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German Pages 165 [168] Year 2013
Ingo Marthaler Bewusstes Leben
Kantstudien-Ergänzungshefte
im Auftrag der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Heiner F. Klemme
Band 176
Ingo Marthaler
Bewusstes Leben
Moral und Glück bei Immanuel Kant
DE GRUYTER
ISBN 978-3-11-033862-1 e-ISBN 978-3-11-033864-5 ISSN 0340-6059 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Für Adele
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2012/13 in leicht veränderter Fassung von der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Inaugural-Dissertation gleichen Titels angenommen. Ich danke meinem Doktorvater Prof. Dr. Walter Mesch für die umsichtige Betreuung und Prof. Dr. Walter Schmücker für die Anfertigung des Zweitgutachtens. Den Herausgebern Prof. Dr. Manfred Baum, Prof. Dr. Bernd Dörflinger und Prof. Dr. Heiner F. Klemme danke ich für die Aufnahme in die Reihe „Kant-Studien Ergänzungshefte“. Claudia Güstrau und Freda Fischer danke ich für die sorgfältige Korrektur des Textes. Darüber hinaus danke ich Martin Bunte für die Durchsicht des Manuskripts und wertvolle Hinweise. Ich danke auch allen anderen Freunden des wöchentlichen Kantkreises im Hause Bunte, die vielen Diskussionen werden mir eine der schönsten Erinnerungen meiner Studienzeit bleiben. Ganz herzlich danke ich Dr. Miriam Wildenauer, Antonio Gimenez, Guido Schmiemann, Dr. Detlef Thiel und Dr. Hans-Jörg Weber für viele Gespräche und Hilfe in allen Lebenslagen. Danken möchte ich ebenso meinen Eltern für ihre unermüdliche und großzügige Unterstützung. Ganz besonders dankbar bin ich für meinen Sohn Mario. Gewidmet ist die Arbeit Adele, der Frau meines Lebens.
Inhalt Einleitung
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. . .
Die Perspektive der Kritik der praktischen Vernunft 9 Die Struktur der Freiheit 17 Die Struktur des Glücks Kategorien der Freiheit 26
. .
Die Lehre vom höchsten Gut 38 Rezeption Metaphysik und Glück
. . .
63 Tugend und Glück Der Mensch als vernünftiges Naturwesen 65 Die Notwendigkeit von Zwecken, die zugleich Pflicht sind Die Systematik der Tugendlehre 77
. . . .
94 Das Glück im System der Tugenden Kultur der Moralität 97 Kultur aller Vermögen 106 121 Liebespflichten – physische Wohlfahrt 135 Achtungspflichten – moralisches Wohlsein
38 50
Schluss: Bewusstes Leben. Moral und Glück bei Kant 145
Siglenverzeichnis Bibliographie Sachregister
146 153
143
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Einleitung Die Frage nach dem guten Leben kam in den vergangenen Jahren vermehrt in den Blickpunkt der unterschiedlichsten Fächer.¹ Dabei lassen sich drei verschiedene Untersuchungsperspektiven unterscheiden. (1) Die empirisch orientierten Fächer Psychologie, Soziologie und Ökonomie untersuchen mit Hilfe statistischer Methoden die Häufigkeit, Ursachen und Einflussfaktoren des subjektiven Wohlbefindens.² Dabei wird aber – methodisch durchaus gerechtfertigt – der Glücksbegriff selbst nicht weiter hinterfragt und auf eine bestimmte Bedeutung festgelegt.³ Im Zentrum steht eine subjektivistische Auffassung des menschlichen Glücks, das sich in einem positiven Gefühlszustand ausdrückt und epistemisch exklusiv dem jeweiligen Subjekt erschließt. (2) Die Philosophie der Lebenskunst orientiert sich historisch an individualistischen Konzepten des Hellenismus⁴ und versucht, durch technische Anweisungen eine affektfreie Selbstgestaltung des Individuums zu erreichen. Dabei gerät die individualitätskompetente Lebenskunst überwiegend in eine Gegenüberstellung zur allgemeinheitszuständigen Moral.⁵ Sei es in Form einer heroischen Selbstgestaltung⁶ oder einer primären Sorge um sich selbst⁷, die Gegenüberstellung von Moral und Glück bleibt in der Lebenskunst ein ungelöstes Problem und verengt damit die Frage nach dem guten Leben einseitig auf einen klugen Umgang mit dem eigenen Glücksanspruch. (3) Die überwiegend an Aristoteles orientierte Rehabilitierung der praktischen Philosophie versucht darüber hinaus eine notwendige Verbindung von Moral und
Einen Überblick geben Steinfath, Holmer (Hg.): Was ist ein gutes Leben? Philosophische Reflexionen, Frankfurt am Main 1998; Fenner, Dagmar: Das gute Leben, Berlin 2007; Thomä, Dieter/ Henning, Christoph/Mitscherlich-Schönherr, Olivia (Hgg.): Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2011. Bruni, Luigino & Porta, Pier L. (Hgg.): Economics and Happiness. Framing the Analysis, Oxford 2005; Csikszentmihalyi, Mihaly: Flow. Das Geheimnis des Glücks, Stuttgart 142008; Diener, Ed (Hg.): The Science of Well-Being. The Collected Works of Ed Diener, Dordrecht 2009. Vgl. Bayertz, Kurt: Eine Wissenschaft vom Glück. Erster Teil: Was ist Glück? Zeitschrift für philosophische Forschung 64 (2010) 410 – 429. Hossenfelder, Malte: Antike Glückslehren. Quellen in deutscher Übersetzung, hrsg. mit einer Einleitung von Malte Hossenfelder, Stuttgart 1996; vgl. auch Horn, Christoph: Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern, München 1998; Fellmann, Ferdinand: Philosophie der Lebenskunst. Zur Einführung, Hamburg 2009, 40 ff. Kersting, Wolfgang & Langbehn, Claus (Hgg.): Kritik der Lebenskunst, Frankfurt am Main 2007, 13. Vgl. Schmid, Wilhelm: Uns selbst gestalten. Zur Philosophie der Lebenskunst bei Nietzsche, Nietzsche-Studien 21 (1992) 50 – 62. Foucault, Michel: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit Bd. 3, Frankfurt am Main 1989.
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Einleitung
Glück durch eine objektive Theorie des guten Lebens zu erreichen.⁸ Kant bildet dabei den entscheidenden Bezugspunkt. Nach gängiger Einschätzung verbannt Kant das Glück aus der Sphäre strenger Moralbegründung und wird gerade darin als paradigmatischer Gewährsmann einer modernen Ethikkonzeption dargestellt, die allgemeine Aussagen lediglich im Bereich moralischer Normen treffen kann, nicht aber in der Frage nach der individuellen Lebensführung. In der Folge dieser Subjektivierung des Glücksbegriffs verschiebt sich die Glücksforschung von der Philosophie hin zur empirischen Psychologie. Die Vermittlung von Moral und Glück bleibt vor diesem Hintergrund ein scheinbar unlösbares Problem, wenn sich philosophisch nicht nur nichts Allgemeines über das individuelle Glück aussagen lässt, sondern sich Moral und Glück sogar grundsätzlich zu widersprechen scheinen. In einer ersten Phase wurde deshalb eine vollständige Abkehr von Kant hin zu einer reinen Tugendethik verlangt⁹. Dieser folgten vielfältige Vergleiche von Aristoteles und Kant, weil diese die paradigmatischen Konzeptionen repräsentieren.¹⁰ Es stellt sich die Frage, ob unter den spezifischen Bedingungen der Moderne eine objektive Theorie des guten Lebens plausibel rekonstruiert werden kann. Denn immerhin wird in der Verbindung von Moral und Glück seit der Antike das höchste Gut (summum bonum) gesehen, welches den letzten Zielpunkt eines guten und gelingenden Lebens darstellt. Diese von der Kantinterpretation ausgehende Verkürzung der Ethik auf den Bereich moralischer Normen wurde ab der Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend als sehr unbefriedigend angesehen. Denn angesichts pluralistischer Lebenskonzepte und unüberschaubarer Möglichkeiten in der globalisierten und liberalisierten Welt, findet das jeweilige Individuum keine Orientierung mehr für ein Grundlegend war: Riedel, Manfred (Hg.): Rehabilitierung der praktischen Philosophie, 2. Bd., Freiburg 1972 ff. Dass ein gutes Leben im umfassenden Sinne nicht in einer Lebenstechnik aufgeht, zeigt unter Bezug auf Aristoteles Mesch, Walter: Praktische Philosophie als Lebenskunst? Überlegungen aus aristotelischer Sicht, Jahrbuch für politisches Denken, Berlin 2011, 181– 206. Vgl. auch Mesch, Walter (Hg.): Glück – Tugend – Zeit. Aristoteles über die Zeitstruktur des guten Lebens, Stuttgart 2013. Grundlegend waren MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt am Main 1995; Anscombe, G. Elizabeth M.: Moderne Moralphilosophie, in: G. Grevendorf & G. Meggle (Hgg.): Seminar: Sprache und Ethik. Zur Entwicklung der Metaethik, Frankfurt am Main 1974, 217– 243. Einen Überblick geben Bayertz, Kurt: Antike und Moderne Ethik. Das gute Leben, die Tugend und die Natur des Menschen in der neueren Diskussion, Zeitschrift für philosophische Forschung 59 (2005) 114– 132; Engstrom, Stephen & Whiting, Jennifer (Eds.): Aristotle, Kant and the Stoics. Rethinking Happiness and Duty, Cambridge 1996; Höffe, Otfried: Universalistische Ethik und Urteilskraft. Ein aristotelischer Blick auf Kant, Zeitschrift für philosophische Forschung 44 (1990) 537– 563; Krämer, Hans: Antike und moderne Ethik, Zeitschrift für Theologie und Kirche 80 (1983) 184– 203.
Einleitung
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glückliches und gutes Leben. Zwar sind die Ergebnisse der Psychologie im Einzelnen sehr erhellend und können gewisse Grundregeln aufweisen, aber die Einordnung des individuellen Glücksstrebens in ein umfassendes gutes Leben bleibt in dieser Perspektive ungeklärt. In der Kantforschung entstanden in diesem Zusammenhang zahlreiche Studien, die eine erweiterte Sicht auf Kant erschließen wollten, um auf die neue Problemlage und die Kritikpunkte der Gegner zu reagieren. Im Zentrum standen einzelne Perspektiven, wie etwa die Lehre vom höchsten Gut in der Dialektik¹¹, das Anwendungsproblem in Bezug auf die Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre (=Tugendlehre)¹², die Vermittlung von Natur und Freiheit in einer Ästhetik der Sitten¹³ oder der Glücksbegriff bei Kant¹⁴. Eine umfassende Studie zur Unterscheidung und Vermittlung von Moral und Glück in Kants Ethik steht aber nach wie vor aus. Insbesondere die Tugendlehre, der zweite Teil der Metaphysik der Sitten, ist als Ganzes noch vielfach unterbelichtet und bietet im Hinblick auf die Vermittlung von Moral und Glück ein bislang kaum bemerktes Potential.Während die Rechtslehre bereits in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts vermehrt rezipiert wurde¹⁵, wurde insbesondere die Tugendlehre bis heute in der Forschung vernachlässigt.¹⁶ Das ist umso verwunderlicher als sich Kants System der Pflichten vollständig nur in der Metaphysik der Sitten ¹⁷ findet.
Grundlegend dazu: Düsing, Klaus: Das Problem des höchsten Guts in Kants praktischer Philosophie, Kant-Studien 62 (1971) 5 – 42; Albrecht, Michael: Kants Antinomie der praktischen Vernunft, Hildesheim 1978; Engstrom, Stephen: The Concept of the Highest Good in Kant’s Moral Theory, Philosophy and Phenomenological Research 52 (1992) 747– 80; Milz, Bernhard: Der gesuchte Widerstreit. Die Antinomie in Kants „Kritik der praktischen Vernunft“, Berlin/New York 2001. Esser, Andrea M.: Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004. Recki, Birgit: Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft, Frankfurt am Main 2001. Himmelmann, Beatrix: Kants Begriff des Glücks, Berlin/New York 2003. Vgl. etwa Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Berlin 1984. Nach der wegweisenden Studie von Gregor, Mary: Laws of Freedom. A Study of Kant’s Method of Applying the Categorical Imperative in the ‘Metaphysik der Sitten’, Oxford 1963 unternimmt eine durchgehende Untersuchung erst Forkl, Markus: Kants System der Tugendpflichten. Eine Begleitschrift zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre, Frankfurt am Main 2001; ein kooperativer Kommentar erschien erst mit Trampota, Andreas/Sensen, Oliver/Timmermann, Jens (Hgg.): Kant’s ‘Tugendlehre’. A Comprehensive Commentary, Berlin/New York 2013. Baum, Manfred: Freiheit und Verbindlichkeit in Kants Moralphilosophie, Annual Review of Law and Ethics 13 (2005) 31– 44, hier: 37; ders.: Recht und Ethik in Kants praktischer Philosophie, in: J. Stolzenberg (Hg.): Kant in der Gegenwart, Berlin/New York 2007, 213 – 226, hier: 213;
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Einleitung
Über eine die Tugendlehre isolierende Untersuchung hinaus muss ganz besonders der Gesamtzusammenhang der wichtigsten Textstücke im Hinblick auf die Vermittlung von Moral und Glück erschlossen werden. Denn eine wie auch immer geartete Vermittlung von Moral und Glück kann keinesfalls die wegweisende, kantische Unterscheidung der beiden Bereiche unterlaufen oder zurücknehmen. Es gilt an den zentralen Theoriestücken festzuhalten und zugleich eine Perspektive zu eröffnen, die das abstrakt Getrennte wieder zu vermitteln vermag. Diese Unterscheidung von Moral und Glück vollzieht Kant im ersten Hauptstück der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft. Dort begründet er das formale Sittengesetz unter Abweisung des individuellen Glücksstrebens, das den Oberbegriff aller denkbaren materialen Bestimmungsgründe darstellt. Die rigoristische Deutung der kantischen Ethik beruht im Wesentlichen auf einer Verkürzung des Textbestandes auf diesen kurzen Teil der Kritik der praktischen Vernunft. Auch wenn diese Einsichten festgehalten werden, erlaubt demgegenüber die Herausstellung der spezifischen Perspektive der zweiten Kritik nicht nur eine neue Sicht auf die vielfach kritisierte Tugendlehre, sondern darüber hinaus auch eine umfassende Vermittlung von Moral und Glück in den wichtigsten Textstücken der kantischen Ethik (1.). Dazu muss zunächst die transzendentale Freiheit, wie sie in der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft entwickelt wird, sinnvoll auf das erste Hauptstück der Kritik der praktischen Vernunft bezogen werden (1.1.). Dabei zeigt sich, dass die Autonomie der Sittlichkeit insgesamt die Struktur der transzendentalen Freiheit entwickelt. Und die transzendentale Freiheit ist, unabhängig von Raum und Zeit, die Struktur des Menschen als homo noumenon. Wenn sich Autonomie und Glücksstreben demnach gegenseitig ausschließen, dann nur in der Perspektive des Menschen als homo noumenon. Der ganze Mensch, der sich handelnd in der endlichen Welt, in Raum und Zeit, bewegt, setzt zwar transzendentale Freiheit voraus, geht darin allein aber nicht auf. Die Struktur des Glücks lässt sich bereits innerhalb der Grundlegung der Ethik in Grundzügen herausarbeiten (1.2.). Dabei sind Grundbegriffe der kantischen Ethik, der Begriff der Maxime und des hypothetischen Imperativs, leitend. Sie treten in der Begründung des Sittengesetzes nur als Grenzbegriffe auf, lassen aber bereits die wichtigsten Zusammenhänge in Umrissen erkennen. Die systematische Vermittlung von Moral und Glück innerhalb des kantischen Theorierahmens erfolgt im wenig beachteten zweiten Hauptstück der Kritik der praktischen Vernunft. Um handelnd in die Welt wirken zu können, bedarf der Mensch der Kategorien der Freiheit, die das endliche Begehren des Menschen als
Trampota, Andreas: The Concept and Necessity of an End in Ethics, in: A. Trampota et al. (Hgg.): Kant’s ‘Tugendlehre’, a.a.O., 139 – 158.
