und das Untersuchungsergebnis geschaltet, damit der Forschende das Ergebnis nicht verfälschen kann beziehungsweise alle Formen des menschlichen Eingriffs in die Natur ausgeschaltet werden. Bezogen auf die Differenzialdiagnose betont Daston, dass statistische Auswertungsmethoden entwickelt wurden, „um aus einer Reihe von Beobachtungen die zuverlässigste herauszufischen“138. Verschiedene Arbeitsschritte ließen sich in der Radiologie an Apparate und Maschinen abgeben, doch das Problem der im Sprachlichen formulierten Deutung der Bildergebnisse konnte über den Ansatz des Messens und Zählens nicht beseitigt werden. Ließen sich die Ergebnisse des Röntgenbildes oder -befundes selbst nicht quantitativ erfassen, wechselten die Radiologen zur statistischen Auswertung der sich auf Röntgenbilder beziehenden radiologischen Aussagen. Statt also das Bild und seine Spezifika im Kontext einer mathematischen und statistischen Wissenschaftlichkeit in Frage zu stellen oder weiter zu erforschen, wandte sich die Radiologie dem versprachlichten Ergebnis der Bildbetrachtung zu: Beurteilung und Befundung der Röntgenaufnahmen sowie ihre Dokumentation standen im Mittelpunkt des Interesses, wenn es um die Programmierung und somit den Einsatz des Computers in der Röntgendiagnostik geht. Die in den 1960er Jahren üblichen konventionellen Verfahren, in der Radiologie mit Kartei- oder Lochkar-
138 L. Daston: Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität, S. 153.
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ten zu arbeiten, werden für eine „wissenschaftliche Auswertung der Röntgenbefunde“139 als umständlich angesehen. Um diese zu gewährleisten, sollen typische Standardsätze formuliert werden, die die Befundung erleichtern sowie den anschließenden Schreibprozess und die Archivierung automatisieren.140 An diesem Beispiel zeigt sich besonders deutlich der Einfluss der Gesundheitsökonomie, insofern aus betriebswirtschaftlicher Perspektive mit dem Begriff Standardisierung „die Vereinheitlichung von medizinischen Begriffen, Bezeichnungen, Behandlungsverfahren etc. verstanden“141 wird; die Normierung greift dann speziell bei der Vereinheitlichung bestimmter Behandlungsverfahren. Ob das Vorgehen die Erstaufnahme des Patienten betrifft, dessen Symptome abgefragt werden, oder die spätere Bildinterpretation des Radiologen: Über formulierte Standardsätze sollen die Abläufe vereinfacht und vor allem zeitlich verkürzt und automatisiert werden. Diese Versuche lassen sich aus einer bestimmten Perspektive als gescheitert ansehen, da individuelle Unterschiede nicht erfasst werden können und das medizinische Personal oftmals von derartigen Normierungen abweicht, um dem jeweiligen Fall beziehungsweise Patienten zu begegnen. 142 Bildwissenschaftlich betrachtet zeigen sich hier Strategien, dem eingangs geschilderten Paradox zu begegnen: Die Mehrdeutigkeit des Bildmaterials soll durch eine Standardisierung und Normierung der sprachlichen Deutung begrenzt, also
139 Schaefer, P./Haasner, E./Koeppe, Peter: „Programmierte Dokumentation in der Röntgendiagnostik“, in: RöFo 108/5 (1968), S. 669-672, hier S. 669. 140 Vgl. ebd. 141 Frodl, Andreas: Gesundheitsbetriebslehre. Betriebswirtschaftslehre des Gesundheitswesens, Wiesbaden 2010, S. 175. 142 Vgl. Wagner, Gerald: Die programmierte Medizin, Opladen/Wiesbaden 1998. Wagner schildert in seiner sozial- und wissenschaftshistorischen Analyse zweier Systeme (MEDOK und MEDEX), inwiefern medizinische Dokumentationen und Diagnosen durch sprachlich kategorisierbare Größen bestimmt und durch den Computer und seine Programme limitiert werden (S. 162ff.), und wie Ärzte, Schwestern und Pfleger ‚unerwünschte‘ Eintragungen verhindern und auf ein perfektes technisches Verhältnis im System hinarbeiten (S. 89ff.). Marc Berg greift außerdem die Einführung entscheidungsunterstützender Werkzeuge zur Rationalisierung der Medizin auf und zeigt in seiner Untersuchung, dass die Werkzeuge nicht nur auf Probleme in der medizinischen Arbeit zugeschnitten sind, sondern sie rückwirkend verändern und neu strukturieren. Dabei ordnen sich die Werkzeuge einer bestimmten Vorstellung von Rationalisierung unter, die eng mit dem wissenschaftlichen Ideal zusammenhängt. Vgl. Berg, Marc: Rationalizing Medical Work. Decision-Support Techniques and Medical Practices, New Baskerville 1997, S. 8f.
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eindeutiger gemacht werden. Ein Scheitern dieser Herangehensweise lässt sich sowohl in dem medizinischen Verfahren der Differenzialdiagnose aufzeigen, wie es im Kapitel 6.2.3 (ab S. 275) zur Rezeption genauer betrachtet wird, als auch unter Bezug auf kunsthistorische Positionen zum problematischen Verhältnis von Bild, Wahrnehmung und Sprache und der Überführung visueller Erfahrungen in sprachliche Ausdrücke (Kap. 6.2.2, ab S. 256). An dieser Stelle aber interessiert der Computer als von der Medizinischen Informatik angepriesenes objektives Medium.
3.5 DER COMPUTER ALS ‚OBJEKTIVES‘ UND BILDGENERIERENDES MEDIUM Anfang der 1970er Jahre etabliert sich die Bezeichnung Medizinische Informatik in Deutschland für den Bereich der Informationstechnologie und -verarbeitung in der Medizin.143 Nach Martin Dugas und Karin Schmidt „sind medizinische Klassifikationssysteme, Krankenhausinformationssysteme und medizinische Bildverarbeitung“ die klassischen Themen der Disziplin.144 Dabei erfuhr die Medizinische Bildverarbeitung mit der Einführung der Computer- und der einige Jahre später folgenden Magnetresonanztomografie immer stärkere Bedeutung, so dass sie ungefähr seit 2000 als eigenständige wissenschaftliche Subdisziplin betrachtet wird.145 Dieser Ablauf spiegelt sich ebenfalls in den Beiträgen der radiologischen Fachzeitschriften RöFo und Der Radiologe, in denen die Bildverarbeitung als Teil der Medizinischen Informatik seit den 1970er Jahren erwähnt wird und 2002 ein
143 Vgl. Köhler, Claus O.: Historie der Medizinischen Informatik in Deutschland von den Anfängen bis 1980, 2003, http://www.informierung.de/cokoehler/HistorieMI_Koeh ler_text.pdf vom 01.02.2019. 144 Vgl. Dugas, Martin/Schmidt, Karin: Medizinische Informatik und Bioinformatik, Berlin 2003, S. 69. 145 Vgl. Lehmann, Thomas M.: Digitale Bildverarbeitung für Routineanwendungen. Evaluierung und Integration am Beispiel der Medizin, Wiesbaden 2005, S. 2. Heinz Handels veröffentlichte außerdem im Jahr 2000 das erste Kompendium zur Medizinischen Bildverarbeitung; vgl. Handels, Heinz: Medizinische Bildverarbeitung. Bildanalyse, Mustererkennung und Visualisierung für die computergestützte ärztliche Diagnostik und Therapie, Wiesbaden ²2009.
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Artikel vorliegt, der sich auf die Medizinische Bildverarbeitung als eigenständigen Bereich bezieht.146 Die Kooperation von Radiologie (oder Medizin im Allgemeinen) und Informatik wurde aufgrund der digitalen Bildgebungsverfahren essentiell, weil Rechenvorgänge und Algorithmen für eine grafische Datenausgabe an Bildschirmen und Monitoren notwendig sind. Wie der Informatiker Wolfgang Coy 2003 betont, sind die enormen Datenmengen, die in der Medizin aufgrund computerbasierter Mess- und Rechenvorgänge sowie dem Fortschritt der digitalen Sensortechnik entstehen, als Zahlenwerte schwer oder gar nicht erfassbar. Insbesondere bei Computer- und Magnetresonanztomografie werden die technisch und physikalisch erzeugten, digitalen Sensordaten nur durch komplexe, umrechnende Programme visualisierbar.147 Diesem Aspekt stimmt der Computervisualist Dietrich Paulus zu, wenn er den Computer 2007 als unerlässlich beschreibt, „um dem Betrachter ein Höchstmaß an Information aus den Bilddaten zu vermitteln.“ 148 Nach Paulus ist der Rechner eine Hilfe, um „in den riesigen Datenmengen diejenigen Bereiche [zu finden, Anm. d. A.], die für den Arzt interessant sein könnten.“149 Der gemeinsame Schnittpunkt von Medizin und Informatik ist die grundlegende Frage der Visualisierung (und Weiterleitung) von Informationen. In der praktischen Informatik wird dieser Bereich seit den frühen 1960er Jahren als grafische Datenverarbeitung150 oder Computergrafik benannt. Die Medizinische Bildverarbeitung ging daraus als Spezialisierung für die Medizin als Anwenderklientel hervor und ist in der vorliegenden Untersuchung heranzuziehen, da gewisse Vorstellungen vom und Ansprüche ans Bild dort ihren Ursprung haben. Beispielsweise wird in den 1970er und 1980er Jahren der erste Siegeszug der Computergrafik proklamiert, bei dem „die Entwicklung von Algorithmen und Daten-
146 Vgl. Dammann, Florian: „Bildverarbeitung in der Radiologie“, in: RöFo 174/5 (2002), S. 541-550. 147 Vgl. Coy, Wolfgang: „Die Konstruktion technischer Bilder – eine Einheit von Bild, Zahl, Schrift“, in: Sybille Krämer/Horst Bredekamp (Hg.), Bild – Schrift – Zahl, München 2003, S. 143-153, hier S. 151f. 148 Paulus, Dietrich: „Krankheitsbilder. Der erweiterte Blick des Arztes“, in: Wolf-Andreas Liebert/Thomas Metten (Hg.), Mit Bildern lügen, Köln 2007, S. 193-216, hier S. 213. 149 Ebd. 150 Zum Begriff vgl. Bender, Michael/Brill, Manfred: Computergrafik. Ein anwendungsorientiertes Lehrbuch, München/Wien ²2006, S. XI.
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strukturen für die fotorealistische Synthese von Bildern und das Modellieren dreidimensionaler Objekte im Vordergrund“151 stand. Die Art und Weise der Verbildlichung in der Radiologie ist beeinflusst durch (Bild-)Vorstellungen der Informatik, die wiederum in ein komplexes Geflecht unterschiedlicher Ansprüche ihrer Anwender eingebettet ist: Animierter Film, Computerspiele und wissenschaftliche Visualisierungen entstehen aufgrund informatischer Software, die auf den gleichen Mechanismen und algorithmischen Bausteinen beruht. 152 Dementsprechend sind die Bildvorstellungen der Informatik in der vorliegenden Untersuchung über die Spezialisierung der Medizinischen Bildverarbeitung hinaus zu berücksichtigen. Die Informatik hebt in ihrer Geschichte die Labor-EDV (elektronische Datenverarbeitung) als eines der ersten Anwendungsfelder des Computers in der Medizin hervor, da in der Labordatenverarbeitung drei essentielle Bedürfnisse der medizinischen Datenverarbeitung aufeinandertreffen, die nur durch EDV-Verfahren hinreichend zu erfüllen seien: Gemeint sind das Aufkommen großer Datenmengen sowie die Ansprüche hoher (wissenschaftlicher) Genauigkeit und maximaler Sicherheit.153 Aus Sicht der Informatik ist die Medizin auf den Computer und seine Hard- und Software aus Gründen der Objektivität angewiesen. Beispielhaft ziehe ich den Beitrag Stand und Entwicklungstendenzen der radiologischen Bildinformations-Technik heran, den der Diplom-Ingenieur Kurt Bischoff 1966 in Der Radiologe veröffentlicht hat. Darin konstatiert Bischoff zuerst, dass die Röntgendiagnostik an die Grenzen ihrer physikalisch-technischen Möglichkeiten gelangt ist, aber in Bezug auf die Bildaufbereitung zur optimalen Informationsentnahme und die Auswertung der Aufnahmen durchaus noch Potential besteht. 154 Bildaufbereitungsverfahren stellen das Ziel der Informationstechnologie dar, weshalb Bischoff als eine Tendenz seiner Disziplin für die Entwicklung der Röntgenologie die Verbesserung des Objekterkennens im Sichtbild heraushebt. Diese Tendenz zielt „auf
151 Ebd., S. 1. 152 Die Medienwissenschaftlerin Angela Krewani betont für den Bereich der Nano-Medizin und Nanotechnologie, dass die Softwareingenieure oftmals aus dem Bereich der filmischen Bildgestaltung kommen. Das Repertoire computergenerierter Filme werde zum Vorbild genommen und bspw. sind Anlehnungen an den Science-Fiction-Film offensichtlich. Vgl. A. Krewani: Technische Bilder, S. 87f. 153 Vgl. Köhler, Claus O./Meyer zu Bexten, Erdmuthe/Lehmann, Thomas M.: „Medizinische Informatik“, in: Thomas M. Lehmann u. a. (Hg.), Handbuch der Medizinischen Informatik, München/Wien 22005, S. 2-22, hier S. 12. 154 Vgl. Bischoff, Kurt: „Stand und Entwicklungstendenzen der röntgendiagnostischen Bildinformations-Technik“, in: Der Radiologe 6/10 (1966), S. 385-392, hier S. 385.
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eine möglichst objektive Auswertung des Röntgenstrahlenbildes ab bzw. darauf, die Schwierigkeiten der subjektiven Informationsentnahme aus dem Röntgenbild weitgehend auszuschalten.“155 Die große Chance der Computertechnologie, die erst mit Hilfe der Informatik in der Radiologie ihre Anwendung finden kann, besteht nach Bischoff somit in der Reduzierung oder sogar Ausschaltung subjektiver, im Sinne der vom Menschen ausgehenden und nicht standardisierbaren, berechenbaren oder exakt wiederholbaren Vorgänge. Er setzt also genau an dem Problem an, das die Radiologie beschäftigt: Die Frage, auf welche Weise sich die von Arzt zu Arzt durchaus unterschiedlichen Deutungen der Röntgenbilder verhindern lassen. Aus bildwissenschaftlicher Perspektive ist die spezifische Mehrdeutigkeit des Bildes ein Grund, warum Interpretationen und Aussagen von Radiologen variieren können; doch für die Disziplin ist dieser Umstand heute und auch schon damals hoch problematisch. Seit der Einführung der Röntgentechnik werden Wahrnehmungsprozesse oder technische Abbildungsmechanismen als potentielle Fehlerquellen behandelt, die eine eindeutige Aussage zu radiologischen Bildern verhindern. Die Medizinische Informatik, wie bei Bischoff nachzuvollziehen, preist in den 1950er und 1960er Jahren die durch den Computer zu erlangende Objektivität an.156 Aus dieser Perspektive unterstützte der Computer ein der Radiologie bekanntes Verfahren: die Differenzialdiagnose. Der immense Anstieg an Datenmaterial, wie er seit der Einführung der Patientenakte und vor allem während der Einführung des Computers zu beobachten ist, ließ die Medizin daran zweifeln, alle relevanten Aspekte berücksichtigen zu können. Wiederum wurde der Computer als Lösung präsentiert und die Informationstechnologie preist als weitere Vorteile der Zusammenarbeit die Verbreitung medizinischer Kenntnisse und gesicherten Wissens für eine breite Interessenschicht an.157 Der Einfluss der Computertechnologie oder der Informatik als weiterer Kooperationspartner der Radiologie ist nicht zu unterschätzen. Die Radiologie muss in den 1950er und 1960er Jahren einerseits eine Diskrepanz zwischen Bild und Sprache erkennen, wie oben kurz angeführt wurde, als auch eine Diskrepanz zwischen Bild und Zahl. Der Computer dient in erster Linie als (be-)rechnendes Werkzeug und profiliert unter verschiedenen Umständen die als wissenschaftlich verstandene Arbeitsweise auf der Grundlage von
155 Ebd., S. 391. 156 Vgl. ebd. 157 Vgl. Müller, Sabine/Steinmetzer, Jan: „Die Entwicklung der Medizinischen Informatik und ihr Einfluss auf das Gesundheitswesen“, in: Dominik Groß/Eva-Maria Jakobs (Hg.), E-Health und technisierte Medizin: neue Herausforderungen im Gesundheitswesen, Berlin 2007, S. 115-136, hier S. 117.
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Maß und Zahl.158 Der genannte Beitrag des Diplom-Ingenieurs Kurt Bischoff verdeutlicht, wie die nicht auf dieser Grundlage stattfindende Interpretation des Röntgenbildes als subjektiv und damit als wissenschaftlich nicht vertrauenswürdig verstanden sowie diesem Problem der Einsatz des objektiv arbeitenden Computers entgegengesetzt wurden. Gerade in den 1960er Jahren ergaben sich zusätzlich zur Auswertung des radiologischen Bildmaterials erste Überlegungen zur grundsätzlichen Erzeugung und Bearbeitung desselben durch den Computer. Der Unterschied besteht darin, dass im ersten Fall die analog hergestellten Röntgenbilder eingescannt werden, um anschließend mit dem Computer und den zur Verfügung stehenden Programmen Vergleiche unter diesen anzustellen, Bilderscheinungen zu lokalisieren und zu vermessen. Der zweite Aspekt hingegen bezieht sich auf die per se digitalen Verfahren Computer- und Magnetresonanztomografie, bei denen erstmals möglich wurde, schon die Aufzeichnung der Signale direkt mit dem Computer zu koppeln und das Ergebnis von Messung und Berechnung als Verbildlichung am Monitor auszugeben. Aus historischer Perspektive ist die Entwicklung zentral, dass sich der Computer für die Radiologie binnen kurzer Zeit von einem berechnenden zu einem bildauswertenden oder gar bilderzeugenden Werkzeug entwickelte. Der Informatiker Andre Reifenrath betont in seiner Dissertation von 1999 zur Geschichte der Simulation, dass der Computer oftmals mit dem Bildschirm, also seiner Aus- und Eingabeeinheit, gleichgesetzt wird und das Bild als komplexes Informationsmuster für die Computerverarbeitung am wirkmächtigsten zu sein scheint.159 Die komplex verlaufende Entwicklungsgeschichte des Geräts sowie seiner Aus- und Eingabeeinheiten insgesamt wird von Reifenrath im Zusammenhang mit dem Bild und dessen Darstellung am Bildschirm gesehen, wobei die jeweiligen Veränderungen zeitlich parallel Auswirkungen auf die Computernutzung in Medizin und Radiologie hatten. Zuerst ist darauf hinzuweisen, dass die ersten Rechenmaschinen der 1940er und 1950er Jahre noch nicht über eine Bildausgabe verfügten und somit für die Röntgenologie und ihre Arbeit mit Bildmaterial keinen direkten Nutzen besaßen.160 Erst in den 1960er Jahren entwickelten sich Datensichtgeräte zu
158 Vgl. Schrickel, Isabell: „Bypassing Mathematics. Das Verhältnis von Bild und Zahl in der Geschichte der Meteorologie“, in: Wladimir Velminski (Hg.), Mathematische Forme(l)n (= Bildwelten des Wissens, Bd. 7,2), Berlin 2010, S. 9-18. 159 Vgl. Reifenrath, Andre: Die Geschichte der Simulation. Überlegungen zur Genese des Bildes am Computerbildschirm, Diss. phil. masch. Berlin 1999, S. 195. 160 Vgl. Korn, Andreas: Zur Entwicklungsgeschichte und Ästhetik des digitalen Bildes. Vom traditionellen Immersionsmedien [sic] zum Computerspiel, Diss. phil. masch.
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den heutigen Bildschirmen.161 Das SAGE-System und seine Vorläufer Whirlwind I und II gelten in der Geschichte des Computers als entscheidende Schritte auf dem Weg zur interaktiven Nutzung des Computers, wobei der Verwendung von Röhrenbildschirmen eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird. Die visuelle Darstellung auf dem Bildschirm wurde scheinbar von den Vorgängen im Computer abgekoppelt.162 Der Bildschirm ist nicht nur die Ausgabeeinheit von bildlichen Elementen, sondern im Sinne der interaktiven Nutzung zugleich Eingabeeinheit beziehungsweise Bedien- oder Benutzerschnittstelle, was auch als Mensch-Computer-Interaktion bezeichnet wird. Dabei ist der Wandel von text- zu grafikorientierten Oberflächen als bedeutender Schritt digitaler Bildsichtbarkeit zu werten, wie der Medien- und Kulturwissenschaftler Andreas Korn formuliert 163, und als grundlegend für die Akzeptanz elektronischer Verfahren in der Radiologie zu betrachten, deren Arbeit in erster Linie durch Bildmaterial geprägt ist. Prägnant ist in dieser Hinsicht die Betonung des Computers als bildausgebendem Medium seit den 1960er Jahren, wie Andre Reifenrath in seiner Untersuchungsthese formuliert. Auf der Spring Joint Computer Conference 1963 wurde für die Informatik oder Computertechnologie signalisiert, „daß die Zukunft des Umgangs mit Computern im Bild liegt, das aus dem Computer kommt und auf das man zeigen kann“164. Vor allem die Forschungsergebnisse von Ivan E. Sutherland und seine Promotion zum grafischen Kommunikationssystem Sketchpad trugen auf dieser Konferenz und in den folgenden Jahren zu einer verstärkten Beschäftigung mit einer an der bildlichen Oberfläche stattfindenden Ein- und Ausgabe bei. Die Schnittstelle der Mensch-Maschine-Interaktion sollte verbessert werden, und wurde, wie der Mathematiker und Informatiker Frieder Nake 2008 betont, in der Umgangsweise auf Hand und Auge eingeschränkt. 165 Diese Schwerpunktsetzung unterstützt die angesprochene These Reifenraths, dass der Computer spätestens
Duisburg-Essen 2004, S. 67, http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/Deriva teServlet/Derivate-12822/Korn_Dissertation.pdf vom 01.02.2019. 161 Vgl. ebd., S. 79. 162 Vgl. A. Reifenrath: Die Geschichte der Simulation, S. 59. 163 Vgl. A. Korn: Zur Entwicklungsgeschichte und Ästhetik des digitalen Bildes, S. 68f. 164 Vgl. Nake, Frieder: „The Display as a Looking-Glass: Zu Ivan E. Sutherlands früher Vision der grafischen Datenverarbeitung“, in: Hans Dieter Hellige (Hg.), Geschichten der Informatik. Visionen, Paradigmen, Leitmotive, Berlin 2004, S. 339-366, hier S. 342. 165 Vgl. Nake, Frieder: „Zeigen, Zeichnen und Zeichen. Der verschwundene Lichtgriffel“, in: Hans Dieter Hellige (Hg.), Mensch-Computer-Interface. Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung, Bielefeld 2008, S. 121-154, hier S. 151.
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seit den 1960er Jahren vor allem als bildausgebendes Medium betrachtet wurde, wobei die Maschine zugleich eine Erweiterung des Bildumgangs in der angesprochenen Interaktion ermöglichte. Nach Frieder Nake wechselten die Umgangsweisen vom Computer als Automaten zum Computer als Werkzeug bis hin zum Computer als „Medium der Zeichnung, dem ein performativer Umgang korrespondiert.“166 Diese Performativität lässt sich vorrangig im Bildgebrauch beobachten, wie ihn beispielsweise die Medien- und Sozialwissenschaftlerin Kathrin Friedrich in ihren Arbeiten zum radiologischen ‚Sehstil‘ darlegt: Die Radiologen nutzen verschiedene Software-Werkzeuge des PACS (picture archiving and communication system), um die Perspektive der jeweils aufgerufenen Bildsequenz, ihre Erscheinung, zu verändern und damit zu ihrer Diagnose zu gelangen. Nach Friedrich wird die radiologische Arbeit somit durch die ‚Sehwerkzeuge‘ digitaler Bildgebungstechniken begleitet, und die Fähigkeit, mit der Software zu interagieren, führt zur Sichtbarmachung von Daten auf der Oberfläche. Die Radiologen gehen eine ‚strategische Allianz‘ mit der Software ein, um den menschlichen Körper visuell erfahrbar zu machen und um eine bekannte (Bild-)Form zu erzeugen.167 Mittlerweile sind sie für ihre Arbeit auf Hard- und Software des Computers angewiesen, was sich nicht nur am Bildgebrauch, sondern auch an der Bilderzeugung selbst nachvollziehen lässt. Der im Folgenden zu betrachtende Wechsel von analogen zu digitalen Bildgebungsverfahren in der Radiologie basiert auf einem komplexen Beziehungsgeflecht, das zwischen wissenschaftlichen Idealen und Grundlagen sowie der interdisziplinären Zusammenarbeit von Technik und Medizin changiert. Werden die Geschichte der Computerentwicklung sowie die Entstehung des objektiven und quantitativen Wissenschaftsideals für die Betrachtung der radiologischen Bildanalyse herangezogen, so geht der über den Computer möglich gewordene Impuls zur Generierung von Bildern nicht zuerst von der Verbildlichung, sondern von der Berechnung aus.168 Es handelt sich um die älteste und bleibende Umgangsweise mit dem Computer, die der ‚Berechenbarkeit‘ entspricht und den Menschen als ‚Beobachter‘ fungieren lässt.169 Erst bei der Frage der adäquaten Informationsvermittlung erlangt die bildliche Ausgabe für die Informatik essentielle Bedeutung, was auf der Seite der Radiologie von Anfang an anders gewichtet wird.
166 Ebd. (Herv. i. O.) 167 Vgl. K. Friedrich: Sehkollektiv, S. 192ff. 168 Vgl. A. Korn: Zur Entwicklungsgeschichte und Ästhetik des digitalen Bildes, S. 60. 169 Vgl. F. Nake: Zeigen, Zeichnen und Zeichen, S. 151.
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Bei der Betrachtung von Computer- und Magnetresonanztomografie als grundsätzlich digitalen Bildgebungsverfahren der Medizin wird die Schwerpunktsetzung der Spezialisierung deutlich: Nicht die Berechnung ist das non plus ultra der radiologischen Arbeit, sondern das Bild!
4
Neue digitale Bildgebungsverfahren der Radiologie
Wie Gustav Frank und Barbara Lange 2010 in ihrer Einführung in die Bildwissenschaft betonen, ist der „Qualitätssprung, welcher auch der späten Durchsetzung der Digitalisierung in unserer unmittelbaren Gegenwart zugrunde liegt, […] der Wechsel des bildgebenden Verfahrens. An die Stelle des konstruierten tritt das errechnete Bild.“1 Aus Perspektive der vorliegenden Untersuchung sind beide radiologischen Bildarten, die analogen wie digitalen, konstruiert, doch während erstere aufgrund der Registrierung von Strahlen auf chemisch-physikalischen Oberflächen entstehen, bilden sich letztere durch Berechnungen eben dieser von Apparaten registrierten Strahlen im Computersystem. Diese Veränderung ist über das Bildmaterial selbst nur zu Teilen oder gar nicht nachzuvollziehen, was die Wissenschaftshistorikerin Martina Heßler als ‚Trivialisierung von Technik‘2 bezeichnet; die Schwierigkeit in der Radiologie besteht im Verständnis der Vorgänge – beispielsweise konnten beim Röntgenverfahren die Streustrahlung oder der Summationseffekt als Probleme der Technik für (Bild-)Fehler verantwortlich gemacht werden. Die hochkomplexen Zusammenhänge der Computer- oder Magnetresonanztomografie hingegen erschweren eine Fehlersuche enorm. In der historischen Aufarbeitung der Einführung und Implementierung computer- und magnetresonanztomografischer Bildverfahren lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede bezogen auf die Röntgentechnik aufzeigen. Beide werden wie bei der Entdeckung der Röntgenstrahlen als vermeintlich ‚revolutionäre‘ Ent-
1
G. Frank/B. Lange: Einführung in die Bildwissenschaft, S. 32.
2
Vgl. M. Heßler: Visualisierungen in der Wissenskommunikation, S. 54.
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wicklungen der Medizin betrachtet und gegenüber den vermeintlich ‚traditionellen‘ abgegrenzt.3 Ein wichtiger Unterschied betrifft die Darstellungsweisen und die zugrunde liegenden Theorien der jeweiligen Verbildlichung des menschlichen Körpers, wie sie im Folgenden detailliert betrachtet werden. Dabei zeigt die historische Aufarbeitung, wie sich die beim Röntgenverfahren anfangs gehegten Hoffnungen auf neue diagnostische Ansätze auch bei Computer- und Magnetresonanztomografie als trügerisch erweisen. Neue Einsichten und Diagnoseverfahren bedeuten für die Radiologie nicht gleichzeitig eine Entschlüsselung des menschlichen Körpers. Aus bildwissenschaftlicher Perspektive vernachlässigt die medizinische Spezialisierung bei ihren Fragen die Rolle des Bildes, die sich beim Röntgenverfahren wie bei Computer- und Magnetresonanztomografie als eine mehrdeutige und unbestimmte präsentiert.
4.1 ERSTE SCHICHT- UND SCHNITTBILDER: COMPUTERTOMOGRAFIE Anfang der 1970er Jahre wird die Computertomografie als erstes digitales Bildgebungsverfahren entwickelt und in die Radiologie implementiert. Dabei ist die Apparatur anfangs auf den Schädel des Menschen spezialisiert. 4 Die entscheidenden Entwicklungen stammten – ähnlich der Röntgentechnik – nicht aus der Medizin, sondern aus Bereichen des Militärs und der Musikindustrie, die jeweils auf ihre Weise an spezifisch über den Computer zu lösenden Problemen wie der Mustererkennung arbeiteten. 1979 erhielten der britische Elektroingenieur Godfrey Newbold Hounsfield (1919-2004) und der südafrikanisch-amerikanische Physiker Allan McLeod Cormack (1924-1998) für ihre Entdeckung beziehungsweise Vorbereitung der Computertomografie den Nobelpreis für Medizin. Die Forschungshintergründe beider Personen geben einen Einblick in die komplexe Entwicklungsgeschichte der neuen Technologie und markieren die ausschlaggebenden Entscheidungen, warum das berechnete Bild in den Vordergrund rückt, das allerdings in seiner Erscheinung weiterhin Röntgenbildern ähnelt.
3
Vgl. H.-P. Heilmann/J. Tiemann: Datenverarbeitung in der Radiologie, S. 682; und vgl.
4
Vgl. Hüsing, Bärbel/Jäncke, Lutz/Tag, Brigitte: Impact Assessment of Neuroimaging,
W. Reith: Die Entwicklung der Neuroradiologie, S. 331. Zürich 2006, S. 8.
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Godfrey N. Hounsfield arbeitete ab den 1950er Jahren bei der Firma EMI mit dem Computer und an automatischen Mustererkennungstechniken.5 Die Aufgabe des Computers besteht dabei in der Ordnung von Objekten: Zuerst werden Rohdaten gewonnen, durch die sich die Objekte beschreiben lassen, um in einem nächsten Schritt daraus die charakteristischen Merkmale der Objekte zu extrahieren, anhand derer dieselben in nachfolgenden Bearbeitungen klassifiziert werden können. Grundsätzlich geht es um Zusammenhänge in den Daten, durch die sich die Objekte erkennen oder gruppieren lassen, wobei in der Mustererkennung vorrangig mit statistischen Verfahren gearbeitet wird.6 In den 1960er Jahren experimentierte Hounsfield mit der Gewinnung von Informationen zu inneren Strukturen von Objekten, wobei er auch die Verfahren der Radiografie aus der Medizin einsetzte. Diese schienen ihm eine große Menge an Informationen zu ermöglichen, allerdings sah Hounsfield die bisherigen Techniken der Datenerhebung als krude und ineffizient an. Daher durchstrahlte der Ingenieur auf der Grundlage der Radontransformation die interessierenden Objekte mit Röntgenstrahlen aus allen möglichen (Projektions-)Richtungen, um Informationen für eine Rekonstruktion der inneren Struktur zu erhalten. Insbesondere die Interpretation der Messdaten delegierte Hounsfield an den Computer. Auch wenn sich Hounsfield der medizinischen Entwicklungen und Technologien bediente, gehen die ersten medizinischen Anwendungen der Radontransformation auf den Physiker Allan M. Cormack zurück. Neben seinem Schwerpunkt in der Teilchenphysik arbeitete er auf dem Gebiet der Röntgentechnologie und versuchte eine Verbesserung der Bestrahlungsplanung. Schon „1963 entwickelt er auf der Grundlage von Radons Berechnungen eine Methode, aus hunderttausenden Messwerten Schnittbilder zu errechnen, auf denen – so seine Idee – auch die kleinsten Absorptionsunterschiede darstellbar sein müssten.“7 Seine Ergebnisse veröffentlichte er im gleichen Jahr im Journal of Applied Physics8; sie gelten heute als Basis der axialen Tomografie, erhielten zu ihrem Erscheinungszeitpunkt jedoch wenig Aufmerksamkeit und waren Hounsfield scheinbar nicht bekannt, als dieser mit seiner Forschung begann.9 Erwähnenswert
5
Vgl. A. Thomas/A. Banerjee/U. Busch: Introduction, S. 1; und vgl. D. Gobo: Localiza-
6
Vgl. Bässmann, Henning/Kreyss, Jutta: Bildverarbeitung Ad Oculus, Berlin 42004,
tion Techniques, S. 237. S. 10f. 7
A. Grillenberger/E. Fritsch: Computertomographie, S. 23.
8
Vgl. Cormack, Allan M.: „Representation of a Function by Its Line Integrals, with Some
9
Vgl. D. Gobo: Localization Techniques, S. 237.
Radiological Applications“, in: Journal of Applied Physics 34/9 (1963), S. 2722-2727.
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wird dieser Umstand vor allem vor der von Cormack getroffenen Bildentscheidung, insofern Hounsfield an der Ausgabe von Zahlen- und Messwerten interessiert war. Da die Firma EMI keine Erfahrung auf dem medizinischen Markt hatte, nahm sie zusammen mit Hounsfield Kontakt mit dem Department of Health and Social Security (DHSS) in London auf. Dessen finanzielle Förderung war an die Forderung geknüpft, „die Forschung auf die Visualisierung des Gehirns zu konzentrieren“10, und das Department stellte Kontakt zur Medizin her. In Zusammenarbeit mit dem Neuroradiologen James Ambrose vom Atkinson Morley’s Hospital in Wimbledon entstanden vielversprechende Ergebnisse, so dass 1970 der erste Prototyp am gleichen Krankenhaus bewilligt wurde. Nach enger Zusammenarbeit von Hounsfield und Ambrose wurde das erste Gerät am 1. Oktober 1971 installiert und auf die Hirnbildgebung ausgerichtet in Betrieb genommen. Im April 1971 erfolgte auf dem 32. Jahreskongress des British Institute of Radiology die Vorstellung der Ergebnisse, die am 21. April 1972 in der Zeitschrift The Times zu ersten öffentlichen Reaktionen führten.11 Die aus der Zusammenarbeit hervorgegangenen Resultate wurden in Serien von zweidimensionalen, grauwertigen Schichtbildern präsentiert, womit die seit der Röntgentechnik bestehende radiologische Bildtradition aufgegriffen und fortgeführt wurde. Auf Hounsfield und Ambrose und ihre anfänglichen Entwicklungen und Weichenstellungen wird im Folgenden mit Blick auf die Bildergebnisse detailliert eingegangen. Vorerst zeigt dieser historische Überblick, wie stark die Forschungen zur Computertomografie durch die medizinische Röntgentechnik inspiriert waren und zugleich in Wechselwirkung mit mathematischen und informationstechnologischen Grundlagen sowie dem Werkzeug Computer standen. Da das neue Verfahren technisch weiterhin die physikalischen Eigenschaften der Röntgenstrahlen nutzte, diese allerdings mit der Tomografie verband und zur Auswertung der Messungen den Computer einsetzte, ist die Computertomografie in Teilen als Erweiterung der Röntgentechnik zu verstehen.12 Eine solche Auflistung wichtiger Daten
10 H. Badakhshi: Body in Numbers, S. 14. 11 Vgl. A. Thomas/ A. Banerjee/U. Busch: Introduction, S. 2. 12 Günter Klaß formuliert dementsprechend 2014: „CT-Bilder entstehen im Prinzip genau wie Röntgenbilder, nur dass die Röntgenstrahlen nicht allein von vorne auf den Körper treffen sondern eine Röntgenröhre den Körper umkreist.“ Erst deutlich später in seinem Beitrag erläutert Klaß, dass es sich bei CT-Bildern um das „Ergebnis mehrfacher Rekonstruktionen eines einzigen Datensatzes“ handelt. G. Klaß: Röntgen – Bilder – Welten, erstes Zitat S. 303, zweites Zitat S. 314.
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kann allerdings – wie bei der Röntgenfotografie – über (bild-)kulturelle Verhandlungen hinwegtäuschen, die eben keinen geradlinigen Fortschritt aufweisen. So bezweifelte Hounsfield trotz aller experimentellen Erfolge bis zum ersten klinischen Einsatz der Computertomografie, dass sie Läsionen in lebenden Subjekten identifizierbar machen würde.13 Weiter stellt sich die Frage der Datenausgabe als ein wiederkehrendes Streitthema heraus: Hounsfield präferierte sogar noch nach der Entwicklung des ersten Computertomografen den Ausdruck der Messwerte in Form von Zahlen statt einer bildlichen Präsentation der Daten.14 Ein ähnliches Phänomen findet sich Jahre später bei der Entwicklung der Magnetresonanztomografie15 und verdeutlicht die unterschiedlichen Darstellungskulturen der beteiligten Disziplinen: Während Godfrey N. Hounsfield vor allem Ingenieur und Computertechnologe war und mit Messwerten sowie möglichst exakten Daten in Bezug auf mathematische und technische Grundlagen arbeitete, bestimmte der aufgenommene Kontakt zur Medizin beziehungsweise Radiologie sehr schnell die Forderung nach Ergebnissen in bildlicher Form. Vor allem die Anbindung an die Röntgentechnik und tomografische Verfahren, als deren Erweiterung die Computertomografie verstanden wurde, dürfte aus Perspektive der Radiologie förderlich für die Präferenz bildlicher Ergebnisse gewesen sein. Um einerseits die technischen Voraussetzungen näher zu verstehen und andererseits damit zusammenhängende, bildkulturelle Aspekte nachvollziehen zu können, beziehe ich mich auf den 1973 von Hounsfield und Ambrose im British Journal of Radiology veröffentlichten Artikel Computerized transverse axial scanning (tomography) (Part 1 & 2). Darin fassen die beiden die aus ihrer Perspektive wichtigsten Inhalte ihrer Forschungen zusammen; Hounsfield widmet sich im ersten Teil den technischen Einzelheiten (Description of System), während Ambrose den medizinischen Nutzen schildert (Clinical Application). 4.1.1 Technische Details der Computertomografie: Hounsfield 1973 Bei seiner Beschreibung der technischen Details greift Hounsfield auf schon angeführte Aspekte der Röntgentechnik, wie die scheinbar fotografische Aufnahme oder die problematische Überführung eines dreidimensionalen Objekts in eine zweidimensionale Darstellung, zurück. Er formuliert: „In the conventional film technique a large proportion of the availabe information is lost in attempting to
13 Vgl. D. Gobo: Localization Techniques, S. 238. 14 Vgl. A. Thomas/A. Banerjee/U. Busch: Introduction, S. 2. 15 Vgl. K. A. Joyce: Magnetic Appeal, S. 30f.
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portray all the information from a three-dimensional body on a two-dimensional photographic plate, the image superimposing all objects from front to rear.“ 16 Hounsfield bezieht sich mit diesem Satz nicht nur auf die Problematik der Dimensionalität, sondern zeigt darüber hinaus, dass er als Ingenieur und Informatiker an der Vollständigkeit möglicher Informationen interessiert ist. Die Röntgentechnik stellt sich für ihn als defizitär heraus, insofern wichtige Informationen zum menschlichen Körper, dessen Gewebe und Strukturen, aufgrund des technischen Aufnahmeprozesses verloren gehen. Er setzt der konventionellen Röntgentechnik das Prinzip entgegen, den menschlichen Kopf in eine Serie von Schichten (slices) zu zerteilen; über dieses Vorgehen verspricht Hounsfield, dass die Informationen zu Organen oder Strukturen innerhalb einer Schicht nicht durch Variationen an den Rändern der Schicht beeinflusst werden.17 In seinem Artikel bewirbt der Ingenieur das neue Verfahren als revolutionär beziehungsweise als „new chapter in X-ray diagnosis“18 gegenüber dem konventionellen Vorläufer Röntgen, und fundiert diese Unterscheidung durch eine Erörterung der problematischen Schattenund Summationseffekte sowie anderer Artefakte, die bei der älteren Technik vorkommen. Zwar wird die schon bekannte, tomografische Methode aufgegriffen, um eine Serie von Bildern zu produzieren, doch als ausschlaggebend sieht Hounsfield die Aufnahme und Ausgabe der als Daten vorliegenden Informationen. 19 Er bezieht sich mit mathematischen Grundlagen und computergestützter Auswertung auf technische Veränderungen der 1940er und 1950er Jahre, denen auch die Medizin unterworfen war. Wie vorangegangen erläutert, markiert die Entwicklung der Computertechnologie einen neuen Abschnitt für die radiologische Bildgebung, die als subjektiv empfundenen Deutungen oder Interpretationen der Mediziner durch automatisierte Auswertungsverfahren abzulösen. Die Überlegung, Produktion und Interpretation des Bildmaterials an den Computer als objektives Instrument zu delegieren, spielt spätestens mit Einführung der Computertomografie eine eminente Rolle in der Radiologie. Bevor dieser Streit um Subjektivität und Objektivität näher erläutert wird, interessieren an dieser Stelle die von Hounsfield in die radiologische Bildgebung eingeführten Grundlagen, um – aus seiner Perspektive – mehr Informationen aus den physikalischen Eigenschaften der Röntgenstrahlen und ihrer Wechselwirkung
16 Hounsfield, Godfrey N.: „Computerized transverse axial scanning (tomography): Part I. Description of system“, in: British Journal of Radiology 46/552 (1973), S. 1016-1022, hier S. 1016. 17 Vgl. ebd. 18 Ebd., S. 1021. 19 Vgl. ebd., S. 1016.
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mit menschlichem Gewebe abzuleiten. In dem 1973 veröffentlichten Artikel beschreibt Hounsfield, wie er sich Labormessungen zu den Absorptionskoeffizienten von Wasser sowie verschiedenen Körperflüssigkeiten und Geweben zunutze gemacht hat, um deren prozentuale (Mess-)Unterschiede in eine arbiträre und relative Skala für die entwickelte Maschine zu überführen.20 In Abgrenzung zu den Messungen bezeichnet Hounsfield seine in der Maschine und für die Ausdrucke der Absorptionswerte eingesetzte Skala als ‚zweckdienlich‘ (convenient), wobei dieselbe mit der Referenz zu Wasser ihren willkürlichen Nullpunkt erhält und sich über das Spektrum von -500 (äquivalent zu den Werten von Luft) bis +500 (äquivalent zu den Werten von Knochen) Einheiten erstreckt. 21 Mit der dazugehörigen Abbildung der Hounsfield-Skala (Abb. 2) wird deutlich, wie Hounsfield von oben herab aufgezählt Knochen, Verkalkungen, geronnenes Blut, Graue Substanz, Weiße Substanz, Blut, Wasser und Fett sowie ganz unten Luft seiner Print-outSkala zuordnet. Abbildung 2: Illustration of machine sensitivity (Hounsfield-Skala)
Quelle: G. N. Hounsfield: Computerized transverse axial scanning, Fig. 9, S. 1020.
Den Nutzen der relativen und an der Referenz Wasser ausgerichteten Skala beschreibt Hounsfield in Bezug auf die Praxis und die Ausdrucke. Dazu präsentiert er in einer weiteren Abbildung (Abb. 3) fünf computertomografische Schichtbilder eines menschlichen Kopfes bei verschiedenen ‚Fenstereinstellungen‘ (window level), die alle auf der Grundlage eines einzigen Datensatzes berechnet worden 20 Vgl. ebd., S. 1019. 21 Vgl. ebd., S. 1020.
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sind.22 Nach Hounsfield illustrieren diese Variationen „how the picture changes, similar to a television ‚contrast‘ control, when the ‚window level‘ control is raised form -20% (-100 units) to +70% (+350 units).“23 Abbildung 3: Illustration of ‚window level‘ adjustment
Quelle: G. N. Hounsfield: Computerized transverse axial scanning, Fig. 10, S. 1021.
Mit den fünf computertomografischen Abbildungen von (a) bis (e) demonstriert Hounsfield das mit der Computertechnologie und der Mensch-Maschine-Interaktion möglich gewordene Verfahren der Fensterung, das die Darstellung eines aus den Messungen gewonnenen Datensatzes in verschiedenen Grauwertkontrasten
22 Vgl. Buschhaus, Markus: „Körperwelten in Graustufen. Zu den Anfängen der Computertomografie“, in: F. Prinz (Hg.), Graustufen (2011), S. 19-27, hier S. 23. 23 G. Hounsfield: Computerized transverse axial scanning, S. 1020.
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erlaubt. In der Abbildung (a) bei der Einstellung von -100 Einheiten ist ein schwarzer Ring vor weißem Hintergrund zu sehen, der laut Hounsfield die Haare des Patienten und die darin gefangene Luft repräsentiert, während die nächste Abbildung (b) bei 0 Einheiten durch unterschiedliche Grauwerte Wasser in den Ventrikeln verbildliche. In ähnlicher Art und Weise setzt er die drei weiteren Abbildungen mit der ihnen zugrunde liegenden Einstellung der Skala (+15, +20 und +350 Einheiten) in Bezug zum menschlichen Kopf und zu den die Medizin interessierenden Geweben und Strukturen. Der Zusammenhang von Wissen um die medientechnische Funktionsweise der Computertomografie zur jeweiligen Deutung der physikalischen Bedingungen ihrer Bildergebnisse wird besonders an den schon genannten Abbildungen (a) und (e) deutlich: Während (a) einen schwarzen Ring vor weißem Hintergrund zeigt, findet sich in (e) das invertierte Verhältnis der beiden Farben. Keineswegs selbstverständlich ist eine damit zusammenhängende Interpretation, dass erstere das Haar des Patienten, letztere die Knochenstruktur seines Kopfes präsentiert – oder wie Hounsfield schreibt: „The black ring represents the patient’s hair and the air trapped in it. […] the white ring represents the bone of the skull.“24 Zur Rezeption dieser Bilder vor einem medizinischen Hintergrund muss bekannt sein, um welchen Körperteil es sich handelt und welche Einstellungen bei der Visualisierung der Messwerte vorgelegen haben; dass bei dem jeweiligen Fenster alle Werte oberhalb desselben weiß, unterhalb schwarz dargestellt werden, betrifft eine ebenso notwendige Wissensgrundlage für die Deutung der Bildergebnisse wie das Zentrum und die Weite des Fensters (window center, window width). Bildwissenschaftlich lässt sich das Verfahren der Fensterung als essentieller Bestandteil der Bildherstellung und -deutung im Sinne apparativer Voreinstellungen heranziehen. Exkurs: Apparative Voreinstellungen zum computertomografischen Bild Computertomografen bestehen im Wesentlichen aus drei Komponenten: einer Abtasteinheit mit Röntgengenerator (Röntgenröhre und Detektor), einem Computer (Bedien- und Auswerteeinheit mit Zwischenspeicher) sowie einer Fernsehwiedergabe (Bildschirm) und der Archivierung mit Bandspeicher. 25 Der Körper oder ein
24 Ebd., S. 1021. 25 Diese Angaben beziehen sich auf SIRETOM, den ersten Computertomografen der deutschen Medizintechnik-Firma Siemens (Erlangen), der Anfang der 1970er Jahre auf dem
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Körperteil des Patienten befinden sich während der Bildgebung innerhalb der rotierenden Abtasteinheit und werden nach dem Transversalschichtverfahren 26 mit einem dünnen Röntgenstrahlbündel linear und aus verschiedenen Projektionsrichtungen abgetastet. Kurz zusammengefasst, wird in der rotierenden Abtasteinheit ein Röntgenstrahl erzeugt, der den Schädel des Patienten durchstrahlt und gegenüber auf einen oder mehrere Detektor(en) trifft, die synchron mit der Röntgenquelle verschoben werden.27 Für eine Aufnahme rotiert die Abtasteinheit um 360° um den Patienten und sendet auf jeder neuen Position Röntgenstrahlen, die wiederum von den sich mitbewegenden Detektoren aufgezeichnet werden. Erst die unterschiedlichen Projektionswinkel dieses Vorgangs ermöglichen eine mathematische Rekonstruktion des Messobjektes. Tatsächlich wird für die Rekonstruktion komplex geformter Objekte und vor allem des menschlichen Körpers eine Vielzahl an Projektionen benötigt, damit die Transferleistung von Referent zu Verbildlichung überhaupt möglich ist.28
Markt verfügbar war. Vgl. SIRETOM: Computer-Tomograph für die Weichteildiagnostik des Schädels, in: Siemens UB Med 50 (1975), S. 11. 26 Aufgrund der spezifischen Achsen- und Ebenenbezeichnungen in der Medizin bzw. Anatomie wird die Computertomografie auch als Transversalschichtverfahren bezeichnet. Die Transversalebene, die bei den bildgebenden Verfahren auch als axiale Schnittebene bezeichnet wird, meint die horizontale Querschnittsebene und gliedert den aufrecht stehenden menschlichen Körper in beliebig viele quere Scheiben. Vgl. Schmidt, Wolfgang: „Allgemeine Grundlagen“, in: Gerhard Aumüller/Gabriela Aust/Andreas Doll (Hg.), Duale Reihe Anatomie, Stuttgart 2010, S. 2-19, hier S. 7ff. 27 Die Anzahl der verfügbaren Detektoren richtet sich nach dem Entwicklungsstand des Computertomografen. In der Geräteentwicklung und deren historischen Darstellung werden die verschiedenen Geräteversionen zumeist als Generationen bezeichnet, wobei sich die Unterscheidung dieser Generationen sowohl auf die Konstruktion von Röntgenquelle und Detektor(en) als auch auf deren Bewegung um den Patienten bezieht. Vgl. T. M. Buzug: Einführung in die Computertomographie, S. 44ff. Diese Einteilung in Gerätegenerationen wird bei vielen Beschreibungen der Technologie bevorzugt aufgegriffen, wobei sich die Fachliteratur zumindest bei der Unterscheidung der ersten vier Generationen einig ist. Zugleich wird der Begriff der Generation scharf diskutiert, insofern damit die Vorstellung einer linearen und aufeinander aufbauenden Entwicklung vermittelt wird, die sich mit den sich überschneidenden und parallel verlaufenden Einführungen der Geräte selbst nicht deckt. Zur Kritik vgl. E. Krestel: Bildgebende Systeme, S. 274; und vgl. Maurer, Hans-Joachim/Zieler, Erich: Physik der bildgebenden Verfahren in der Medizin, Berlin 1984, S. 84. 28 Vgl. T. M. Buzug: Einführung in die Computertomographie, S. 1 u. S. 44.
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Im Detektor werden die Absorptionskoeffizienten oder spezifischen Schwächungseigenschaften des menschlichen Gewebes gemessen, die Hounsfield in seinem Artikel von 1973 erwähnt; verschiedene Stoffe und Materialien ‚schwächen‘ die Intensität des Röntgenstrahls durch den Körper, so dass die relativen Schwächungskoeffizienten Aufschluss über Art und Dichte des Gewebes geben. Für deren Interpretation ist allerdings ein Referenzwert notwendig, weswegen Hounsfield den Nullpunkt der Skala mit dem Wert von Wasser gleichsetzt. Dieser in der Skala mittig angeordnete Wert wird auch heute noch zur Kalibrierung der Geräte herangezogen.29 Um die gemessenen Werte in computertomografische Bilder zu überführen, sind Computer und Ausgabeeinheit als weitere Gerätekomponenten notwendig. Innerhalb der Abtasteinheit zeichnen die Detektoren die jeweilige Schwächung der Röntgenstrahlen als elektrische Signale auf. In der Geräteentwicklung wurde die Abtasteinheit direkt mit einem Computer verbunden, so dass die heute eingesetzten Szintillationsdetektoren die einfallende Röntgenstrahlung zunächst in Licht umwandeln, dasselbe dann an Photodioden weiterleiten und zuletzt über einen Analog-Digital-Wandler die dort erzeugte elektrische Ladung in ein digitales Signal transformieren.30 Erst das digitale Signal ermöglicht den Einsatz der Computertechnologie, deren Aufgabe in der Ausführung aufwendiger mathematischer Verfahren besteht, durch die ein räumlich aufgelöstes Bild der Schwächungskoeffizienten in der vorher festgelegten Körperebene errechnet wird.31 Die von Hounsfield vorgeschlagene relative Skala ist ausschlaggebend bei der Überführung der Messwerte auf eine visuelle Ausgabeeinheit (Bildschirm) als dritter Komponente des Computertomografen. Die Wiedergabe des durch den Computer rekonstruierten Bildes erfolgt über eine Darstellung der Schwächungswerte in Grauwerten innerhalb einer vorher festgelegten Bildmatrix, die sich von 64 mal 64 Bildpunkten oder Pixeln (picture elements) bis 1981 auf 512 mal 512 Bildpunkte entwickelte.32 Heute werden nach DIN V 6868-157 vom 1. November 2014 mindestens 1024 mal 1024 Pixel für die Computertomografie gefordert. 33
29 Vgl. ebd., S. 404. 30 Vgl. ebd., S. 26ff. 31 Vgl. ebd., S. 47. 32 Vgl. Heuser, Lothar: „Digitale Radiographie“, in: Rüdiger Kramme (Hg.), Medizintechnik. Verfahren – Systeme – Informationsverarbeitung, Berlin 42011, S. 299-316, hier S. 299. 33 Vgl. Madsack, Bärbel/Walz, Michael/Weisser, Gerald: „Abnahme und Konstanzprüfung an Bildwiedergabesystemen – was ändert sich mit der neuen DIN V 6868-157?“,
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Bei der Bildmatrix handelt es sich um ein zweidimensionales Raster, welches aus Reihen und Spalten besteht und bei dem jedes Quadrat als Pixel oder Bildpunkt bezeichnet wird. Die jeweiligen Pixel enthalten Informationen über ein Volumen, genannt Voxel (volumetric pixel34), wie sie nach der Messung einer Körperschicht im Computer vorliegen; das Pixel repräsentiert die gemessenen Informationen über seinen Grauwert oder seine Helligkeit. Einfach ausgedrückt, wird das Pixel mit dem größten Impulsinhalt mit der maximalen Helligkeit (weiß), das Pixel mit dem kleinsten Impulsgehalt mit der minimalen Helligkeit (schwarz) dargestellt, und Pixel mit dazwischen liegenden Werten mit entsprechenden Grauabstufungen angezeigt. Der Computer errechnet den relativen Schwächungswert entsprechend der Dichteinformation zum jeweiligen Gewebe für jeden einzelnen, vorher festgelegten Punkt im durchstrahlten Gewebe und setzt die Ergebnisse in Grautöne um, die als Bild auf dem Monitor wiedergegeben werden.35 Hounsfield schlug 1973 die gezeigte, relative Skala mit einem Spektrum von 1.000 Einheiten (-500 bis +500) vor. Für die Anfangszeit der Computertomografie ist jedoch anzumerken, dass keine einheitliche Skala in der Medizintechnik akzeptiert war und dass sich die Skalen somit von Gerät zu Gerät unterscheiden konnten.36 Aus bildwissenschaftlicher Perspektive handelt es sich bei der Skala um die maßgebliche Verbildlichungstheorie des rekonstruierten Bildes: Um die jeweiligen Grauwerte im computertomografischen Bild mit dem Referenzobjekt menschlicher Körper in Verbindung zu bringen, braucht es eine Vorstellung und ein Verständnis davon, welcher Grauton auf welchen Absorptionswert und somit auf ein spezifisches Gewebe verweist. Im Hinblick darauf lassen sich die Zuordnungen Hounsfields von 1973 als Basis zur Bildinterpretation verstehen, wenn er Knochen mit den höchsten und Luft mit den niedrigsten Absorptionskoeffizienten
in: Radiopraxis. Die Fortbildungszeitschrift für MTRA und RT 7/4 (2014), S. 195-210, S. hier 198. 34 Vgl. Munkelt, Christoph/Kühmstedt, Peter/Denzler, Joachim: „Incorporation of a-priori information in planning the next best view“, in: Leif Kobbelt/Torsten Kuhlen/Til Aach (Hg.), Vision, Modeling and Visualization 2006: Proceedings November 22-24, 2006, Aachen, Germany, Berlin 2006, S. 261-268, hier S. 262. 35 Vgl. Wieser, Anton/Reiser, Maximilian: „Computertomographie“, in: Manfred Georg Krukemeyer/Wolfgang Wagner (Hg.), Strahlenmedizin. Ein Leitfaden für den Praktiker, Berlin 2004, S. 1-18, hier S. 2. 36 Dieser Umstand wird beispielsweise durch die Siemens AG betont, die für ihren ersten Computertomografen SIRETOM eine Skala von -32 Einheiten (äquivalent zu Luft) bis +95,5 (äquivalent zu Knochen) nutzten. Vgl. SIRETOM: Computer-Tomograph für die Weichteildiagnostik des Schädels, in: Siemens UB Med 50 (1975), S. 12.
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gleichsetzt und andere Gewebearten wie zum Beispiel die Graue und Weiße Hirnsubstanz dazwischen einordnet (vgl. Abb. 2, S. 113). In der Entwicklungsgeschichte nahmen Medizintechnik und Radiologie den Vorschlag Hounsfields auf, die Schwächungswerte auf eine dimensionslose Skala zu transformieren und auf Wasser zu beziehen. Mittlerweile werden die Werte dieser Skala als HounsfieldEinheiten (HE) oder Hounsfield-Units (HU) betitelt und ihr Spektrum in heutigen Standardwerken zur Computertomografie mit 4.096 HE angeführt.37 Die mögliche Anzahl von 4.096 verschiedenen Grauwerten für die Bildausgabe verweist auf die Verbindung von Computertomografie und computertechnologischer Hard- und Software; das wird vor allem am Verfahren der Fensterung deutlich, das von Anfang an für die neue Bildmodalität integriert gewesen ist. Mit Blick auf heutige Anwendungen der Computertomografie reichen in der Radiologie zwei Referenzwerte der Skala aus: Der Absorptionskoeffizient von Luft entspricht der Hounsfield-Einheit -1.000 und derjenige von Wasser bildet weiterhin den Nullpunkt. Ansonsten wäre die Skala nach oben hin eigentlich offen, endet aber aus praktischen Gründen bei 3.000 HE.38 Die in den Standardwerken genannte Skala mit insgesamt 4.096 Werten reicht jedoch von -1.024 (Luft) bis +3.071 HE (Knochen) und die angedeutete praktische Motivation stammt nicht aus der Radiologie und ihrer Bildtradition, sondern vorrangig aus der Implementierung der neuen Technologie Computer und den Traditionen der Fachbereiche Informatik und Computergrafik: In den 1960er Jahren war die Disziplin Informatik von Fragen nach Aus- und Eingabeeinheiten und grafischen Darstellungsweisen geprägt. Eine besondere Neuerung Anfang der 1970er Jahre betrifft die Ablösung der vorher üblichen Vektorgrafik durch die Bitmap- oder Rastergrafik, als vermehrt Kathodenstrahlröhren als grafische Ausgabegeräte eingesetzt wurden. 39 Ausschlaggebend ist, dass die Rastertechnologie eine rechteckige Matrix verwendet, in der auf dem Bildschirm die schon genannten Pixel dargestellt werden.40 Erst über diese grafische Ausgabe, die neben der Entwicklung der Bildschirme auch verschiedene Programmierungen und somit Software benötigte, wurde die Darstellung komplexerer Bilder, wie zum Beispiel Fotografien, über den Compu-
37 Vgl. Buzug, Thorsten M.: „Computertomographie (CT)“, in: R. Kramme (Hg.), Medizintechnik (2011), S. 317-337, hier S. 328f. 38 Vgl. ebd., S. 329. 39 Vgl. Meinel, Christoph/Sack, Harald: Digitale Kommunikation. Vernetzen – Multimedia – Sicherheit, Berlin 2009, S. 182. 40 Vgl. M. Bender/M. Brill: Computergrafik, S. 3.
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ter möglich, die nicht mit den vorher üblichen Vektorgrafiken zu beschreiben gewesen sind.41 Die Veränderung der Bildmatrix von 64 auf heute 1.024 Bildpunkte für eine (Bild-)Seite wurde schon erwähnt. Außerdem stellt sich die Anzahl von 4.096 verschiedenen Hounsfield-Einheiten (und somit Grauwerten) als praktikabel heraus, da sich 4.096 HE aus Perspektive der Computertechnologen gut durch Bilder mit einer Graustufentiefe von 12 Bit erfassen lassen.42 Bezüglich der Entwicklung der Rastergrafik wurde Mitte der 1970er Jahre mit Computern der vierten Generation die sogenannte 8-Bit-Architektur möglich, die sich dann auf 16-, 32- oder sogar 64-Bit-Architekturen erweitert hat.43 Über die Bit-Anzahl wird eine Eigenschaft der Raster- oder Bitmapgrafik charakterisiert: Sie bestimmt als Farb- oder Grautiefe die Anzahl der Farben oder Grauwerte (und somit die Helligkeitsintensitäten), mit denen ein Bildpunkt (Pixel) jeweils eingefärbt werden kann. Eine Grautiefe von 8 Bit entspricht insgesamt 256 möglichen Grauwerten in der Bilddarstellung, da die Farb- oder Grautiefe als Logarithmus über die tatsächliche Anzahl der möglichen Werte angegeben wird. 12 Bit beziehen sich also auf 4.096 mögliche Grauwerte in der Bilddarstellung, 44 wobei diese Skalierung aus medizinischer Perspektive als willkürlich angesehen wird und sich auch anders gestalten könnte.45 Die Hounsfield-Skala, wie sie in der Computertomografie eingesetzt wird, ist somit einerseits durch physikalische Eigenschaften des menschlichen Gewebes und andererseits durch die logarithmische Verarbeitung der Messwerte zu Grautönen in der Computergrafik bedingt. Dieser Zusammenhang ist nicht der einzige, der das komplexe Wechselspiel von Medizin mit Physik, Technik und Informatik kennzeichnet. Die der computertomografischen Bildgebung zugrunde liegende Theorie erweist sich insgesamt als uneindeutig und problematisch. Aus Sicht der Radiologen sind CT-Werte als absolute Werte zu sehen und den menschlichen Organen oder Geweben eindeutig zuzuordnen, so dass Abweichungen dieser Werte für bestimmte Organe mit Pathologien derselben gleichzusetzen sind. Erst auf dieser Grundlage stellt sich das
41 Vgl. C. Meinel/H. Sack: Digitale Kommunikation, S. 182. 42 Vgl. T. M. Buzug: Computertomographie, S. 329. 43 Vgl. Rechenberg, Peter: Was ist Informatik? Eine allgemeinverständliche Einführung, München/Wien 32000, S. 17. 44 Vgl. C. Meinel/H. Sack: Digitale Kommunikation, S. 183. Die Angaben im Logarithmus beziehen sich immer auf die Zahl Zwei. Bei 8 Bit sind es also 2 8 = 256, bei 12 eben 212 = 4.096. 45 Vgl. A. Wieser/M. Reiser: Computertomographie, S. 3; und vgl. A. Grillenberger/E. Fritsch: Computertomographie, S. 53. Grillenberger und Fritsch betonen, dass der Nullpunkt der Hounsfield-Skala willkürlich mit der Dichte von Wasser gleichgesetzt wurde.
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Verfahren als quantitative und somit revolutionär neuartige Modalität heraus. Physikalisch-mathematisch hingegen ist eine eindeutige Zuordnung von Schwächungswerten aufgrund der veränderten spektralen Verteilung der Strahlung als Konsequenz des Körperdurchlaufs eigentlich nicht möglich. Praktisch jedoch lässt sich die Hounsfield-Skala auch aus physikalisch-mathematischer Perspektive in diagnostisch relevante Bereiche unterteilen.46 Diese diagnostisch relevanten Bereiche wurden bei der Einführung der Computertomografie durch Hounsfield vorgestellt, wie in seinen Artikelabbildungen von 1973 nachzuvollziehen ist (vgl. Abb. 2 und 3, S. 113f.): Bei der jeweils gewählten Fenstereinstellung, die er von Abbildung (a) bis (e) von -100 HE zu +350 HE verändert, wird ein Datensatz in fünf verschiedenen Darstellungen abgebildet. Je nach Fenstereinstellung treten die Messwerte der Absorptionskoeffizienten von Luft, Wasser, Tumoren oder Knochen in Erscheinung. Insofern die durch Hounsfield vorgeschlagene Einteilung in der Radiologie aufgegriffen wurde, erstrecken sich heutige Angaben zur Hounsfield-Skala auf sämtliche im Körper befindlichem diagnostisch relevante Gewebe und Strukturen.47 Hounsfields erste Ergebnisse 1973 waren rein auf den menschlichen Schädel bezogen. Nun ist die Fensterung des Datensatzes, also der Absorptionskoeffizienten und ihrer entsprechenden Grauwertvisualisierung, notwendig, da die Bilddarstellung zuerst einer Beschränkung durch das menschliche Auge unterliegt, das je nach Umgebungsverhältnissen zwischen 16 und 60 Graustufen auflösen kann. 48 Zweitens ist die Darstellung durch die Monitore in der Regel auf 256 Graustufen (8 Bit) begrenzt. Fensterschaltungen sind für die Computertomografie unumgänglich, um eine Sichtbarmachung aller Anteile des Dynamikbereichs von bis zu 12 Bit zu
46 Vgl. T. M. Buzug: Computertomographie, S. 329. 47 Vgl. bspw. Hoxter, Erwin A./Schenz, Alfred: Röntgenaufnahmetechnik. Grundlagen und Anwendungen, Berlin/München 141991, hier Bild 6.11 auf S. 101. 48 Nach Markus Buschhaus variieren die Einschätzungen, wie viele Graustufen das menschliche Auge mit einem Blick, also gleichzeitig wahrnehmen kann, erheblich. Die geringste Anzahl werde mit 16, die höchste mit 60 bis 80 Grauwerten angegeben. Vgl. M. Buschhaus: Körperwelten in Graustufen, S. 24. Auch Thomas M. Buzug betont bei seinen technischen Darstellungen der Computertomografie, dass der Mensch je nach Helligkeit im Auswerteraum zwischen 20 und 50 Grauwerte unterscheiden kann. Vgl. T. M. Buzug: Computertomographie, S. 329. Der Mediziner W. Dihlmann erläutert, dass das menschliche Auge nur in der Lage ist, zwischen 20 und 30 Grautöne differenzieren. Vgl. Dihlmann, Wolfgang: „Röntgendiagnostik und das Leben des Geistes (bei Hannah A.)“, in: Der Radiologe 28/3 (1998), S. 121-124, hier S. 121.
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gewährleisten.49 Die grundsätzliche Entscheidung zur Verbildlichung der computertomografischen Messungen in Grauwerten ist auf bildkulturelle Traditionen zurückzuführen, wie der Medienwissenschaftler Markus Buschhaus 2011 betont. Obwohl medientechnisch eine Verbildlichung in Farbwerten möglich gewesen ist, schließen die Radiologen an ihre jahrzehntelange Erfahrung mit graustufigen Röntgenbildern an.50 Dieser in der Rezeption begründete Zugang zum computertomografischen Bild wird in James Ambroses Artikelteil deutlich, der nach Hounsfields Schilderung der technischen Aspekte und des Systems auf die klinische Applikation des neuen Verfahrens (Bildkultur) eingeht. 4.1.2 Bildkulturelle Standardisierungen der Computertomografie: Ambrose 1973 Der Radiologe James Ambrose widmet sich im zweiten Teil des Artikels der klinischen Anwendung der neuen Bildgebungstechnik. Er beschreibt die Bedingungen der Produktion und Rezeption computertomografischer Schichtbilder, um dieselben mit dem der Aufnahme zugrunde liegenden menschlichen Körper in Bezug zu setzen. Ein wichtiger Aspekt ist zuerst die Standardisierung der Schichtebenen, um entstehendes Bildmaterial vergleichen zu können, die Ambrose anhand der orbitomeatalen Linie51 beschreibt. Diese als Basis fungierende Linie verbindet den äußeren Augenwinkel mit dem externen Gehörgang und wurde als Markierung mit einem schwarzen Fettstift direkt auf das Gesicht des Patienten aufgetragen; zusätzlich wurde ein weißes Klebeband an der Kopfseite vom Scheitel bis zum Ohr fixiert und darauf die für die Untersuchung ausgewählten Schichtebenen festgehalten. Der direkte Zugriff auf den menschlichen Körper geht in der Beschreibung von Ambrose aber über diese Markierungslinien sowie die Angaben, wie
49 Vgl. T. M. Buzug: Computertomographie, S. 329. 50 Vgl. M. Buschhaus: Körperwelten in Graustufen, S. 27. 51 Die orbitomeatale Linie oder Orbitomeatallinie wird als Referenzlinie für die verschiedenen Schnittebenen durch den Schädel verwendet, wenn es um transversale oder axiale Aufnahmen in der Computertomografie geht. Da diese Linie das Auge (Mitte der Orbita im seitlichen Topogramm) mit dem Porus acusticus externus verbindet, wird sie auch als Auge-Ohr-Linie bezeichnet. Vgl. Hosten, Norbert/Liebig, Thomas: Computertomographie von Kopf und Wirbelsäule, Stuttgart ²2007, S. 26.