Einleitung
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homo phaenomenon unter die einigende Bedingung des Sittengesetzes stellen und dadurch aller erst einen Gegenstand der reinen praktischen Vernunft entwerfen (1.3.). Die Kategorien der Freiheit schaffen den entscheidenden Übergang von der Struktur der transzendentalen Freiheit zum Begehren des Menschen als endliches Vernunftwesen. Damit gelingt sowohl die Unterscheidung als auch die Vermittlung von Moral und Glück im kantischen Theorierahmen. Durch die Kategorien der Freiheit gelingt darüber hinaus der sinnvolle Übergang zur Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft und der dortigen Lehre vom höchsten Gut (2.). Denn der Begriff des höchsten Guts ist „die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (KpV A 194). Dieses kantische Theoriestück wurde allerdings überwiegend kritisch rezipiert (2.1.). Wie das empirische Glück im Begriff der reinen praktischen Vernunft enthalten sein kann, kann entgegen der überwiegenden Rezeption durch die Vermittlungsfunktion der Kategorien der Freiheit verständlich gemacht werden. Die Lehre vom höchsten Gut bleibt allerdings als metaphysisches Ideal unerreicht und dem konkreten Handeln des Menschen entzogen (2.2.). Sowohl die Moralität als oberste Bedingung desselben als auch die notwendige Verbindung von Moral und Glück als „das ganze und vollendete Gut“ (KpV A 198) bedürfen transzendenter Unterstützung. Die Moralität ist ohne die Unsterblichkeit der Seele unerreichbar, genauso wie die notwendige Übereinstimmung von Moral und Glück ohne die Existenz Gottes unerreichbar bleibt. Die Tugendlehre im Ganzen kann als Fortführung der Lehre vom höchsten Gut verstanden werden.¹⁸ Bleibt das höchste Gut in der Dialektik als metaphysisches Ideal dem Handeln des Individuums entzogen, so wird durch die beiden Tugendpflichten der eigenen Vollkommenheit und der fremden Glückseligkeit das höchste Gut in den konkreten Handlungsbereich des Individuums verlegt. Um die konsequente Fortführung und Weiterentwicklung der kantischen Ethik in der Tugendlehre aufzuzeigen, wird zunächst die eigentümliche Perspektive derselben entwickelt (3.). Dabei zeigt sich, dass insgesamt die Begründung der transzendentalen Freiheit und des kategorischen Imperativs vorausgesetzt wird. Dazu verschiebt sich die Perspektive hin zum „Menschen als vernünftige[s] Naturwesen“ (MST A 2). Die begriffliche Unterscheidung zwischen Wille und Willkür, sowie die Explikation des menschlichen Begehrungsvermögens erhellt diese Perspektive (3.1.). Darüber hinaus gilt es die Notwendigkeit der beiden Zwecke, die zugleich Pflicht sind – fremde Glückseligkeit und eigene Vollkommenheit – aufzuweisen (3.2.). Denn diese objektiven Zwecke beinhalten eine materiale Bestimmung der menschlichen Willkür, die prima facie der formalen Willensbe-
So auch schon Düsing, Klaus: Das Problem des höchsten Guts in Kants praktischer Philosophie, a.a.O.
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Einleitung
stimmung aus der Kritik der praktischen Vernunft zu widersprechen scheint. Nicht zuletzt gilt es die Systematik der kantischen Tugendlehre genau zu bestimmen (3.3.). Diese ist dem Aufbau des Werks nicht unmittelbar zu entnehmen und ist, durch scheinbar widersprüchliche Gliederungen und Formulierungen zwischen der Einleitung und der Elementarlehre verstärkt, in der Forschung stark umstritten.¹⁹ Denn die Elementarlehre führt zahlreiche Tugendpflichten an, die in dieser Form in der Einleitung nicht genannt werden. Nach dieser Aufklärung der systematischen Weichenstellungen kann schließlich das Glück im System der Tugenden ausgemacht und klar bestimmt werden (4.). Denn auch wenn das Verhältnis des eigenen Glücks zum Ganzen der Tugendpflichten nicht explizit erörtert wird, lassen sich doch durch die aufgezeigte Perspektive und die sachlichen Zusammenhänge vielfältige konkrete Vermittlungen von Moral und Glück ausmachen. Der Tugendpflicht zur Beförderung der eigenen Vollkommenheit ordnet Kant die Kultur der Moralität (4.2.) und die Kultur aller Vermögen (4.2.) unter. Dabei zeigt sich, dass im Selbstverhältnis des Individuums durch die Befolgung der Tugendpflichten zugleich die eigene Glückseligkeit befördert und angereichert werden kann. Der Beförderung der fremden Glückseligkeit ordnet Kant die Liebespflichten – physische Wohlfahrt (4.3.) und die Achtungspflichten – moralisches Wohlsein (4.4.) unter. Selbst dort, wo scheinbar das eigene Glück im direkten Gegensatz zur Beförderung fremder Glückseligkeit steht, lassen sich vielfältige Vermittlungen aufweisen. Die vorliegende Interpretation steht insgesamt vor der Schwierigkeit, dass sich im kantischen Corpus kaum explizite Textstücke finden, die den argumentativen Zusammenhang zwischen Moral und Glück und den einzelnen Werken von der Grundlegung bis hin zur Tugendlehre eindeutig aufweisen. Ganz im Gegenteil finden sich verstreut Textstücke, die sich isoliert betrachtet scheinbar widersprechen. Eine Interpretation Kants im Hinblick auf die Vermittlung von Moral und Glück muss dieser hermeneutischen Ausgangslage methodisch Rechnung tragen. Deshalb steht die Herausarbeitung der strukturellen und sachlichen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Textstücken im Vordergrund. Diese sachlichen Bereits kurz nach Erscheinen wurden auch populär gehaltene „Erläuterungen“ und „Reflexionen“ zur kantischen Tugendlehre herausgegeben, siehe etwa Bergk, Johann A.: Reflexionen über Immanuel Kants metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, Leipzig 1798 [Aetas Kantiana]; Tieftrunk, Johann H.: Philosophische Untersuchungen über die Tugendlehre zur Erläuterung und Beurtheilung der metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre von Herrn Prof. Imm. Kant, Halle 1798 [Aetas Kantiana]; einen Überblick zur neueren Forschung geben Hill, Thomas E., Jr.: Kant on Imperfect Duty and Supererogation, in: ders.: Dignity and Practical Reason in Kant’s Moral Theory, Ithaca/London 1992, 147– 175, hier: 153 f.; Alves, Julius: Vollkommene Tugendpflichten. Zur Systematik der Pflichten in Kants Metaphysik der Sitten, Zeitschrift für philosophische Forschung 64 (2010) 520 – 545, hier: 527 ff.
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Zusammenhänge werden verständlich durch die Herausarbeitung der jeweiligen Perspektive der einzelnen Textstücke. Dabei erhellen sich allgemeine übergreifende Perspektiven und detaillierte Textanalysen wechselseitig. In diesen komplexen Zusammenhängen zeigt sich bei genauerem Hinsehen innerhalb des kantischen Theorierahmens eine Möglichkeit das Glücksstreben durch eine an der Moral orientierte reflexive Aufklärung zu verändern, anzureichern und zu befördern. Dadurch wird das eigene Glück wieder für den Handlungsspielraum des Individuums erschlossen, weil es nicht nur durch die unmittelbare Befriedigung vorgegebener Neigungen, sondern auch durch das Verhalten zu den Neigungen und deren kohärente Ordnung befördert wird. Darüber hinaus werden auf diese Weise die begrifflich unterschiedenen Momente, Moral und Glück, im Konkreten miteinander vermittelt. Auf diese Weise entsteht das Bild eines bewussten Lebens, das um seine Begierden und Neigungen weiß, klug mit diesen umgehen kann und die Moral als letzten Orientierungspunkt versteht.
1 Die Perspektive der Kritik der praktischen Vernunft Lag die Bedeutsamkeit der Grundlegungsschriften gerade darin, eine allein durch die reine Vernunft begründete formale Willensbestimmung aufzuweisen, so werden in der Tugendlehre materiale Zwecke zur Pflicht erhoben. Entsprechend dieser prima facie widersprüchlichen Zielsetzung ist der systematische Zusammenhang zwischen den Grundlegungsschriften und dem Spätwerk stark umstritten.¹ Dies gilt umso mehr, als bereits der Aufbau der Tugendlehre immanent widersprüchlich und verworren erscheint, was das Gerücht vom altersgeschwächten Autor Immanuel Kant nicht ohne Grund befördert hat.² So ist es nicht verwunderlich, dass die Tugendlehre bei weitem keine vergleichbare Wirkung wie die Grundlegungsschriften erfahren hat. Diese Schieflage ergibt sich meines Erachtens aus einer einseitigen Interpretation der Grundlegungsschriften, insbesondere der Kritik der praktischen Vernunft. Denn wenn die Betrachtung allein auf der formalen Willensbestimmung durch den kategorischen Imperativ liegt, und diese gerade unter Ausschluss materialer Bestimmungsgründe aufgewiesen wird, dann scheint nichts abwegiger als ein „System der Zwecke der reinen praktischen Vernunft“ (MST A 5). Der Begriff eines Zwecks, der zugleich Pflicht ist, scheint der mühsam begründeten formalen Willensbestimmung systematisch zu widersprechen. So wird der oft konstatierte Widerspruch zwischen kategorischem Imperativ und höchstem Gut auf das materiale Spätwerk zur Tugendlehre übertragen. Demgegenüber vertrete ich die These, dass die Tugendlehre der Kritik der praktischen Vernunft nicht widerspricht, sondern im Gegenteil die Spätschrift die konsequente Weiterentwicklung der Grundlegungsschriften im Hinblick auf das menschliche Handeln darstellt.³ Und Vgl. Esser, Andrea .M.: Eine Ethik für Endliche, a.a.O., 243, bes. 249 ff.; Anderson, Georg: Die „Materie“ in Kants Tugendlehre und der Formalismus der kritischen Ethik, Kant-Studien 26 (1921) 289 – 311 vertritt die These eines prinzipiellen Neuansatzes der Metaphysik der Sitten gegenüber den Grundlegungsschriften; eine Kontinuitätsthese zwischen Früh- und Spätschriften vertreten dagegen Schmucker, Josef: Der Formalismus und die materialen Zweckprinzipien in der Ethik Kants, in: H. Oberer & G. Seel (Hgg.): Kant. Analysen-Probleme-Kritik, Bd. III, Würzburg 1997, 99 – 157, bes. 129 ff.; sowie Ricken, Friedo: Homo noumenon und homo phaenomenon, in: O. Höffe (Hg.): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main 2000, 234– 253, bes. 234 u. 242. Vgl. Ludwig, Bernd: Einleitung, in: Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, hrsg. und eingel. von Bernd Ludwig, Hamburg 1990, XVII; siehe dazu auch Ludwig, Bernd: Kants Rechtslehre, Hamburg 1988, 1 ff. So auch schon Anderson, Georg: Kants Metaphysik der Sitten. Ihre Idee und ihr Verhältnis zur Ethik der Wolffschen Schule, Kant-Studien 28 (1923) 41– 61, 55: „Die M.d.S. steht durchaus auf
1.1 Die Struktur der Freiheit
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wie ich zu zeigen versuche, ergibt sich diese Interpretation unter Berücksichtigung der spezifischen Perspektiven beider Werke. Um die eigentümliche Perspektive der Tugendlehre verstehen zu können, muss zunächst die entscheidende Perspektive der Kritik der praktischen Vernunft geklärt werden, um beide sinnvoll aufeinander beziehen zu können. Denn die Grundlegung der Ethik stellt den notwendigen Bezugsrahmen für eine sinnvolle Interpretation der Tugendlehre dar. Im Folgenden wird zunächst die Struktur der Freiheit entwickelt (1.1.). Denn die Wirklichkeit der praktischen Freiheit „im strengsten, d.i. transzendentalen Verstande“ (KpV A 51) stellt den entscheidenden Argumentationsschritt der Grundlegung der Ethik Kants dar. Nur vor diesem Hintergrund kann sinnvoll von einer Perspektivenverschiebung in der Tugendlehre gesprochen werden, wie sich zeigen wird. Die praktische Freiheit der Autonomie kann wiederum nur sinnvoll verstanden werden unter Rückbezug auf die transzendentale Freiheit, die in der dritten Antinomie in kosmologischer Perspektive entwickelt wird. Diese grundlegende Theoriestruktur gibt der kantischen Ethik ihre berühmte, klare und zuweilen rigoristische Kontur. Darüber hinaus lassen sich vielfältige anthropologische Annahmen herausarbeiten, die der rigoristischen Interpretation der kantischen Ethik die Spitze nehmen und bereits in der zweiten Kritik die Struktur des Glücks sichtbar werden lassen (1.2.). Diese wichtigen Hintergrundannahmen erhalten im zweiten Hauptstück mit den Kategorien der Freiheit eine systematische Stellung innerhalb des kantischen Theorierahmens. Denn die Kategorien der Freiheit vermitteln auf eindrucksvolle Weise die Perspektiven der Kritik der praktischen Vernunft und der Tugendlehre (1.3.). Damit wird der entscheidende Zusammenhang zwischen den beiden Ethikwerken Kants deutlich und plausibel herausgestellt.
1.1 Die Struktur der Freiheit Um die eigentümliche von der Tugendlehre zu unterscheidende Perspektive der Kritik der praktischen Vernunft zu verstehen, muss man sich die theoretische Ausgangslage der Kritik der reinen Vernunft vergegenwärtigen. Insbesondere die Freiheitsantinomie bietet die Schablone zur Unterscheidung der beiden Perspektiven. Kant sah durchaus eine Verknüpfung theoretischer und praktischer
dem von Grdlg. und Kr.d.pr.V. geschaffenen Boden und ist nur im Zusammenhang mit diesen verständlich. Und die „reine Ethik“ gilt nicht nur für eine Welt von Dingen an sich, wie gern behauptet wird, sondern für den wirklichen Menschen […].“
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1 Die Perspektive der Kritik der praktischen Vernunft
Fragen, der gesamte Argumentationsgang zur Begründung des kategorischen Imperativs wird verständlich durch die Freiheitsantinomie der ersten Kritik.⁴ Bereits in der Auflösung der Freiheitsantinomie weist Kant darauf hin, dass sich „auf diese transzendentale Idee der Freiheit […] der praktische Begriff derselben gründe, und jene in dieser das eigentliche Moment der Schwierigkeit ausmache, welche die Frage über ihre Möglichkeit von jeher umgeben haben.“ (KrV B 561/ A 533)⁵ Demnach ist eine moralische Verantwortung nur möglich unter der Voraussetzung eines freien Willens. Dieser wiederum wird negativ bestimmt durch die Unabhängigkeit von der Naturkausalität, derzufolge jede Wirkung eine hinreichend bestimmte vorhergehende Ursache hat. Entsprechend muss der freie Wille über eine Spontanität verfügen, die eine Wirkung ohne vorhergehende Ursache erzeugen kann. Über eine Handlungsfreiheit hinaus, die ohne äußerlichen physischen Zwang Handlungen ausführen kann, ja auch über eine Entscheidungsfreiheit hinaus, die zwei mental repräsentierte Vorstellungen (Präferenzen) gegeneinander abwägen und sich für eine der beiden entscheiden kann, stellt eine solche Spontanität nach Kant die Bedingung der Möglichkeit moralischer Verantwortung dar und kann deshalb transzendentale Freiheit genannt werden. Da diese allerdings der durchgängigen Naturkausalität (scheinbar) widerspricht, muss diese Antinomie zunächst in theoretischer Perspektive differenziert und aufgelöst werden. Kants Auflösung der Freiheitsantinomie bildet somit die Ausgangslage für die weitere Argumentation zur Grundlegung der Ethik. Denn die theoretische Vernunft, so wird sich zeigen, kann lediglich die widerspruchsfreie Möglichkeit der Freiheit begründen. Die Wirklichkeit der Freiheit kann vor diesem Hintergrund nur durch die praktische Vernunft aufgewiesen werden. Die Wirklichkeit eines freien Willens und des ihn bestimmbaren moralischen Gesetzes aufzuweisen ist die eigentümliche Perspektive der Kritik der praktischen Vernunft. Sie untersucht den freien Willen hinsichtlich der Struktur seiner Spontanität. Um dies – und die davon unterschiedene Perspektive der Tugendlehre – genauer zu Man beachte nur den entscheidenden Passus über den Zusammenhang zwischen der Freiheit des Willens und der Form des Gesetzes in den §§ 5 – 6: „Eine solche Unabhängigkeit aber heißt Freiheit im strengsten, d.i. transzendentalen Verstande.“ (KpV A 52). Vgl. Beck, Lewis W.: Kants „Kritik der praktischen Vernunft“. Ein Kommentar, übers. von K.-H. Ilting, München 1974, 29 ff.; Sala, Giovanni B.: Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Ein Kommentar, Darmstadt 2004, 211 ff. Den Übergang arbeitet auch deutlich heraus Hutter, Axel: Das Interesse der Vernunft. Kants ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken, Hamburg 2003, 127 ff. Vgl. für eine ausführliche Interpretation dieses Zusammenhangs Schönecker, Dieter: Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit, Berlin 2005, 9 ff.; Sala, Giovanni B: Kants „Kritik der praktischen Vernunft“, a.a.O., 211 ff.
1.1 Die Struktur der Freiheit
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verstehen, bedarf es einer Betrachtung der Argumentation und des Ergebnisses der Freiheitsantinomie. Kant zeigt anhand der dritten Antinomie im Dialektik-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft, warum ein positiver Beweis der Freiheit unmöglich ist. Er kritisiert eine reine Vernunft, die unabhängig von Sinnlichkeit zu Erkenntnissen zu kommen versucht. Der traditionellen Einteilung der Metaphysik entsprechend (metaphysica psychologica, kosmologica, theologica) untersucht Kant die Seele, die Welt und Gott als transzendentale Ideen der reinen Vernunft. Die Antinomien stehen dementsprechend zwischen den Paralogismen (Seele) und dem transzendentalen Ideal (Gott). Gerade im Gebiet der rationalen Kosmologie eröffnen vernünftelnde Behauptungen einen „dialektischen Kampfplatz“ (KrV B 450). Zwei entgegengesetzte Behauptungen entspringen gleichberechtigt der reinen Vernunft, beide beanspruchen für sich rationale Gültigkeit. Es handelt sich um eine natürliche Dialektik, „in welche die Vernunft von selbst und zwar unvermeidlich gerät.“ (KrV B 434) Kann dieser metaphysische Streit nicht aufgelöst werden, so droht der „Tod einer gesunden Philosophie“, weshalb „skeptische Hoffnungslosigkeit“ und „dogmatischer Trotz“ als alleinige Alternativen erscheinen (KrV B 434). Anhand seiner Kategorienlehre unterscheidet Kant vier Antinomien, die sich in „Thesis“ und „Antithesis“ artikulieren: 1. Die Welt ist zeitlich und räumlich begrenzt. – Sie ist unbegrenzt. 2. Alles in der Welt besteht aus einfachsten Teilen. – Es gibt keine einfachsten Teile. 3. Neben der Naturkausalität muss es auch eine Kausalität aus Freiheit geben. – Eine solche Freiheit ist unmöglich. 4. Die Welt gibt es nur durch ein notwendiges Wesen. – Ein solches Wesen existiert nicht. Die dritte Antinomie untersucht die gegensätzlichen Ansichten zur Freiheit. Muss es Freiheit geben oder ist sie unmöglich? Zunächst zur Thesis: „Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen notwendig.“ (KrV B 472) Kant beweist die Thesis, indem er von der gegensätzlichen Annahme, es gebe nur die Naturkausalität, ausgeht und diese Annahme in einen Widerspruch verwickelt, so dass schließlich auf die Notwendigkeit der Freiheit geschlossen werden muss. Wenn es demnach nur Naturkausalität gibt, so setzt jedes Ereignis einen früheren Zustand voraus, der als Ursache dieses Ereignisses bestimmt werden kann. Die Ursache, als Ereignis betrachtet, muss der Naturkausalität zufolge aber ebenfalls durch einen vorhergehenden Zustand als Ursache hinreichend bestimmt sein. Dieser Zustand muss abermals durch eine vorhergehende Ursache bestimmt sein und so weiter ad
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1 Die Perspektive der Kritik der praktischen Vernunft
infinitum. Demnach gibt es keine vollständige Reihe von Ursachen, die ein Ereignis hinreichend bestimmen könnte; gerade darin besteht aber das Gesetz der Natur: jedes Ereignis hat eine hinreichend bestimmte Ursache. So widerspricht sich Naturkausalität letztlich selbst, wenn sie als einzige gelten soll. Deshalb muss es auch transzendentale Freiheit geben, und zwar als absolute Spontanität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen anzufangen. Die Antithesis: „Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.“ (KrV B 473) Hier wird abermals die gegensätzliche Annahme, es gebe transzendentale Freiheit, angenommen und in einen Widerspruch verwickelt. Doch handelt es sich dabei um keinen Selbstwiderspruch (wie im Falle der Thesis), sondern Freiheit widerspricht der geltenden Naturgesetzlichkeit. Spontan ist eine Handlung nur, wenn sie nicht verursacht wird, und dies widerspricht eben dem Kausalgesetz. Freiheit, die in keiner Erfahrung angetroffen werden kann, ist ein „leeres Gedankending“ (KrV B 475). Gesetze der Freiheit kann es in einer erklärbaren Natur nicht geben. Wäre sie erklärbar, würde sie selbst zur Natur. Die Auflösung der Antinomie gelingt Kant mit Hilfe seines transzendentalen Idealismus, der zwischen sinnlichen Erscheinungen und intelligiblem Ding an sich unterscheidet. Dabei verschiebt Kant die Perspektive von der ursprünglich kosmologischen Fragestellung hin zu einer praktischen Auflösung durch die Doppelnatur des Menschen. Dementsprechend kann ein und dieselbe Handlung eines Subjekts zwei Charaktere aufweisen. Durch den empirischen Charakter des Subjekts ist die Handlung als Erscheinung durchgängig mit anderen Erscheinungen nach Gesetzen der Naturkausalität verbunden. Durch seinen intelligiblen Charakter ist das Subjekt einerseits Ursache der Handlung als Erscheinung, steht aber andererseits selbst unter keinerlei Bedingungen der Sinnlichkeit und ist damit Ding an sich, nicht Erscheinung. Damit lassen sich transzendentale Freiheit und Naturkausalität vereinbaren. Denn ein intelligibler Grund im Handelnden tut der empirischen Erklärung „nicht den mindesten Abbruch“ (KrV B 573). Als metaphysische Annahmen sind sie allerdings nicht erkennbar. Beide lassen sich theoretisch nicht beweisen. Während aber die Naturkausalität zumindest erfahrbar ist, kann die Wirklichkeit der Freiheit nicht theoretisch erkannt werden. Freiheit hat nur als transzendentale Idee Berechtigung. Ausschlaggebend im vorliegenden Zusammenhang ist nun, dass Kant zwei Perspektiven unterscheidet. Den intelligiblen Charakter einerseits und den sinnlichen Charakter des Menschen andererseits. Zur Begründung moralischer Verantwortung muss Kant die Struktur der Spontanität aufklären und ihre Wirklichkeit begründen. Diese Perspektive ist nicht leicht nachzuvollziehen, muss aber genau verstanden werden, wenn man die darauf aufbauende Tugendlehre verstehen möchte. Das Ergebnis der Freiheitsantinomie hat gezeigt, dass transzen-
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dentale Freiheit einerseits nicht positiv beweisbar ist, dass sie andererseits immerhin theoretisch möglich ist. Und dies gelingt Kant durch die Unterscheidung zweier „Charaktere“ des Menschen. Durch seinen empirischen Charakter ist der Mensch der durchgängigen Naturkausalität unterworfen. Der empirische Charakter, das darf dabei nicht übersehen werden, beinhaltet nicht nur die triebhaften Impulse von Affekten und Leidenschaften, sondern auch das endliche Bewusstsein der Entscheidungsfreiheit. Wenn wir in uns zwei unterschiedliche Präferenzen feststellen und uns für eine der beiden entscheiden, ist diese Entscheidung als Naturphänomen freilich kausal erklärbar.⁶ Allein der intelligible Charakter, der als Ding an sich unabhängig ist von Raum und Zeit, zeichnet sich durch die zur moralischen Verantwortung notwendige Spontanität aus. Wo aber ist der intelligible Charakter im sittlichen Bewusstsein des Menschen zu lokalisieren, wenn nicht in der willkürlichen Entscheidung? Zunächst muss man sich vergegenwärtigen, dass eine Entscheidung als solche keine Spontanität besitzt, d. h. wie aus dem Nichts eine Vorstellung entwickelt und dieselbe sogleich handelnd verwirklicht. Vielmehr setzt eine Entscheidung zwei gegebene, und insofern empirische, alternative Vorstellungen voraus und erst auf dieser Grundlage kann sinnvoll von einer Entscheidung gesprochen werden. Es ist Kants zentrale Einsicht, dass die Spontanität der transzendentalen Freiheit nicht auf der Ebene der Entscheidung, sondern als deren Bedingung der Möglichkeit zum Tragen kommt. Die transzendentale Freiheit liegt nicht in der Entscheidung für oder gegen das Gesetz, sondern sie ist das Gesetz selbst. Der freie Wille, der als Bedingung der Möglichkeit moralischer Verantwortung begründet werden muss, zeigt sich nicht in der „Willkür“ der Entscheidung, sondern in der Pflicht des Gesetzes. Nur insofern wir eine moralische Verpflichtung zur Selbstachtung haben, können wir uns dafür oder dagegen entscheiden. Der kategorische Imperativ vollzieht die Vermittlung zwischen Natur und Freiheit, indem er einerseits vom endlichen Bewusstsein als Faktum nur festgestellt werden kann, er aber andererseits als die Struktur des freien Willens, der sich selbst spontan das Gesetz gibt, expliziert werden kann. Nach dieser Lesart ist nun die gesamte Argumentation zur Begründung des kategorischen Imperativs, der Zusammenhang von Wille, Gesetz und Pflicht, die Aufklärung der Struktur transzendentaler Freiheit. Empirische Begriffe wie Neigungen, Glück und Leiden-
Hier setzen die bekannten Libet-Experimente und deren kontroverse Diskussion an. Vgl. Geyer, Christian (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt am Main 2005. Vgl. auch Zimmermann, Stephan: In Sachen Willensfreiheit. Kant und die Grenzstreitigkeiten zwischen Philosophie und Neurowissenschaft, Philosophische Rundschau 57 (2010) 272– 290.
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schaften kommen dort nur insofern als Grenzbegriffe zu tragen, als sie die systematische Stellung des freien Willens verdeutlichen können. Bezeichnend ist dafür, dass Kant hier von Vernunftwesen überhaupt spricht, in der Tugendlehre aber explizit den Menschen als vernünftiges Naturwesen untersucht. In der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft erläutert Kant diese Perspektive. Demnach soll aufgezeigt werden, „daß es reine praktische Vernunft gebe“, und in dieser Absicht muss als Ausgangsbasis das ganze praktische Vermögen mit allen empirischen Bestandteilen „kritisiert“ (KpVA 3) werden. Die enge Verknüpfung von praktischem Gesetz und transzendentaler Freiheit wird hier ebenso deutlich. Der in der Freiheitsantinomie problematische Begriff der transzendentalen Freiheit erhält durch die Begründung eines apodiktischen Gesetzes nun seine „objektive Realität“ (KpV A 4). „Der Begriff der Freiheit, so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht nun den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen, Vernunft aus“ (ebd.). Durch die wechselseitige Verbindung von Freiheit und moralischem Gesetz wird die eigentümliche Perspektive der Kritik der praktischen Vernunft sehr deutlich. Das wird umso klarer, je genauer man die Tugendlehre selbst studiert und durch diese Kontrastperspektive in der Retrospektive die Eigentümlichkeiten der zweiten Kritik besser versteht. Denn in dem kaum bekannten kantischen Spätwerk werden erstmals zentrale begriffliche Distinktionen expliziert, die zwar der Gesamtkonzeption der Kritik der praktischen Vernunft in weiten Strecken zugrunde liegen, dort aber kaum aufgeführt oder gar eindeutig expliziert werden. Schon allein aufgrund dieses mangelnden Textbestandes musste die einseitige Konzentration auf die Analytik der zweiten Kritik zu einer einseitigen rigoristischen Interpretation der kantischen Ethik führen. Das gilt umso mehr für das Verhältnis von Moral und Glück, als dieses Verhältnis den zentralen Gegensatz im Argumentationsgang zur Begründung des kategorischen Imperativs bildet. Liegt der Fokus einseitig auf dieser Entgegensetzung, so verwundert natürlich nichts mehr als die Erhebung des Glücks zu einem Zweck, der zugleich Pflicht ist, wie es an prominenter Stelle in der Einleitung zur Tugendlehre geschieht. Der Übergang zur eigentümlichen Perspektive der Tugendlehre geschieht nicht erst dort abrupt, sondern wird durch die weitere Argumentation in der Kritik der praktischen Vernunft vorbereitet. Nimmt man den von Kant selbst erläuterten Aufbau des gesamten Werks ernst, so ergibt sich ein schrittweiser Übergang von der wechselseitigen Begründung von Gesetz und transzendentaler Freiheit als einer „empirisch unbedingten Kausalität“ (KpV A 32) hin zu einer „Anwendung auf Gegenstände, zuletzt auf das Subjekt und dessen Sinnlichkeit“ (ebd.).