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viele Schichten in welcher Dicke zu untersuchen sind, hinaus. Der Radiologe betont, dass „the patient is required to remain quite still for approximately four minutes“52, damit vernünftige (Bild-)Ergebnisse der Untersuchung zu erwarten sind. Expliziter als in den technischen Erläuterungen Hounsfields offenbart sich hier das Verhältnis von Bildreferent und Bildergebnis, insofern letzteres auf ersteren zu beziehen sein muss, um die neue Bildgebungstechnologie im medizinisch-wissenschaftlichen Verständnis einzusetzen. Dabei wird weniger die Technik an den menschlichen Körper angeglichen, als dieser diszipliniert, um den Anforderungen der Technik zu genügen. Außen am Körper angebrachte Markierungen dienen der Verortung der Schichtbilder, die nur dann ein sinnhaftes Ergebnis liefern, wenn der lebendige Körper in einen Stillstand gezwungen wird. Die Diskrepanz zwischen Leben und Stillstand in der medizinischen Bildgebung hat sich schon für die Röntgenfotografie gezeigt, wird aber bezüglich der Computertomografie eklatant. Bei Ambrose stellt die Körperbewegung die erste und wichtigste Limitation der Bildgebung dar: Schon das kleinste Wackeln kann Abweichungen hervorrufen. So betont er den beachtlichen Umfang an Patientenkooperation, der für Aufnahmen nötig ist: „A small amount of movement will introduce aberrations into the readings. This will reduce the quality of the pictures. A considerable amount of patient co-operation is therefore required […].“53 Bei der Interpretation der Bildergebnisse erläutert Ambrose, dass jede Sektion oder Schicht durch die Röntgenstrahlen transversal-axial gescannt wird und das Bildergebnis, ausgegeben von der Polaroid-Kamera, so zu betrachten ist, als würde von oben auf den kranialen54 Inhalt einer bestimmten Ebene geschaut. Befindet sich die Seriennummer der Aufnahme oben im Bild, ist der Betrachter korrekt orientiert, was heißen soll, dass die räumlichen Zuordnungen links und rechts sowie oben und unten in Bezug auf die Position des Betrachters mit der konventionellen Orientierung übereinstimmen. 55 Diesen Erläuterungen, wie auf das Bild geschaut werden muss, um es in der räumlichen Orientierung mit dem menschli-
52 Ambrose, James: „Computerized transverse axial scanning (tomography): Part II. Clinical Application“, in: British Journal of Radiology 46/552 (1973), S. 1023-1047, hier S. 1025. 53 Ebd., S. 1039. 54 Kranial bedeutet in der medizinischen Fachsprache eine kopf- oder schädelwärtsgelegene Ansicht und leitet sich vom lateinischen cranium = ‚Schädel‘ ab. Vgl. Fangerau, Heiner/Müller, Irmgard/Schulz, Stefan: Medizinische Terminologie. Ein Kompaktkurs, Berlin 32008, S. 25ff. 55 Vgl. J. Ambrose: Computerized transverse axial scanning, S. 1025.
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chen Körper als referenziertem Objekt in Kohärenz zu bringen, fügt Ambrose differenzierte Angaben hinzu, was auf dem jeweiligen Bild zu sehen ist. Die Zuordnung der Bilderscheinungen in der computertomografischen Aufnahme erfolgt über einen Vergleich mit Fotografien von präparierten Schädelschichten; ein Vorgehen, das in ähnlicher Weise für die Röntgenfotografie geschildert wurde. Abbildung 4: Horizontale Schicht und Computertomografie
Quelle: J. M. Ambrose: Computerized transverse axial scanning, Fig. 5B, S. 1025.
In Abbildung 4 ist die Gegenüberstellung einer horizontalen Schicht des ‚normalen Gehirns‘ nach einer Autopsie mit einer computertomografischen Aufnahme zu sehen. Die Fotografie des Präparats ist nach den wichtigen anatomischen Besonderheiten ausgewählt worden, die im computertomografischen Bild auf gleicher Ebene zu erkennen sind.56 An zwei Aspekten lässt sich der Versuch der Referenzierung bei Ambrose ablesen: Zuerst betont er, dass in der computertomografischen Abbildung Gewebeveränderungen zu erkennen sind, wie sie durch eine Atrophie (Gewebeschwund) ausgelöst werden. Zweitens geht Ambrose auf die dünne, schwarze Umrandung des Gehirns im Scan ein und benennt sie als ‚Band mit geringer Dichte‘ (low density band), das zum Teil Flüssigkeit im Subarachnoidalraum darstelle, aber zu einem gewissen Teil auf eine Überforderung des Computers zurückzuführen sei: Das System müsse in der Verbildlichung des Kopfes
56 Vgl. ebd., S. 1025.
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abrupt von der hohen Dichte des kompakten Knochens (weiße Umrandung) auf Werte von nahezu Null für Zerebrospinalflüssigkeit wechseln.57 An Ambroses Vorgehen ist abzulesen, dass entsprechend der Etablierung der Röntgentechnik weiterhin versucht wird, die neuen Ansichten mit dem still gestellten Körper, dem Leichnam, in der fotografischen Darstellung zu vergleichen und die Referenz zu klären. Darüber hinaus bezieht er die Bedingungen der neuen Bildgebung durch den Computer und die Berechnung der jeweiligen Helligkeitswerte der Bildpunkte ein, wenn er sich neben der Bezugnahme auf den menschlichen Körper mit Fragen nach Fehlerquellen oder Überforderungen durch den Computer auseinandersetzt. Die Disziplinierung des menschlichen Körpers, Fragen der Orientierung innerhalb des Bildmaterials und die Zuordnung sichtbarer Aspekte zum menschlichen Körper und zu seinem gesundheitlichen Zustand sind noch heute in der Computertomografie von Bedeutung. Eine Ausnahme im Artikel von Ambrose findet sich, da er zusätzlich die numerische Aufzeichnung der Absorptionskoeffizienten als Begleitmaterial zu jeder Schicht beigelegt hat (vgl. Abb. 5, S. 126).58 Mit der in der Mitte befindlichen Markierung durch einen Stift, über die Ambrose ein bestimmtes Areal der Zahlendarstellung abtrennt, dient dem Radiologen die Abbildung – wie auch die Bildunterschrift besagt – zur Kommunikation der vom Normalen abweichenden Werte: „The small calcium aggregates account for the height average density of the tumor.“59 Auch hier zieht Ambrose die neuen Grundlagen der Verbildlichung heran und leistet eine Vermittlung der numerischen Basis in Bezug auf den menschlichen Körper. In einer Bildunterschrift zu einem anderen numerischen Ausdruck hebt Ambrose die negativen Werte der Absorptionskoeffizienten hervor, da sie bezogen auf eine diagnostizierte Zyste eine niedrigere Dichte aufweisen und der Schluss naheliegt, dass es sich um Cholesterin handelt. Den quantitativen Ausgaben der computertomografischen Untersuchung liegen die in Hounsfields Skala normierten Zahlenwerte zugrunde, so dass die diagnostischen Urteile ‚normal‘ oder ‚pathologisch‘ nicht nur basierend auf der Wahrnehmung des Bildes getroffen werden müssen. Ambrose erläutert, wie er aufgrund dieser Zahlenwerte Bestandteile eines Tumors oder einer Zyste bestimmt, was das neue Bildverfahren wiederum eindeutig von der konventionellen Röntgentechnik abgrenzt. Die Bedeutung der Bildberechnung tritt in den Vordergrund.
57 Vgl. ebd., S. 1027. 58 Vgl. ebd., S. 1026. 59 Ebd., S. 1029.
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Abbildung 5: Numerischer Ausdruck (Computer print-out)
Quelle: J. M. Ambrose: Computerized transverse axial scanning, Fig. 7A, S. 1029.
Markus Buschhaus betont 2011 mit Bezug auf die numerischen Abbildungen in Ambroses Artikel, dass es letztlich Zufall ist, „dass die anatomische Struktur hier überhaupt sicht- und nicht lediglich lesbar ist“60. Die Schlussfolgerung von Buschhaus lautet: „Solche Abbildungen dienen also offenkundig nicht einer etwaigen Befundung in der klinischen Diagnostik, sondern sie veranschaulichen das Verfahren der Bildberechnung auf Grundlage der später so bezeichneten HounsfieldSkala.“61 Mit diesen Abbildungen belegt Ambrose somit die Nähe der Bilder zu den rechnerischen oder numerischen Ergebnissen, die – wie Buschhaus zu Recht anmerkt – noch hätte betont werden können, wären die Zahlen mit weißer Druckfarbe auf schwarzes Papier aufgebracht worden.62 Der Zwiespalt, dass für die radiologische Diagnostik Bildmaterial entscheidend ist, die Computertomografie 60 M. Buschhaus: Körperwelten in Graustufen, S. 25. 61 Ebd. 62 Vgl. ebd.
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aber aufgrund ihrer informatischen Berechnungen eine Neuerung in die Disziplin bringt, ist bei Ambrose abzulesen. Denn der Radiologe betont ebenfalls die Nähe der neuen Methode zur Röntgentechnik und schließt an Bild- und Sehgewohnheiten an: „Examination of transverse axial scan pictures is conducted in much the same way as that of any radiograph. Structures are identified and their shape, size, and positioned defined. The perspective presented may at first be found to be unusual but later, with usage, no real difficulties are encountered.“63
Diese Bild- und Sehgewohnheiten sind radiologischen Lesern des Artikels bekannt. Wie die Röntgentechnik in ihren Anfängen durch den Bezug auf die Fotografie als etablierte Medientechnik vertrauenswürdig gemacht wurde, nutzt Ambrose die Verwandtschaft der Computertomografie mit der Röntgentechnik, um das neue Verfahren vorzustellen. Ein derartiges Vorgehen war notwendig, um den eigentlichen Abnehmern der Technologie, den Radiologen, eine einfache Integration in die tägliche Arbeit anzubieten. 4.1.3 Wissenschaftliches Objektivitätsideal I Der Artikel von Hounsfield und Ambrose dient der vorliegenden, historischen Argumentation als erstes Beispiel für die Klärung der Medientechnik und der radiologischen Bildkultur64 bei Einführung der Computertomografie. Im Folgenden werden die beiden großen radiologischen Fachzeitschriften und radiologische Atlanten als Grundlage zur fachspezifischen Aufarbeitung und Diskussion herangezogen. Fortschritte auf dem Gebiet der Röntgenstrahlen druckte im Oktober 1975 den ersten Artikel zur Computertomografie als neuer Technik für die Radiologie, Der Radiologe folgte neun Monate später.65 1977 schloss letztere Zeitschrift eine
63 J. Ambrose: Computerized transverse axial scanning, S. 1028. 64 Markus Buschhaus wählt in seiner Untersuchung von 2005 die Begriffe ‚bildkulturell‘ und ‚medientechnisch‘: medientechnisch verweist auf Aspekte der (Re-)Produktion von Bildmaterial, bildkulturell auf Aspekte des Bildgebrauchs, also den Lesarten und Handlungen. Vgl. M. Buschhaus: Über den Körper im Bilde sein, S. 26f. 65 Vgl. Baker jr., L./Thomas, J. E.: „Computierte transaxiale Tomographie des Kopfes (EMI Scan)“, in: RöFo 123/4 (1976), S. 293-298; und vgl. Krauss, O./ Schuhmacher, H.: „Mensch-Phantommessungen mit Thermolumineszenz-Dosimetern (TLD) zur Bestimmung der Strahlendosis des Patienten bei der Ganzkörper-Computertomographie“, in: Der Radiologe 16/7 (1976), S. 288-293.
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gesamte Ausgabe (Band 17, Heft 4) zum Thema Computertomografie an; in der Einleitung betont E. Löhr, dass keine andere Untersuchungsmethode „seit der Erfindung der Röntgenröhre eine derartige epochemachende Entwicklung“ 66 eingeleitet habe wie diese bildgebende Technik. Die Methode wird insgesamt als ‚bedeutender medizinischer Fortschritt‘ gewertet, durch deren Entwicklung eine sinnvolle Übertragung bestehender Technologie auf das Gebiet der Medizin stattgefunden hat.67 Die Trennung revolutionärer gegenüber traditioneller Bildgebungstechnologien setzt sich fort, wobei die Einführung der Computertechnik das ausschlaggebende Argument darstellt. Die Computertomografie repräsentiert in expliziter Weise die Installation des Computers als essentiellem, objektiv-wissenschaftlichem Werkzeug der medizinischen Profession. Der digitalen Datenverarbeitung wird zu Beginn der 1970er Jahre eine wichtige Rolle zugeschrieben, deren Vorteile für die Medizin als Verringerung des personellen Aufwands (und damit einer Kostenreduktion), Verbesserung der Messgenauigkeit bei verschiedenen Verfahren und Vermeidung oder Erkennung von Fehlern beschrieben werden.68 Die Computertomografie wird als nicht-invasive Untersuchungsmethode vorgestellt, die Röntgen- und Computertechnik verbindet und speziell für den Fachbereich der Radiologie nutzbar macht.69 Durch sie lässt sich ein bei der Röntgentechnik als Mangel beschriebener Umstand ausgleichen, da erstmalig bestimmte Veränderungen und Pathologien des menschlichen Körpers und vor allem des Schädels nicht nur qualitativ über Bildergebnisse, sondern auch quantitativ über die gemessenen Absorptionskoeffizienten zu bestimmen sind.70 Dieser Aspekt der medizinisch-radiologischen Argumentation ist in Bezug auf die Opposition von Objektivität und Subjektivität hervorzuheben, die sich auf der Grundlage eines spezifisch wissenschaftlichen Ideals durch die Fachartikel und weitere Organe der Disziplin zieht.
66 Löhr, E.: „Einführung zum Thema“, in: Der Radiologe 17/4 (1977), S. 143. 67 Vgl. Everette James: „Ausgewählte zukunftsweisende radiologische Darstellungstechniken“, in: Der Radiologe 17/4 (1977), S. 144-148, hier S. 148. 68 Vgl. Nagel, M. u. a.: „Bestimmung des Knochenmineralgehaltes aus dem Röntgenbild mit Hilfe der digitalen Datenverarbeitung“, in: RöFo 121/5 (1974), S. 604-612, hier S. 605ff. 69 Vgl. Scherer, Ulla/Rothe, R./Lissner, J.: „Computertomographie des Körperstamms – ein erster Erfahrungsbericht“, in: RöFo 127/5 (1977), S. 399-404, hier S. 399. 70 Vgl. Becker, H. u. a.: „Endokranielle Verkalkungen in der Computer-Tomographie – Ein Vergleich zum Röntgenbild“, in: RöFo 126/6 (1977), S. 509-512, hier S. 512.
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Die hier angesprochenen quantitativen Aussagen sind über die bei der Fensterung beschriebene Skala möglich: Die Absorptionskoeffizienten der verschiedenen menschlichen Gewebe und im Computertomogramm abgebildeten Organe können „reproduzierbar zahlenmäßig“ 71 angegeben werden, was aus der Perspektive der Radiologen das entscheidende neue Kriterium darstellt, um ihre Arbeit einem (natur-)wissenschaftlichen Ideal anzugleichen. Gerade die Abbildungen im Artikel von Ambrose zeigen die Möglichkeit der numerischen Ausgabe auf, die allerdings im weiteren Entwicklungsverlauf der Computertomografie nur eine periphere Bedeutung erlangt: Statt in der täglichen Routine auf die Messwerte zurückzugreifen, arbeiten die Radiologen mit den Bildergebnissen, die bei den ersten in Kliniken und Krankenhäusern installierten Geräten am Bildschirm oder Monitor angezeigt und über Drucker ausgegeben wurden. Statt sich in ihrer Arbeit also auf die mögliche numerische Darstellung zu beziehen, wechseln die Radiologen im täglichen Umgang zum Bildmaterial als explizitem Untersuchungsergebnis. Zur Etablierung des Verfahrens stand somit die Klärung von Produktion und Rezeption des Bildmaterials für die Radiologie an erster Stelle. Beispielsweise entwickelte sich die kraniale oder zerebrale Computertomografie (Bildgebung des menschlichen Schädels) zum herausragenden neuroradiologischen Untersuchungsverfahren. Für die Diagnostik von Hirntumoren erbrachte sie in Verlaufsstudien bis 1977 bei circa 1,7 Prozent der Patienten überhaupt erst definitive Tumornachweise und führte bei der Diagnostik von intrakraniellen Blutungen und vor allem Schädel-Hirn-Traumen zu „neuen Erkenntnissen“72. Grundsätzlich wird sie als neues Wissen produzierende Technik integriert. Allerdings lenken die Radiologen gleichzeitig ein, dass die Aufgaben sowie Vorteile der Computertomografie wissenschaftlich zu klären seien. Mitte der 1970er Jahre stellten sie erste Forderungen, die Darstellung bestimmter Körperbereiche des Menschen im computertomografischen und röntgenologischen Bild zu vergleichen, um herauszuarbeiten, für welche pathologische Veränderung sich welches Verfahren anbietet.73 Dabei wurde die Computertomografie als speziell bildgebendes Verfahren der Radiologie nicht nur mit der Röntgentechnik, der Sonografie (Ultraschall) und der
71 Wegener, Otto-Henning: „Artefakte in der Computertomographie“, in: RöFo 132/6 (1980), S. 643-651, hier S. 643. 72 Wende, Sigurd u. a.: „Die Computer-Tomographie der Hirngeschwülste. Eine Sammelstudie über 1658 Tumoren“, in: Der Radiologe 17/4 (1977), S. 149-156, hier S. 155; und vgl. Löhr, E. u. a.: „Die Computer-Tomographie bei intracraniellen Blutungen“, in: Der Radiologe 17/4 (1977), S. 177-180, hier S. 179. 73 Vgl. H. Becker u. a.: Endokranielle Verkalkungen, S. 509.
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Angiografie verglichen. Es wurden ebenfalls die computertomografischen mit pathologisch-anatomischen Schnittebenen in Beziehung gesetzt und die Ergebnisse der neuen Technik mit dem Wissen in Pathologie und Anatomie rückgebunden – also Strategien eingesetzt, die schon in der Anfangszeit der Röntgentechnik zu beobachten waren.74 Die Autoren Bock et al. konstatieren 1978: „Eine Kontrolle der Deutung computer-tomographischer Bilder ist nur durch eine konsequente Aufarbeitung der zugehörigen pathologisch-anatomischen Schnitte möglich.“75 Die Bilderscheinungen müssen auf ihren Referenten menschlicher Körper bezogen werden, wobei die Tradition des ‚zerschnittenen Körpers‘ beibehalten wird. In der Ausgangssituation der Radiologie um 1900 ging es um einen ‚Blick in den menschlichen Körper‘, der durch Bilder und ohne Messer und Skalpell möglich wurde, aber nicht ohne das Aufschneiden des menschlichen Körpers zu belegen war. Die Radiologen hielten also für die Etablierung des Verfahrens an ihren bisherigen Strategien fest, die neuen Ansichten des lebendigen Körpers vorrangig mit der Leiche, dem toten Körper, in Beziehung zu setzen. Problematisch wurde dergleichen schon für Hounsfield und Ambrose, die laut dem Neurochirurgen Dean J. Gobo Jahre später feststellten, „that the formalin used to preserve the brain had artificially enhanced the difference in radiodensities, exaggerating their results.“76 2003 betonen der Neuroanatom Hans-Joachim Kretschmann und der Neurologe Wolfgang Weinrich in ihrem Atlas zu Neuroanatomie und Bilddiagnostik, dass die neuen Bildverfahren „die Unterschiede zwischen der intravitalen und postmortalen Hirnmorphologie deutlich gemacht“ 77 haben. Beispielsweise werden durch die Sammlung von Luft im Subarachnoidalraum die „Grenzen zwischen grauer und weißer Substanz […] besonders im CT-Bild postmortal unschärfer.“78 Ähnlich wie Hounsfield und Ambrose betonen Kretschmann und Weinrich, dass bei einer Übertragung der an anatomischen Präparaten erhobenen Befunde auf die Verhältnisse am lebendigen Körper in computertomografischen Bildern die postmortalen und durch histologische Techniken verursachten Veränderungen an den Präparaten beachtet werden müssen. So nimmt nach dem Tod das Volumen der
74 Vgl. Bock, Wolfgang Joachim u. a.: „Das Computer-Tomogramm im Vergleich zu den pathologisch-anatomischen Befunden unter Berücksichtigung gleicher Schnittebenen“, in: Der Radiologe 18/3 (1978), S. 88-91, hier S. 88. 75 Ebd., S. 91. 76 D. Gobo: Localization Techniques, S. 238. 77 Kretschmann, Hans-Joachim/Weinrich, Wolfgang: Klinische Neuroanatomie und kranielle Bilddiagnostik. Atlas der Magnetresonanztomographie und Computertomographie, Stuttgart ³2003, S. 10. 78 Ebd.
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Liquorräume ab und bei der Herstellung von histologischen Schnitten verliert das Gehirn 40 bis 50 Prozent seines Volumens. Die an den Präparaten beobachtete Größe und Form der Hirnstrukturen ist nur mit Einschränkung auf die Verhältnisse des lebendigen Körpers und seine Darstellung im computertomografischen Bild übertragbar.79 Die Autoren betonen, dass bei der Erstellung von Atlanten für die klinische Praxis auf diese Umstände geachtet und dementsprechend geeignete Vergleichsbilder gewählt werden müssen.80 Trotz dieser problematischen Ausgangssituation beruft sich die Radiologie seit den 1970er Jahren auf visuelle Vergleiche, die Fotografien des anatomischen Präparates mit Röntgenbild und Computertomografie in Bezug setzen. Das geschilderte Paradox steigert sich hier, insofern die Ergebnisse verschiedener Medientechniken zugleich den Körper in unterschiedlichen Stadien repräsentieren und eine bestimmte Ansicht desselben konstruieren, diese Konstruktion jedoch selten reflektiert wird. Wie bei der Röntgentechnik Anfang des 20. Jahrhunderts führt die systematische Aufarbeitung des Bildmaterials im Zusammenhang mit der Standardisierung von Produktion und Rezeption desselben für die Computertomografie zur Publikation erster, spezifisch radiologischer Atlanten.81 Da es sich bei medizinischen Atlanten um einen vorrangigen Wissenskorpus der Medizin in Bezug auf den menschlichen Körper handelt, ist dieser Aspekt nicht überraschend. Atlanten dieser Art referieren nicht nur auf die klinische Diagnostik, sondern ebenfalls auf den anatomisch oder pathologisch motivierten Einsatz der Computertomografie. 82 Die anfängliche und technisch bedingte Einschränkung der Hirnbildgebung wird ebenso rasant ad acta gelegt, wie sämtliche Entwicklungsschritte der Computertomografie ein schnelles Tempo vorzulegen scheinen. Daran anschließend wird 1977 durch Joseph Gambarelli et al. beim Springer Verlag der erste, spezifisch computertomografische Atlas zur Ganzkörper-Bildgebung veröffentlicht.83 Der Atlas ist nicht nur für Anatomen und Ärzte gedacht, sondern speziell für die Röntgenologen, „die privilegierten oder potentiellen Be-
79 Vgl. ebd., S. 11. 80 Vgl. ebd., S. 10. 81 Vgl. Shipps, Fred C. u. a.: Atlas of brain anatomy for EMI scans, Springfield/Illinois 1975, und vgl. Salamon, Georges/Huan, Yun Peng: Radiologic Anatomy of the Brain, Berlin 1976. 82 Vgl. M. Buschhaus: Körperwelten in Graustufen, S. 27. 83 Vgl. Gambarelli, Joseph u. a.: Ganzkörper-Computer-Tomographie. Ein anatomischer Atlas von Serienschnitten durch den menschlichen Körper. Anatomie – Radiologie – Scanner, Berlin 1977.
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nutzer dieser modernen Anlagen, die in diesem Atlas alle topographischen Anatomie-Informationen für ihren Fachbereich finden.“84 Dass die Röntgenologen als privilegiert herausgestellt werden, betont ihre besondere Position beim Einsatz der Computertomografie und ihrer Bildergebnisse. Die Autoren heben im Vorwort hervor, dass die Benutzung des Computertomografen für Ganzkörperuntersuchungen „als neues Mittel der Röntgendiagnose einige Probleme bei der Interpretation bestimmter normaler oder pathologischer Bilder“ birgt und sie es als unerlässlich ansehen, „die mit diesem Gerät hergestellten normalen Bilder zu untersuchen und mit den entsprechenden Serienschnitten des menschlichen Körpers zu vergleichen.“85 Interessant ist hier die Aussage, dass die ‚Bilder zu untersuchen‘ sind. Die Disziplin versteht sich in ihrer Arbeit nicht direkt dem menschlichen Körper verpflichtet, sondern dessen Verbildlichungen. Dass die neuen, bildgebenden Verfahren somit in den Vergleich mit den konventionellen und schon etablierten Modalitäten gesetzt werden, basiert auf der Grundlage von Bildergebnissen, die mit dem bildlich konstruierten Referenten auf der Grundlage physikalisch-technischer Theorien übereinstimmen. Bildvergleich und vergleichendes Sehen werden als mediale Darstellungs- und Rezeptionsweisen in der Tradition des bildspezialisierten Fachbereichs ebenso aufgegriffen wie die Tradition anatomischer und pathologischer Wissensgrundlagen in Bezug auf den zerschnittenen und toten menschlichen Körper. Markus Buschhaus und Vera Dünkel haben für die Atlanten Rudolf Grasheys von 1905 und 1912 herausgearbeitet, wie dieser nicht nur die entstandenen Bilder mit dem Korrelat menschlicher Körper in Bezug setzte und sich dabei verschiedener medialer Zugänge bediente, sondern auch Bildproduktion und -rezeption genauer darlegte.86 Die gleichen Ansätze finden sich 1977 bei Gambarelli et al. Die mit der neuen Technik Computertomografie entstandenen Scans werden in diesem Atlas auf Doppelseiten präsentiert, wobei links das Farbfoto des anatomischen Präparats, eine Schemazeichnung des untersuchten Körperteils mit der jeweils angesetzten Schnitthöhe sowie die schriftlichen Bildbezeichnungen zu sehen sind, während rechts die anatomische Zeichnung und direkt nebeneinander die konventionelle Röntgenaufnahme und das computertomografische Bild präsentiert werden. Insbesondere die Schnitthöhen sind als wichtige Standardisierung zu verstehen: Sie gibt für sämtliche mediale Darstellungen die Verortung im menschlichen Kör-
84 Ebd., S. V. 85 Beide Zitate ebd. 86 Vgl. V. Dünkel: Vergleichendes Röntgensehen, S. 368; und vgl. M. Buschhaus: Über den Körper im Bilde sein, S. 173.
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per an und gewährt überhaupt erst die Vergleichbarkeit der Abbildungen. Derartige Standardisierungen der immer gleichen Schichtposition wurden für die Radiologie bei der Nutzung der Computertomografie unentbehrlich, um einen einheitlichen Bildhaushalt zu gewährleisten, der einerseits in der Praxis verinnerlicht werden und somit andererseits als Lehr- und Lernmaterial dienen konnte. Die Standardisierungen offenbaren ein komplexes Geflecht, werden sie auf Bildvergleiche und vergleichendes Sehen bezogen. Einerseits normieren sie das anatomisch-radiologische Vorgehen, insofern Schnitt- oder Schichtebenen vereinbart werden, die in den zeichnerischen, fotografischen, röntgenologischen und computertomografischen Verbildlichungen wieder aufgegriffen werden. Das medizinische Wissen schreibt sich in die Bildbeschriftungen ein, mit denen Details der jeweiligen Abbildungen benannt und auf die somit verwiesen werden kann. Andererseits betreffen die Vereinbarungen den Umgang mit den Verbildlichungen selbst, ob es nun die jeweilige Abbildungsgröße in den Atlanten ist oder die vorgeschriebene Blickrichtung des Betrachters. Bezüglich der spezialisierenden Bemühungen fällt bei Gambarellis Atlas nicht nur auf, wie der Röntgenologe als privilegierter und potentieller Benutzer des Gerätes benannt wird;87 die Autoren betonen weiter, dass die computertomografische Untersuchung ausschließlich eine Aufgabe des Fachradiologen darstellt, da nur er über die physikalischen und naturwissenschaftlichen Grundlagen sowie die praktische Erfahrung bei Bildaufnahme und -analyse verfügt, um „den Untersuchungsergebnissen ein Höchstmaß an Information“88 zu entnehmen. Der Diskurs in den beiden radiologischen Fachzeitschriften zeigt, dass Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre kritische Reaktionen auf die am Anfang der Dekade euphorisch geäußerten Einschätzungen zur Computertomografie erfolgen. Die grundsätzliche Richtigkeit oder Zuverlässigkeit der Abbildungen wird angezweifelt.89 Im medizinischen Kontext betonen die Radiologen nicht nur die zur Bildinterpretation notwendigen anatomisch-pathologischen Referenzen, sondern verlangen differentialdiagnostische Listen, mit denen beispielsweise computertomografische und damit
87 J. Gambarelli u. a.: Ganzkörper-Computer-Tomographie, S. V. 88 Ebd., S. 7. 89 Vgl. Heilmann, Hans-Peter: „Der Röntgenbefund: Stiefkind der Radiologie“, in: RöFo 135/2 (1981), S. 220-224, hier S. 220; Heilmann kritisiert hier den Satz „Das Röntgenbild lügt nie, man muß es nur richtig deuten.“
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bildlich zu erfassende Tumormuster mit klinisch-anamnestischen, weiteren neuroradiologischen und anderen Daten abgeglichen werden müssen. 90 Die radiologischen Vertreter erkennen, dass eine „artdiagnostische Zuordnung vieler pathologischer Befunde im zerebralen Computertomogramm Schwierigkeiten macht und ohne Berücksichtigung klinischer und weiterer neuroradiologischer Untersuchungsergebnisse zeitweise unmöglich bleibt.“91 Die Hoffnungen auf eine eindeutige, da auf quantitative Messungen bezogene Analyse des Bildmaterials stellen sich als Trugschluss heraus, wenn sowohl die Bildergebnisse als auch die Messwerte wieder durch den Mediziner gedeutet werden müssen. Damit kehrt zurück, was eigentlich mit der Integration des Computers als verabschiedet galt – das subjektive Moment: „Die visuelle Erfassung, Bewertung und Beurteilung des computertomographischen Monitorbildes durch den untersuchenden Arzt impliziert eine zwangsläufig subjektive und von vielen zum Teil unwägbaren Parametern beeinflußte diagnostische Entscheidung.“92 Die Diskussion um das bildgebende Verfahren greift erneut auf die dem (natur-)wissenschaftlichen Ideal zugrunde liegenden Anforderungen zurück, wenn die durch den Menschen ausgeführte Interpretation und Analyse als subjektiver Vorgang gekennzeichnet wird, der nur im Zusammenhang mit statistischen Auswertungen und wissenschaftlichen Dokumentationen computertomografischer Befunde durch Computerprogramme ein Höchstmaß an diagnostischer Sicherheit gewährt.93 Während die eindeutige Analyse auf der einen Seite in Frage gestellt wird, bleibt die Argumentation bestehen, dass über den Computer und seine Programme standardisierte Untersuchungstechniken installiert werden können, die eine Normierung und umfangreiche Dokumentation der Aufnahmen garantieren
90 Vgl. Elke, Manfred/Wiggli, Urs/Huenig, Reinhard: „Praktische Gesichtspunkte zur Diagnose intracranieller Tumoren durch die Computer-Tomographie (CT)“, in: Der Radiologe 17/4 (1977), S. 157-179, hier S. 162. 91 Huber, G.: „Besondere computertomographische und szintigraphische Aspekte des Subduralhämatoms“, in: RöFo 128/1 (1978), S. 11-15, hier S. 12. 92 Hübener, K.-H./Christ, G.: „Möglichkeiten rechnerunterstützter Diagnostik und therapeutischer Bestrahlungsplanung in der Computertomographie“, in: RöFo 128/2 (1978), S. 223-225, hier S. 223. 93 Vgl. Klar, M./Ostertag, Christoph: „Dokumentation computertomographischer Befunde“, in: Der Radiologe 17/4 (1977), S. 189-192, hier S. 189.
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und die gesamte Untersuchung „von der individuellen Virtuosität des Untersuchers“94 lösen sollen. Die schwierigen Faktoren werden in der Subjektivität des Untersuchenden und seinen Wahrnehmungen und Interpretationen verortet, wobei generell die Unsicherheit in der Radiologie bestehen bleibt, ob sich aus der quantitativen gegenüber der rein visuellen Auswertung computertomografischer Bilder überhaupt nutzbare Vorteile für die klinische Diagnostik ergeben. So schreiben H. Emde, M. Braun-Feldweg und Uwe Piepgras 1979: „Die Auswertung kranialer Computertomogramme steht zur Zeit noch überwiegend unter dem praktischen Aspekt der visuellen, subjektiven Bildbeurteilung. Obwohl es naheliegt, ihre Möglichkeiten zu nutzen, wird von der quantitativen CT-Analyse relativ wenig Gebrauch gemacht. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen fehlen geeignete Auswertegeräte und -programme, zum anderen müssen aufgrund der bislang vorliegenden Untersuchungsergebnisse Zweifel aufkommen, daß die quantitative gegenüber der rein visuellen CT-Auswertung überhaupt für die klinische Diagnostik nutzbare Vorteile bietet.“95
Neben der Auswertung des Bildmaterials nach quantitativen Aspekten erhält die Diskussion um den Computer durch Abbildungsfehler oder Artefakte weitere Argumente, insofern entsprechenden Softwareprogrammen zugeschrieben wird, die qualitätsmindernden Artefakte in computertomografischen Aufnahmen zu eliminieren.96 Gambarelli et al. verweisen in ihrem 1977 erschienenen Atlas auf Artefakte und schreiben diese der falschen Wahl des Messfeldes durch den Untersuchenden, einer Bewegung des Patienten beziehungsweise des menschlichen Körpers oder den zu großen Dichteunterschieden im menschlichen Körper zu.97 1980 wird in der RöFo ein erster Artikel zu Artefakten in der Computertomografie vorgelegt, die als „Kehrseite eines guten Abbildungssystems“ 98 gelten. Gerade im Vergleich zur konventionellen und standardisierten Röntgentechnik, bei der das
94 Fernholz, Hans-Joachim/Dihlmann, Wolfgang: „Die Bedeutung einer standardisierten Röntgen-Untersuchungstechnik des Magens“, in: Der Radiologe 19/1 (1979), S. 1-7, hier S. 4. 95 Emde, H./Braun-Feldweg, M./Piepgras, Uwe: „Die quantitative Bildanalyse im Rahmen der kranialen Computertomographie“, in: RöFo 131/4 (1979), S. 356-360, hier S. 359. 96 Vgl. Kuckein, D.: „Die Schädelbasis im Computertomogramm“, in: RöFo 135/1 (1981), S. 25-29, hier S. 27. 97 Vgl. J. Gambarelli u. a.: Ganzkörper-Computer-Tomographie, S. 9. 98
O.-H. Wegener: Artefakte in der Computertomographie, S. 643.
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Arsenal an Artefakten beschränkt sei, stellen sich die Bildfehler bei der Computertomografie als besonders reichhaltig heraus. Studien der Zeit versuchen daher, die Entstehungsweise der Artefakte zu untersuchen und sie nach Typen zu ordnen.99 Wie im Rückgriff auf Gambarellis Atlas angedeutet, werden Artefakte nach ihren Ursachen unterschieden: Entweder sind sie durch das Abbildungssystem und damit die Medientechnik bestimmt, wie beispielsweise Ringartefakte durch ausgefallene Detektoren entstehen, oder innerhalb der Bildrekonstruktion (der Computerprogramme) kommt es zu Störfällen. Auf der anderen Seite zeigt sich der menschliche Körper oder der Patient selbst bei Bewegungs- oder Flussartefakten verantwortlich.100 Die betont revolutionäre und neuartige Bildgebung stellt sich bei der Thematisierung von Referenzierung und Abbildungsfehlern teilweise als defizitärer heraus, als die ersten euphorischen Reaktionen der Radiologie vermuten ließen. In diesem Zusammenhang ist die steigende Auflösung als Ziel der Computergrafik zu betonen, die Anfang der 1980er Jahre auch als High Resolution-Technik bekannt wurde und durch die der Informationsgehalt einer computertomografischen Abbildung dem einer Röntgenübersichtsaufnahme oder konventionellen Tomografie als überlegen deklariert wurde. Die Aufnahmen werden von ihrer Abbildungsschärfe sogar mit Fotografien anatomischer Präparate verglichen,101 was den grundlegenden bildtheoretischen Aspekt der objektiven Wirklichkeitsabbildung unterstützt und zugleich an schon erwähnte (bild-)rhetorische Strategien anknüpft, die seit 1900 und mit der Einführung der Röntgentechnik die Medizin in Bezug auf ihre bildgebenden Verfahren prägen: Die realitätsnahe Abbildung des menschlichen Körpers wird gesucht und gefordert, um über das Bildmaterial möglichst eindeutige Aussagen zum Gegenstand treffen zu können. Vor diesem Hintergrund schließt sich in den 1980er Jahren mit der Magnetresonanztomografie ein weiteres, digitales Bildgebungsverfahren an, dessen Einführung und Etablierung in vielfacher Weise Parallelen zur Computertomografie aufzeigt. Wieder geht es der Profession um eine Standardisierung und Normierung von Produktion und Rezeption der Bildergebnisse. Hat sich aber die theoretische Grundlage der Verbildlichungen bei der Computertomografie schon als komplex und heikel gezeigt, erfährt dieser aus bildwissenschaftlicher Perspektive maßgebliche Aspekt eine Steigerung bei der Nutzung physikalischer Magnetresonanz.
99
Vgl. ebd.
100 Vgl. ebd., S. 644. 101 Vgl. D. Kuckein: Die Schädelbasis im Computertomogramm, S. 25.
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4.2 WEITERENTWICKLUNG DIGITALER BILDGEBUNG: MAGNETRESONANZTOMOGRAFIE 1981 beginnt die Phase der klinischen Akzeptanz der Magnetresonanztomografie. Die Modalität wird anfangs für die Diagnostik des Zentralen Nervensystems (ZNS) und somit der Computertomografie äquivalent zuerst zur Verbildlichung des menschlichen Schädels genutzt.102 Weiter basiert das Verfahren ebenso vorrangig auf physikalischen, biologischen und chemischen Forschungen, die mit der Entdeckung oder Realisierung der Kernspinresonanz stärker in das wissenschaftliche Bewusstsein rückten.103 Innerhalb der bildwissenschaftlichen Betrachtung ist allerdings wichtiger zu erwähnen, dass die magnetische Kernspinresonanz mit der 1951 entdeckten chemischen Verschiebung Bedeutung für die Analytische Chemie und ihre Aufklärung der molekularen Struktur erhielt. 104 Im Gegensatz zu den Physikern visualisierten die Chemiker die aus Messungen erhaltenen Daten in Kurven und Graphen, wodurch für das physikalische Phänomen früh zwei Aufzeichnungs- oder Darstellungsverfahren implementiert waren, die auch in der Medizin eine Tradition entwickelt hatten.105 Aus historischer Perspektive entstehen die ersten Ansätze zur Magnetresonanztomografie zeitgleich mit der Einführung der Computertomografie Anfang der 1970er Jahre in einem biologischen und medizinischen Kontext, obwohl bemerkenswerte Erfolge der Forschung erst am Ende der Dekade publik werden. In medizinhistorischen Darstellungen wird die Entwicklung der Magnetresonanztomografie als eng bezogen auf die Computertomografie verstanden, da letztere die Schichtbildgebung in die Radiologie eingeführt habe und anschließend komplementäre Technologien gefordert und gefördert wurden.106 Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ist bereits gezeigt worden, dass es sich bei der Computertomografie keineswegs um die Einführung der Schichtbildgebung handelte, sondern die Verbindung mit dem Computer die ausschlaggebenden Veränderungen auslöste. Die folgende Darstellung erfolgt vor dem Hintergrund, dass Entwicklung
102 Vgl. Jäncke, Lutz: Methoden der Bildgebung in der Psychologie und den kognitiven Neurowissenschaften, Stuttgart 2005, S. 18. 103 Vgl. Luiten, André L: „Magnetresonanzbildgebung: Eine historische Einführung“, in: Marinus T. Vlaardingerbroek/Jacques A. den Boer (Hg.), Magnetresonanzbildgebung. Theorie und Praxis, Berlin 32004, S. 1-8, hier S. 1. 104 Vgl. Zeitler, Eberhard: Kernspintomographie. Einführung für Ärzte und Medizinstudenten, Köln 1984, S. 15. 105 Vgl. K. A. Joyce: Magnetic Appeal, S. 31f. 106 Vgl. D. Gobo: Localization Techniques, S. 240.
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und Einführung der Magnetresonanztomografie mindestens so komplex vonstattengegangen sind wie bei der Computertomografie oder anderen medizinischen (Bildgebungs-)Verfahren, und erst spätere, teilweise heutige Publikationen einen linearen Fortschritt suggerieren, der nicht gegeben ist. Für die Magnetresonanztomografie werden mit Raymond Damadian, Paul Lauterbur und Peter Mansfield zumeist drei Forscher oder Wissenschaftler genannt, die entscheidende Implementationen für die neue Bildgebungstechnik leisteten. Von besonderem Interesse sind für die vorliegende Untersuchung die Veränderung der digitalen Bilderstellung sowie die Entscheidung, wiederum Bilder als Ergebnisse auszugeben. Der amerikanische Mediziner Raymond Vahan Damadian erkannte 1971 an der State University of New York das diagnostische Potential der Magnet- oder Kernspinresonanz.107 Sein Interesse betraf deren Einsatz, um Unterscheidungen zwischen normalen beziehungsweise gesunden und von Krebs befallenen (menschlichen) Zellen zu treffen.108 In seinem Artikel Tumor Detection by Nuclear Magnetic Resonance109 betont Damadian, dass eine frühe Detektion interner Tumoren per Röntgenstrahlung durch die relativ hohe Durchlässigkeit des tumorösen Gewebes gestört wird; aus seiner Perspektive kombiniert die nukleare Magnetresonanz (NMR) die wünschenswerten Eigenschaften einer äußerlichen Messsonde für die Detektion von im Inneren des Körpers befindlichem Krebs. 110 Im Vordergrund der Argumentation stehen Messungen, also eine zahlenbasierte, quantitative Untersuchung des menschlichen Körpers von außen wie von innen. Dementsprechend ist fraglich, inwiefern Damadians Forschungen für die Bildergebnisse der Magnetresonanztomografie ausschlaggebend waren. Weder im ersten Artikel, noch im Patent für seine Apparatur 1972 macht der Mediziner eine Anmerkung dazu, die gemessenen NMR-Daten in anatomische Bilder oder überhaupt in Bilder umzuwandeln, sondern gab die Informationen als Zahlen aus. 111 Im weiteren Forschungsverlauf entwickelte Damadian aber 1978 FONAR (fieldfocused nuclear magnetic resonance) als Scan-Prozess, bei dem die Messungen zu einem Patienten ausgelesen und das Bild Voxel für Voxel und Linie für Linie
107 Vgl. ebd., S. 239. 108 Vgl. Prasad, Amit: „The (Amorphous) Anatomy of an Invention: The Case of Magnetic Resonance Imaging (MRI)“, in: Social Studies of Science 37/4 (2007), S. 533560, hier S. 536f. 109 Vgl. Damadian, Raymond: „Tumor Detection by Nuclear Magnetic Resonance“, in: Science 171/3976 (1071), S. 1151-1153. 110 Vgl. ebd., S. 1151. 111 Vgl. ebd., S. 1152; und vgl. K. A. Joyce: Magnetic Appeal, S. 31.
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erstellt wurde. Ein Jahr vorher präsentierte Damadians Team das erste magnetresonanztomografische Schichtbild eines menschlichen Brustkorbs, wobei die Bildgenerierung mehr als fünf Stunden gedauert hatte. Die Methode selbst überzeugte aufgrund ihrer Einfachheit, aber ihre langen Scan- und Rekonstruktionszeiten machten sie unpraktisch.112 Der Chemiker Paul Christian Lauterbur arbeitete ebenfalls an der State University of New York und konnte Damadians Ideen früh aufgreifen. Ihn interessierten die verschiedenen Relaxationszeiten von normalem Gewebe und er entschied, dass die aus den Messungen erhaltenen Informationen zu einer neuen, anatomische Bilder produzierenden Technologie führen könnten. 1973 veröffentlichte der Chemiker seine Ergebnisse in dem Artikel Image Formation by Induced Local Interactions: Examples Employing Nuclear Magnetic Resonance in der Zeitschrift Nature.113 Dabei kennzeichnet der erste Satz des Artikels die an Bildergebnissen orientierte Ausrichtung des Chemikers: „An image of an object may be defined as a graphical representation of the spatial distribution of one or more of its properties.“114 Lauterbur beließ es in seinem Artikel nicht nur bei der Schilderung, wie grafische Ergebnisse über verschiedene Projektionen zu erzeugen seien, sondern betonte die Anwendung dieser Technik im Bereich der in vivo-Forschung zu bösartigen und malignen Tumoren.115 Er nutzte die Fouriertransformation, wie sie 1966 von Richard R. Ernst und Weston A. Anderson beschrieben wurde, um das Signal ähnlich der computertomografischen Technik grafisch darzustellen und ein Bild zu kreieren.116 Bezogen auf die Bildentscheidung ist zu betonen, dass sich Damadian erst nach Lauterburs Erörterungen zur Bildgebung der Entwicklung der bildgebenden Apparatur zugewandt hat.117 Ebenfalls 1973 veröffentlichte der britische Physiker Peter Mansfield, der die magnetische Kernspinresonanz für die Gewinnung räumlicher Informationen in
112 Vgl. D. Gobo: Localization Techniques, S. 239. 113 Vgl. Lauterbur, Paul C.: „Image Formation by Induced Local Interactions: Examples Employing Nuclear Magnetic Resonance“, in: Nature 242/5394 (1973), S. 190-191. 114 Ebd., S. 190. 115 Vgl. ebd., S. 191. 116 Vgl. D. Gobo: Localization Techniques, S. 239. 117 Vgl. A. Prasad: The (Amorphous) Anatomy of an Invention, S. 539 u. S. 543.
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der Festkörperphysik nutzte, seine Ideen mit dem Titel NMR ‘diffraction’ in solids? im Journal of Physics, C.118 Seine Forschungen betrieb Mansfield am Department of Physics der University of Nottingham und wurde Anfang der 1970er Jahre durch den Physiker Andrew A. Maudsley unterstützt. Interessant ist dabei die Veröffentlichung Planar spin imaging by NMR der beiden Physiker 1976 im Journal of Physics, C.119 Von Anfang an wird die nukleare Magnetresonanz in einer bildgebenden Methode (new method of imaging) beschrieben, die nach Mansfield und Maudsley die gleichzeitige Beobachtung und Differenzierung der Spinsignale erlaubt. Dabei setzen sie sich von vorherigen Forschungsergebnissen und den darin beschriebenen Linienscan-Bildgebungsmethoden (line-scan imaging methods) ab.120 Lauterbur wird dabei mit seinen Veröffentlichungen von 1973 und 1974 explizit erwähnt. Der Artikel verdeutlicht, dass 1976 verschiedene Varianten der Verbildlichung von magnetresonanztomografischen Messsignalen publiziert worden waren und durchaus erste Überlegungen angestellt wurden, welche wissenschaftlichen Bereiche sich zur Implementierung der neuen Methode anbieten: Mansfield und Maudsley ging es um die durch Kernspinresonanz und Signale erhaltenen Informationen zu dreidimensionalen Objekten, die zweidimensional als Bilder ausgegeben werden. Zugleich brauchte es eine akzeptable Zeitspanne für die bildliche Ausgabe der Signale, damit die Technik als biologische oder medizinische Bildgebung für lebendige Tiere und Menschen nutzbar gemacht werden konnte.121 Die Entwicklungen vor der Implementierung der Magnetresonanztomografie in der klinischen Radiologie zeigen, dass die Forschergruppen Erkenntnisse einbezogen, die zeitgleich die technische Entwicklung der Computertomografie prägen; vor allem sind es Verfahren der Signalaufnahme und der Transformation des Signals durch den Computer in bildliche Ergebnisse, die zu Variationen der Apparaturen und Methoden führen. In den Jahren 1976 und 1977 untermauern die Forschergruppen ihre Tätigkeiten außerdem mit Bildergebnissen, die klar auf den medizinischen Kontext und Gebrauch verweisen. Der 1977 durch Damadians Gruppe produzierte Brustkorbscan wurde schon erwähnt; Peter Mansfield und
118 Vgl. Mansfield, Peter/Grannell, P. K.: „NMR ‚diffraction‘ in solids?“, in: Journal of Physics, C: Solid State Physics 6/22 (1973), S. 422-426; und vgl. K. A. Joyce: Magnetic Appeal, S. 33. 119 Vgl. Mansfield, Peter/Maudsley, Andrew A.: „Planar spin imaging by NMR“, in: Journal of Physics, C: Solid State Physics 9/15 (1976), S. 409-412. 120 Vgl. ebd., S. 409. 121 Vgl. ebd.
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Andrew A. Maudsley schließen 1977 mit magnetresonanztomografischen Verbildlichungen des Fingers122 an und lassen 1978 ebenfalls ein erstes Schichtbild des menschlichen Körpers123 folgen. In beiden Artikeln, mit denen das Bildmaterial im British Journal of Radiology vorgestellt wird, betonen Mansfield und Mitarbeiter, dass ihre Methoden klinischen Wert in der medizinischen Diagnose haben und aufgrund ihrer Ergebnisse bei normalem und krankem Gewebe einen guten Bildkontrast bei tumorösen Regionen gegenüber gesundem Gewebe ergeben. Zwar befürworten Mansfield und Maudsley für den präzisen Vergleich der Messwerte die numerische Ausgabe, arbeiten aber bezogen auf die Bildergebnisse mit linearen Grauwertskalen und der Fenstertechnik, um die Signalintensitäten visuell einordnen zu können.124 Wenn die Frage nach den Bildergebnissen der Magnetresonanztomografie gestellt wird, ist das komplexe Geflecht von wissenschaftlichen oder ökonomischen Motivationen sowie von kollegialen Kontakten und wirtschaftlich begründeten Einzelforschungen zu berücksichtigen.125 Für die vorliegende Untersuchung ist allerdings der Umstand der spezifisch medizinischen Ausrichtung der Mess- und Bildergebnisse in einigen der ersten Artikel interessant. Denn mit dem Ziel, als mögliche Abnehmer die medizinische Klientel anzusprechen, werden die Weichen für eine Annahme der Technologie durch die Radiologie gestellt. Das gehäufte Vorkommen von medizinisch motivierten Bildergebnissen zu Dokumentationszwecken der naturwissenschaftlich geprägten Artikel lässt sich beispielsweise mit dem medizintechnischen Markt in Verbindung bringen; dieser hatte sich um 1977 für die Computertomografie stabilisiert, so dass gerade multinationale Konzerne wie Siemens, General Electrics (GE) oder Philips ihr Interesse auf die neue Modalität richteten und die Forschungen finanziell unterstützten. 126 Die Veröffentlichungen zur und Spezifizierungen der Technologie mündeten 1980 an der Universität von Aberdeen (Schottland) in ersten magnetresonanztomografischen Schnittbildern von Extremitäten, Gehirn und Brustkorb und der expliziten Aufnahme der Magnetresonanztomografie als diagnostischer Bildgebungstechnik. In
122 Vgl. Mansfield, Peter/Maudsley, Andrew A.: „Medical Imaging by NMR“, in: British Journal of Radiology 50/591 (1977), S. 188-194. 123 Vgl. Mansfield, Peter u. a.: „Human whole body line-scan imaging by NMR“, in: British Journal of Radiology 51/611 (1978), S. 921-922. 124 Vgl. P. Mansfield/A. Maudsley: Medical Imaging by NMR, S. 190ff. 125 Vgl. K. A. Joyce: Magnetic Appeal, S. 35. 126 Vgl. S. S. Blume: Insight and Industry, S. 207f.
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Aberdeen hatte der Biologe John Mallard ebenfalls 1974 mit einem Forschungsteam zur nuklearen Magnetresonanz begonnen und 1976 den ersten Scanner konstruiert.127 Ein unkritischer Rückblick auf diese Geschehnisse erzeugt den Eindruck einer schnellen und problemlosen Einführung der neuen Technik in die Radiologie, insofern es sich ähnlich der Computertomografie um „eines der spektakulärsten und erfolgreichsten Ereignisse in der Geschichte der medizinischen Bildgebung“ 128 handelt. Der erneut konstruierten Opposition von revolutionärer gegenüber konventioneller Technik möchte ich abschließend Aspekte hinzufügen, die diesem Fortschrittsoptimismus Einhalt gebieten: Zwar werden die Möglichkeit der beliebigen Orientierung der Schichtbilder (axial, koronar, sagittal) und der Einsatz einer nicht-ionisierenden Strahlung als besondere Vorteile gegenüber der Computertomografie hervorgehoben.129 Aber es finden sich ebenso Belege, dass die Medizintechnik in ihren Veröffentlichungen den teilweise beträchtlichen (finanziellen) Aufwand verteidigen musste, den sie zur Einführung der Magnetresonanztomografie betrieben hat.130 Weiter ist die neue Technologie keineswegs reibungslos in die Radiologie integriert worden. Schon aus den Reihen der Entwickler erfolgten Widersprüche, wie beispielsweise durch John Mallard, der 1981 vor dem Royal College of Radiology erklärte, dass die aus der Magnetresonanztomografie stammenden Bilder nicht mit schon bekannten Ergebnissen aus der Computertomografie oder der Röntgentechnik verglichen werden dürfen. Die neuen Bildergebnisse basierten essentiell auf biologischen Werten und biologischer Forschung, so dass laut Mallard die Bildinterpretation eher einer biologischen Autorität zuzusprechen sei.131 Durch den Einsatz der Gerätehersteller wie auch der radiologischen Institutionen war die Installation in den ehemaligen Röntgenabteilungen der Kliniken jedoch schnell bestimmt. Als die Radiologen als Abnehmer feststanden, veränderten ihre Traditionen und Vorlieben rückwirkend die Geräte selbst: Sie waren nicht an Zahlenwerten oder Farbdarstellungen interessiert, wie physikalische und chemische Entwickler sie implementiert hatten, sondern präferierten die ihnen bekannten Grauwertdarstellungen (wie bei Röntgen und Computertomografie) als Ergebnisausgabe.132
127 Vgl. D. Gobo: Localization Techniques, S. 239. 128 A. Luiten: Magnetresonanzbildgebung, S. 1. 129 Vgl. Siemens, UB Med 29 (1982), S. 3 und S. 18. 130 Wie bspw. bei der Siemens AG, vgl. Siemens, UB Med 29 (1982), S. 3. 131 Vgl. S. S. Blume: Insight and Industry, S. 218. 132 Vgl. K. A. Joyce: Magnetic Appeal, S. 39.
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Vor diesem historischen Hintergrund ist zunächst eine kurze Erläuterung der magnetresonanztomografischen Technik notwendig, um in der weiteren Argumentation Parallelen zur Computertomografie, wie etwa die tomografische Methode und die Grauwertdarstellungen, aufzugreifen und gleichzeitig die expliziten Unterschiede sowie Schwierigkeiten der neuen Modalität, wie beispielsweise die Relaxationszeiten menschlichen Gewebes, zu diskutieren. 4.2.1 Technische Details und (Bild-)Theorie der Magnetresonanztomografie Im Gegensatz zu Röntgentechnik und Computertomografie werden bei der Magnetresonanztomografie magnetische Felder genutzt, um Strukturen im Inneren des menschlichen Körpers zu verbildlichen. Die Grundlage bildet dabei der sogenannte Kernspin des Wasserstoffatoms; insofern der Wassergehalt des menschlichen Körpers durchschnittlich zwischen 55 bis 60 Prozent des gesamten Körpergewichts ausmacht, bieten die im Menschen vorhandenen Wasserstoffatome eine breite Messbasis.133 Chemisch und physikalisch erläutert, besitzt das Wasserstoffatom einen Kern, das Proton, das sich in einer Eigendrehung wie ein Kreisel um die eigene Achse bewegt – der Spin. Darüber hinaus besitzt das Proton ein magnetisches Moment, verhält sich also wie ein kleiner Stabmagnet, und kann von Magnetfeldern und elektromagnetischen Wellen beeinflusst werden. 134 Dieser Spin des Protons ist ausschlaggebend für die Messungen des Magnetresonanzsignals. Die wichtigsten Komponenten eines Magnetresonanztomografen aufgezählt, besteht dieser aus einem starken Magneten, der die Erzeugung eines statischen Magnetfeldes ermöglicht, mindestens drei Gradientenspulen im Inneren des Magneten für die drei Achsen Z, Y und X, einem Hochfrequenzsender und -empfänger beispielsweise in Form von Antennenspulen, diversen Spezialspulen und einem sehr leistungsfähigen Rechnersystem. 135 Der Magnet als erste Komponente erzeugt für heute installierte Geräte eine Stärke von 1,5 bis 3 Tesla, wobei supraleitende Magnete durchaus Feldstärken
133 Vgl. Schuster, Hans-Peter: „Störungen des Wasser-, Elektrolyt- und Säure-BasenHaushalts“, in: Wolfgang Gerok/Christoph Huber/Thomas Meinertz (Hg.), Die Innere Medizin. Referenzwerk für den Facharzt, Stuttgart 112007, S. 803-820, hier S. 808. 134 Vgl. L. Jäncke: Methoden der Bildgebung in der Psychologie, S. 23. 135 Vgl. ebd., S. 46; und vgl. Becht, Stefanie u. a.: Lehrbuch der röntgendiagnostischen Einstelltechnik, Heidelberg 62008, S. 533.
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von bis zu 10 Tesla produzieren können.136 Mit Tesla wird seit 1960 die magnetische Flussdichte bezeichnet; das Erdmagnetfeld liegt bei einer Stärke von 31 bis 48 Mikro-Tesla, das heißt die aktuell in der Medizin befindlichen Geräte setzen den menschlichen Körper der 30.000- bis 100.000-fachen Stärke der Erdanziehung aus. Dieses Magnetfeld richtet die im Körper befindlichen Spins der Wasserstoffkerne in Z-Richtung aus, auch Längsmagnetisierung genannt, die gleichzeitig der horizontalen Lagerung des Patientenkörpers im Gerät entspricht. In einem zweiten Schritt wird über die Antennen- oder Sendespule ein Hochfrequenzimpuls eingestrahlt, der dem beruhigten System menschlicher Körper durch eine elektromagnetische Welle mit hoher Frequenz, zumeist Radiowellen, Energie zuführt und das System darüber stört: Die in Z-Richtung liegenden Spins werden angeregt und ‚gekippt‘. Der Hochfrequenzpuls wird auch als 90°- oder 180°-Puls benannt, womit die neue Lage der Spins angegeben wird; zumeist erfolgt eine grundsätzliche Kippung um 90°, die zu einer Quermagnetisierung führt. Die Spins bauen mit ihrem eigenen magnetischen Moment und durch die zugeführte Energie ein quer zur Längsmagnetisierung (Z-Richtung) liegendes Feld auf. Allerdings möchten die Spins wieder in ihren Ursprungszustand zurückkehren und geben die zugeführte Energie während dieses Vorgangs langsam ab; sie erzeugen ein elektrisches Signal, das von den Empfängerspulen aufgenommen wird. Dieser Rückkehrprozess wird auch als Relaxation (Erholung) bezeichnet, wobei es sich um eine longitudinale Relaxation, die Rückkehr zur Längsmagnetisierung, handelt. Sie wurde zuerst durch Felix Bloch als T1-Relaxation benannt. Der Vorgang der Signalmessung ist bei der Magnetresonanztomografie sehr komplex: Es wird nicht nur die von den Spins wieder abgegebene Energie in Form von Wechselspannung an den Hochfrequenzempfängern aufgenommen (das MRSignal), sondern auch der Zeitabstand, wie lange die jeweiligen Spins brauchen, bis sie wieder im Ruhe- oder Ausgangszustand angekommen sind (also sämtlich zugeführte Energie abgegeben haben). Neben der T1-Relaxation (oder -Zeit) gibt es noch die für die Messung ausschlaggebende T2-Relaxation, die sich auf die Rotationsbewegungen der Spins und ihren untereinander stattfindenden Energieaustausch während der Quermagnetisierung bezieht. Beide Zeiten oder Prozesse, T1 und T2, sind unabhängig voneinander und können nach menschlichem Gewebe spezifiziert werden; beispielsweise sind für Wasser die T1- und T2-Zeiten iden-
136 Vgl. Nitz, Wolfgang R.: „Magnetresonanztomographie (MR)“, in: R. Kramme (Hg.), Medizintechnik (2011), S. 339-356, hier S. 354.
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tisch, bei anderen biologischen Geweben sind jedoch unterschiedliche Werte festgelegt.137 Damit lassen sich die drei entscheidenden Parameter der Magnetresonanztomografie benennen, die die Signalstärke der Messung beeinflussen: Die Protonendichte sowie die T1- und T2-Zeiten. Anhand der Tabelle zu Relaxationszeiten biologischer Gewebe bei unterschiedlichen Feldstärken von Lutz Jäncke (vgl. Tab. 1) lässt sich die Bedeutung dieser Parameter aufzeigen: Bei der Weißen Hirnsubstanz besagt die T2-Zeit in Millisekunden, dass nach 92 Millisekunden (plus/minus 22) der Energieaustausch der dort befindlichen Protonen abgeschlossen ist; die T1-Zeit von 540 Millisekunden (plus/minus 90) und für 0,5 Tesla besagt, dass nach dieser Zeit die in der Weißen Hirnsubstanz befindlichen Wasserstoffprotonen wieder in die Längsmagnetisierung (Z-Richtung) zurückgekehrt sind. Die Unabhängigkeit beider Zeiten wird hier deutlich, insofern das MR-Signal aufgrund der T2-Relaxation bereits in den ersten 100 bis 300 Millisekunden der Messung zerfällt, während sich die Längsmagnetisierung aufgrund der T1Relaxation erst nach 500 Millisekunden bis hin zu fünf Sekunden wieder aufgebaut hat. Tabelle 1: Relaxationszeiten biologischer Gewebe bei unterschiedlichen Feldstärken Gewebe
T2 [ms]
T1 [ms]
T1 [ms]
T1 [ms]
bei 0,5 T
bei 1,0 T
bei 1,5 T
Skelettmuskel
47 ± 13
550 ± 100
730 ± 130
870 ± 160
Leber
43 ± 14
330 ± 70
430 ± 90
500 ± 110
Niere
58 ± 24
500 ± 130
590 ± 160
650 ± 180
Fett
84 ± 36
210 ± 60
240 ± 70
260 ± 70
Graue Hirnsubstanz
101 ± 13
660 ± 110
810 ± 140
920 ± 160
Weiße Hirnsubstanz
92 ± 22
540 ± 90
680 ± 120
790 ± 130
Blut oxygeniert
181 ± 23
1434 ± 53
Blut deoxygeniert
254 ± 26
1435 ± 48
Quelle: L. Jäncke: Methoden der Bildgebung in der Psychologie, Tabelle 2, S. 31.
Bezüglich der Parameter ist also für die magnetresonanztomografische Bildgebung immer zu entscheiden, was genau gemessen werden soll: Protonendichte, 137 Vgl. L. Jäncke: Methoden der Bildgebung in der Psychologie, S. 23-30. Lutz Jäncke erläutert das Verfahren der Magnetresonanztomografie verständlich und ausführlich, weshalb ich bezüglich der hier nur kurz angeführten Funktionsweise auf seine Darstellung verweisen möchte.
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T1- oder T2-Relaxation. In der medizinischen Fachliteratur wird von ‚gewichteten‘ Bildern gesprochen: Es gibt protonen- oder dichtegewichtete neben T1- oder T2-gewichteten Aufnahmen. Als Ziel der Magnetresonanztomografie wird die Visualisierung anatomischer Strukturen angeführt; die genannten Parameter sind verantwortlich für die Stärke des gemessenen Signals und damit für die jeweilige Helligkeit (oder den jeweiligen Bildkontrast) im Bildergebnis.138 Da es sich, wie angeführt, um unterschiedliche Zeiten handelt, kann die Gewichtung bei einer Messung durch die Repetitionszeit (die Zeit zwischen zwei Anregungen) oder die Echozeit (die Zeitspanne zwischen Anregung und Messung des Signals) gewählt werden. Mit kurzen Repetitionszeiten werden T1-gewichtete Bilder erstellt, so dass Gewebe mit kurzer T1 hell, mit langer T2 dunkel erscheint; äquivalent erscheint bei kurzen Echozeiten Gewebe mit langer T1 dunkel und mit kurzer T2 hell. Fett, wässrigen Flüssigkeiten und damit auch Tumoren oder Entzündungsherden wird eine kurze T2-Zeit zugeschrieben, so dass sie auf T2-gewichteten Bildern hell erscheinen. Muskeln und Bindegewebe generieren dagegen dunkle Bildelemente.139 Wie bei der Computertomografie ist in erster Linie die leistungsfähige Rechnereinheit des Tomografen für die Bildrekonstruktion zuständig; die Grundlage der Berechnung bildet das gemessene Magnetresonanz-Signal, wobei die analogen Werte für die Computereinheit durch Analog-Digital-Wandler in ein digitales Signal transformiert werden. Die bisher beschriebenen Komponenten Magnet (-feld) und Hochfrequenzsender wie -empfänger sind grundsätzlich für die Erzeugung der Messwerte zuständig, die dann durch den Computer in Bildergebnisse oder ‚Grauwertebildrekonstruktionen‘ auf dem Monitor überführt werden. 140 Damit wechselt die Beschreibung der Apparatur von physikalisch-technischen zu informationstechnologischen Fragen; Gradientensysteme und spezielle mathematische Rechenverfahren werden für die Erzeugung räumlicher Informationen eingesetzt.141 Durch die selektive Schichtanregung in Z-Richtung werden in der Magnetresonanztomografie zwar Messdaten einer einzelnen Schicht des Körpers gewonnen, diese lassen sich aber bei der Berechnung des Bildes räumlich nicht zuord-
138 Vgl. ebd., S. 31. 139 Vgl. ebd., S. 34; und vgl. Weishaupt, Dominik/Köchli, Victor D./Marincek, Borut: Wie funktioniert MRI? Eine Einführung in Physik und Funktionsweise der Magnetresonanzbildgebung, Heidelberg 62009, S. 11. 140 Vgl. S. Becht u. a.: Lehrbuch der röntgendiagnostischen Einstelltechnik, S. 534. 141 Vgl. L. Jäncke: Methoden der Bildgebung in der Psychologie, S. 35.