1.1 Die Struktur der Freiheit
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Bereits die Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft bestätigt diese Interpretation. Kant begründet dort den Titel der Abhandlung in Abgrenzung zur Kritik der reinen Vernunft. Ging es letzterer um eine Begrenzung der Anmaßungen reiner (theoretischer) Vernunft, so wird hier „bloß“ (KpV A 3) nachgewiesen, dass es reine praktische Vernunft gibt, die unabhängig von Sinnlichkeit den Willen bestimmen kann. Dazu muss entsprechend das gesamte (reine und empirische) praktische Vermögen kritisiert, und das heißt voneinander geschieden werden. Das eigentliche Thema ist demzufolge die Spontanität des Willens, wie sie in der Freiheitsantinomie problematisiert wurde.Wenn Kant in der Folge das moralische Gesetz und dessen Struktur aufweist, differenziert er die Struktur der Spontanität des Willens. Den Ausgangspunkt bildet dabei zunächst das gesamte praktische Vermögen, das endliche Bewusstsein mit all seinen Neigungen und Bestrebungen. Dieses gilt es im Laufe der Argumentation auf seine Grundlagen hin zu untersuchen und den Punkt anzugeben, an dem der freie Wille aufgewiesen werden kann. Man muss sich immer wieder vor Augen führen, dass der Wille die Struktur und Entstehung des Gewissens expliziert, nicht die Entscheidung für oder gegen das Gewissen.⁷ Insofern das Gewissen nur im endlichen Bewusstsein erkannt werden kann, muss zwar sein Verhältnis zum gesamten praktischen Vermögen aufgeklärt werden. Dieses wird aber nur insoweit erläutert, als es zur Abgrenzung und Bestimmung des reinen praktischen Vermögens, eben des spontanen Willens nötig ist. Das zeigt sich auch daran, dass Kant die spezifische Natur des Menschen nur am Rande berücksichtigt, weil er die universale Struktur der Vernunft selbst aufweisen will. Dabei werden weder konkrete Inhalte noch Bedingungen der Ausführung für den Menschen als Naturwesen zum Thema gemacht. In der weiteren Begründung des kategorischen Imperativs schließt Kant materiale Bestimmungsgründe aus, subsumiert diese unter das Prinzip der Glückseligkeit und schließt daraus auf die formale Bestimmung des Willens. Er sucht einen objektiven praktischen Grundsatz, der als „für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig erkannt wird.“ (KpV A 35) Wenn objektive Grundsätze möglich sein sollen, dann kann die Willensbestimmung nicht durch die Vorstellung kontingenter Gegenstände und der erwarteten Lust daran erfolgen. Genauer: die Gegenstände können nicht den primären Bestimmungsgrund bilden, denn erstens müssen diese empirisch gegeben werden, und zweitens muss diese Vor-
Vgl. etwa MST A 100: „Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respect (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie sein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt.“
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stellung der Gegenstände mit einem Gefühl der Lust verbunden werden, um handlungswirksam zu werden. Beides ist kontingent und kann daher keinen allgemeingültigen Grundsatz begründen, der für alle Individuen gültig wäre. Die primäre Bestimmung des Willens kann demnach, so Kant, nur durch die „bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung“ (KpV A 49) erfolgen. Wiederum muss man sich vor Augen führen, dass nicht die Bestimmung für oder gegen das Gewissen, sondern die Konstitution der moralischen Regeln begründet wird. Ob die formale Willensbestimmung einen Gegenstand der reinen praktischen Vernunft ausschließt, ist die gegenüber der Tugendlehre entscheidende Frage. Denn dort wird eine Materie der reinen Vernunft zur Pflicht erhoben, die als Zweck der reinen Vernunft zugleich der Gegenstand einer freien Willkür ist. Widersprechen sich also ein formaler Bestimmungsgrund des Willens und ein Zweck (Gegenstand), der zugleich Pflicht ist? Entscheidend ist, dass der Wille zwar durch die bloße Form der allgemeinen Gesetzgebung und damit unabhängig von empirischen Gegenständen bestimmt wird. Aber die formale Willensbestimmung schließt keineswegs zu verwirklichende Gegenstände aus. Sobald es zur Verwirklichung praktischer Grundsätze kommt, d. h. sobald der freie Wille in den Bereich naturgesetzlicher Kausalität wirkt, braucht es einen Gegenstand, der verwirklicht werden soll. Zudem setzt die formale Willensbestimmung lebensweltlich vorgegebene Maximen voraus, die anhand des kategorischen Imperativs auf ihre Allgemeingültigkeit geprüft werden.⁸ Die Maximen werden zwar auf ihre Form der Gesetzmäßigkeit hin geprüft, beinhalten aber notwendig einen Bezug auf Gegenstände der Erfahrung, die letztlich vom endlichen Bewusstsein angestrebt und verwirklicht werden. Behält man dies im Auge, wird die perspektivische Verschiebung hin zur Tugendlehre deutlich. Denn nach erfolgter Grundlegung des kategorischen Imperativs, der als Gesetz und Wille die Struktur transzendentaler Freiheit aufklärt und beschreibt, muss natürlich das endliche Bewusstsein des Menschen als vernünftiges Naturwesen und sein Verhältnis zum moralischen Gesetz strukturell aufgeklärt werden. Dass es dabei zu zahlreichen Perspektivenverschiebungen und auch Erweiterungen kommt, liegt gewissermaßen auf der Hand. Um die thematische Verschiebung im Detail nachvollziehen zu können, aber auch um die eigentümliche Perspektive der Tugendlehre zu verstehen, muss man genau untersuchen wie die reine praktische Vernunft einen Gegenstand begründen kann. Das leistet Kant bereits im zweiten Hauptstück der Kritik der praktischen Vernunft. Die
Eine ausführliche Analyse des Maximenbegriffs gibt auch Albrecht, Michael: Kants Maximenethik und ihre Begründung, Kant-Studien 85 (1994) 129 – 146.
1.2 Die Struktur des Glücks
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grundlegende Struktur des Glücks wird dort nicht explizit erörtert, lässt sich aber anhand der zentralen Grundbegriffe sachlich rekonstruieren.
1.2 Die Struktur des Glücks Das Streben nach Glückseligkeit ist im gesamten Begründungsgang des kategorischen Imperativs präsent, wird aber zugunsten reiner praktischer Vernunft zurückgewiesen. Und dies, wie bereits aufgezeigt wurde, um die Struktur transzendentaler Freiheit durch das wechselseitige Verhältnis von formalem Gesetz und Freiheit des Willens zu erläutern. Man muss allerdings bedenken, dass das Glücksstreben zur Begründung universaler praktischer Gesetze unzureichend ist, weil es keinen spezifischen subjektunabhängigen Inhalt vorgeben kann. Gleichwohl ist es als Faktum jedem endlichen Vernunftwesen zuzuschreiben, nur ist der Inhalt desselben je ein anderer und kann nicht a priori bestimmt werden. Umso merkwürdiger erscheint Kants Behandlung des höchsten Guts in der Dialektik. Warum soll das Glück die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft ausmachen, wenn es zuvor mit voller Passion zurückgewiesen wurde? Und was berechtigt Kant, mit Hilfe der empirisch verunreinigten Glückseligkeit die traditionell reinrationalen Gegenstände (Unsterblichkeit und Gott) zu begründen? Offensichtlich hat Kant zwar die Moralität aus reiner Vernunft begründet; aber wenn er der Glückseligkeit in der Dialektik einen solch zentralen Platz einräumt, dann wird man dahinter doch eine weit reichende Einsicht vermuten dürfen. In der Tat hat Kant stets das Streben nach Glückseligkeit als notwendiges Element der Moralphilosophie festgehalten. Alles Begehren, und das heißt im kantischen Begriffszusammenhang: alles Handeln, hat letztlich das eigene Glück zum Gegenstand. Durch die begrifflichen Erläuterungen in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten werden diese empirischen Grundlagen der kantischen Ethik deutlich (vgl. MSR AB 1 ff.). Natürlich wird zur grundsätzlichen Begründung der Möglichkeit und Wirklichkeit der Moralität diese selbst abgegrenzt und in Gegensatz zum individuellen Glücksstreben gebracht.⁹ Dabei handelt es sich aber um einen transzendentalen Gegensatz, der in zeitlicher und inhaltlicher Perspektive durchaus eine Vermittlung erlaubt. Denn
Reath, Andrews: Hedonism, Heteronomy and Kant’s Principle of Happiness, Pacific Philosophical Quarterly 72 (1989) 42– 72 – bringt den Einwand vor, dass wir durch die Zuschreibung einer differenzierteren Handlungstheorie keine Zuflucht mehr nehmen müssen zu einem Vermögen reiner praktischer Vernunft. Dagegen argumentiert Steigleder, Klaus: Kants Moralphilosophie. Die Selbstbezüglichkeit reiner praktischer Vernunft, Stuttgart/Weimar 2002, 19 ff.
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1 Die Perspektive der Kritik der praktischen Vernunft
wenn man versteht, dass Kant in den §§ 1– 8 der Analytik die noumenale Seite endlicher Vernunftwesen in ihrer Reinform vom ganzen praktischen Vermögen scheiden (griech. krinein) muss, versteht man doch auch die scharfe Entgegensetzung von formaler Moralität und materialem Glücksbezug. Dadurch wird zu allererst die in Frage stehende Spontanität des Willens strukturell aufgeklärt, die gerade deshalb aber nur die Struktur des Menschen als homo noumenon wiedergibt. Damit zeigt sich die Wirklichkeit und Funktion der reinen praktischen Vernunft, die aber für Handlungen von endlichen Vernunftwesen in einer Welt nicht hinreichend ist. Dazu bedarf es des ganzen praktischen Vermögens, das letztlich sinnlich affiziert werden muss, um eine hinreichende Handlungsbestimmung zu gewährleisten. Kant erläutert dies nicht erst im wohlbekannten dritten Hauptstück anhand des Gefühls der Achtung, das als sinnliches Gefühl durch reine praktische Vernunft hervorgebracht wird. Das kaum beachtete zweite Hauptstück vollzieht bereits diese zeitliche und inhaltliche Vermittlung durch die Kategorien der Freiheit, die den zum Handeln notwendigen Gegenstandsbezug konstituieren. Gerade die kaum beachteten Stellen des zweiten Hauptstücks der Analytik und die Dialektik vermitteln auf differenzierte Weise Moral und Glück. Wenn auch die Lehre vom höchsten Gut inhaltlich nicht zu überzeugen vermag, so wird doch zumindest die zentrale Vermittlungsaufgabe von Moral und Glück deutlich. Während die Lehre vom höchsten Gut Moral und Glück in theologischer Perspektive strukturell zu vermitteln versucht, werden in der Tugendlehre durch die perspektivische Verschiebung hin zum Menschen als vernünftigem Naturwesen Moral und Glück durch die inhaltliche Vielfalt der einzelnen Tugenden und deren menschlichen Voraussetzungen im Konkreten vermittelt. Bei genauer Lektüre erschließen bereits zentrale Grundbegriffe der kantischen Ethik die notwendige Struktur des individuellen Glücksstrebens, das allen konkreten Handlungen zugrunde liegt. Hier sind die Begriffe des Begehrungsvermögens, der Maxime und der hypothetischen Imperative von Bedeutung. Zuweilen wurde Kant eines psychologischen Hedonismus bezichtigt.¹⁰ Als sinnliches Wesen ist der Mensch kausal durch die Antriebe der Lust determiniert. Es ist nur konsequent, wenn Kant alle Handlungen auf die empirische Bestimmung durch Lust zurückführt, denn ohne diese Antithese würde nicht das Problem der Freiheit entstehen. Die Frage ist gerade, wie angesichts der vollständigen Bestimmung durch externe sinnliche Antriebe freie Handlungen und damit Im-
Vgl. Moritz, Manfred: Pflicht und Moralität. Eine Antinomie in Kants Ethik, Kant-Studien 56 (1965/ 66) 412– 429; Beck, Lewis W.: Kants „Kritik der praktischen Vernunft“, a.a.O., 94 f., Sala, Giovanni B: Kants „Kritik der praktischen Vernunft“, a.a.O., 88 f.
1.2 Die Struktur des Glücks
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perative möglich sind. Zugrunde liegt eine Handlungstheorie, die zwar nicht explizit eingeführt wird, aber doch den Hintergrund der kantischen Moraltheorie bildet und dementsprechend rekonstruiert werden kann.¹¹ Der zentrale handlungstheoretische Grundbegriff ist das Begehrungsvermögen. Dieses wird definiert als das Vermögen eines Wesens „durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“ (KpV A 16, Anm.**). Hier lassen sich drei Grundformen unterscheiden. Begehrungsvermögen haben nämlich nicht nur Vernunftwesen. Auch nicht mit Vernunft ausgestattete Wesen, also Tiere, besitzen ein Begehrungsvermögen. Auch sie werden durch die Vorstellung von Gegenständen zum Handeln bestimmt. Allerdings können sie nicht durch die Vernunft, durch die Vorstellung eines Gesetzes, zum Handeln bestimmt werden. Dazu sind nur Vernunftwesen in der Lage. Diese verfügen über einen Willen, d. h. „das Vermögen, ihre Kausalität durch die Vorstellung von Regeln zu bestimmen“ (KpV A 57). Neben dem Handeln endlicher Vernunftwesen und dem vernunftloser Lebewesen ist noch eine dritte Form denkbar, das Handeln Gottes. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es stets nach objektiven Gesetzen erfolgt, weil hier keine Sinnlichkeit dem Gesetz entgegensteht. Wenn die Handlung erfolgreich ist, wird der vorgestellte Gegenstand hervorgebracht. Hier stellt sich nun die Frage, was ein endliches Vernunftwesen in einem konkreten Fall zur Handlungsausführung bestimmt. Im Normalfall, also gerade nicht im besonderen Fall des moralischen Handelns, übernimmt nach Kant die Sinnlichkeit diese Aufgabe. So ist es Kant zufolge unleugbar, dass jedes Wollen einen Gegenstand hat (vgl. KpV A 60). Den Gegenstand, „dessen Wirklichkeit begehret wird“ (KpV A 38), nennt er die „Materie des Begehrungsvermögens“ (ebd.). Die Vorstellung dieses Gegenstandes ist mit einem spezifischen Gefühl der Lust verbunden, genauer der „Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache“ (KpV A 40). Die Gefühle unterliegen „eine dem inneren Sinne angehörige Rezeptivität“ (KpV A 103), den Kausalgesetzen der Sinnenwelt. Sie sind in zweierlei Weise abhängig von sinnlichen Bedingungen. Zunächst muss überhaupt ein Gegenstand gegeben werden und weiterhin muss dieser Gegenstand in der kontin-
Vgl. dazu und zum Folgenden Scarano, Nico: Moralisches Handeln. Zum Dritten Hauptstück von Kants Kritik der praktischen Vernunft, in: O. Höffe (Hg.): Immanuel Kant. Kritik der praktischen Vernunft (Reihe Klassiker Auslegen), Berlin/New York 2002, 135– 152; sowie Willaschek, Marcus: Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant, Stuttgart/Weimar 1992, bes. 45 ff.; zur Vorgeschichte in den vorkritischen Schriften und der Kritik der reinen Vernunft vgl. Gerhardt, Volker: Handlung als Verhältnis von Ursache und Wirkung. Zur Entwicklung des Handlungsbegriffs bei Kant, in: Gerold Prauss (Hg.): Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie, Frankfurt am Main 1986, 98 – 131.