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nen. Der Bildberechnung liegt die schon im Zusammenhang mit der Computertomografie erwähnte Bildmatrix zugrunde, die informationstechnologisch außerdem in Spalten und Zeilen angegeben wird. Um nun die bei einer Schichtanregung gemessenen Daten auch den Zeilen und Spalten und für die Bildmatrix sozusagen vom ersten Pixel links oben bis zum letzten Pixel rechts unten zuordnen zu können, braucht es Zusatzinformationen bei der Messung, die über die Komponente der drei gepaarten Gradientenspulen in Z-, Y- und X-Richtung erzeugt werden. Einfach ausgedrückt, überlagern die Gradientenspulen das statische Magnetfeld durch einen linearen Gradienten: Übertragen auf die Z-Richtung wird das Spulenpaar an Fuß- und Kopfende des Patienten installiert, so dass sich durch den Gradienten ein linear vom Kopf- zum Fußende des Patienten abfallendes Magnetfeld ergibt. Die Y-Richtung erstreckt sich von unten nach oben, also von der Nase zum Hinterhaupt, die X-Richtung geht in der horizontalen Ebene von links nach rechts, also vom linken zum rechten Ohr.142 Während der Messung werden die Gradientenspulen für die Ortskodierung – die räumlichen Informationen – zugeschaltet. Auf die aus der Messung hervorgehenden Werte wird die, selbst in der Mathematik als komplexe Berechnung angeführte, zweidimensionale Fourier-Transformation angewendet, um jedem Pixel einen bestimmten Ort oder Platz in der Bildmatrix zuzuweisen. Derart aufwendige Berechnungen sind erst durch hochkomplexe und schnelle Computer möglich geworden, was wiederum den starken Zusammenhang zwischen den digitalen Bildgebungsverfahren und der Computertechnologie unterstreicht. Die angeführten Grundlagen der Magnetresonanztomografie erlauben bei aller Kürze einen Einblick in die Komplexität der zugrunde liegenden Messungen und Rechnungen. Die Forschung zu den Relaxationszeiten der verschiedenen Gewebe und zu den drei spezifischen Parametern der magnetresonanztomografischen Bildgebung stellen einen essentiellen Aspekt dieses Verfahrens dar und dienen zugleich der Profilierung gegenüber der Computertomografie, die nur über einen Parameter – den Schwächungskoeffizienten – verfügt. Übertragen in den medizinischen Alltag stellen diese Vorgänge jedoch ein Problem dar, insofern den Radiologen wenig Zeit innerhalb medizinischer Routine bleibt, die chemischen, physikalischen und informationstechnologischen Aspekte parat zu haben und gleichzeitig effizient einzusetzen. Als letzter Bestandteil des bildgebenden Verfahrens sind die Messsequenzen oder auch Messprotokolle anzusprechen. Sie entstehen aus der Aufgabe, die Signale der einzelnen Voxel im Messablauf so zu koordinieren, dass daraus ein Bild
142 Vgl. ebd., S. 37.
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rekonstruiert werden kann; dabei gibt es viele Lösungen für das Problem und dementsprechend viele Sequenzen, die spezifische Vor- und Nachteile aufweisen. Grundsätzlich basieren sie alle auf einem dreiteiligen Schema: Zuerst bestimmen sie die selektive Anregung, bei der während des Hochfrequenz-Anregungspulses ein Gradientenfeld in Z-Richtung eingeschaltet wird. Es folgt die Phasenkodierung, bei der zwischen Anregung und Auslesen der Antennensignale (Hochfrequenz) ein weiteres Gradientenfeld in Y-Richtung zugeschaltet wird, um mit der Frequenzkodierung abzuschließen, bei der während des Auslesens der Antennensignale das Gradientenfeld in X-Richtung aktiviert wird.143 Die jeweilige Folge von Radiofrequenz- und Gradientenimpulsen wird über die Sequenz gesteuert, wobei in den kommerziell zu erwerbenden Magnetresonanztomografen in der Regel eine Vielzahl von ihnen vorinstalliert mitgeliefert werden, so dass der klinische Anwender die geeignete Sequenz auswählen muss.144 Die implementierten Programme unterscheiden sich allerdings bei den verschiedenen Geräteherstellern wie Siemens, Philips und anderen, da sie auf der jeweiligen Erfahrung und den Programmen der Entwickler basieren; sie umfassen neben der Abfolge für die verschiedenen Gewichtungen (Protonendichte, T1 oder T2) auch die drei möglichen Orientierungen (transversal, koronar und sagittal). Grundsätzlich haben die Sequenzen und Programme den Status von Angeboten an den jeweiligen Nutzer der bildgebenden Modalität, der entsprechend seiner Ausbildung oder aktueller Empfehlungen und Richtlinien das Messprotokoll modifizieren und abspeichern, also zum Bestandteil seiner eigenen (individuellen) Routine machen kann.145 Diese Varianz der Messprotokolle oder -sequenzen deformiert jedoch das ihnen zugrunde liegende wissenschaftliche Ideal von Reproduzierbarkeit und Vergleichbarkeit der jeweiligen Bildergebnisse. Darüber hinaus erschwert die Masse an Sequenzen, die mittlerweile für die magnetresonanztomografische Bildgebung entwickelt und vorgestellt wurde, einen einheitlichen und systematischen Überblick über sie zu geben. 1986 erfolgten erste Berichte über schnelle Scans, woran die Entwicklung der schnellen Spinecho- und Gradientenechoverfahren, sogenannte turbo-Sequenzen, anschloss.146 Einen weiteren Beitrag zur Vielfalt der Sequenzen leistete die Entwicklung der Geräte selbst, insofern schnell Systeme mit unterschiedlichen statischen Magnetfeldern zur Verfügung standen.
143 Vgl. Dössel, Olaf: Bildgebende Verfahren in der Medizin. Von der Technik zur medizinischen Anwendung, Berlin 2000, S. 309f. 144 Vgl. L. Jäncke: Methoden der Bildgebung in der Psychologie, S. 49. 145 Vgl. W. Nitz: Magnetresonanztomographie, S. 345. 146 Vgl. A. Luiten: Magnetresonanzbildgebung, S. 5.
Neue digitale Bildgebungsverfahren | 149
Somit offenbart sich neben der Komplexität der magnetresonanztomografischen Gewebeparameter eine Vielfalt an Messsequenzen und messtechnischen Bedingungen, die eine Bildproduktion sowie spätere -beurteilung erschweren. Insbesondere im Vergleich mit der Computertomografie ist abschließend zu betonen, dass es für die Magnetresonanztomografie „keine Normwerte für das Signal bestimmter Gewebe und keine definierte Einheit vergleichbar den Hounsfield-Units der Computertomographie [gibt, Anm. d. A.]. Die MRKonsole zeigt nur willkürliche Einheiten an, die diagnostisch nur verwertbar sind, wenn sie mit definierten, jeweils mitgemessenen Referenzmessproben verglichen werden können.“147
Die spezifischen Neuerungen des Verfahrens sowie die mit Hoffnung belegte Vielfalt an Informationen über den menschlichen Körper stellen sich als problembehaftet heraus; wiederum sieht die Radiologie ihre Aufgabe in der Klärung der Bildgebung, ihrer Grundlagen und Ergebnisse, wobei sich bezogen auf die Magnetresonanztomografie der Aspekt der Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit der Bildergebnisse zuspitzt, wie hier durch Bezug auf die Gewebeparameter und Messsequenzen angedeutet wurde. 4.2.2 Wissenschaftliches Objektivitätsideal II Die Reaktionen der radiologischen Fachzeitschriften sowie die Veröffentlichung erster magnetresonanztomografischer Atlanten erfolgen bei der Magnetresonanztomografie später, als es historisch für die Computertomografie der Fall gewesen ist: 1981 wird der erste Artikel in der RöFo148 publiziert und zwei Jahre später in Der Radiologe149. Eberhard Zeitler und Alexander Ganssen gehen in ihrem Text in der RöFo davon aus, dass sich aufgrund der völlig anderen Messgrundlage (T1, T2, Protonendichte) spezifisch andere Aussagen ergeben werden, also „dieses neue bildgebende System bei der Erkennung von Krankheiten einen
147 Vgl. S. Becht u. a.: Lehrbuch der röntgendiagnostischen Einstelltechnik, S. 536. 148 Vgl. Zeitler, Eberhard/Ganssen, Alexander: „Erste klinische Erfahrungen mit der Kernspintomographie (KST)“, in: RöFo 135/5 (1981), S. 517-523. 149 Vgl. Rinck, Peter A. u. a.: „NMR-Ganzkörpertomographie. Eine neue bildgebende Methode“, in: Der Radiologe 23/8 (1983), S. 341-346.
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Fortschritt bringt“150. Wiederum ist die Resonanz der Radiologie auf das neue Verfahren euphorisch und fortschrittsoptimistisch, wie beispielsweise Peter A. Rinck und Mitarbeiter in Der Radiologe das Fehlen ionisierender, für den menschlichen Körper schädlicher Strahlung sowie die Möglichkeit, neben Bildern der morphologischen Verhältnisse des Körpers auch Bilder der Funktionen zu erhalten, als Vorteile der Modalität aufzählen. Die Autoren vermuten, dass die NMR-Tomografie verschiedene radiologische Untersuchungsverfahren wie Röntgen oder Computertomografie ergänzen oder gar ersetzen werde.151 Übereinstimmend mit Zeitler und Ganssen in der RöFo heben auch Rinck et al. die drei Gewebeparameter der Magnetresonanztomografie hervor, die eingesetzt werden, um den bestmöglichen Kontrast im Bild zu erzielen und pathologische Veränderungen von Geweben zu identifizieren.152 Sie schreiben der Magnetresonanztomografie für Medizin und Radiologie mehrere bedeutende Erkenntnisvorteile zu, „die unser Verständnis für normale und pathologische Vorgänge im menschlichen Körper erweitern, neue Ansatzpunkte für die Diagnostik schaffen und Einblicke in den Organ- und Zellmetabolismus im lebenden Körper geben werden.“153 Aus bildwissenschaftlicher Perspektive und bezüglich der Abgrenzung vermeintlich revolutionärer versus traditioneller Verfahren ist interessant, dass die Akteure im Zusammenhang mit Professionalisierung und Spezialisierung die Möglichkeit sahen, aufgrund biophysikalisch begründeter Messwerte neue Einsichten sowie Aussagen den menschlichen Körper und seine Pathologien betreffend zu erhalten. Essentiell waren die Hoffnungen mit den Gewebeparametern verbunden, also den Relaxationszeiten T1 und T2 sowie der Protonendichte, die gemäß der zugrunde liegenden Theorie durch den Einsatz verschiedener Messsequenzen zu unterschiedlichen (Grauwert-)Kontrasten im rekonstruierten Bild führen. Ähnlich wie in der Computertomografie handelt es sich um quantitative Messungen, die über den Computer in Grauwertbilder umgewandelt werden. Bei der klinischen Einführung der Magnetresonanztomografie Anfang der 1980er Jahre waren Produktion und Rezeption der Bildergebnisse aus Perspektive der Radiologie ebenso klärungsbedürftig wie für Röntgentechnik und Computertomografie. Äquivalent zu der Herausarbeitung der Hounsfield-Einheiten für die Computertomografie, versuchte die Disziplin zuerst, die wichtigen Messwerte und Referenzen der drei biophysikalischen Gewebeparameter nachzuweisen. Durch
150 E. Zeitler/A. Ganssen: Erste klinische Erfahrungen mit der Kernspintomographie, S. 517. 151 Vgl. P. Rinck u. a.: NMR-Ganzkörpertomographie, S. 341. 152 Vgl. ebd., S. 343. 153 Ebd., S. 346.
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ein Ausschöpfen aller möglichen Messmethoden und vor allem durch die Auswertung der magnetresonanztomografischen Messungen mit Hilfe von quantitativen Verfahren sollten exakt bestimmte T1- und T2-Konstanten erarbeitet werden, um gutartige von pathologischen Gewebeveränderungen differenzieren zu können. Die Einführung von „definierten Zahlenwerten“ mit „ausreichender statistischer Sicherheit“ wurde als notwendig erachtet, „um bestimmte pathologische Veränderungen identifizieren und differenzieren zu können“154. Neue medizinische Begrifflichkeiten, die Anfang der 1980er Jahre in den Zeitschriften auftauchen, sind Sensitivität und Spezifität155 eines diagnostischen Verfahrens, wobei die Termini sowohl betriebswirtschaftliche als auch mathematisch-statistische Bezüge aufweisen. Für die neue Bildgebung wird erörtert, dass sich zwar pathologische Gewebeveränderungen wie Entzündungen, Nekrosen oder Ödeme prinzipiell in magnetresonanztomografischen Bildern darstellen lassen, Sensitivität und Spezifität des Verfahrens, also das Erkennen von pathologischen oder gesunden Strukturen, jedoch nicht ausreichend geklärt sind.156 Mitte der 1980er Jahre erfolgten die wichtigen Vergleiche und Prozesse der Referenzierung sowie Normierung der Bildgebung. Das neue Verfahren musste sich gegenüber etablierten Methoden bewähren und seine Möglichkeiten in Bezug auf die Diagnose von Krank- oder Gesundheit unter Beweis stellen. Dabei konstatieren die Radiologen 1985 beispielsweise für die Untersuchung des Gehirns, dass die Magnetresonanztomografie in vielen Fällen der Computertomografie vergleichbare Befunde liefert.157 Ebenso ließen sich die Technik und ihre differenti-
154 Friedburg, H./Bockenheimer, S.: „Klinische NMR-Tomographie mit sequentiellen T2-Bildern (Carr-Purcell-Spin-Echosequenzen)“, in: Der Radiologe 23/8 (1983), S. 353-356, hier S. 355. 155 Mit der Sensitivität (Empfindlichkeit) wird die Fähigkeit eines Diagnoseverfahrens angegeben, Kranke als krank zu identifizieren, während die Spezifität (Genauigkeit) angibt, inwiefern das Diagnoseverfahren Gesunde als gesund identifiziert. Beide werden in Prozentzahlen angegeben, die sich aus den Testresultaten der Diagnoseverfahren ergeben. Vgl. Roulet, Jean-François/Zimmer, Stefan: Prophylaxe und Präventivzahnmedizin, Stuttgart 2003, S. 13. 156 Vgl. H. Friedburg/S. Bockenheimer: Klinische NMR-Tomographie, S. 355. 157 Vgl. Assheuer, Josef u. a.: „Kernspinresonanztomographie und ihr anatomisch-pathologisches Korrelat“, in: Der Radiologe 25/5 (1985), S. 217-220, hier S. 217.
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aldiagnostische Bedeutung im Vergleich zur konventionellen Röntgentechnik definieren.158 Beide Aufarbeitungen zeigen jedoch auch, dass die Magnetresonanztomografie in ihrer Anfangszeit nicht zu derart neuen Ergebnissen oder Erkenntnissen führte, wie es im Rückblick für die Computertomografie und die Röntgentechnik der Fall gewesen ist. Gerade der Vorgang der Referenzierung der Bildergebnisse auf den zugrunde liegenden Gegenstand menschlicher Körper, wie er Mitte der 1980er Jahre durch vergleichende Untersuchungen magnetresonanztomografischer Aufnahmen mit pathologisch-anatomischen Schnitten und Daten gewährleistet wird, zeigt die immerwährende Problematik des Bildbezugs für die Radiologie auf.159 Stärker als bei der Computertomografie stellt sich bei der Magnetresonanztomografie die Frage, wie die gewebespezifischen Merkmale oder die Parameter Relaxationszeiten und Protonendichte, die eben das dem Bild zugrunde liegende Substrat kennzeichnen, im Bild dargestellt werden und demzufolge zu erkennen sind. Aus radiologischer Perspektive gewinnen die gemessenen und ins Bild gesetzten Parameter beim menschlichen Schädel erst dann diagnostische Bedeutung, „wenn es gelingt, die [Parameter, Anm. d. A.] mit dem neuropathologischen Substrat zu korrelieren.“160 Die Anbindung an den radiologischen Wissenshaushalt ist für das neue Verfahren und dessen Etablierung ebenso selbstverständlich wie der weiterhin wichtige Bezug zu Anatomie und Pathologie. In Bezug auf den Computer als unterstützendes Werkzeug in der Radiologie finden dezidiert bildanalytische Methoden Anwendung, um das anatomische Schnittbild mit magnetresonanztomografischen Aufnahmen zu überlagern und die jeweilige topografische Lage und die Form oder Größe der Befunde zu vergleichen.161 Ebenso werden exakte Beschreibungen des kernspintomografischen Erscheinungsbildes bestimmter Krankheiten wie beispielsweise der Multiplen Sklerose (MS) erstellt, um die Spezifität der Untersuchungen zu verbessern. 162 Zwischen 1984 und 1986 werden Artikel publiziert, die den Schwerpunkt auf die Profilierung der Magnetresonanztomografie als neuem bildgebenden Verfahren der
158 Vgl. König, H. u. a.: „Hochauflösende Kernspintomographie des Hüftgelenks unter Anwendung einer Helmholtz-Oberflächenspule“, in: RöFo 144/2 (1986), S. 204-209, hier S. 204. 159 Vgl. J. Assheuer u. a.: Kernspinresonanztomographie, S. 217; und vgl. Schörner, Wolfgang u. a.: „Das Erscheinungsbild der multiplen Sklerose im magnetischen Resonanztomogramm“, in: RöFo 142/5 (1985), S. 487-494, hier S. 493. 160 J. Assheuer u. a.: Kernspinresonanztomographie, S. 217. 161 Vgl. ebd., S. 220. 162 Vgl. Schörner u. a.: Das Erscheinungsbild der multiplen Sklerose, S. 487.
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Radiologie legen. Die Autoren konzentrieren sich auf die erwähnten Gewebeparameter und kommunizieren die Erwartung, nicht nur eine hervorragende Gewebedifferenzierung oder morphologische Differenzierung, sondern auch eine ausgezeichnete Gewebecharakterisierung zu ermöglichen. Mit der Gewebedifferenzierung ist in der Radiologie gemeint, dass über die durch den Computer rekonstruierten und im Bildergebnis dargestellten Grauwerte verschiedene anatomische Gewebetypen wie Fett, Muskulatur oder graue und weiße Hirnsubstanz zu unterscheiden sind und sich außerdem pathologische Veränderungen wie Tumore, Nekrosen, Ödeme oder Zysten erkennen lassen. Diese Leistung in der Betrachtung magnetresonanztomografischer Bildergebnisse wird von der Radiologie wie der Medizin allgemein anerkannt. Die Hoffnung auf bahnbrechende Erfolge durch die neue Modalität liegt allerdings in der Gewebecharakterisierung, die einen Schritt weiter geht und auf der theoretischen Annahme basiert, charakteristische Messund Parameterwerte für bestimmte pathologische Prozesse definieren zu können; dementsprechend müssten sich den erkannten pathologischen Prozessen auch pathohistologisch definierte Krankheiten zuordnen lassen – beispielsweise nicht nur ein Tumor ausgemacht, sondern dieser Tumor sofort aufgrund seiner Art im Tumor-Grading163 eingestuft werden können. Aber diese diagnostische Sicherheit stellt sich als problematisch heraus.164 Aus radiologischer Perspektive hat die Magnetresonanztomografie in den Artikeln Mitte der 1980er Jahre das Potential, das Fachgebiet von der Pathologie zu lösen; könnte über die Bildergebnisse des Verfahrens eindeutig diagnostiziert, das Gewebe also nicht nur differenziert, sondern auch charakterisiert werden, stände die Radiologie als diagnostische ‚Königsdisziplin‘ da, die über nicht-invasive Verfahren Gesund- und Krankheit des Menschen bestimmen kann. Doch die Resultate der Forschungsgruppen, wie sie ab 1986 vermehrt veröffentlicht werden, sind für die Disziplin enttäuschend: Verbanden die Radiologen mit der Magnetresonanztomografie die Hoffnung, definitiv und eindeutig zu einer Diagnose zu gelangen, müssen sie mehr und mehr erkennen, dass sie über die Messwerte der Gewebeparameter teilweise nicht einmal in der Lage sind, „eine Trennung zwischen pathologischen und normalen Strukturen zu ziehen.“165
163 Vgl. Wittekind, Christian F./Wagner, G.: TNM. Klassifikation maligner Tumoren, Heidelberg 62004, S. 1ff. Vgl. auch die Homepage der UICC, www.uicc.org. 164 Vgl. Higer, H. Peter/Bielke, G.: „Gewebecharakterisierung mit T1, T2 und Protonendichte: Traum und Wirklichkeit“, in: RöFo 144/5 (1986), S. 597-605, hier S. 597. 165 Ebd.
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Die hier angeschnittene radiologische Diskussion zur Magnetresonanztomografie kann auch als Streit um die Kontrastoptimierung innerhalb der Bildergebnisse betitelt werden. Bezogen auf die drei genannten Gewebeparameter stellt sich die Auswahl der geeigneten Messsequenzen und optimalen Sequenzparameter als wichtiges theoretisches und praktisches Problem der Bildgebung heraus. 166 Als Aufgabe innerhalb der Spezialisierung Radiologie wurde somit die Entwicklung eines Routinevorgehens für die Beurteilung von Magnetresonanzbildern bei klinischen Fragestellungen gesehen.167 Historisch präsentieren sich hier erneut Verfahren der Professionalisierung, als der Ausschuss Kernspintomographie der Deutschen Röntgengesellschaft am 23. Januar 1986 in Köln und am 20. November 1987 in München zwei Empfehlungen für den optimierten diagnostischen Einsatz des Verfahrens erarbeitet. Darauf Bezug nehmende, medizinische Überblicksliteratur betont jedoch, dass beide Empfehlungen zeitgebunden auf dem Stand der Technik anzusehen sind.168 Die immer wieder erwähnte rasante technische Entwicklung fordert der medizinischen Disziplin ständig neue Bestimmungen ab, wenn sie vor ihrem wissenschaftlichen Ideal die Standardisierung und Normierung des bildgebenden Verfahrens anstrebt. Dabei offenbart sich für die Magnetresonanztomografie stärker als bei der Implementierung der Computertomografie die Problematik des Bildergebnisses und dessen Mehrdeutigkeit, insofern sich die Übertragung der biophysikalischen Gewebeparameter in die Bildergebnisse und die Rückführung auf den menschlichen Körper als Bildreferenz als äußerst schwierig gestalten. Von Anfang an betonen die Radiologen in den Fachzeitschriften neben den Vorteilen der Parameter, durch die die Signalintensität des Bildes und damit dessen Kontrast beeinflusst werden können, auch die mit dieser Variabilität verbundene Gefahr der Fehlinterpretationen, „da gleiche Grauabstufungen keineswegs inhaltlich das gleiche bedeuten müssen.“169 Während in der Computertomografie und ihren Bildergebnissen Grauwerte und deren Abstufungen zumindest bei gleich eingestellter Werteskala
166 Vgl. Kölbel, G. u. a.: „Parametergewichtete MR-Bilder und ihre Optimierung: Theorie und Bildbeispiele für die FLASH-Sequenz im Vergleich zur Spinecho-Sequenz“, in: RöFo 148/6 (1987), S. 674-682, hier S. 679. 167 Vgl. Rinck, Peter A. u. a.: „Feld- und Temperaturabhängigkeit des Kontrastes in der Magnetresonanzbildgebung“, in: RöFo 147/2 (1987), S. 200-206, hier S. 201. 168 Vgl. Lissner, Josef/Seiderer, Manfred: Klinische Kernspintomographie, Stuttgart 2
1990, S. 642.
169 Semmler, Wolfhard/Felix, Roland: „Kontraste in der Kernspintomographie“, in: RöFo 141/3 (1984), S. 259-267, hier S. 259.
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visuell zu vergleichen sind, werden Bildhelligkeit und Kontrast magnetresonanztomografischer Bilder von einer Vielzahl von Parametern beeinflusst, deren Abhängigkeiten studiert werden müssen, um „die Bilder richtig zu interpretieren.“170 Die im Zusammenhang mit der Verfahrenserläuterung genannten Messoder Pulssequenzen verstärken die Variabilität der Bilderscheinungen und die Radiologen betonen 1984: „Die Grauabstufungen sind direkt nicht vergleichbar, auch wenn in den Bildern gleiche Gewebe mit ähnlicher Graustufe erscheinen.“171 In ähnlicher Weise verharrt die Problematik auch 1986, obwohl eine Vielzahl an Studien und Klärungsversuchen stattgefunden haben und deren Ergebnisse veröffentlicht worden sind: „Die Beziehung zwischen Bildkontrast und ursprünglichem Objektkontrast ist im MRI schwieriger als im konventionellen Röntgen oder in der Computertomographie, da mehr Objektparameter Einfluß auf das Bild nehmen und ihre relativen Beiträge sehr stark von den jeweils angewandten Bildgebungstechniken abhängen.“172
Die der magnetresonanztomografischen Bildgebung zugrunde liegende komplexe Theorie erleichtert die visuelle Bewertung des Bildmaterials keineswegs. Zwar sieht sich die Radiologie im Sinne einer (Bild-)Spezialisierung der Medizin in einer privilegierten und kompetenten Situation, muss allerdings erkennen, dass der bildlichen Interpretation Grenzen gesetzt sind. Vorrangig werden die vielfältig produzierten Ansichten der Magnetresonanztomografie (transversal, koronal und sagittal) im Vergleich zur Computertomografie betrachtet. 173 Förderlich ist dabei die erwähnte quantitative Ausrichtung der computertomografischen Auswertung in Bezug auf die Unterschiede numerischer Werte der Hounsfield-Skala, die in der Radiologie für die Relaxationszeiten der Magnetresonanztomografie aufgegriffen
170 Ebd. 171 Ebd., S. 266. 172 P. Rinck u. a.: Feld- und Temperaturabhängigkeit des Kontrastes, S. 201. 173 Vgl. Zeitler, Eberhard u. a.: „EKG-getriggerte NMR-Tomographie des Herzens“, in: RöFo 140/5 (1984), S. 487-493, hier S. 489; und vgl. Steinbrich, Wolfgang u. a.: „Erste Erfahrungen mit der magnetischen Resonanztomographie (MR) bei tumorösen Erkrankungen des Mediastinums und der Lungenhili“, in: RöFo 141/6 (1984), S. 629635, hier S. 630.
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wird, insofern eine rein bildliche und damit visuelle Differenzierung schwierig ist.174 Für beide Verfahren, Computer- wie Magnetresonanztomografie, ist somit die Frage nach der numerischen Ausgabe wichtig, wenn es um wissenschaftlichen Anspruch und Objektivitätsideal geht. Die Medizinische Informatik nutzt eben jene Crux im Bildumgang der Radiologie, um ihre eigene Position zu festigen und damit zugleich den radiologischen Bildumgang zu beeinflussen.
4.3 MEDIZINISCHE INFORMATIK UND ABBILDTHEORIE Die historische Analyse der radiologischen Bildgebung abschließend, ist auf die Rolle der Medizinischen Informatik zu verweisen. Sie wurde als zweite Bildkultur schon angesprochen: Computertechnologische Soft- und Hardware sind ausschlaggebend für die Produktion der radiologischen Bilder und beeinflussen ihre Erscheinung. Parallel mit der Digitalisierung steigt die Abhängigkeit der Radiologie von dieser Disziplin, was zu widerstrebenden Handlungen und Äußerungen führt. Auf der einen Seite ermöglicht die Medizinische Informatik immer bessere im Sinne von genaueren, detailreicheren und ‚wirklichkeitsnahen‘ Abbildungen, auf der anderen Seite befürchten die Radiologen, dass dieser Fortschritt dazu führt, dass sie durch Computer und deren Programme ersetzt werden. An der Selbstpositionierung der Medizinischen Informatik ist abzulesen, inwiefern sie die Diskussionen der Radiologie um möglichst objektive und (natur-) wissenschaftliche Verfahrensweisen für sich nutzen kann. Obwohl in den 1980er Jahren die tägliche Arbeit der Radiologie noch zu zwei Dritteln mit konventionellen Röntgenverfahren ausgeführt wird, sehen die Informatiker eine deutliche Verlagerung des Interesses auf computergesteuerte Abbildungsverfahren. 175 Die Softwareingenieure betonen ihre Programmsysteme in Verbindung mit dem (natur-) wissenschaftlichen Ideal und konstatieren, wie dieselben durch halbautomatische
174 Vgl. Rupp, N. u. a.: „Die klinisch-radiologische Bedeutung der verschiedenen Untersuchungsparameter in der NMR-Tomographie des Abdomens“, in: RöFo 139/4 (1983), S. 359-365, hier S. 364. 175 Vgl. Voegeli, Erich/Steck, W.: „Editorial. Von der Röntgenabteilung zum Institut für bildgebende Diagnostik“, in: Der Radiologe 25/2 (1985), S. 53-59, hier S. 55.
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und quantitative Analysen wertvolle Zusatzinformationen liefern können.176 Dabei beruhen die Vorteile der digitalen gegenüber der manuellen Technik oder anderer Verfahren darauf, dass sie auf „objektiven Schwellenwertbestimmungen“ oder weitgehend „automatischen Abgrenzungen der interessierenden Bildbereiche“ basiert, weshalb sie „genauer, besser reproduzierbar und im Allgemeinen auch weniger zeitaufwendig ist“177. Die Medizinische Informatik positioniert sich und die Radiologie vor dem Hintergrund eines wissenschaftlichen Objektivitätsideals und behauptet, dass erst durch das Werkzeug Computer die Masse an Informationen aus den Bildgebungstechniken zu bewältigen sei.178 In diesem Zusammenhang ist in den 1980er Jahren auf das Stichwort computergestützte Radiologie (CAR, computer assisted radiology) zu verweisen, das die stufenweise Installation von PACS und die Einführung von bildorientierten medizinischen Arbeitsplätzen für die computergestützte Darstellung, Kommunikation, Diagnose und Therapieplanung bezeichnet. Der zu beobachtende Trend ist das ‚filmlose‘ Krankenhaus, also die grundsätzliche Produktion, Interpretation und Archivierung digitalen Bildmaterials. Die Entwicklungen griffen Schlüsseltechnologien und Implementierungen der Informatik wie zum Beispiel Computer Vision, Computer Graphics, Modelling, Mensch-Maschine-Interaktion und computerunterstützte Diagnose auf.179 Es handelte sich um einen absolut gedachten Bild- und Medienumbruch, da selbst die bisher konventionellen Verfahren wie die Röntgentechnik digitalisiert und in PACS integriert wurden. Für die Bildkultur der Radiologie ist damit zugleich die Veränderung von materiell produzierten und anfassbaren zu virtuellen und nur betrachtbaren Ergebnissen gekennzeichnet. Nach dem Messtechniker Dietrich Meyer-Ebrecht steht der Begriff PACS „für den Ersatz des photografischen [sic] Bildes durch Technologien,
176 Vgl. Döhring, W./Linke, G.: „Ein Programmsystem zur quantitativen Auswertung von Computerprogrammen unter Anwendung einer digitalen Maskentechnik zur Isolierung interessierender Organe und Organbereich aus der CT-Wertematrix“, in: RöFo 144/2 (1986), S. 135-148, hier S. 135. 177 Ebd., S. 148. 178 1999 wird beispielsweise hervorgehoben, dass am Tag auf einer radiologischen Station etwa 170 Bilder pro Patient und 4.000 insgesamt produziert werden – eine Menge, die sich nur mit Hilfe des Computers bewältigen lasse. Vgl. Vorbeck, Friedrich u. a.: „Filmlose Magnetresonanztomographie. Vor- und Nachteile im Vergleich zur Filmbefundung“, in: Der Radiologe 39/4 (1999), S. 276-281, hier S. 276. 179 Vgl. Lemke, Heinz U.: „Computergestützte Radiologie“, in: Der Radiologe 28/5 (1988), S. 189-194, hier S. 189f.
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mit denen diagnostisches Bildmaterial durchgängig digital transportiert und gespeichert werden kann. Digitale Massenspeicher werden die traditionellen Filmarchive ablösen.“180 Dieses Zitat verdeutlicht neben den computerbasierten Umstrukturierungen, wie auch zum Ende der 1980er Jahre das Paradigma der Fotografie die Bildgebung in der Medizin beherrscht. Zwar handelt es sich bei computer- und magnetresonanztomografischen Bildern in keiner Weise um Fotografien, doch die Radiologie war seit der Einführung der beiden digitalen Verfahren durch die Computergrafik und ihren Aufgriff fotografischer Darstellungstradition beeinflusst. Insofern dort in den 1970er und 1980er Jahren „vor allem die Entwicklung von Algorithmen und Datenstrukturen für die fotorealistische Synthese von Bildern und das Modellieren dreidimensionaler Objekte im Vordergrund“181 stand, bleibt das Ideal einer möglichst realitätsnahen oder fotorealistischen Darstellung des menschlichen Körpers in den Bildergebnissen bestehen. Trotz der immensen Bemühungen der Medizinischen Informatik stellt sich in der diachronen Betrachtung die Diskrepanz heraus, dass zu Anfang der 1990er Jahre die vollständige Digitalisierung der radiologischen Abteilung und das filmlose Krankenhaus als notwendige Voraussetzungen der angestrebten Standardisierung gelten, sich die Umsetzung der Maßnahme aber problematisch gestaltet. 1991 finden sich erst wenige PAC-Systeme im klinischen Einsatz, wobei vor allem der Befund an der diagnostischen Konsole (workstation) noch nicht in die Routine übergegangen ist, sondern die Radiologen weiterhin am traditionellen Lichtkasten arbeiten.182 Anfang der 1990er Jahre bestehen rund 70 Prozent der in den Röntgeninstituten angefertigten Röntgenbilder aus den konventionellen Aufnahmen, während sich die übrigen 30 Prozent auf Computertomografie, digitale Radiografie, Ultraschall und Magnetresonanztomografie verteilen. 183 Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) informiert regelmäßig über die Entwicklungen
180 Meyer-Ebrecht, Dietrich: „PACS oder der zukünftige Arbeitsplatz des Radiologen“, in: Der Radiologe 28/5 (1988), S. 195-199, hier S. 195. (Herv. i. O.) 181 M. Bender/M. Brill: Computergraik, S. 1. 182 Vgl. Wiltgen, Marco u. a.: „PACS: Einsatz im Routinebetrieb“, in: Der Radiologe 31/1 (1991), S. 11-15, hier S. 11 und S. 14. 183 Vgl. Wenz, W. u. a.: „Digitalisierung konventioneller Röntgenaufnahmen“, in: Der Radiologe 32/9 (1992), S. 409-415, hier S. 409. Daniela Ohlendorf et al. belegen für 2005 an der Universität Heidelberg, dass Computertomografien etwa 6,1 Prozent der radiologischen Aufnahmen ausmachen. Vgl. Ohlendorf, Daniela u. a.: „Magnetresonanztomographie. Eine Density-equalizing-mapping-Analyse der globalen Forschungsarchitektur“, in: Der Radiologe 55/9 (2015), S. 796-802, hier S. 796.
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der radiologischen Bildgebungsverfahren; bei der Erfassung der Daten von 2007 bis 2014 stellte das BfS fest, dass CT-Untersuchungen in diesem Zeitraum um 40 Prozent zugenommen haben, die MRT-Untersuchungen sogar um 55 Prozent – trotzdem machen CT-Untersuchungen nur etwa zehn Prozent aller Bildgebungen aus.184 Mitte der 1990er Jahre erfolgt also die Feststellung, nach der es sich bei der PACS-Revolution eher um einen schleichenden Vorgang handelt, was die Radiologen in der mangelnden Kooperationsbereitschaft der elektromedizinischen Industrie verorten.185 Die Medizinische Informatik sieht die Hauptprobleme jedoch auf der Ebene des radiologischen Faches selbst: Die Radiologen arbeiten mit ‚Verteidigungsstrategien‘, um eine technisch mögliche, klinikweite Bildverteilung zu verhindern.186 Erst 2014 wird die vollständige Digitalisierung medizinischer Arbeitsabläufe behauptet.187 Heft 1 im Band 54 von Der Radiologe ist 2014 vollständig dem Thema Radiologischer Arbeitsplatz 2.0 gewidmet. Die „Zeit der Dunkelkammern, Entwicklungsmaschinen und Lichtkästen“ 188 sei in der Radiologie weitgehend vorbei. Artikel der Medizinischen Informatik sind seit den 1990er Jahren verstärkt in beiden Fachzeitschriften zu beobachten. Eine Neuerung betrifft die computerunterstützte Diagnostik (CAD, computer-aided diagnostics), deren Bestreben es ist, dem Radiologen eine Hilfestellung bei der Beurteilung von (Röntgen-)Bildern zu geben. Allerdings sind 1997 erst wenige CAD-Systeme und Softwarealgorithmen kommerziell verfügbar und außerhalb von Studien einzusetzen.189 Die CAD-Systeme werden auch als intelligente Computersysteme bezeichnet und beziehen sich auf Entwicklungen der künstlichen Intelligenz (KI).190 Die Entwickler hoffen, dass
184 Vgl. Bundesamt für Strahlenschutz (BfS): Röntgendiagnostik: Häufigkeit und Strahlenexposition, https://www.bfs.de/DE/themen/ion/anwendung-medizin/diagnostik/ro entgen/haeufigkeit-exposition.html vom 01.02.2019. 185 Vgl. Peters, Peter E./Imhof, H.: „PACS oder die schleichende Revolution“, in: Der Radiologe 34/6 (1994), S. 285. 186 Vgl. Gell, G.: „PACS-2000“, in: Der Radiologe 34/6 (1994), S. 286-290, hier S. 287. 187 Vgl. Pintos dos Santos, Daniel u. a.: „Teleradiologie – Update 2014“, in: Der Radiologe 54/5 (2014), S. 487-490, hier S. 487. 188 Herold, Christian/Mildenberger, Peter: „Radiologischer Arbeitsplatz 2.0“, in: Der Radiologe 54/1 (2014), S. 7-8, hier S. 7. 189 Vgl. Sittek, Harald u. a.: „Computerunterstütze Auswertung von Mammographien. Erste klinische Erfahrungen“, in: Der Radiologe 37/8 (1997), S. 610-616, hier S. 610. 190 Vgl. Ratib, Osman: „Architektur und Gestaltung von PACS-‚Workstations‘. Ein kritischer Überblick“, in: Der Radiologe 24/6 (1994), S. 300-308, hier S. 308.
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ihre Computersysteme die Rolle des zweiten Radiologen bei der Beurteilung der Bildergebnisse (second-reader-Konzept) übernehmen.191 Überlegungen dieser Art stehen auch im Zusammenhang mit der 1998 entwickelten elektronischen Patientenakte.192 Durch sie werden nicht nur alle Daten zum Patienten sowie dessen Bilder an jeder workstation verfügbar, sondern die im Krankenhaus ablaufenden Arbeitsprozesse kontrollier- und überprüfbar.193 Ende der 1990er Jahre wird auch das klassische Röntgenbild mehr und mehr durch digitale Aufnahmeverfahren ersetzt, so dass die Entwicklung zum vollständig digitalen Röntgeninstitut klar vorgezeichnet scheint.194 Dabei wird die Rolle der Radiologen als Bildexperten durch die Informatik in Frage gestellt, wenn die Disziplin erläutert, dass die computergestützte Diagnostik Bildanalysemethoden entwickeln soll, die die Interpretation des Radiologen nachbilden und ihn möglichst ersetzen195: „Die Bildanalyse hat zum Ziel, die Interpretation der Bilddaten durch den Betrachter durch den Computer automatisch durchführen zu lassen. Dieses Ziel ist dann erreicht, wenn mit der computergestützten Bildanalyse eine gleich gute oder sogar bessere Interpretation als durch den fachkundigen Betrachter erzielt wird.“196
Die Auswirkungen derartiger Vorhaben auf die Disziplin sind nicht zu unterschätzen. Die Radiologen sehen sich im Rahmen der Digitalisierung gegen Ende der 1990er Jahre mit einem Werkzeug konfrontiert, das aufgrund der ihm zugeschriebenen Objektivität die wahrscheinlich besten Auswertungen des Bildmaterials vornehmen kann. Es verwundert daher nicht, dass noch vor wenigen Jahren auf Kongressen die Angst der Radiologen aufscheint, dass der Computer oder die
191 Vgl. H. Sittek u. a.: Computerunterstütze Auswertung von Mammographien, S. 615. 192 Vgl. Zeller, Bärbel: „Auf dem Weg zur elektronischen Patientenakte. Das Bildarchivierungssystem Agfa IMPAX der Chirurgischen Klinik des Klinikums Innenstadt in München“, in: Der Radiologe 38/9 (1998), S. 141-152, hier S. 146. 193 Vgl. Adelhard, Klaus u. a.: „Aspekte der elektronischen Krankenakte in der Radiologie“, in: Der Radiologe 39/4 (1999), S. 310-315, hier S. 314. 194 Vgl. Flöhl, Rainer: „Röntgen bald ganz ohne Film. Digitalisierung durch Festkörperdetektoren“, in: Der Radiologe 38/10 (1998), S. M 156-M 157, hier S. M 156; und vgl. Hubauer, Heinrich/Lehr, Hans-Rudolf: „Akzeptanz der digitalen Bildverteilung eines ‚Filmlosen Krankenhauses‘“, in: RöFo 169/4 (1998), S. 412-419, hier S. 412. 195 Vgl. Schuhmann, D. u. a.: „Computergestützte Diagnostik basierend auf computergestützter Bildanalyse und 3D-Visualisierungen“, in: Der Radiologe 38/10 (1998), S. 799-809, hier S. 801. 196 Ebd., S. 805.
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Computertechnologien letztlich ihre Arbeit übernehmen und sie überflüssig machen könnten.197 Auf der anderen Seite lenkt die Medizinische Informatik selbst ein, wenn sie um 2000 konstatiert, dass noch kein Durchbruch in Bezug auf die digitale Befundung erreicht wurde. Statt des erhofften Computereinsatzes zur Diagnose wird die Befundung als Kern der radiologischen Tätigkeit (vgl. Kap. 6.2) weiterhin mit herkömmlichen Methoden vorgenommen. 198 Zuletzt ist für die Darstellung in Computer- und Magnetresonanztomografie noch einmal auf das Paradigma der Fotografie oder der realitätsnahen Abbildung zu verweisen. Bezogen auf die grundsätzliche Darstellungsfrage, die insgesamt die Überlegungen der Radiologie wie auch der mittlerweile zum Bestandteil radiologischer Bildgebung gewordenen Informatik durchzieht, steht mehr und mehr eine möglichst realitätsnahe Präsentation des menschlichen Körpers im Fokus. Schon 1999 werden Fortschritte in der Computertechnik betont, die Volumen-Rekonstruktionen zu einem flexiblen und schnellen Werkzeug der radiologischen Diagnostik gemacht haben, so dass sich bezogen auf die Computertomografie „realitätsnahe farbige 3D-Rekonstruktionen“199 erstellen lassen. Die Informatik betont die Visualisierung, da sie unterschiedliche automatisierte und interaktive Methoden entwickelt hat, „um eine realitätsnahe Präsentation der Bilddaten und eine gezielte Darstellung therapierelevanter Informationen mittels computergestützter Modelle zu ermöglichen.“200
197 Die Zwiespältigkeit der gesamten Haltung konnte ich beim Besuch der „56. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für klinische Neurophysiologie und funktionelle Bildgebung“ (15.-17. März 2012, Köln) erleben. Prof. Dr. Peter H. Weiss-Blankenhorn verwies einerseits auf den Segen des Computerfortschritts, insofern bei neuen Computern „nichts mehr unmöglich“ ist. Zugleich äußerte er im Zusammenhang mit den Problemen für vollautomatische Systeme und einer Studie, die besagt, dass Neuroradiologen besser als Computer zu interessierende Bildbereiche kennzeichnen: „Es ist erbaulich, dass wir nicht arbeitslos werden, auch wenn die Computer immer besser werden.“ (Die Aufzeichnungen sind Mitschriften, die von mir am 16.03.2012 während des Tagungsbesuchs und des Curriculums „Grundlagen Funktionelle Bildgebung (Schwerpunkt motorisches System)“ festgehalten wurden.) 198 Vgl. Peitgen, Heinz-Otto/Preim, Bernhard: „Virtuelle Realität in der Radiologie. Zwischen Hoffnung und Dilemma“, in: Der Radiologe 40/3 (2000), S. 203-210, hier S. 205. 199 Rieker, Olaf u. a.: „Farbkodierte Volumen-Rekonstruktionen zur dreidimensionalen Darstellung von CT-Daten“, in: RöFo 170/1 (1999), S. 109-111, hier S. 111. 200 F. Dammann: Bildverarbeitung in der Radiologie, S. 545.
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Die Radiologen erläutern 1999, dass das Ziel der radiologischen Bilder die Vermittlung eines Bildes des (menschlichen) Körpers oder seiner Gestalt ist. Es sollen am besten alle Organsysteme abgebildet werden, um im Sinne der Pathomorphologie die Umwandlung der gesunden in die durch Krankheit verwandelte Gestalt erkennen zu können. Bezogen auf die aus der Informatik angeführten dreidimensionalen Darstellungsweisen erklären die Radiologen, dass den bisher eingesetzten zweidimensionalen, statischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen die Dimensionen des menschlichen Körpers fehlen. Konkret versuchen sie „also den Menschen so abzubilden, wie es seiner Gestalt entspricht.“201 Neben der fehlenden Dimensionalität oder Räumlichkeit der Darstellungen zeigt sich der menschliche Körper nicht in Grauwerten, weshalb die Radiologen die Farbkodierungen testen. Außerdem ist der menschliche Körper nicht stillgestellt, sondern geprägt durch Bewegung und seine Funktionen, weshalb eine dynamische Bildgebung gefordert wird.202 Es ist auffällig, wie stark die Realitätsnähe hier einer Abbildfunktion entspricht: Die Darstellungen in der Radiologie sollen nicht nur Mehrdimensionalität und Farbgebung des eigentlichen Untersuchungsgegenstandes aufgreifen, sondern sogar die Belebtheit des menschlichen Körpers in die Bilder überführen. Allerdings werden die hier genannten Beschreibungen durch den radiologischen Autor sofort wieder mit Maßeinheiten in Verbindung gebracht, insofern das Messen eine größere Genauigkeit und eine höhere Reproduzierbarkeit der Untersuchungsergebnisse gewährleistet und es der Radiologie eben nicht darum gehen sollte, „in bild- sprich selbstverliebter, meist akademischer Schau Dinge zu produzieren, die allenfalls ästhetischen Belangen genügen“203. Die Forderung lautet, nicht nur qualitativ, sondern ebenfalls quantitativ zu bewerten sowie daraus entstehende Informationen zu nutzen, und sich somit dem schon beschriebenen wissenschaftlichen Ideal zu fügen. Zugleich trifft eine Formulierung des Mediziners Matthias Heller 1999 den Kern des Bildhaften, wenn er sein Verständnis des Begriffs Biomedical Imaging beschreibt: „Ich verstehe darunter das Umsetzen normaler und krankhafter biologischer Prozesse in Bilder, die eine eigene Wirklichkeit wiedergeben.“204 Diese Wirklichkeit findet aber nicht genügend Berücksichtigung, wenn die Radiologen – wie in der vorliegenden Untersuchung dargelegt – auf der Grundlage des wissenschaftlichen Ideals nach objektiven Maßeinheiten urteilen und den visuellen Eindruck des Bildes vernachlässigen.
201 Heller, Matthias: „Radiologische Horizonte. Diagnostische Radiologie. Bild, Anspruch und Wirklichkeit“, in: RöFo 171/8 (1999), S. 177-180, hier S. 178. 202 Vgl. ebd. 203 Ebd. 204 Ebd.
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Im Zusammenhang mit der zitierten Überlegung, den Menschen so abzubilden, wie es seiner Gestalt entspricht, zeigt sich, dass in der Radiologie durchaus verschiedene Darstellungsentscheidungen durchdacht werden; letztlich ist es aber immer das naturwissenschaftliche Objektivitätsideal von Maß und Zahl, das als entscheidendes Kriterium der Verbildlichung herangezogen wird.
5
Produktion von Computer- und Magnetresonanztomografien
Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit radiologischer Bilder lassen sich über die historische Analyse hinausgehend für die Vorgänge der Bildproduktion und -rezeption in der Radiologie unterstreichen. Dabei orientieren sich die Mediziner an standardisierten und normierten Prozessen, um möglichst eindeutiges Bildmaterial zu erhalten – um letztlich an der Deutung der Bilder scheitern. Da die Unsicherheiten nicht erst in der Rezeption entstehen, wird im Folgenden zuerst die Produktion von Computer- und Magnetresonanztomografien im Vergleich erläutert, um eine teleologische Sinngebung derselben zu unterstreichen. Vorarbeiten aus der Medizinischen Bildverarbeitung heranziehend, werden Produktion und Rezeption radiologischer Bilder dort in einem analytischen und schrittweisen Ablauf beschrieben, damit Informatiker und Programmierer auf verschiedene Anforderungen ihres Zielklientels reagieren können. Digitale Bildverarbeitung lässt sich in Bilderzeugung, Bilddarstellung, Bildspeicherung und Bildauswertung einteilen.1 Der Informatiker Thomas M. Lehmann hat 2005 eine mögliche, systematische Schilderung der radiologisch-klinischen Routine veröffentlicht, die aus sieben Schritten besteht und die im Folgenden zur Orientierung und Übersichtlichkeit der Abläufe herangezogen wird. Es handelt sich dabei um (1) die Darstellung des klinischen Problems, (2) die Spezifizierung und Planung der (bildgebenden) Untersuchung, (3) die Durchführung der bildgebenden Untersuchung, (4) die Befundung der Untersuchungsergebnisse, (5) die Berichterstellung und Kommunikation der Ergebnisse, (6) die Qualitätskontrolle der Arbeitsschritte
1
Vgl. Lehmann, Thomas M./Hiltner, Jens/Handels, Heinz: „Medizinische Bildverarbeitung“, in: T. M. Lehmann u. a. (Hg.), Handbuch der Medizinischen Informatik (2005), S. 361-424, hier S. 363.
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eins bis fünf sowie (7) die kontinuierliche Fort- und Weiterbildung der Radiologen.2 Die nachfolgend in der Analyse separierten Vorgänge der Bildproduktion und -rezeption fließen in diesem Schema zusammen, wie es für die tägliche Routine typisch ist. Die Schritte eins bis drei markieren die Schwerpunkte der Produktion (Kap. 5) und die Schritte vier und fünf der Rezeption (Kap. 6), während sechs und sieben übergreifende Aspekte hervorheben. Der radiologische Prozess beginnt nach Lehmann im ersten Schritt mit der Darstellung des klinischen Problems durch den Arzt, der die radiologische Untersuchung anfordert; diesem Schritt liegen die Fachbegriffe Diagnose, Anamnese und Indikation zugrunde: Die radiologische Routine stellt einen Bestandteil des arbeitsteiligen Prozesses in der modernen Medizin dar, der auf die Diagnose (griech. διάγνωσις, diágnōsis = Dazwischen-Wissen)3 ausgerichtet ist. In der Medizin gilt die Diagnose als Entscheidungsgrundlage: Der behandelnde Arzt beurteilt die subjektiven Beschwerden sowie die objektiven Befunde eines Patienten und formuliert auf dieser Grundlage weitere Handlungsanweisungen (Therapie). 4 Computer- und Magnetresonanztomografie gelten als diagnostische Verfahren, die zur Erhebung objektiver Befunde eingesetzt werden. Für die Findung einer Diagnose erhalten die Radiologen vom behandelnden Arzt einen Auftrag, der als Indikation bezeichnet wird: Ergibt sich aus der Anamnese (griech. ἀνάμνησις, anámnēsis = Erinnerung)5 und der körperlichen Untersuchung durch den behandelnden Arzt ein begründeter Entschluss zu Handlungen oder Handlungsfolgen, werden diese in der Medizin wie auch im Medizinrecht und der Medizinethik allgemein als Indikation benannt.6 Dementsprechend kann eine Indikation auch die
2
Vgl. T. M. Lehmann: Digitale Bildverarbeitung für Routineanwendungen, S. 22f.
3
Vgl. F. Stahnisch: Nosologie der Dritten Dimension, S. 147.
4
Vgl. Battegay, Edouard u. a.: „Allgemeine Aspekte zur Diagnose und Differenzialdiagnose“, in: ders. (Hg.), Siegenthalers Differenzialdiagnose. Innere Krankheiten – vom Symptom zur Diagnose, Stuttgart 202013, S. 34-54, hier S. 34.
5
Bei der Anamnese handelt es sich allgemein um das Darstellen von Vergangenem (siehe Erinnerung), wobei in der Medizin die Anamnese als Erhebung der medizinischen Vorgeschichte und aktuellen Befindlichkeit eines Patienten verstanden wird. Vgl. Grüne, Stefan: „Anamnese“, in: ders./Jürgen Schölmerich (Hg.), Anamnese – Untersuchung – Diagnostik, Heidelberg 2007, S. 15-28, hier S. 16.
6
Vgl. Lanzerath, Dirk: „Was ist medizinische Indikation? Eine medizinethische Überlegung“, in: Ralph Charbonnier/Klaus Dörner/Steffen Simon (Hg.), Medizinische Indikation und Patientenwille. Behandlungsentscheidungen in der Intensivmedizin und am Lebensende, Stuttgart 2008, S. 35-52, hier S. 35.
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Anordnung einer bildgebenden Untersuchung umfassen und die Überweisung eines Patienten vom behandelnden Arzt an einen Radiologen betreffen.7 Dem Radiologen obliegt im zweiten Schritt die Prüfung der Indikation, da er in der Zusammenarbeit mit dem behandelnden Arzt als Spezialist für die bildgebenden Methoden gilt.8 Er verfügt über das Wissen, ob aufgrund der bisherigen Datensammlung zum jeweiligen Patienten beispielsweise eine computer- oder magnetresonanztomografische Untersuchung vertretbar und sinnvoll ist. Bei der späteren Analyse der Bildproduktion in der vorliegenden Studie ist dieses Wissen besonders aufmerksam zu betrachten, da es Kontext- und Vorwissen sowie radiologische Erfahrung umfasst, die Auswirkungen auf die Ergebnisse der Bildgebung haben. Die Sozialwissenschaftlerin Regula V. Burri beschreibt 2008, dass die Akteure dem Prozess der Bildherstellung einen ‚teleologischen Charakter‘ zuschreiben, „der dadurch zum Ausdruck kommt, dass der materielle Produktionsprozess immer zugleich auf die Herstellung sinnhafter Bilder gerichtet ist. Dabei kann die technische Generierung der Visualisierung nur erfolgen, beziehungsweise ist nur dann sinnhaft, wenn Kontext- und Vorwissen eingebracht wird.“9 Lehmann berücksichtigt diese Umstände, insofern er als zweiten Schritt des Arbeitsprozesses nicht nur die Spezifizierung und Planung der Untersuchung durch den Radiologen sondern ebenfalls die Prüfung der Indikation sowie die Auswertung der notwendigen Patientenanamnese anführt.10 Den Protagonisten der Medizinischen Bildverarbeitung ist bewusst, dass in diesem Ablauf verschiedene Informationen und Wissensbestände zusammenfließen und die jeweiligen Entscheidungsgrundlagen in ein komplexes Geflecht transformieren, aus dem im dritten Schritt die Durchführung der eigentlichen, bildgebenden Untersuchung hervorgeht. Für Lehmann ist die Durchführung von besonderer Bedeutung, da an dieser Stelle Methoden der Medizinischen Bildverarbeitung zur Bilderzeugung und -speicherung eingesetzt werden; die Untersuchungs-
7
Die Darstellung dieser Prozesse und Abläufe erfolgt hier in einer verallgemeinernden Art und Weise. Allein die genannte Überweisung kann durch verschiedene Verhältnisse geprägt sein, wenn beispielsweise der behandelnde Arzt ein niedergelassener Allgemeinmediziner ist und den Patienten an die radiologische Abteilung der UniversitätsKlinik überweist, oder der Kliniker im Krankenhaus eine bildgebende Untersuchung durch seine Kollegen in der Radiologie anordnet.
8
Vgl. Wunsch, C. u. a.: „Methodik (Röntgendiagnostik)“, in: G. W. Kauffmann/E. Mo-
9
R. V. Burri: Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder, S. 192. (Herv. i. O.)
ser/R. Sauer (Hg.), Radiologie (3) (2006), S. 133-286, hier S. 225. 10 Vgl. T. M. Lehmann: Digitale Bildverarbeitung für Routineanwendungen, S. 22.
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aufnahmen werden nicht nur digital erzeugt, sondern darüber hinaus in ihrer Qualität geprüft und digital archiviert sowie an den befundenden Radiologen transferiert.11 Mit dem Transfer einer Bildauswahl an den befundenden Radiologen wechselt das Ablaufschema aus Perspektive der vorliegenden Untersuchung von der Produktion des Bildmaterials hin zur Rezeption der Ergebnisse, die im sechsten Kapitel behandelt, der Übersichtlichkeit halber aber an dieser Stelle der Auflistung aufgegriffen wird. Die Rezeption beginnt mit Lehmanns viertem und für die Arbeit der Radiologen maßgeblichem Schritt der Befundung, einer Arbeit, die seit der Digitalisierung medizinischer Abläufe (vgl. Kap. 4) verstärkt an digitalen Darstellungen am Bildschirm oder Monitor vollzogen wird. Im Vorhergegangenen wurde die Crux zwischen analogem und digitalem Bild angesprochen. So bezeichnet der Mediziner Frank Praetorius den Kontext der in den 1990er Jahren möglichen Bildmanipulation als Manipulationsbias: „Bei der Auswertung ist computergestützte Bildbearbeitung weithin üblich geworden. […] Situationen, in denen man vom sofort ‚fertigen‘ Bild sprechen konnte, gehören der Vergangenheit an.“ 12 Stattdessen hat der Radiologe über verschiedene Werkzeuge (tools) der informatischen Software diverse Möglichkeiten, die Darstellung der Bilddaten zu verändern (vgl. Exkurs, Kap. 4.1.1, S. 115). Im Rahmen der vorliegenden Studie ist es bedeutsam, nicht von einer Beliebigkeit dieser Bearbeitung auszugehen, sondern als Rahmen radiologische Bildkonventionen zu berücksichtigen. Außerdem wird das Bild nicht einfach zum Werkzeug auf dem Weg zur Diagnose, das später nicht mehr sichtbar ist; trotz der intensiven Veränderungen und Bearbeitungen bleiben die Bilder Dreh- und Angelpunkt jeglicher Vorgehensweise in der Radiologie. Die Tendenz, das ‚fertige‘ Bild zu verabschieden – wie Praetorius beispielsweise vorschlägt – bettet sich in eine Argumentation zu digitaler Bildgebung ein, die einen Ausfall jeglicher Referenz auf die Wirklichkeit oder den Körper befürchtet.13 Zurück zum Ablaufschema nach Lehmann, fasst dieser die Aspekte der Rezeption durch zwei Untergliederungen zusammen, bei denen die Medizinische Bildverarbeitung hilfreich sei: Zuerst hat der Radiologe alle relevanten Bildstrukturen zu erkennen und zu analysieren, bevor er zweitens dieselben vor dem Hintergrund der Patientenhistorie (Anamnese) und der medizinischen Fragestellung
11 Vgl. ebd. 12 F. Praetorius: Bilder oder Gedanken, S. 60. 13 Vgl. C. Wulf/J. Zirfas: Bild, Wahrnehmung und Phantasie, S. 20. Diese Überlegungen werden im Exkurs: Digitales Bild und Körperflucht in der Medizin (Kapitel 6.1) in der vorliegenden Studie intensiv behandelt.
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(Indikation) interpretieren kann.14 Bei diesem als Befundung benannten Prozess ist aus bildwissenschaftlicher Perspektive zentral auf Strategien des Vergleichs beziehungsweise auf die Methode des Vergleichenden Sehens (vgl. Fazit 1) zu verweisen. Daher wird die Befundung als zentrales Element radiologischer Arbeit im sechsten Kapitel explizit erörtert. Neben dieser Betrachtung und Analyse der Bilder folgen bei Lehmann im fünften Schritt die Erstellung eines Berichtes und die Kommunikation des Untersuchungsergebnisses an den anfordernden Arzt. Er betont, dass dieser Schritt häufig Vorschläge für weitere Untersuchungen zur Differenzialdiagnostik beinhaltet und sein Schema der Schritte eins bis fünf dann erneut begonnen wird.15 Aus bildwissenschaftlicher Perspektive birgt dieser fünfte Schritt Anhaltspunkte für die Frage, wie die Radiologen ihre Erkenntnisse aus der Bildbetrachtung in Wort und Schrift überführen. Letztlich stellt der Bericht eine verschriftlichte Betrachtung und Interpretation des Bildes dar, für dessen Anfertigung zwar Handreichungen existieren, der zugleich aber immense Probleme aufwirft. Gerade die Versuche einer sprachlichen Standardisierung der Bildinterpretation, wie sie im historischen Kapitel aufgegriffen wurden, zeigen, wie im Transfer von der visuellen Wahrnehmung zu einem schriftlichen oder sprachlichen Äquivalent das Text-Bild-Verhältnis auch in der Radiologie zum Tragen kommt (vgl. Fazit 2). Abschließend lassen sich Lehmanns sechster und siebter Schritt als prozessübergreifend beschreiben und sie werden in der vorliegenden Studie nicht explizit in die Analyse von Produktion und Rezeption einbezogen. Beachtenswert ist hier der siebte Schritt, die kontinuierliche Fort- und Weiterbildung des Radiologen sowie die Weitergabe seines Wissens zur Ausbildung anderer, nach wissenschaftlichem Ideal basierend „auf einer Vielzahl von Fallbeispielen mit durch Fachkollegen bestätigten Diagnosen und dem Zugriff auf radiologische Atlanten.“16 Hier schließt sich nicht nur der von Lehmann beschriebene Zyklus, sondern auch der Kreis zur Anfangssituation, in der der Radiologe aufgrund seines Wissens die Indikation des behandelnden Arztes zu beurteilen und auf dieser Grundlage die Entscheidung zur Bildgebung zu treffen hat. Veränderungen im radiologischen Wissen, wie beispielsweise in Bezug auf die Krankheitstheorie der Medizin oder auf technische Bedingungen der Bildproduktion, wirken sich auf den gesamten radiologischen Prozess aus. Während der Produktion und Rezeption radiologischer Bilder fließt dieses Wissen ein, dessen historische Entwicklung im dritten und
14 Vgl. T. M. Lehmann: Digitale Bildverarbeitung für Routineanwendungen, S. 22. 15 Vgl. ebd. 16 Ebd., S. 23.
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vierten Kapitel der vorliegenden Untersuchung aufgearbeitet wurde. Bildwissenschaftlich ist zu betonen, dass der Radiologe Produzent wie Rezipient des Bildmaterials ist. Um einen spezifischen Blick auf die jeweiligen Entscheidungen und ihre Auswirkungen auf die Bildergebnisse zu werfen, wird nun zunächst die Produktion computer- und magnetresonanztomografischer Bilder anhand radiologischer Protokolle erläutert, die als radiologische Schemata dem Überblick aller relevanten Aspekte dienen.
5.1 RADIOLOGISCHE PROTOKOLLE: WIRKLICHKEITSKONSTRUKTION Für eine Betrachtung radiologischer Bildproduktion bieten sich sogenannte Protokolle der Radiologie an, die Handlungsanweisungen oder Anleitungen zur computer- oder magnetresonanztomografischen Bildgebung enthalten und die in der Fachliteratur sowie in radiologischen Abteilungen vorliegen.17 Bedeutung haben diese Anweisungen sowohl für die Radiologen als auch für das medizinisch-technische Personal, da die Protokolle über die möglichen Indikationen zur jeweiligen Bildgebung, die Patientenvorbereitung, die Parameter- und andere Einstellungen sowie die in besonderer Weise zu beachtenden Umstände bei der Durchführung der Untersuchung informieren. In der Medizin sind Protokolle nicht auf die Bildgebung beschränkt und werden in vielen Bereichen eingesetzt. Sie sind als Bestandteil der Entwicklung einer wissenschaftlich fundierten Medizin zu betrachten, da ihnen der Gedanke und das Bestreben einer Handlungsformalisierung zugrunde liegen, durch die in medizinischen Untersuchungen produzierte Daten vergleichbar und reproduzierbar werden sollten. In der Medizinhistorik benennt Volker Hess diese Überlegungen für Entwicklung und Einführung des Fieberthermometers und die darüber erhobenen Daten und schreibt: „Reproduzierbar wurden sie [die Daten, Anm. d. A.], indem sie immer nach der gleichen Anweisung und dem gleichen Ableseverfahren erhoben wurden.“18 Mitte des 19. Jahrhunderts erwies sich die Wissenschaftlichkeit des Fiebermessens über die Festlegung oder Standardisierung der Handlung, die von jedem anderen Mediziner in gleicher Art ausgeführt werden konnte und – so die Überlegung – dementsprechend auch zu gleichen Ergebnissen führen musste. Dabei spielt die mit dem Messen zusammenhängende Aufzeichnungspraxis als Fieberkurve eine besondere Rolle, insofern die Ergebnisse eben zu sehen oder abzulesen
17 Vgl. R. V. Burri: Doing Images: Zur Praxis medizinischer Bilder, S. 189. 18 V. Hess: Gegenständliche Geschichte?, S. 141.
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waren. In ähnlicher Weise prägte das wissenschaftliche Ideal die bildgebenden Verfahren, als für die Ende des 19. Jahrhunderts eingeführte Röntgentechnik normale und pathologische Erscheinungen in den Bildergebnissen festgelegt und zugleich Anweisungen formuliert wurden, wie das ‚gute‘ im Sinne eines klaren, deutlichen oder naturgetreuen Röntgenbildes zu produzieren ist. Im Rahmen bildwissenschaftlicher Ansätze beschäftigt sich der Philosoph und Wissenschaftshistoriker Olaf Breidbach mit der Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung und greift dabei das Protokoll als Notiz einer (wissenschaftlichen) Beobachtung auf: „Das Protokoll ist ein Bericht über die Beobachtung. In der Wissenschaft wird die Beobachtung protokolliert und so auch für einen zweiten, die Beobachtung nicht direkt teilenden Wissenschaftler verfügbar.“ 19 Das jeweilige Protokoll erhält erst im Gesamtzusammenhang der Wissenschaft eine Aussage, folgt dementsprechend spezifischen Regeln und ist strukturiert. Dabei betont Breidbach, dass es sich um Schablonen handelt, innerhalb derer normierte Beobachtungsdaten erzeugt und abgebildet werden. Protokolle und ihre Ergebnisse geben daher nicht einfach die Welt wieder, sondern die Art und Weise, wie das Subjekt – im hier vorgestellten Fall der Radiologe – die Welt gerastert wissen will. Über dieses Raster erzeugt das Protokoll Objektivität im Sinne einer Nachvollziehbarkeit: Das Raster ist durch eine Theorie vorgeprägt und im Gesamtzusammenhang der Wissenschaft baut es logisch auf vorherigen Erkenntnissen auf; dementsprechend binden sich die Ergebnisse in diese Theorie und die Wissenschaft ein.20 Durch das Protokoll wird wissenschaftshistorisch und -philosophisch allerdings eine vermeintliche Objektivität erzeugt, da die Radiologen das Schema und die zugrunde liegende Theorie innerhalb der medizinischen Wissenschaft akzeptieren; somit sind die im Rahmen dieser Theorie erstellten Bilder durchaus quantifizierbar, reproduzierbar und vergleichbar, aber nicht mit einem Abbild der Realität gleichzusetzen. Sie erzeugen eine, und zwar die der Radiologie eigene Wirklichkeit. Daher sind die Protokolle, wie auch die in der Radiologie produzierten Bildergebnisse, aus bildwissenschaftlicher und epistemologischer Perspektive im
19 Breidbach, Olaf: Bilder des Wissens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung, München 2005, S. 18. 20 Vgl. ebd., S. 20f.
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Kontext der für das 20. Jahrhundert konstatierten Krise der Repräsentation zu verorten.21 Wie die Philosophin Silja Freudenberger betont, handelt es sich dabei vorrangig um „die Krise eines abbildtheoretischen Repräsentationsbegriffs“22, die eng mit den Kriterien und der Krise metaphysischer Realismen zusammenhängt: „Wenn die Vorstellung, es gebe eine Art und Weise, wie die Welt ‚wirklich‘ und repräsentationsvorgängig ‚ist‘, aufgegeben wird, dann wird auch die Vorstellung aufgegeben, Repräsentation könne in der richtigen Abbildung eben dieser Welt bestehen.“23 Freudenberger schlägt als theoretischen Ausweg vor, nicht mehr eine zweistellige, sondern nach Charles Sanders Peirce eine dreistellige Repräsentationsbeziehung aus Zeichen, Welt und Interpretanten anzunehmen. Mit diesem triadischen Modell wird Repräsentation nicht als einfache Abbildung, sondern als ‚Repräsentation-als‘ verstanden, „also als Repräsentation, die immer in bestimmten Hinsichten erfolgt“24. Doch die Krise der Repräsentation ist nicht nur kulturtheoretisch oder -symbolisch zu betrachten, sondern wird ebenfalls aus den Kognitionswissenschaften aufgegriffen, die sich in den 1950er Jahren konstituieren und
21 Nach Rahel Puffert setzt diese Krise bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein, auch wenn sie „heutzutage manchmal als ein neu zu bewältigender Problemkomplex und die Repräsentationskritik als eine mit der Postmoderne einsetzende Bewegung“ dargestellt werden. Puffert, Rahel: Die Kunst und ihre Folgen. Zur Genealogie der Kunstvermittlung, Bielefeld 2013, S. 150. Auch Gottfried Boehm betont, dass die Krise der Repräsentation die Entwicklung der Moderne in der Kunst markiert. Vgl. Boehm, Gottfried: „Die Krise der Repräsentation. Die Kunstgeschichte und die moderne Kunst“, in: Lorenz Dittmann (Hg.), Kategorien und Methoden der deutschen Kunstgeschichte 19001930, Stuttgart 1985, S. 113-128, hier S. 113. Aus der Philosophie heben Christoph Jamme und Hans Jörg Sandkühler hervor, dass das Konzept der Repräsentation etwa seit 1850 zu einem Problem verschiedener Wissenschaften geworden ist. Vgl. Jamme, Christoph/Sandkühler, Hans Jörg: „Repräsentation, Krise der Repräsentation, Paradigmenwechsel. Skizze eines interdisziplinären Forschungsprogramm“, in: Silja Freudenberger/Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Repräsentation, Krise der Repräsentation, Paradigmenwechsel, Frankfurt a. M. 2003, S. 15-45, hier S. 16. 22 Freudenberger, Silja: „Repräsentation: Ein Ausweg aus der Krise“, in: dies./H. J. Sandkühler (Hg.), Repräsentation (2003), S. 71-102, hier S. 71. (Herv. i. O.) 23 Ebd. 24 Ebd., S. 72.