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1 Die Perspektive der Kritik der praktischen Vernunft
genten Konstitution des Subjekts ein Gefühl der Lust hervorrufen. Erst dadurch wird die Vorstellung eines Gegenstandes handlungswirksam. Gerade dies ist auch der Normalfall der Handlungsmotivation. Mit der Vorstellung eines Gegenstandes wird ein spezifisch subjektives Lustgefühl verbunden und deshalb wird die Handlung zur Verwirklichung dieses Gegenstandes ausgeführt. Doch ist die bisherige Rekonstruktion in einer wichtigen Hinsicht unzureichend.¹² Die oben explizierte Motivationsstruktur durch vorgestellte konkrete Gegenstände kommt bereits Nichtvernunftwesen zu. Endliche Vernunftwesen werden darüber hinaus grundsätzlich durch Regeln bestimmt. Im kantischen Terminus: Maximen. Maximen haben aufgrund ihrer allgemeinen Struktur sowohl einen konstitutiven Bezug auf Klassen von Gegenständen als auch eine mögliche Form der Allgemeingültigkeit¹³. Sowohl im Falle materialer Prinzipien als auch beim kategorischen Imperativ liegen subjektive Maximen zugrunde, die danach geprüft werden, ob sie das für praktische Gesetze geforderte Kriterium der Allgemeingültigkeit erfüllen. Das Gemeinsame der beiden Alternativen sind dementsprechend die zugrunde liegenden Maximen. Die entscheidende Differenz besteht lediglich darin, wie die Maximen geprüft werden – material oder formal. Maximen haben aber immer schon einen konstitutiven Bezug auf Klassen von Gegenständen,wodurch ihnen nicht direkt eindeutige Handlungen zugewiesen werden können. Insbesondere der offene Gegenstandsbezug der Maximen spielt in der Tugendlehre eine entscheidende Rolle zur Bestimmung der „Weite“ der Tugendpflichten und zur Abgrenzung von den Rechtspflichten. Wie auch immer die Prüfung der Maximen im Detail zu denken ist, so bleiben die Pflichten dank der Gebotenheit von Maximen und deren konstitutivem Gegenstandsbezug notwendig auf Gegenstände gerichtet. Anders formuliert: Die Prüfung der Maximen erfolgt selbstverständlich formal, aber die sich daraus ergebenden Pflichten sind ent-
Das übergeht leider Scarano, Nico, Moralisches Handeln, a.a.O., 135– 152. Auf die umstrittene Frage der Anwendung des kategorischen Imperativs zur Prüfung der Maximen kann hier nicht näher eingegangen werden, vgl. dazu Ebert, Theodor: Kants kategorischer Imperativ und die Kriterien gebotener, verbotener und freigestellter Handlungen, KantStudien 67 (1976) 570 – 583; Frankena, William K.: Analytische Ethik. Eine Einführung, München 1972, 52; Hoerster, Norbert: Kants kategorischer Imperativ als Test unserer sittlichen Pflichten, in: M. Riedel (Hg.): Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Bd. 2, Freiburg 1974, 455 – 475; Höffe, Otfried: Kants kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, in: ders.: Ethik und Politik. Grundmodelle und –probleme der praktischen Philosophie, Frankfurt am Main 1979, 84– 119 (bes. 102 ff.); Kersting, Wolfgang: Der kategorische Imperativ, die vollkommenen und die unvollkommenen Pflichten, Zeitschrift für philosophische Forschung 37 (1983) 404– 421; Cramer, Konrad: „Depositum“. Zur logischen Struktur eines kantischen Beispiels für moralisches Argumentieren, in: V. Gerhardt/R.-P. Horstmann/R. Schuhmacher (Hgg.): Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, Bd. 1, Berlin/New York 2001, 116 – 130.
1.2 Die Struktur des Glücks
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sprechend der Maximenstruktur ebenso selbstverständlich auf Gegenstände gerichtet. In der Tugendlehre setzt Kant demgemäß „einen Gegenstand der freien Willkür“ mit der „Materie“ bzw. dem „Zweck der reinen Vernunft, der zugleich als objektiv-notwendiger Zweck, d.i. für den Menschen als Pflicht vorgestellt wird“ (MST A 4) gleich. Die sinnliche und die rein vernünftige Handlungsorientierung unterscheiden sich folglich dahingehend, wie die Maximen geprüft wurden. Gemeinsam ist ihnen aber die notwendige Handlungsstruktur endlicher Vernunftwesen, die sich aus dem Aufbau des Begehrungsvermögens ergibt und grundsätzlich einen Gegenstandsbezug aufweist. Liest man die Grundlegung der Ethik von Kants ethischem Spätwerk her, erschließen sich diese vielfältigen oft unverstandenen Zusammenhänge umso leichter. Darüber hinaus bietet der Begriff der Maxime mannigfaltige Ansatzpunkte innerhalb der Lebenswelt.¹⁴ Bereits vor der moralischen Restriktion der Maximen hat die Vernunft eine Ordnungsfunktion inne.¹⁵ Da Maximen subjektive Zwecksetzungen sind, die den individuellen Gefühlsapparat widerspiegeln, haben sie auch eine subjektive Ordnungsfunktion. Sie bringen die Gewohnheiten und charakterlichen Eigenschaften einer Person in ein geordnetes Gefüge, das die situativen Affekte und die langfristigen Leidenschaften der Leitung durch die Vernunft unterstellen. So kann es sich jemand zur Maxime machen, in seiner Freizeit regelmäßig und langfristig seine Fitness zu verbessern, durch regelmäßiges Zähneputzen und gesunde Ernährung seine Gesundheit zu erhalten und durch die Pflege sozialer Beziehungen sein allgemeines Wohlbefinden aufrecht zu erhalten. Diese die individuelle Lebensführung betreffenden Zwecke scheinen einer moralischen Prüfung weder fähig noch nötig. Und doch bedarf es auch dort einer geregelten Führung. Das gilt umso mehr, wenn sich verschiedene Zwecke kurzfristig zu widersprechen scheinen.Wenn etwa neben den gerade genannten Maximen eine Neigung zum Genuss von gegorenem Traubensaft oder eine Vorliebe zu schnellem Essen besteht, scheint prima facie ein Widerspruch innerhalb der subjektiven Maximen vorzuliegen. Auch können verschiedene Maximen schon allein aufgrund knapper Zeit und Ressourcen in ein Spannungsverhältnis geraten. Berufliches Engagement gerät bekanntlich oft mit anderen Interessen, wie der Pflege der Beziehung, der Freundschaften und der Freizeit in Konflikt. Demnach bedarf es bereits in der empirisch subjektiven Sphäre
Vgl. etwa Bubner, Rüdiger: Handlung, Sprache und Vernunft. Grundbegriffe praktischer Philosophie, Frankfurt am Main 1976, 185 ff. Willaschek, Marcus: Praktische Vernunft, a.a.O., 60 ff. Eine ausführliche Untersuchung des Maximenbegriffs gibt Timmermann, Jens: Sittengesetz und Freiheit. Untersuchungen zu Immanuel Kants Theorie des freien Willens, Berlin/New York 2003, 145 ff.
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der individuellen Lebensführung der ordnenden Vernunft, die die verschiedenen Neigungen und daraus abgeleiteten Maximen langfristig in ein wohl abgewogenes Verhältnis bringt.¹⁶ Die Struktur des Glücks ergibt sich demnach aus der Struktur der Maximen. Die bloß subjektiven Maximen unterliegen stets der Prüfung durch den kategorischen Imperativ. Dabei wird zwischen erlaubten, gebotenen und verbotenen Maximen differenziert. Gewisse Maximen sind demnach verboten und müssen aus dem rationalen Selbstverhältnis des Individuums ausgeschlossen oder zumindest von der Vernunft beherrscht werden. Dass es sich dabei um existentiell allbekannte Phänomene handelt, die in ihrer Konkretion je für sich in bestimmten Situationen gemeistert werden müssen, wird durch eine einseitige Konzentration auf die abstrakten Grundbegriffe der kantischen Ethik leicht übersehen. Dass Kant selbst die Grundbegriffe seiner Ethik durch mühsame Abstraktionen aller erst gewinnen musste und dabei stets eine unglaubliche Vielfalt an alltäglichen Phänomenen vor Augen hatte, zeigen seine vielfältigen Ausführungen in der Tugendlehre. Noch deutlicher zeigt sich dies in den detailreichen Differenzierungen der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) bis hin zur Diätetik.¹⁷ Die Frage nach dem Glück ergibt sich ja aufgrund der Beherrschung durch die eigenen Affekte und Leidenschaften wie sie Kant in der Anthropologie ausführlich beschreibt. Kants zentrale Einsicht von der kategorischen Geltung der Moral versucht diesen kontingenten Einflüssen eine klare Richtung vorzugeben. Dabei übersah Kant aber nicht, dass es sich um eine unabschließbare lebenslange Aufgabe handelt. Die Unmöglichkeit der Erkenntnis der eigenen Moralität¹⁸ und die nie abschließend zu bezwingenden Neigungen sind dabei nur die zwei Seiten einer Medaille. Die Arbeit an den eigenen Maximen erfordert demnach eine ständige Reflexion auf ihre jeweilige Widerspruchsfreiheit, ihre wechselseitige Kohärenz und ihre Umsetzung in konkreten Situationen. Dabei stellt die Prüfung auf Verallgemeinerungsfähigkeit stets die erste Aufgabe dar. In der Konkretion des Handelns sind Moral und Glück nicht einfach entgegengesetzt, sondern verlangen immer wieder aufs Neue eine Vermittlung. Nach der moralischen Prüfung bleibt das
Vgl. KrV B 828: „Vereinigung aller Zwecke, die uns von unseren Neigungen aufgegeben sind, in den einigen der Glückseligkeit und die Zusammenstimmung der Mittel, um dazu zu gelangen, [macht] das ganze Geschäft der Vernunft [in ihrem regulativem Gebrauch aus].“ – Anthr. B 226/227: „Die Vernunft geht auch im Sinnlichpraktischen vom Allgemeinen zum Besonderen nach dem Grundsatze: nicht einer Neigung zu Gefallen die übrigen in Schatten oder in den Winkel zu stellen, sondern darauf zu sehen, daß jene mit der Summe aller Neigungen zusammen bestehen könne.“ Zur Diätetik siehe etwa den dritten Abschnitt im Streit der Facultäten, AA VII 95 ff. Vgl. Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, AA VIII 284 ff.
1.2 Die Struktur des Glücks
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Glücksstreben für den Menschen als endliches Vernunftwesen eine endgültig nie zu lösende Aufgabe. Die Maximen bilden die Struktur dieser Vermittlung insofern sie sowohl der moralischen Prüfung als auch dem eigenen Glücksstreben zugrunde liegen. Der offene und weite Gegenstandsbezug der Maximen verdeutlicht dabei die Schwierigkeit des eigenen Glücksstrebens, das als solches nicht a priori bestimmt werden kann, sondern der Erfahrung und des Experimentierens bedarf, um im zeitlichen Prozess des eigenen Lebens seine Konkretion und damit seinen Inhalt zu erhalten. Man wird aus der bisherigen Rekonstruktion Rückschlüsse auf die Konzeption des höchsten Guts und der Tugendlehre wagen dürfen. Zwar wird die Handlungstheorie bei Kant nicht eigens entwickelt und die Ordnungsfunktion der Vernunft im Bereich individueller Neigungen in der Kritik der praktischen Vernunft nicht mit der gewünschten Klarheit hervorgehoben¹⁹, und doch sieht man die Relevanz der Glückseligkeit für das höchste Gut und die Tugendpflichten. Schon auf empirischer Ebene gewährleistet die Vernunft in ihrem regulativen Gebrauch eine Zusammenstimmung aller Neigungen zu einem „erträgliche[n] System“ (KpV A 129). Doch selbst bei gegebener kohärenter Zusammenstimmung aller Neigungen kommt es letztlich auf eine primär moralische Orientierung des Handlungssubjekts an; das empirische Glücksstreben bedarf einer transzendenten Beschränkungsinstanz. Wenn das eigene Glücksstreben in Abhängigkeit oder Konflikt mit anderen endlichen Vernunftwesen gerät, wird der moralische universale Ausgleich unumgänglich. In diesem Sinne erfolgt die Begründung moralischer Fragen bei Kant stets unabhängig von individuellen Glücksüberlegungen, bleibt aber inhaltlich immer darauf bezogen. Denn aus dem Blickpunkt der ersten Person muss im Zweifelsfall das eigene Glücksstreben eingeschränkt werden, aus dem Blickpunkt der dritten Person wird im Gegenzug das Glück der fremden Person befördert. Dass Kant die Dringlichkeit der vormoralischen Handlungsanleitung deutlich gesehen hat, zeigen ebenso seine Ausführungen zu den hypothetischen Imperativen. Seine begrifflichen Distinktionen zwischen Maximen, hypothetischen Imperativen und kategorischem Imperativ haben für zahlreiche Kontroversen gesorgt. Insbesondere der deontologische Status der hypothetischen Imperative ist umstritten.²⁰ In
Nur eine kleine Andeutung findet sich in KpV A 129: „Alle Neigungen (die auch wohl in ein erträgliches System gebracht werden können, und deren Befriedigung alsdenn eigene Glückseligkeit heißt) machen die Selbstsucht (solipsimus) aus.“ [Herv. d. Verf.]. Auf diesen Aspekt kann hier nicht näher eingegangen werden. Immer noch grundlegend dazu Cramer, Konrad: Hypothetische Imperative? in: M. Riedel (Hg.): Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Bd. 1, Freiburg 1972, 159 – 212; Patzig, Günther: Die logischen Formen praktischer Sätze in Kants Ethik, in: ders.: Ethik ohne Metaphysik, Göttingen 1971, 101– 126;
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der Grundlegung differenziert Kant hypothetische Imperative weiter als in der Kritik der praktischen Vernunft zwischen Imperativen der Geschicklichkeit und der Klugheit (vgl. GMS AB 40 ff.). Imperative der Geschicklichkeit gebieten Mittel zu „allerlei beliebigen Zwecken“ (GMS AB 41). Der Zweck ist völlig beliebig, es wird nicht danach gefragt, ob er vernünftig oder moralisch ist. Beispiele dafür lassen sich beinahe unendliche aufzählen: Vorschriften des Arztes, handwerkliche Anweisungen zur Herstellung zahlloser Gegenstände, selbst banale Dinge wie Straßenbahn fahren, um zu einem beliebigen Ort zu gelangen. Darüber hinaus werden von den Neigungen Zwecke vorgegeben, wozu die Geschicklichkeit die nützlichsten Mittel sucht. Stets wird ein vorgegebener Zweck vorausgesetzt, auf dessen Grundlage die zweckrationale Geschicklichkeit die passenden Mittel sucht. Verbleibt das Individuum in dieser Geschicklichkeit als solcher, ist es keiner rationalen Prüfung der vorgegebenen Zwecke fähig und bleibt damit abhängig von den durch die Neigungen faktisch vorgegebenen Zwecken und Begierden. Daraus entstehen Affekte und Leidenschaften, die keiner Beschränkung und gegenseitigen Abwägung der Vernunft unterliegen. Im kantischen Theorierahmen stellt sich die Frage, ob das eigene Glück – als Befriedigung aller unserer Neigungen – bereits in der unmittelbaren Befriedigung der durch die Affekte und Leidenschaften vorgegebenen Zwecke besteht oder die Neigungen durchaus einer reflexiven Klärung fähig sind. Dazu kann auf keinen Fall die klare Differenz zwischen Moral und Glück zugunsten einer „moralischen Glückseligkeit“ aufgegeben werden, denn damit würde eindeutig die entscheidende Theoriekonstruktion Kants aufgegeben werden. Wenn also ein einfaches Zusammenfallen von Moral und Glück ausgeschlossen ist, so kann dessen ungeachtet eine reflexive Klärung der Neigungen zu einer partiellen Vermittlung der beiden Pole führen. Denn die Aufklärung der Neigungen im Hinblick auf ein langfristig wohlverstandenes Eigeninteresse wird, wie die Tugendlehre zeigt, durch die Tugenden zumindest in bestimmten Fällen gewährleistet. In den konkreten Tugendpflichten zeigt sich, dass eine moralische Orientierung im wohlverstandenen Eigeninteresse liegen kann, insofern dadurch zugleich das System der Maximen in ein geordnetes Gefüge gebracht und eine langfristige Befriedigung der eigenen Neigungen gewährleistet wird. Diese Vermittlung von Moral und Glück, das darf man nicht übersehen, gilt natürlich nicht notwendig. Das ist die entscheidende Einsicht der Antinomie der
Bittner, Rüdiger: Hypothetische Imperative, Zeitschrift für philosophische Forschung 34 (1980) 210 – 226; Steigleder, Klaus: Hypothetische Imperative als reflexive Urteile, in: Gerhardt, Volker/ Horstmann, Rolf-Peter/Schumacher, Ralph (Hgg.): Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, Bd. 3, Berlin/New York 2001, 113 – 121; Staege, Roswitha: Hypothetische Imperative, Kant-Studien 93 (2002) 42– 56.
1.2 Die Struktur des Glücks
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praktischen Vernunft in der Lehre vom höchsten Gut. Das einzelne Subjekt muss alles für die eigene Moralität und kann viel für das eigene Glück tun, aber letztlich bleibt die Übereinstimmung der beiden Bereiche im konkreten Fall kontingent. Kant versucht, wie unten ausführlich entwickelt wird, diese Schwierigkeit durch die Postulate der praktischen Vernunft (Unsterblichkeit und Gott) aufzulösen. Wenn man dieser Lösung heute nicht mehr zustimmen möchte, dann wird man die grundsätzliche Kontingenz einfach akzeptieren müssen. Die Imperative der Klugheit gebieten Mittel zur Erreichung des allgemeinen Zwecks endlicher Vernunftwesen – der Glückseligkeit. Dabei wird begrifflich ein Zweck für alle endlichen Vernunftwesen vorausgesetzt, aber die inhaltliche Spezifizierung ist abhängig von der kontingenten Beschaffenheit der Subjekte.²¹ Dementsprechend können die Imperative der Klugheit kein praktisches Gesetz abgeben. Im vorliegenden Zusammenhang ist aber von Bedeutung, dass Kant den Zweck der Glückseligkeit bei allen endlichen Vernunftwesen als wirklich ansieht. „Es ist gleichwohl ein Zweck, den man bei allen vernünftigen Wesen (sofern Imperative auf sie, nämlich als abhängige Wesen, passen) als wirklich voraussetzen kann, und also eine Absicht, die sie nicht etwa bloß haben können, sondern von der man sicher voraussetzen kann, daß sie solche insgesamt nach einer Naturnotwendigkeit haben, und das ist die Absicht auf Glückseligkeit.“ (GMS AB 42) Die Absicht der Glückseligkeit kann nicht nur empirisch aus der sinnlichen Natur des Menschen erkannt werden, man kann diese „sicher und a priori [Zusatz der BAuflage] bei jedem Menschen voraussetzen […].“ (GMS AB 42) Die apriorische Erkenntnis der Absicht nach Glückseligkeit mag irritieren. In der Tat könnte Kant diese Voraussetzung nicht unabhängig von seiner Moralkonzeption begründen. Zwar schreibt Kant an der gerade genannten Stelle das Glückstreben dem „Wesen“ des Menschen zu, doch ergibt sich die apriorische Erkenntnis der Glückseligkeit als notwendige Kontrastfolie zu sittlichen Pflichten, die endlichen Vernunftwesen als Imperativ erscheinen. Denn folgt man Kants streng allgemeiner, auf alle Vernunftwesen anwendbarer Moralkonzeption, so kommt das Glücksstreben allen endlichen Vernunftwesen zu, und dazu gehören auch etwa Engel. Um den kategorischen Imperativ als Imperativ einführen zu können, benötigt Kant eine Minimalanthropologie endlicher Vernunftwesen. Das Sittengesetz wird erst „für ein Wesen, bei dem Vernunft nicht ganz allein Bestimmungsgrund des Willens ist, ein Imperativ […].“ (KpV A 37) Da der Mensch qua homo phaenomenon ein bedürftiges Wesen ist, hat die Vernunft insofern einen „nicht abzulehnenden Auftrag, von Diese beiden Aspekte heben ebenfalls hervor Hinske, Norbert: Die „Rathschläge der Klugheit“ im Ganzen der Grundlegung, in: O. Höffe (Hg.): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main 1989, 131– 147, bes. 136 – 140; Steigleder, Klaus: Kants Moralphilosophie, a.a.O., 41 f.
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Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu kümmern und sich praktische Maximen, auch in Absicht auf die Glückseligkeit dieses, und, wo möglich, auch eines zukünftigen Lebens, zu machen.“ (KpV A 108) Das individuelle Glücksstreben ist demnach nicht nur eine Maxime, der viele Menschen zufällig folgen, sondern auch ein objektives Prinzip der praktischen Vernunft.²² Anders als die Imperative der Geschicklichkeit lassen die Imperative der Klugheit die reflexive Klärung der eigenen Neigungen zu. Denn hier wird der abstrakte Zweck der eigenen Glückseligkeit vorausgesetzt, dessen Konkretion aber offen gelassen. Aus demselben Grund, aus dem die Imperative der Klugheit kein unbedingtes praktisches Gesetz abgeben können, ermöglichen sie zugleich die reflexive Klärung des eigenen Glücksstrebens. Denn natürlich müssen zur Befriedigung des Glücksstrebens Neigungen befriedigt werden. Welche Neigungen, in welchem Ausmaß, in welchem Verhältnis und mit Hilfe welcher konkreten Handlungen befriedigt werden, bleibt aber offen und damit einer reflexiven Klärung fähig.
1.3 Kategorien der Freiheit Das Glücksstreben, so zeigte sich, kann anhand der zentralen Grundbegriffe der Kritik der praktischen Vernunft strukturell aufgeklärt werden. Die Begriffe der Maxime und der hypothetischen Imperative sind dabei von entscheidender Wichtigkeit und liefern bei einer sachlichen Rekonstruktion die Richtung, in der ein genaueres Verständnis der Struktur des Glücks bei Kant zu finden ist. Diese Zusammenhänge bleiben aber so lange ungenügend als das systematische Verbindungsglied zwischen der Grundlegung der Ethik, der Lehre vom höchsten Gut und der folgenden Tugendlehre unausgemacht bleibt.Wo erfolgt der systematische Übergang von der Begründung der transzendentalen Freiheit hin zu dem Menschen als vernünftiges Naturwesen? Wo werden Freiheit und Natur, Moral und Glück miteinander vermittelt? Selbst wenn die Lehre vom höchsten Gut und die Tugendlehre immanent plausibel rekonstruiert werden können, so bleibt diese Interpretation so lange problematisch als gerade der Anschluss dieser umstrittenen Textstücke an die zentralen Grundlagen zur Begründung des kategorischen Imperativs fragwürdig ist. Ich vertrete im Folgenden die These, dass sich die systematische Weichenstellung in dem wenig beachteten Zweiten Hauptstück der Kritik der praktischen Vernunft findet. Im Besonderen sind es die Kategorien der Freiheit, die den
So Paton, Herbert J.: Der kategorische Imperativ. Eine Untersuchung über Kants Moralphilosophie, Berlin 1962, 102 f.
1.3 Kategorien der Freiheit
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Abb. 1: Tafel der Kategorien der Freiheit in Ansehung der Begriffe des Guten und Bösen (vgl. KpV A 117).
Übergang von der Begründung des kategorischen Imperativs zur Lehre vom höchsten Gut und schließlich zum Spätwerk der Tugendlehre gewährleisten. Diese Vermittlungsstellung liegt schon allein deshalb nahe,weil die Kategorien direkt im Anschluss an die Grundsätze der reinen praktischen Vernunft den Begriff eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft entwickeln. Denn nach der epochalen Konzeption einer formalen Willensbestimmung ist das Fragwürdige in der Lehre vom höchsten Gut gerade die Vermittlung von Moral und Glück als „unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ [Herv. v. Verf.] (KpV A 194). Und das Fragwürdige an der Tugendlehre ist entsprechend, wie dort materiale Zwecke, die zugleich Pflicht sind, als Gegenstand der freien Willkür begründet werden können. Der Nachweis dieser These wird allerdings umso schwerer zu führen sein, als die Kategorien der Freiheit für sich in der Forschung lange kaum beachtet wurden.²³
Bereits Zwanziger, Johann C.: Commentar über Herrn Professor Kants Kritik der praktischen Vernunft, Leipzig 1794 spart in seinem durchgehenden Kommentar die Kategorien der Freiheit vollkommen aus. Erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts begann wieder eine Debatte ausgehend von Beck, Lewis W.: Kants „Kritik der praktischen Vernunft“, a.a.O.; siehe auch Benton, Robert J.: Kant’s Categories of Practical Reason as Such, Kant-Studien 71 (1980) 181– 201; Schönrich, Gerhard: Die Kategorien der Freiheit als handlungstheoretische Elementarbegriffe, in: Gerold Prauss (Hg.): Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie, Frankfurt a.M. 1986, 246 – 270; Bader, Ralf M.: Kant and the Categories of Freedom, British Journal for the History of Philosophy 17/4
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Entgegen Kants eigener Feststellung, er „füge hier nichts weiter zur Erläuterung gegenwärtiger Tafel bei, weil sie für sich verständlich genug ist“ (KpV A 118), ist selbst die systematische Stellung innerhalb der Kritik der praktischen Vernunft zumindest erklärungsbedürftig. Darüber hinaus werden zunächst die Begriffe des Guten und Bösen im Zweiten Hauptstück ausführlich diskutiert, bevor Kant abrupt und sehr knapp die Kategorien der Freiheit einführt, so dass auch der Übergang von jenen zu diesen erklärungsbedürftig erscheint.²⁴ Erst auf dieser Grundlage kann die systematische Relevanz der Kategorien der Freiheit für die Lehre vom höchsten Gut und die Perspektive der Tugendpflichten ermittelt werden. Deshalb wird im Folgenden zunächst (1) die Stellung der Kategorien der Freiheit in der Kritik der praktischen Vernunft aufgezeigt, danach wird (2) der Übergang von den Begriffen des Guten und Bösen zu den Kategorien der Freiheit erläutert, um schließlich (3) die Relevanz der Kategorien der Freiheit für die Lehre vom höchsten Gut und die Tugendlehre entwickeln zu können. (1) Die Einteilung der zweiten Kritik folgt in weiten Teilen der Kritik der reinen Vernunft. ²⁵ Kant zieht explizit eine Analogie zwischen den beiden Kritiken. Denn in theoretischer Hinsicht übersteigt die reine Vernunft ihre Grenzen über den Bereich möglicher Erfahrung und muss deshalb einer sorgfältigen Kritik unterzogen werden. Dagegen übersteigt in praktischer Hinsicht umgekehrt die empirisch-bedingte Vernunft ihre Grenzen und maßt sich eine „Alleinherrschaft“ (KpV A 121) an. Deshalb muss das gesamte, reine und empirische, Vermögen der praktischen Vernunft kritisiert werden, um zu zeigen, dass auch die reine praktische Vernunft zu einer Willensbestimmung fähig ist. „Da es immer noch reine Vernunft ist, deren Erkenntnis hier dem praktischen Gebrauche zum Grunde liegt, so wird doch die Einteilung einer Kritik der praktischen Vernunft, dem allgemeinen Abrisse nach, der der spekulativen gemäß angeordnet werden müssen.“ (KpV A 32) Wie die Kritik der reinen Vernunft so ist auch die Kritik der praktischen Vernunft zunächst untergliedert in eine Elementarlehre und eine Methodenlehre. Die Elementarlehre wiederum gliedert sich in eine Analytik und eine Dialektik. „Allein (2009), 799 – 820; Graband, Claudia: Das Vermögen der Freiheit. Kants Kategorien der praktischen Vernunft, Kant-Studien 96 (2005) 41– 65; eine systematische Gesamtdarstellung mit ausführlichem Forschungsüberblick gibt Zimmermann, Stephan: Kants „Kategorien der Freiheit“, Berlin 2011, hier 4 ff. Beck, Lewis W.: Kants „Kritik der praktischen Vernunft“, a.a.O., 125 f. – unterteilt das Zweite Hauptstück ebenfalls in die konzeptionell gradlinigen Begriffe des Guten und Bösen (KpV A 100 – 114), die kaum verständlichen Kategorien der Freiheit (KpV A 114– 119) und die konzeptionell ebenfalls einordbare Typik der reinen praktischen Vernunft (KpV A 119 – 126). Vgl. dazu Zimmermann, Stephan: Kants „Kategorien der Freiheit“, a.a.O., 15 ff.; Beck, Lewis W.: Kants „Kritik der praktischen Vernunft“, a.a.O., 49; Paton, Herbert J.: Der kategorische Imperativ, a.a.O., 86 f.