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für die „das Gegenstandsmodell der Repräsentation von Beginn an eine Schlüsselrolle“25 spielt. Aus dieser Perspektive handelt es sich bei der Repräsentation um „eine mentale Entität, die, im weitesten Sinn, für Teilbereiche der Wirklichkeit steht, sich auf diese bezieht, sie bezeichnet“26. Bevor es also materielle Zeichen, wie beispielsweise in der Form von Bildern, gibt, die in ein triadisches Modell eintreten, muss schon im Interpretanten oder im Zeichen hervorbringenden Menschen eine mentale Repräsentation der Wirklichkeit vorhanden sein. Wird Bildlichkeit als gedanklicher Akt aufgefasst, wie mit Christoph Asmuth und HansGeorg Gadamer im bildwissenschaftlichen Diskurs (vgl. Kap. 2) geschildert, ist der Mensch befähigt, materielle Bilder aufgrund seiner mentalen Möglichkeiten als ‚Repräsentationen-als‘ zu bestimmen. Bezogen auf die Radiologie und ihre Bildproduktion und -rezeption erzeugt die Disziplin über Raster und Schemata eine eigene Wirklichkeit im Sinne des angesprochenen ‚Repräsentation-als‘; diese Wirklichkeit fügt sich in medizinischnaturwissenschaftliche Vorbedingungen ein und bietet der Radiologie eine Folie, vor der Thesen oder Vermutungen innerhalb der Disziplin verifiziert oder falsifiziert werden können. In epistemologischer Reflexion handelt es sich allerdings nicht um Abbilder, sondern um spezifische Konstruktionen von Wirklichkeit, mit denen die Radiologie arbeitet. Die Medizin reflektiert diese Überlegungen bis zu einem gewissen Grad. Da es laut der Psychiaterin Ulrike Hoffmann-Richter vor allem bei der medizinischen Diagnose zu festgestellten ‚Unzuverlässigkeiten‘ kommt, wird der Prozess der Diagnosefindung selbst untersucht. Oftmals werden die vermeintlichen Unzuverlässigkeiten auf Strukturmerkmale der Wahrnehmung zurückgeführt, also die Möglichkeit von Wahrnehmungsdiskrepanzen und Realitätskorrekturen im diagnostischen Vorgehen.27 Hoffmann-Richter bezieht sich auf Ergebnisse aus Philosophie
25 Gerdes, Adele: Die Selbstorganisation dynamischer Systeme. Whiteheads Beitrag zur Philosophie des Geistes, Berlin 2013, S. 45. Im Kapitel zu Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte: Der Repräsentationsbegriff widmet sich Gerdes dem kognitionswissenschaftlichen Begriff der Repräsentation. Vor allem in der Anfangsphase der Kognitionswissenschaften seit den 1950er Jahren basiert das repräsentationale Gegenstandsmodell prominent auf rechnergestützt-informationstheoretischen Ebenen oder dem ‚Computer-Modell des Geistes‘. Ebd., S. 48. In den 1980er Jahren aber kommt es zu einer Wende, die stärker die Körper- und Weltverankerung von Kognition hervorhebt und dynamizistisch sowie konstruktivistisch an die Fragen herangeht. Ebd., S. 50. 26 Ebd., S. 46. 27 Vgl. Hoffmann-Richter, Ulrike: Die psychiatrische Begutachtung. Eine allgemeine Einführung, Stuttgart 2005, S. 59.
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und Wahrnehmungsforschung, dass die jeweilige Wirklichkeit erst im Prozess der Wahrnehmung organisiert wird und daher die medizinische Deutung der Untersuchungsergebnisse immer auf „der lokalen Praxis und der dort verbindlichen Krankheitslehre“28 oder Theorie beruht. Somit konstruiert die Radiologie vor ihrer aktuellen, wissenschaftlichen Theorie eine Wirklichkeit, innerhalb derer Untersuchungsergebnisse zum Patienten auf Krank- oder Gesundheit verweisen. Allerdings reflektiert die medizinische Disziplin nicht die von ihr eingesetzten Medien (Bilder) auf ihre Rolle in diesen Prozessen hin, sondern verlegt die Wirklichkeitskonstruktion kognitionswissenschaftlich in die mentalen Abläufe. Die folgende Analyse radiologischer Bildproduktion und -rezeption verdeutlicht, dass die medizinische Disziplin die Art und Weise der Darstellung und die spätere visuelle Wahrnehmung der Bilder zwar berücksichtigt und reflektiert. Sie bleibt dabei allerdings technisch-naturwissenschaftlichen und einseitig-wahrnehmungstheoretischen Ansätzen verhaftet, ohne sich explizit dem Gegenstand Bild als Medium zuzuwenden. In Bezug auf das Protokoll ist in der Entwicklungsgeschichte von Medizin und Radiologie erneut auf den Zeitraum von 1950 bis 1970 zu verweisen, der für den Einzug des Computers in die Arbeitsabläufe wichtig gewesen ist. Vermutlich bedingt durch die Einführung des Computers und seine Grundlagen starker Standardisierung und Strukturierung (oder parallel dazu) setzte ein Reflexionsprozess in der Nachkriegsmedizin ein, der im Rückblick auf den Jahrhundertwechsel für die Disziplin ein terminologisches Chaos und nur locker katalogisierte klinische Berichte offenbarte. Die Krankheitsbezeichnungen unterschieden sich zwischen den Ländern, wie beispielsweise Großbritannien und den USA, erheblich, weshalb in den 1960er Jahren als mögliche Lösung weitere Standards entworfen wurden, die minimale Übereinstimmungen von medizinischen Berichts- und Untersuchungssystemen weltweit zugrunde legten.29 Vor dem Hintergrund der komplexen Veränderungen im genannten Zeitraum verlangte die Medizin vehement die standardisierte Messung als notwendigen Bestandteil für die vollständige Entwicklung einer neuen Wissenschaft, wie sie die Moderne Medizin schon länger anstrebte. Das erwähnte Protokoll stellte dabei ein wichtiges Werkzeug dar, das den Kern
28 Ebd. 29 Vgl. M. Berg: Rationalizing Medical Work, S. 20. Der amerikanische Sozialwissenschaftler Marc Berg arbeitet in der genannten Publikation die Rationalisierungsprozesse innerhalb der amerikanischen Medizin heraus, die sich im Gros auf die Entwicklungsgeschichte in Europa übertragen lassen.
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der Aufgabe des Mediziners unterstützt: die wissenschaftliche Arbeit der Diagnose zum und Behandlung des kranken Menschen. 30 Im Protokoll werden in Medizin und Radiologie Richtlinien zusammengefasst, die komplexe Handlungszusammenhänge ordnen und gliedern und damit einen standardisierten Ablauf sichern. Innerhalb der medizinischen Bildgebung werden Protokolle in unterschiedlichen Bereichen eingesetzt: Für den Patientenempfang und die Einträge in die Patientenakte sind handlungsleitende Richtlinien ebenso wichtig wie für die Vorbereitung und Durchführung der Bildgebung sowie die anschließende Auswertung der Bildergebnisse.31 Die folgenden Ausführungen zur radiologischen Bildproduktion orientieren sich in erster Linie an den Aufnahmeund Auswerteprotokollen, wie sie für computer- und magnetresonanztomografische Verfahren eingesetzt werden. Im Sinne einer Beschränkung des vielfältigen Untersuchungsmaterials fokussiert die Betrachtung auf Aufnahmeprotokolle des menschlichen Schädels, um eine synchrone Vergleichbarkeit der beiden bildgebenden Verfahren zu gewährleisten und ihre Gemeinsamkeiten wie Unterschiede auszuarbeiten. Ebenso könnten Protokolle für den Thorax, das Abdomen und andere Körperbereiche herangezogen werden, allerdings sind dem Kopf des Menschen oder seinem Gehirn kulturgeschichtlich enorme Bedeutung zuzusprechen, weshalb die visuelle Darstellung beider weit verbreitet ist. 32 Dieser Umstand er-
30 Vgl. ebd., S. 25. 31 Darüber hinaus finden Protokolle auch außerhalb der Radiologie und der medizinischen Bildgebung ihren Einsatz in der Medizin, wie beispielsweise die vom behandelnden Arzt durchgeführte Anamnese bestimmten Richtlinien und Abläufen folgt. Dergleichen wird in der vorliegenden Untersuchung nicht herangezogen. 32 Nur die rezente Prägung aufgegriffen, wird die Einführung der Computertomografie in den 1970er Jahren mit der Geburtsstunde des Forschungsfeldes Gehirnbildgebung gleichgesetzt. Vgl. B. Hüsing/L. Jäncke/B. Tag: Impact Assessment of Neuroimaging, S. 3. Seit den 1990er Jahren ist außerdem ein verstärktes Interesse an den Funktionen und Abbildungen des menschlichen Gehirns zu beobachten, das seinen Ursprung sicherlich in der grundlegenden Auseinandersetzung mit diesem Organ für das menschliche Leben hat. Insbesondere ist auf die Bezeichnung der 1990er Jahre als Dekade der Hirnforschung oder als Dekade des Gehirns zu verweisen, die in der Einleitung der vorliegenden Studie schon aufgegriffen wurde. Der Medizinhistoriker Cornelius Borck bezeichnet die Bilder des Gehirns in diesem Zusammenhang als „Ikonen unserer Zeit“. Borck, Cornelius: „Ikonen des Geistes oder Voodoo mit Wissenschaft“, in: Philipp Stoellger/Thomas Klie (Hg.), Präsenz im Entzug. Ambivalenzen des Bildes, Tübingen 2011, S. 447-474, hier S. 450 u. 459.
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leichtert den Zugang zum Darstellungsgegenstand, das heißt auch dem medizinischen Laien sind Abbildungen des menschlichen Kopfes oder Gehirns bekannt und die hier beispielhaft angeführten Verbildlichungen bis zu einem gewissen Grad in ihrem Bildinhalt (wieder-)erkennbar. Bezogen auf die radiologische Bedeutung der Bildgebung des Schädels lässt sich einerseits hervorheben, dass beide Verfahren – Computer- und Magnetresonanztomografie – als erstes spezifisch für die Verbildlichung und Untersuchung des menschlichen Schädels eingesetzt wurden (vgl. Kap. 4), und andererseits die Radiologie selbst die Bedeutung dieser Aufnahmen unterstreicht, wenn sie klinische Aufnahmeprotokolle des Schädels als besonders anspruchsvolle Protokolle bezeichnet.33 Dieser letzten Einordnung liegt die Komplexität des menschlichen Gehirns, seines Aufbaus und seiner Funktionsweise zugrunde, die zugleich das Problem offenbart, dass das menschliche Gehirn neurowissenschaftlich und -biologisch noch nicht komplett erforscht ist.34 Zugleich ist mit dieser Beschränkung sowie der Quellenlage der radiologischen Untersuchungsprotokolle insgesamt eine Schwierigkeit verbunden: In der Radiologie werden zwar standardisierte und über die Grenzen einzelner Krankenhäuser und Kliniken oder sogar des Landes hinweg einheitliche Handlungssequenzen befürwortet, doch findet sich dergleichen weder in der heutigen klinischen Praxis noch in der medizinischen Forschung in konsequenter Art und Weise. Zumeist werden in radiologischen Instituten individuelle Untersuchungsprotokolle für computer- oder magnetresonanztomografische Aufnahmen angelegt, die hinsichtlich der Untersuchungsregion und der verschiedenen klinischen Indikationen
33 Flohr, Thomas: „Technische Grundlagen und Anwendungen der Mehrschicht-CT“, in: Roland Brüning/Axel Küttner/ders. (Hg.), Mehrschicht-CT. Ein Leitfaden, Heidelberg 2008, S. 3-26, hier S. 13. 34 Der Neurobiologe Manfred Fahle konstatiert bspw. 2005 zu fehlenden Forschungsergebnissen des Gehirns: „Im Augenblick ist noch nicht klar, aus welchen Teilaspekten Sehen im Einzelnen zusammengesetzt ist, und welche cortikalen Areale jedem dieser Teilaspekte zugeordnet sind.“ Fahle, Manfred: „Ästhetik als Teilaspekt bei der Synthese menschlicher Wahrnehmung“, in: Ralf Schnell (Hg.), Wahrnehmung – Kognition – Ästhetik. Neurobiologie und Medienwissenschaften, Bielefeld 2005, S. 61-109, hier S. 67. Auch der Neuropharmakologe Felix Hasler unterstreicht in seiner Streitschrift von 2012, dass die Neurowissenschaften oder die Hirnforschung den an sie gestellten hohen Erwartungen nicht gerecht wird und sie die Komplexität des Gehirns nicht entschlüsselt haben. Vgl. Hasler, Felix: Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung, Bielefeld 2012, bspw. S. 17 u. S. 133.
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optimiert werden.35 Dieser Umstand ist in erster Linie den andauernden Entwicklungen im Bereich der bildgebenden Verfahren selbst zuzusprechen, da rasche Veränderungen der Gerätetechnologien mit Änderungen der Hardware, der Bildakquisitionsprotokolle und der Auswertesoftware einheitliche Messungen und damit übergreifende Handlungsanweisungen erschweren. 36 Vor allem für die Magnetresonanztomografie existieren für einige medizinische oder radiologische Fragestellungen noch immer keine einheitlichen Untersuchungsprotokolle. 37 Bei den im weiteren Verlauf der Arbeit herangezogenen Untersuchungsprotokollen habe ich mich daher an radiologischer Fachliteratur orientiert und nach Möglichkeit das beispielhaft angeführte Protokoll mit anderen, äquivalenten Anleitungen verglichen. Für die bildwissenschaftliche Untersuchung ist die medizinisch geforderte Einheitlichkeit nicht in dem Maße notwendig wie für die Radiologie selbst; die Protokolle dienen in der vorliegenden Arbeit als Folie, um wichtige Bestandteile und Produktions- wie Rezeptionsschritte der medizinischen Bildgebung zu erläutern, so dass die pointiert dargestellten Umstände für das gesamte Fachgebiet der Radiologie angenommen werden können. Zugleich ist die Uneinheitlichkeit der Vorgänge als Aspekt von Bildproduktion und -rezeption in der Radiologie zu berücksichtigen, da die geforderte Standardisierung als mögliche Erleichterung der Bilddeutung nicht eingehalten wird.
35 Vgl. Novelline, Robert A.: Squire’s Radiologie. Grundlagen der klinischen Diagnostik (dt. Bearbeitung Andreas Heuck), Stuttgart 22001, S. 30. 36 Vgl. Thelen, Manfred u. a. (Hg.), Bildgebende Kardiodiagnostik mit MRT, CT, Echokardiographie und anderen Verfahren, Stuttgart 2007, S. 78. 37 Vgl. Bruhn, Hans D. u. a.: Onkologische Therapie. Behandlung von Leukämien, Lymphomen und soliden Tumoren, Stuttgart 2004, S. 12; und vgl. Becht u. a.: Lehrbuch der röntgendiagnostischen Einstelltechnik, S. 539. Nach Stefanie Becht et al. ist „die Erstellung von auch nur im weitesten Sinne allgemeingültigen Untersuchungsprotokollen für die MRT ein hoffnungsloses Unterfangen […]. Nahezu jede MR-Abteilung hat offenbar ihre eigenen organtypischen Untersuchungsprotokolle, die z. T. ganz erheblich differieren.“ Ebd.
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5.2 SCHRITTE DER BILDPRODUKTION Ungefähr zwei Drittel aller computertomografischen Untersuchungen betreffen den Schädel und die angrenzende Kopf-Hals-Region und sie erfordern eine genaue Indikationsstellung.38 Eine ähnliche Bedeutung beziehungsweise Schwerpunktsetzung findet sich auch für die Magnetresonanztomografie, vor allem bei spezifischen Untersuchungen wie zur Krankheit Multiple Sklerose. 39 Dabei lässt sich für die Protokolle beider Verfahren ein ähnlicher Aufbau konstatieren, was die schriftliche Fixierung der Handlungsschritte anbelangt: Üblicherweise enthalten sie Angaben zur medizinischen Indikation, zur Vorbereitung und Lagerung des Patienten, zu den Aufnahmedaten und -parametern der Bildgebung sowie zur Dokumentation und Nachbereitung der Bildergebnisse. Diese fünf Aspekte werden im Folgenden für beide Verfahren kurz vergleichend betrachtet, um einerseits die Bildproduktion zu erläutern und andererseits Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Computer- und Magnetresonanztomografie herauszuarbeiten. Für die Computertomografie werden das Standardprotokoll des Schädels beim Erwachsenen40 (2008) von Stefanie Becht et al. und das CT-Protokoll des Gehirns41 (2012) von Gabriele Schwarzmüller-Erber und Eva Silberstein herangezogen. Beide Fachbücher, das Lehrbuch der röntgendiagnostischen Einstelltechnik sowie die Angewandte Computertomographie, sind für das medizinisch-technische Personal geschrieben und erläutern detailliert die verschiedenen Schritte für die Vorbereitung und Durchführung der Bildgebung. Für die Magnetresonanztomografie werden das Protokoll zur MRT Schädel42 (2008) von Matthias Bollow und das Münsteraner MRT-Basisprotokoll43 (2011) von Carsten Lukas et al. zugrunde gelegt. Ent-
38 Vgl. Scheffel, Hans: „Schädel“, in: Hatem Alkadhi/ders. u. a. (Hg.), Wie funktioniert CT?, Berlin 2011, S. 67-72, hier S. 68. 39 Vgl. Baudendistel, K. T. u. a.: „Klinische MRT bei 3 Tesla: Aktueller Stand“, in: Der Radiologe 44/1 (2004), S. 11-18, hier S. 14. 40 S. Becht u. a.: Lehrbuch der röntgendiagnostischen Einstelltechnik, S. 510f. 41 Schwarzmüller-Erber, Gabriele/Silberstein, Eva: Angewandte Computertomographie, Wien 22012, S. 104ff. 42 Das Protokoll zur MRT Schädel wurde 2008 von Matthias Bollow an der Klinik für diagnostische und interventionelle Radiologie und Nuklearmedizin (Bochum) entwickelt und ist unter http://www.radiologie-ruhrgebiet.de/klinik/SOP/MRT/MRT%20 Schaedel.pdf (vom 01.02.2019) abrufbar. 43 Das Münsteraner MRT-Basisprotokoll ist im Oktober 2011 durch Carsten Lukas et al. in Zusammenarbeit mit der Klinik und Poliklinik für Neurologie (Münster) und dem
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gegen der Situation bei der Computertomografie lassen sich für die Magnetresonanztomografie nur lokal entwickelte Protokolle anführen; die Fachliteratur gibt bisher keinen einheitlichen Überblick über die jeweiligen Untersuchungsvorgaben und -schritte. Anhand dieser Protokolle lässt sich erneut auf die schwierige Quellenlage hinweisen, die insbesondere die magnetresonanztomografischen Untersuchungen betrifft. Während die computertomografischen Anweisungen in der radiologischen Fachliteratur aufgeführt sind, findet sich das Pendant für die Magnetresonanztomografie zumeist als Dokument im Internet und die Lehrbücher liefern nur marginale Informationen. Vor der historischen Schilderung der Radiologie (vgl. Kap. 3 und 4) und den dort in Bezug auf die Magnetresonanztomografie aufgezeigten Diskussionen liegt die Vermutung nahe, dass sich einheitliche Protokolle in der magnetresonanztomografischen Bildgebung aufgrund der Komplexität des Verfahrens bisher nicht durchsetzen konnten. Allein der in der radiologischen Fachliteratur mehrfach erwähnte Umstand, dass die Computertomografie nur von einem (Mess-)Parameter, dem Abschwächungskoeffizienten des durchstrahlten Gewebes, die Magnetresonanztomografie hingegen von mindestens drei das menschliche Gewebe betreffenden Parametern abhängig ist, belegt die daraus entstehende Bandbreite an Untersuchungsmöglichkeiten: Letztlich steht mit den durch Relaxationsprozesse (T1 und T2) beeinflussten und den nach Protonendichte gewichteten Bildern in der Magnetresonanztomografie mindestens das Dreifache an Bildmaterial zur Interpretation zur Verfügung, weshalb sich die Zuordnung der Bilderscheinungen zum Referenten menschlicher Körper erheblich erschwert.44 Als weitere Gemeinsamkeit der Protokolle ist ihre Multimedialität zu konstatieren: Sie bestehen aus Textteilen, Tabellen und Bildbeispielen, um die einzelnen Schritte nachvollziehbar zu gestalten und eine gute Orientierung während der praktischen Handhabe zu gewährleisten. Den in Lehrbüchern oder im Internet zu findenden Protokollen ist damit eine ähnliche Multimedialität zuzusprechen, wie sie anatomische und andere Atlanten auszeichnet. Aspekte der Bild-Text-Vergleiche sowie der Methode des Vergleichenden Sehens insgesamt werden für den Wissens- und Erfahrungsaufbau der Radiologie im Kapitel zur Bildrezeption (vgl. Kap. 6) aufgegriffen. Für die Bildproduktion selbst spielt die Relation von Text
Institut für Diagnostische und interventionelle Radiologie und Nuklearmedizin (Klinikum der Ruhr-Universität Bochum) erstellt worden und unter http://docplayer.org/ 33555253-Muensteraner-mrt-basisprotokoll.html (vom 01.02.2019) abrufbar. 44 Vgl. H. Handels: Medizinische Bildverarbeitung, S. 14; und vgl. O. Dössel: Bildgebende Verfahren in der Medizin, S. 337.
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und Bild insofern eine Rolle, als der Großteil der Protokolle für die tägliche Routine in Textform vorliegt und im Prozess selten auf Bildbeispiele zurückgegriffen wird. Während also in der Rezeption der Bildeindruck in einen Text überführt wird, steht bei der Produktion die Orientierung an einer schriftlichen Anleitung zur Bilderstellung im Vordergrund. Im Folgenden werden die fünf Schritte der Aufnahmeprotokolle erläutert und zur Explikation mit Beispielen versehen, um die Komplexität der Produktion vorzustellen. Zielgerichtete Bilder: Indikation Wie zu Beginn des Kapitels beschrieben, wird ein Patient zur Bildgebung an einen Radiologen überwiesen. Der Überweisung liegt eine Indikation bei, die wichtige Informationen zur anstehenden Untersuchung mitteilt. Insofern innerhalb der Medizin hier ein Wechsel vom Kliniker zum Radiologen stattfindet, reflektieren und thematisieren letztere, dass in die Anamnese als übergreifenden Prozess und in die daraus hervorgehende Indikation schon Ergebnisse und damit Vorstellungen des behandelnden Arztes einfließen. Zumeist besteht eine Hypothese, die durch die Bildgebung überprüft werden soll, da bestimmte Untersuchungsdaten nicht anders als durch nicht-invasive, bildgebende Methoden wie Computer- oder Magnetresonanztomografie zu erlangen sind.45 Für die Bildgebung des Schädels werden bei der Computertomografie intrakranielle46 Blutungen, primäre und sekundäre intrakranielle Tumoren, unklare objektivierte Kopfschmerzen, Hirninfarkt oder Schlaganfall als Indikationen genannt.47 Bei der Magnetresonanztomografie listet die Radiologie primäre und metastatische Gehirntumore, Ischämien (Minderdurchblutungen), Schlaganfall, Multiple Sklerose und andere Erkrankungen der weißen Hirnsubstanz auf.48 Diese Auflistung ist nicht vollständig und hier nicht nach medizinischen Kriterien formuliert. Derartige fachsprachliche Indikations-
45 E. Battegay et al. formulieren beispielsweise: „So gilt das Computertomogramm des Abdomens als eine der wichtigsten Untersuchungen bei der Abklärung eines Fiebers unklarer Ätiologie.“ E. Battegay u. a.: Allgemeine Aspekte zur Diagnose, S. 37. 46 Intrakraniell bedeutet ‚innerhalb des Schädels‘. Der Begriff wird zur Bezeichnung von Strukturen oder Prozessen verwendet, die innerhalb der Schädelhöhle, also in dem von den Schädelknochen gebildeten Hohlraum liegen. Vgl. http://flexikon.doccheck.com/ de/Intrakraniell vom 01.02.2019. 47 Vgl. C. Wunsch u. a.: Methodik (Röntgendiagnostik), S. 255; und vgl. S. Becht u. a.: Lehrbuch der röntgendiagnostischen Einstelltechnik, S. 510. 48 Vgl. C. Wunsch u. a.: Methodik (Röntgendiagnostik), S. 242.
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listen zeigen aber aus bildwissenschaftlicher Perspektive, inwiefern der Bildproduktion eine Richtung vorgegeben wird: Der Radiologe verbindet die Indikation mit einem typischen Befundmuster innerhalb der Bildergebnisse, welches er aus seiner Ausbildung (wiederer-)kennt. Die Befundmuster oder radiologischen Muster werden bei der Betrachtung der Bildrezeption (vgl. Kap. 6) ausführlich erläutert, da sie innerhalb der Radiologie der Bildanalyse zugeordnet werden; ihr Erlernen ist für die visuelle Ausbildung unabdingbar und beruht auf umfangreichen Kenntnissen der Normalanatomie und Pathologie, deren Rolle in der historischen Aufarbeitung verdeutlicht und durch die teleologische, weil sinnhafte Bildproduktion angesprochen wurde. Dass die Bildproduktion eine Richtung erhält, meint, dass der Radiologe bei derselben durch die Indikation des behandelnden Arztes gelenkt wird. Sie beinhaltet eine Hypothese, an welcher Krankheit oder an welchen Beschwerden der jeweilige Patient leiden könnte, womit die radiologische Bildproduktion zugleich Beschränkungen im Darstellungsprozess unterworfen wird: Die Indikationen lenken den Radiologen und seinen Blick auf bestimmte Bereiche des Körpers, der unter vordefinierten Bedingungen der bildgebenden Untersuchung unterzogen wird.49 Mit der Indikation ist sogleich ein bestimmtes Untersuchungsprotokoll verbunden. In Rückbezug auf die von Breidbach genannte Schablone durch Protokolle verbildlichen Radiologen unter theoretischen Vorannahmen bestimmte Teile des Körpers, lassen andere hingegen außer Acht. Letztlich werden an diesem Punkt in der Bildproduktion Leerstellen und blinde Flecken erzeugt, die eine bildliche Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit noch befördern. Bildgegenstand: Körper Das medizinisch-technische Personal erhält im nächsten Schritt durch den Radiologen das Protokoll zur jeweiligen Bildgebung, inklusive Indikation und eventuellen Besonderheiten für die Durchführung, um die eigentliche Bildproduktion zu
49 Der Mediziner Frank Praetorius bestätigt diesen Umstand für Innere Medizin und Kardiologie und benennt den Schritt vor dem Erstellen der Bilder als „Problem der Indikation“, insofern dieselbe einen großen Einfluss auf die konkreten Untersuchungsergebnisse hat. Vgl. F. Praetorius: Bilder oder Gedanken, S. 65. Ebenfalls betont Amit Prasad, dass den Radiologen durch die Krankheitshypothese des behandelnden Arztes schon eine Richtung bei der Untersuchung vorgegeben wird. Vgl. Prasad, Amit: „Making Images/Making Bodies: Visibilizing and Disciplining through Magnetic Resonance Imaging“, in: Science, Technology and Human Values 30/2 (2005), S. 291-316, hier S. 296.
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beginnen. Die Präparation des Bildgegenstandes Körper beziehungsweise Vorbereitung des Patienten umfasst bei der Bildgebung des Schädels in der Computerund Magnetresonanztomografie erste Gespräche mit dem Patienten, die Erläuterung des Untersuchungsablaufes und die Entfernung aller Fremdkörper und Kleidungsstücke50 aus dem Untersuchungsbereich, da sie andernfalls die Diagnostik einschränkende Bildfehler oder Artefakte in den Ergebnissen verursachen können.51 Außerdem wird bei der Computertomografie eine Bleiabdeckung des Körperstammes vorgenommen, damit die Röntgenstrahlen nur den Kopf des Patienten durchleuchten. Der menschliche Körper als Untersuchungsgegenstand wird letztlich in einen nackten Zustand versetzt, der sich nicht nur auf das Entfernen der Kleidung, sondern sämtlicher ‚unnatürlicher‘ Gegebenheiten bezieht. Dem suggerierten natürlichen Zustand des menschlichen Körpers widerspricht die anschließende Lagerung desselben. Zwar wird grundsätzlich bei beiden Verfahren eine bequeme Rückenlage52 des Patienten mit Unterpolsterung vorgeschrieben, während der Kopf bei der Computertomografie in einer Kopfschale mit Pelotten und eventuell einem Gurtband fixiert wird und auch bei der Magnetresonanztomografie Lagerungshilfen eingesetzt werden. Jedoch erfolgt durchaus die Anweisung an den Patienten, das Kinn zur Brust zu ziehen und während der Untersuchung auf eine flache Atmung zu achten, was keinesfalls einer gewohnten Haltung oder dem natürlichen Dasein des Körpers entspricht.53
50 Zu den Fremdkörpern zählen alle beweglichen, insbesondere metallischen Fremdkörper wie Halsketten, Brille, Zahnprothesen, Ohrringe, Hörgeräte, Piercingschmuck, Haarklammern und andere mehr. Ebenfalls wird auf medizinische Gerätschaften wie EKGKabel verwiesen und bei den Kleidungsstücken auf Reißverschlüsse, Metallknöpfe oder sogar für die Magnetresonanztomografie auf Metallfäden innerhalb des Stoffes. Gegenüber der Computertomografie ist die Magnetresonanztomografie nicht nur empfindlicher, was metallische Gegenstände anbelangt, sondern kann sich bei Unachtsamkeit als lebensgefährlich herausstellen. Je nach Magnetfeldstärke werden die Fremdkörper mit einer hohen Geschwindigkeit durch den Raum befördert und können Patient wie auch Personal verletzen. 51 Vgl. S. Becht u. a.: Lehrbuch der röntgendiagnostischen Einstelltechnik, S. 504. 52 Für die Computertomografie des Kopfes gilt die Rückenlage als Standardlagerung. Vgl. ebd., S. 510; und vgl. N. Hosten/T. Liebig: Computertomographie, S. 26. 53 Für die Computertomografie wird zusätzlich die unbequeme Haltung mit Überstreckung des Kopfes bis weit in den Nacken beschrieben, die jedoch heute aufgrund neuerer Technik als „nicht mehr zeitgemäß“ gilt. S. Becht u. a.: Lehrbuch der röntgendiagnostischen Einstelltechnik, S. 505f.
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Die Fragen der Lagerung des Körpers verweisen auf den schon angesprochenen Aspekt des Körpers als problematischem Objekt der Radiologie; wichtige Stichworte sind hier Blutfluss und Atmung, denn sie verweisen auf Prozesse des menschlichen Körpers, die unter keinen Umständen für eine nicht-invasive Bildgebung des lebendigen Menschen unterbrochen oder gestoppt werden können. Damit zusammenhängend sind die Begriffe Flussartefakt und Atmungsartefakt früh in der radiologischen Fachsprache zu finden, die eben jene, durch den Körper verursachten Bildfehler bezeichnen. Die Anweisung an den Patienten, die Bildgebung in ‚flacher Atmung‘ durchzuhalten, entstand vor diesem Hintergrund. Das Heben und Senken des Brustkorbs beziehungsweise die Bewegungen des Kopfes bei der Schädelaufnahme durch den Atemfluss erzeugen die genannten Artefakte, die auch durch eine Fixierung des Kopfes in der Kopfschale oder durch andere Lagerungshilfen nicht verhindert werden können. Das medizinisch-technische wie das Pflegepersonal wissen um die Bedeutung des Patientenkörpers in der radiologischen Bildgebung. Ihre Aufgabe, den menschlichen Organismus für die Verfahren kontrollierbar zu machen, findet in der täglichen Praxis unter erschwerten Bedingungen statt. Wie sozialwissenschaftliche und medizinische Studien zeigen konnten, führt beispielsweise der durch finanzielle Kürzungen im Gesundheitssystem entstandene Zeit- und Rechtfertigungsdruck in radiologischen Abteilungen zu einem ‚Durchschleusen‘ der Patienten, die (auch aus Sicht des Personals) nicht mehr zu Genüge auf die jeweils an ihnen und mit ihnen ausgeführten Prozesse vorbereitet werden können.54 Damit
54 Laut dem Mediziner Karlheinz Engelhardt haben die Bildgebenden Verfahren die Diagnostik organischer Krankheiten präzisiert, doch die zunehmenden Kapazitäten von Geräten lassen die Zahl der Untersuchungen – aus medizinischer, nicht ökonomischer Sicht – unnötig ansteigen. In der Folge von Technisierung und Ökonomisierung komme es zum „Durchschleusen der Patienten“ und zunehmender Beschleunigung der Betreuung, die in der Medizin nicht als positive Entwicklungen angesehen werden. Vgl. Engelhardt, Karlheinz: „Arzt und Patient im technischen Zeitalter. Was hat sich verändert?“ in: Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 59/1 (2009), S. 44-49, hier S. 44f. und S. 48. Auch die Wirtschaftspsychologin Christel Kumbruck und die Soziologinnen Mechthild Rumpf und Eva Senghaas-Knobloch problematisieren in den Heilberufen den Druck durch finanzielle Zwänge, die „ein zügiges Durchschleusen von Patienten“ befördern. Kumbruck, Christel/Rumpf, Mechthild/Senghaas-Knobloch, Eva: „Das Ethos fürsorglicher Praxis/Care im Streit um Anerkennung“, in: dies. (Hg.), Unsichtbare Pflegearbeit. Fürsorgliche Praxis auf der Suche nach Anerkennung, Berlin 2010, S. 11-37, hier S. 35.
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wird der nervöse, angsterfüllte oder sich unwohl fühlende Patient zur Schwierigkeit, dessen allgemeines Befinden nicht mit einer bequemen Rückenlage und einer flachen Atmung korreliert. Bezogen auf die entstehenden Bildergebnisse stellt sich die Referenz der Bilder – der menschliche Körper – als Ziel und zugleich als größtes Hindernis heraus, was der Radiologe Günter Klaß 2014 bezüglich der Bewegungsartefakte sogar als ikonoklastisch bezeichnet: „[…] der Körper selbst wirkt hier ikonoklastisch. Er zerstört und stört das Bild, in dem er selber vorkommen soll.“55 Bildoptimierung: Technische Parameter Dem medizinisch-technischen Personal obliegt in Anlehnung an die Vorgaben des Radiologen die Einstellung der Aufnahmedaten und -parameter, die für beide bildgebende Verfahren ein komplexes Vorgehen beinhaltet. Einzelne Aspekte dieser Einstellungen werden im Folgenden für Computer- und Magnetresonanztomografie vergleichend aufgegriffen. In computer- und magnetresonanztomografischen Untersuchungsverfahren wird zuerst ein Übersichtsbild erstellt, das der Lageorientierung der zu verbildlichenden Schichten des Körpers und damit der Planung der diagnostischen Bildgebung dient. Das in der Computertomografie zumeist als Topogramm56 bezeichnete, digitale Übersichtsbild organisiert den menschlichen Schädel in mehr als 20 Aufnahmeschichten. Dabei wird der Schädel für die computertomografische Bildgebung in der lateralen Ebene ausgerichtet, die Aufnahme beginnt über der Schädelkalotte und reicht bis zum Kinn.57 Mit diesem einzelnen, digitalen Übersichtsbild werden die Schichten für das interessierende Körperteil in Interaktion mit dem Computer festgelegt; in der anschließenden Untersuchung werden die Daten dieser Schichten durch das CT-System und den mit diesem verbundenen Computer gemessen, aufgezeichnet und schließlich visualisiert. In ähnlicher Art und Weise erfolgen bei der Magnetresonanztomografie erste schnelle Messungen und deren bildliche Präsentation über die Software Localizer
55 G. Klaß: Röntgen – Bilder – Welten, S. 306. 56 Die Bezeichnung für die digitale Übersichtsaufnahme variiert laut Thorsten M. Buzug je nach Gerätehersteller: Topogram(m) ist die übliche Bezeichnung bei CT-Systemen der Siemens-AG, weitere Benennungen sind Scanogram(m) (Philips) oder Scout View (General Electric). Vgl. T. M. Buzug: Computertomographie, S. 328. Annemarie Grillenberger und Eveline Fritsch nennen weitere Bezeichnungen wie Pilot-Scan und Radiogramm. Vgl. A. Grillenberger/E. Fritsch: Computertomographie, S. 165. 57 Vgl. G. Schwarzmüller-Eber/E. Silberstein: Angewandte Computertomographie, S. 38.
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oder Survey.58 Im Gegensatz zur Computertomografie handelt es sich allerdings um bis zu drei digitale Übersichtsbilder, die ebenfalls nicht alle möglichen Schichten des menschlichen Schädels für die Magnetresonanztomografie repräsentieren, sondern die jeweilige Ausgangsposition zur reproduzierbaren Schichtführung anzeigen. Wie bei den technischen Grundlagen der Modalitäten erläutert, beinhaltet die Magnetresonanztomografie von Anfang an den Vorteil der Bildgebung in drei Ebenen. Dementsprechend hatte die Radiologie im Sinne der Standardisierung für Reproduzierbarkeit und Vergleichbarkeit der Bildergebnisse nicht nur eine Richtlinie der Schichtpositionierung festzulegen, wie bei der Computertomografie, sondern gleich drei Varianten zu beachten. Die drei Übersichtsbilder – transversal, koronal und sagittal ausgerichtet – sind daher durch anatomische Orientierungslinien gekennzeichnet, auf die sich die Radiologie geeinigt hat. Wie das Topogramm für die Computertomografie einer standardisierten und somit reproduzierbaren Schichtpositionierung und -aufnahme dient, wird dergleichen in der Magnetresonanztomografie über diese Orientierungslinien oder Markierungen in drei Körperebenen gewährleistet. Die in der Magnetresonanztomografie mögliche Aufnahme und Verbildlichung des menschlichen Körpers in drei Ebenen wurde entwicklungsgeschichtlich für die Computertomografie durch Software und Rekonstruktionsalgorithmen ausgeglichen. In diesem Zusammenhang ist eine wichtige Angabe im computertomografischen Protokoll, ob im Sequenz- oder Spiralmodus aufgenommen wurde. 2007 waren viele Mehrzeilen-CT-Systeme noch nicht in der Lage, Mehrzeilenspiraluntersuchungen bei Kippung der Scan-Einheit (Gantry) vorzunehmen, was mit dem erheblich aufwendigeren Bilderrechnungsalgorithmus zu tun hat. Daher werden Datensätze oftmals im Spiralmodus angefertigt, aus denen sich die gewünschten schrägen Schichten einer zu kippenden Ebene der Scan-Einheit rekonstruieren lassen.59 Die mögliche Kippung moderner CT-Geräte stellt beispielsweise für die Darstellung der hinteren Schädelgrube eine Minimierung der durch die Felsenbeine verursachten Aufhärtungsartefakte dar, was für die anschließenden Bilder-
58 Entsprechend der eingesetzten Software werden die Übersichtsbilder der Magnetresonanztomografie als Localizer, Survey, Planscan oder Scout bezeichnet. Vgl. Möller, Torsten B./Reif, Emil: „Glossar“, in: dies. (Hg), MRT-Einstelltechnik, Stuttgart 22003, S. 198-203, hier S. 202. 59 Vgl. S. Becht u. a.: Lehrbuch der röntgendiagnostischen Einstelltechnik, S. 503.
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gebnisse aus Sicht der Radiologen mit einer eindeutigeren oder einfacheren Interpretation verbunden ist.60 Werden die Schichten im Nachhinein aus den aufgezeichneten Daten rekonstruiert, hängt es von der Software ab, ob die verursachten Aufhärtungsartefakte herausgerechnet werden können oder ob sie Eingang in die Bildergebnisse finden. Aus bildwissenschaftlicher Perspektive ist hier die Entwicklung zu betonen, dass die computertomografische den Möglichkeiten der magnetresonanztomografischen Bildgebung angepasst wird. Über zusätzliche Berechnungen geschieht dies computertechnologisch gleich zweifach: Die modernere Variante der Geräte mit möglicher Kippung integriert die aufwendigeren Bilderrechnungsalgorithmen, während in die älteren Geräte zusätzliche Programme zum Herausrechnen von Artefakten implementiert wurden. Beide Wege präsentieren den Aufwand und die Bedeutung der informatischen Software für die radiologische Bildkonstruktion, wobei jegliche Steigerung an Rechnungsschritten weitere Unwägbarkeiten in den (Bild-)Prozess einbringt. Bei der Magnetresonanztomografie existieren andere Angaben hinsichtlich des verwendeten Systems. Hauptsächlich ist die zugrunde liegende Magnetfeldstärke bezüglich der Standardisierungsbemühungen und der Reproduzierbarkeit von Bildergebnissen zu nennen. Das Münsteraner MRT-Protokoll gilt explizit für ein 1,5-Tesla-System, „da erwartet wird, dass die überwiegende Anzahl an Untersuchungen mit dieser Feldstärke durchgeführt werden.“61 Mit welcher Tesla-Anzahl der jeweilige Magnetresonanztomograf ausgestattet ist, hat entscheidende Auswirkungen auf die Planung und Einstellung der (technischen) Aufnahmeparameter: Ein radiologisches Aufnahmeprotokoll hat nur im Zusammenhang mit dem passenden MR-System Geltung und muss für jedes weitere verändert beziehungsweise angepasst werden. Nach Übersichtsaufnahme und Schichtplanung erfolgt die eigentliche bildgebende Untersuchung, für die verschiedene, hauptsächlich direktive und technische Aufnahmeparameter vom medizinisch-technischen Personal einzustellen sind. Der Begriff Aufnahmeparameter bezeichnet in der Radiologie mehrere Untersuchungsentscheidungen wie die Aufnahmemodalität (technische Parameter), die Aufnahmeorientierung (direktive Parameter), die Körperregionen (anatomische Parameter) und die Funktionssysteme (biologische Parameter). 62 Für die vorliegende Betrachtung werden die technischen Parameter genauer betrachtet, bei denen – in detaillierter Erläuterung – die größten Unterschiede zwischen Computerund Magnetresonanztomografie aufzuzeigen sind. In der Radiologie werden die
60 Vgl. N. Hosten/T. Liebig: Computertomographie, S. 26. 61 C. Lukas u. a.: Münsteraner MRT-Basisprotokoll, S. 1. 62 Vgl. T. M. Lehmann: Digitale Bildverarbeitung für Routineanwendungen, S. 54.
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technischen Parameter noch einmal nach Akquisitionsparametern und Rekonstruktionsparametern unterschieden; der Grund der Unterteilung liegt darin, dass Akquisitionsparameter Einstellungen beinhalten, die vor der bildgebenden Untersuchung festgelegt und im weiteren Verlauf derselben nicht mehr veränderbar sind, während Rekonstruktionsparameter nach der Datenakquisition weiterhin differenziert und spezifiziert werden können.63 Für die Computertomografie wird aus der Vielzahl technischer Parameter beispielhaft die Kollimation oder Schichtanzahl in Beziehung zur Schichtdicke erläutert. Dazu ist die Art des CT-Systems zu beachten, bei dem üblicherweise zwischen dem 4-, 16- und 64-Zeilen-System unterschieden wird.64 Die Zahl des jeweiligen Systems erläutert, wie viele Schichten das System während einer Röhrenrotation von 360 Grad gleichzeitig durchstrahlen und aufzeichnen kann. Der Vorteil der erhöhten Schichtanzahl in einer Röhrenrotation betrifft die reduzierte Schichtdicke: Wird bei einem 4-Zeilen-System ein Millimeter als Schichtdicke für die Schädelbasisuntersuchung veranschlagt, reduziert sich die Breite bei einem 64-Zeilen-System auf 0,625 oder 0,75 Millimeter.65 Die Schichtdicke gilt in der Radiologie als entscheidender Faktor der Bildqualität. Bei dünneren Schichtaufnahmen wird der Kontrast der späteren Datenverbildlichung gesteigert, also die Differenzierung der Grauwerte erhöht und die Gefahr von sogenannten Partial- oder Teilvolumenartefakten66 gesenkt. Gleichzeitig werden weniger Daten zur Bildberechnung erfasst, weshalb neben den positiven Aspekten (Kontrast, geringere Anzahl von Artefakten) auf der anderen Seite auch negative wie die Verschlechterung des Signal-zu-Rausch-Verhältnisses67 (SRV oder engl. signal-to-noise-ratio, SNR) zu berücksichtigen sind. In Radiologie und Medizintechnik gilt das Signal-zu-Rausch-Verhältnis als eine der wichtigsten
63 Vgl. A. Grillenberger/E. Fritsch: Computertomographie, S. 97ff; und vgl. Stolzmann, Paul/Götti, Robert: „Protokollparameter und Bildqualität“, in: H. Alkadhi u. a. (Hg.), Wie funktioniert CT? (2011), S. 23-29, hier S. 24f. 64 Vgl. Vgl. S. Becht u. a.: Lehrbuch der röntgendiagnostischen Einstelltechnik, S. 511. 65 Vgl. ebd. 66 Partial- oder Teilvolumenartefakte entstehen an besonders schrägen Objektkanten der axialen Schicht, wie bspw. im Bereich des Unterkiefers, und werden in der späteren Bildrekonstruktion unscharf abgebildet. Als Lösung wird die Wahl einer besonders niedrigen Schichtdicke genannt. Vgl. T. M. Buzug: Einführung in die Computertomographie, S. 378. 67 Vgl. ebd., S. 398; und vgl. A. Grillenberger/E. Fritsch: Computertomographie, S. 97. Zur Begrifflichkeit des SRV/SNR vgl. Zink, Christoph/Herborn, Christoph U.: Klinikwörterbuch MRT, Berlin 2007, S. 423
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Kennzahlen für die qualitative Leistung bildgebender Geräte.68 Das Rauschen bezeichnet Störsignale, die während der jeweiligen Untersuchung das Nutzsignal – also beispielsweise die parallel projizierten Röntgenstrahlen bei der Computertomografie – überlagern und keine verwertbaren Bildinformationen liefern. 69 Für die Bildgebung ist die Registrierung des genannten Nutzsignals interessant, das beispielsweise bei der Computertomografie Informationen über die jeweiligen Gewebe und ihren Zustand im menschlichen Körper enthält. Unumgänglich werden allerdings auch andere Signalformen aufgezeichnet, die nicht mit den erwünschten Informationen über den menschlichen Körper zusammenhängen und somit die folgende Interpretation des Gesundheits- oder Krankheitszustandes aufgrund der Bilder verfälschen. Für die Radiologie stellt sich die Aufgabe, mit den notwendigerweise zum jeweiligen System gehörenden Störsignalen umzugehen und dieselben bei der späteren Auswertung und Interpretation des Bildmaterials zu erkennen. Aus diesen technischen Grundlagen wird deutlich, dass vor der Bildgebung zu treffende Entscheidungen zwei gegenläufige Effekte berücksichtigen müssen, die sich nicht direkt gegenüberstellen lassen: Eine geringe Schichtdicke bedeutet zwar einen hohen Bildkontrast und eine ‚gute‘ (technisch-optimierte) Bildqualität, aber zugleich weniger Informationen über das zugrunde liegende Bildobjekt. Diese gegenläufigen Effekte werden zusätzlich deutlich, wenn der technische Parameter Kollimation mit dem sogenannten Pitch betrachtet wird, der sich aus dem Tischvorschub pro Röhrenrotation und der Gesamtbreite des kollimierten Röntgenstrahls zusammensetzt und ebenfalls als Qualitätsfaktor der computertomografischen Bildgebung gilt. Ist der Tischvorschub, also die Bewegung des Patientenkörpers innerhalb des Gerätes, kleiner als die jeweils eingesetzte Breite des Strahls, ergeben sich bei der Datenaufnahme Überlappungen in der Längsrichtung; es werden Daten mehrfach erhoben. Ist der Tischvorschub größer, werden die Daten mit Lücken aufgenommen, also im hier besprochenen Schädelprotokoll nicht konsequent jeder Millimeter des Kopfes gescannt.70 Über Kollimation und Pitch sollen Daten des gesamten menschlichen Schädels gesammelt werden, die
68 Vgl. T. M. Buzug: Einführung in die Computertomographie, S. 39. 69 Für die Computertomografie sind hier das Quantenrauschen (verursacht durch Röntgenquanten), das elektronische Rauschen (verursacht durch elektronische Bauteile im Gerät) und das Quantisierungsrauschen (verursacht bei der Umwandlung von analogen in digitale Signale) zu nennen. Vgl. A. Grillenberger/E. Fritsch: Computertomographie, S. 89. 70 Vgl. T. Flohr: Technische Grundlagen und Anwendungen, S. 8.
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möglichst wenig durch Störsignale und daraus entstehende Fehler in der Datenaufnahme beeinflusst sind. Sie würden in der anschließenden Rekonstruktion zu Bildfehlern oder Artefakten führen. Zugleich verstärken erhöhte Schichtanzahl und niedriger Pitch über die eingesetzten Röntgenstrahlen die Belastung für den Patientenkörper, weshalb in der Radiologie zur Reduktion der Strahlendosis Lücken in der Datenaufnahme und somit mögliche Bildfehler akzeptiert werden. 71 Medizin wie Radiologie sehen die Strahlenbelastung durch Röntgentechnik und Computertomografie als größten Nachteil beider Verfahren, weshalb der Magnetresonanztomografie mit ihrer nicht schädlichen Magnetisierung72 der Vorzug gegeben werden soll. Wie aus der historischen Aufarbeitung ersichtlich, handelt es sich zugleich um das deutlich komplexere Verfahren der diagnostischen Bildgebung, was im Folgenden anhand der technischen Parameter weiter ausgeführt wird. Diese werden bei der Magnetresonanztomografie im jeweiligen Sequenzprotokoll zusammengefasst. Bei den Sequenzen handelt es sich sozusagen um die Software des Verfahrens, wobei grundsätzlich zwischen den T1-, T2- und PD-gewichteten Bildsequenzen sowie nach Spinecho- oder Gradientenecho-Basis unterschieden wird.73 Eine Messsequenz mit optimierten Parametern wird in der Radiologie als Messprotokoll bezeichnet; es stellt ein Programm mit Befehlen dar, die den Ablauf der magnetresonanztomografischen Messung koordinieren und das MR-System steuern. Die jeweiligen direktiven und technischen Parameter werden den Anforderungen der medizinischen Fragestellung angepasst, wobei vor allem die Repetitionszeit TR oder die Echozeit TE den späteren Bildkontrast beeinflussen. 74 Ausschlaggebend sind diese Parameter bei der Einstellung des Magnetresonanztomografen, da der später in den Bildergebnissen visuell zu erfassende Grauwertkontrast in Abhängigkeit von der verwendeten Messsequenz stark variieren kann.75 Die visualisierten Grauwerte hängen ganz entscheidend vom Zeitpunkt der
71 Vgl. ebd., S. 12. 72 Zumindest ist bisher keine schädliche Wirkung der Magnetfelder oder eingestrahlten elektromagnetischen Wellen für den menschlichen Körper oder das menschliche Gewebe festgestellt oder nachgewiesen worden. Vgl. Mühlenweg, Martin/Schaefers, Gregor/Trattnig, Siegfried: „Physikalische Wechselwirkungen in der MRT. Einige Daumenregeln zu ihrer Reduktion“, in: Der Radiologe 55/8 (2015), S. 638-648, hier S. 639f. 73 Vgl. Breitenseher, Martin: Der MR-Trainer. Obere Extremität, Stuttgart 2005, S. 2. 74 Vgl. Uhlenbrock, Detlev/Forsting, Michael: MRT und MRA des Kopfes. Indikationsstellung – Wahl der Untersuchungsparameter – Befundinterpretation, Stuttgart 22007, S. 13. 75 Vgl. H. Handels: Medizinische Bildverarbeitung, S. 15.
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Messung ab, der über T1 oder T2 zu differenzieren ist.76 Repetitions- und Echozeit hingegen bestimmen, welche Gewebe in der Verbildlichung hell oder dunkel erscheinen. Bezogen auf das hier beispielhaft erläuterte Schädelprotokoll ist die eingesetzte Messsequenz mit Blick auf die Indikation der Untersuchung von Bedeutung, weil die darüber geregelten Faktoren Gewichtung (T1, T2, PD) und Messzeit (TR, TE) über die Grauwerte und deren Kontraste im Bildergebnis entscheiden. Die an der Bildgebung beteiligten Akteure müssen um die Signalintensitäten verschiedener Gewebe wissen, wie sie beispielsweise bei Dominik Weishaupt, Victor D. Köchli und Borut Marincek im MRT-Handbuch aufgeführt sind77, damit bei der Produktion der Bilder die ausschlaggebenden Grauwertkontraste erzeugt werden. Den im Handbuch angeführten Daten ist beispielsweise zu entnehmen, dass sich tumoröses Gewebe im T1-gewichteten Bild dunkel, im T2-gewichteten Bild hell darstellt und somit im Vergleich der beiden Bildergebnisse differenzieren lässt; zugleich verdeutlichen die dort angegebenen Werte, dass eine Abgrenzung von entzündetem oder spezifisch tumorösem Gewebe über die beiden Visualisierungen nicht möglich ist: beide Gewebearten werden dunkel (T1) beziehungsweise hell (T2) visualisiert. In einem weiteren Schritt erlauben die beiden Aufnahmen in T1- und T2-Gewichtung bei der diagnostisch motivierten Suche nach Hämatomen überhaupt keine Unterscheidbarkeit, da akute Hämatome in beiden dunkel, subakute in beiden hell abgebildet werden. Andere biophysikalische Messwerte, wie die relative Protonendichte, ermöglichen bei derartigen Unterscheidungsschwierigkeiten weitere Abgrenzungen; so sind Meningeome (gutartige Tumore) durch eine leicht höhere Protonendichte von Metastasen (Absiedelungen bösartiger Tumore) abzugrenzen.78 Der Blick auf die Referenzwerte reicht aus, um verschiedene Abbildungsbedingungen zu kennzeichnen, die eklatante Auswirkung auf die spätere Bildrezeption haben, und unterstreicht erneut die Komplexität der Magnetresonanztomografie. In radiologischen Protokollen zur Magnetresonanztomografie finden sich daher Angaben zu den eingesetzten Messsequenzen: Im Münsteraner MRT-Protokoll wird die Zusammensetzung aus konventionellen T1-, PD- und T2-gewichteten Sequenzen sowie einer FLAIR-Sequenz mit transversaler Schichtausrichtung betont79, während im zweiten Beispielprotokoll in ähnlicher Weise T1- und T2-
76 Vgl. ebd., S. 21. 77 Vgl. D. Weishaupt/V. D. Köchli/B. Marincek: Wie funktioniert MRT?, S. 13. 78 Vgl. ebd.: Für Meningeome geben die Autoren eine Protonendichte von 90%, für Metastasen von 85% an. 79 Vgl. C. Lukas u. a.: Münsteraner Basis-Protokoll, S. 2.
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gewichtete Sequenzen sowie die FLAIR-Sequenz eingesetzt werden.80 Die erwähnte FLAIR- oder Fluid Attended Inversion Recovery-Sequenz zählt zu den schnellen Spinecho-Sequenzen; ihre Besonderheit sind lange Inversionszeiten, welche das zerebrospinale Liquorsignal81 praktisch vollständig unterdrücken, während Signale aus Gehirngewebe, Tumoren oder Ödemen sehr gut detektiert werden können. Die FLAIR-Sequenz wird verstärkt bei Schädelaufnahmen eingesetzt, um Läsionen mit geringem Kontrastverhalten im Hirnparenchym (Nervenzellgewebe des Gehirns) darzustellen.82 Die Liste möglicher Sequenzen für die Magnetresonanztomografie ist heute sehr lang83; neben den erwähnten konventionellen Sequenzen für T1, T2 und Protonendichte sowie der FLAIR-Sequenz lassen sich beispielhaft die Spinecho-, Inversion-Recovery-, Gradientenecho- oder Fast-Field-Echo-(FFE-)Sequenzen nennen. Sie alle haben Schwerpunkte in Bezug auf die Kontrast- und Bildgebung der drei Gewebeparameter, senden in unterschiedlichen Winkeln und zu verschiedenen Zeiten die Impulse in das menschliche Gewebe und nutzen diverse Umrechnungsverfahren und Algorithmen zur Verbildlichung der Messwerte durch den Computer. Insbesondere den schnellen Sequenzen werden „einige mathematische Tricks“ nachgesagt, was sich auf „Techniken der unvollständigen K-Raum-Abtastung“84 bezieht. Ähnlich wie bei der Computertomografie die Bildqualität über einen niedrigen Pitch erhöht wird, akzeptiert die Radiologie in der Magnetresonanztomografie mit schnellen Sequenzen eine nicht so zeitaufwändige Messung und Rekonstruktion der Daten für den Preis einer eventuell nicht vollständigen oder lückenlosen Datenakquisition. Ökonomischer Druck zwingt die Disziplin dazu, ihren vorrangig technisch-apparativen Qualitätsanspruch zu vernachlässigen; zugleich fließen auch wissenschaftliche Ansprüche (Vollständigkeit) mit ein, die hier aufgrund von Kürzungen im Gesundheitssystem hintangestellt werden. Das beide Bildmodalitäten verbindende Element ist die Suche nach der eindeutigen Lokalisierung und Differenzierung von pathologischem sowie gesundem
80 Vgl. M. Bollow: Protokoll zur MRT Schädel, S. 4. 81 Der Liquor cerebrospinalis (LCS) umgeibt das Nervensystem und füllt die Hohlräume des Gehirns (Hinrventrikel) aus. Vgl. Liem, Torsten: Kraniosakrale Osteopathie. Ein praktisches Lehrbuch, Stuttgart 62013, S. 278. 82 Vgl. D. Weishaupt/V. Köchli/B. Marincek: Wie funktioniert MRI?, S. 45. 83 Eine übersichtliche Darstellung der verschiedenen Sequenzen wird in Fachliteratur und Fachzeitschriften vielfach versucht, lässt sich aber nach den Recherchen für die vorliegende Untersuchung nicht auf einen Konsens bringen. 84 D. Weishaupt/V. Köchli/B. Marincek: Wie funktioniert MRI?, S. 52.
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Gewebe, was sich aus Sicht der Radiologie vor allem durch die im Bild dargestellten Grauwert- und Kontrastverhältnisse sowie Formen und Formvarianten bewerkstelligen lässt. Die in diesem Abschnitt behandelte Aufnahmeplanung und die gewählten Parameter haben entscheidende Auswirkungen auf diese Kontrastund Formdarstellungen, weshalb für die Produktionsprozesse ein komplexes Wissen um die Technik bei den radiologischen Akteuren erwartet wird. Bildideal: Wissenschaftliche Dokumentation Die sogenannten Rekonstruktionsparameter werden erst im Anschluss an die eigentliche bildgebende Untersuchung und Datenakquisition eingesetzt: Sie dienen der Rekonstruktion des Datenmaterials, die bei Computer- und Magnetresonanztomografie in erster Linie bildlich erfolgt. Entsprechend den Aufnahmeparametern werden auch die Rekonstruktionsparameter als wichtige Faktoren für eine gute Bildqualität genannt, weshalb generelle Regeln zu beachten sind und ein Abwägen der Vor- und Nachteile notwendig ist.85 Für die Computertomografie ist beispielsweise die multiplanare Reformatierung (MPR) zu nennen, die von vielen Herstellern als Option an der Scankonsole angeboten und von den Radiologen ausdrücklich zur Dokumentation und Nachbearbeitung empfohlen wird. Dabei handelt es sich um eine Neuerung, insofern die multiplanare Reformatierung als Möglichkeit zweidimensionaler Bildrekonstruktion aus Volumendatensätzen für die Computertomografie erlaubte, nicht mehr nur über transversale, sondern durch ausgefeilte Algorithmen und Rechenschritte auch über koronale und sagittale Körperebenen zur Befundung am Monitor in der radiologischen Routine zu verfügen.86 Entwicklungsgeschichtlich glichen die Implementierungen der Medizinischen Informatik damit die Nachteile der Computertomografie gegenüber der Magnetresonanztomografie aus, deren Technologie von Anfang an das Erheben von Messdaten in drei Ebenen und somit die ‚direkte‘ Visualisierung transversaler, koronaler und sagittaler Schichten ermöglichte. Die speziell der Nachverarbeitung zugeordneten Kernels oder Faltungskerne, manchmal auch als Filter87 bezeichnet, zeigen ebenfalls die enge Verbindung der digitalen Verfahren mit der Medizinischen Informatik auf. Es handelt sich um Re-
85 Vgl. Flohr, Thomas/Brüning, Roland: „Anmerkungen zu den Protokollen“, in: dies./A. Küttner (Hg.), Mehrschicht-CT (2008), S. XVII-XX, hier S. XVII. 86 Vgl. ebd., S. XIX. 87 Vgl. H. Handels: Medizinische Bildverarbeitung, S. 52ff.
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chenvorschriften (Algorithmen), die über den optischen Eindruck des Bildes entscheiden. Während bei Strukturen mit hohem und natürlichem Kontrast, wie beispielsweise der Lunge oder den Knochen, ein kantenbetonender High ResolutionKernel oder ein Ultra High Resolution-Kernel von radiologischen Technologen als sinnvoll bezeichnet wird, werden in Bezug auf die Schädelaufnahme der Standardkernel oder ein glättender Kernel eingesetzt.88 Derartige Vorgehensweisen zeigen, dass beispielsweise stärkere Kontrastierung und davon abhängende optische Abgrenzbarkeit der Bilddetails nicht in erster Linie mit dem Bildaufnahmemodus, sondern mit den nach der Bilddatenakquisition eingesetzten Algorithmen zusammenhängen. Beide Verfahren, Computer- wie Magnetresonanztomografie, besitzen laut den Protokollen einen eigenen Schwerpunkt, was die Nachverarbeitung und Dokumentation des Bildmaterials anbelangt. Für erstere Technik wird vor allem die Fensterung (Level-Window-Technik) betont, die schon im Exkurs im vierten Kapitel erläutert wurde. Die Fensterung ist als Werkzeug zwar für beide Verfahren üblich, wird allerdings in Literatur und Forschung zumeist mit der Computertomografie verbunden. Dieses Ungleichgewicht lässt sich in Bezug auf die theoretischen Grundlagen der Fensterung erläutern: Während für die Computertomografie mit der Hounsfield-Skala eine mögliche Normierung der Signalwerte zur Konvention geworden ist und sich standardisierte Intervalle zur Darstellung von Knochen, Weichteilen und anderen Organen etabliert haben, fehlt eine solche Skala für die Magnetresonanztomografie. Bei letzterem Verfahren werden somit geeignete Fenster beziehungsweise Intervalle interaktiv durch den Benutzer festgelegt, womit die Vorgehensweise eine gewisse Beliebigkeit erhält.89 Die Radiologen konstatieren, dass aufgrund des relativen Signalverhaltens und der relativen Signalintensität magnetresonanztomografischer Bilder eine Änderung der Einstellungen nach dem jeweiligen diagnostischen Bedarf erfolgt.90 Die Bildergebnisse der Magnetresonanztomografie sind damit in ihrer Ausgabe nicht in den Maßen standardisiert und normiert wie bei der Computertomografie.91 Für die computertomografischen Schädelprotokolle erfolgt die Dokumentation für die hintere Schädelgrube explizit im Weichteilfenster bei einer Fensterlage W/C (window/center) von circa 190/35, ab der Felsenbeinoberkante mit W/C
88 Vgl. A. Grillenberger/E. Fritsch: Computertomgraphie, S. 99f. 89 Vgl. zum Thema Fensterung: H. Handels: Medizinische Bildverarbeitung, S. 285f. 90 Vgl. F. Vorbeck u. a.: Filmlose Magnetresonanztomographie, S. 279. 91 Vgl. dazu Ergebnisse der Technologiefolgen-Abschätzung, wie z. B. bei B. Hüsing/L. Jäncke/B. Tag: Impact Assessment of Neuroimaging, S. 69f.
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100/35 oder bei Frakturen oder Knochenläsionen mit W/C 3.500/500. 92 Die Protokolle entsprechen damit der Konvention, die Fensterlage (window center) sowie die Fensterbreite oder -weite (window width) anzugeben. Die Weite erläutert, über wie viele Hounsfield-Einheiten sich das Fenster erstreckt, und das Zentrum stellt den Mittelpunkt des Fensters dar; auf Hounsfield-Skala, Fensterung und Basistheorie der Computertomografie wurde in der technischen Erläuterung (vgl. Kap. 4) schon verwiesen. Vor dieser Grundlage erklären sich die in den Protokollen aufgegriffenen Fenstereinstellungen wie das Weichteil- und Knochenfenster: Je nach gewählter Weite oder Breite des Fensters wird ein bestimmter Gewebekontrast in der Visualisierung betont; das Knochenfenster verdeutlicht knöcherne Strukturen innerhalb des Schädels, um Frakturen oder Knochenläsionen erkennbar und diagnostizierbar zu machen. Aufgrund der hohen Breite des Fensters lässt es allerdings keine Differenzierung des Weichteilgewebes zu. Das Weichteilfenster umfasst daher einen engeren Bereich von Hounsfield-Einheiten, um Organe und wasseräquivalentes Gewebe der visuellen Unterscheidung zugänglich zu machen. 93 Nachbereitung und Dokumentation dienen also der unterschiedlichen Ausgabe ein- und desselben Datensatzes, um Kontraste zu optimieren und Gewebedifferenzen zu verbildlichen. Für die Magnetresonanztomografie wird in Bezug auf Dokumentation und Nachbereitung vor allem darauf verwiesen, dass die Art und Anzahl der verwendeten Messsequenzen festzuhalten ist und ob bei der Datenaufnahme vom Standard abgewichen wurde. Laut den Protokollen soll die Reihenfolge der empfohlenen Sequenzen nicht verändert werden, doch eine Optimierung der Sequenzparameter zum Erreichen eines bestmöglichen T1- und T2-Kontrastes auf dem jeweils zur Verfügung stehenden MR-System gilt als „erwünscht“94. Diese individuellen Entscheidungen müssen für die Bildergebnisse angegeben werden, da jede Veränderung der Einstellungen auch spezifische Variationen der Bildergebnisse hervorruft, die im Sinne der medizinischen Wissenschaftlichkeit nachvollziehbar und reproduzierbar bleiben müssen. Bildbeurteilung: Das ‚gute‘ Bild (Qualitätskriterien) Der Abschluss der Bildproduktion besteht in der Weiterleitung der angeforderten Bildergebnisse an den befundenden Radiologen. Dabei werden Auswahl und Beurteilung der Ergebnisse durch eine die Radiologie bestimmende Vorstellung des
92 Vgl. S. Becht u. a.: Lehrbuch der röntgendiagnostischen Einstelltechnik, S. 510. 93 Vgl. T. M. Buzug: Einführung in die Computertomographie, S. 407. 94 C. Lukas u. a.: Münsteraner MRT-Basisprotokoll, S. 2.
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‚guten‘ beziehungsweise optimalen Bildes motiviert. Das medizinisch-technische Personal überwacht den gesamten Prozess der Bildgebung und achtet vor allem in der Interaktion mit dem Patienten auf die Qualität des entstehenden Daten- oder Bildmaterials. Besonders wichtig ist es, den Patientenkörper möglichst ruhig zu halten und somit in ein ‚unbelebtes Objekt‘ der Bildgebung zu verwandeln. Heute ermöglichen leistungsstarke Computer und technologisch gut ausgerüstete Geräte eine sofort stattfindende Abbildung der aufgenommenen Daten, die vom medizinisch-technischen Personal an Sichtgeräten überprüft werden kann. Die Protokolle erläutern, auf welche Qualitätskriterien und Bildmerkmale zu achten ist: Für die computertomografische Schädelaufnahme ist beispielsweise eine lückenlose Untersuchung des gesamten Hirnschädels angemessen, die je nach Rekonstruktionsprogramm problematisch sein kann, und es wird die Differenzierung von Grauer und Weißer Substanz und der Basalganglien95 sowie eine klare Abgrenzung von umgebenden Knochen gefordert. Die äußeren und inneren Liquorräume96 sollen symmetrisch dargestellt und umschriebene Dichteänderungen erfasst werden. Die Dokumentation in angepasster Fensterlage dient all diesen Aspekten und den verschiedenen Nachweisen durch das Bildmaterial. 97 In dieser Auflistung spiegeln sich Vorstellungen, die sich in der Radiologie für die Bewertung der optimalen Bilder in der Diagnostik herausgebildet haben. Eine lückenlose Untersuchung bedeutet Vollständigkeit im Sinne eines naturwissenschaftlichen Ideals, insofern dem Radiologen während der Ergebnisauswertung kein Befund entgehen kann. Allerdings führen bestimmte Prozesse des Gesundheitssystems dazu, dass in der Radiologie für schnellere Untersuchungen durchaus auf eine lückenlose Datenerhebung verzichtet wird, wie beispielhaft für Kollimation und Pitch (Computertomografie) oder schnelle Messsequenzen (Magnetresonanztomografie) dargelegt. Der Einfluss von ökonomischen Faktoren
95 Basalganglien oder Stammganglien bezeichnen eine Gruppe von Neuronen/Kernen, die vor allem an der Basis des Vorderhirns liegen. Vgl. Reichert, Heinrich: Neurobiologie, Stuttgart 22002, S. 148. 96 Innerhalb des menschlichen Gehirns liegt ein System aus liquorgefüllten Hohlräumen vor. Der innere Liquorraum wird auch als Ventrikelsystem bezeichnet, wobei vor allem dem III. Ventrikel bei der Computertomografie eine besondere Bedeutung zukommt. Dieser Ventrikel liegt im Zwischenhirn, ist nur wenige Millimeter flach und kennzeichnet im Computertomogramm die Trennung zwischen linker und rechter Gehirnhälfte. Sollte er sich zu der einen oder anderen Seite verziehen, liegt der Verdacht einer Anschwellung (Hirnödem, Tumor) nahe. Vgl. Schwegler, Johann/Lucius, Runhild: Der Mensch. Anatomie und Physiologie, Stuttgart 52011, S. 111. 97 Vgl. S. Becht u. a.: Lehrbuch der röntgendiagnostischen Einstelltechnik, S. 510.