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die Ordnung in der Unterabteilung der Analytik wird wiederum das Umgewandte von der in der Kritik der reinen spekulativen sein. Denn in der gegenwärtigen werden wir von Grundsätzen anfangend zu den Begriffen und von diesen allererst, wo möglich, zu den Sinnen gehen“ (KpVA 32 f.). Beide Gliederungen sind demnach analog, aber innerhalb der Analytik umgekehrt. Die erste Kritik beginnt bekanntlich mit der transzendentalen Ästhetik, worauf die transzendentale Analytik folgt, mit ihren beiden Teilen, zuerst der Analytik der Begriffe und danach der Analytik der Grundsätze. Dagegen muss die zweite Kritik im „Ersten Hauptstück“ mit den Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft beginnen, um danach die Begriffsanalytik im „Zweiten Hauptstück“ durchzuführen und schließlich mit der Triebfederästhetik im „Dritten Hauptstück“ enden. Diese Umkehrung der Einteilung gibt bereits einen Hinweis auf die Perspektive und das richtige Verständnis der Begründung des kategorischen Imperativs und dadurch auch auf die Kategorien der Freiheit. Kant selbst begründet diese Umkehrung. „Hievon liegt der Grund nun wiederum darin: daß wir es jetzt mit einem Willen zu tun haben, und die Vernunft nicht im Verhältnis auf Gegenstände, sondern auf diesen Willen und dessen Kausalität zu erwägen haben, da denn die Grundsätze der empirisch unbedingten Kausalität den Anfang machen müssen, nach welchem der Versuch gemacht werden kann, unsere Begriffe von dem Bestimmungsgrunde eines solchen Willens, ihrer Anwendung auf Gegenstände, zuletzt auf das Subjekt und dessen Sinnlichkeit, allererst festzusetzen.“ (KpV A 32) Wie bereits gezeigt wurde, ergibt sich die Problemstellung zur Begründung des kategorischen Imperativs aus der Freiheitsantinomie und deren problematischer Auflösung. Das Thema ist demnach die Spontanität des Willens nach einem Gesetz der Freiheit. Anders als in der transzendentalen Ästhetik, die mit dem rezeptiven Vermögen anfangen musste, weil nur dadurch Gegenstände überhaupt gegeben werden können, muss die Kritik der praktischen Vernunft mit der Aufklärung der Spontanität als wechselseitiges Verhältnis von Wille und Vernunft beginnen. Die Begriffe der reinen praktischen Vernunft, die Kategorien der Freiheit, können erst auf die formale Willensbestimmung durch das praktische Gesetz folgen. Sie bilden damit den ersten Übergang zu Gegenständen und schließlich zur Sinnlichkeit des Subjekts. Wenn man die zentrale Stellung der Kategorien der Natur zur Konstitution der Erkenntnisgegenstände in Betracht zieht, kann die Konzentration der Interpreten auf das Erste Hauptstück nur verwundern. Denn es wird hier zwar die grundlegende Struktur der Spontanität des Willen durch das wechselseitige Verhältnis von Freiheit des Willens und moralischem Gesetz begründet, dies allein ist aber keinesfalls hinreichend für ein Handeln endlicher Vernunftwesen. Diese benötigen als endliche einen Gegenstand ihres Begehrungsvermögens und ein sinnliches Gefühl als Handlungsmotivation. Auch wenn Kant die transzendentalen Grundlagen moralischer Verantwortung in aller Klar-
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1 Die Perspektive der Kritik der praktischen Vernunft
heit herausgearbeitet hat, sah er nichtsdestotrotz die Notwendigkeit einer Vermittlung der Spontanität des Willens mit der Rezeptivität der Neigungen. Wie sich in der genaueren Besprechung der Kategorien der Freiheit noch zeigen wird, ordnen diese das gesamte endliche Begehrungsvermögen durch die Unterordnung aller „Begehrungen“ (KpV A 116) unter das moralische Gesetz. Wie die Einteilungen der Kritik der praktischen Vernunft deutlich zeigen, muss die formale Willensbestimmung der Bestimmung der Begriffe des Guten und Bösen vorhergehen. Sie allein ermöglicht aber kein konkretes praktisches Urteil, dazu sind die Begriffe des Guten und Bösen und dessen Modifikationen, die Kategorien der Freiheit erforderlich. Wie die Grundsätze in der Kritik der reinen Vernunft die vielfältigen Kategorien der Natur zu einer höheren Einheit zusammenführen, so explizieren umgekehrt die Kategorien der Freiheit den sittlichen Grundsatz des kategorischen Imperativs und ermöglichen dadurch zu allererst ein konkretes praktisches Urteil.²⁶ (2) Diese grundsätzliche Stoßrichtung wird allerdings dadurch problematisch, dass der Zusammenhang zwischen den Begriffen des Guten und Bösen und den Kategorien der Freiheit nicht deutlich ist. Das zweite Hauptstück²⁷ zerfällt nämlich in die beiden Unterkapitel „Von dem Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (KpV A 100) und „Von der Typik der reinen praktische Urteilskraft“ (KpV A 119). Das Zweite Hauptstück ist bereits rein quantitativ betrachtet auffallend knapp, in der Originalausgabe zählt es lediglich 27 Seiten. Im Unterkapitel „Von dem Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“, das im vorliegende Zusammenhang von Wichtigkeit ist, werden zunächst die Begriffe des Guten und Bösen relativ ausführlich in zwölf Absätzen behandelt, bevor in nur vier sehr knapp gehaltenen Absätzen die Kategorien der Freiheit aufgeführt werden. Der Zusammenhang zwischen den Begriffen des Guten und Bösen und den Kategorien der Freiheit ist selbst erklärungsbedürftig. Neben der textlichen Aneinanderreihung wird in der Überschrift zu den Kategorien der Freiheit ein Zusammenhang hergestellt. Diese heißt: „Tafel der Kategorien der Freiheit in Ansehung der Begriffe des Guten und Bösen“ (KpV A 117). Wie genau diese Hinsichtnahme „in Ansehung des Guten und Bösen“ zu verstehen ist, eröffnet angesichts der dürftigen
Für eine detaillierte Darstellung der Analogie zwischen den Kategorien der Natur und den Kategorien der Freiheit vgl. Stolzenberg, Jürgen: Subjektivität und Freiheit. Zu Kants Theorie praktischer Selbstbestimmung, in: J. Chotas & J. Karasek (Hgg.): Metaphysik und Kritik. Interpretationen zur „Transzendentalen Dialektik“ in der Kritik der reinen Vernunft, Würzburg 2008, 251– 268; Zimmermann, Stephan: Kants „Kategorien der Freiheit“, a.a.O. Einen Überblick gibt auch Pieper, Annemarie: Zweites Hauptstück, in: O. Höffe (Hg.): Immanuel Kant. Kritik der praktischen Vernunft (Reihe Klassiker Auslegen), Berlin/New York 2002, 115 – 134.
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Textbasis einen weitreichenden Interpretationsspielraum. Ich vertrete im Folgenden die These, dass die Kategorien der Freiheit insgesamt Modifikationen und Spezifikationen der Begriffe des Guten und Bösen darstellen.²⁸ Unter einem Begriff der praktischen Vernunft versteht Kant „die Vorstellung eines Objekts als einer möglichen Wirkung durch Freiheit.“ (KpV A 101) Die lateinischen Begriffe malum und bonum konnten noch keine hinreichende Unterscheidung der beiden Bedeutungen begründen. Dagegen verfügt die deutsche Sprache bereits im gewöhnlichen Sprachgebrauch über eine klare Trennung: für bonum das Gute und das Wohl, für malum das Böse und das Übel. Das Gute und das Wohlergehen auf der positiven Seite unterscheiden sich, und Kant bietet mit seiner Konzeption ein hinreichendes Unterscheidungskriterium. Eine Handlungsbestimmung durch die Begriffe des Wohl und Übels liegt vor, wenn ein „Objekt als der Bestimmungsgrund unseres Begehrungsvermögens angenommen wird.“ (KpV A 101) Dazu muss zuerst geprüft werden, ob das Objekt durch freien Gebrauch unserer Kräfte physisch möglich ist, und erst dann kann beurteilt werden, ob es sich um einen Gegenstand der praktischen Vernunft handelt. Liegt ein Objekt der Handlungsbestimmung zugrunde, so kommt der Begriff des Guten vor dem praktischen Gesetz. Wenn der Begriff des Guten dem praktischen Gesetz zugrunde liegen soll, „so kann er nur der Begriff von etwas sein, dessen Existenz Lust verheißt und so die Kausalität des Subjekts zur Hervorbringung desselben, d.i. das Begehrungsvermögen bestimmt.“ (KpV A 102) Aus dem Objekt wird das Gebot zu dessen Erreichung abgeleitet. Dies ist aber nur möglich, wenn die Existenz des Objekts Lust verspricht und dadurch das Begehrungsvermögen des Subjekts zur Hervorbringung bestimmt. So bezieht sich der Begriff des Guten in diesem Sinne zuletzt auf das Gefühl der Lust und Unlust. Da es aber unmöglich ist, a priori zu bestimmen welche Vorstellung mit Lust und welche mit Unlust verbunden wird, taugt der Begriff des Wohls und Übels nicht zum allgemeinen Gesetz. Wenn darüber hinaus gut genannt wird, „was ein Mittel zum Angenehmen“ (KpV A 103) ist, dann erfolgt diese Beurteilung durch die Vernunft, ermöglicht aber nur eine hypothetische Beurteilung des Guten und keine kategorische. Denn auch dort bleibt die entscheidende Instanz das Gefühl der Lust. Man sieht daran bereits die Differenzierungen, die Kant durch die Kategorien der Freiheit explizieren wird. So sind alle unmittelbaren praktischen Urteile, die
So auch Beck, Lewis W.: Kants „Kritik der praktischen Vernunft“, a.a.O., 142 ff.; Kobusch, Theo: Die Kategorien der Freiheit. Stationen einer historischen Entwicklung: Pufendorf, Kant, Chalybäus, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 15 (1990) 13 – 37, hier: 26; Graband, Claudia: Das Vermögen der Freiheit, a.a.O., 49; Bobzien, Susanne: Die Kategorien der Freiheit bei Kant, in: H. Oberer (Hg.): Kant. Analysen-Probleme-Kritik, Bd. 1, Würzburg 1988, 193 – 219, hier: 205 – dagegen argumentiert Zimmermann, Stephan: Kants „Kategorien der Freiheit“, a.a.O. 45 ff.
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sich auf das Angenehme beziehen, Maximen. Werden kurzfristige Unannehmlichkeiten in Kauf genommen für eine langfristige Zufriedenheit, handelt es sich um hypothetische Imperative, die letztlich auf die eigene Glückseligkeit, das eigene Wohl zielen. „Das Wohl und Übel bedeutet immer nur eine Beziehung auf unseren Zustand der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit […].“ (KpV A 106) Dagegen können die Begriffe des Guten und Bösen nur hinreichend bestimmt werden, wenn sie nicht von irgendeinem Objekt abhängig gemacht werden. Ist das Gesetz a priori Bestimmungsgrund der Maximen, so bleibt die Frage nach dem Gegenstand reiner praktischer Vernunft gänzlich unabhängig von dem physischen Vermögen. Der physischen Möglichkeit muss die moralische Möglichkeit vorangehen. Hier ist nicht ein Gegenstand, sondern das Vernunftgesetz der Bestimmungsgrund des Willens. „Das Gute und das Böse bedeutet aber jederzeit eine Beziehung auf den Willen, so fern dieser durchs Vernunftgesetz bestimmt wird, sich etwas zum Objekte zu machen;“ (KpV A 106) Das Paradoxon der Methode in der Kritik der praktischen Vernunft besteht darin, dass der Begriff des Guten und Bösen nicht dem Gesetz vorhergeht, sondern umgekehrt gerade durch das Gesetz aller erst bestimmt wird. Kant sieht darin „den veranlassenden Grund aller Verirrungen der Philosophen in Ansehung des obersten Prinzips der Moral.“ (KpV A 113) Denn wenn man nicht, so Kant, das Gesetz den Begriffen des Guten und Bösen voranstellt, so muss man einen Gegenstand des Willens aufsuchen, um ihn zur Materie und zum Grund des Gesetzes zu machen. Damit bezieht sich aber letztlich jeder Gegenstand auf das Gefühl der Lust und Unlust und kann deshalb kein allgemein gültiges Gesetz generieren. „Die Alten“ begingen gerade den Fehler, zuerst den Begriff des höchsten Guts als eines Gegenstandes zu bestimmen, welchen sie hinterher zum Bestimmungsgrund des Willens erklärten. Kant dagegen zieht deutlich den Unterschied zwischen dem Guten und dem Wohlergehen. Zuerst begründet er das moralische Gesetz als formalen Bestimmungsgrund des Willens und danach kann das höchste Gut dem seiner Form nach bestimmten Willen als Gegenstand vorgestellt werden. Die Hierarchie der kantischen Theoriekomponenten ist klar geregelt und aufeinander abgestimmt. Überdies gelingt Kant damit ebenfalls eine klare Eingliederung der Glückseligkeit in das Moralgefüge. Die Begriffe des Wohl und Wehe zielen vermittelt über das Gefühl der Lust und Unlust zuletzt auf die Glückseligkeit. So kommt „in der Beurteilung unserer praktischen Vernunft gar sehr viel, und, was unsere Natur als sinnliche Wesen betrifft, alles auf unsere Glückseligkeit an.“ (KpV A 107) Man muss nur deutlich sehen, dass die Entgegensetzung von Moral und Glück im ersten Hauptstück noch zur moralischen Disqualifizierung des Glücks führte, wohingegen im zweiten Hauptstück die Entgegensetzung sich bereits unter den Titeln des Guten und des Wohls zu einem hierarchischen Verhältnis verwandelt und
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das Glück an untergeordneter Stelle integriert.²⁹ Und dies, weil Kant die entscheidende Begründung der transzendentalen Freiheit und der formalen Willensbestimmung bereits voraussetzen kann. Der Mensch als endliches Vernunftwesen bedarf, um überhaupt handeln zu können, eines Gegenstandes des Begehrungsvermögens. Dieses hierarchische Verhältnis wird von Kant im neunten Absatz des zweiten Hauptstücks erläutert. Dort betont er die Wichtigkeit der Glückseligkeit für den Menschen als „ein bedürftiges Wesen, so fern er zur Sinnenwelt gehört“ (KpV A 108). Überdem hat die Vernunft zuerst und ebenfalls dort „einen nicht abzulehnenden Auftrag, von Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern und sich praktische Maximen, auch in Absicht auf die Glückseligkeit […] zu machen.“ (ebd.) Und dies aus dem einfachen Grund, weil die Ethik Kants wie alle Ethiken für den Menschen als endliches Vernunftwesen konzipiert ist. Dabei stellt die sinnliche Naturanlage des Menschen die notwendige Grundlage aller Überlegungen dar. Diese ist es, die der gesamten Kritik der praktischen Vernunft die Fragestellung vorgibt und diese ist es entgegen möglicher Missverständnisse auch, die in der radikalen Begründung der formalen Willensbestimmung erhalten bleibt. Demnach bleibt die Tierheit des Menschen die notwendige Ausgangsbasis aller Begehrungen. Diese können in einem ersten Schritt durch die Vernunft in zeitlicher und reflexiver Weise geordnet werden. Das auszeichnende Merkmal des Menschen ist darüber hinaus, wie das erste Hauptstück gezeigt hat, „nämlich auch das, was an sich gut oder böse ist, und worüber reine, sinnlich gar nicht interessierte Vernunft nur allein urteilen kann, nicht allein mit in Überlegung zu nehmen, sondern diese Beurteilung von jener [der Beurteilung des Wohl und Weh] gänzlich zu unterscheiden, und sie zur obersten Bedingung des letzteren zu machen.“ (KpV A 108 f.) Im 13. und 14. Absatz des zweiten Hauptstücks kommt der plötzliche Umschwung von den Begriffen des Guten und Bösen zu den Kategorien der Freiheit.³⁰ Während der erste Absatz mit den Begriffen des Guten und Bösen beginnt und die Kategorien der Freiheit nicht eigens erwähnt, beginnt merkwürdigerweise der zweite Absatz mit einem direkten Rückbezug: „Diese Kategorien der Freiheit“ (KpV A 116). Der Gesamtzusammenhang zeigt, dass die Kategorien der Freiheit Modifikationen der Begriffe des Guten und Bösen darstellen. Denn beide werden explizit je für sich mit den theoretischen Kategorien der Natur in Beziehung gesetzt.
In diesem Sinne unterscheidet Dieringer, Volker: Was erkennt die praktische Vernunft? Zu Kants Begriff des Guten in der Kritik der praktischen Vernunft, Kant-Studien 93 (2002) 137– 157, 149 ff. – die auf Glückseligkeit zielende praktische Vernunfterkenntnis (erste Stufe), welche aber die auf das Gute zielende reine praktische Vernunfterkenntnis (zweite Stufe) voraussetzt. Für eine detaillierte Analyse des Textes vgl. auch Zimmermann, Stephan: Kants „Kategorien der Freiheit“, a.a.O., 63 ff.