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wird in sozialwissenschaftlichen sowie wirtschaftswissenschaftlichen Studien 98 reflektiert, allerdings wurden die radiologischen Entscheidungen in der Produktion bisher nicht in Bezug auf das entstehende Bildmaterial ausgewertet: Aufgrund des Zeit- und Kostendrucks Lücken in der Datenakquisition zu akzeptieren, sollte bedenklich stimmen. Für die Visualisierung können dadurch Durchschnittswerte und Darstellungsvorstellungen des menschlichen Körpers das visuell wahrnehmbare Ergebnis enorm beeinflussen. Die weiter unter den Qualitätskriterien genannte Abgrenzung und Differenzierung verschiedener morphologischer Gegebenheiten zeichnet die medizinische Bildgebung seit ihrer Einführung mit der Röntgentechnik aus und stellt gleichzeitig das größte Problem dar. Vor allem die Weichteilgewebe und, bezüglich der Schädelaufnahme, die Graue und Weiße Substanz lassen sich in den Bildergebnissen nicht immer in gewünschter Weise voneinander abgrenzen oder differenzieren. Das medizinisch-technische Personal hat daher auf die Kontrastdarstellungen in den Bildergebnissen zu achten und beispielsweise die Fensterung nach technischen Möglichkeiten optimal auszuwählen. Ebenfalls ergibt sich für das Personal die formale Anweisung der symmetrischen Darstellung für die äußeren und inneren Liquorräume. Dient die computertomografische Untersuchung der Abklärung extraaxialer oder intraaxialer Blutungen, erhält die angesprochene Symmetrie für die radiologische Befundung enorme Bedeutung: Bei diesen Blutungen kommt es zu raumfordernden Prozessen, die Hirngewebe von einem Kompartiment in ein anderes verschieben, was erst in der symmetrischen Darstellung beider Bereiche sichtbar wird. Die Mittellinie und der Hirnstamm verlagern sich, was zu einer Asymmetrie der Liquorräume führt und aus radiologischer Sicht ein eindeutiger Nachweis für eine der genannten Blutungen ist.99 Dieser ausführlichen Erläuterung der computertomografischen Schädelaufnahme lassen sich die magnetresonanztomografischen Protokolle anschließen. Zwar enthalten letztere wenige zusätzliche Informationen, betonen aber ebenfalls die Wertschätzung einer lückenlosen Untersuchung. Das medizinisch-technische
98 Vgl. Salomonowitz, Erich: Erfolgreiche Organisationsentwicklung im Krankenhaus. Mehr Personal spart Kosten. Gelebte Investition in Qualität, Know-how und Skills am Beispiel der Radiologie, Wien 2009; und vgl. Kirchner, Helga/Kirchner, Wilhelm: Professionelles Management im Krankenhaus – Erste Hilfe für leitende Ärztinnen und Ärzte, Stuttgart 2008; und vgl. Busch, Hans-Peter: Management-Handbuch für Chefärzte, Stuttgart 2012. 99 Vgl. Struffert, T.: „Schädel-Hirn-Trauma“, in: R. Brüning/T. Flohr/A. Küttner (Hg.), Mehrschicht-CT (2008), S. 149-157, hier S. 156.
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Personal hat auch hier bei der Aufnahme auf eine bildliche Abdeckung des gesamten Gehirns zu achten.100 Die radiologische Fachliteratur verweist auf eine vollständige, kontrastreiche und symmetrische Darstellung und führt die Forderungen als sogenannte Qualitätskriterien an, zu denen beispielsweise die gute Erkennbarkeit und artefaktfreie Abbildung der „kritischen Bildelemente“ 101 gezählt werden. Die Vorstellung des guten Bildes schreibt sich fort und ist letztlich nicht an ein spezifisches Verfahren gebunden, sondern als grundsätzliche radiologische Bildbewertung zu verstehen. Neben einen technischen Qualitätsbegriff tritt dabei ein gestalterischer oder ästhetischer Qualitätsbegriff, mit dem der Zusammenhang von Inhalt und Form beurteilt wird.102 Allerdings trügt der Eindruck, dass die Radiologie durch eine einheitliche Vorstellung des guten Bildes geprägt wird, was die Problematik der ästhetischen Beurteilung unterstreicht:103 Das medizinisch-technische Personal arbeitet bei der Bildrekonstruktion und -auswahl vorausschauend mit Blick auf die spätere Befundung und den befundenden Radiologen. Dabei zeigt die Arbeit für einen Radiologen auf, inwiefern von Protokollen oder festgelegten Standards abgewichen wird: MTRA und andere Akteure betonen, dass sie je nach Vorliebe des Radiologen die Bildgebung variieren und spezifizieren.104 Ihnen ist bewusst, inwiefern die zur Verfügung stehenden Wahlmöglichkeiten das Bildergebnis beeinflussen, wie beispielsweise Kelly A. Joyce 2008 herausarbeiten konnte. Joyce zitiert eine medizinisch-technische Angestellte: „It’s easy to tweak the parameters to make something that’s not there. You can also hide lesions. If you knew where a lesion was and you pointed it out to me, I could make it so that
100 Vgl. C. Lukas u. a.: Münsteraner MRT-Basisprotokoll, S. 2. 101 H.-J. Kretschmann/W. Weinrich: Klinische Neuanatomie, S. 16. 102 Vgl. Krömker, Detlef: Visualisierungssysteme, Berlin/Heidelberg 1992, S. 12. 103 Wie schon in Bezug auf den Informatiker und Mathematiker Detlef Krömker aufgegriffen wurde, sieht die Informatik die Nutzung einer gestalterischen oder ästhetischen Qualität der Bilder als schwierig an, insofern ähnliche Aussagen, Reize oder Wirkungen mit sehr verschiedenen Bildern erreichbar sind – und umgekehrt. Vgl. ebd. 104 Aus der Kunstgeschichte verweist Martin Kemp (2003) auf die aufmerksamen und erfahrenen Röntgenassistenten, die sehr genau wissen, wie sie die Maschinen so einstellen, dass die produzierten Bilder von ‚ihren‘ Radiologen gelesen werden können. Vgl. Kemp, Martin: Bilderwissen. Die Anschaulichkeit wissenschaftlicher Phänomene, Köln 2003, S. 198.
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the lesion can be in the gap. And you could go through the liver or the brain and you would never see it.“105
Die Bildproduktion ist von essentieller Bedeutung für die anschließenden Schritte der Bildrezeption, da dem Radiologen die Herstellung des Bildes bewusst sein muss. Wie im Folgenden erläutert wird, hat der Radiologe sein gesamtes Wissen um die Bildherstellung ebenso in die Betrachtung einzubringen wie die der Bildgebung zugrunde liegenden Theorien zum menschlichen Körper. Dass sich das medizinisch-technische Personal an die Protokolle hält, ist kein Garant für eine eindeutige Bildinterpretation des Radiologen im Sinne der medizinischen Diagnostik. Der Einfluss persönlicher Vorlieben wurde mit dem Bezug auf die Arbeit der MTRAs geschildert. Weiter erfordert der menschliche Körper selbst individuelle Einschätzungen und zuletzt darf übergreifend nicht das Medium Bild als Vermittlungs- und Darstellungsvariante vernachlässigt werden. Abschließend sei in diesem Zusammenhang für den Prozess der Bildproduktion das Problem oder die Gefahr der Bildartefakte aufgegriffen. Insbesondere der Magnetresonanztomografie wird im Vergleich zur Computertomografie ein erhöhtes Potential für Bildfehler zugesprochen, was die Bildqualität und somit die radiologische Bildbewertung erheblich einschränkt.106 Aufgezählt werden beispielsweise Bewegungs- und Flussartefakte, Rückfaltungsartefakte, ChemicalShift-Artefakte, Auslöschungs- und Verzerrungsartefakte, Kantenartefakte, Linienartefakte und Artefakte durch externe Störquellen im Raum.107 Für die Computertomografie wird zumindest in den hier zugrunde liegenden Protokollen nur auf Bewegungs- und Grenzflächenartefakte eingegangen. Die Problematik der Artefakte betont erneut, dass es sich bei der Magnetresonanztomografie um die komplexere Visualisierungsmethode handelt. Historisch wurde aufgezeigt, dass der Begriff des Artefakts die medizinische Bildgebung von Anfang an begleitet und schon in Röntgenbildern derartige fehlerhafte Wiedergaben entdeckt wurden (vgl. Kap. 3). Die Bundesärztekammer hat
105 K. A. Joyce: Magnetic Appeal, S. 63. 106 Für die MRT betonen Kretschmann und Weinrich, dass die Fehlermöglichkeiten durch Artefakte und inadäquate Durchführung bei diesem Verfahren aufgrund der Vielzahl veränderbarer und voneinander abhängiger Messparameter erheblich größer sind als bei anderen bildgebenden Verfahren. Vgl. H.-J. Kretschmann/W. Weinrich: Klinische Neuroanatomie, S. 16. 107 Vgl. S. Becht u. a.: Lehrbuch der röntgendiagnostischen Einstelltechnik, S. 42.
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am 23. November 2007 aufgrund eines Beschlusses die Leitlinie zur Qualitätssicherung in der Computertomografie formuliert. Darin erläutert die Kammer Artefakte wie folgt: „Artefakte sind veränderte Muster oder nicht stochastische Störungen im rekonstruierten Bild, die im Objekt nicht vorhanden sind. Sie werden in der Regel verursacht vom untersuchten Patienten in Verbindung mit der Wahl der Aufnahmeparameter (Bewegungsartefakte, Partialvolumeneffekte, Aufhärtungseffekte u. ä.) oder durch das Meßsystem (fehlerhafte Messwerterfassung [sic], Detektorempfindlichkeitsänderung, Projektionsfehler, Kalibrierfehler, Rekonstruktionsfehler). Die Bildartefakte behindern die visuelle, vor allem aber auch die quantitative Auswertung der Computertomogramme.“ 108
Die Betrachtung der Produktion radiologischer Bilder und den Umgang mit denselben abschließend, wird über dieses Zitat noch einmal deutlich, wie stark die Disziplin an technischen Faktoren der Bildgebung orientiert ist. Sie reflektiert Artefakte als Bildfehler, die über das Abbildungssystem und falsche Einstellungen verursacht werden, und sieht sie im Zusammenhang mit dem Messsystem und der quantitativen Auswertung der Untersuchungsergebnisse als problematisch an. Auch die visuelle Auswertung der Tomogramme findet in der Leitlinie der Bundesärztekammer Erwähnung, allerdings nicht die Bedingungen der spezifischen Ausgabeform als Bilder und die damit verbundenen Anforderungen an die Arbeit der Radiologen. Dass es sich um Bilder handelt, mit denen die Mediziner umgehen und über die sie versuchen, eindeutige Aussagen zum jeweiligen Zustand des der Bildgebung zugrunde liegenden menschlichen Körpers zu treffen, stellt sich als hauptsächliche Schwierigkeit vor dem Hintergrund der radiologisch-wissenschaftlichen Positionierung heraus. Dieser Umstand wird vor allem bei der Betrachtung und Auswertung des Bildmaterials durch die Radiologen deutlich, wie er im folgenden Kapitel zur Rezeption aufgegriffen wird.
108 Bundesärztekammer (Arbeitsgemeinschaft der deutschen Ärztekammer): Leitlinie der Bundesärztekammer zur Qualitätssicherung in der Computertomografie vom 23. November 2007, S. 7, http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/LeitCT2007Korr1.pdf vom 01.02.2019.
6
Rezeption von Computer- und Magnetresonanztomografien
Im Anschluss an die Produktion erfolgen der digitale Transfer sowie die digitale Speicherung des Bildmaterials; gemeint ist damit das Weiterleiten einer Auswahl der nach radiologischen Aufnahmeprotokollen gefertigten Bilder durch das medizinisch-technische Personal an einen Radiologen. Zumeist ist der rezipierende Radiologe auch derjenige, der die Produktion der Bilder zuvor angewiesen hat: Ihm oblagen die Prüfung der Indikation, wie sie vom behandelnden Arzt formuliert wurde, und die daran anschließende Spezifizierung der bildgebenden Untersuchung. Seine zentrale Aufgabe besteht nun in der Befundung des vorliegenden Bildmaterials unter Berücksichtigung weiterer, zum Patienten erhobener Daten und – bildwissenschaftlich hervorzuheben – vor dem Wissen um die Produktion der Bilder. Mit dem Übergang zur spezifischen Betrachtung des Bildmaterials durch den Radiologen finden zuerst personelle und räumliche Wechsel statt: Das Bildmaterial wird vom medizinisch-technischen Personal an den Radiologen weitergeleitet und verlässt im Krankenhausgefüge die Räumlichkeiten der bildgebenden Untersuchung mit ihren Apparaten, um in den sogenannten Lese- oder Befundräumen an Computern (workstations) zur weiteren Verarbeitung verfügbar zu sein. Der amerikanische Sozialwissenschaftler Barry F. Saunders beschäftigt sich in seiner Untersuchung zur Computertomografie von 2008 explizit mit der Geschichte dieser Leseräume und der darin stattfindenden, radiologischen Tätigkeit. Er betont, dass es sich um einen Raum handelt, in dem visuell gearbeitet wird, und der den ‚diagnostical gaze‘ (diagnostischen Blick) beheimatet – ein visuelles Handwerk, das von Konventionen und Traditionen durchdrungen ist.1 Die vorrangig visuelle Arbeit der Radiologen steht bei der folgenden Analyse im Vordergrund, weshalb
1
B. F. Saunders: CT Suite, S. 90.
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nach bild- und kunstwissenschaftlichem Ansatz Erkenntnisse der Wahrnehmungsforschung zu berücksichtigen und mit den Konventionen und Traditionen der Radiologie in Bezug zu setzen sind. Der Wechsel ist zweitens ein medialer und für die Rolle der Medizinischen Bildverarbeitung ausschlaggebender, insofern Transfer und Archivierung heute in erster Linie digital erfolgen, während sie ursprünglich das Material Film einschlossen. Erreichte das Bildmaterial den Befundraum früher in Filmtüten, wird es mittlerweile über das in die Klinik integrierte Computernetzwerk versandt. 2 Dieser mediale Umbruch ist allerdings nicht zeitlich fixierbar, da sich die Digitalisierung eher als schleichender Prozess vollzogen hat (vgl. Kap. 4); darüber hinaus konstatieren vor allem sozialwissenschaftliche Forschungsarbeiten, dass immer noch einige Radiologen ausgedrucktes oder auf Film entwickeltes Bildmaterial bevorzugen.3 Der mediale Wechsel und die für die vorliegende Untersuchung grundlegende Verbindung zur Medizinischen Bildverarbeitung lassen sich beispielhaft an der Betrachtungssituation des Bildmaterials eruieren. Die ursprünglich als Filme verfügbaren Untersuchungsergebnisse wurden in den Befundräumen auf Licht- oder Leuchtkästen angebracht, die einen Großteil der radiologischen Räumlichkeiten ausfüllten. Die Aufgabe des medizinisch-technischen Personals bestand darin, das Bildmaterial einer Untersuchung in diesem Raum an den Leuchtkästen aufzuhängen und dabei die richtige Positionierung (rechts/links, oben/unten) sowie eine chronologische Reihenfolge einzuhalten. Seit der Einführung der Computer entfällt diese Tätigkeit größtenteils und wird von installierten Programmen übernommen: Sogenannte Hanging Protocols der Informatik sollen dafür sorgen, dass das digital vorliegende Bildmaterial in der richtigen Positionierung und in chronologischer Reihenfolge zur Verfügung steht. Derartige Veränderungen bilden ein Konglomerat aus technischen Entwicklungen und finanziellen Kürzungen. Dem
2
Robert A. Novelline schildert in seinem erstmals 1964 aufgelegten Squire’s Radiology, dass die computertomografischen Aufnahmen den Radiologen üblicherweise in der Filmtüte des Patienten erreichen und sie darin so dokumentiert sind, „daß sich auf jedem Film zwischen 6 und 20 Einzelaufnahmen in der Reihenfolge befinden, wie sie aufgenommen wurden“. R. Novelline: Squire’s Radiology, S. 30.
3
Vgl. A. Prasad: Making Images/Making Bodies, S. 295; und vgl. R. V. Burri: Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder, S. 212. Burri verweist auf eine haptische Vorgehensweise der Radiologen als ‚körpergeleitete Bildtechnik‘, insofern die Radiologen aus ihrer Perspektive den Tastsinn aktiv als Erkenntnisinstrument einsetzen, wenn sie ausgedruckte Bilder in den Händen halten.
Bildrezeption | 203
medizinischen Personal soll durch diese Programme Zeit für andere Arbeiten bleiben. Allerdings präsentiert dieses Beispiel auch die Probleme der Digitalisierung, da zumindest 2002 die Kompensation des Vorsortierens durch die installierten Programme als unzureichend bezeichnet wurde und das Sortieren am Monitor zusätzlich ärztliche Arbeitszeit kostete, statt den Radiologen die versprochene Erleichterung zu bringen.4 In der teilweise nur langsamen und schwerfälligen Integration informatischer Software in die tägliche Arbeit zeigt sich die problematische Zusammenarbeit von Informatik und Medizin. Dieser Aspekt dient der vorliegenden Argumentation, dass sich ein auf Intuition und Erfahrung basierendes Wissen nicht in berechnende und streng standardisierte sowie normierte Abläufe übertragen lässt. Genannte sozialwissenschaftliche und wissenschaftshistorische Studien5 greifen diese Beobachtungen auf, von bildwissenschaftlicher Seite wurde ihre Einbindung bisher versäumt. Bezogen auf das angeführte Beispiel ist zu vermuten, dass die Unterstützung der radiologischen Tätigkeit durch Programme oder deren Übergabe an den Computer ebenfalls die Modi der Bildproduktion und -rezeption verändert. Neben Medizin und Radiologie reflektiert die Informatik die visuelle Aneignung des radiologischen Bildmaterials unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der Wahrnehmungsforschung und integriert sie in ihrer Forschungsarbeit. Die Wahrnehmung und Betrachtung computer- und magnetresonanztomografischer Bilder stellt sich somit als wichtiger, interessenverbindender Aspekt der Disziplinen heraus, der bildwissenschaftlich zu untersuchen ist. Die leitende These, dass die Spezifika des Bildes einer erwünschten Eindeutigkeit der Aussagen entgegenstehen, lässt sich um das Forschungsergebnis erweitern, dass Medizin und Informatik die spezifischen Bedingungen ihres Gegenstands nicht erörtern, wie im Folgenden gezeigt wird. Die Frage, ob den Bildern Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit inhärent sind, wird nicht gestellt. Stattdessen wird – in der Zusammenarbeit – eine technische Abbildungsqualität angestrebt, die den Bildreferenten möglichst eindeutig im Sinne von ‚realitätsnah‘ darstellt. Wie für die radiologische Bildproduktion im fünften Kapitel die Beteiligung verschiedener Akteure in einem historisch gewachsenen Handlungsrahmen aufgezeigt wurde, steht im Folgenden die Bildrezeption im Analysefokus, bei der die Aspekte visuelle Wahrnehmung, Interpretationsprozesse und Erfahrungswissen 6
4
Vgl. Nissen-Meyer, Sven u. a.: „Produktivitätsverbesserung durch klinikweite RIS und PACS: eine Fallstudie“, in: Der Radiologe 42/5 (2002), S. 351-360, hier S. 359.
5
Vgl. bspw. R. V. Burri: Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder; K. A. Joyce:
6
Der Mediziner Hans-Peter Heilmann schildert 1981 in der RöFo, dass die wissenschaft-
Magnetic Appeal; B. F. Saunders: CT Suite. liche Forderung einer „reinen Beobachtung“ in der Radiologie nicht umsetzbar ist. Bei
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oder tacit knowledge7 eine Rolle spielen, um die Komplexität der entstehenden Bilder zu reduzieren. Die für die Untersuchung der Bildproduktion herangezogenen Aufnahmeprotokolle geben wenig Auskunft über die anschließende Interpretation des Bildmaterials. Im Rahmen der klinischen Diagnostik erlernen die Radiologen die Rezeption computer- und magnetresonanztomografischer Bilder in Ansätzen im medizinischen Studium, hauptsächlich jedoch in der bis zu fünf Jahre dauernden Facharztausbildung.8 Beide Ausbildungsstränge betonen ein auf Erfahrung basierendes Wissen. In den herangezogenen Quellen zählt nicht nur die Weiterbildungsordnung der Bundesärztekammer auf, dass der auszubildende Radiologe jährlich 1.000 Ultraschalluntersuchungen, 3.500 radiologische Untersuchungen (inklusive Computertomografie) am Thorax und an Thoraxorganen, 3.000 an
der Betrachtung und Analyse von Röntgenbildern gehen „Erfahrung und individuelle[n] Ausrichtung des Befunders“ ein und beeinflussen die jeweiligen Beobachtungen erheblich. H.-P. Heilmann: Der Röntgenbefund, S. 221. 7
Kelly A. Joyce, Regula V. Burri und Alexandra Manzei gehen bei ihren Forschungen zu bildgebenden Verfahren und medizinischer Spezialisierung vom tacit knowledge aus: Sie betonen, dass es um ein Aneignen von (Interpretations-)Wissen und (Blick-) Techniken geht, das nicht über theoretische Hintergründe und objektive Fakten, sondern über die Praktiken der medizinischen Arbeit erfolgt. Vgl. Joyce, Kelly A.: „Appealing Images: Magnetic Resonance Imaging and the Production of Authoritative Knowledge“, in: Social Studies of Science 35/3 (2005), S. 437-462, hier S. 446; vgl. R. V. Burri: Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder, S. 215; und vgl. A. Manzei: Zur gesellschaftlichen Konstruktion medizinischen Körperwissens, S. 223ff. Vor allem Soziologie und Sozialwissenschaften gehen bei Fragen der Wissensvermittlung und Lernprozesse von zwei grundlegenden Arten des Wissens aus: Einer zu verbalisierenden Art als Wissen von Fakten und Konzepten (explicit knowledge) und einer nicht zu verbalisierenden Art in Form von Intuition oder Wissen um Handlungsabläufe (tacit knowledge). Im Anschluss an die Laborstudien der 1980er Jahre (Bruno Latour) entstand eine soziologische Forschungsrichtung, die sich mit Expertenwissen und „inkorporiertem Wissen“ in der Medizin beschäftigt. Vgl. bspw. Patel, Vimla L./Arocha, José F./Kaufman, D. R.: „Expertise and Tacit Knowledge in Medicine“, in: Robert J. Sternberg/Joseph A. Horvath (Hg.), Tacit Knowledge in Professional Practice. Researcher and Practitioner Perspectives, London 2009, S. 75-99.
8
Für die Ausbildung zum Radiologen schließt an das erfolgreich beendete Medizinstudium eine rund fünfjährige Assistenzzeit gemäß der Weiterbildungsordnung der Ärztekammer an. Vgl. z. B. bei der Ärztekammer Nordrhein: http://www.aekno.de/page.asp? pageID=6203 vom 01.02.2019.
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Skelett und Gelenken oder 500 am Schädel sowie 3.000 Magnetresonanztomografien durchzuführen und in seinem Ausbildungslogbuch nachzuweisen hat, um nur einige Zahlen zu nennen.9 Der Fachbereich insgesamt hebt das über die Jahre anzueignende Erfahrungswissen als Grundlage der Bildinterpretation hervor. 10 Doch dem medizinischen Wissen, das zu einem großen Teil aus klinischen Beobachtungen oder eben in den praktischen Abläufen angeeignetem Erfahrungswissen (tacit knowledge) besteht, wird im Rahmen einer Modernen Medizin und ihrer Berufung auf naturwissenschaftliche (Objektivitäts-)Ideale spätestens seit den 1990er Jahren eine Evidenzbasierte Medizin (EbM) gegenübergestellt, die sich vorrangig auf Statistiken, Berechnungen und wissenschaftliche, randomisierte und kontrollierte Studien stützt.11 Der Mediziner und Philosoph Hillel D. Braude hält 2009 fest, dass der Einführung der EbM in den 1990er Jahren durchaus das Konzept zugrunde lag, das ‚inkorporierte Wissen‘ (tacit knowledge) auszuschließen. Die Theorie des tacit knowledge ist nach Braude mit dem Modell der klinischen Entscheidungsanalyse oder Begründung sowie der klinischen Krankheitslehre kompatibel,
9
Vgl. das (Muster-)Logbuch der Facharztweiterbildung Radiologie der Landesärztekammer nach der Weiterbildungsordnung in der Fassung vom 25.06.2010 und den Richtlinien in der Fassung vom 18.02.2011. http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/ user_upload/downloads/MLogbuch-29-FA-Radiologie.pdf vom 01.02.2019.
10 Vgl. bspw. Bergerhoff, W.: „Der subjektive Bildeindruck“, in: RöFo 75/8 (1951), S. 214-222, hier S. 218. 11 Kelly A. Joyce verweist im angloamerikanischen Sektor darauf, dass dort seit den 1990er Jahren eine Diskussion über Standards und bessere wissenschaftliche Evidenz vor allem in Bezug auf den Einsatz der MRT entstand, die unter dem Begriff der evidence-based medicine lief. Sie hebt hervor, dass innerhalb dieser Bewegung Radiologen die MRT mit anderen bildgebenden Verfahren wie CT und Röntgen in der diagnostischen Arbeit verglichen haben. Vgl. K. A. Joyce: Magnetic Appeal, S. 139ff. Vor dem Hintergrund der hier geleisteten Aufarbeitung der deutschen Radiologie und ihrer Implementierung bildgebender Verfahren ist allerdings zu betonen, dass ein derartiger Vergleich der verschiedenen Methoden zeitlich früher ansetzt. Schon bei der Einführung der CT wurden deren Ergebnisse mit Röntgentechnik oder pathologischen Schnitten in Bezug gesetzt, wie in Kapitel 4 dargelegt. Die Frage, inwiefern die neuen Technologien einen diagnostischen Mehrwert liefern, ist bei jeder Bildgebung erneut aufgeworfen und behandelt worden. Die EbM lässt sich daher als Manifestation einer deutlich länger andauernden Entwicklung ansehen.
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der EbM aber diametral entgegengesetzt.12 Letztlich sind auch die Überlegungen zur Bildrezeption in der Radiologie durchzogen von der Divergenz, sich auf der einen Seite auf Intuition und Erfahrungswissen der Radiologen, auf der anderen auf statistische Messwerte und objektivierbare Aussagen zu stützen. Historisch sind die verschiedenen Konzepte seit Anbeginn des Fachbereichs nachzuweisen (wie in Kap. 3 und 4 geschehen) und es ist zugleich aufzuzeigen, inwiefern neue Bildmedien und andere technische Möglichkeiten zu einer Verstärkung der sich auf Berechenbarkeit und exaktes Maß berufenden Argumentation in der Radiologie führen. Mit Blick auf die Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit des Bildes als Topoi der bildwissenschaftlichen Kunstgeschichte gruppiert sich die Debatte um (radiologische) Erfahrung versus (statistische) Evidenz gleichzeitig um einen Gegenstand, dessen Bedingungen und Eigenschaften nicht geklärt sind. Damit möchte ich hervorheben, dass statt einer intensiven Aufarbeitung des spezifisch Bildlichen ein Umgang mit den Bildergebnissen erfolgt, der zwar ihre Referenzierung auf den Bildgegenstand menschlicher Körper beinhaltet, jedoch zugleich diese Bildergebnisse als Repräsentationen des eigentlichen Forschungs- oder Untersuchungsobjekts präferiert. Die folgende Analyse der Bildrezeption und in erster Linie der radiologischen Bildbefundung zeigt den Versuch der Standardisierung und Normierung von Wahrnehmungsprozessen des vorher ebenfalls standardisiert und normiert produzierten Bildmaterials sowie die spätere schriftliche Auswertung und Fixierung der daraus hervorgehenden Ergebnisse oder Erkenntnisse. Prägnant dienen die Schlussfolgerungen zum Vergleichenden Sehen als angewandter Methode der Bildbetrachtung (Fazit 1) sowie zum Text-Bild-Verhältnis der Radiologie (Fazit 2) als Schnittstellen zwischen kunsthistorischer und bildwissenschaftlicher Analyse radiologischen Bildmaterials: In den Diskursen ist aufzuzeigen, wie stark die medizinische Disziplin an einer Komplexitätsreduktion ihrer Bild- und Wahrnehmungseindrücke interessiert ist. Die Radiologie versucht, der in der These der vorliegenden Arbeit angenommenen spezifischen Mehrdeutigkeit der Bilder in Umgang und Gebrauch durch verschiedene Strategien beizukommen und eindeutige Aussagen im Sinne einer Diagnose zu formulieren. Im Rahmen der Befundung wird die Methode des Vergleichenden Sehens angeführt, über die das jeweilige Einzelbild oder die zu einem Patienten gehörende Bildserie in den bildlichen Wissenskontext eingefügt wird. Während der Verschriftlichung der Ergebnisse
12 Vgl. Braude, Hillel D.: „Clinical intuition versus statistics: different modes of tacit knowledge in clinical epidemiology and evidence-based medicine“, in: Theoretical Medicine and Bioethics. Philosophy of medical research and practice 30 (2009), S. 181198, hier S. 181.
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stößt sich die Radiologie an der Problematik des Text-Bild-Verhältnisses, insofern beide nicht eins zu eins in das jeweils andere Medium überführt werden können. Es lässt sich aufzeigen, wie die Radiologie nicht nur die Mehrdeutigkeit des Bildes, sondern auch der Sprache beherrschbar machen möchte. Die vorliegende Untersuchung geht, wie im zweiten Kapitel zum bildwissenschaftlichen Diskurs betont wurde, mit Gottfried Boehm und anderen bildwissenschaftlichen Positionen davon aus, dass Bildern ein „Moment des Unbestimmten“13 inhärent ist. Dergleichen wird aus der Wahrnehmungsforschung unterstützt, wie sich beispielsweise Günther Kebeck 2006 mit einer Reflexion der Wahrnehmungsgewohnheiten vor dem grundlegenden Problem der „Frage nach der Eindeutigkeit bzw. Mehrdeutigkeit von Bildern“14 widmet. Der Wahrnehmungspsychologe schildert, dass das menschliche Wahrnehmungssystem an der Herstellung von Eindeutigkeit interessiert ist und bei der Bildwahrnehmung eine dafür prinzipiell unzureichende Reizgrundlage vorliegt: „Hier kommt es zu einem Konflikt zwischen der reiz- und der wissens- oder hypothesengesteuerten Verarbeitung. In einer sehr produktiven Weise werden Informationen ergänzt, gedeutet und integriert. Das Resultat soll eine dauerhafte Mehrdeutigkeit verhindern und Eindeutigkeit sichern.“15
Die Kunstwissenschaft benennt Mehrdeutigkeit, Unbestimmtheit und Ambiguität als produktive Komponenten und als Spezifika des Bildes, und auch Kebeck konstatiert, dass Kunstwerke zu einer Beschäftigung mit ihrer Ambiguität einladen.16 Nun stehen diese Spezifika eindeutigen Aussagen auf der Grundlage von Bildern entgegen – eine Problematik, der bildnutzende Disziplinen wie die Radiologie begegnen müssen. Die medizinische Disziplin entwickelt die angesprochenen und im Folgenden weiter zu betrachtenden Strategien, um dieser Mehrdeutigkeit entgegen zu wirken. Ein Beispiel für diese Strategien ist der Einsatz von kontrollierter Bildproduktion und nachträglichen Bild-Beschriftungen, um die bildliche ‚Hydra‘
13 G. Boehm: Das Paradigma ‚Bild‘, S. 52: „Ein Moment des Unbestimmten ist für die Logik des Bildes wesentlich.“ 14 Kebeck, Günther: Bild und Betrachter. Auf der Suche nach Eindeutigkeit, Regensburg 2006, S. 13. (Herv. i. O.) 15 Ebd., S. 13f. 16 Vgl. ebd., S. 14.
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zu bändigen.17 Für die Radiologie ist eine derartige Aufarbeitung bisher nur bezüglich der Röntgentechnik geleistet worden.18 Während die kontrollierte Bildproduktion im fünften Kapitel aufgezeigt wurde, steht daher nun die Rezeption der Bilder mit den Strategien des Vergleichenden Sehens und der Text-Bild-Verhältnisse im Mittelpunkt der Betrachtung.
6.1 DIGITALE BILDER UND VIRTUELLE KÖRPER IN DER MEDIZIN? Im Vordergrund steht die spezifisch radiologische Tätigkeit, die vorliegenden Bildergebnisse visuell auf Bildpathologien zu befunden. Die explizite Rede von „Bildpathologien“19, wie sie bei Hans-Joachim Kretschmann und Wolfgang Weinrich 2003 im Atlas der Magnetresonanztomographie und Computertomographie genutzt wird, stellt sich als Seltenheit heraus. Die Bildphänomene werden zum Teil unter der Bezeichnung „Radiopathologie“20 zusammengefasst, um die zentralen Phänomene der radiologischen Suche von anderen, an pathologischen Prozessen interessierten, medizinischen Disziplinen abzugrenzen. In der Spezialisierung wird im Rahmen der Befundung oder Befunderhebung nach bildlichen Symptomen oder Zeichen gesucht, auf die in der Anamnese formulierte Patientenbeschwerden hinweisen.21 Aus bildwissenschaftlicher Perspektive verdeutlicht die Formulierung Bildpathologie ein entscheidendes Moment der Bildrezeption: Den Radiologen ist (teilweise) bewusst, dass es sich nicht um den Gegenstand selbst handelt, den sie betrachten, sondern eine Verbildlichung desselben. Damit bannen sie möglicherweise die Gefahr, das Bild des menschlichen Körpers mit dem Patientenkörper selbst zu verwechseln. Diese Überlegung steht Äußerungen
17 Der Archäologe Erik Straub führt diese Strategien in Bezug auf Fotografien des 19. Jahrhunderts an; sie lassen sich allgemein auf Bildpraktiken übertragen. Vgl. Straub, Erik: Ein Bild der Zerstörung. Archäologische Ausgrabungen im Spiegel ihrer Bildmedien, Berlin 2008, S. 18. 18 Vgl. dazu M. Buschhaus: Über den Körper im Bilde sein, M. Dommann: Durchsicht und V. Dünkel: Röntgenblick. 19 H.-J. Kretschmann/W. Weinrich: Klinische Neuroanatomie, S. 1. 20 Hare, William S. C.: Medico-legal radiology, Sydney 2007, S. 41. 21 Vgl. im Allgemeinen: Dahmer, Jürgen: Anamnese und Befund. Die symptomorientierte Patientenuntersuchung. Fächerübergreifend – interaktiv – praxisbezogen, Stuttgart 10
2006, S. 2.
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gegenüber, in denen aktuellen, vor allem aus der Genforschung und den Biowissenschaften stammenden medizinischen Ansätzen sowie der öffentlichen Reaktion eine ‚Körperflucht‘ unterstellt wird. Die Diskussion hängt eklatant mit der Unterscheidung von analogen und digitalen Bildern oder Bildräumen zusammen und wird im Folgenden vor die Darstellung der radiologischen Befundung gesetzt, um die Problematik im bild- und kulturwissenschaftlichen Zusammenhang zu erläutern. Vor dem in der Einleitung geschilderten Diskurs um die Frage nach Bildern oder Bilddaten stellt sich die Frage nach der Referenz oder nach dem Verweis digitaler Bilder in Bezug auf die bildgebenden Verfahren der Medizin als Problem heraus. Eine grundsätzliche Äußerung, wie die von Christoph Wulf und Jörg Zirfas, lautet, dass in „der modernen – digitalen Bilderproduktion […] die Referenz auf die Wirklichkeit und den Körper ausgefallen und auf virtuelle Wirklichkeiten und Körper übergegangen zu sein“22 scheint. Die Autoren konstatieren eine Befreiung der digitalen Bilder von der Referenz auf die Realität, so dass die „Repräsentation des Virtuellen […] unter den Bann absoluter Verfügbarkeit“ 23 gerate. Ähnlich geht der Kunsthistoriker Hans Belting von einer „Körperflucht der Bilder“24 aus und begründet, dass digitale Bildwelten virtuelle Körper zeigen, die letztlich nicht mehr mit den wirklich existierenden (Menschen-)Körpern in Beziehung stehen. Die bildgebenden Verfahren haben sich auch nach Belting von der „Referenz auf das Reale“25 befreit. Damit entsteht die Gefahr, dass der menschliche Körper an seiner Analogie mit den „Bilder[n] des Körpers“ 26 (wie beispielsweise dem in der Modernen Medizin profilierten Körperbild) gemessen werde. 27 Die Historikerin Gudrun Piller spitzt die Diskussion 2007 in ihren Überlegungen zur Körpergeschichte zu und bezieht sich auf die moderne Idee der Identität von
22 W. Wulf/J. Zirfas: Bild, Wahrnehmung und Phantasie, S. 20. 23 Ebd. 24 Belting, Hans: „Echte Bilder und falsche Körper. Irrtümer über die Zukunft des Menschen“, in: Christa Maar/Hubert Burda (Hg.), Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 22004, S. 350-364, hier S. 350. 25 Ebd., S. 357. 26 Ebd., S. 351. 27 Auch der Philosoph und Soziologe Dietmar Kamper konstatiert 1999: „Das aktuelle Verhältnis ist nämlich so: die Körper verschwinden, die Bilder dominieren. Es wird nicht (mehr) für möglich gehalten, daß es Körper ohne Bilder gibt, wohl aber, daß die Bilder das, was sie zeigen, restlos vereinnahmen und sich an dessen Stelle setzen können.“ Kamper, Dietmar: „Bilderkörper X Körperbilder“, in: Julia Funk/Cornelia Brück (Hg.), Körper-Konzepte, Tübingen 1999, S. 19-24, hier S. 23.
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Körper und Ich, die „mittlerweile in der postmodernen Bilderflut der weltweiten Datennetze des Cyberspace bereits wieder ihrem Ende entgegen zu gehen scheint.“28 Die Philosophin Annette Barkhaus beschäftigt sich 2002 ebenfalls mit dem Körper im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und betont, dass in Bezug auf die biomedizinischen und medialen Technologien ein anderes Selbstverständnis zu konstituieren sei, als jenes, „das Poststrukturalismus und Technologieeuphorie suggerieren“29. Ganz im Gegensatz zu Belting und Piller sieht Barkhaus sowohl die virtuellen als auch die medizinisch-biowissenschaftlichen Bilder eklatant an den menschlichen Körper gebunden, da weder die medien- noch die biotechnologischen Entwicklungen zu einer Überwindung der Leiblichkeit des Menschen führen.30 Stattdessen enthält der Diskurs über diese Technologien Verheißungen und Versprechungen, dass sich der Mensch von seinem „parasitären Dasein am Körper“31 befreien könne. Die genannten Äußerungen zu einer Körperflucht oder Körpervergessenheit sind an bestimmte Diskurse gebunden und im hier vorgestellten Disput geht es nicht um medizinische Bilder im Allgemeinen, sondern im Besonderen um die Errungenschaften der Hirnforschung und der Neurowissenschaften sowie der digitalen Bildgebung. Die Gefahr einer Verallgemeinerung dieses spezifischen Diskurses auf die gesamte Medizin reduziert das Verhältnis von Körper und Bild, das sich je nach Kontext verschiedentlich gestaltet. Paradigmatisch lassen sich hier die (gegensätzlichen) Positionen der feministischen Wissenschaftskritikerin Hannah Fitsch und der Wissenschaftsphilosophin Susanne Lettow anführen. Fitsch untersucht das Verfahren fMRT in der Hirnforschung, welches in der vorliegenden Untersuchung der Radiologie explizit ausgelassen wird. Sie konstatiert: „Die Ausbreitung medizinischer wie naturwissenschaftlicher Darstellungen vom Körper führt gleichzeitig zum Verlust des Körpers – an dessen Stelle das Bild tritt. Die Hirnforschung ist von der Körpervergessenheit in ihren Forschungspraktiken und -theorien auf besondere Weise betroffen und muss daraufhin gesondert befragt werden. Denn in der Hirnforschung wird der Körper nicht nur durch ein Bild ersetzt, auch ihr Gegenstand der Visualisierung – das Gehirn – ist bereits körperlos gedacht.“32
28 G. Piller: Private Körper, S. 29. 29 Barkhaus, Annette: „Der Körper im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: dies./A. Fleig (Hg.), Grenzverläufe (2002), S. 27-46, hier S. 46. 30 Vgl. ebd., S. 43. 31 Ebd., S. 41. 32 H. Fitsch: … dem Gehirn beim Denken zusehen?, S. 22.
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Die Untersuchung der Wissenschaftsphilosophin Susanne Lettow von 2011 geht ebenfalls explizit auf die Besonderheiten der Hirnforschung ein und reflektiert deren Arbeit, Wissenschaftsverständnis und soziale Einbettung vor philosophischen Theorien. Dabei konstatiert sie das Defizit „einer kritischen Analyse von Normalisierungsstrategien in der Debatte um Hirnforschung und Willensfreiheit“33, die sie als einen zentralen Aspekt des Diskurses um den menschlichen Körper ausmacht. Diese in der Philosophie extensiv geführte Debatte dreht sich um den cartesianischen Dualismus, gegen den eine moderne Idee von Identität gesetzt wurde,34 und um die Begriffe von Körper und Bewusstsein, Leib und Geist. Lettow benennt „die Leerstelle einer Theorie des Körpers“ 35, die in der deutschsprachigen philosophischen Debatte bisher nur von Jürgen Habermas 2005 versuchsweise angegangen worden sei: „Indem Habermas den Körper somit als Bedingung von Handlungsfähigkeit einführt, bricht er ein Stück weit mit der naturalistischen Perspektive, in der der Körper immer schon mit dem wissenschaftlichen Objekt der Neurowissenschaften gleichgesetzt wird. Dadurch zeichnet sich immerhin die Möglichkeit ab, Körper und Gehirn in einer praxeologischen Perspektive zu begreifen.“36
Paradigmatisch sind diese Positionen insofern, als Fitsch einen Körperverlust betont, der insbesondere durch den Diskurs von digital/analog sowie die Nutzung des Bildmaterials durch den Wissenschaftsjournalismus befördert wird. Der Medizinanthropologe Nicolas Langlitz benennt 2008 unter Bezug auf Anne Beaulieu sehr explizit „ein weit verbreitetes Missverständnis bezüglich der funktionalen Bildgebung“: „Die vermeintliche ‚Ikonophilie‘ der kognitiven Neurowissenschaften ist vielmehr eine Ikonophilie des Wissenschaftsjournalismus und populärwissenschaftlichen Darstellungen,
33 Lettow, Susanne: Biophilosophien. Wissenschaft, Technologie und Geschlecht im philosophischen Diskurs der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2011, S. 225. 34 Vgl. G. Piller: Private Körper, S. 29. 35 S. Lettow: Biophilosophien, S. 229. 36 Ebd. Lettow greift auf Habermas’ Werk Zwischen Naturalismus und Religion zurück, in welchem er vor allem eine handlungstheoretische Perspektive zur Kommunikation entwickelt; vgl. Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a. M. 2005.
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welche die Neuroimaging-Bilder aufgreifen, deren Konstruktion und wissenschaftliche Verwendung sie jedoch unhinterfragt lassen.“37
Bei einem genaueren Blick auf die Hirnforschung wird deutlich, dass nur ein geringer Teil der Neurowissenschaftler mit nicht-invasiven bildgebenden Verfahren arbeitet.38 Die Sozialwissenschaftlerin Anne Beaulieu hat diese Befragung der Konstruktion und wissenschaftlichen Verwendung der fMRT-Aufnahmen in der (amerikanischen) Hirnforschung schon 2001 vorgenommen und zeigt, dass innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses nicht so sehr die Bilder, sondern die Messwerte von Bedeutung sind.39 Wird der analytische Blick innerhalb bildwissenschaftlicher Untersuchungen also auf den wissenschaftlichen Bildumgang gerichtet, zeigt sich bei der Hirnforschung nicht nur, dass die Bewertung des Bildes eine ganz andere ist, als in den Medien und Studien suggeriert wird – es zeigt sich darüber hinaus, dass der menschliche Körper eine besondere Rolle in diesem Umgang mit Bildern spielt. Wenn Susanne Lettow die durch Habermas ermöglichte praxeologische Perspektive betont, so sind es gerade sozialwissenschaftliche Studien, die sich eben dieser Perspektive widmen. Zurückgeführt auf die Überlegungen von Hans Belting sieht beispielsweise Barkhaus sein Beispiel des virtuellen Raums als paradigmatisch für die gesamte Debatte, da sich der Mensch eben nicht vom Körper befreit, sondern letztlich mit dem eigenen Leib handelt und die Person vor der Maschine bleibt.40 Für die Rezeption der Bildergebnisse in der Radiologie zeigen sozial- und kommunikationswissenschaftliche sowie körpergeschichtliche Studien, dass die Radiologen und das medizinisch-technische Personal jegliche Bildbetrachtung auf ihren eigenen Körper beziehen. Die Sozialwissenschaftlerin Gesa Lindemann konstatiert auf der Grundlage ihrer Feldstudien und Beobachtungen auf zwei neurologisch-neurochirurgischen Intensivstationen, dass die Arbeit der Ärzte dort „eine ununterbrochene Rekonfiguration des Verhältnisses zwischen
37 N. Langlitz: Neuorimaging und Visionen, S. 34. 38 Vgl. T. Heinemann: ‚Hirnforschung‘ zwischen Labor und Talkshow, S. 226. 39 Vgl. Beaulieu, Anne: „Voxels in the Brain. Neuroscience, Informatics and Changing Notions of Objectivity“, in: Social Studies of Science 31/5 (2001), S. 635-680; und vgl. Beaulieu, Anne: „Images Are Not the (Only) Truth: Brain Mapping, Visual Knowledge, and Iconoclasm“, in: Science, Technology, & Human Values 27/1 (2002), S. 53-86, hier S. 57ff. 40 Vgl. A. Barkhaus: Der Körper im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 42.
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körperlichen Entitäten (einschließlich der Körper von Ärztinnen und Patienten)“41 beinhaltet. Ähnlich betont Regula V. Burri, dass nicht nur die Körper der Patienten, sondern auch des Personals in den gesamten Prozess der Bildherstellung integriert sind.42 Und Kelly A. Joyce unternimmt in ihrer Untersuchung zur MRT von 2008 darüber hinaus den Versuch, eine Verbindung der Bilder mit den (Patienten-)Körpern aufzuzeigen. Sie bezieht sich auf den Ausdruck bleeding artifacts, der von Wissenschaftlern oftmals scherzhaft für rote Punkte genutzt wird, die sich als Fehler über anatomische Darstellungen legen. Nach Joyce nutzen sie Humor, um die Verbindung zwischen dem Bild als unbelebtem und dem Körper als belebtem Objekt aufzurufen.43 Zuletzt haben die Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin Lisa Cartwright und die Ethnologin und Kognitionswissenschaftlerin Morana Alač 2009 aus Fallstudien zur Magnetresonanztomografie besonders deutlich herausgearbeitet, dass „Ärzte an ihre eigenen Körper [denken, Anm. d. A.], um die Körper, die sie untersuchen, zu verstehen und Bedeutung und Wissen über sie zu konstruieren.“44 Die beiden Forscherinnen betonen, dass in der einen Fallstudie Körpererfahrungen imaginiert und inszeniert werden, „um Bilder oder Daten aus Forschung und Klinik zu interpretieren und zu kommunizieren“ 45, während in der zweiten MTRAs die körperliche Situation der Patienten im MRApparat während der Bildgebung nachvollziehen. Von einer Körperflucht ist auf Basis dieser Ergebnisse verschiedener Studien für die Radiologie daher nicht auszugehen. Grundsätzlich sind die oben beschriebenen Ansätze von Belting, Piller und Fitsch und deren Fragen jedoch nicht von der Hand zu weisen, wenn es um das Verhältnis von wirklich existierenden Körpern und den jeweiligen Vorstellungsund Körperbildern geht, die historisch, kulturell und technisch geprägt sind. Der aufgegriffene Diskurs zeigt, inwiefern sich Erkenntnisse und Vorhaben verschiedener Disziplinen – im Besonderen der Informatik und der Medizin – wechselseitig bedingen und zu Vorstellungen, Träumen sowie Ängsten in Bezug auf den
41 G. Lindemann: Der lebendige Körper, S. 215. 42 Vgl. R. V. Burri: Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder, S. 181ff. 43 Vgl. K. A. Joyce: Magnetic Appeal, S. 40. 44 Cartwright, Lisa/Alač, Morana: „Imagination, Multimodalität und verkörperte Interaktion. Eine Erörterung von Klang und Bewegung in zwei Fallstudien der Magnetresonanztomografie in Labor und Klinik“, in: B. Hüppauf/P. Weingart (Hg.), Frosch und Frankenstein (2009), S. 281-308, hier S. 285. 45 Ebd., S. 286.
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existenten Körper führen. Es sind eben die von Annette Barkhaus erwähnten Versprechungen, sich als Mensch vom parasitären Dasein am Körper 46 befreien zu können: Dem Bewusstsein oder Geist wird eine höhere Bedeutung beigemessen und techno-fiktionale Fantasien wie das ewige Leben des Geistes im Cyberspace spiegeln den Höhepunkt von Überlegungen zum Digitalen, das menschliche Leben zu verlängern oder zu verewigen, also „transhumanistische und postbiologische Positionen von der Überwindung des als mangelhaft erlebten menschlichen Körpers“47. Allerdings werden die durch digitale Verfahren der Medizin hergestellten Bilder zu schnell als Beispiele für die Problematik herangezogen, ohne dass sie intensiv in ihrer Produktion und Rezeption untersucht worden wären. Die vorliegende Arbeit gleicht dieses Defizit, wie im ersten Kapitel geschildert, aus, und analysiert vor allem die Befundung der Bilder, also die auf der Wissensgrundlage um die Produktion stattfindende Referenzierung der Ergebnisse zu einem individuellen Körper.
6.2 SYSTEMATISCHE BILDANALYSE ALS KERN DER BEFUNDUNG In der Radiologie wird mit der Befundung grundsätzlich die „sorgfältige und verantwortungsbewusste Auswertung“48 einer Untersuchung beschrieben, so dass der damit zusammenhängende Befund oder Befundbericht traditionell auf die schriftliche Fixierung derselben verweist. Zugleich finden beide Begriffe – Befund und Befundung – vielfältigen Einsatz in der medizinischen Fachsprache; der Befund kann sich sowohl auf Teile als auch auf die Gesamtheit aller medizinischen Untersuchungsergebnisse beziehen, weshalb für die vorliegende Analyse der Übersichtlichkeit halber die Trennung der Tätigkeit (Befundung) von deren schriftlichen Ergebnis (Befundbericht) und den in beiden enthaltenen und mit dem menschlichen Körper referenzierten Bildphänomenen (Befunde) aufgegriffen wird.
46 A. Barkhaus: Der Körper im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 41. 47 Bauer, Yvonne: Sexualität – Körper – Geschlecht. Befreiungsdiskurse und neue Technologien, Opladen 2003, S. 201. Bauer betont weiter, dass der Diskurs des Cyberspace sich in „seinen Utopien von der Überwindung des Körpers durch die Virtualisierung des Geistes […] nicht selten auf Traditionen der Science Fiction, der Kybernetik, Robotik und der Erforschung von künstlerischer Intelligenz“ bezieht. Ebd., S. 202. 48 Lange, Sebastian: Radiologische Diagnostik der Thoraxerkrankungen, Stuttgart 42010, S. 1.
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Historisch lässt sich nachvollziehen, dass der radiologischen Befundung eine schrittweise Strategie zugrunde liegt, insofern schon für die Röntgentechnik Anleitungen erstellt wurden, „die eine für medizinische Fragen relevante und standardisierte Auswahl an Informationen vorgeben, die aus dem Röntgenbild extrahiert und in einer bestimmten Reihenfolge beschrieben werden sollen.“49 In eben dieser vom Radiologen in der täglichen Routine ausgeführten Anleitung und Reihenfolge strebt die Radiologie nach einer „systematischen Bildbetrachtung“50 beziehungsweise „systematischen Bildanalyse“ 51 oder der Befundung von Bildern nach einem „logischen Ansatz“52. Der medizinische Fachbereich verschreibt sich wissenschaftlichen Idealen, nach denen eine systematische Bildanalyse oder Bildbetrachtung erst nach einem logischen Ansatz nachvollziehbar, vergleichbar und reproduzierbar wird. Detaillierter wird die Befundung 2009 in der radiologischen Fachzeitschrift RöFo mit Bezug auf die Leitlinie zur Qualitätssicherung in der Röntgendiagnostik der Bundesärztekammer von 2007 erläutert: „Die Befundung umfasst die Erkennung, Beschreibung und Beurteilung der diagnoserelevanten Bildinhalte mit organtypischen Bildmerkmalen, Details und kritischen Strukturen zur Beantwortung der diagnostischen Fragestellungen und als Grundlage für ärztliche Entscheidungen.“53
49 H.-P. Heilmann: Der Röntgenbefund, S. 221. 50 Ebd. 51 H. Scheffel: Schädel, S. 71; vgl. ebenso Kauczor, Hans-Ullrich: „Systematik der Bildanalyse/Bildmuster“, in: Michael Galanski (Hg.), Handbuch diagnostische Radiologie. Thorax, Berlin/Heidelberg 2003, S. 75-122, hier S. 75; und vgl. Vogl, Thomas J./Reith, Wolfgang/Rummeny, Ernst J.: Diagnostische und Interventionelle Radiologie, Berlin/Heidelberg 2011, S. 508. 52 Mettler, Fred A.: Klinische Radiologie (2). Basiswissen für alle Fachgebiete, München 2005, S. 1. 53 Änderungen in den Leitlinien (LL) der Bundesärztekammer (BÄK) zur Qualitätssicherung in der Röntgendiagnostik und Computertomografie vom 23.11.2007, in: RöFo 181/5 (2009), S. 499-503, hier S. 501. (Herv. i. O.) Das Zitat in der Zeitschrift stammt aus der Leitlinie der Bundesärztekammer zur Qualitätssicherung in der Röntgendiagnostik vom 23. November 2007, S. 27, http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/ user_upload/downloads/LeitRoentgen2008Korr2.pdf vom 01.02.2019.
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Die Bildbetrachtung erfährt eine Dreiteilung, insofern zuerst relevante Bildinhalte erkannt werden müssen, bevor sie beschrieben und beurteilt werden können.54 So widmet sich die Radiologie – historisch betrachtet – in zeitlichen Abständen der Bedeutung und den Abläufen der Befundung. 55 Noch 2014 konstatieren Tobias Baumann et al. in Der Radiologe: „Die Befundung stellt die eigentliche Kernkompetenz der radiologischen Tätigkeit und damit den Markenkern dar. […] Auf den ersten Blick könnte man annehmen, dass sich am Prozess der Befundung seit der Etablierung der Radiologie als eigenständigem Fachgebiet nichts Grundlegendes geändert hat. Bei genauerer Betrachtung unterliegen jedoch sowohl der Begriff als auch die tatsächliche Tätigkeit der Befundung einem zeitlichen Wandel.“ 56
Um sich der modernen radiologischen Befundung als Prozesskette zu widmen, sehen die Autoren eine Differenzierung zwischen dem Vorgang der Befundung und dem daraus resultierenden Befundbericht als hilfreich an,57 wie sie für die vorliegende Studie präferiert wird. Auf welche Weise das Erkennen, Beschreiben und Beurteilen der bildlichen Phänomene in der Radiologie geschieht, steht im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen. Im Gegensatz zur vorangegangenen Bildproduktion weisen die Radiologen für die Befundung darauf hin, dass die wesentlichen Schritte der Bildbeurteilung bei Computer- und Magnetresonanztomografie identisch sind.58 In diesem Sinn entfällt für die vorliegende Studie der für die Produktion aufgegriffene Vergleich, um nur an prägnanten Stellen bei der Befundung radiologischer Bilder auf Unterschiede der Verfahren hinzuweisen. Des Weiteren werden die praktischen Abläufe der Radiologie, die im Alltag in kurzen Zeitfenstern passieren, für die Analyse getrennt. In der sozialwissenschaftlich-betriebswirtschaftlichen Analyse von Erich Salomonowitz von 2009 wird dem gesamten Befundungsprozess von der Befundvorbereitung über Befundung und Nachbereitung bis zum ausgedruckten Befundbericht ein Zeitaufwand von 17 Minuten zugesprochen; der spezifische Aspekt der Befundung der Bilder selbst dauert im Durchschnitt nur 210 Sekunden.59 Diese Angaben verdeutlichen, inwiefern
54 Vgl. dazu T. M. Lehmann: Digitale Bildverarbeitung für Routineanwendungen, S. 22. 55 Vgl. bspw. E. Zdansky: Der Röntgenbefund heute, S. 724. 56 Baumann, Tobias/Hackländer, Thomas/Kotter, Elmar: „Befundung in der Radiologie heute. Was kommt morgen?“, in: Der Radiologe 54/1 (2013), S. 45-52, hier S. 45. 57 Vgl. ebd., S. 45. 58 Vgl. J. W. Oestmann: Radiologie, S. 193. 59 Vgl. E. Salomonowitz: Erfolgreiche Organisationsentwicklung im Krankenhaus, S. 18ff. Hierbei ist anzumerken, dass sich Salomonowitz auf seine Untersuchungen aus
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die Befundung von Bildern der radiologischen Arbeitsroutine angehört. Die meisten computer- oder magnetresonanztomografischen Bildergebnisse enthalten für den Radiologen typische Bilderscheinungen, die er aufgrund standardisierter Darstellung sowie durch sein Wissen und seine Erfahrung in weniger als einer Sekunde und ohne die oben erwähnte systematische Suche entdeckt. 60 Dieser Aspekt lässt sich wiederum mit Ergebnissen der Wahrnehmungsforschung vergleichen, die zwischen einer bewussten und durch Aufmerksamkeit geleiteten Wahrnehmung und einer unbewussten und routinierten Wahrnehmung unterscheidet. Letztere Wahrnehmungsform hängt eklatant mit dem tacit knowledge der Disziplin zusammen und lässt sich, wie der Kunstwissenschaftler Hans Dieter Huber konstatiert, nicht beobachten. Allerdings wird sie „in zeitlicher Hinsicht“61 deutlich, wenn die radiologische Bildwahrnehmung – wie beschrieben – in wenigen Sekunden abgeschlossen ist und eben nicht, wie bei einem ungeübten Beobachter, anstrengend, mühevoll, zeitraubend und langsam abläuft.62 Bevor mit der systematischen Bildanalyse begonnen wird, obliegt dem befundenden Radiologen die Prüfung des Bildmaterials auf dessen Qualität. Er hat zu
den Jahren 1995 und 1997 bezieht und sich die Zeitabstände bis heute durchaus weiter verändert haben können; bspw. war die Digitalisierung in den 1990er Jahren noch nicht so weit fortgeschritten wie heute, so dass von weiteren Wechseln ausgegangen und eine dramatische Verkürzung angenommen werden kann. Kelly A. Joyce beschreibt 2008, dass in einer radiologischen Abteilung zwischen 20 und 45 magnetresonanztomografische Untersuchungen pro Tag durchgeführt werden, wobei einige davon komplex sind. Vgl. K. A. Joyce: Magnetic Appeal, S. 87. 60 Jörg W. Oestmann erläutert 2005 sehr speziell, dass ein Radiologe einen Rundherd auf einer Thoraxaufnahme meist in weniger als einer Sekunde und ohne systematische Suche entdeckt, wobei diese schnelle Erkennung durch die standardisierte Abbildung der Lunge begünstigt werde. Vgl. J. W. Oestmann: Radiologie, S. 22. 61 Huber, Hans Dieter: Bild Beobachter Milieu. Entwurf einer allgemeinen Bildwissenschaft, Ostfildern-Ruit 2004, https://www.hgb-leipzig.de/ARTNINE/huber/aufsaetze/ bbm.pdf vom 01.02.2019, S. 120f. 62 Vgl. ebd.
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beurteilen, ob eine Auswertung desselben möglich ist, wobei diese Qualitätskontrolle visuell erfolgt.63 Sollten das Bildmaterial oder die daraus zu erhaltenden Informationen aus Perspektive des Radiologen qualitativ unzureichend sein, muss die Untersuchung zu Teilen oder vollständig wiederholt werden. 64 Im Rahmen der Produktionsanalyse sind für die Aufnahmeprotokolle technische und formale Qualitätskriterien genannt worden, auf die bei der Erstellung des Bildmaterials durch das medizinisch-technische Personal zu achten ist. Gerade bei Schädel- und Hirnaufnahmen werden die lückenlose oder vollständige Erfassung des interessierenden Körperbereichs, die symmetrische Darstellung oder die achsengerechte Abbildung betont.65 Doch die erste Einordnung des Radiologen geht weit über diese Qualitätskriterien hinaus, wenn ebenfalls die Art des Bildes, die darin dargestellte räumliche Orientierung und die Grenzen der eingesetzten Technik verstanden werden müssen.66 Das Bildmaterial wird durch den betrachtenden Mediziner in seinen Kontext eingeordnet und mit dem spezifischen Wissen um Bilder verbunden, das sowohl die jeweilige Medientechnik betrifft, als auch die Übersetzung des menschlichen Körpers in statische Bildergebnisse. Die Art der Bilder ist ausschlaggebend, da die Technologien Computer- und Magnetresonanztomografie zu völlig unterschiedlichen Verbildlichungen des Patientenkörpers führen (vgl. Kap. 3 und 4). Die jeweils sichtbaren Grautöne sind nicht in einen direkten Vergleich zu setzen und weiße Bereiche im computertomografischen Bild verweisen auf andere Gewebearten oder pathologische Strukturen als weiße Bereiche im magnetresonanztomografischen Bild. Das jeweilige Verfahren entscheidet oft über die Blickrichtung in den menschlichen Körper, so dass der Radiologe ebenfalls zu berücksichtigen hat, ob es sich um transversale, sagittale oder koronale Schichtbilder handelt. Auch wenn mittlerweile beiden Verfahren durch Erweiterungen der Software die Möglichkeit der „Beliebigkeit der Perspektive“67
63 Vgl. H.-U. Kauczor: Systematik der Bildanalyse/Bildmuster, S. 75. 64 Nach Salomonowitz wird oft die Entscheidung getroffen, „dass die Untersuchung zwar adäquat sei, aber eine Zusatzaufnahme ergänzend erfolgen muss“. E. Salomonowitz: Erfolgreiche Organisationsentwicklung im Krankenhaus, S. 18. 65 Vgl. H.-U. Kauczor: Systematik der Bildanalyse/Bildmuster, S. 76; und vgl. Parizel, Paul M. u. a.: „Gehirn“, in: Peter Reimer/ders./F.-A. Stichnoth (Hg.), Klinische MRBildgebung. Eine praktische Anleitung, Berlin/Heidelberg 22003, S. 87-162, hier S. 89. 66 Vgl. F. Mettler: Klinische Radiologie, S. 1. 67 R. V. Burri: Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder, S. 19. Nach Burri „zeichnen sich die digitalen Schnittbilder durch eine Beliebigkeit der Perspektive aus, die es
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für den Blick in den Körper zugeschrieben wird, ist die erfolgreiche Rezeption mit dem Wissen um die abgebildete Schnitt- oder Schichtebene verbunden. Es zeigt sich bei der Analyse der Produktions- und Rezeptionsprozesse in der Radiologie sogar, dass die Mediziner auf vordefinierte Blickrichtungen und bestimmte Schichtansichten angewiesen sind, um eine Betrachtung und Beurteilung zu gewährleisten.68 Ein praktisches Beispiel beschreibt der Radiologe Fred A. Mettler 2005, wenn er zur Erläuterung der Grenzen der jeweiligen Technik explizit „eine koronare Computertomografie des Schädels mit intravenös verabreichtem Kontrastmittel“ 69 benennt. Intravenöses Kontrastmittel kann bei der computertomografischen Bildbetrachtung mit den Anzeichen von frischem Blut im Gehirn verwechselt werden und die Kenntnis über den Einsatz von Kontrastmitteln lässt den Radiologen daher bestimmte Bilderscheinungen anders bewerten. In der vorliegenden Untersuchung geht es vorrangig um die Rezeptionsbedingungen in der Radiologie, wie sie sich anhand der fachspezifischen Handlungsanweisungen nachvollziehen lassen. Im Fokus der Beschreibung befinden sich daher technische Qualitäten der radiologischen Bilder wie deren Schärfe und Kontrast. Diese technischen Bildqualitäten lassen sich auf Grundlage der radiologischen und medizinischen Theorie zeichentheoretisch mit dem Bildreferenten in Bezug setzen, um innerhalb der Analyse zu erklären, auf welche Weise die Radiologen in ihrer täglichen Praxis Bilder als Diagnosewerkzeuge nutzen. Die weitere Kontextualisierung der Bildergebnisse betrifft das Wissen um den Patienten und somit den der Bildgebung zugrunde liegenden Körper; der Prozess
ermöglicht, aus verschiedenen Richtungen ‚in den Körper zu sehen‘.“ Ebd. Sie reflektiert jedoch nicht, dass Standardisierungs- und Normierungsbemühungen der Medizin eine Zuordnung der verschiedenen Körperansichten gewährleisten. 68 Prof. Dr.-Ing. Georg Schmitz, Lehrstuhlinhaber für Medizintechnik an der Ruhr-Universität Bochum, gab in einem Gespräch am 23.01.2012 den Hinweis, dass in der Medizin für Computer- und Magnetresonanztomografie feste Schnitteinstellungen notwendig sind. Aus seiner Perspektive und Erfahrung haben Mediziner bei Nichteinhaltung dieser Vorgaben große Probleme, überhaupt etwas zu erkennen. Dieser Hinweis bestätigt sich anhand der radiologischen Lagebezeichnungen und Richtlinien der Verbildlichung, wie sie in der vorliegenden Arbeit untersucht werden. 69 F. Mettler: Klinische Radiologie, S. 1.
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der Referenzierung erfolgt über externe Rezeptionsbedingungen.70 Die Radiologen betonen im Sinne externer Rezeptionsbedingungen die Überprüfung der Patientenidentität, welche Name beziehungsweise Geschlecht und Alter des Patienten betrifft; diese Daten sind ebenso wie die verwandte Bildtechnologie oder die Blickrichtung auf dem Film vermerkt beziehungsweise in der elektronisch abrufbaren Patientenakte hinterlegt. Alter und Geschlecht des Patienten können als Kontextwissen zu ausschlaggebenden Differenzierungen der Diagnose führen; beispielsweise wurden in den Aufnahmeprotokollen intrakranielle pathologische Befunde wie Hirninfarkte oder entzündliche Läsionen genannt, die über Computer- und Magnetresonanztomografie untersucht werden. Insbesondere infratentorielle Läsionen sind laut radiologischer Fachliteratur häufiger bei Kindern anzutreffen, so dass die Altersangabe hier eine Fehlinterpretation von Bilderscheinungen vermeiden kann. Insgesamt sind einige Tumore altersabhängig unterschiedlich lokalisiert, weshalb die Angabe des Patientenalters eine essentielle Information für die Interpretation darstellt.71 In ähnlicher Weise kann die Geschlechtsangabe wichtig sein, da manche Erkrankungen nach statistischen Angaben häufiger bei Frauen als bei Männern oder umgekehrt anzutreffen sind.72 Diese Kontextinformationen werden von der Radiologie als ausschlaggebende Kriterien für eine ‚richtige‘ Interpretation genannt, die aus der systematischen Bildanalyse hervorzugehen und in die radiologische Routine überzugehen hat. Im Gegensatz zur radiologischen Bildproduktion, der zumindest in Form der Protokolle Handlungsanweisungen zugrunde liegen, die sich im Rahmen einer bildwissenschaftlichen Analyse nutzen lassen, finden sich zur systematischen Bildanalyse als ausschlaggebendem Aspekt der Befundung in der radiologischen Fachliteratur keine einheitlichen Schilderungen dieser Abläufe. Im Zusammenhang mit den Forschungen zu Lehr- und Lernmethoden sowie der Problematik des
70 In der Kunstwissenschaft werden dazu bei Kunstwerken Ausstellungsort, Informationen durch den Raumplan, Titelgebung oder Katalog gezählt. Vgl. Hamker, Anne: Emotion und ästhetische Erfahrung. Zur Rezeptionsästhetik der Video-Installation Buried Secrets von Bill Viola, Münster 2003, S. 57. 71 Vgl. P. Parizel u. a.: Gehirn, S. 101f. 72 Bspw. ereignen sich laut radiologischer Fachliteratur intrakranielle hyperintensive Blutungen am häufigsten bei Männern zwischen 60 und 80 Jahren, die zum Schlaganfall führen können. Vgl. Forsting, Michael u. a.: „Zerebrale Blutung und Subarachnoidalblutung“, in: Hans-Christoph Diener/Werner Hacke/Michael Forsting (Hg.), Schlaganfall, Stuttgart 2004, S. 102-112, hier S. 102.
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tacit knowledge und anderer Wissensformen zeigt das Desiderat einer Interpretationsanleitung auf, dass die radiologischen Rezeptionsvorgänge nicht in strukturierte, verbal oder schriftlich vermittelbare Strukturen zu bringen sind.73 Um trotzdem einen Rahmen für die Handlungsabläufe zu gewährleisten, wird von einigen Autoren die Merkreihe der ‚fünf Ds‘ für die Diagnostik vorgeschlagen. Sie umfassen Detect, Describe, Discuss, Differential Diagnosis und Decide.74 In der deutschen Schreibweise geht es dementsprechend bei der Befundung und der systematischen Bildanalyse um Detektion oder Entdecken, Deskription oder Beschreibung, Diskussion, Differenzialdiagnose und zuletzt Diagnose oder Entscheidung über das weitere Vorgehen. Ähnlich schildert die Medienwissenschaftlerin Kathrin Friedrich die Reihenfolge bei ihren Feldstudien in der klinischen Radiologie: Entdecken, Beschreiben, Diagnose, Dokument, Diskutieren und Differenzieren (Differenzialdiagnose).75 Diese Gliederung birgt für die vorliegende Untersuchung den Vorteil, die sich in der klinischen Praxis wechselseitig bedingenden und ineinander übergehenden Vorgänge analytisch getrennt vorzustellen. Im Sinne der Bildrezeption finden bei der Detektion die Bildwahrnehmung und davon untrennbar auch die Bildinterpretation statt. Der Radiologe betrachtet nach (technischer) Qualitätsprüfung und Kontextualisierung des Bildmaterials die aus der Computer- oder Magnetresonanztomografie stammende Bildserie, wobei auf die Anzahl der jeweils vorliegenden Bilder einer radiologischen Untersuchung im Zusammenhang mit den Aufnahmeprotokollen verwiesen wurde. Es entstehen durchaus einige hundert und manchmal sogar mehrere tausend Einzelbilder, die zuerst vom medizinisch-tech-
73 Hillel D. Braude bezieht sich in seiner Gegenüberstellung von medizinischem Erfahrungswissen bzw. tacit knowledge und der Evidenzbasierten Medizin auf den US-amerikanischen Mediziner und Begründer der klinischen Epidemiologie Alvan R. Feinstein (1925-2001). Dieser habe schon 1967 in seiner Schrift Clinical judgement darauf hingewiesen, dass die nahezu unendliche Variabilität klinischer Daten nur durch eine präzise klinische Sprache beherrschbar würde. Vgl. H. Braude: Clinical intuition versus statistics, S. 192. Aber die Medizin scheitert an einer eindeutigen und präzisen Terminologie, wie Marc Berg 1997 aufzeigt. Vgl. M. Berg: Rationalizing Medical Work, S. 20. 74 Vgl. S. Lange: Radiologische Diagnostik, S. 1; und vgl. Weissleder, Ralph/Rieumont, Mark J./Wittenberg, Jack: Kompendium der bildgebenden Diagnostik, Wien 2003, S. 69. Bei Ralph Weissleder et al. werden allerdings nur vier Ds genannt und discuss nicht aufgeführt. 75 Vgl. K. Friedrich: Sehkollektiv, S. 191.
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nischen Personal durchgesehen und (aus-)sortiert werden, um im Rahmen der Befundung durch den Radiologen erneut in der Anzahl reduziert zu werden. Nach Regula V. Burri ist der Radiologe bestrebt, „die Besten aus den vorliegenden Bildern für die eigentliche Interpretation auszuwählen.“ 76 Mit den technologischen Entwicklungen ist historisch betrachtet zugleich ein Ansteigen des Bildmaterials verbunden, wobei dieser Umstand sowohl von den Radiologen als auch von den Informatikern als eine teilweise kaum zu bewältigende ‚Bilderflut‘77 bezeichnet wird. Für das in der vorliegenden Untersuchung herangezogene Beispiel der Schädeldarstellung oder Hirnbildgebung variiert die Anzahl zumeist zwischen 20 (Computertomografie) bis 180 (Magnetresonanztomografie) Schichtbildern, die dem Radiologen zur Befundung und Betrachtung vorliegen. Nachdem der Radiologe das Material durch das medizinisch-technische Personal zugesandt bekommen hat, muss er die Bilder qualitativ bewerten und sich der Kontextinformationen vergewissern, um anschließend den Prozess der systematischen Bildbetrachtung zu beginnen. Neben dem ersten umfassenden Schritt der Detektion (Kap. 6.2.1), innerhalb dessen Bildwahrnehmung und -interpretation eklatant mit der Methode des Vergleichenden Sehens verbunden werden, folgen als schriftliche und sprachliche Transferleistungen Deskription und Diskussion (Kap. 6.2.2, ab S. 256) sowie der argumentativ-logische Aspekt der Differenzialdiagnose und der Diagnose (Kap. 6.2.3, ab S. 275) zur medizinischen Entscheidungsfindung. 6.2.1 Radiologische Bildwahrnehmung und -interpretation: Detektion Die visuelle Detektion bildlich fixierter Deformationen in Bezug auf den der Bildgebung zugrunde liegenden menschlichen Körper stellt die wichtigste und umfassendste Aufgabe des Radiologen dar.78 Dabei betrachtet er die aus einer Untersuchung hervorgegangenen Bilder vor dem Hintergrund der schon beschriebenen
76 R. V. Burri: Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder, S. 217. 77 Vgl. Fornaro, Jürgen: „Postprocessing“, in: H. Alkadhi u. a. (Hg.), Wie funktioniert CT? (2011), S. 41-46, S. 42; und vgl. Kapitel 1 und 2 der vorliegenden Untersuchung. 78 In der Radiologie werden die von der Norm abweichenden Befunde als Variationen, Anomalien oder Abnormitäten, Fehlbildungen (Malformationen oder Missbildungen) sowie Deformationen bezeichnet. Bernhard T. Tillmann und Karl Zilles weisen darauf hin, dass für die diagnostische Radiologie nur die letztgenannten von Interesse sind, insofern Deformationen in der postnatalen Entwicklung des Menschen entstandene For-
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Qualitätsbeurteilung und seines Kontextwissens über den Patienten und die bildgebende Untersuchung selbst. Der Einsatz des visuellen Sinns, das Betrachten der Bilder und die aufgrund des Sehens getroffene Beurteilung interessieren im Rahmen der bildwissenschaftlichen Untersuchung und lassen sich ebenfalls als reflektierter Umstand in der Radiologie konstatieren: Die Disziplin unterscheidet klar zwischen dem Betrachten als einem aktiven und dem bloßen Schauen als einem passiven Prozess.79 Damit schließt sie sich Ergebnissen der Wahrnehmungsforschung an, die – wie beispielsweise in Bezug auf eine Wirklichkeitskonstruktion schon erläutert – von einem visuellen Betrachtungsprozess ausgeht, der eine unter spezifischen Bedingungen erstellte Konstruktion erzeugt: „Wahrnehmung ist nicht nur passive Registrierung von Umweltreizen, sondern aktive Aneignung der Welt.“80 Der Medienwissenschaftler und Kunstpsychologe Rudolf Arnheim hat in seiner Schrift Art and Visual Perception: A Psychology of the Creative Eye von 1954 darauf verwiesen, dass Sehen eine Form des Erkennens beinhaltet, die sich nicht einfach als „mechanisches Aufnahmeverfahren“81 offenbart. Arnheim charakteri-
mabweichungen bezeichnen, die eine Folge von Traumata oder degenerativen Erkrankungen sein können. Die anderen Befundbezeichnungen stammen zumeist aus der Embryonal- oder Fetalperiode und sind als zum individuellen Körper gehörende Veränderungen zu bewerten. Vgl. Tillmann, Bernhard N./Zilles, Karl: „Einführung in die Anatomie und bildgebende Verfahren“, in: dies. (Hg.), Anatomie, Heidelberg 2010, S. 1-19, hier S. 2f. 79 Vgl. W. Hare: Medico-legal radiology, S. 38f. 80 Dück, Michael: Der Raum und seine Wahrnehmung (= Epistemata – Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Philosophie), Würzburg 2001, S. 46. Der Hirnforscher Gerhard Roth schildert Wahrnehmung ebenfalls als aktiven Prozess. Vor unserer evolutionären Entwicklung beruht Wahrnehmung „nicht auf einer direkten Abbildung der Welt, einer bloßen Kopie, aber doch auf einer systematischen wenngleich ausschnitthaften, hervorgehobenen und abgeschwächten Repräsentation der Welt im Gehirn, die mit der spezifischen Überlebenssituation des Organismus eng zusammenhängt.“ Roth, Gerhard: Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt a. M. 22009, S. 74. Ebenso betont der Wahrnehmungspsychologe Eugen Bruce Goldstein, dass es in der Wahrnehmung um den „aktive[n] Beobachter“ geht. Vgl. Goldstein, Eugen Bruce: Wahrnehmungspsychologie. Eine Einführung, Heidelberg 22001, S. 108. 81 Arnheim, Rudolf: Kunst und Sehen: Eine Psychologie des schöpferischen Auges (dt. Übersetzung von Henning Bock), Berlin 1964, S. 29.
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siert Sehen nicht als „passives Empfangen“, sondern als „eminent aktive Tätigkeit“82. Schon Ernst Cassirer betonte 1929, „daß alle Wahrnehmung, als b e w u ß t e Wahrnehmung, immer und notwendig g e f o r m t e Wahrnehmung sein muß.“83 Ähnlich halten die pädagogischen Anthropologen Christoph Wulf und Jörg Zirfas 2005 in Bezug auf die rezente Forschung fest, dass Sehen als menschliche Handlung zu verstehen ist, „in deren Verlauf Bilder entstehen: Wahrnehmen ist performativ.“84 In der Radiologie fließt das wiederholt genannte Kontext- und Vorwissen – wie zum Beispiel vorformulierte Hypothesen der Anamnese – in diesen aktiven Prozess ein und beeinträchtigt die visuelle Wahrnehmung und deren Wirklichkeitskonstruktion. Im Rahmen der Wahrnehmungspsychologie wird der Einfluss von Erfahrungen und Vorwissen unter der „Frage nach den kognitiven Einflüssen“85 behandelt, und der Medizinhistoriker Frank Stahnisch verweist auf das „Problem theoriegeleiteter Beobachtung“86, wie es in der jüngeren Wissenschaftsphilosophie diskutiert wird. Die Wahrnehmungsforschung konstatiert für die menschliche Wahrnehmung im Allgemeinen und somit auch für die Bildwahrnehmung Top-down-Prozesse, also den Umstand, „dass Vorformen von Vorstellungen regelmäßig […] am Wahrnehmen beteiligt sind […], ohne dass uns dies zu Bewusstsein käme.“87 Die Perzepte menschlicher Wahrnehmung erhalten durch Prozesse der Identifikation und des Wiedererkennens Bedeutung. In der Wahrnehmungspsychologie werden diese Aspekte vor allem in Bezug auf unsere Aneignung der Umwelt untersucht, insofern der Ausgangspunkt ist, dass „die Außenwelt […] oft mehrdeutige Informationen liefert.“88 Somit werden im kognitiven Verarbeitungsprozess der Kontext der Wahrnehmungen und die Erwartungen herangezogen und beeinflussen die Hypothesen über das Wahrzunehmende oder das zu Sehende. Der Rezeption liegt, wie die Kunstwissenschaftlerin Anne Hamker
82 Ebd. 83 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929) (= Philosophische Bibliothek, Bd. 609), bearb. von Julia Clemens, Hamburg 2010, S. 221. (Herv. i. O.) 84 C. Wulf/J. Zirfas: Bild, Wahrnehmung und Phantasie, S. 14. 85 Goldstein: Wahrnehmungspsychologie, S. 5. 86 F. Stahnisch: Mind the Gap, S. 123. 87 Schönhammer, Rainer: Einführung in die Wahrnehmungspsychologie. Sinne, Körper, Bewegung, Wien 2009, S. 182. 88 Gerrig, Richard J./Zimbardo, Philip G.: Psychologie, München 182008, S. 154.
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2003 betont, ein semantischer Prozess zugrunde, „welcher sich auf die Bedeutungszuweisung innerhalb des Wahrnehmungsprozesses bezieht.“89 Bildbetrachtung ist in diesem Verständnis mit der Erwartung und Herstellung von Sinnkonstanz verbunden und bezieht sich in der radiologischen Arbeit auf die vorausgehende Produktion der Bilder im medizinischen und arbeitsteiligen Ablauf: Die Radiologen haben schon bei der Vorbereitung und Durchführung der bildgebenden Untersuchung eine Vermutung, welche Bildergebnisse sie erwarten. Wie im fünften Kapitel zu Anfang aufgegriffen, richtet sich der Herstellungsprozess auf teleologische Aspekte und dient einer Sinnproduktion, die nun im Rahmen der Rezeption wieder aufgegriffen wird. Zu betonen sind die Bemühungen der Radiologen, mögliche Uneindeutigkeiten unter Rückgriff auf Standardisierungen und Normierungen auszuschließen und versuchsweise Bildproduktion sowie -rezeption durch unterschiedliche Strategien zu kontrollieren. Sie setzen also ‚von außen‘ Regelungsmomente an, um die grundsätzlich mehrdeutige menschliche Wahrnehmung von Bildern zu disziplinieren. Aus diesem Grund fordern die Mediziner in ihren Standard- und Lehrwerken für die radiologische Bildbetrachtung Disziplin: Damit keine pathologischen oder anderweitigen Veränderungen übersehen werden, sind bei der Detektion der jeweils interessierenden Körperregion die einzelnen Strukturen in einer streng einzuhaltenden Reihenfolge zu analysieren. 90 Die starke Wertschätzung einer vollständigen und gewissenhaften Befundung des Bildmaterials begründet sich in der Radiologie einerseits durch ihre historische Entwicklung als moderne Wissenschaft und andererseits in ihrer Bildspezialisierung, da die Radiologen letztlich nur erfassen und interpretieren können, was im Bild seine Darstellung findet. Das radiologische Vorgehen ist somit historisch durch einen Anspruch gekennzeichnet, der die Vollständigkeit oder Ganzheit wissenschaftlicher Handlungen im Sinne einer Objektivierbarkeit und Vergleichbarkeit fordert. Zugleich prägt der Gegenstand ihrer Arbeit selbst die Erfahrung, dass Bilddetails schnell übersehen werden können. Daher fordert die Disziplin, alle Bildbereiche bei der Betrachtung als gleich wichtig einzustufen und den Satisfaction-of-search-Effekt zu berücksichtigen, das heißt trotz plausibler erster Befunde den systematischen Analyseprozess abzuschließen.91 Damit zusammen hängt die Bezeichnung des search
89 A. Hamker: Emotion und ästhetische Erfahrung, S. 122. 90 Vgl. S. Lange: Radiologische Diagnostik, S. 1. 91 Barry F. Saunders hebt hervor, dass damit das Gegenteil eines Befundes, nämlich der nicht-gesehene Befund gemeint ist: Weil der Radiologe über einen Fund begeistert ist, übersieht er einen anderen. Vgl. B. F. Saunders: CT Suite, S. 30. Vgl. aus radiologischer
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for meaning, insofern der Radiologe in seinem auf die Diagnose ausgerichteten Betrachtungsprozess eine Abnormität sucht, findet und ihr eine Bedeutung zuschreibt, aber durch seine fokussierte Suche und die Fixierung auf die passende Bedeutung durchaus andere, mögliche Aussagen unbeachtet lässt. 92 Dieser kritischen Überlegung, nicht schon beim erstbesten Befund den Analyseprozess abzubrechen, steht konträr gegenüber, dass Bildinhalte den Radiologen auch mehr Informationen liefern können, als für die Beantwortung der klinischen Fragestellung notwendig sind. Bei bildgebenden Verfahren und den Untersuchungen des Gehirns wird auf „Überschussinformationen“93 hingewiesen, die über eine enge medizinische Indikationsstellung hinausgehen. Wieder offenbart sich das Problem der Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit, wenn laut diesen Maßnahmen eben die erstbeste und (scheinbar) eindeutige Diagnose nicht gleichzusetzen ist mit der ‚richtigen‘ oder vollständigen Diagnose. Obwohl der gesamte radiologische Prozess der visuellen Aneignung des Bildmaterials aufgrund seines simultanen Ablaufs nur begrenzt in einzelne, linear verfolgbare Schritte zu zerlegen ist, wird dergleichen im Folgenden aufgrund der analytischen Vorgehensweise unternommen. Am Anfang steht die grundsätzliche Orientierung des Radiologen, welche Bildinhalte (Körperregion, Organe) wie im Bild dargestellt sind (Schnittebenen etc.); diese Informationen beziehen sich auf radiologisches Kontextwissen, denn zumeist sind Körperregion sowie Art und Weise der Verbildlichung im Vorhinein durch die Indikation des behandelnden Arztes festgelegt. Dergleichen entbindet den Radiologen allerdings nicht von der Verantwortung, sich der Darstellung des menschlichen Körpers in den Verbildlichungen zu vergewissern, die er in der anschließenden Beschreibung erfasst und bezüglich der erwünschten Diagnose interpretiert. Innerhalb der Radiologie selbst lässt sich auf der Grundlage der Fach- und Lehrbücher eine Abfolge von drei Schritten rekonstruieren, wobei zuerst eine
Perspektive W. Hare: Medico-legal radiology, S. 40 und J. Oestmann: Radiologie, S. 22. 92 Vgl. W. Hare: Medico-legal radiology, S. 40; und vgl. J. Oestmann: Radiologie, S. 22. 93 Die Psychologin Cornelia R. Karger und die Biologin Bärbel Hüsing untersuchten 2011 das Konzept der Personalisierten Medizin. Dabei verweisen sie auf Überschussinformationen, die bspw. mit dem Begriff der Zufallsbefunde gefasst werden sollen, und schreiben: „Auch nach Ausschöpfen aller diagnostischen Möglichkeiten liegt nicht notwendig ein klares Ergebnis vor.“ Karger, Cornelia R./Hüsing, Bärbel: Personalisierte Medizin im Gesundheitssystem der Zukunft. Einflussfaktoren und Szenarien (= Schriften des Forschungszentrums Jülich, Reihe Gesundheit/Health, Bd. 44), Jülich 2011, S. 23, http://juser.fz-juelich.de/record/136355/files/Gesundheit_44.pdf vom 1.02.2019.
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morphologische, zweitens eine topografische und drittens eine messtechnisch-biologische Analyse des Bildmaterials erfolgt. Erneut lässt sich diese Systematisierung für die bildwissenschaftliche Darstellung der Abläufe heranziehen und die Bedeutung der visuellen Wahrnehmung herausstellen, die anschließend im Fazit zum Vergleichenden Sehen explizit erläutert und bildwissenschaftlich rückgebunden wird. Vorher liegen den drei Schritten jedoch verschiedene Schwerpunkte zugrunde, so dass zuerst die Frage nach dem mentalen Körperbild in der Radiologie bei der Bestimmung normaler oder pathologischer Morphologie, zweitens die nach der disziplinierenden Kartierung des menschlichen Körpers in der radiologischen Topografie und zuletzt die nach der Aneignung des Gegenstandes über naturwissenschaftliche Messverfahren behandelt werden. Morphologische (Bild-)Analyse: Mentales Körperbild Im ersten Schritt der Bildbetrachtung geht es um das „Vorhandensein normaler anatomischer Strukturen und Verhältnisse sowie Erkennen von Abweichungen.“94 Die vorrangige Aufgabe besteht darin, die in den Bildern dargestellten Erscheinungen dem der Bildgebung zugrunde liegenden Körper und dessen normalen anatomischen Strukturen zuzuordnen, also eine Bildreferenz zu erarbeiten. 95 Des Weiteren ist aus radiologischer Perspektive eine Kenntnis der normalen Organoder Gewebestrukturen Voraussetzung für die Detektion pathologischer Veränderungen und eben das Erkennen von Abweichungen.96 In diesem Zusammenhang reflektiert die Medizin einen Normbegriff: Radiologen wie Anatomen konstatieren in der Fach- und Lehrliteratur, dass der Beschreibung der Anatomie des Menschen „das Konzept einer ‚normalen‘ Gestalt und Struktur zugrunde“97 liegt.
94 H.-U. Kauczor: Systematik der Bildanalyse/Bildmuster, S. 75. 95 Vgl. Mack, M. G./Vogl, Thomas J.: „Nasopharynx und Parapharyngealraum“, in: Thomas J. Vogl (Hg.), Handbuch diagnostische Radiologie. Kopf – Hals, Berlin/Heidelberg 2002, S. 97-138, hier S. 105. 96 Zu den Voraussetzungen der Detektion vgl. B. Tillmann/K. Zilles: Einführung in die Anatomie und bildgebende Verfahren, S. 2. 97 Ebd.
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Ein wichtiger Ausgangspunkt radiologischer Bildbetrachtung ist das über Fach- und Erfahrungswissen98 in Studium und Praxis angeeignete medizinische (und vorrangig mentale) Körperbild, das dem jeweils aktuellsten Stand der Forschung entspricht. Die Wissenschaftsgeschichte hat die Erzeugung eines idealen Körpermodells in der Medizin vor dem Hintergrund naturwissenschaftlicher Vorstellungen wie Zahl und Maß herausgearbeitet (vgl. Kap. 3). Dabei zeigt sich dieses Körpermodell immer im Wechsel mit aktuellen Wissensinhalten und Vorstellungen.99 Die Betonung, dass es sich um ein mentales Körperbild handelt, bezieht sich auf die bildwissenschaftliche Diskussion um materielle und mentale Bilder. Wie der Kunsthistoriker Hans Belting zu Recht betont, lassen sich materielle Bilder – wie beispielsweise computer- und magnetresonanztomografische Bilder – nicht ohne ein mentales Gegenstück denken: Bilder entstehen erst in der Wahrnehmung des Menschen, sind also „das Ergebnis einer Interaktion zwischen Betrachter und Medium, in welcher das Erkennen und das Zeigen aufeinander bezogen sind.“ 100 Wichtig ist dabei Beltings Hinweis, dass noch keine adäquate Methode entwickelt wurde, um physische und mentale Bilder gemeinsam zu betrachten oder den Ablauf der visuellen Wahrnehmung im Zusammenspiel zu analysieren. Zugleich greift die vorliegende Untersuchung auf seine Überlegung zurück, sich einem ungesicherten und ungewissen Bildbegriff über die historische und heutige Bildpraxis zu nähern, da sich in Bildern symbolische Handlungen ausdrücken, die zuerst über deren Produktion aufzudecken sind.101 Den jeweils mentalen Vorstellungen lässt sich im Gebrauch, also in Produktion und Rezeption der Bilder, nachgehen,
98
Regula V. Burri betont, dass die Ärzte und Wissenschaftler Fachwissen und Erfahrung als wichtigste Komponenten für eine adäquate Bildinterpretation betrachten. Vor allem für das Erkennen von Bildartefakten seien Fachkenntnisse unabdingbar. Vgl. R. V. Burri: Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder, S. 203.
99
Die Germanistin und Kulturwissenschaftlerin Claudia Benthien zeigt in ihrer Untersuchung zur menschlichen Haut, wie wissenschaftsgeschichtliche Momente und historische Indizie im 18. Jahrhundert ein kollektives Körperbild bedingen; im dritten Kapitel schildert sie das wechselseitige Verhältnis von Wissen und Vorstellung, das sich in Bildern oder Plastiken niederschlägt. Vgl. Benthien, Claudia: Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reinbek bei Hamburg 22001, darin das dritte Kapitel: „Durchdringungen. Körpergrenzen und Wissensproduktion in Medizin und kultureller Praxis“, S. 49-75.
100 H. Belting: Die Herausforderung der Bilder, S. 16. 101 Vgl. ebd., S. 15.
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die zugleich Auswirkung auf die materiellen Bildergebnisse haben wie umgekehrt. Dieses Vorgehen entspricht dem Vorschlag einer funktionsgeschichtlichen Untersuchung von Bildern, wie sie in Anlehnung an Jan Mukařovsky und Werner Busch in der vorliegenden Studie aufgegriffen wird. Im Zusammenhang der wechselseitigen Bedingungen zwischen visueller Vorstellung und materiellem Artefakt (im Sinne von Bild) ist das mentale Körperbild einer Zeit schwer von den Visualisierungen des menschlichen Körpers zu trennen. Insofern prägt das wissenschaftliche Ideal der Disziplin durchaus die Ansprüche und Anforderungen an das Bildmaterial, wie in der vorliegenden Untersuchung durch die Schilderung von Standardisierungs- und Normierungsprozessen erläutert wurde. Zugleich erschwert der Umstand, dass es sich um mentale Körperbilder handelt, die bildwissenschaftliche Untersuchung. Zu vergleichen sind diese Bilder sicherlich mit einer Form des schon angesprochenen tacit knowledge der radiologischen Kommunikationsgemeinschaft, wie es in soziologischen und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen angeführt wird.102 Regula V. Burri formuliert diesen Aspekt 2001 wie folgt: „Das Lernen im Alltag ‚durch die Bilder selber‘ stellt als inkorporiertes Erfahrungswissen, welches eine gefühlsmäßige Beurteilung von Bildern ermöglicht, eine der wichtigsten Deutungsfolien für die Interpretation medizinischer Visualisierungen dar.“103 Im Rahmen der hier zuerst angeführten morphologischen Analyse, der die in Biologie und Medizin verbreitete Morphologie (griech. μορφή, morphé = Gestalt) als Lehre von der Gestalt zugrunde liegt, sind also die über tacit knowledge vorhandenen Vorstellungen des Normalen und des Pathologischen in der Radiologie zu berücksichtigen. Zugleich handelt es sich bei der Gestalt um einen Begriff aus der Wahrnehmungsforschung, der Anfang des 20. Jahrhunderts in der sich bildenden Gestaltpsychologie Bedeutung erhält. Forscher wie Kurt Koffka, Wolfgang Köhler oder Max Wertheimer untersuchten ausführlich die Prinzipien der Wahrnehmungsgruppierung und formulierten Gesetze, wie sich unsere Perzepte zu einem organisierten und strukturierten Ganzen formieren. Bei der menschlichen
102 Sozialwissenschaftliche Untersuchungen wie die von Joyce und Burri beziehen sich bei dem Begriff des tacit knowledge auf Michael Polanyi, der seine Gedanken über das menschliche Wissen in den 1950er und 1960er Jahren von dem Fakt aus organisierte, „that we can know more than we can tell“. Polanyi, Michael: The Tacit Dimension (1966), Chicago/London 22009, S. 4. (Herv. i. O.) Interessanterweise setzte sich Polanyi implizit mit der Gestalttheorie auseinander und betrachtete die Wahrnehmung (perception) als die ärmlichste Form des tacit knowing. Vgl. ebd. S. 7. 103 R. V. Burri: Doing Images. Zur soziotechnischen Fabrikation, S. 290.
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Wahrnehmung ist von einfachen und elementaren Perzepten auszugehen, die aufgrund kognitiver Prozesse eine vollständige Wahrnehmungsleistung ergeben. 104 Diese Wahrnehmungsleistung ist immer kontextgebunden und im Fall der Radiologie auf das Bildmaterial und die erwünschte eindeutige diagnostische Aussage zu beziehen. In der Radiologie wird nun mit Gestalt vorzugsweise im makroskopischen Bereich die äußere Form von Individuen, von einzelnen Körperabschnitten oder von Organen bezeichnet, was beispielhaft für die Schädel- oder Hirnbildgebung (Schädel als Körperabschnitt, Gehirn als Organ) aufgegriffen werden kann. Der Radiologe Jörg W. Oestmann schildert 2005 als ersten Schritt der morphologischen Analyse den Blick auf die „Trophik105 des Hirns“106: Die Größe der inneren und äußeren Liquorräume, die Trennschärfe von Bildbereichen wie Kleinhirn, Seitenventrikel, Hirnrinde und -mark und die symmetrische Darstellung der Mittellinienstrukturen und Seitenventrikel werden visuell beurteilt.107 Übergreifend werden die genannten Gestalten oder Formen von der (anatomischen) Struktur umfasst, die im medizinischen Kontext über eine reine Beschreibung von Befunden, wie in der deskriptiven Anatomie, hinausgeht. Sie erfasst den inneren Aufbau oder das Gefüge von Organen vom makroskopischen bis in den molekularen Bereich hinein und bezieht die jeweilige Funktion ein.108 Derartige Verweise in der radiologischen Fachliteratur erwecken den Eindruck, als bestünde eine allumfassende Organismustheorie, innerhalb derer pathologische Erscheinungen oder Prozesse zuzuordnen wären; dergleichen wird von medizinhistorischer Seite angezweifelt. Norbert Paul kennzeichnet eine solche Organismustheorie 1996 als Defizit oder Desiderat der modernen Medizin.109 Neuere Forschungsansätze halten dieses Defizit aufrecht, wie beispielsweise der Medizininformatiker Danny Ammon 2014
104 Vgl. R. Gerrig/P. Zimbardo: Psychologie, S. 143f. 105 Unter der Trophik wird „die Beschaffenheit von Körpergeweben“ verstanden. Mattle, Heinrich/Mumentahler, Marco: Neurologie, Stuttgart 132013, S. 349. 106 J. Oestmann: Radiologie, S. 193. 107 Vgl. Ebd. 108 Vgl. B. Tillmann/K. Zilles: Einführung in die Anatomie, S. 2. 109 Paul, Norbert: „Der Hiatus theoreticus der naturwissenschaftlichen Medizin. Vom schwierigen Umgang mit Wissen in der Humanmedizin der Moderne“, in: C. Borck (Hg.), Anatomien medizinischen Wissens (1996), S. 171-200, hier S. 179. Auch Cornelius Borck widmet sich den Dilemmata der Modernen Medizin und stellt fest, dass die Entwicklung des Spezialwissens in der naturwissenschaftlich orientierten Medizin den Arzt zumeist hilflos zurücklässt, soll er die individuelle Situation des Patienten
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in seiner Forschung zu wissensbasierten Systemen in der Medizin formuliert. Er schreibt, dass jedes medizinische Wissen in der täglichen und auf einen Patienten oder dessen Untersuchungsergebnissen fokussierten Anwendung „zu unsicherem Wissen [wird, Anm. d. A.], insofern aufgrund der Komplexität des lebenden Organismus eindeutige Aussagen unmöglich sind“110. So lange eine umfassende Theorie des Organismus’ nicht besteht oder auch in naher Zukunft unwahrscheinlich ist, fehlt dieselbe als wesentliche Voraussetzung für eine allgemeingültige Strukturierung des Modells von Gesundheit und Krankheit, wie es die Medizin in ihrem Verständnis als moderner Wissenschaft benötigt.111 Trotz des Defizits einer umfassenden Organismustheorie dient die Morphologie der Radiologie als Grundlage, um die in den jeweiligen Bildergebnissen visuell zu detektierenden Erscheinungen aufgrund ihrer Gestalt und Form und vor dem Wissen um die eingesetzte Bildmodalität in normale und/oder pathologische Befunde einzuteilen. Wie in der historischen Aufarbeitung deutlich wurde, hat sich die Radiologie für jedes bildgebende Verfahren im Rückgriff auf anatomisches Wissen ein eigenes Deutungssystem erstellt; dergleichen spiegelt sich in üblichen Begrifflichkeiten der Disziplin wie Röntgenmorphologie, CT-Morphologie und MRT-Morphologie wider und zeigt, wie die Radiologie die zur Bildproduktion
einschätzen. Stattdessen kann er nur Überlebensraten und Wahrscheinlichkeiten nennen, „die per definitionem keine Auskunft über den konkreten Einzelfall zu geben vermögen.“ Borck, Cornelius: „Anatomien medizinischer Erkenntnis. Der Aktionsradius der Medizin zwischen Vermittlungskrise und Biopolitik“, in: ders. (Hg.), Anatomien medizinischen Wissens (1996), S. 9-52, hier S. 22. Beide Autoren machen deutlich, dass die Moderne Medizin nach einer allumfassenden Organismustheorie strebt und dieselbe über Statistik, Maß und Zahl zu erreichen versucht, dabei aber zugleich ihren wichtigsten Gegenstand, nämlich den individuellen und nicht in Statistiken zu zwängenden Patientenkörper verfehlt. Die Überlegungen zu einer umfassenden Organismustheorie sind dabei eingebettet in eine auch die Moderne Medizin tangierende Geschichte zur „Wissensfigur des lebenden Körpers“, wie der Literatur- und Kulturwissenschaftler Benjamin Bühler 2004 formuliert. Bühler, Benjamin: Lebende Körper. Biologisches und anthropologisches Wissen bei Rilke, Döblin und Jünger, Würzburg 2004, S. 10f. 110 Ammon, Danny: Intelligente elektronische Patientenakte. Entwurf und Anwendung eines Vorgehensmodells für die Entwicklung wissensbasierter Systeme zur Unterstützung medizinischer Dokumentationsprozesse (= Kritische Informatik), Berlin 2014, S. 20. (Herv. i. O.) 111 Vgl. ebd., S. 26.
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eingesetzten biophysikalischen Parameter in ihren Erscheinungen im Bild berücksichtigt. Im Rahmen der Bildbetrachtung schildern die Radiologen die morphologische Analyse als die Detektion von Läsionen und die Beschreibung von deren Größe, Form sowie Randbegrenzung oder Kontur, also sämtlicher im Bild visuell erfassbarer Aspekte. Wiederum lässt sich als Beispiel die Schilderung Oestmanns heranziehen, der bezüglich einer sichtbaren Auffälligkeit für die Radiologen die weitere visuelle Beurteilung anführt, dass zwischen einer diffusen Veränderung des Hirns oder einem umschriebenen Herd zu unterscheiden sei. Während eine diffuse Hirnveränderung über die genannten formalen Veränderungen des Hirnvolumens oder der Gehirnhäute nachzuweisen ist, tritt für den Beleg eines Herdes die im nächsten Schritt zu beschreibende topografische Analyse hinzu. Beispielsweise ist zu beurteilen, ob sich der Herd nach der Bildbetrachtung im Hirn (intraaxial) oder außerhalb (extraaxial) befindet.112 Topografische (Bild-)Analyse: Kartierung des Körpers Der morphologischen Analyse oder Detektion der normalen und pathologischen Bilderscheinungen folgt die topografische Analyse als enorme Abstraktionsleistung, innerhalb derer die jeweiligen Bilderscheinungen in Bezug auf die menschliche Anatomie lokalisiert werden müssen.113 Im Gegensatz zur Morphologie, die vermehrt im biologischen und medizinischen Kontext (neben der Linguistik) als Begriff genutzt wird, ist die Topografie (griech. τόπος, tópos = Ort und γράφειν, gráphein = zeichnen, beschreiben) im Sinne der Ortsbeschreibung ein Teilgebiet der Kartografie beziehungsweise Landvermessung114 und bezieht sich auf den Raum. Die Radiologen formulieren bezüglich des Schwerpunkts der topografischen Analyse: „Die Zuordnung eines pathologischen Prozesses zu einem anatomischen Raum steht an zweiter Stelle.“115 An diesem Punkt im Ablauf wird deutlich, dass sich die Schrittfolge nur begrenzt analytisch trennen lässt. Die Radiologen schauen bei der Bildbetrachtung nicht klar unterschieden zuerst auf die morphologischen Aspekte und machen sich im Anschluss Gedanken über deren anatomische Lokalisation – im praktischen
112 Vgl. J. Oestmann: Radiologie, S. 193. 113 Vgl. W. Hare: Medico-legal radiology, S. 40. 114 Vgl. Hake, Günter/Grünreich, Dietmar/Meng, Liqiu: Kartographie: Visualisierung raum-zeitlicher Informationen, Berlin/New York 82002, S. 5. 115 Mödder, U./Cohnen, M.: „Gesichtsschädel und Nasennebenhöhlen“, in: T. J. Vogl (Hg.), Handbuch diagnostische Radiologie (2002), S. 139-186, hier S. 149.
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Betrachtungsprozess geschehen diese Schritte gleichzeitig. Für die bildwissenschaftliche Untersuchung ist es hingegen interessant, dass die Radiologen selbst die Zuordnung zum anatomischen Raum an die zweite Stelle ihres Betrachtungsprozesses setzen, und dass sich die Abstraktionsleistung in Bezug auf die Darstellungsproblematik von Fläche und Raum und in die aktuellen Diskurse um einen spatial turn116 einordnen lässt. Historisch ist die Beschäftigung mit der visuellen Wahrnehmung bis zu den antiken Philosophen zurückzuverfolgen. Zentral geht es um ihre Eigenschaft, im Wahrnehmungsprozess Abbildungen auf zweidimensionalen Flächen aus der Erfahrung (mit den abgebildeten Objekten) Dreidimensionalität zuzuschreiben.117 Das genannte Fläche-Raum-Problem zeigt sich nach dem Mediziner und Philoso-
116 Der Kultur- und Medienwissenschaftler Stephan Günzel verweist auf den Diskurs um einen spatial turn seit den 1990er Jahren. Dabei unterscheidet er zwischen der generellen Thematisierung des Raumbegriffs im spatial turn und der Problematisierung der Repräsentationsform von Raum im topographical turn. Die wichtige Erkenntnis der unter diesen turns zu fassenden Ansätze ist, dass Raum „keine eigenständige Entität“ ist, sondern Räumlichkeit durch eine Funktionsbeziehung von Kultur und Natur erst hervorgebracht werde. Günzel, Stephan: „Raum – Topografie – Topologie“, in: ders. (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 13-29, hier S. 13ff. Die Kunst- und Kulturwissenschaftlerinnen Sabiene Autsch und Sara Hornäk beschäftigen sich ebenfalls mit dem Thema Raum und spezifizieren es für die Kunst. Sie sehen den spatial turn als „eng verbunden mit einem Perspektivenwechsel, der sich auch infolge medialer Technologien und digital basierter Kommunikations- und Vermittlungsprozesse seit den 1990er Jahren in den Kulturwissenschaften entwickelte.“ Autsch, Sabiene/Hornäk, Sara: „Räume in der Kunst. Künstlerische, kunst- und medienwissenschaftliche Entwürfe“, in: dies. (Hg.), Räume in der Kunst. Künstlerische, kunst- und medienwissenschaftliche Entwürfe, Bielefeld 2010, S. 7-16, hier S. 7. Bei der Erforschung von Raumdispositionen in medialen und künstlerischen Arbeiten weisen sie insbesondere auf „raumbildende Praktiken“ hin: „Raum entsteht hier vielfach erst in Interaktion, durch Partizipation oder Projektion.“ Ebd., S. 10. Ebenso betont der Literaturwissenschaftler Robert Stockhammer mit dem Begriff ‚TopoGraphie‘ das „Gemacht-Sein von Räumen“, da sie „vor allem auch Produkte graphischer Operationen im weitesten Sinne sind.“ Stockhammer, Robert: „Hier. Einleitung“, in: ders. (Hg.), TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München 2005, S. 7-21, hier S. 15. 117 Vgl. M. Dück: Der Raum und seine Wahrnehmung, S. 40.
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phen Michael Dück vor allem in der Forschungsphase der Wahrnehmungsphysiologie im 19. Jahrhundert, als sich mit Problemen der Peripherie des visuellen Apparates und insbesondere mit dem Reizmuster der auf die Retina projizierten Außenwelt beschäftigt wurde. Der visuelle Apparat wurde mit der Camera obscura identifiziert, wobei eine solche Gleichsetzung des Sehvorgangs mit einer Projektionsabbildung den Verlust der dritten Dimension einzuklagen hat, „da die Netzhaut, als Projektionsfläche verstanden, zweidimensional ist.“118 Dück formuliert das Problem wie folgt: „Das Problem der Sinnesphysiologen und Psychologen bestand darin, und wird auch heutzutage noch ähnlich bewertet, im zweidimensionalen Projektionsbild der Objektwelt Strukturen zu finden, mit deren Hilfe der Organismus das offensichtlich dreidimensionale Wahrnehmungserlebnis konstruieren kann.“119
In diesem Zusammenhang wurden, so Dück, monokulare Tiefenkriterien formuliert, die ein monokulares statisches Netzhautbild strukturieren. Einige dieser Tiefenkriterien sind der Malerei entlehnt, „die das Problem der illusionären Darstellung der dritten Dimension auf einer zweidimensionalen Fläche zu lösen hat, weshalb man auch von ‚pictorial clues to depth‘ spricht.“ 120 In der Wahrnehmungsforschung werden unter diesen monokularen Tiefenkriterien bestimmte Abbildungsfaktoren wie Überschneidung, relative Größe, atmosphärische Perspektive, Gradienten, Schatten und andere verhandelt.121 Das Fläche-Raum-Problem der Radiologie ist bildwissenschaftlich mit den Ergebnissen der kunstgeschichtlichen und wahrnehmungstheoretischen Forschung zu verbinden. Ihnen liegen in ihrer Arbeit zweidimensionale Artefakte eines dreidimensionalen Gegenstandes vor. Dabei ist keine abbildhafte Ähnlichkeit mit dem eigentlichen Inhalt – dem menschlichen Körper – anzunehmen: Weder gleichen die computer- und magnetresonanztomografischen Bilder einer Außenansicht des menschlichen Körpers, wie es vielleicht für die Fotografie anzunehmen und zu untersuchen wäre, noch stimmen die erzeugten Schicht- oder Schnittbilder mit
118 Ebd., S. 110. 119 Ebd. 120 Ebd., S. 111. 121 Vgl. Eiglsperger, Birgit: Differenziertes Raumwahrnehmen im plastischen Gestaltungsprozess. Eine Untersuchung zur Anwendung des ‚Cognitive-ApprenticeshipAnsatzes‘ beim Modellieren eines Selbstporträts, München 2001, S. 69.
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dem Anblick pathologischer Präparate überein.122 Stattdessen sind es die physikalischen und biologischen Grundlagen der Messprozesse und die Regeln gehorchende Visualisierung der Messwerte, die eine Referenzierung zum Gegenstand Körper erzeugen. Im Abschnitt zur Digitalisierung der Radiologie (vgl. Kap. 4) wurde in der vorliegenden Arbeit auf die Zusammenarbeit von Radiologie und Medizinischer Informatik verwiesen, die im Rahmen der Bilddarstellung an dem Problem ansetzt, „den Menschen so abzubilden, wie es seiner Gestalt entspricht.“123 Die Radiologen kritisieren, dass der menschliche Körper in zweidimensionale, statische Schwarz-Weiß- oder Grauwertaufnahmen überführt wird, ihm also Dimensionalität und Räumlichkeit sowie reale Farbgebung fehlen. Die Medizinische Informatik setzt sich mit den genannten monokularen Tiefenkriterien auseinander und denkt beispielsweise über Schattengebung, Überschneidung, relative Größe und Gradienten im Transfer der Bilddaten auf den Bildschirm nach. Neben der ausführlich besprochenen Fensterung beschäftigt zum Beispiel informatische Visualisierungsansätze die Frage der Textur: Attribute wie Kontrast (Contrast), Gerichtetheit (Directionality), Linienartigkeit (Line-Likeness), Regelmäßigkeit (Regularity) oder Rauigkeit (Roughness) werden als Klassifizierungskriterien bei der Erstellung der Software berücksichtigt. 124 Aus informatischer Perspektive führen die bildgebenden Verfahren dabei „zu einer Abstraktion der Realität“, da beispielsweise in der Tomografie „der 3D-Körper zu einem VoxelVolumen abstrahiert und in 2D-Schichtdarstellungen repräsentiert“125 wird. In Anbetracht der technischen Entwicklung sind heute Visualisierungen möglich, die den Abbildungsfaktoren der monokularen Tiefenkriterien insoweit gehorchen, dass die Rede von einer fotorealistischen Darstellung immer einleuchtender wird. Zugleich ist es vor diesen Fortschritten interessant, dass sich die Radiologen in ihrer Befundarbeit weiterhin den statischen Grauwertbildern zuwenden und die hochkomplexen und technisch hochqualitativen Verbildlichungen zumeist nur bei Vorträgen auf Kongressen eingesetzt werden.126 Wie in der Einleitung angesprochen, kommt es hier zu einer Verquickung der Interessen, die auf eine öffentliche
122 Historisch nachweisbar am Anfang der Computertomografie problematisierten Hounsfield und Ambrose die Referenzierbarkeit des Bildmaterials zum zugrunde gelegten Präparat. Vgl. Kapitel 4.1.3 und vgl. J. Gobo: Localization Techniques, S. 238. 123 M. Heller: Radiologische Horizonte, S. 178. 124 Vgl. Schumann, Heidrun/Müller, Wolfgang: Visualisierung. Grundlagen und allgemeine Methoden, Berlin/Heidelberg 2000, S. 102f. 125 D. Schuhmann u. a.: Computergestützte Diagnostik, S. 801. 126 Dieser Umstand lässt sich auf medizinischen Kongressen beobachten, auf denen Bildmaterial der neuesten Studien vorgestellt und diskutiert wird.
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Wahrnehmung der Disziplin gerichtet sind, und den pragmatischen Prozessen, die innerhalb der Disziplin und ihrer täglichen Arbeit bedeutsam bleiben. Hochglanzabbildungen in Magazinen und Anträgen 127 oder durch Falschfarben die Aufmerksamkeit auf sich ziehende Visualisierungen in Präsentationen dienen einerseits ökonomischen und finanziellen, andererseits distinktiven Motiven. In Zeiten knapper werdender Ressourcen kämpft die Radiologie in der Öffentlichkeit um Gelder und die Deutungsmacht in Bezug auf das in der Disziplin produzierte Bildmaterial.128 Vor dem Hintergrund der Forschungserkenntnisse im Diskurs des spatial turn ist auf die enge Verbindung von Raumkonstruktionen und Raumdarstellungen im Zusammenhang mit der Zentralperspektive und der Kartierung oder Kartografie zu verweisen. Kunst- und kulturhistorische Ansätze beziehen sich auf die Entwicklung der Zentralperspektive in der Frühen Neuzeit und ihrer zunehmenden Verbreitung vor allem in Europa. Die Kunsthistorikerin Gabriele Wimböck widmet sich der Zentralperspektive als einem Gestaltungsreglement und einer besonderen Form der bildlichen Repräsentation, „die im Allgemeinen den Anspruch erhebt, im Sinne einer rationalen Maßübertragung die Wirklichkeit besonders genau abzubilden, da sie auf einem Verfahren beruht, das die Bildwelt in ihrer Erscheinung und im wechselseitigen Verhältnis der Bildgegenstände zueinander eindeutig regelt, und dabei die Maßstäblichkeit des Betrachterraums aufgreift.“ 129
127 Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich weist auf die Anleitungen zur Inszenierung von Bildern für Drittmittelanträge und öffentliche Vorträge, wie sie bei Felice Frankel nachzuvollziehen sind. Vgl. dazu Ullrich, Wolfgang: „Wissenschaftsbilder und der neue Paragone zwischen Geistes- und Naturwissenschaften“, in: Martina Heßler (Hg.), Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit, München 2006, S. 303-316, hier S. 310; und vgl. Frankel, Felice: Envisioning Science. The Design and Craft of the Science Image, Massachusetts 2003. 128 Regula V. Burri verweist auf die radiologische Distinktionsarbeit bzgl. ihres Bildmaterials; sie unterstreicht die Funktion der Bilder in der Radiologie, um die soziale Ordnung in Forschungszentren, Gemeinschaften und Kliniken zu erzeugen, zu verhandeln und neu auszuhandeln. Die medizinische Bildgebung hat dabei enorme Auswirkungen auf die Identitätsausbildung der Radiologen. Vgl. Burri, Regula Valérie: „Doing Distinctions: Boundary Work and Symbolic Capital in Radiology“, in: Social Studies of Science 38/1 (2008), S. 35-62. 129 Wimböck, Gabriele: „Die Autorität des Bildes – Perspektiven für eine Geschichte vom Bild in der Frühen Neuzeit“, in: F. Büttner/dies. (Hg.), Das Bild als Autorität
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Die Verbildlichung von räumlich gegebenen Aspekten in Kartierung oder Kartografie beruht auf perspektivischen Projektionen und deren wahrnehmungstheoretischen sowie mathematischen Grundlagen, also Maß und Zahl. Wie Günter Hake et al. 2002 in ihrem Überblickswerk zur Kartografie festhalten, berücksichtigt dieselbe nicht nur wahrnehmungstheoretische Erkenntnisse bezüglich der Strukturierung der Bildzeichen, sondern stützt sich insgesamt auf verschiedene Wissensbereiche, vor allem auf „mathematische[n] und technische[n] Prinzipien des Vermessungswesen [sic], der Informatik, Reproduktionstechnik und Statistik.“130 Allerdings ist laut den Literaturwissenschaftlern Robert Stockhammer und Jörg Dünne der Unterschied zu berücksichtigen, dass die Zentralperspektive eine mathematisch-geometrische Anleitung für die Bilderstellung in Bezug auf einen Betrachterstandpunkt ist, während sich in Karten gerade kein einzelner Blickpunkt erschließen lässt.131 Der Medienwissenschaftler Jens Schröter betont den wichtigen Unterschied: Während perspektivische Projektionen (Zentralperspektive, Linearperspektive) nicht alle Informationen über die räumliche Gestalt bewahren, erhalten die verschiedenen Arten der Parallelprojektion die relativen Maße der Objekte; allerdings werden die Ansichten darin ‚geplättet‘ und Entscheidungen zu Höhe und Tiefe oder Vorne und Hinten sind nicht möglich.132 Bei der Analyse der Bildproduktion (vgl. Kap. 5) wurde das Verfahren der Landmarken in der Radio-
(2004), S. 9-41, hier S. 26. In diesem Sinn betont Gottfried Boehm, dass sich zentralperspektivisch konstruierte Bilder der Ästhetik der Abbildung verschreiben und „modellhafte Analoga zur sichtbaren Welt“ herstellen. G. Boehm: Vom Medium zum Bild, S. 173. Vgl. zum Überblick über die Perspektive als Bildformatierung: Ubl, Ralph: „Über Bildformatierungen“, in: W. Pichler/ders. (Hg.), Bildtheorie zur Einführung (2014), S. 136-211, hier S. 183ff. 130 G. Hake/D. Grünreich/L. Meng: Kartographie, S. 6. (Herv. i. O.) 131 Vgl. Stockhammer, Robert: „Bilder im Atlas. Zum Verhältnis von piktorialer und kartografischer Darstellung“, in: Sabine Flach/Inge Münz-Koenen/Marianne Streisand (Hg.), Der Bilderatlas im Wechsel der Künste und Medien, München 2005, S. 341361, hier S. 354; und vgl. Dünne, Jörg: „Die Karte als Operations- und Imaginationsmatrix. Zur Geschichte eines Raummediums“, in: ders./Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 49-69, hier S. 55. 132 Vgl. Schröter, Jens: „Das transplane Bild. Raumwissen jenseits der Perspektive“, in: Yvonne Schweizer u. a. (Hg.), Raum – Perspektive – Medium 2: Wahrnehmung im Blick (reflex: Tübinger Kunstgeschichte zum Bildwissen, Bd. 2), S. 1-12, hier S. 3f., http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:21-opus-44867 vom 01.02.2019.
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logie erörtert, wenn bei Übersichtsdarstellungen und der radiologischen Bildgebung Strukturen des menschlichen Körpers als Leitstrukturen definiert werden: In jedem Untersuchungsvorgang müssen sich das medizinisch-technische Personal und die Radiologen an diese Vorgaben halten, um Wiedererkennbarkeit und Identifizierbarkeit der ‚Körperlandschaft‘ zu gewährleisten. In der Medizin wird die topografische Anatomie insgesamt der makroskopischen Anatomie zugeordnet.133 Ihre Aufgabe besteht speziell in der Beschreibung der „Lageverhältnisse der verschiedenen Strukturen des Körpers und ihre räumlichen Beziehungen zueinander“134 oder in der Beschreibung der „Form und Lage von Organen unter Einbeziehung ihrer Umgebung.“135 Historisch wird in der Modernen Medizin der topografischen Anatomie eine stärkere Bedeutung eingeräumt, da insbesondere „für die Beurteilung der heute durch die sog. bildgebenden Verfahren gewonnenen Abbildungen […] eingehende topografische Kenntnisse unverzichtbar“136 sind. Die erforderliche Abstraktionsleistung steht in direktem Zusammenhang mit diesen topografischen Kenntnissen, da sich der Radiologe von der zweidimensionalen Darstellung zu lösen und das darin zu Sehende auf die dreidimensionale Situation des menschlichen Körpers zu übertragen hat. Eine Voraussetzung dafür ist die Eigenschaft der Bildmedien beziehungsweise ihre Darstellungsleistung: Computer- und Magnetresonanztomografie erzeugen zweidimensionale Grauwertbilder des menschlichen Körperinneren auf der Grundlage physikalisch-biologischer Theorien. Um die flächigen Präsentationen dem dreidimensionalen Referenten zuordnen zu können, ist in der Radiologie neben dem Fläche-Raum-Problem auf den Einfluss von Erfahrungswissen und Vorstellungen zu verweisen: Erst im Wechselverhältnis von materiellem und mentalem Bild hat der Radiologe die Möglichkeit, die jeweils einzeln vorliegenden, zweidimensionalen Abbildungen in das Vorstellungskonzept eines dreidimensionalen menschlichen Körpers einzufügen. Dieses Vorstellungsmodell wird in der Informatik aufgrund des spezifischen Disziplinenwissens berücksichtigt, aber auch in der Kartografie herangezogen. Hake et al. beschreiben 2002 die sogenannte kognitive Karte
133 Vgl. B. Tillmann/K. Zilles: Einführung in die Anatomie, S. 2. 134 Rohen, Johannes W.: Topographische Anatomie. Lehrbuch mit besonderer Berücksichtigung der klinischen Aspekte und der bildgebenden Verfahren, Stuttgart 102008, S. 2. 135 B. Tillmann/K. Zilles: Einführung in die Anatomie, S. 2. 136 J. Rohen: Topographische Anatomie, S. 2.
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und erläutern, dass der Vorgang der Kartenauswertung sowie das gesamte raumbezogene Denken und Analysieren immer vor dem Einsatz von „Methoden des Sehens“137 zu betrachten ist. Im Schritt der topografischen Analyse lassen sich analytisch die Bezüge zu einer Form räumlichen Wissens in der Radiologie herstellen, die den dreidimensionalen Körper und seine zweidimensionalen Darstellungen betrifft. Die auf Messwerten basierenden Verbildlichungen der Computer- und Magnetresonanztomografie gehorchen dabei mathematisch-geometrischen Regeln, die andere Disziplinen wie die Kartografie ebenfalls anwenden und die in einer langen Tradition des Sehens und Darstellens stehen.138 Die Germanisten Hans-Joachim Jürgens und Florian Vaßen widmen sich 2006 der Kartografie als ästhetischem Prozess und greifen den Begriff des mapping als englische Variante der Bezeichnung Kartografie auf. Das Mapping wird nicht nur in der Kartografie erwähnt, sondern „ist aus der EDV im Sinne der Konvertierung von Informationen und aus der Kognitiven Psychologie in die Kulturwissenschaft übernommen worden“ 139. Bezeichnenderweise treffen sich im Begriff Mapping also Interessen der Informatik, der kognitiven Wahrnehmungsforschung und der Kulturwissenschaft – und zugleich beruht die Formulierung auf einer aktiven Aneignung: Die jeweilige Karte oder die jeweilige Raumvorstellung ist ein soziokultureller Prozess, die bildliche Darstellung wird performativ erzeugt. Das Bestreben der Radiologie, den dreidimensionalen menschlichen Körper über zweidimensionale Darstellungen zu erfassen, lässt sich wiederum in Bezug auf die leitende These der Untersuchung beziehen, wenn Jürgens und Vaßen weiter formulieren, dass Karten die „rationale Vermessung an die Stelle intuitiver Suche“ stellen und „die Komplexität von Welt
137 G. Hake/D. Grünreich/L. Meng: Kartographie, S. 24f. 138 Für die Medizin ist der Bezug zur Anatomie besonders hervorzuheben; mit Andreas Vesalius Fabrica wurde die Zentralperspektive als Darstellungstechnik in das anatomische Bild eingeführt und der menschliche Körper als imaginärer dreidimensionaler Gegenstand entworfen. Vgl. Neumann, Josef N.: „‚…davon künfftig auch andere in Curen Nutzen haben könten‘ – Körperkonzept, anatomisches Wissen, medizinische Praxis in der Frühneuzeit bis Ende des 18. Jahrhunderts“, in: ders./Rüdiger Schultka (Hg.), Anatomie und Anatomische Sammlungen im 18. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 73-95, hier S. 81. 139 Jürgens, Hans-Joachim/Vaßen, Florian: „Einleitung. Kartografie als ästhetischer Prozess“, in: Lutz Hieber/dies. u. a. (Hg.), Der kartographische Blick (= Kultur: Forschung und Wissenschaft), Hamburg 2006, S. 10-21, hier S. 12.
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reduziert wird; Widersprüchliches, Ambivalentes, Undeutliches bleibt ausgespart oder es wird zu reduktionistischer Klarheit und Einfachheit deformiert.“ 140 Doch wie die vorliegende Arbeit zeigt, schaffen es die nach mathematischgeometrischen Anleitungen erstellten Bilder der Radiologie nicht, Widersprüchliches, Ambivalentes und Undeutliches auszusparen. Bezüglich der Kartografie oder der Darstellung in Karten formuliert Robert Stockhammer 2005, dass die aperspektivische Karte einer anderen epistemologischen Position gehorcht als ein zentralperspektivisch organisiertes Bild: Während letzteres eine Positionierung durch einen bestimmten Betrachterstandpunkt vollzieht, basieren Karten auf einer „De-Positionierung“141. Jörg Dünne spezifiziert die entscheidende Leistung der Kartografie „in der Ermöglichung eines aperspektivischen räumlichen Nebeneinanders, das von keinem natürlichen Blick eingefangen werden kann und das nur auf der Karte so möglich ist.“142 Karten befriedigen nach Dünne auf der Rezipientenseite „ein Interesse an berechenbaren geografischen Koordinaten“143. Radiologisches Bildmaterial der Computer- und Magnetresonanztomografie basiert eben nicht auf der zentralperspektivischen Darstellung, sondern auf der ‚neutraleren‘ Abbildung topografischer Verhältnisse und Koordinaten. Die digitalen Bilder beziehen sich umso mehr auf die Berechnung, desto bedeutender die Arbeiten der Medizinischen Informatik für die Bilderstellung werden. Zu verweisen ist auf die sich diametral entgegenstehenden Aspekte der technischen Verbesserung der Abbildungsqualität und dem daraus entstehenden Nutzen für die Medizin: Während die Informatik in Zusammenarbeit mit der Medizintechnik beständig an einer qualitativen Verbesserung der Abbildungen arbeitet (Auflösung, Farbechtheit etc.), finden diese Neuerungen entweder gar keine oder nur langsam Akzeptanz in der radiologischen Disziplin. Vor dem Hintergrund perspektivischer Darstellung ist auf die Neuerung der 3D-Bilder zu verweisen, die tatsächlich – im Gegensatz zu den in der Diagnostik üblichen Computer- und Magnetresonanztomografien – standpunktabhängige Ansichten konstruieren. Weder der Wandel zur höheren Abbildungsqualität noch der Wechsel zur zentralperspektivischen Darstellungsweise scheinen allerdings der Medizin die Bildinterpretation zu erleichtern. Stattdessen steigern sie die Komplexität des notwendigen Wissens um Bildproduktion und -rezeption und somit die Anforderungen an die diagnostizierenden Radiologen,
140 Ebd., S. 12f. 141 Vgl. Stockhammer, Robert: „Verortung. Die Macht der Kartographie und die Literatur“, in: ders. (Hg.), TopoGraphien der Moderne (2005), S. 319-340, hier S. 361. 142 J. Dünne: Die Karte als Operations- und Imaginationsmatrix, S. 55. 143 Ebd.
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die Erkenntnisse zum menschlichen Körper auf der Grundlage zeitgenössischer Theorien auf die jeweiligen Bildergebnisse zu übertragen. Messtechnisch-biologische (Bild-)Analyse: Wissenschaftliches Ideal Vor dem Hintergrund der bildwissenschaftlichen Untersuchung liegen sowohl der morphologischen wie auch der topografischen Analyse in der Radiologie Aspekte einer Vermessung zugrunde: Immer wieder versucht die Disziplin, die visuell erfassbaren Aspekte wie Form, Größe oder Lage zu messen und in numerischen Werten festzuhalten beziehungsweise zu objektivieren, zu quantifizieren und in der Praxis vergleichbar zu machen. Das wissenschaftliche Ideal der Modernen Medizin, basierend auf Maß und Zahl zu arbeiten, wurde durch die seit den 1970er Jahren verfügbaren digitalen Verfahren verstärkt, da deren Bildergebnisse grundsätzlich auf Zahlenwerten basieren. In der Weiterentwicklung anatomischer Atlanten verweist der Sozialwissenschaftler Amit Prasad auf sogenannte Wahrscheinlichkeitskarten, bei denen neben einer visuellen Darstellung des menschlichen Körpers auf der Grundlage von Anatomie und Pathologie die statistischen Werte aus Untersuchungen und Studien integriert werden. Derartige Prozesse dienen nach Prasad der medizinischen Disziplinierung und Domestizierung des menschlichen Körpers und sie gehorchen dem Bestreben, diesen Körper im Bild im Hinblick auf seine Bedeutung und seine formale Verbildlichung unterscheidbar und eindeutig zu machen.144 Neben die visuelle Wahrnehmung von Bilderscheinungen, wie sie die morphologische und topografische Analyse vorrangig prägt, und die sich daraus ergebenden Unsicherheiten, tritt also die zahlenmäßige Versicherung der wissenschaftlichen Arbeitsweise, um den menschlichen Körper in ein messbares Objekt zu verwandeln. Der dritte Schritt der Detektion bringt dieses Verständnis offensichtlich zum Vorschein, wenn es um die Beurteilung des Dichte- oder Signalverhaltens menschlichen Gewebes geht – zwei Aspekte, die erst über Computer- und Magnetresonanztomografie und ihre biophysikalischen Grundlagen erfassbar wurden. Die Radiologen können sich somit bei der Rezeption der Bilder nicht nur in Bezug auf Form und Gestalt oder Lagebeziehung der Läsionen der über die computergestützten Verfahren erhobenen Messwerte und Daten bedienen, sondern ebenfalls bei der Analyse der Dichte- oder Signalwerte. Die radiologische Fachliteratur bezieht sich dementsprechend bei der systematischen Bildanalyse auf das morphologische und topografische Erfassen der Bilderscheinungen und
144 Vgl. A. Prasad: Making Images/Making Bodies, S. 305ff.
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ihrer Übertragung auf den menschlichen Körper, sowie die Auswertung der Dichte- oder Signalwerte, die über computer- oder magnetresonanztomografische Messungen erhoben werden.145 Ausschlaggebend ist wiederum das Wissen um das genutzte Verfahren, insofern die in der Computertomografie akquirierten Dichtewerte und die in der Magnetresonanztomografie aufgezeichneten Signalwerte nur vor dem Hintergrund der Technologie und ihrer biophysikalischen Grundlagen auszuwerten und mit dem menschlichen Körper in Bezug zu setzen sind. Die drei hauptsächlichen Schritte der Detektion, also die morphologische, topografische und messtechnisch-biologische Analyse der radiologischen Bildbetrachtung, geschehen in erster Linie visuell. Dabei beschäftigt sich der Radiologe nicht nur mit einem Bild, sondern mit der erwähnten Bildserie und einer Anzahl von 20 bis 180 Ergebnissen. Die radiologische Arbeit mit dieser Menge an Bildern basiert vor den bisher beschriebenen analytischen (Wahrnehmungs-)Prozessen grundlegend auf der Methode des Vergleichenden oder Komparativen Sehens, wie sie auch der Kunstgeschichte und anderen Disziplinen bekannt ist und im Folgenden betrachtet wird. Aus Perspektive der Radiologie ist der Detektionsprozess durch die Suche nach Befundmustern gekennzeichnet, das heißt der Radiologe ordnet die visuell zu detektierenden Bilderscheinungen, die auf pathologische Prozesse oder Deformationen verweisen (können), einem „radiologischen Muster“146 zu. Die Radiologen beschreiben ihre Arbeit auch als Verfolgung eines „Mustererkennungssystems“147, wobei sie das „Zusammenfassen der Einzelbefunde zu Bildmustern, die auf anatomisch-pathologischen Substraten beruhen“148, als grundsätzliches Ergebnis der systematischen Bildanalyse betrachten, das auf den Ergebnissen der visuellen Kontrolle und der morphologischen, topografischen und messtechnisch-biologischen Analyse basiert. Die vorangegangenen Beschreibungen zusammenfassend, extrahieren die Radiologen die komplexen Bildmuster, die sie sich während ihres Studiums und der täglichen Arbeit angeeignet haben, aus Einzelbeobachtungen in einer Bildserie oder aber auch im Einzelbild – je nachdem, wie und wo der pathologische Prozess aus radiologischer Perspektive zu sehen ist. Als Voraussetzungen für die Erfassung und Verwendung von Bildmustern benennt die Radiologie einerseits die „exakte Analyse von Bildmerkmalen nach
145 Vgl. M. Mack/J. Vogl: Nasopharynx und Parapharyngealraum, S. 105; und vgl. U. Mödder/M. Cohnen: Gesichtsschädel und Nasennebenhöhlen, S. 150; und vgl. Balzer, J. O./Vogl, Thomas J.: „Orbita“, in: T. J. Vogl (Hg.), Handbuch diagnostische Radiologie (2002), S. 187-216, hier S. 193f. 146 S. Lange: Radiologische Diagnostik, S. 1. 147 R. V. Burri: Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder, S. 220. 148 H.-U. Kauczor: Systematik der Bildanalyse/Bildmuster, S. 75.
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Größe, Zahl, Morphologie, Lokalisation und Verteilung“149, wie sie in der systematischen Bildbetrachtung erfolgt; andererseits sind für das Verständnis der Bildmuster „umfangreiche Kenntnisse der Normalanatomie, der Pathophysiologie und der Pathologie unabdingbar“150, also ein Wissen um die Darstellung des menschlichen Körpers notwendig. Diesen Voraussetzungen ist aus bildwissenschaftlicher Perspektive hinzuzufügen, dass gewisse medientechnische (z. B. Kontrastoptimierung, Auflösung) und bildkulturelle (z. B. Grauwertdarstellung) Aspekte das Erkennen von Mustern befördern; gerade mit der Methode des Vergleichenden Sehens findet eine Konstruktion von Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit statt, die zu reflektieren ist. Diese Reflexion haben Radiologie und Informatik bisher nicht geleistet,151 weshalb im Folgenden die theoretische Perspektive einer bildwissenschaftlichen Kunstgeschichte auf den Einsatz des Vergleichenden Sehens in der Radiologie gerichtet wird.
FAZIT 1: VERGLEICHENDES SEHEN ALS METHODE IN DER RADIOLOGIE Die systematische Bildanalyse der Radiologie beruht vorrangig auf visuellen Vergleichen und somit einer Methode, die als Vergleichendes Sehen betitelt werden kann. Nach Forschungsansätzen aus Kunsthistorik und Bildwissenschaft reicht dieses Vorgehen zeitlich weiter zurück, als sich die kunstgeschichtliche Disziplin selbst oder andere Wissenschaften wie die Medizin seiner angenommen haben. Der Kunsthistoriker Felix Thürlemann plädiert 2005 für eine Theorie des vergleichenden Sehens und betont, dass diese Praxis des Bildvergleichs eine lange Vorgeschichte in der westlichen Kultur hat, die sich mindestens bis zu den Römern
149 Ebd., S. 78. 150 Ebd., S. 77. 151 Frank Stahnisch findet auffällig, dass sich tätige Ärzte oder interessierte Lebenswissenschaftler bisher nicht „an einer konzeptuellen Bestimmung des ‚vergleichenden Sehens‘ in der langen Geschichte der westlichen Heilkunde versucht haben.“ F. Stahnisch: Nosologie der Dritten Dimension, S. 147.
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und ihre schmückende Hängung von Gemäldekopien griechischer Maler zurückverfolgen lässt.152 Weitere wichtige Stationen der Methodengeschichte oder -entwicklung sind Darstellungen der Heilsgeschichte beziehungsweise das Prinzip der typologischen Bibelexegese, der Paragone (ital. Vergleich) der Renaissance, die Kunstkammern und die Querelle des anciens et modernes bis hin zu den kennerschaftlichen Kunstbetrachtungen im 18. und 19. Jahrhundert.153 Grundsätzlich handelt es sich um eine visuelle Methode, die nicht das Einzelbild (oder kunsthistorisch: das Einzelwerk) betrachtet, sondern den Vergleich mindestens zweier Bilder anstrebt, insofern damit ein kognitiver Prozess angeregt wird. Nach Felix Thürlemann handelt es sich beim Vergleichen jedweder, auch visueller Gegenstände, im Kern um „eine intellektuelle Operation. Die Wahrnehmung von Bildzusammenstellungen setzt beim Rezipienten die Fähigkeit zur Kategorienbildung voraus. Sie besteht darin, das Gemeinsame und das jeweils Eigene der zu einem binären hyperimage zusammengestellten Bilder – sei es auf inhaltlich-ikonografischer, sei es auf formal-stilistischer Ebene – begrifflich zu fassen.“154
152 Vgl. Thürlemann, Felix: „Bild gegen Bild. Für eine Theorie des vergleichenden Sehens“, in: Aleida Assmann/Ulrich Gaier/Gisela Trommsdorff (Hg.), Zwischen Literatur und Anthropologie – Diskurse, Medien, Performanzen, Tübingen 2005, S. 163174, hier S. 163f. 153 Vgl. Bader, Lena: „Bricolage mit Bildern. Motive und Motivationen vergleichenden Sehens“, in: dies./M. Gaier/F. Wolf (Hg.), Vergleichendes Sehen (2010), S. 19-42, hier S. 19; und vgl. F. Thürlemann: Bild gegen Bild, S. 164; und vgl. Penzel, Joachim: Der Betrachter ist im Text. Konversations- und Lesekultur in deutschen Gemäldegalerien zwischen 1700 und 1914 (= Policita et Ars. Interdisziplinäre Studien zur politischen Ideen- und Kulturgeschichte, Bd. 13), Berlin 2007, S. 40. 154 F. Thürlemann: Bild gegen Bild, S. 167. Der Begriff des hyperimage wird von Felix Thürlemann eingesetzt, um vor dem Hintergrund der digitalen Entwicklung die kunstgeschichtliche Hermeneutik und ihre Fixierung auf das Einzelbild zu kritisieren; er fordert die Betrachtung des Phänomens der Bildung von hyperimages oder Suprazeichen, aus ‚autonomen Einzelwerken‘ zusammengesetzte Bildensembles bspw. in Museen und Galerien oder illustrierten Kunstbüchern. Thürlemann sieht es als Vernachlässigung von Bedeutungskonstitution, werden die historischen Formen der Syntagmatisierung von Bildern in der Kunstgeschichte sowohl in der Methodenlehre als auch in ihrem Gegenstandsbereich ausgelassen. Thürlemann, Felix: „Vom Einzelbild zum hyperimage. Eine neue Herausforderung für die kunstgeschichtliche Hermeneutik“, in: Ada Neschke-Hentschke/Catherine König-Pralong/Francesco Gregorio (Hg.), Les
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Kunsthistorische Forschungen betonen vor allem für das 19. Jahrhundert und den Anfang des 20. Jahrhunderts die Herausbildung der akademischen Kunstgeschichte und das Prinzip des Bildvergleichs als kunsthistorische Sehtechnik, wie sie prägnant von Heinrich Wölfflin mit seinem 1915 publizierten Buch Kunstgeschichtliche Grundbegriffe: das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst vorangetrieben wurde.155 Doch schon Ende des 17. Jahrhunderts wurde, wie beispielsweise an der Pariser Académie Royale, ein vergleichendes Betrachten von Gemälden angeregt, um den Stil einzelner nationaler und lokaler Schulen nach „objektiven Formkriterien“156 zu beschreiben. Die Methode ist für die Akademien im Zusammenhang mit einer Verwissenschaftlichung und eines Bildungsanspruches universitärer Studiensammlungen zu sehen und findet Erwähnung in Ansätzen zu enzyklopädischen Überblicken. Die Wissenschaftshistorikerin Anke te Heesen widmet sich 1997 der Geschichte einer Bildenzyklopädie aus dem 18. Jahrhundert und zeigt, „daß der ‚Blick‘ im 18. Jahrhundert aufgefordert wird, ein Wörterbuch zu benutzen, um ein Bild zu identifizieren; er soll also selbst eine enzyklopädische Aufteilung vornehmen können.“157 Mit diesen kursorischen Ausführungen zum Vergleichenden Sehen ist bereits angedeutet, dass diese Seh- oder Blicktechnik bei weitem nicht nur Anwendung in der (akademischen) Kunsthistorik fand, sondern – wie auch Lena Bader 2010 betont158 – durchaus in einem Dialog mit der (allgemeinen) Pädagogik und einem gewissen Bildungsanspruch stand. Die erkenntnisstiftende Bedeutung des vergleichenden Studiums im Bild oder in Bildern verbindet sich im Laufe des 18. Jahrhunderts auch mit der Naturgeschichte, als dort der „Topos der Vergleichbarkeit“159 bedeutsamer wird und allumfassende Klassifikationen angestrebt werden. Die Entwicklung der Modernen Medizin im Kontext naturwissenschaftlicher Ideale griff diesen Topos der Vergleichbarkeit und allumfassende Klassifikationen auf, doch der Bildvergleich als Lehr- und Lernmittel ist früher in der Disziplin installiert worden, wie an den ersten anatomischen Atlanten und ihren Bild- und Texttafeln nachzuweisen. Wiederum Anke te Heesen erläutert, dass ab dem 15.
herméneutiques au seuil du XXlème siècle – evolution et débat actuel, Paris 2004, S. 223-247, hier S. 226. 155 Vgl. L. Bader: Bricolage mit Bildern, S. 33; und vgl. F. Thürlemann: Bild gegen Bild, S. 167. 156 J. Penzel: Der Betrachter ist im Text, S. 39. 157 te Heesen, Anke: Der Weltkasten. Die Geschichte einer Bildenzyklopädie aus dem 18. Jahrhundert, Göttingen 1997, S. 136. 158 Vgl. L. Bader: Bricolage mit Bildern, S. 30. 159 Vgl. A. te Heesen: Der Weltkasten, S. 137.
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Jahrhundert weitere Elemente der Blickführung eingesetzt wurden, wie beispielsweise „die Hinweislinie in den anatomischen Inkunabeln eingeführt wird und eine eindeutigere Beschreibung und Hinführung des Betrachters zum Sinn des Bildes ermöglichen soll“160. Das Vergleichende Sehen wird disziplinenübergreifend und in seiner Methodengeschichte über einen langen Zeitraum als Verfahrensweise eingesetzt, um visuelle Gegenstände und Aspekte zu ordnen, zu klassifizieren und zu kategorisieren. Das Nebeneinander zweier oder mehrerer Bilder ermöglicht ein Erkennen von Gemeinsamkeiten oder Unterschieden, vom Wesentlichen oder Eigenen sowohl in inhaltlicher als auch in formaler Hinsicht. Im Sinne der kognitiven Operation soll der „vergleichende Blick“161 zwischen den Bildern oder einzelnen Fragmenten wechseln und sich danach ein Urteil bilden. In eben dieser Ausprägung der Methode wird das Vergleichende Sehen in der Radiologie eingesetzt, jedoch – ganz im Gegensatz zur Kunsthistorik oder Bildwissenschaft – nicht kritisch hinterfragt. So schildert Saunders den diagnostischen Blick der Radiologen als sakkadisch und nicht bewusst kontrolliert.162 Der Begriff Sakkade (frz. saccade = Ruck) wird in der medizinischen Fachsprache für eine Serie unwillkürlicher, schneller minimaler Bewegungen oder Zuckungen beider Augen verwendet; diese Bewegungen treten auf, wenn der Fixationspunkt des Blicks verändert wird. Der diagnostische Blick der Radiologen verläuft somit nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft (sakkadisch); die willkürlichen Augenbewegungen werden durch die Struktur der Objekte – im vorliegenden Fall der Bilder – gesteuert. Diese Beschreibung des Rezeptionsprozesses widerspricht der Möglichkeit, dass über Bilder ein Inhalt simultan zu erfassen ist; stattdessen braucht es einen langsamen Entzifferungsprozess und eine schrittweise Versenkung in das Bild, also ein sukzessives Vorgehen, um sich das Bild zu erschließen.163 Spätestens mit der Überfüh-
160 Ebd., S. 135. 161 Ebd., S. 137. 162 Vgl. B. F. Saunders: CT Suite, S. 90. 163 In bild-, kunst- und literaturwissenschaftlicher Forschung beziehen sich Überlegungen zur Simultaneität und Sukzessivität von Bild und Text auf Gotthold Ephraim Lessings Schrift Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (Berlin 1766). Bei der Beschreibung des Verhältnisses von Bild und Text wird Lessing kritisch betrachtet, da die These einer reinen Sukzessivität der Sprache und einer reinen Simultaneität des Gemäldes defizitär erscheint. Stattdessen wird eine Dialektik von Diskontinuität und Kontinuität angenommen, ein abwechselnder Einfluss von Simultaneität und Sukzessivität im Wahrnehmungsprozess. Vgl. Stierle, Karlheinz: „Das bequeme
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rung des Bildes in einen Bildkommentar, in eine Verschriftlichung, muss analytisch vorgegangen und das Bild Stück für Stück vorgestellt werden, wie Monika Schmitz-Emans betont.164 Neben dem Vergleichenden Sehen, das im Folgenden näher betrachtet wird, braucht es also ebenfalls eine eingehendere Beschreibung der Verschriftlichung radiologischer Bilder, die in der vorliegenden Studie in Kapitel 6.2.2 und im Fazit 2 zur Text-Bild-Beziehung in der Radiologie (Ekphrasis) vorgenommen wird. Um nun die kritische Perspektive und die Einwände gegenüber dem Verfahren des Vergleichenden Sehens näher erläutern zu können, wird im Folgenden die Betrachtung des methodischen Vorgehens in der Radiologie vorangestellt. Die Röntgenologie etabliert sich als medizinische Fachrichtung, die vorrangig auf einem durch Fach- und Erfahrungswissen geprägten Blick beruht, in einer Zeit, als zahlreiche, vor allem pädagogische Projekte zum Vergleichenden Sehen zu beobachten sind.165 An der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert standen sich Konzepte eines unschuldigen Auges und der Diskurs vom erlernten Sehen gegenüber, die vor allem in den Disziplinen Wahrnehmungsforschung, Philosophie und Kunstgeschichte aufgearbeitet wurden.166 Die Kunsthistorikerin Lena Bader be-
Verhältnis. Lessing und die Entdeckung des ästhetischen Mediums im 18. Jahrhundert“, in: Gunter Gebauer (Hg.), Das Laokoon-Projekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik (= Studien zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft, Bd. 25), Stuttgart 1984, S. 23-58, hier S. 46; und vgl. Rippl, Gabriele: Beschreibungskunst. Zur intermedialen Poetik angloamerikanischer Ikontexte (1880-2000), München 2005, S. 37. 164 Vgl. Schmitz-Emans, Monika: Die Literatur, die Bilder und das Unsichtbare. Literarische Bildinterpretation vom 18. bis 20. Jahrhundert, Würzburg 1999, S. 12. 165 Vgl. L. Bader: Bricolage mit Bildern, S. 30. 166 Die Kunsthistorikerin Annika Lamer geht in ihrer Untersuchung zur ‚Ästhetik des unschuldigen Auges‘ auf die Zeit um 1900 ein und legt dar, wie sich das Konzept des unschuldigen Auges, das 1857 von John Ruskin formuliert wurde, als ästhetische Kategorie der Kunst dieser Zeit etablierte und zugleich in einen Widerspruch mit ersten empirischen Studien zur menschlichen Wahrnehmung trat (Hippolyte Taine, Thomas Young, Johannes Müller, Hermann von Helmholtz). Vgl. Lamer, Annika: Die Ästhetik des unschuldigen Auges. Merkmale impressionistischer Wahrnehmung in den Kunstkritiken von Émile Zola, Joris-Karl Huysmans und Félix Fénéon (= EPISTEMATA. Würzburger Wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 663), Würzburg 2009, S. 10 und S. 25ff. Die Philosophin Sibylle Peters setzt sich mit Lichtbildprojektionen im wissenschaftlichen Vortrag auseinander und betont
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tont 2013, dass sich spätestens um 1900 ein Diskurs etablierte, durch den der Vergleich als allgemeine Kulturtechnik hervortrat.167 Auch für die Medizin lässt sich Anfang des 20. Jahrhunderts beobachten, wie bestimmte Sehtechniken nicht nur in Bezug auf die Bilder der gerade entstehenden Subdisziplin, sondern für die medizinische Wissenschaft insgesamt Bedeutung erlangen. Die Historikerin Maren Möhring untersucht in ihrer Dissertationsschrift die Nacktkulturbewegung zwischen 1890 und 1930 und befragt die herrschenden Vorstellungen des normalen oder normalisierten natürlichen Körpers. Ein wichtiger Teil der Untersuchung besteht in der Herausarbeitung des normalisierenden Blicks als einer (medizinischen) Technik des Sehens.168 Möhring bezieht sich auf die niederländisch-amerikanische Ärztin und Gymnastiklehrerin Bess M. Mensendieck (1864-1957), eine Begründerin der frühen Atem- und Leibpädagogik in Europa und Amerika, die schon 1906 ein Buch zur Körperkultur veröffentlichte.169 Mit Bezug auf Mensendieck schildert Möhring: „Die Erziehung zum Sehen stand nicht nur in direktem Zusammenhang mit dem Erlernen von Gesundheits- und Schönheitsnormen; vielmehr bildete das Sehen selbst eine zu erlernende normalisierende Praktik. Das Sehen, das gemeinhin als natürlich und unmittelbar vorausgesetzt wurde, tritt bei Mensendieck als zu erlernende (Macht-)Technik zutage, welche – im Sinne des Macht-Wissen-Komplexes – mit medizinisch-physiologischem sowie ästhetischem Wissen verwoben war.“170
Nach Möhring erhoffte sich Mensendieck, durch den ‚erzogenen Blick‘ die Dinge zu durchdringen, sah den medizinisch-hygienischen also allgemeiner als „wissenschaftlich-eindringenden Blick“171 an. Überhaupt wird der Blick des Arztes um
ebenfalls für das 19. Jahrhundert, dass die Beziehungen zwischen Sehen und Wissen oder Sehen und Erkennen nicht mehr als selbstverständlich betrachtet wurden, „sondern in Schulen des Sehens einstudiert werden müssen, sei es nun in kunsthistorischen oder in naturkundlichen“. Peters, Sibylle: „Projizierte Erkenntnis. Lichtbilder im Szenario des wissenschaftlichen Vortrags“, in: G. Boehm/G. Brandstetter/A. v. Müller (Hg.), Figur und Figuration (2007), S. 307-320, hier S. 318. 167 Vgl. L. Bader: Bild-Prozesse im 19. Jahrhundert, S. 132. 168 Vgl. Möhring, Maren: Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890-1930), Köln 2004, S. 120ff. 169 Mensendieck, Bess Marguerite: Die Körperkultur des Weibes: Praktisch-hygienische und praktisch-ästhetische Winke, München 1906. 170 M. Möhring: Marmorleiber, S. 128. 171 Ebd.
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1900 als vermeintlich objektive Instanz der Körpernormalisierung installiert, und Möhring betont, dass das Medium der Fotografie und vor allem die zahlreichen Nacktfotografien in der FKK-Bewegung der medizinischen Blickschulung dienten.172 In diese Normierung des Blicks fügen sich die seit Beginn der Röntgenologie und Radiologie nachzuweisenden Bestrebungen hin zu einer systematischen Bildbetrachtung und die damit einhergehende Tendenz zu einer Apparatisierung des menschlichen Auges ein. Der Begriff Röntgenblick zeigt darüber hinaus die Vermischung des physikalischen oder apparativen Phänomens mit dem menschlichen Wahrnehmungsorgan. Regula V. Burri beschreibt diesen Umstand wie folgt: „Das Auge ist nicht blosses Wahrnehmungsorgan, sondern Werkzeug, welches ein Bild apparateähnlich und nach vorgegebenen Standards absucht, um das Gesehene mit einem vorhandenen Klassifikationssystem in Übereinstimmung zu bringen.“173 Speziell für die Radiologie ist das Vergleichende Sehen somit zuerst als eine in der fachärztlichen Ausbildung erlernte Methode zu kennzeichnen, die der medizinischen Tradition spätestens seit den vergleichenden Darstellungen in anatomischen Atlanten inhärent ist und im Rahmen der Rationalisierung und Verwissenschaftlichung eine Intensivierung erfahren hat. Diesem Sehen liegt grundsätzlich die Vorstellung eines menschlichen Normkörpers zugrunde, die durch das medizinische Studium auf dem jeweils aktuellen zeitgenössischen Wissensstand vermittelt wird und in den radiologischen Bildergebnissen seine Darstellung findet. Ohne diesen Normkörper ließe sich der vergleichende und dabei ordnende und klassifizierende Blick nicht einsetzen, insofern das Normale notwendig ist, um daneben das Pathologische zu identifizieren. Visuell zu detektierende Abweichungen vom Normkörper treten im Bildvergleich hervor und müssen weiteren Kategorisierungen unterzogen werden, beispielsweise nicht nur als Abweichung des Normalen, sondern eben als Pathologie oder aber als Bildfehler beziehungsweise Artefakt erkannt werden. Praktisch vollzieht sich dieses Vorgehen an den schon genannten Bildserien, wie sie durch die digitalen Verfahren Computer- und Magnetresonanztomografie seit den 1970er Jahren produziert werden. Historisch ist auf die Veränderung von analogen zu digitalen Technologien zu verweisen, da bei der Röntgentechnik die Bildserie in der radiologischen Praxis nicht so prägnant in den Vordergrund rückte, wie es seit Einführung der digitalen Bildgebung der Fall ist. Doch auch wenn in der Röntgenologie für die Diagnose das Einzelbild herangezogen wurde, stellte sich die Bildinterpretation Anfang des 20. Jahrhunderts ebenfalls als auf der
172 Vgl. ebd., S. 359. 173 R. V. Burri: Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder, S. 211.
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Methode des Vergleichenden Sehens basierende Arbeit dar. Die für diese visuelle Arbeit wichtigen Orte in Krankenhäusern und Kliniken sind der sogenannte Befundungs- oder Leseraum und das Bildarchiv. Im ersteren stehen Licht- oder Leuchtkästen zur Verfügung, an welchen die analog produzierten oder nach digitaler Visualisierung ausgedruckten Bildergebnisse chronologisch angehängt werden können. Im Rahmen der Digitalisierung des Krankenhauses verfügen diese Räume mittlerweile über Computer, an denen die digitalen Verbildlichungen zu betrachten sind. Neben den Hanging Protocols und der den Lichtkästen äquivalenten Abbildung der Bilder steht der Radiologie mit der Cine-Software ein informatorisches Werkzeug zur Verfügung, mit dem die Bildergebnisse ‚durchblättert‘ oder in filmartiger Sequenz dargestellt werden können.174 Über die Bildarchive und -sammlungen wurden disziplinär diachrone und synchrone Vergleiche angestrebt, um Pathologien in ihrer Entwicklung oder ihren Spezifika zu identifizieren. Im Zusammenhang mit der Seh- und Blicktechnik ist zu beachten, dass die Bildergebnisse der Radiologie formal zumeist in der gleichen Größe und im rechteckigen Format als Grauwertdarstellungen ausgegeben werden und inhaltlich als Bildserie eine bestimmte Körperregion darstellen. Die immer unter gleichen Voraussetzungen stattfindende Präsentation der Bilder forciert das Erkennen von Differenzen, was beispielsweise eine Parallele zum Vorgehen Heinrich Wölfflins 1915 aufweist, die Felix Thürlemann beschreibt: Wölfflin hat demnach bei seinen Bildvergleichen auf eine möglichst enge Verwandtschaft von Darstellungsgegenstand, Technik, Format und kompositorischem Aufbau geachtet, um die zeitbedingte stilistische Differenz der Kunstwerke klarer hervortreten zu lassen.175 Ausschlaggebend für den Einsatz der Methode sind die Bildstandardisierungen der medizinischen Disziplin: Der Darstellungsgegenstand wird zuerst auf den menschlichen Körper und dann auf eine bestimmte Körperregion oder ein Organ beschränkt. Die digitalen Bildgebungstechniken produzieren Schichtbilder aus Grauwerten, die kompositorisch einer festgelegten und somit wiederholbaren Abbildungsmatrix entsprechen. Zuletzt handelt es sich zumeist um rechteckige Hochund Querformate, in denen die vordefinierten Schichten des menschlichen Körpers visualisiert werden. Diese Faktoren zusammengenommen ermöglichen den Radiologen erst, ihren Blick auf die spezifischen Differenzen in der Darstellung
174 Vgl. Spielmann, R. P. u. a.: „Cine-MRT zur Untersuchung der regionalen Myokardfunktion“, in: RöFo 149/3 (1988), S. 249-255, hier S. 249; und vgl. Kramme, Rüdiger: Springer Wörterbuch Technische Medizin, Berlin/Heidelberg 2004, S. 89. 175 Vgl. F. Thürlemann: Bild gegen Bild, S. 168; und vgl. H. Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe.
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zu richten, wozu die jeweilige Bildserie eines Patienten allein oftmals nicht ausreicht. Die Ergebnisse zu einem Patienten werden also auch synchron mit Bildergebnissen anderer Patienten in Bezug gesetzt, um die bildlichen Abweichungen von einem bestimmten Normbild klassifizieren zu können. Erst die umfangreichen Standardisierungen und Normierungen im Produktionsprozess ermöglichen in der Rezeption den Einsatz der Methode des Vergleichenden Sehens, der in der radiologischen Bildproduktion die genannten Standardisierungen und Normierungen forciert! Das schon beschriebene und in der radiologischen Ausbildung angeeignete Normbild des menschlichen Körpers bildet eine wichtige Folie, um Abweichungen innerhalb der computer- oder magnetresonanztomografischen Bildserie von diesem Normbild erkennen und klassifizieren zu können. Abhängig vom Verfahren unterscheidet sich dieses Normbild natürlich, worauf in der Untersuchung der zugrunde liegenden Theorien und Techniken bei Computer- und Magnetresonanztomografie (vgl. Kap. 4) schon hingewiesen wurde: Die Grauwerte beider Modalitäten und somit die Verbildlichungen des menschlichen Körpers lassen sich nicht in einen direkten Bezug setzen. Innerhalb der Bildserie einer Technik ist es dem Radiologen jedoch möglich, aufgrund des Bildvergleichs anatomische Gegebenheiten in den Bildern und von Schicht zu Schicht zu verfolgen und auf ihre ‚Richtigkeit‘ zu überprüfen. Obwohl der analysierende Radiologe über seine Ausbildung und seine praktische Erfahrung ein mentales Bild des Normkörpers erzeugt hat, ist es schwierig, das gesamte medizinische, anatomische und radiologische (Bild-)Wissen zu inkorporieren und ebenfalls neueste Forschungsergebnisse zu berücksichtigen. Verschiedene Bilderscheinungen lassen sich erst beurteilen, wenn die spezifisch computer- oder magnetresonanztomografische Bildserie mit weiteren Bildern in Bezug gesetzt wird. Zum Beispiel sind durch den Zugriff auf das Krankenhausarchiv oder die Patientenakte Ergebnisse bildgebender Untersuchungen zu einem individuellen Patienten anzufordern, die zeitlich früher entstanden sind. So lässt sich überprüfen, ob pathologische Prozesse schon vorher bestanden, aber noch nicht zu erkennen waren. Amit Prasad verweist diesbezüglich auf die diachrone Betrachtung eines Krankheitsverlaufs, wie er beispielsweise bei Krebstumoren vorgenommen wird, um abzuschätzen, ob sich eine Läsion (im Bild zu erkennen als grauwertige Form) vergrößert, verkleinert oder gleich bleibt. 176 Weitere Vergleichsmöglichkeiten betreffen die im Befund- und Leseraum ausliegende Fachliteratur in Form von radiologischen Atlanten, Artefakt-Katalogen
176 Vgl. A. Prasad: Making Images/Making Bodies, S. 297.
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und klinikspezifischen Unterlagen, die Betrachtung der Ergebnisse anderer bildgebender Untersuchungen wie etwa computer- mit magnetresonanztomografische Bilder oder der Rückgriff auf Fachartikel in Zeitschriften oder dem Internet und die darin publizierten Bildergebnisse.177 Zuletzt dürfen die Implementierungen der Computertechnologie nicht vergessen werden, da den Radiologen für die jeweilige Bildserie wie für das Einzelbild verschiedene Programme zur Verfügung stehen, mit denen er die Bildkontraste sowie die Graustufen insgesamt (windowing) oder für eine bestimmte Körperregion (leveling) verändern und anschließend visuell vergleichen kann.178 Durch diese informatischen Werkzeuge ist es dem Mediziner möglich, die jeweilige Bildserie in ihrer Darstellungsweise (Kontrastwerte, Auflösung) und in ihren Darstellungsinhalten (Körperregion, Organ) anzugleichen, um wiederum Unterschiede zwischen den Bildern, Abweichungen vom Normbild, besser erkennen zu können. Die Unterstützung durch Werkzeuge aus der Informatik bestärkt erneut den Umstand, dass die jeweiligen Blicktechniken und die Methode des Vergleichenden Sehens auf der Seite der Rezeption umgekehrt Auswirkungen auf die Produktion und den Umgang mit radiologischem Bildmaterial haben. Wird diese Art von Bildgebrauch seit dem Entstehen der akademischen Anatomie betont, sind Rezeption und Produktion von Bildern in der Medizin auf eine lange Tradition zurückzuführen, innerhalb derer sich die Blicktechniken nicht mehr von der Gestaltung der Bilder trennen lassen. Die Gestaltungsmöglichkeiten münden heute in den Programmen der Medizinischen Informatik, die den radiologischen Blicktechniken des Vergleichs zuarbeiten. Barry F. Saunders schlussfolgert in seiner Studie zur Arbeit in computertomografischen Abteilungen von 2008, dass sämtliche, hier ebenfalls beschriebenen (visuellen) Vergleiche der Erzeugung von Konsistenz dienen, wobei Konsistenz nicht mit Ähnlichkeit gleichzusetzen ist. Vielmehr kann ein visueller Befund mit einem anderen aufgrund kausaler Mechanismen konsistent sein, zwei Studien die Konsistenz der gleichen Läsion über die Zeit repräsentieren oder das Erscheinen der Läsion in der einen Bildgebungsmodalität mit der Erscheinung in einer anderen übereinstimmen.179 Das Erzeugen von Konsistenz ist aus Perspektive der Radiologen wünschenswert, wie Saunders den Fall beschreibt, dass die Übereinstimmung einer computertomografischen mit einer röntgenologischen Aufnahme als
177 Vgl. B. F. Saunders: CT Suite, S. 82 u. S. 245; u. K. Friedrich: Sehkollektiv, S. 191. 178 Vgl. A. Prasad: Making Images/Making Bodies, S. 299. 179 Vgl. B. F. Saunders: CT Suite, S. 246.
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‚beautiful‘ in Rhetoriken des Ästhetischen bezeichnet wurde. 180 Bei dieser erwünschten Konsistenz handelt es sich um eine Relationskategorie, die Aspekte von Similarität, Stabilität und metaphysischer Identität (von Personen, Läsionen und Krankheiten) umfasst und die vorrangig visuell hergestellt wird. 181 Der Aspekt der Konsistenzerzeugung hängt mit der Methode des Vergleichenden Sehens und der daraus hervorgegangenen Präsentationsform zusammen. Für die Kunsthistorik schildert Lena Bader 2010, dass das Verfahren der Dia-Doppelprojektion kritisch in Frage gestellt wird, insofern damit in visueller Beweisführung der Stilvergleich ermöglicht und Evidenzen provoziert werden, die als „visuelle Überrumpelungskommunikation“ gesehen werden können: „Die verengende Konturierung, die darin zum Ausdruck kommt, konnte durch die Verbreitung populärwissenschaftlicher Formen anschaulicher Gegenüberstellungen bestärkt werden, wenn Bildpaare extremer Polarisierung (Original/Fälschung, richtig/falsch, vorher/ nachher) die visuelle Komparatistik vorrangig in den Dienst illustrierender Bildnachweise oder strenger Kausalzusammenhänge stellen.“182
Grundsätzlich gilt die Engführung des Vergleichenden Sehens als Beleg oder Argument – oder eben zur Erzeugung von Konsistenzen – als problematisch, wenn nicht die „Unergründlichkeit des Visuellen“183 mitbedacht wird. Die Radiologie selbst reflektiert zwar teilweise die Unergründlichkeit des Visuellen, jedoch nicht die damit zusammenhängende Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit der Bilder, wie sie in der These der vorliegenden Arbeit benannt wird. Verschiedene Forschungsarbeiten zeigen die Unergründlichkeit für die radiologische Arbeit auf, wie Saunders eben nicht nur die Konsistenzen betont, sondern für die radiologische Bildbetrachtung das Auftreten von Inkonsistenz, Differenz und Wechsel schildert und sie als für die Interpretation höchst produktive Korrelationen von Bild und Bild benennt.184 Die Erzeugung von Konsistenz durch tägliche und vorrangig visuelle Arbeit mit ihrem Gegenpart der Inkonsistenz greift auch Kelly A. Joyce 2008 in ihrer sozialwissenschaftlichen Untersuchung zur Magnetresonanztomografie auf. Sie
180 Vgl. ebd., S. 48. 181 Vgl. ebd., S. 249. 182 L. Bader: Bricolage mit Bildern, S. 21. 183 Ebd., S. 22. 184 Vgl. B. F. Saunders: CT Suite, S. 249.
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bezieht sich auf den von Charles Goodwin 1994 entwickelten Begriff der professional vision185, der auch für die Radiologie in Bezug auf das tacit knowledge hervorzuheben ist: Die Mitglieder der radiologischen Profession lernen, materielle Repräsentationen in ganz spezieller Art und Weise zu produzieren, zu kodieren, zu betonen und zu artikulieren und in der Interaktion mit Kollegen und Ereignissen bilden sie ihre professional vision aus. Doch gleichzeitig sieht Joyce die radiologische Interpretationspraxis sehr oft von Kontroversen und Diskrepanzen geprägt.186 Vor diesem Hintergrund wird die Methodenkritik des Vergleichenden Sehens besonders deutlich, denn es ist zu beachten, dass es sich um eine intuitive und nicht bloß rationelle Methode handelt.187 In dieser Opposition zwischen Konsistenz und Inkonsistenz offenbart sich eine grundlegende Schwierigkeit des Vergleichenden Sehens als einer erkenntnisstiftenden Methode, da eindeutige Bildinterpretationen zu verabschieden sind. Dieser Umstand offenbart sich vorrangig in den Forschungen zur grundsätzlichen Mehrdeutigkeit und Ambiguität von Bildund Kunstwerken (vgl. Kap. 2.3). Dass Medizin und Radiologie diese Seh- und Blicktechnik in Zusammenarbeit mit der Informatik gerne als rationelle einsetzen würden, zeigen die historische Entwicklung der bildgebenden Verfahren und der Einsatz der Computertechnologien auf. Der Sozialwissenschaftler Marc Berg fasst die Geschichte der Rationalisierung medizinischer Arbeit 1997 zusammen und beschreibt, wie statistische Ziele, die auf der Grundlage der Mathematik und verstärkt durch die Computertechnologie in die Medizin integriert wurden, mit den klinischen Zielen konfligieren: Es existieren in der täglichen radiologischen Arbeit weiche Daten, nämlich visuelle Eindrücke oder psychosoziale Informationen, die in der medizinischen Praxis wichtig sind, in statistischen Werkzeugen oder
185 Der amerikanische Sozial- und Sprachwissenschaftler Charles Goodwin erläutert 1994, dass es sich beim Sehen nicht um einen transparenten psychologischen Prozess, sondern um eine sozial situierte Aktivität handelt, die durch historisch konstituierte diskursive Praktiken bestimmt ist. Das Kodieren und Hervorheben der Forschungsgegenstände sowie die Produktion und Artikulation materieller Repräsentationen (wie z. B. Bilder) beschreibt Goodwin als Praktiken, innerhalb derer eine spezielle soziale (Forschungs-)Gruppe ihre professional vision ausbildet, also eine sozial organisierte Art des Sehens und Verstehens von Geschehnissen innerhalb des Forschungsbereichs. Vgl. Goodwin, Charles: „Professional Vision“, in: American Anthropologist 96/3 (1994), S. 606-633, hier S. 606f. 186 Vgl. K. A. Joyce: Appealing Images, S. 449; vgl. K. A. Joyce: Magnetic Appeal, S. 65. 187 Vgl. L. Bader: Bricolage mit Bildern, S. 36.
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umfassender: im naturwissenschaftlichen Objektivitätsideal aber nicht berücksichtigt werden.188 Diesen Umstand greifen Radiologen auf, wenn sie in Interviews betonen, dass informelle Aspekte wie eine visuelle Begabung oder die Fähigkeit, Gesamtzusammenhänge zu erfassen, für die Bildinterpretation wichtig sind.189 Regula V. Burri forciert die Frage der radiologischen Blicktechnik, wenn sie beschreibt, dass in der Radiologie einerseits ein ‚intuitiver Blick‘ eingesetzt wird, der implizites, visuelles Wissen aktiviert, das durch das wiederholte Sehen und Betrachten von Bildern entsteht, und andererseits über den ‚analytischen Blick‘ intellektuell-rational mit Klassifikationssystemen und Begriffen gearbeitet wird.190 Die Radiologie versucht, dem Problem der Unergründlichkeit und Uneindeutigkeit des Visuellen zu begegnen, wie im historischen Teil der vorliegenden Untersuchung aufgezeigt. Schwierigkeiten der Inkonsistenz, der Kontroversen und Diskrepanzen werden auf den komplexen, menschlichen Sehvorgang zurückgeführt, wenn die Disziplin die Befundung der Bildergebnisse als Hauptaufgabe der radiologischen Tätigkeit bezeichnet, aber selbst erfahrene Radiologen bis zu 30 Prozent der wichtigen Befunde ‚übersehen‘.191 Als diesem Umstand entgegenwirkende Tendenzen sind das Konzept des second-reader, die Einbettung des Vergleichenden Sehens in das medizinische Kontextwissen und zuletzt das Verfahren der Differenzialdiagnose zu nennen. Mit dem Kontextwissen sind Anamnese und Indikation des behandelnden Arztes gemeint sowie der allgemeine Wissenskorpus der Medizin; wie Amit Prasad hervorhebt, ist der visuelle Vergleich auf zwei Ebenen sozial eingebettet, da sich Radiologen einerseits auf die in den Atlanten publizierten Abbildungen und somit auf durchschnittliche anatomische Variationen der Gesellschaft beziehen, und andererseits von statistischen Daten für Krankheitswahrscheinlichkeiten ausgehen, die von Alter, Geschlecht und anderen demografischen Faktoren abhängig sind.192 Diese Krankheitswahrscheinlichkeiten sind essentieller Bestandteil der Differenzialdiagnose, die in der weiteren Betrachtung und Analyse der radiologischen Bildrezeption aufgegriffen wird. Die Differenzialdiagnose lässt sich als Hauptstrategie bezeichnen, die visuelle Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit von Bildern medizinisch einzudämmen.
188 Vgl. M. Berg: Rationalizing Medical Work, S. 55. 189 Vgl. R. V. Burri: Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder, S. 205. 190 Vgl. ebd., S. 209ff. 191 Vgl. Stark, Paul/Harle, Thomas: „Diskussionsbeitrag: Die Verkleinerungslinse – ein wichtiges jedoch vernachlässigtes radiologisches Hilfsmittel“, in: Der Radiologe 30/2 (1990), S. 92-93, hier S. 91. 192 Vgl. A. Prasad: Making Images/Making Bodies, S. 299f.
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Ganz im Gegensatz zur Kunsthistorik, innerhalb derer das Vergleichende Sehen durchaus positiv bewertet wird, wenn es visuelle Erfahrungen auslöst, innerhalb derer dieses Sehen eigendynamisch und schöpferisch wirkt, 193 versucht die rationalisierte Radiologie, derartigen intuitiven, kreativen und unbeeinflussbaren Tendenzen entgegenzuwirken. Dieser Bewertung liegt dabei ein wissenschaftliches Objektivitätsideal zugrunde, das richtige Ergebnisse mit Eindeutigkeit, Reproduzierbarkeit und Vergleichbarkeit annimmt. Auf der Suche nach der möglichst eindeutigen Diagnose greift die Radiologie das Vergleichende Sehen als Methode auf, um Konsistenzen und Eindeutigkeiten zu erzeugen, und muss gleichzeitig am spezifischen Potential der Bilder in ihrem Wechselspiel mit menschlicher Wahrnehmung und der daraus hervorgehenden Mehrdeutigkeit scheitern. In ähnlicher Art und Weise zeigt sich in der Radiologie das Problem der Versprachlichung von Wahrnehmungsinhalten und Interpretationen, wie es im nächsten Schritt zu Diskussion und Deskription betrachtet wird. 6.2.2 Radiologische Komplexitätsreduktion durch Versprachlichung des Bildlichen: Diskussion und Deskription Die visuelle Arbeit der Detektion, wie sie im vorangegangenen Kapitel beschrieben wurde, geht bei Radiologen in ihrer täglichen Praxis zeitgleich mit der Deskription oder Beschreibung der Befunde und somit der Überführung visueller Eindrücke in sprachliche und/oder schriftliche Formulierungen einher. Sämtliche Ergebnisse der morphologischen, topografischen und messtechnisch-biologischen Analysen werden während der Bildbetrachtung im Diktat festgehalten. Der übliche Ablauf besteht in der elektronischen Aufzeichnung der diktierten Äußerungen des Radiologen, die anschließend von externen Schreibkräften in den schriftlichen Befundbericht überführt werden. Eine andere Möglichkeit besteht aufgrund spezieller Software, über die der Radiologe seine Befunde direkt in den Computer eingeben und anschließend den Befundbericht ausdrucken kann. Im Rahmen der Befundung als radiologische Tätigkeit ist darauf hinzuweisen, dass die Deskription der Befunde nur einen Teil des Befundberichts als schriftliches Ergebnis der Untersuchung ausmacht, insofern der reinen Beschreibung noch eine Auswertung im Sinne der Diagnose oder Differenzialdiagnose folgt (vgl. Kap. 6.2.3, ab S. 275).
193 Vgl. L. Bader: Bricolage mit Bildern, S. 36; und vgl. Thürlemann: Bild gegen Bild, S. 173.
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Die Versprachlichung der Bildbetrachtungen findet in schriftlicher und ebenfalls in mündlicher Form statt. Daher widmet sich das folgende Unterkapitel nicht nur der Problematik, die spezifisch visuelle Arbeit mit ihren simultanen und sukzessiven Qualitäten in eine schriftliche und somit rein sukzessive Form zu überführen, die sich mit kunsthistorischen und bildwissenschaftlichen Überlegungen zur Bildbeschreibung und Ekphrasis in Bezug setzen lässt. Es wird ebenfalls die aus sozialwissenschaftlicher und soziologischer Perspektive untersuchte Kommunikation in der Disziplin aufgegriffen, innerhalb derer sich die Radiologen über ihre Bildbetrachtungen unterhalten. Für beide Verfahrensweisen, mündliche Kommunikation wie schriftliche Formulierung der beobachteten und interpretierten Befunde, ist wieder der Versuch einer Normierung und Standardisierung festzuhalten, um der spezifischen Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit der Bilder und den daraus hervorgehenden Interpretationsmöglichkeiten entgegenzuwirken. Die Versprachlichung der radiologischen Bildbetrachtung und -interpretation hängt eng mit kommunikativen Handlungen in Studium und Ausbildung sowie praktischem Alltag der klinischen Routine zusammen, wenn es um eine Diskussion von Bildergebnissen geht. Vor allem in sogenannten Fallbesprechungen beziehungsweise Röntgendemonstrationen oder bei Visiten werden in der Klinik einmal täglich oder mindestens einmal in der Woche die aktuellen Fälle der Station vorgestellt, die neuesten Ergebnisse präsentiert und von Kollegen gleicher oder unterschiedlicher Fachrichtung diskutiert.194 Der Radiologe Günter Klaß beschreibt die Röntgendemonstration als täglich stattfindendes Szenario: „Ärzte einer bestimmten Fachgruppe, also Internisten oder Kardiologen oder Chirurgen, treffen sich mit dem Radiologen zu immer derselben Zeit in immer demselben Raum zu einem immer wiederkehrenden Ritual, der täglichen Röntgendemonstration. […] Es ist klar geregelt, wer wann etwas sagt.“195
Je nach Größe der Institution und deren Beauftragung als Lehr- und Ausbildungsort ist es möglich, dass Radiologen ihre eigenen Fachkonferenzen und somit spezifisch radiologische Besprechungen abhalten. Diesen letzten Fall erläutert Barry F. Saunders und betont, dass bei radiologischen Präsentationen der Fokus auf der Bildbetrachtung liegt und klinische Umstände sowie pathologische Korrelationen geringere Wertschätzung erfahren.196
194 Vgl. R. V. Burri: Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder, S. 225; und vgl. B. F. Saunders: CT Suite, S. 133. 195 G. Klaß: Röntgen – Bilder – Welten, S. 309. 196 Vgl. B. F. Saunders: CT Suite, S. 140.
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Innerhalb dieser Fachkonferenzen stellt sich die Serie als zentral für das radiologische Denken heraus, da nicht nur Bildserien der Computer- oder Magnetresonanztomografie präsentiert, sondern mehrere Fälle gleichzeitig diskutiert und verglichen werden. Der Ablauf ist stringent: Jede Vorstellung beginnt mit der Indikation des anfordernden Arztes, um anschließend die Art der Studie (z. B. Computer- oder Magnetresonanztomografie), die Produktionstechnik (mit oder ohne Kontrastmittel) und weitere Schlüsselkriterien wie demografische Angaben zum Patienten aufzurufen. Bevor der Vortragende auf die Beschreibung der Befunde eingeht, ermöglicht er per Präsentation des Bildmaterials eine räumliche Orientierung über die Schichtebene und das Körpervolumen, damit alle der Konferenz beiwohnenden Radiologen ihr theoretisches Wissen (und ihre mentalen Bilder) aktivieren und folgen können. Der Vortragende leitet die Besprechung mit den normalen Befunden (dem Bezug auf das Normbild) ein, um anschließend auf Abnormitäten und Deformationen einzugehen. Sich an dieses System zu halten und gründlich, also vollständig und lückenlos zu verfahren, sind wichtige Aspekte des radiologisch-wissenschaftlichen Expertentums und jedes Vergessen dieser Gründlichkeit, beispielsweise aufgrund eines aufregenden Befundes, wird nach Saunders als Anfängerfehler bewertet.197 Die Fallkonferenzen sind historisch eingebunden, wobei bildwissenschaftlich oder bildgeschichtlich der Bezug von Saunders wichtig ist, dass diese Konferenzen sich oft in Räumlichkeiten abspielen, die an den Aufbau der anatomischen Theater erinnern.198 Wird das anatomische Theater in der Forschung oft mit einem Vorrang des Sehens in Verbindung gebracht, hat Cynthia Klestinec 2011 herausgestellt, dass es verstärkt um die performative Handlung sowie das Reden und Zuhören in diesen öffentlichen Theatern ging; die anatomischen Lehrstunden vollzogen sich in kleineren Sektionsrunden abseits des öffentlichen Spektakels. 199 Das Ritual der Konferenzen existiert seit dem frühen 20. Jahrhundert und wurde von
197 Vgl. ebd. 198 Vgl. ebd., S. 200. 199 Vgl. Klestinec, Cynthia: „Theater der Anatomie. Visuelle, taktile und konzeptuelle Lernmethoden“, in: H. Schramm/L. Schwarte/J. Lazardzig (Hg.), Spuren der Avantgarde (2011), S. 75-96, hier S. 75 u. 78f.; vgl. auch Klestinec, Cynthia: Theaters of Anatomy. Students, Teachers, and Traditions of Dissection in Renaissance Venice, Baltimore 2011.
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Pierre Louis entwickelt, wobei es sich um die performative Version der Fallgeschichte handelt.200 Diesem Begriff der Performativität liegt die Vorstellung zugrunde, dass kulturelle Handlungen als Inszenierung und Aufführung verstanden werden können, die ein Arrangement sozialer Institutionen bilden: „Kulturelle Bedeutungen, Funktionen und Formen werden vor allem im Zusammenhang mit körperlichen Aufführungen, zeitlichen und räumlichen Rahmungen, ritualisierten Interaktionen […] mit der Wahrnehmung aller Sinne verbundenen ästhetischen Prozessen begriffen. Fragen der Perzeption, Verarbeitung und Inkorporierung von Ritualen und Ritualisierungen werden mit dem Blick auf mimetische Prozesse und praktisches rituelles Wissen wichtig.“201
Die Fallgeschichten sind im Ritual der Konferenzen also als nicht nur gelesene (und vorher verschriftlichte), sondern über verschiedene Sinne in einer körperlichen sowie zeitlich und räumlich bestimmten Aufführung erfahrene Grundlagen radiologischer Arbeit zu verstehen. Diese Strategien bringen heutige Fallkonferenzen, Visiten oder Rapporte verstärkt in die Nähe der demonstratio ocularis, da Assistenzärzte und auszubildende Radiologen mit eigenen Augen sehen sollen, wie eine Untersuchung vonstattengeht und wie sich der Untersuchungsgegenstand darstellt. Der Wissenschaftshistoriker Simone De Angelis erforscht die demonstratio ocularis und die evidentia als textuelle Strategien der frühneuzeitlichen Medizin und Anatomie, um neues Wissen durchzusetzen. De Angelis führt das Konzept der demonstratio auf Quintilian zurück; dort meint es „nicht nur den logischen Beweis, sondern konnotiert auch das semantische Feld von ‚Zeigen‘, ‚Vorzeigen‘ und ‚Vor-Augen-Stellen‘.“202 De Angelis schildert als Ergebnis, inwiefern „die Anatomen des 16. Jahrhunderts die Semantik des Begriffs demonstratio in signifikanter Weise erweitert haben: demonstrare ist nämlich der Terminus, den die Anatomen benutzen, wenn sie einen neuen Wissensanspruch im Text visualisieren, also etwa in Zeichnungen bildlich darstellen, um auch andere von seiner ‚Wahrheit‘ zu überzeugen.“ 203
200 Vgl. B. F. Saunders: CT Suite, S. 134 201 C. Wulf/J. Zirfas: Bild, Wahrnehmung und Phantasie, S. 12. 202 De Angelis, Simone: „Demonstratio ocularis und evidentia. Darstellungsformen von neuem Wissen in anatomischen Texten der Frühen Neuzeit“, in: H. Schramm/L. Schwarte/J. Lazardzig (Hg.), Spuren der Avantgarde (2011), S. 168-193, hier S. 171. 203 Ebd., S. 174.
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Die demonstratio ocularis wurde in der Anatomie des 16. und 17. Jahrhunderts allerdings nicht nur in den Atlanten, sondern performativ im anatomischen Theater, im Vorlesungssaal oder in einem anderen Raum mit der zu beobachtenden Sektion vollzogen.204 Durch seine Forschungen entwickelt De Angelis zwei wichtige Überlegungen für die vorliegende Untersuchung: Zuerst geht es in der Strategie nicht um das rein eigene Sehen, sondern um „ein von den [antiken, Anm. d. A.] Autoritäten ‚geführtes Sehen‘.“205 Das durch antike Autoritäten formulierte Wissen über den menschlichen Körper wurde nicht grundsätzlich abgelehnt, sondern in neuen Verfahrensweisen und durch selbstständige Experimente einer Revision unterzogen. Bei den Einführungen der digitalen Bildverfahren in den 1970er und 1980er Jahren zeigt sich für die vorliegende Studie, wie die Radiologie durch technischen Fortschritt herausgefordert wird, ihr tradiertes Wissen zu überprüfen. Zweitens hilft das von De Angelis herausgearbeitete Verständnis der Betrachtung, warum sich in der Medizin und Anatomie eine Darstellungsweise entwickelt hat, die den menschlichen Körper so anschaulich zeigt, „als hätten wir die gezeigten Teile lebendig und plastisch vor Augen.“206 In der sozialwissenschaftlichen Forschung ist erneut Barry F. Saunders zu nennen, der den Begriff der autopsía aus dem Konnex von Anatomie und Leichensektion (Autopsie) herauslöst, um ihn mit älteren Konzepten der antiken Rhetorik zum Augenzeugnis – also letztlich der genannten demonstratio ocularis – zusammenzudenken.207 Saunders’ Feldforschungen führten zu dem Ergebnis, dass die Radiologen ihren Bildergebnissen ein gewisses Misstrauen entgegenbringen, wobei per se nicht dem misstraut werde, was zu sehen ist, sondern inwiefern das zu Sehende vertrauensvoll mit dem ‚Realen‘ zusammenhängt. 208 Regula V. Burris Untersuchung weist ein ähnliches Ergebnis auf, insofern Burri den „Bilderglauben“ als „praktische[n] Glauben“ bezeichnet, „weil er in der Praxis und durch diese konstituiert und relevant wird. Er entsteht gewissermaßen mit dem und durch das Sehen“209. Der Verweis auf die Konstituierung des Bilderglaubens ist wichtig: Wie die vorliegende Arbeit deutlich macht, sind es nicht nur Strategien des Sehens oder der täglichen Arbeit, die der Referenzierung von Bild und Gegenstand dienen. Strategien der Standardisierung und Normierung seit Einführung des ersten
204 Vgl. De Angelis, Simone: Anthropologien. Genese und Konfiguration einer ‚Wissenschaft vom Menschen‘ in der Frühen Neuzeit, Berlin 2010, S. 256. 205 Ebd., S. 228. 206 Ebd., S. 259. 207 Vgl. B. F. Saunders: CT Suite, S. 16. 208 Vgl. ebd., S. 29. 209 R. V. Burri: Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder, S. 165.
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bildgebenden Verfahrens sind ebenso zu berücksichtigen wie die mathematischnaturwissenschaftlichen Ideale der Disziplin, wenn die Verweisfunktion radiologischer Untersuchungsergebnisse betrachtet wird. Doch wie De Angelis prägnant aufzeigen konnte, muss das Verhältnis von Sprache, Text und Bild hinzugezogen werden, das dem Manifestieren von medizinischem Wissen mindestens seit der Frühen Neuzeit zuzuschreiben ist. Den erwähnten radiologischen Konferenzen im Ablauf ähnlich, dienen die allgemein üblichen, institutionalisierten Visiten oder Rapporte dem Austausch der Mediziner, wie Regula V. Burri betont: „Hier werden Bildinterpretationen unter radiologischen Fachpersonen diskutiert oder unter Beizug unterschiedlicher Fachärzte und Expertinnen mit klinischen Diagnosen und Laborbefunden in Beziehung gesetzt und diskutiert.“210 Dass nach einem festgelegten Muster vorgegangen wird, ermöglicht einen schnellen Austausch der beteiligten Personen. Die Aushandlungsprozesse über mögliche Bildbedeutungen sind nach Regula V. Burri nicht notwendigerweise im Sinne von Kontroversen zu verstehen, „sondern als interaktive Kommunikationsprozesse, in denen Akteure Sinn konstituieren.“211 Mögliche Kontroversen, Diskrepanzen oder Inkonsistenzen, wie sie während der Detektion des Bildmaterials auftreten können, werden über interaktive Kommunikationsprozesse möglichst beseitigt. Der Radiologe Norbert Hosten betont 2010, dass die Besprechungen „der Verknüpfung der Ergebnisse der verbalen oder quantitativen Untersuchungen mit den jeweiligen Bildern“212 dienen. Im sprachlichen Austausch und der Vergewisserung über andere Meinungen, Ansichten und Untersuchungsergebnisse (und somit eine besondere Art von Kontextwissen) arbeiten die Mediziner gemeinsam an einer Sinnkonstituierung für die Bildinterpretation und erzeugen Konsistenz – parallel zu den Wahrnehmungsprozessen. Die Röntgendemonstrationen, Fallbesprechungen und Rapporte dienen dabei der Überprüfung normierter Rituale wie zugleich der Ausbildung der Assistenzärzte, damit sie performativ und mündlich-interaktiv lernen, welche Kriterien der schriftliche Befundbericht letztlich zu erfüllen hat. Im Gegensatz zu dieser Situation des Austauschs, die Möglichkeiten zur Berichtigung bietet, stellt sich der Befundbericht wiederum als textuelles Medium heraus, das vollständig und richtig die Ergebnisse aus der radiologischen Bildbetrachtung zusammenzufassen hat. Aus einer bild- und kunstwissenschaftlichen Perspektive werden hier Fragen zum Text-Bild-Verhältnis und der Überführung von visuellen Eindrücken in äquivalente sprachliche oder schriftliche Formulierungen prägnant, wie sie auch im
210 Ebd., S. 225. 211 Ebd., S. 228. 212 N. Hosten: Denken in Röntgenbildern, S. 146.
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Diskurs über die Ekphrasis vorrangig durch Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft vorgebracht werden. Das folgende Fazit dient ähnlich dem zum Vergleichenden Sehen einer Überprüfung und Übertragung bildwissenschaftlicher Ansätze auf radiologische Vorgehensweisen.
FAZIT 2: TEXT-BILD-BEZIEHUNG IN DER RADIOLOGIE (EKPHRASIS) Wie bei der Methode des Vergleichenden Sehens liegt den Überlegungen zum Text-Bild-Verhältnis kulturgeschichtlich eine lange Tradition zugrunde, die bis in das antike Griechenland zurückverfolgt werden kann. Bezogen auf die Kunstgeschichte und der Kunsthistorikerin Lena Bader und ihrer Darstellung des Vergleichenden Sehens als einem kunsthistorischen „Vermittlungs-, Begriffs- und Erkenntnisinstrument“213 folgend, sind Reflexionen zum Vergleichenden Sehen um 1900 mit der Bestimmung über das Verhältnis von Bild und Text verbunden. 214 Gottfried Boehm widmet sich dem Thema der Bildbeschreibung in seiner gemeinsam mit Helmut Pfotenhauer 1995 herausgegebenen Anthologie Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. Er greift die Tradition der Bildbeschreibung als Ekphrasis (griech. ἔκ-φρασις = Beschreibung) seit der Antike auf, in der sie als rhetorische Disziplin oder literarische Gattung „von der Bildkraft der Sprache und von ihrer Fähigkeit, Bilder zu erzählen“ 215 zeugt. Unter dem Namen Ekphrasis haben sich in der Antike der Texttypus der Bildbeschreibung und sein lateinisches Äquivalent der descriptio ausdifferenziert, wie die Literaturwissenschaftlerin Monika Schmitz-Emans 1999 betont. Dabei hat es schon vorher Bildbeschreibungen gegeben, doch in Griechenland wurde zum ersten Mal versucht, derartige Texte zu charakterisieren. Ein Gegenstand sei demnach über eine präzise Beschreibung ‚augenfällig‘ zu machen, beziehungsweise visuelle Phänomene unterschiedlicher Art beschreibend zu vergegenwärtigen. 216 Für die richtige Beschreibung hatte der griechische Redner bestimmten Regeln zu folgen, die er mit Hilfe der Progymnasmata-Übungen erlernte, wie die Philologin
213 L. Bader: Bild-Prozesse im 19. Jahrhundert, S. 132. 214 Vgl. ebd., S. 133. 215 Boehm, Gottfried: „Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache“, in: ders./Helmut Pfotenhauer (Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995, S. 23-40, hier S. 23. 216 Vgl. M. Schmitz-Emans: Das visuelle Gedächtnis der Literatur, S. 17.
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Gabriele Rippl 2005 in ihrer Untersuchung zur Beschreibungskunst herausstellt. Dabei fügt sie den bisher genannten Bezeichnungen noch das lateinische evidentia und das griechische hypotyposis (‚Abbilden, Abbildung‘) hinzu.217 De Angelis verweist in seinen Untersuchungen darauf, dass der Begriffskomplex „evidentia in narratione Quintilians lateinische Wiedergabe des griechischen Terminus enargeia [ist, Anm. d. A.], der das bezeichnet, was eine ‚Präsenz‘ bzw. Anschaulichkeit vermittelt, und der stets mit der Sphäre der direkten Wahrnehmung assoziiert wird.“218 Die lange und verwickelte Geschichte der Ekphrasis lässt sich nach Boehm über Stationen wie Giorgio Vasaris Rückgriffe und Erneuerungen (16. Jh.) und kunsthistorische Bildbeschreibungen bei Johann Joachim Winckelmann (18. Jh.), Jacob Burckhardt (19. Jh.) und Erwin Panofsky (20. Jh.) nachvollziehen, wobei sich mit jeder Station die Funktion und die Struktur derselben wandelten.219 Im Zusammenhang mit der vorliegenden Untersuchung und der Frage nach der Rolle der Bildbeschreibung in der Radiologie ist der von Gottfried Boehm für das 19. Jahrhundert herausgestellte Streitpunkt von Bedeutung, als sich die Bildbeschreibung nicht länger als peripherer historischer Stoff oder rhetorische Übung darstellt, sondern „vielmehr das zentrale erkenntniskritische Problem besonders derjenigen Disziplinen [markiert, Anm. d. A.], die mit Bildern oder Bildtexten umgehen: den mit materieller Kultur befaßten Kulturwissenschaften auf der einen, der Philologie bzw. Literaturgeschichte auf der anderen Seite.“ 220 Dabei ist nicht nachweisbar, dass die Röntgenologie zum Ende des 19. Jahrhunderts die theoretischen Überlegungen aufgegriffen hat; allerdings markieren die folgenden Ausführungen, dass die Probleme der Text-Bild-Beziehung für die Radiologie seit ihren Anfängen eine Rolle spielen. Methodenhistorisch ist der Begriff der Ekphrasis erst seit den 1950er Jahren vereinzelt und verstärkt in den 1980er Jahren innerhalb der geisteswissenschaftlichen Forschung prägnant geworden und dient heute einem wichtigen Forschungsgebiet der Literatur- und Kunstwissenschaft als Überschrift.221 Darunter werden
217 Vgl. G. Rippl: Beschreibungskunst, S. 63. 218 S. De Angelis: Demonstratio Ocularis, S. 171. (Herv. i. O.) 219 Vgl. G. Boehm: Bildbeschreibung, S. 23; und vgl. Rosenberg, Raphael: „Von der Ekphrasis zur wissenschaftlichen Bildbeschreibung. Vasari, Agucchi, Félibien, Burckhardt“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 58 (1995), S. 297-318, hier S. 299ff. 220 Ebd., S. 24. (Herv. i. O.) 221 Vgl. Wandhoff, Haiko: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters, Berlin 2003, S. 2.
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methodische Probleme und Fragen zu Text-Bild-Verhältnissen gefasst, wobei Gabriele Rippl in diesem Zusammenhang eine notwendig interdisziplinäre Herangehensweise betont.222 Die seit den 1990er Jahren geführte Diskussion um eine mögliche Bildwissenschaft beruft sich ebenfalls auf Aspekte dieses Forschungsgebietes, in dem auch der Streit um die erkenntnistheoretische Vorherrschaft des Sprachlichen oder des Visuellen begründet liegt. Insbesondere die Proklamation des iconic turn, wie sie von Gottfried Boehm 1994 (im Anschluss an den pictorial turn 1992 durch William J.T. Mitchell) getätigt wurde, hat vorrangig in den Geisteswissenschaften zu Positionierungen bezüglich des für die menschliche Erkenntnis an erste Stelle zu setzenden Zeichensystems – Bild oder Sprache – geführt. Die Literaturwissenschaftlerin Silke Horstkotte und die Kunsthistorikerin Karin Leonhard betonen, dass sich seit den 1990er Jahren die Beschäftigung mit den durch Bilder und Texte hervorgerufenen Rezeptionsformen verstärkt habe und die Beziehung von Visualität und Verbalität, Bildern und Texten eines der Schlüsselthemen der neueren Kulturwissenschaft geworden ist.223 An dieser Stelle interessiert die Parallele zu den theoretischen und methodischen Verhandlungen in der Radiologie, die sich als Bildspezialisierung vorrangig auf Bildmaterial stützt, dasselbe für die Einbettung in die übergreifende, medizinische Diagnose allerdings in beschreibende und interpretierende Sprache überführen muss. Der radiologische Befundbericht ließe sich in Anlehnung an Kategorisierungen von Schmitz-Emans als Schriftform verstehen, die als Bildkommentar und -interpretation fungiert, wobei ihr auch die von Schmitz-Emans erläuterte Überlegung zugrunde läge, „daß ein Bildkommentar eine Reduktion ihres [der Bilder, Anm. d. A.] Bedeutungspotentials zur Folge hätte.“ 224 Schmitz-Emans hält für die literarische Bildinterpretation die grundsätzliche Frage fest, „ob ein Text überhaupt in Worten wiedergeben kann, was auf einem Bild zu sehen ist, und ob und inwiefern er sagen kann, was das Sichtbare ‚bedeutet‘.“ 225 In diesem Zusammenhang beschreibt sie einen weiteren wichtigen Umstand für beide Zeichensysteme oder Kommunikationsmedien:
222 Vgl. G. Rippl: Beschreibungskunst, S. 60. 223 Vgl. Horstkotte, Silke/Leonhard, Karin: „Einleitung. ‚Lesen ist wie Sehen‘ – über Möglichkeiten und Grenzen intermedialer Wahrnehmung“, in: dies. (Hg.), Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 1-15, hier S. 1. 224 M. Schmitz-Emans: Die Literatur, die Bilder und das Unsichtbare, S. 8. 225 Ebd., S. 6.
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„Verknüpft ist die Frage nach den Beziehungen zwischen Texten und Bildern nicht zuletzt mit dem Projekt einer Darstellung des Undarstellbaren. Nehmen sich die Bilder doch manchmal solcher Inhalte, Botschaften oder innerer Verfaßtheiten an, die sich nicht angemessen in Worten ausdrücken lassen, wie umgekehrt Worte auch ausdrücken können, was sich visuell nicht vermitteln läßt.“226
Diesem Zitat möchte ich vor dem Hintergrund der leitenden Untersuchungsthese hinzufügen, dass Bilder (und Sprache) über spezifische Charakteristika verfügen, die nicht nur ihren Inhalt betreffen, sondern vor dem Vermögen der menschlichen Wahrnehmung visuelle Mehrdeutigkeiten aufgrund ihrer Form enthalten und darüber verschiedene (sprachliche) Interpretationen ermöglichen. Gottfried Boehm bezieht sich auf den Kunsthistoriker Max Imdahl und wiederum dessen Bezug auf die Theorie Konrad Fiedlers, wenn es um die Entwicklung des ‚wiedererkennenden Sehens‘ und des ‚sehenden Sehens‘ geht.227 Während ersteres literarisches, begriffliches oder anderweitiges Vorwissen integriert, betrifft letzteres den Umstand, dass „sich das Bild erst im visuellen Vollzug erschließt, sein künstlerisches Sein sich erst im Akt der Wahrnehmung erfüllt“228 und die Beschreibung daher in Worten kein stabiles Äquivalent schaffen kann. Dieter Mersch geht von einem Scheitern der Ekphrasis aus: „Vielmehr verschließt sich das Bild einer umfassenden diskursiven Analyse, wie auch das Scheitern der ‚Ekphrasis‘ bekundet, das in unendlicher Bemühung des Begriffs die Kluft nur hinausschiebt und vergrößert, statt sie zu schließen.“229 Trotz der Betonung des Visuellen stellt Gottfried Boehm heraus, dass Wissenschaftler – und somit Kunsthistoriker wie Radiologen – in ihrer Arbeit, das heißt im Vorgehen zu ihrer Ergebnissicherung, sprachabhängig sind: „Erst in der Sprache gewinnt der Wissenschaftler eine Instanz, die zur Kontrolle und Kritik seiner Einsichten geeignet ist.“230 In welcher Disziplin auch immer mit Bildern gearbeitet wird, sind die jeweiligen Protagonisten einem Wissenschaftsverständnis verschrieben, in welchem die Ergebnisse nachvollziehbar und dementsprechend kontrollierbar zu sein haben. Die interindividuelle oder interdisziplinäre Vergleich-
226 Ebd., S. 8. 227 Vgl. bspw. Boehm, Gottfried: „‚Sehen lernen ist Alles‘. Conrad Fiedler und Hans von Marées“, in: Christian Lenz (Hg.), Hans von Marées (Ausstellungskatalog Bayerische Staatsgemäldesammlungen München 1987), München 1988, S. 145-150. 228 G. Boehm: Bildbeschreibung, S. 27. 229 D. Mersch: Blick und Entzug, S. 59. 230 G. Boehm: Bildbeschreibung, S. 24.
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barkeit ist aus diesem Wissenschaftsverständnis heraus nur durch Texte (oder Zahlen) zu gewährleisten, weshalb sowohl die kunsthistorische als auch die radiologische Bildbeschreibung eine wissenschaftliche Herangehensweise und eine Vergleichbarkeit ermöglichen müssen. Vor der Problematik der jeweiligen Spezifika von Bild und Text und vor den Fragen, was sich aus dem einen in das jeweils andere Medium überführen lässt und wo aufgrund der Transformation Leerstellen oder Unsichtbarkeiten beziehungsweise Unsagbarkeiten entstehen, wird im nächsten Schritt die medizinische Reflexion zum aus der Bildbetrachtung hervorgehenden und verschriftlichten Befundbericht vorgestellt. In der von Boehm und Pfotenhauer herausgegebenen Anthologie bezieht sich der Mediziner und Medizinhistoriker Dietrich V. Engelhardt in seinem Artikel auf die Beschreibung in der Medizin und betont, dass bis 1995 weder historische noch systematisch-allgemeine Studien über die Beschreibung in der Medizin vorliegen.231 Die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung durchgeführte historische Aufarbeitung der radiologischen Disziplin zeigt allerdings, dass sich vorrangig in den Fachzeitschriften Mediziner mit den Bedingungen und Anforderungen des Befundberichts auseinandersetzen. In den 1960er Jahren konstatieren die Radiologen, dass die Wahrnehmbarkeit und damit auch die ‚Befundsicherheit‘ in hohem Maße von den Seheigenschaften des menschlichen Auges abhängen, und reflektieren somit ihre Methode des Vergleichenden Sehens in ihrer Bedeutung für die Befundung und den Befundbericht.232 Die visuelle Wahrnehmung wird wiederum prägnant als zu berücksichtigender Faktor genannt und der Perzeptionsprozess aus bildwissenschaftlicher Perspektive als Unsicherheit charakterisiert. Die Tendenz, über die Standardisierung und Normierung der praktischen Vorgänge derartige Unsicherheit zu reduzieren, wurde in der vorliegenden Untersuchung erwähnt. Dabei bringen das Werkzeug Computer und dessen installierte Programme das Versprechen, die Versprachlichung visueller Prozesse zu vereinheitlichen: Anfang der 1970er Jahre soll die elektronische Datenverarbeitung (EDV) das Erfassen und Auswerten von Röntgenbefunden erleichtern. 233 Dabei liegt der Sinn und Zweck der EDV vorrangig bei der Erstellung von Befund und
231 Vgl. Engelhardt, Dietrich V.: „Beschreibung in der Medizin“, in: G. Boehm/H. Pfotenhauer (Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung (1995), S. 607-616, hier S. 608. 232 Vgl. Herstel, W.: „Neue Verfahren zur Beurteilung der Güte des Durchleuchtungsbildes“, in: RöFo 104/4 (1966), S. 556-559, hier S. 556. 233 Vgl. Novak, D./Hilweg, D./Lensch, S.: „Anwendung des Computers zur Auswertung röntgenologischer Befunde bei malignen Lymphomen“, in: RöFo 113/5 (1970), S. 663-674, S. hier 663.
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Diagnose sowie beim Erlernen der Systematik der Befunderhebung.234 Der Anspruch auf Vollständigkeit der Untersuchung sowie das Bestreben zur Standardisierung und Quantifizierung der radiologischen Deskription reihen sich außerdem in die mathematisch fundierte Verwissenschaftlichung der Medizin ein; dergleichen mündete Ende der 1970er Jahre mit der Forderung nach einer statistischen Auswertung computertomografischer Befunde, „um Angaben über Treffsicherheit, Fehldiagnosen, Fragen der Indikationsstellung, der Bedeutung von Anamnesen und Vorbefunden machen zu können.“235 Die mit den Befunden ‚gefütterten‘ Programme der EDV sollten außerdem die Möglichkeit beinhalten, „durch Standardisierung der Befundung und Befunddokumentation an eine automatische Befundschreibung zu denken.“236 Das Ideal mechanischer Objektivität zeigt seine Auswirkungen sowohl in den Überlegungen zur Bildbetrachtung als auch zur Bildbeschreibung; im Rahmen statistischer Auswertungen war die Disziplin bestrebt, möglichst einheitliche Begrifflichkeiten für die Befundung zu entwickeln und über die im Computer installierten Programme den automatischen Befundbericht zu erstellen. Das Objektivitätsideal lässt sich erneut bis heute nachvollziehen, wenn der Radiologe Hans M. Kulke 2013 ein datenverarbeitungsgerechtes System vorstellt, mit dem „individuelle und subjektive Interpretationen vermieden werden“ und sich „eine einheitliche Terminologie und eine standardisierte Systematik“237 durchsetzen lassen. Anfang der 1980er Jahre publizierten Radiologen extensive Artikel zum Thema Befund, wobei im Rückgriff auf den Vorgang des Vergleichenden Sehens und auf das inkorporierte Wissen eine schrittweise Erörterung der Entstehung des Befundes als schwierig benannt wird. Der Radiologe Hans-Peter Heilmann setzt sich beispielsweise 1981 mit dem Artikel Der Röntgenbefund: Stiefkind der Radiologie238 in der Zeitschrift RöFo intensiv mit der Entstehung und Bedeutung des Röntgenbefunds auseinander. Er kritisiert darin den Versuch, die Prozesse der radiologischen Wahrnehmung an den Computer delegieren zu wollen. Heilmann sieht vorrangig die Problematik, wie zwischen der ‚reinen Bildinformation‘ und deren Auswertung vor der Hinzunahme von medizinischem Wissen zu unterscheiden ist, wenn die Befundung an das technische Werkzeug abgegeben wird. Der
234 Vgl. Anacker, Hermann: „Konzept einer EDV in der Röntgendiagnostik“, in: Der Radiologe 14/8 (1974), S. 262-270, hier S. 262. 235 M. Klar/C. Ostertag: Dokumentation computertomographischer Befunde, S. 189. 236 Ebd., S. 192. 237 Beide Zitate: Kulke, Hans M.: Röntgendiagnostik von Thoraxerkrankungen. Von der Deskription zur Diagnose, Berlin/Boston 2013, S. 1. 238 Vgl. H.-P. Heilmann: Der Röntgenbefund, S. 220-224.
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Grund für diese Schwierigkeiten liegt nach dem Radiologen in der Beschaffenheit von Beobachtungsvorgängen, also der menschlichen Wahrnehmung selbst: Die reine Beobachtung wird in Frage gestellt, da bei der visuellen Informationsentnahme letztlich ‚weiche Daten‘ herangezogen werden und die Objektivität radiologischer Untersuchungsmethoden kritisch zu betrachten ist.239 In diesem Zusammenhang kritisiert er, dass eine Reflexion über die eigentliche Bildinterpretation in der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Radiologie ausbleibt: „Entsprechend gibt es unzählige wissenschaftliche Arbeiten über die verschiedenartigsten Methoden der Informationsgewinnung, jedoch kaum Gedanken über die Informationsverarbeitung, über die Logik, die Theorien der aus Röntgenbildern gewonnenen Information sowie über die Entstehung, Aufbau, Formulierung und Interpretation von Röntgenbefunden.“240
Die Disziplin fordert eine Systematisierung der Bildbeschreibung, die sich in die hier als Rahmen aufgegriffene systematische Bildanalyse einfügt. Einen Weg sieht die Radiologie im Festsetzen von verschiedenen Schritten oder Stufen für den Befundbericht, um dieses Ziel zu erreichen. Sehr ausführlich findet sich ein derartiger Versuch wiederum im Artikel von Heilmann und in seiner Forderung, dass auf der ersten Stufe nur der klinische Befund und pathologische Befunde mit möglicherweise akutem Krankheitswert aus dem Bild extrahiert werden, während auf der zweiten auch Residuen abgelaufener Erkrankungen ohne akuten Krankheitswert und auf der dritten und letzten Stufe sämtliche Variationen und Normabweichungen ohne Krankheitswert in die Beschreibung einfließen sollen. 241 1987 bezeichnet H. Küsters diese Systematik in der RöFo als die ausführlichste Berichtsart, in der nicht nur die augenblicklich klinisch relevanten, sondern auch Nebenbefunde wie die Residuen abgeklungener Erkrankungen und Variationen beziehungsweise Normabweichungen festgehalten werden. Der Druck des Gesundheitssystems und der damit zusammenhängenden finanziellen und zeitlichen Faktoren führen in der Praxis jedoch meist zu verkürzten Versionen, in denen entweder nur die abnormalen oder pathologischen Erscheinungen von Organeinzelteilen
239 Vgl. ebd., S. 221. 240 Ebd., S. 220. 241 Vgl. ebd., S. 223
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in ihren Veränderungen schriftlich festgehalten und ausgewertet werden oder sogar sämtlicher Beschreibungstext wegfällt und nur noch eine Beurteilung (Differenzialdiagnose) übermittelt wird.242 Der hier erfolgte Rückgriff auf die innerhalb der Radiologie stattfindende Thematisierung des Beschreibungsproblems zeigt auf, wie sehr die Deskription der Bildergebnisse an das Fach- und Erfahrungswissen gebunden ist. Letztlich müssen die Radiologen während der Befundung entscheiden, welche Bilderscheinungen als pathologische Veränderungen zu bewerten sind, die mit einem akuten Krankheitswert belegt werden, und welche Bildinformationen zwar auf Deformitäten und Abnormitäten des menschlichen Körpers verweisen, aber durch schon vergangene Krankheiten ausgelöst wurden oder sogar zum individuellen Körper selbst gehören (wie in der Embryonal- oder Fetalperiode entstandene Variationen).243 Durch die beschriebene Methode des Vergleichenden Sehens und die Einbindung von Vor- und Kontextwissen beurteilen die Radiologen die von ihnen wahrgenommenen Bilderscheinungen und ordnen beziehungsweise klassifizieren dieselben in Bezug auf aktuelle Theorien der Medizin (Stichwort: Körperbild) sowie spezifische Thesen zum individuellen Patienten. Dieser Akt des Ordnens und Klassifizierens beruht essentiell auf der Versprachlichung der Bildbetrachtung. Dabei stellt sich die Überführung der visuellen Eindrücke in eine wissenschaftlichen Forderungen genügende, möglichst objektive Beschreibung für die radiologische Profession als Problem heraus. Engelhardts These, dass bis 1995 keine systematisch-allgemeinen Betrachtungen zur Beschreibung in der Medizin vorliegen, ist aufgrund der Artikel in den Fachzeitschriften zu widersprechen. Doch er fügt der Frage nach dem Problem der Bildbeschreibung in der Medizin eine weitere Facette hinzu und betont: „Der Fortschritt der Technik hat seine Konsequenzen für die Beschreibung in der Medizin. Mit der technischen Diagnostik sind ärztliche Beschreibungen zu Beschreibungen von Beschreibungen geworden: Beschreibungen von Daten des Röntgenbildes, des EEG, des EKG, des CT, der Sonographie, der Kernspintomographie. Die bildgebenden Verfahren besitzen ihre eigene Beschreibungslogik mit unterschiedlichen praktischen und theoretischen Implikationen.“244
242 Vgl. Küsters, H.: „Computereinsatz in der Radiologie. Textverarbeitung, Bürotechnik und Dokumentation – Fortschreiben der Vergangenheit oder Einsatz neuer Techniken?“, in: RöFo 146/6 (1987), S. 716-722, hier S. 718. 243 Vgl. B. Tillmann/K. Zilles: Einführung in die Anatomie, S. 2f. 244 D. Engelhardt: Beschreibung in der Medizin, S. 611.
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Dabei reflektiert Engelhardt die Theorie der Beschreibung in der Medizin vor deren jeweiligem Wissenschaftsbegriff, wie auch im Rahmen der vorliegenden Untersuchung die Entwicklung der Modernen Medizin als ausschlaggebend für die Rolle der objektiven und kontrollierbaren Beschreibung gesehen wird. Versuche der internationalen Festlegung von Diagnosen, wie sie sich historisch nicht nur in der Medizin, sondern über die Systematisierung des Befundberichtes auch in der Radiologie nachvollziehen lassen, setzen nach Engelhardt eine Übereinkunft in den Beschreibungen der Einzelphänomene voraus. Intersubjektivität und Computerisierung sind die entscheidenden Anforderungen, die allerdings – kritisch betrachtet – Grenzen haben.245 Der im historischen Überblick geschilderten Bemühung, den Computer auch bei der Versprachlichung und der Festlegung von Diagnosen als Standardisierungswerkzeug einzusetzen, entsprechen heutige und in der Tradition des Befundberichts stehende Versuche, die Befundung in der Radiologie zu strukturieren. Der Radiologe Thomas Hackländer berichtet 2013 in Der Radiologe über den aktuellen Stand der Diskussion, bei dem sich drei Stufen der Strukturierung herauskristallisiert hätten: Auf der ersten Stufe wird eine thematische Strukturierung des Befundes in Abschnitten favorisiert, ein Vorgehen, das nach Hackländer der gelebten Befundungspraxis in Deutschland entspricht. Die zweite und dritte Stufe sind Erweiterungen vor dem Paradigma einer vereinheitlichten und durch Computerprogramme unterstützten Versprachlichung des Befundes: Zuerst werden innerhalb der einzelnen thematischen Abschnitte des Befundes vorformulierte Textbausteine verwendet, die der Radiologe über die zu Verfügung gestellten Programme auswählen kann, um im dritten Teil dann „nur Wörter aus kontrollierten Vokabularien“246 wie zum Beispiel aus RadLex zu verwenden.247 Als Vorteile dieses Vorgehens greift Hackländer die verbreitete Meinung auf, dass sich „aus der klaren Struktur und der eindeutigen, vorformulierten Sprache eine höhere Eindeutigkeit der Befunde ergeben.“248 Im Vergleich zu den sogenannten Freitextbefunden der ersten Stufe sollen die beiden weiteren Stufen außerdem einen höheren Grad der Vollständigkeit gewährleisten, da der Radiologe in der Arbeit mit den Computerprogrammen keinen Abschnitt auslassen kann. Hackländer lässt die Frage der Bewährung dieser Vorgehensweise nicht unerwähnt: Bis 2013 durchgeführte Studien
245 Vgl. ebd., S. 612f. 246 Hackländer, Thomas: „Strukturierte Befundung in der Radiologie“, in: Der Radiologe 53/7 (2013), S. 613-617, hier S. 613. 247 Vgl. ebd., S. 614. 248 Ebd., S. 614.
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gäben widersprüchliche Ergebnisse, welche Befundstruktur letztlich mehr Genauigkeit und Eindeutigkeit verspricht. Die thematische Strukturierung der Befunde wird zwar als unabdingbar betrachtet, doch inwieweit „auch eine inhaltliche Strukturierung bis hin zur Verwendung eines definierten Vokabulars hilfreich ist, kann aktuell noch nicht abschließend bewertet werden.“ 249 Ob der Computer als Werkzeug der Standardisierung für Sprache somit sinnvoll eingesetzt werden kann, stellt sich in der Geschichte der Disziplin wiederholt als fragwürdig heraus – immerhin sind ähnliche Ansätze schon in den 1970er Jahren nachzuweisen, wie weiter oben beschrieben. Eine signifikant neue Facette bringt 2013 der Radiologe Hans M. Kulke zur Röntgendiagnostik zur Sprache. Der Befundbericht ist nach Kulke nur dann sinnvoll, „wenn der Arzt, dem der Befund, insbesondere ein Röntgenbefund, übergeben wird, diesen nicht nur verstehen, sondern sich auch die Erkrankung exakt vorstellen kann, ohne das Röntgenbild zur Verfügung zu haben.“ 250 Die Bedeutung des Textes tritt hier vor diejenige des Bildes, da der Text die Leistung des Objekts und die Leistung des Betrachters zusammenfassen muss. Der Text muss auch ohne das Bild funktionieren und es möglich machen, dass sich der Leser durch den Text das Bild beziehungsweise die Erkrankung exakt vorstellen kann. Ganz im Sinne der Bildbeschreibung und -interpretation, wie sie sich in der Tradition der Ekphrasis aus dem antiken Griechenland herleiten lässt, soll der Radiologe durch den schriftlichen Befund die Ergebnisse vor einem inneren Auge entstehen lassen, das durch ihn Gesehene wieder sichtbar machen, die sukzessive Form des Mediums Sprache in die Evidenz des Bildes überführen. Dieser Forderung widersprechen die alltäglichen Handlungen in der radiologischen und klinischen Praxis. Zumeist wird die Übertragung der Bilder an den zuweisenden Arzt als wichtiger betrachtet als die Kommunikation des Befundberichtes. Anscheinend genügt der verschriftlichte Befund aufgrund unterschiedlicher Aspekte nicht der Sinn- und Konsistenzerzeugung, die vor einem wissenschaftlichen Ideal der Vollständigkeit und Überprüfbarkeit gefordert wird. Offenbaren sich schon in der Bildbetrachtung Inkonsistenzen, wie im Fazit zum Vergleichenden Sehen aufgezeigt wurde, so findet sich in der medizinischen Reflexion der Bildbeschreibung Ratlosigkeit, ob das im Intermedialen liegende Problem nun durch den ökonomisch verursachten Zeitdruck (und verkürzte Berichte) oder durch die nicht standardisierbare Sprache in Zusammenarbeit mit dem Computer und den digitalen Bildgebungsverfahren ausgelöst wird. Interessanterweise
249 Ebd., S. 616. 250 H. Kulke: Röntgendiagnostik von Thoraxerkrankungen, S. 1.
272 | Bilder ohne Bildlichkeit?
wird die Rolle der Zahlen oder numerischen Werte in der medizinischen Argumentation zum Befund nur marginal aufgegriffen – bei einer Betrachtung der angesprochenen Verhältnisse ist allerdings zu betonen, dass aus erkenntnistheoretischer und medienphilosophischer Position Bild, Schrift und Zahl eigene Systeme der Wirklichkeitswiedergabe darstellen, die in ihren jeweiligen Spezifika zu berücksichtigen sind, wie vor allem der Medienphilosoph Dieter Mersch hervorhebt.251 Aspekte der Statistik und die Systematisierung radiologischer Aussagen nach Wahrscheinlichkeiten erfahren in der vorliegenden Studie erst für die Erörterung der Diagnose und der Differenzialdiagnose als möglichen Abschluss oder Anschluss an den Befundbericht Aufmerksamkeit (vgl. Kap. 6.2.3, ab S. 275). Abschließend zur Frage der Text-Bild-Beziehung sind die Konzepte von Evidenz und enargeia aufzunehmen, wie sie am Anfang des Kapitels erwähnt wurden und die in Zusammenhang stehen mit der Forderung Kulkes, dass der Bericht das Bild mit einzuschließen habe, so dass es als Objekt nicht mehr notwendig sei. Simone De Angelis hebt die Verbindung von Evidenz und enargeia mit direkter Wahrnehmbarkeit hervor und auch Monika Schmitz-Emans geht bezüglich der Ekphrasis auf diese Begriffe ein: „Wer Ekphrasis betreibt, setzt auf die Zeigekraft der Sprache, auf sprachliche ‚Anschaulichkeit‘ (der griechische Terminus dafür ist ‚enargeia‘, der lateinische ‚perspicuitas‘).“252 Die Zeigekraft der Sprache findet sich im Entwurf einer spezifisch bildlichen Logik wieder, die von Dieter Mersch und Gottfried Boehm vertreten wird; beide stimmen darin überein, dass sich die Spezifik der Bildlogik in einer besonderen Form des Zeigens, der Deixis (griech. δείκνυμι = zeigen), äußert, und sich Wort und Bild in dieser gemeinsamen Voraussetzung treffen.253 In der Medizin steht die Zeigekraft der Sprache in einer langen Tradition, wurde sie schon in der Anatomie genutzt, wie bezüglich der Forschungen von Simone De Angelis angeführt. Das Zeigen als performative und körperliche Handlung wird außerdem bei den Bildbetrachtungen in der Ausbildung oder bei der Kommunikation zu Bildern aufgegriffen, wenn mit dem Finger auf Bildphänomene gezeigt wird oder mit dem Stift
251 Vgl. D. Mersch: Einleitung: Wort, Bild, Ton, Zahl, S. 9. 252 M. Schmitz-Emans: Die Literatur, die Bilder und das Unsichtbare, S. 17. Gottfried Boehm greift die Verbindung zur Enargeia ebenfalls auf und reflektiert den aus der Antike stammenden Ansatz, den Hörer zum Zuschauer zu machen und über die Ekphrasis die Zeigefähigkeit der Sprache zu aktivieren. Vgl. G. Boehm: Bildbeschreibung, S. 35. 253 Vgl. D. Mersch: Wissen in Bildern, S. 114; und vgl. G. Boehm: Bildbeschreibung 1995, S. 38.
Bildrezeption | 273
bestimmte Areale markiert werden.254 Doch bei diesen Versprachlichungen und Handlungen steht wieder das Bild und nicht der Text im Zentrum des radiologischen und medizinischen Interesses. Wird der Gedanke der Evidenz aufgegriffen, das Vor-Augen-Stellen weitergeführt, so soll sich das Medium Bild in der radiologischen Arbeit eigentlich gar nicht selbst zeigen, sondern den ‚Durchblick‘ auf den menschlichen Körper ermöglichen. Dass Artefakte diesen Durchblick ebenso stören wie andere bildliche Phänomene, ist bisher deutlich geworden. Insgesamt lässt sich hier das Verständnis des Bildes als Fenster255 zur Wirklichkeit anführen, das – wie Boehm es beschreibt – bei Wissenschaftlern und Bildbetrachtern zum Ausspruch „Ich habe es gesehen!“ führt: „Sie berufen sich allesamt auf die Zeugenschaft ihrer Wahrnehmung und auf das Sichtbare, um damit ungeklärte Fragen zu beantworten, Sachverhalte zu rekonstruieren, Vermutungen zu verifizieren und Richtiges vom Falschen zu unterscheiden.“256 Ähnlich begründet der Philosoph Claus Zittel die Natur der Evidenz darin, dass eben nicht weiter gefragt werde, sondern sich Betrachter mit einem „aja, ja so ist es“257 begnügen. Indem visuelle Phänomene evident sind, vergegenwärtigen sie etwas, stellen es vor Augen – wie schon bezüglich der anatomischen und radiologischen Verfahren der Betrachtung betont wurde – und behaupten Geltung. Boehm sieht die Evidenz als Kategorie der Bilder an, da die Logik der Wahrnehmung und die Logik der Bilder aufeinander bezogen werden können.258 Mersch verbindet nun die Kategorie der wahrnehmenden und bildlichen Evidenz
254 Vgl. B. F. Saunders: CT Suite, S. 76. 255 In der Kunsttheorie sind hier das Bildverständnis der Renaissance und der linearperspektivische Aufbau des Bildes ausschlaggebend. Wie Wolfgang Welsch betont, wurde die Bildfläche als transparent aufgefasst, so dass „man direkt auf die im Bild dargestellte Realität zu sehen glauben“ sollte. Welsch, Wolfgang: Immer nur der Mensch? Entwürfe zu einer anderen Anthropologie, Berlin 2011, S. 213. Der Ausdruck des Bildes als fenestra aperta geht auf Leone Battista Alberti und seine Schrift De Pictura oder Della Pittura di Leon Battista Alberti libri tre (1435) zurück. Die Kunsthistorikerin Anna Lammers verweist 2011 darauf, dass anscheinend immer noch an diesem klassischen Verständnis des Bildes festgehalten wird. Vgl. A. Lammers: Der medizinische Blick, S. 183. 256 Boehm, Gottfried: „Augenmaß. Zur Genese der ikonischen Evidenz“, in: ders./Birgit Mersmann/Christian Spies (Hg.), Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, München 2008, S. 15-43, hier S. 15. (Herv. i. O.) 257 Zittel, Claus: Theatrum philosophicum. Descartes und die Rolle ästhetischer Formen in der Wissenschaft, Berlin 2009, S. 239. 258 Vgl. G. Boehm: Augenmaß, S. 16.
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in den Naturwissenschaften mit der Sprache und betont, dass Bilder deshalb in den Naturwissenschaften eingesetzt werden, weil Evidenz nicht diskursiv erzeugbar ist.259 Zugleich widerspricht die Evidenz dem Wahrheits- und Richtigkeitsdenken der Naturwissenschaften und somit auch einer naturwissenschaftlich orientierten Medizin. Zittel führt diesbezüglich den Irrationalismusvorwurf an, das heißt, der jeweilige Gegner oder Zweifler an der Wahrheit und Richtigkeit der Aussagen (oder Bilder) kann einfach behaupten, „er sehe es nicht, oder er sehe anderes.“260 Produzieren die radiologischen Bilder der Computer- und Magnetresonanztomografie also im Rahmen dieser bildwissenschaftlichen Theorien Evidenz, kommt dem radiologischen Befundbericht die Manifestation des Wahrheitsanspruchs zu, wenn ich mich auf die Kategorialisierung von Dieter Mersch und die Überlegungen von Claus Zittel beziehe. Letzterer verweist auf die Verbindung von Evidenzpostulaten bezüglich der Bilder in wissenschaftlichen Texten mit Argumentationen oder Überzeugungsverfahren.261 Mersch betont, dass die wissenschaftliche Auslegung des Bildes eines ‚zureichenden Grundes‘ bedarf, was ein genuines Textverfahren aufruft: „Das Bild beglaubigt sich allein durch den Text, und Evidenz existiert nur, wo Gründe gegeben sind, die sie als solche rechtfertigen.“262 Beide zusammen dienen der Sinnkonstituierung und Bedeutungszuschreibung der Untersuchungsergebnisse, die dann am Ende der radiologischen Befundung und zum Schluss des Berichts zur Formulierung einer Diagnose beziehungsweise Differenzialdiagnose führen – die weiter bezogen auf die Theorie nach Mersch essentiell auf der Logik der Zahl beruht. Radiologische Bildergebnisse zeichnen sich wie alle Bilder durch eine prinzipielle Deutungsoffenheit aus und erfordern vor dem Hintergrund des disziplinären Selbstverständnisses einen Interpretationsprozess, in welchem ihnen eine bestimmte Bedeutung zugeschrieben wird. Doch wie im anschließenden und letzten Schritt zu Diagnose und Differenzialdiagnose zu zeigen, ist eben diese Bedeutungszuschreibung die Crux der medizinischen Bildbetrachtung. Hans-Peter Heilmann formuliert 1981, dass der Röntgenbefund nicht Selbstzweck, sondern wichtiger Baustein der Diagnose ist. Dabei können Röntgenbefund und Diagnose unterschiedlich und auf ganzer Bandbreite zwischen null Prozent (der Ausschluss einer Diagnose durch einen Röntgenbefund) bis 100 Prozent
259 Vgl. D. Mersch: Blick und Entzug, S. 65. 260 C. Zittel: Theatrum philosophicum, S. 239. 261 Vgl. ebd. 262 D. Mersch: Das Bild als Argument, S. 327.
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(eindeutige Übereinstimmung von Röntgenbefund und Diagnose) korrelieren. 263 Wichtig sind allerdings die Übergänge zwischen beiden Extremen, wie Heilmann formuliert: „Die Mehrzahl aller Röntgenbefunde entspricht nicht einer unzweifelhaften Diagnose, sondern einem Spektrum mehrerer Möglichkeiten mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit.“264 Diagnose und Differenzialdiagnose als Ergebnis der radiologischen Bildrezeption sind daher abschließend als weiterer Versuch der Mediziner zu betrachten, durch mathematische Grundlagen der Statistik die Komplexität und Mehrdeutigkeit des Bildmaterials zu reduzieren. 6.2.3 Radiologische Komplexitätsreduktion durch Wahrscheinlichkeitsanalysen: Diagnose und Differenzialdiagnose Die Diagnose gilt als letzter Schritt der radiologischen Befundung und wird somit zum Abschluss der Rezeptionsanalyse angeführt; sie ist in direktem Bezug zur Differenzialdiagnose zu sehen, die in der vorliegenden Untersuchung schon mehrfach als Möglichkeit der medizinischen Komplexitätsreduktion der Bildinterpretationen angesprochen wurde und wie folgt in radiologischer Fachliteratur angeführt wird: „Diagnose: Das Ziel der radiologischen Untersuchung und Beurteilung ist es, die endgültige Diagnose zu stellen und die Fragen des überweisenden Arztes zu beantworten. Oft gelingt dies nur unter Zuhilfenahme klinischer Daten. Gar nicht so selten muss man sich sogar damit begnügen, einige nach ihrer Wahrscheinlichkeit gereihte Differenzialdiagnosen als abschließende Beurteilung der radiologischen Untersuchung abzugeben.“ 265
Die Radiologie als Subdisziplin ordnet sich im Gesamtbild der Medizin deren zentraler Aufgabe der Diagnostik unter. Der Begriff Diagnose stammt aus dem Griechischen: diágnōsis (διάγνωσις) bezeichnet explizit eine unterscheidende Beurteilung, ein ‚Dazwischen-Wissen‘ – wie beispielsweise ein Wissen aus der Differenz resultierender Erkenntnisse – und ist der Medizin seit ihrer Entstehung in der Antike inhärent.266 Grundlegend ist unter der Diagnose die Benennung und Klassifizierung der Krankheit zu verstehen, unter der der jeweilige Patient leidet,
263 Vgl. H.-P. Heilmann: Der Röntgenbefund, S. 221f. 264 Ebd., S. 222. 265 S. Lange: Radiologische Diagnostik, S. 1. 266 Vgl. F. Stahnisch: Nosologie der Dritten Dimension, S. 147.
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und die über verschiedene Untersuchungsergebnisse erkannt wird. Dabei betonen die Radiologen, dass jede Diagnose letztlich eine Differenzialdiagnose ist, insofern einzelne Symptome immer wieder neu bewertet, abgewogen und differenziert werden müssen und eine eindeutige Diagnose selten zu stellen ist. 2014 hebt der Radiologe Günter Klaß einen Zusammenhang zwischen Differenzialdiagnose und Bild hervor, der aus Perspektive der vorliegenden Untersuchung entscheidend ist: „Die Differentialdiagnose entspricht […] der Potentialität des Bildes. Reduzierung der Potentialität, Verringerung der Differentialdiagnosen und die möglichst exakte Festlegung auf ein Krankheitsbild sind das Ziel des diagnostischen Prozesses.“267 Gerade in der Einführungsphase der Computertomografie in den 1970er Jahren betont die Disziplin in den Fachzeitschriften, dass sich der Radiologe um das Erlangen „einer möglichst eindeutigen Diagnose“268 bemüht, im Großteil aller radiologischen Erhebungen aber nicht zu dieser Diagnose gelangt, „sondern sich mit der Schilderung von Befunden begnügen muß.“269 Eine Differenzialdiagnose hat nun aufzuzeigen, „welche Krankheiten bei bestimmten Symptomen vorkommen können und welche Risikofaktoren mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit mit bestimmten Krankheiten einhergehen.“ 270 Die Symptome spielen hier eine Schlüsselrolle, insofern darunter in der Radiologie (wie in der Medizin allgemein) die „Bausteine einer Krankheitsdefinition“271 verstanden werden. Das medizinische Spektrum der Symptome oder Krankheitszeichen „reicht von Symptomen durch Eigenbeobachtung oder Beschwerden des Patienten über Symptome, die vom Arzt bei unmittelbarer Untersuchung festgestellt werden, bis zu den Symptomen, die das Ergebnis klinisch-chemischer und physikalischer Untersuchungen, bildgebender und endoskopischer Verfahren und der histologischen Untersuchung von Gewebsproben sind.“272
267 G. Klaß: Röntgen – Bilder – Welten, S. 301f. 268 Olsson, Olle: „Planung einer röntgendiagnostischen Abteilung“, in: Der Radiologe 10/5 (1970), S. 167-180, hier S. 167. 269 H. Anacker: Konzept einer EDV, S. 263. 270 E. Battegay u. a.: Allgemeine Aspekte zur Diagnose, S. 35. 271 Gerok, Wolfgang u. a.: „Grundlagen der Inneren Medizin“, in: ders./C. Huber/T. Meinertz (Hg.), Die Innere Medizin (2007), S. 3-20, hier S. 7. 272 Ebd.
Bildrezeption | 277
Das medizinische Dazwischen-Wissen ist hier gefragt, um den aus medizinischen Untersuchungen hervorgehenden Symptomen oder Krankheitszeichen die Krankheit mit der höchsten Wahrscheinlichkeit zuzuordnen, was letztlich die Interpretationsarbeit der Mediziner hervorhebt. Zugleich wird deutlich, dass für die Diagnosestellung eine Kontextualisierung der jeweiligen Ergebnisse notwendig ist: In den Zitaten berufen sich die radiologischen Vertreter nicht allein auf die aus den Bildern hervorgehenden Symptome oder daraus zu folgernde diagnostische Schlüsse, sondern beziehen klinische Daten und Symptome aus anderen Untersuchungsvorgängen mit ein.273 Da sich die Radiologie als Dienstleistungsbetrieb versteht und im arbeitsteiligen Prozess der Modernen Medizin für die bildgebenden Untersuchungen des Patienten verantwortlich ist, deren Ziele das Erkennen und Lokalisieren von relevanten Erkrankungen beziehungsweise der Ausschluss wesentlicher Befunde darstellen,274 handelt es sich bei den Leistungen der Radiologie um einen Bestandteil des gesamten medizinischen Diagnoseprozesses. Die hier betrachteten apparativen Verfahren Computer- und Magnetresonanztomografie stellen mit den anderen bildgebenden Modalitäten der Radiologie eine der vier entscheidenden Säulen im praktischen Vorgehen der medizinischen Diagnose dar; die anderen drei bestehen in der Anamnese, dem körperlichen Untersuchungsbefund und den chemischen und biologischen Labordaten. Aus der Perspektive der Mediziner liegt der Vorteil des gesamten diagnostischen Prozedere darin begründet, dass mittels Anamnese und klinischer Untersuchung die Anzahl möglicher Diagnosen bei einer unklaren Krankheitssituation auf circa ein Viertel reduziert werden kann, und auch die physikalischen, chemischen, morphologischen und biologischen Zusatzuntersuchungen (wie die radiologische Bildgebung) die weitere Eingrenzung auf die wahrscheinlichste Diagnose erlauben.275 Bettet sich die Radiologie in den übergreifenden Rahmen der Modernen Medizin ein, so ist im Verlauf der Patientenbehandlung darauf hinzuweisen, dass mit der Diagnose, also der Spezifizierung einer bestimmten Krankheit, der anschließende Vorschlag einer Therapie verbunden ist. Dieses Vorgehen orientiert sich nicht an einem allgemeinen Krankheitsbegriff, da Arzt und Patient zumeist pragmatisch am Nachweis oder Ausschluss einer bestimmten Krankheit im konkreten Einzelfall interessiert sind. Letztlich lassen sich die Definitionen von Krankheit in der Medizin zwei Gruppen zuordnen, wobei die erste Gruppe durch die Abweichung biologischer Strukturen und Funktionen von einer statistisch definierten
273 Vgl. M. Elke/U. Wiggli/R. Huenig: Praktische Gesichtspunkte zur Diagnose, S. 157. 274 Vgl. J. Oestmann: Radiologie, S. 1; und vgl. F. Mettler: Klinische Radiologie, S. 1. 275 Vgl. E. Battegay u. a.: Allgemeine Aspekte zur Diagnose, S. 36.
278 | Bilder ohne Bildlichkeit?
Norm gekennzeichnet ist, während die zweite Gruppe als ein vom Patienten beschriebener und somit subjektiver Prozess verstanden wird. Dementsprechend gilt erstere als objektiv, insofern sie auf klar beschreibbaren und teilweise messbaren Kriterien beruht und bei der Anwendung auf verschiedene Personen vergleichbar ist. Eine Schwierigkeit allerdings stellt die Bestimmung der Normabweichung dar, die nur statistisch festgelegt werden kann.276 Die Grundlagen der Statistik sind für die Entwicklung der Modernen Medizin (vgl. Kap. 3) ausschlaggebend und zeigen sich gleichzeitig als inhärente Schwierigkeit eindeutiger Krankheitsaussagen, was den Radiologen als Problem bewusst ist. Dabei reflektiert die Disziplin nicht ihr Untersuchungsmaterial, also ihre Bilder, als Ursprung dieser Unsicherheiten und Uneindeutigkeiten, sondern verlegt die Problematik in die Opposition von objektiven, wissenschaftlichen Fakten und subjektiver, intuitiver menschlicher Vorgehensweise und Wahrnehmung. Historisch betrachtet zeigt sich eine Steigerung mathematischer Verfahren in der Entwicklung der klinischen Entscheidungsanalyse in den 1970er Jahren, die aus mathematischen Ansätzen für Entscheidungsprobleme hervorging, wie sie vom Militär nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt worden waren. Die auf den Grundlagen von Leonard Savage und Howard Raiffa entwickelten Methoden vermischten Bayesische Statistik mit ökonomischer Nützlichkeitstheorie, womit gleichzeitig eine Ökonomisierung der Medizin unter dem Stichwort Kosten-Nutzen-Analyse stattfand. Der Sozialwissenschaftler Marc Berg, der sich in seiner Untersuchung von 1997 intensiv mit der Einführung rationaler Werkzeuge in die Medizin beschäftigt, fasst zusammen, dass derartige Entwicklungen die Entscheidungen und Handlungen der Mediziner als quantitative Operationen ansehen, die dementsprechend auch vom Computer als auf derartige Prozesse spezialisierte Maschine übernommen werden können.277 Dementsprechend ist parallel in den 1970er Jahren der Versuch zu beobachten, bayesianische und regelbasierte Systeme über den Computer in die Medizin und Radiologie einzuführen, wobei sich diese digitale Revolution als ein schleichender Prozess entpuppt und bis heute nur wenige dieser Systeme erfolgreich installiert werden konnten.278 Diese Entwicklung lässt sich bis zu heutigen Forschungsansätzen nachvollziehen, wie beispielsweise der Informatiker Danny Ammon 2014 in seiner Dissertation Intelligente elektronische Patientenakten wissensbasierte Systeme zur Unterstützung medizinischer Dokumentationsprozesse einsetzt. Unter wissensbasierten Systemen sind Programme und Software zu verstehen, „welche medizinisches
276 Vgl. W. Gerok u. a.: Grundlagen der Inneren Medizin, S. 4f. 277 Vgl. M. Berg: Rationalizing Medical Work, S. 46. 278 Vgl. ebd., S. 155.
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Wissen mit den Methoden der Wissensmodellierung und Wissensrepräsentation speichern und anwenden können.“279 Dabei problematisiert Ammon die Überführung des medizinischen Wissens in Algorithmen und Software, die Kalkül und Berechnung unterliegen, insofern dieses Wissen – wie die Medizin selbst – eine Zweiteilung aufweist: Auf der einen Seite findet sich intersubjektiv-fachspezifisches, durch naturwissenschaftliche Verfahren entwickeltes Wissen, das allgemeine Gültigkeit beansprucht. Auf der anderen Seite sind medizinische Handlungen auf ein Einzelsubjekt ausgerichtet und erfordern patientenspezifisches Erfahrungswissen.280 Die Psychiaterin Ulrike Hoffmann-Richter hält diesbezüglich 2005 und in Bezug auf den Arzt und Philosophen Wolfgang Wieland 281 fest, dass die medizinische Diagnose keine allgemeine, sondern eine positive Singuläraussage ist: „Das bedeutet, dass die Diagnose nicht Resultat einer naturwissenschaftlichen (oder psychologischen oder sozialwissenschaftlichen) Erkenntnisleistung ist. Wissenschaftliche Erkenntnis zielt auf das Erkennen von Regelmäßigkeiten, auf die Beschreibung von Gesetzen; Diagnostik aber ist auf die Klärung eines individuellen Sachverhalts aus. Dieser dient nicht als Beispiel für eine allgemeine Regel, sondern dem betreffenden Menschen.“ 282
Die Zweiteilung zwischen fachspezifischem und Erfahrungswissen oder zwischen dem Allgemeinen und dem Singulären erzeugt ein nach Danny Ammon für die Informatik zu berücksichtigendes unsicheres Wissen: „Die Unsicherheit separiert Lehrbuchwissen und Behandlungspraxis beziehungsweise schaltet stochastische Verfahren vor die direkte Anwendung der medizinischen Lehre. […] Die Tatsache, dass klinische Praxis nicht lediglich die Anwendung medizinischen Wissens ist, führt zur Konsequenz, dass es niemals einen vollständigen Formalismus für die diagnostische Methode und keine umfassende medizinische Methodologie geben kann.“ 283
279 D. Ammon: Intelligente elektronische Patientenakte, S. 2. 280 Vgl. ebd., S. 19f. 281 1975 hat Wolfgang Wieland seine wegweisende Untersuchung vorgelegt, auf die sich seither Forschende zur medizinischen Diagnose beziehen. Vgl. Wieland, Wolfgang: Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie, Berlin 1975. 282 U. Hoffmann-Richter: Die psychiatrische Begutachtung, S. 74. 283 D. Ammon: Intelligente elektronische Patientenakte, S. 20.
280 | Bilder ohne Bildlichkeit?
In der vorliegenden Untersuchung ist für die Radiologie vermehrt auf die Opposition zwischen objektivem und subjektivem Wissen verwiesen worden. Die Disziplin greift diese auf, um beispielsweise ihr Scheitern bei eindeutigen Aussagen zu begründen. Die fachspezifischen Begrifflichkeiten der Forschung verweisen dabei letztlich auf dasselbe, ob aus der Medizin das Erfahrungswissen betont wird, die Sozialwissenschaften vom tacit knowledge sprechen oder in Informatik und Wirtschaftswissenschaften weiche Daten hervorgehoben werden: Die Medizin hat in ihrem Selbstverständnis als moderne Wissenschaft den eigenen Status als handlungs- und erfahrungsbasierte Wissenschaft zu reflektieren. Aus bildwissenschaftlicher Perspektive unterstreicht diese Ausgangslage der Disziplin die immer wieder aufgegriffenen Erklärungsansätze, warum in der Radiologie keine eindeutigen Aussagen bezüglich der bildlichen Untersuchungsergebnisse möglich sind. Grundlegend scheitert die medizinische Wissenschaft an dem Versuch, den menschlichen Körper nach naturwissenschaftlichem Ideal in Maß und Zahl und nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten festzuhalten. Sie hat immer wieder mit einem lebendigen und individuellen Organismus zu tun, der derartigen Standardisieren und Normieren entgegensteht. Wird dieser Körper, wie in der Radiologie, nicht direkt als Untersuchungsobjekt herangezogen, sondern über das Medium Bild vermittelt zugänglich, erweitert sich die Problematik um die spezifische Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit des Bildes: Zwar lässt sich der jeweilige menschliche Körper als Referenz der Bilder ausweisen, insofern sich die Technik der Bildgebung in die eigene, medizinische Theorie einfügt und biophysikalische Messwerte in digitale Repräsentationen überführt. Doch aufgrund dieser Bilder eindeutige Aussagen zum Referenten zu treffen, stellt sich als unmöglich heraus: Zu der erwähnten Unsicherheit bezüglich des medizinischen Wissens über den menschlichen Körper tritt das komplexe Wechselverhältnis von menschlicher Wahrnehmung, Bild und Bildreferenz. Der letzte Schritt der Rezeption radiologischen Bildmaterials, die erhoffte Diagnose als Ausgangspunkt der Therapie für den individuellen Patienten, offenbart zum Ende der Untersuchung die in den sogenannten Bildwissenschaften thematisierte Schwierigkeit der (Darstellungs-)Medien und ihrer Logiken. Das Bild ist letztlich kein Abbild des menschlichen Körpers, sondern entwickelt eine eigene Präsenz und somit ein Körperbild eigener Seinsweise, das mühsam mit dem zugrunde gelegten Referenten in Beziehung zu setzen ist.
7
Zusammenfassung und Ausblick
Gegenstand der vorliegenden Arbeit waren computer- und magnetresonanztomografische Bilder der deutschsprachigen Radiologie. Zur Annäherung an die Geschichte der Radiologie als medizinische Bildspezialisierung und an die jeweiligen Produktions- und Rezeptionsprozesse radiologischer Bilder wurde ein hermeneutisch-phänomenologischer Begriff von Bildlichkeit herangezogen, der Bildlichkeit als charakteristische Eigenschaft von Bildern benennt. Bildlichkeit ist demnach durch Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund wurden computer- und magnetresonanztomografische Bilder der Radiologie hermeneutisch, funktionsgeschichtlich und darstellungslogisch untersucht, um den radiologischen Bildumgang aufzuzeigen und – der These der spezifischen Bildlichkeit von Bildern folgend – zu belegen, dass die medizinische Disziplin mit dem Einsatz von Bildern vor einer Herausforderung steht: Statt die Bildlichkeit der Bilder aufzugreifen und für ihre Arbeit fruchtbar zu machen, offenbart sich in der Analyse der Institutions- und Wissenschaftsgeschichte sowie der Produktions- und Rezeptionsprozesse der Radiologie der Versuch, die Bildlichkeit der Bilder durch verschiedene Strategien zu reduzieren oder gar zu negieren. Bildgebende Verfahren und ihre Ergebnisse führen in der Radiologie zu dem Paradox, über mehrdeutige und unbestimmte Bilder eindeutige Aussagen im Sinne von medizinischen Diagnosen zu individuellen menschlichen Körpern treffen zu wollen. Am Ende des radiologischen Diagnoseprozesses stehen jedoch zumeist die Differenzialdiagnose und nach Wahrscheinlichkeit gereihte Bildinterpretationen. Die Annäherung an den Gegenstand der Arbeit erfolgte über zwei Zugänge: Einerseits eine diskursanalytische, institutions- und wissenschaftsgeschichtliche Aufarbeitung der Radiologie als medizinischer Bildspezialisierung seit der Einführung der Röntgentechnik Ende des 19. Jahrhunderts bis heute, andererseits eine synchrone Analyse der Produktions- und Rezeptionsprozesse computer- und mag-
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netresonanztomografischer Hirn- und Schädelbilder nach aktuellen radiologischen Standards. Dabei wurde bedacht, wie etwas ins Bild kommt, also wie der menschliche Körper seine Darstellung findet, und wie in der Radiologie mit den Bildern umgegangen wird, welche Funktionen ihnen im Arbeitsalltag zukommen. Im Folgenden werden die wichtigsten Erkenntnisse der Kapitel zusammengefasst und vorgestellt. Kapitel drei beschäftigte sich mit der Institutions- und Wissenschaftsgeschichte der Radiologie seit Einführung der Röntgentechnik Ende des 19. Jahrhunderts bis zum verstärkten Einsatz der Computertechnik in den 1950er und 1960er Jahren. Für die radiologische Perspektive auf die bildgebenden Verfahren wurde das Wissenschaftsverständnis im Rahmen der Entwicklung der Modernen Medizin begründet, welches sich verstärkt naturwissenschaftlichen und mathematischen Annahmen verschrieb. Der messbare Patient oder der Durchschnittskörper sind darin enthaltene Aspekte, die auf die Bedeutung numerischer und berechnender Verfahren verweisen; zugleich erfolgte deren Darstellung bildlich. Dieses Wissenschaftsverständnis ist prägend für den Umgang mit Bildern, insofern darin eingebettet die Divergenz von subjektiv und objektiv leitend für die Einordnung der Bilder als vertrauensvolle Werkzeuge der Disziplin war und ist. Der Zwiespalt von Medizin und Radiologie offenbarte sich in der einerseits erfahrungsgeleiteten Arbeit, die andererseits objektive, naturwissenschaftliche Standards der Reproduzierbarkeit, Vergleichbarkeit und Berechenbarkeit erfüllen muss. Nachdem schon in der Röntgentechnik Anfang des 20. Jahrhunderts festgestellt wurde, dass Bilder des menschlichen Körpers keineswegs zu eindeutigen Aussagen über den jeweiligen gesundheitlichen Zustand dieses Körpers führten, etablierte die damalige Disziplin bildliches Wissen über Archive und Atlanten mit Anweisungen zum richtigen Produzieren und Rezipieren der Bildergebnisse. Mit der seriellen Dokumentation der Bilder und der Klärung der Medientechnik eignete sich die Röntgenologie dieselben nicht nur als Werkzeuge an, sondern professionalisierte sich zudem innerhalb der Medizin als eigenständige Disziplin und Spezialisierung. Dabei diente die Entwicklung von (Bilder-)Serien der vorliegenden Untersuchung als erstes Vergleichsmoment von Radiologie, Kunst und Kunstgeschichte, da sich die Serie in allen drei Kontexten als mögliche Bildstrategie nachweisen lässt. Zugleich offenbart die Serie die Unterschiede eines (natur-)wissenschaftlich oder künstlerisch ausgerichteten Erkenntnisinteresses durch und über Bilder: Während in der Radiologie die Serie den Bildgegenstand sichtbar und entzifferbar machen soll, experimentiert die Kunst unter anderem damit, um Seh- und Wahrnehmungsbedingungen zu befragen. Mit der Berücksichtigung der Entwicklung der Tomografie in den 1920er und 1930er Jahren und der damit einhergehenden radiologischen Arbeit am Bild
Zusammenfassung und Ausblick | 283
gleicht die vorliegende Studie ein bisher herrschendes Forschungsdefizit bezüglich der bildgebenden Verfahren und ihrer Bewertung für die Radiologie aus. In medizingeschichtlichen wie sozial- und bildwissenschaftlichen Ansätzen wird die Computertomografie als revolutionärer Einschnitt in die Seh- und Bildkonventionen der Radiologie bewertet, da sie die Darstellung des menschlichen Körpers in axialen Schicht- beziehungsweise Schnittbildern erlaubte. Diese Möglichkeit war allerdings schon mit den ersten tomografischen Verfahren in den 1930er Jahren gegeben, wie die hier vertretene Perspektive aufgearbeitet hat. Die eklatante Veränderung durch die Computertomografie betraf vielmehr den Einsatz der Computertechnik und die Wandlung des Bildes von einem konstruierten hin zu einem konstruierten und berechneten Bild. Um diese Veränderung angemessen in der geschichtlichen Entwicklung vorzubereiten, widmete sich die vorliegende Studie dem Einsatz des Computers in der Radiologie zeitlich vor dessen Verbindung mit den bildgebenden Verfahren in den 1960er und 1970er Jahren; so ließ sich zeigen, dass seit den 1930er Jahren der Computer ebenfalls ein Werkzeug der Medizin darstellte, um Patientendaten in der veränderten Struktur des Gesundheitssystems (Kliniken, Patientenakten etc.) handhabbar zu machen. Im Rahmen des angesprochenen Wissenschaftsverständnisses kommt dem Computer die Rolle eines vertrauensvollen, da auf diskreten Zahlen, Berechnungen und Algorithmen basierenden Werkzeugs zu: Auswertungen von Daten konnten nach diesem Verständnis objektiv – und nicht subjektiv abhängig von der jeweils auswertenden Person – vorgenommen werden. An dieser Stelle berücksichtigte die vorliegende kunst- und bildwissenschaftliche Arbeit insbesondere die Ergebnisse aus den Wissenschafts- und Technikforschungen, die sich intensiv mit (zum Teil technisch begründeten) Objektivitätsidealen in den Wissenschaften auseinandersetzen. Vor allem die mechanische Objektivität nach Lorraine Daston1 spielt in diese Prozesse ein. Dass Bilder aber eben nicht dem genannten Ideal entsprechen und objektiv-wahre, eindeutige Aussagen liefern, wurde als Widerspruch belegt. Statt mit der Einführung des Computers die Probleme der bildlichen Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit bezwungen zu haben, traf die Radiologie im Schulterschluss mit der Informatik auf die Bildlichkeit der computergenerierten Ergebnisse. Daher wurde anschließend die Medizinische Informatik als zweite Bildkultur für die vorliegende Untersuchung vorgestellt. Röntgenologie und spätere Radiologie konnten nicht selbstständig die Einführung der Computertomografie vorbereiten, sondern brauchten die Unterstützung weiterer Disziplinen wie der Ingenieurswissenschaften und der Informatik mit ihrer jeweiligen technischen Expertise.
1
Vgl. L. Daston: Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität, S. 153.
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Diskursanalytisch ließ sich der Einfluss der Informatik auf die Bewertung der bildgebenden Verfahren aufweisen, der ebenfalls Auswirkungen auf das herrschende radiologische Bildverständnis hatte: Das angesprochene Objektivitätsideal wurde noch verstärkt, indem der Computer als auswertendes und später sogar bildgenerierendes Werkzeug eingeführt wurde, das sich unabhängig von den ausführenden Personen nach allgemeingültigen Schrittfolgen und Handlungen richtet. Die sich offenbarenden Ungereimtheiten bei der Implementierung der Computer mit ihrer Hard- und Software im radiologischen Alltag ließen sich auf den genannten Widerspruch zurückführen: Der Computer stellte sich eben nicht als Hilfsmittel heraus, das eine eindeutigere Interpretierbarkeit der mittlerweile durch ihn produzierten Bilder möglich machte. Vielmehr forderte der Computereinsatz die Ärzte als (subjektive) Interpretanten der Bilder ein. Auf den Herleitungen des Wissenschaftsverständnisses mit besagtem Objektivitätsideal und der tomografischen Verfahren aufbauend, widmete sich Kapitel vier den Einführungen der Computertomografie in den 1970er Jahren sowie der Magnetresonanztomografie in den 1980er Jahren und ihren technischen Entwicklungen sowie radiologischen Verhandlungen bis heute. Für die weitere Analyse in Bezug auf Produktion und Rezeption der computer- und magnetresonanztomografischen Bilder war es in diesem Teil der vorliegenden Studie wichtig, die Darstellungslogik beider Verfahren nachzuvollziehen. Somit wurden technische Funktionsweisen sowie bildkulturelle Standardisierungen betrachtet und die Grundlagen hergeleitet, auf deren Basis Radiologen die erzeugten Bilder mit dem einer Untersuchung zugrunde liegenden menschlichen Körper in Bezug setzen. Auf diese Weise wurden Bildverständnis und Bildtheorie der Radiologie rekonstruiert und offengelegt: Die Transformation von biophysikalischen und -chemischen Messwerten in Grauwerte der computer- und magnetresonanztomografischen Bilder ist ausschlaggebend, um radiologische Bilddeutungen nachzuvollziehen. Das Vertrauen in numerische Werte und Berechnungen setzte sich in diesem Zusammenhang fort, wie für beide Verfahren gezeigt wurde. Allerdings ließ sich durch die diskursanalytische Aufarbeitung ebenfalls darlegen, dass Computer- und Magnetresonanztomografie nicht die euphorischen Hoffnungen der Radiologie erfüllten: Statt den menschlichen Körper und seine gesundheitlichen Zustände aufzuklären oder entschlüsselbar zu machen, führten beide Verfahren zu neuen Aushandlungen darüber, was in den jeweiligen Bildern eigentlich zu sehen ist und wie die Bilderscheinungen mit dem menschlichen Körper in Bezug zu setzen sind. Zur Etablierung griff die Disziplin auf bestehendes Wissen zurück, knüpfte an Fotografie und Röntgentechnik sowie anatomische Zeichnung an und festigte über Atlanten und Archive wiederum ein neues oder
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verändertes Bildwissen. Die vorliegende Arbeit dekonstruierte durch die detaillierte Analyse medizinhistorische Narrative, wie die Erfolgsgeschichten der bildgebenden Verfahren, indem sie die bis heute andauernden Aushandlungen in der Radiologie nachzeichnete: Statt die Röntgentechnik abzulösen, traten Computerund später Magnetresonanztomografie als weitere Verfahren für die diagnostische Arbeit hinzu. Unsicherheiten bezüglich der jeweiligen Darstellungen verwiesen in der Untersuchung ebenso wie statistische Angaben des Gesundheitssystems darauf, dass die Röntgentechnik weitaus häufiger eingesetzt wurde und wird als Computer- oder Magnetresonanztomografie. Insbesondere letztgenanntes Verfahren bereitet der Radiologie enorme Schwierigkeiten, da im Gegensatz zu Röntgentechnik und Computertomografie noch immer nicht standardisiert werden konnte, welche Messwerte zu welchen Grauwerten in magnetresonanztomografischen Bildern führen. Das wichtige Ergebnis der vorliegenden Studie ist, dass nicht nur die immer weiterführenden technischen Entwicklungen oder die Komplexität der Magnetresonanztomografie für diesen Umstand ausschlaggebend sind: Es sind die Bilder selbst, die durch ihre Bildlichkeit sowie Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit die Ansprüche der Radiologie herausfordern. Um diese Herausforderung zu belegen, widmeten sich das fünfte und sechste Kapitel den Bildern in Funktion und analysierten die Produktions- und Rezeptionsprozesse der deutschsprachigen Radiologie. Das fünfte Kapitel begann zunächst mit einer Übersicht der radiologischen Produktions- und Rezeptionsschritte zu diagnostischen Bildern. Insofern beide Prozesse ineinandergreifen und nur analytisch zu trennen sind, legte die vorliegende Arbeit besonderen Wert auf eine klare Gliederung derselben. Sie zog daher die Informatik als zweite Bildkultur heran, die in ihrer Zusammenarbeit mit der Radiologie auf eine Trennung dieser Schritte angewiesen ist. Produktion und Rezeption der Bilder wurden im fünften und sechsten Kapitel außerdem anhand der Bilder des menschlichen Schädels oder Gehirns überprüft, die mir als Kunsthistorikerin einen Zugang aufgrund ihrer Identifizierbarkeit ermöglichten. Anhand radiologischer Protokolle untersuchte die vorliegende Studie komparativ, wie der menschliche Körper durch Computer- und Magnetresonanztomografie ins Bild gebracht wird. Die Aufarbeitung der technischen Details in Kapitel vier war notwendig, um die in der täglichen Arbeit ablaufenden Prozesse zu verstehen und das Verhältnis von Bildproduzenten, Bild und Bildgegenstand einzuordnen. Die fünf Schritte der Bildproduktion verdeutlichten, wie der menschliche Körper letztlich in ein Objekt der Bildgebung verwandelt und den Bedingungen der Technik angepasst wird. Zeigte schon die historische Aufarbeitung, welche Herausforderungen der lebendige Körper an die radiologische Bildgebung stellte, so präsentierte die praktische Durchführung dessen Zurichtung im Hinblick auf
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die Verfahren: Kleidung und Schmuck oder Atmung und Blutfluss rufen Fehler in der Bildgebung hervor, die vermieden werden müssen. Daneben unterliegt die Produktion dem vorher in der Studie herausgearbeiteten Objektivitätsideal: Dokumentation und Nachbearbeitung sowie die Vollständigkeit der Untersuchung belegten, inwiefern bestimmte Standards eingehalten werden. Diese Schritte werden befolgt, so das Ergebnis der vorliegenden Studie, um die Bilder möglichst eindeutig zu machen, um also ihre Bildlichkeit zu reduzieren oder zu negieren. Der Widerspruch in der Radiologie kommt in den Handlungen der Akteure zum Vorschein: Insbesondere die medizinisch-technischen Assistenten bearbeiten die entstandenen Bilder im Hinblick auf den befundenden Radiologen und weichen dadurch von den Standards ab. Auf diese Weise vermischen sich kollektive Vereinbarungen und individuelle Vorlieben, die unterschiedlichen ästhetischen Aspekten genügen. Diese Vermischung wird jedoch im Kontext der Uneindeutigkeit von Interpretationen in der Radiologie nicht reflektiert und im Bildumgang nicht hinterfragt. Kapitel sechs widmete sich abschließend ebenfalls komparativ der Rezeption von computer- und magnetresonanztomografischen Schädel- und Hirndarstellungen. Wiederum wurde ein etabliertes Verfahren der radiologischen Disziplin, die sogenannte Befundung, herangezogen, um die Analyse schematisch zu gliedern. Die Aufteilung in Detektion, Diskussion und Deskription sowie Diagnose ermöglichte eine Bezugnahme auf kunst- und bildwissenschaftliche Vorgehensweisen und Handlungen mit Bildern. So konnte die Detektion als radiologische Bildwahrnehmung und -interpretation mit der Methode des Vergleichenden Sehens aufgegriffen und analysiert werden, während Diskussion und Deskription als radiologische Komplexitätsreduktion durch Versprachlichung in der Nähe zu Text-BildBeziehungen und der Ekphrasis stehen. Auf der Grundlage des Vergleichenden Sehens ließ sich die Verwandtschaft im Bildumgang von Radiologie und Kunstgeschichte aufgreifen, um gleichzeitig die eklatanten Unterschiede aufzuarbeiten: Während die Radiologie daran interessiert ist, durch den Vergleich die Differenzen der Medientechniken einzuebnen und den Blick auf den Bildgegenstand möglichst unbeeinflusst durch die jeweilige Darstellungslogik freizulegen, hat sich in der Kunstgeschichte der Moderne ein Interesse etabliert, die durch das Vergleichende Sehen herausgeforderte Betrachtungsweise von Bildern zu reflektieren und auf ihre Bedingungen hin zu befragen. Auf diese Weise rekonstruierte der für die vorliegende Studie eingenommene kunst- und bildwissenschaftliche Ansatz die theoretischen Grundlagen, die in der Radiologie und ihrem Bildhandeln prägend sind, in dieser Disziplin jedoch nicht thematisiert oder reflektiert werden. Darüber hinaus reflektiert die Studie das eigene Vorgehen und stellt es neben und nicht über den radiologischen Bildumgang.
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Auch die radiologische Komplexitätsreduktion der Bilder durch Versprachlichung und die damit offengelegte Text-Bild-Beziehung in der Radiologie ist als Ergebnis der vorliegenden Studie hervorzuheben. Dabei folgt der Einsatz der Sprache in der Radiologie dem aufgearbeiteten Objektivitätsideal: In der Wissenschaft gilt die Sprache als Wahrheitsträger und als Moment der Vergleichbarkeit, weshalb erst die versprachlichte Bildbeschreibung und der verschriftlichte Befund die Radiologie als Bestandteil einer wissenschaftlich vorgehenden Medizin ausweisen. Doch der kunst- und bildwissenschaftliche Ansatz arbeitete die Begründungen der Radiologie für die Versprachlichung auf und stellte sie in Bezug zur Text-Bild- und Ekphrasis-Forschung, um zu belegen, dass letztlich auch die Sprache keine Eindeutigkeit der mehrdeutigen und unbestimmten Bilder ermöglicht. Vielmehr ist für die Sprache als weiterer Kulturtechnik zu berücksichtigen, dass sie ebenfalls Mehrdeutigkeiten und Unbestimmtheiten aufweist. Somit zeigte sich, dass nicht nur die Bestrebungen der Radiologie über eine systematische Herangehensweise an die Bilder und ihre Bedeutungen, sondern gleichfalls der Ansatz einer sprachlichen Überführung nicht die erwünschte Eindeutigkeit bringen. Im letzten und abschließenden Schritt griff die Studie die Wahrscheinlichkeitsanalysen im Kontext der radiologischen und medizinischen Diagnosestellung auf, die in der Disziplin wiederum zur Komplexitätsreduktion eingesetzt werden: Folgt das wissenschaftliche Ideal der Radiologie nicht nur dem Primat der Sprache, sondern ebenfalls dem im 20. Jahrhundert etablierten Primat der Zahl, begründete die Studie darüber sowohl den Vorzug digitaler Verfahren als auch die auf Berechnungen und Statistiken basierenden Bilddeutungen der Radiologie. Wird Bildern eine besondere Evidenz und Überzeugungsleistung zugesprochen, die über das Sehen aufgegriffen werden kann, so dient Sprache einem Wahrheitsanspruch und die Zahl der (rechnerischen) Richtigkeit. Die Untersuchung schloss daher mit der Trias dieser in der Radiologie eingesetzten Kulturtechniken ab, wobei diese Trias dort darauf ausgerichtet ist, die Bildlichkeit der Bilder, ihre Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit zu reduzieren oder zu negieren, um letztlich eine eindeutige Aussage im Rahmen medizinischer Diagnosestellung zu erlangen. Dieser Versuch scheitert, wie an den im radiologischen Alltag üblichen Differenzialdiagnosen belegt werden konnte: Statt zu eindeutigen Aussagen führen Bilder im Zusammenschluss mit Sprache und Zahl und im Kontext der Medizin zu verschiedenen möglichen (Bild-)Deutungen, in welchem gesundheitlichen Zustand sich der der bildgebenden Untersuchung zugrunde liegende Körper befindet. Zusammenfassend diente die vorliegende Studie nicht nur der Aufarbeitung des auf Bildern beruhenden Paradoxes der Radiologie: Am Anfang stand der Anspruch, wissenschaftliche und künstlerische Bilder nicht einem kunsthistorischen Bildbegriff folgend in ein hierarchisches Verhältnis einzuordnen. Widersprochen
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wurde der Annahme, dass künstlerischen Bildern mehr Bildlichkeit und somit selbstverständlich ein höherer Wert in einer möglichen Bildgeschichte zukomme. In der Untersuchung stand zwar der technische Qualitätsbegriff von Radiologie und Informatik zur Bewertung der Bilder im Vordergrund, aber es konnte ebenfalls gezeigt werden, dass ästhetische Qualität eine Rolle spielt. Innerhalb der medizinischen Disziplin wird die Ästhetik der Bilder zwar nicht betont, doch für erkenntnistheoretische Forschungen in den Kunst- und Bildwissenschaften, die über die Ergebnisse der vorliegenden Studie hinausführen, wäre dieselbe notwendigerweise zu berücksichtigen. Explizit produktionsästhetische und künstlerische Verfahrensweisen greifen ein Spiel mit Betrachtern und deren Wahrnehmung auf, beispielsweise indem in der (Kunst-)Werkgestaltung ambiguitätserzeugende Faktoren eingesetzt werden.2 Dieter Mersch betont in diesem Zusammenhang, dass „das ästhetische Experiment der Moderne […] eine Unvorhersehbarkeit, keine naturgesetzliche Voraussage“3 verfolgt und damit Unbestimmtheit ebenso wie Unbestimmbarkeit betont. Doch statt vor diesem Hintergrund die ästhetische Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit nur künstlerischen Bildern zuzuschreiben, plädiert die vorliegende Studie dafür, sie genauso für radiologische (und andere wissenschaftliche) Bilder zu berücksichtigen. Radiologische Bilder verweisen eben nicht einfach auf einen Referenten, den ihrer Herstellung zugrunde liegenden menschlichen Körper, sondern weisen ein ‚ästhetisches Surplus‘, einen ‚ikonischen Eigenwert‘ auf.4 Es ließe sich vor diesem Hintergrund und über die vorliegende Studie hinausweisend weiterverfolgen, welche Unterschiede sich zwischen radiologischen und künstlerischen Bildern aufgrund ihrer besonderen Weise der Darstel-
2
Vgl. Krieger, Verena: „‚at war with the obivous‘ – Kulturen der Ambiguität. Historische, psychologische und ästhetische Dimensionen des Mehrdeutigen“, in: dies./Rachel Mader (Hg.), Ambiguität in der Kunst. Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 13-49, hier S. 24.
3
Mersch, Dieter: „Kunst als epistemische Praxis“, in: Elke Bippus (Hg.), Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens, Berlin 2009, S. 27-48, hier S. 43.
4
Vgl. Hensel, Thomas: „Kunstgeschichte/Kunstwissenschaft“, in: W. Bergande/Netzwerk Bildphilosophie (Hg.), Bild und Methode (2014), S. 187-193, hier S. 189; und vgl. Hensel, Thomas: „Kunstgeschichte“, in: S. Günzel/D. Mersch (Hg.), Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch (2014), S. 403-407, hier S. 404.
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lung ergeben, die allerdings in begrifflichen Beschreibungen notwendig ausgeblendet werden.5 Bilder müssten in ihrer Individualität und Besonderheit theoretisch erfasst werden, wobei radiologische Bilder ebenso zu berücksichtigen sind wie künstlerische (und andere) Bilder. Neben der Einschränkung, radiologische und künstlerische Bilder nicht aufgrund einer mehr oder weniger vorhandenen Bildlichkeit unterschiedlich stark zu bewerten und zu hierarchisieren, konnte ebenfalls gezeigt werden, dass die in der Einführung angesprochenen bildwissenschaftlichen Annahmen zu den sogenannten digitalen Bildern fehlerhaft sind: Digitale Bilder sind nicht aufgrund ihrer Seinsweise generell mit einem höheren Potential an Täuschung und Manipulation belegt und auf dieser Grundlage analogen Bildern unterzuordnen. Wäre diese Annahme für digitale Bilder im Allgemeinen richtig, so würde sich die Radiologie nicht verstärkt auf ihre computer- und magnetresonanztomografischen Untersuchungsergebnisse beziehen, die sich vorrangig durch ihre Digitalität auszeichnen. Diese Widerlegung des prekären Status’ digitaler Bilder könnte mit Überlegungen von Felix Stalder fortgeführt werden, der eine Kultur der Digitalität und eine Prägnanz des Digitalen annimmt. Grundlegend formuliert Stalder, dass Algorithmizität „menschliches Verstehen und Handeln in der auf digitale Technologien aufbauenden Kultur überhaupt erst möglich“6 macht. Diese Annahme wäre in der hermeneutischen Ausrichtung der vorliegenden Studie auszuweiten: Das hier aufgezeigte Vertrauen der Radiologie in ihre vorrangig durch digital arbeitende Verfahren produzierten Bilder wäre aufzugreifen, insofern durch die Digitalität eine Veränderung menschlicher Kultur eingetreten ist, die Auswirkungen auf unser Verstehen und Handeln hat. Als wichtiges Ergebnis ist für die Radiologie und ihr Bildhandeln festzuhalten, dass die Möglichkeiten des Digitalen das Verhältnis von Bild zu Wirklichkeit nicht prekärer gemacht haben als bei analogen Verfahren. Dementsprechend haben die digitalen Verfahren auch nicht die Vorstellung von definitiv abgebildeten Körpern beendet: Stattdessen werden Computer- und Magnetresonanztomografie in der Radiologie als Bildverfahren eingesetzt, die mehr Informationen zum menschlichen Körper und seinen Zuständen liefern als beispielsweise die Röntgentechnik als ehemals analogem Verfahren. Gerade die auf Zahlen und Berechnungen basierenden Grundlagen der digitalen Bildgebung unterstreichen ein die Radiologie prägendes Wissenschaftsverständnis, das dem Numerischen und Diskreten, eventuell auch dem Digitalen folgt.
5
Vgl. Esser, Andrea: Kunst als Symbol. Die Struktur ästhetischer Reflexion in Kants
6
Stalder, Felix: Kultur der Digitalität, Berlin 2016, S. 96.
Theorie des Schönen, München 1997, S. 56.
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Unterscheiden sich radiologische und künstlerische Bilder schlussendlich nur durch den jeweiligen Kontext, in dem sie eingesetzt werden? Die funktionsgeschichtliche und darstellungslogische Vorgehensweise der Untersuchung hat betont, dass radiologischen Bildern ebenso Bildlichkeit zukommt wie künstlerischen. Die zu Anfang der Arbeit aufgegriffenen Bilder ohne Bildlichkeit wurden widerlegt und zugleich prägnant herausgearbeitet, wie intensiv die medizinische Disziplin an der Möglichkeit von Bildern ohne Bildlichkeit arbeitet. Im Vergleich mit künstlerischen Vorgehensweisen wären diesem Ergebnis in weiterer Forschung die explizite Betonung von Bildlichkeit sowie die über Darstellungs- und Präsentationsentscheidungen hervorgerufene Reflexion zu Bildlichkeit wie auch zum Sehen in der Kunst nachzuweisen. Erst eine derartige vergleichende Betrachtung im Rahmen bildwissenschaftlicher Ansätze, die keinen künstlerischen oder kunsthistorischen Bildbegriff an den Anfang setzen, eröffnet aus Perspektive der vorliegenden Ergebnisse die Möglichkeit, die jeweilige Darstellungsleistung zu prüfen und gegenüber der Funktion zu betonen. Insofern Radiologie und Kunst andere Erkenntnisinteressen vertreten, wenn sie Bilder einsetzen, ist zu vermuten, dass sich neben den Funktionen der Bilder auch die Darstellungen unterscheiden. Im vorliegenden Ausblick kann auf Werke der Künstlerinnen Mona Hatoum und Marilène Oliver verwiesen werden: Beide Künstlerinnen produzieren endoskopisches beziehungsweise magnetresonanztomografisches Bildmaterial, das keiner medizinischen Fragestellung unterliegt. 7 Sie sind nicht an der in dieser Studie für die Radiologie beschriebenen Kontrastschärfe oder Bildauflösung interessiert, sondern an verunklarenden Strukturen der Bilder sowie an auf Reflexion angelegten Präsentationsmodi. Es lassen sich weitere Beispiele heranziehen, die verdeutlichen, dass selbst ursprünglich für die Medizin hergestellte Bilder bei einer Präsentation im künstlerischen Kontext eine Veränderung erfahren: So hat Torsten Seidel für seine Installation Portrait of this mortal coil 2003 im Festspielhaus Dresden die dort in den 1980er Jahren erstellten medizinischen Röntgenaufnahmen bearbeitet und inszeniert.8 Sie dienten in dieser Installation nicht mehr medizinischen Blicken, sondern – wie Markus Buschhaus betont – einer gänzlich anderen Bildtradition: Die Bilder arbeiten damit an den
7
Vgl. dazu A. Lammers: Der medizinische Blick, mit Mona Hatoums: Corps étranger,
8
Vgl. Seidel, Torsten/Meyer, Friederike: „Röntgenportrait“, in: dies. (Hg.), Röntgenpor-
1994 und Marilène Olivers: Family Portrait, 2003. trait, Berlin 2005, S. 5-11, hier S. 6f.
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Grenzen zwischen Bildkulturen und entfalten darin ihre „spezifische, eben immer auch heuristische Funktion“9. Die vorliegende Studie hat einen hermeneutischen, kunst- und bildwissenschaftlichen Ansatz aufgegriffen, um nicht die Hoheit von künstlerischen Bildern und Werken als Ausgangspunkt für die Einordnung radiologischer Bilder heranzuziehen. Stattdessen hat sie ihre Fragen von den Gegenständen und Kontexten ausgehend entwickelt und in diesem Vorgehen Theorien und Begriffe des bildwissenschaftlichen Diskurses geprüft und hinterfragt. Wie die Kunsthistorikerin Christiane Kruse anfangs zitiert wurde, stellt die Bildwissenschaft keine neue Disziplin dar, sondern wurde hier als materielle wie methodisch-analytische Weiterentwicklung der Kunstgeschichte auf der Grundlage einer historischen und modernen Bildkultur – der deutschsprachigen Radiologie – verstanden. Eine derart materielle statt theoretische Bildwissenschaft fordert weitere Untersuchungen, um Bilder in ihrer Bildlichkeit inter- und transdisziplinär zu befragen, ohne sie von einem disziplinär bestimmten Bildbegriff ausgehend hierarchischen Ordnungen zu unterwerfen.
9
Buschhaus, Markus: „Re-Installationen: Portrait of this mortal coil & die Orte der Röntgenbilder“, in: T. Seidel/F. Meyer (Hg.), Röntgenportrait (2005), S. 79-89, hier S. 89.
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Abbildungsnachweis
Abb. 1: Mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Röntgen Gesellschaft. Abb. 2-5: Mit freundlicher Genehmigung des British Journal of Radiology. Tab. 1: Mit freundlicher Genehmigung des Verlages W. Kohlhammer.
Kunst- und Bildwissenschaft Artur R. Boelderl, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)
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Chris Goldie, Darcy White (eds.)
Northern Light Landscape, Photography and Evocations of the North
2018, 174 p., hardcover, numerous ill. 79,99 € (DE), 978-3-8376-3975-9 E-Book: 79,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3975-3
Julia Allerstorfer, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)
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