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Zudem zeigt dies der sachliche Zusammenhang. Denn die Begriffe des Guten und Bösen werden, wie bereits aufgezeigt wurde, durch das moralische Gesetz bestimmt und vermitteln die transzendentale Freiheit mit den Begehrungen und Handlungen als Erscheinungen. Gerade dieser Zusammenhang wird aber aufs Deutlichste durch die Kategorien der Freiheit aufgeklärt. Entscheidend ist meines Erachtens die Einsicht, dass die Begriffe des Guten und Bösen zwar vom moralischen Gesetz bestimmt werden, dass sie aber kein Gegensatz, sondern nur eine oberste Bedingung der Begriffe des Wohl und Wehe darstellen. Dieses hierarchisch geordnete Begründungsverhältnis spiegelt sich innerhalb der Ausgestaltung der Kategorien der Freiheit wieder, ohne dass dazu mehrere Hinsichten der Kategorien der Freiheit unterschieden werden müssten.³¹ (3) So kommt es zu einer eigentümlichen Perspektivenverschiebung, die leicht übersehen wird. Im Ersten Hauptstück untersuchte Kant den „Bestimmungsgrund des Willens“ (KpV A 48), im Zweiten Hauptstück untersucht er den „Bestimmungsgrund der Handlung“ (KpV A 101) oder, was dasselbe meint, den „Bestimmungsgrund unseres Begehrungsvermögens“ (ebd.) Die beiden Alternativen, die Kant als Bestimmungsgrund in Betracht zieht, sind ein „Objekt“ oder „das Gesetz a priori“. Wenn man nun bedenkt, dass Kant in den §§ 5 und 6 das wechselseitige Verhältnis von Wille und Gesetz nachgewiesen hatte, dann ist mit dem Gesetz a priori als Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens zugleich der Wille als Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens impliziert. Demnach setzt das Zweite Hauptstück eine Ebene weiter an. Kant setzt hier die transzendentale Bestimmung des Willens selbst voraus und fragt nun, wie der Wille als Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens wirken kann. Und das kann er nur, wenn er einen Gegenstand bestimmt, den das Begehrungsvermögen handelnd verwirklicht. Die Perspektive verschiebt sich demnach von der Struktur der Freiheit hin zum endlichen moralischen Bewusstsein, das als endliches in die empirische Welt hinein wirkt, aber durch reine praktische Vernunft bestimmt wird (vgl. KpV A 115). Auch wenn Kant selbst in der weiteren Argumentation oder in späteren Schriften merkwürdigerweise keinen Bezug mehr nimmt auf die Kategorien der Freiheit, so lassen sie sich doch sinnvoll einreihen in die weitere Argumentation der Dialektik bis hin zur Tugendlehre. Berücksichtigt man die Perspektive des Zweiten Hauptstücks, das nicht die Struktur des Willens, sondern das Verhältnis des Willens zur Handlung betrachtet, so werden die Differenzierungen der Kategorien der Freiheit schnell verständlich. Weil der Wille in seinem Verhältnis zur Handlung betrachtet wird, und weil die Handlungen einerseits durch ein Gesetz der Freiheit bestimmt werden und insofern zu dem „Verhalten intelligibler Wesen“
So Zimmermann, Stephan: Kants „Kategorien der Freiheit“, a.a.O., 35 ff.
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(KpV A 115) gehören, andererseits aber als empirische Ereignisse zu den Erscheinungen gehören, werden die Kategorien der Freiheit nur in ihrer Beziehung auf die sinnliche Welt der Erscheinungen Gültigkeit beanspruchen dürfen. Kant expliziert diesen Zusammenhang nicht mit der gewünschten Deutlichkeit. Klar ist aber doch, dass die Kategorien ihre Gültigkeit der transzendentalen Freiheit verdanken, ihre Anwendung aber immer bezogen bleiben muss auf sinnliche Erscheinungen. Wie nun die Kategorien des Verstandes das Mannigfaltige der (sinnlichen) Anschauung unter ein Bewusstseins a priori bringen, so wird durch die Kategorien der Freiheit das Mannigfaltige der (sinnlichen) Begehrungen der Einheit des moralischen Bewusstseins „unterworfen“ (KpV A 115). Die Kategorien der Freiheit decken infolgedessen sowohl den Bereich der Natur als auch den Bereich der Vernunft ab. Sie bringen alle möglichen, endliche und unbedingte, Bestrebungen unter ein einheitliches Bewusstsein. Die Einheit des Bewusstseins ergibt sich dabei sowohl aus der Kohärenz bedingter Gegenstände als auch aus der Kongruenz mit dem obersten Grundsatz, dem kategorischen Imperativ. Vergegenwärtigt man sich diese abstrakten Überlegungen im Hinblick auf lebensweltliche Phänomene, wird deren Plausibilität umso deutlicher sichtbar. Die Neigungen im Bereich der Maximen müssen zunächst zu einer kohärenten Einheit verbunden werden. Unser „Wohl und Weh“ (KpV A 107) als vorübergehende Empfindungen werden durch die praktische Vernunft im Hinblick auf die individuelle Glückseligkeit durchaus berücksichtigt. Da die Gegenstände der reinen praktischen Vernunft das gesamte Spektrum möglicher Bestrebungen ordnen, und dazu auch Strebungen gehören, die aufgrund unserer „Natur als sinnlicher Wesen“ (KpVA 107) entstehen, müssen diese auf eine bestimmte Weise geordnet werden. Auf der ersten Ebene entwirft die Vernunft dazu einen aufgeklärten Hedonismus, demzufolge die zufälligen und „vorübergehenden Empfindungen“ des „Wohl und Weh“ nicht isoliert betrachtet werden, sondern im Hinblick „auf unsere ganze Existenz und die Zufriedenheit mit derselben“ (KpV A 108). Leider expliziert Kant diesen Sachverhalt nicht in wünschenswerter Deutlichkeit, da es ihm im Zweiten Hauptstück im Besonderen auf die Abgrenzung der Lustperspektive von der Moralperspektive ankommt. Diese unscheinbare Differenzierung ist aber von entscheidender Tragweite für die Vermittlung von Moral und Glück. Denn dadurch wird das Glück einer reflexiven Klärung fähig, die die moralische Orientierung zur obersten Bedingung hat und zugleich auf das wohlverstandene Eigeninteresse, die Befriedigung der eigenen Neigungen bezogen bleibt. Auch die empirischen Zustände der Handlungssubjekte sind notwendige Gegenstände der reinen praktischen Vernunft. Ausgehend von den unmittelbaren und zufälligen Empfindungen greift die Vernunft regulativ in das Emotionsgefüge ein, indem sie diese im Hinblick auf eine langfristige Zufriedenheit mit dem Ganzen der eigenen Existenz beurteilt. Das Glück besteht demnach nicht nur in
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1 Die Perspektive der Kritik der praktischen Vernunft
einer vorreflexiven Anhäufung positiver Lustzustände, sondern in der praktischen Regulation der Empfindungen durch die Vernunft. Und diese Tätigkeit der Vernunft setzt ein reflexives Urteil im Hinblick auf das ganze der eigenen Existenz voraus. Die Vernunft beurteilt und reguliert also sowohl einzelne Empfindungen im Hinblick auf die konkrete Situation, sie beurteilt aber ebenso die konkrete Situation im Hinblick auf das Ganze der eigenen Existenz. Die Zeitdimension³² ist dabei ein wesentliches Kriterium, weil kurzfristige Empfindungen zu früheren und erwarteten Empfindungen in Beziehung gesetzt werden müssen. Doch bei einer rein immanenten auf Kohärenz ausgerichteten Beurteilung der Empfindungen bleibt die letzte Ausrichtung der Maximen offen. Über eine widerspruchsfreie Subjektivität verfügt sowohl der Teufel als auch der Prophet. Deshalb dürfen die Neigungen nicht beliebig hierarchisiert und miteinander widerspruchsfrei verbunden werden. Vielmehr müssen sie so in Bezug zueinander gesetzt werden, dass das moralische Gesetz die oberste und letzte Bewertungsinstanz darstellt, nach deren Vorgaben die Maximen zu ordnen sind. Auf diese Weise entsteht das Bild eines bewussten Lebens, das die faktischen Neigungen, Affekte und Leidenschaften kohärent zusammenführt und unter die einigende Bedingung des Moralgesetzes stellt. Nicht nur der Mensch als intelligible Persönlichkeit ist der Bezugspunkt der Moral, auch der empirische Zustand der Person muss letztlich integriert werden. Auf der Grundlage des kantischen Glücksbegriffs sieht man schnell, dass das Glück als empirischer Zustand ein notwendiger Teil der Einheit des moralischen Bewusstseins ist. Das gilt umso mehr, als nach Kant die Kategorien der Freiheit die „praktische Vernunft überhaupt“ (KpV A 116) ordnen. Und diese beinhaltet sinnlich-bedingte, aber moralisch unbestimmte Gegenstände (Kultur, Spaß, Entspannung), sinnlich-bedingte, aber moralisch eingeschränkte Gegenstände (Affekte und Leidenschaften) und natürlich sinnlich-unbedingte Gegenstände (kategorische Imperative). Man muss sich von dieser entscheidenden, aber freilich wenig beachteten Stelle aus wundern, wie viele Kant-Interpreten die grundsätzliche Notwendigkeit des Begriffs des Höchsten Guts in Frage stellen können. Denn in der Lehre vom Höchsten Gut werden lediglich die beiden Bereiche der Natur und der Freiheit vermittelt, die bereits in den Kategorien der Freiheit als notwendiger Gegenstand der reinen praktischen Vernunft bestimmt worden sind. Und die Tugendlehre führt diese Vermittlung weiter aus, indem sie objektive Zwecke zur Pflicht macht, die die Struktur des endlichen Bewusstseins berücksichtigen. Seel, Martin: Rhythmen des Lebens. Kant über leere und erfüllte Zeit, in: W. Kersting & C. Langbehn (Hgg.): Kritik der Lebenskunst, Frankfurt am Main 2007, 181 ff. – zeigt nachdrücklich die zentrale Rolle der Zeitdimension für das Glücksstreben anhand der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht auf.
1.3 Kategorien der Freiheit
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Besonders deutlich zeigt sich dies an den Kategorien der Quantität. Hier ist die klare Hierarchie ausgehend von den Maximen, über die Vorschriften der hypothetischen Imperative bis hin zu den moralischen Gesetzen deutlich zu greifen. Auch die Kategorien der Relation zeigen diese Verbindung von natürlichen und rein vernünftigen Perspektiven, die beide berücksichtigt werden müssen, aber unterschiedlich hierarchisiert werden. Moralische Handlungen beziehen sich demnach primär auf die moralische Persönlichkeit der eigenen Person, weil an diese der Imperativ gerichtet ist und ihre moralische Integrität die oberste Bedingung aller anderen Relationen darstellt. Davon ausgehend werden die Handlungen aber auch in Relation auf den (empirischen) Zustand der eigenen Person betrachtet. Wie unschwer zu sehen ist, bezieht sich der objektive Zweck der eigenen Vollkommenheit in der Tugendlehre auf diese Relationskategorien. Er fordert in seinen beiden Teilen nicht nur die Kultur der Moralität (Relation auf die Persönlichkeit), sondern auch die Kultur aller Vermögen überhaupt (Relation auf den Zustand der Person). Die dritte der Relationskategorien betrachtet das wechselseitige Verhältnis einer Person auf den Zustand der anderen und nimmt in dieser Formulierung den zweiten objektiven Zweck der Tugendlehre, die fremde Glückseligkeit, vorweg. Unter Berücksichtigung der Kategorien der Qualität lassen sich die beiden Teile der fremden Glückseligkeit rekonstruieren. Als praktische Regel des Begehens wird die positive Beförderung der physischen Wohlfahrt gefordert. Als praktische Regel des Unterlassens werden Handlungen verboten, die dem moralischen Wohlsein der Person entgegenstehen. Wie sich gezeigt hat, begründet Kant in der Grundlegung der Ethik den Übergang von reiner Vernunft zum sinnlichen Handeln. Sobald der freie Wille in den endlichen Bereich empirischer Handlungen wirkt, benötigt er einen Gegenstand, den er verwirklichen kann. Alle möglichen Gegenstände des endlichen Bewusstseins werden durch die Kategorien der Freiheit geordnet und zur Einheit einer geordneten Struktur zusammengefügt. Übersehen darf man dabei nicht, dass die Begründung der Grundsätze, des kategorischen Imperativs, nicht von empirischen Gegenständen anfangen darf, dass aber davon ausgehend die reine praktische Vernunft durchaus Gegenstände entwerfen muss, weil alles Handeln auf Gegenstände gerichtet ist. Kant berücksichtigt folglich zur Begründung der ethischen Prinzipien in der Kritik der praktischen Vernunft die Struktur sinnlicher Vernunftwesen überhaupt und schafft damit die Voraussetzung für die folgende Tugendlehre. Aber erst in der letzteren berücksichtigt er die spezifischen menschlichen Bedingungen zur Ausführung der ethischen Prinzipien. Damit zeigt sich die klare Hierarchisierung von Moral und Glück bis hinein in die Formulierungen zur Lehre vom höchsten Gut. Denn auch dort stellt die Moral die oberste Bedingung dar. Nicht umsonst erwähnt Kant das höchste Gut vermehrt im
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zweiten Hauptstück, weil dort ja der Gegenstand der reinen praktischen Vernunft bestimmt wird und dieser konsequent zur Dialektik der reinen praktischen Vernunft führt. „dem nunmehr seiner Form nach a priori bestimmten Willen“ (KpV A 114 f.) kann das höchste Gut als Gegenstand vorgestellt werden.Wie gezeigt wurde, ordnen die Kategorien der Freiheit das gesamte Begehrungsvermögen auf die oberste Bedingung der Moralität hin. Damit zeigt sich bereits wie die Idee eines höchsten Gutes aus den Begriffen der reinen praktischen Vernunft entstehen kann.
2 Die Lehre vom höchsten Gut Wie gezeigt wurde, entwickelt die Begründung des kategorischen Imperativs die Struktur transzendentaler Freiheit. Diese wurde in der Kritik der reinen Vernunft aus kosmologischer Sicht behandelt und unter Bezug auf die Doppelnatur des Menschen in problematischer Hinsicht aufgelöst. Die Kritik der praktischen Vernunft knüpft an diese praktische Perspektive an, indem sie durch die Begründung des Sittengesetzes zugleich die Wirklichkeit transzendentaler Freiheit aufweist. In den Kategorien der Freiheit findet jedes Begehren eine auf das Sittengesetz gestützte praktische Ordnung. Wird diese praktische Perspektive wieder auf eine kosmologische Perspektive ausgeweitet, folgt daraus die Lehre vom höchsten Gut als unbedingter Gegenstand einer reinen praktischen Vernunft. Dabei zeigen sich vielfältige Schwierigkeiten in der kantischen Konzeption, die nicht umsonst eine insgesamt kritische Rezeptionsgeschichte erfahren hat. Wenn auch die Lehre vom höchsten Gut inhaltlich nicht zu überzeugen vermag, gibt sie doch einen beachtlichen Hinweis auf die weitere Entwicklung der kantischen Ethik in der Tugendlehre. Denn dort werden die Bestandteile des höchsten Guts wieder dem Handlungsspielraum des Individuums eröffnet. In den Tugendpflichten zur Beförderung der eigenen Vollkommenheit und der fremden Glückseligkeit werden beide Teile des höchsten Guts in die moralische Verantwortung der Menschen gestellt. Im Folgenden wird zunächst eine kurze Übersicht zur Rezeption der Lehre des höchsten Guts bei Kant vorgestellt und die wichtigsten systematischen Einwände dazu herausgestellt (2.1.). Danach wird die problematische Lösung Kants detailliert besprochen (2.2.).
2.1 Rezeption Wenn die kantische Lehre vom höchsten Gut überhaupt rezipiert wurde, dann meist in kritischer Perspektive. Häufig wurde sie als Unsinn eines alternden Philosophen dargestellt. Auch die systematische Beschäftigung mit dem Problem
2.1 Rezeption
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des höchsten Guts bzw. des summum bonum scheint nach Kant abrupt abzubrechen.³³ Überblickt man die Rezeptionsgeschichte der kantischen Lehre vom höchsten Gut in Umrissen, zeigen sich erstaunliche Konvergenzen, aus denen sich in systematischer Perspektive die zentralen Einwände herauspräparieren lassen. Zunächst werden in einem chronologischen Überblick die wichtigsten Stationen dargestellt (1); im Anschluss werden, darauf aufbauend, die gewichtigsten Einwände nochmals zusammenfassend formuliert (2). (1) Bereits direkt nach Erscheinen der Kritik der praktischen Vernunft provozierte Kants Konzeption des höchsten Guts eine Reihe von Rezensenten und Kommentatoren zum Widerspruch. So besonders von den späten Wolffianern.³⁴ Insbesondere in der von Johann August Eberhard herausgegebenen Zeitschrift erschien bereits 1793 ein anonymer Beitrag Von der Proportion zwischen der Moralität und der Glückseligkeit. ³⁵ Der Verfasser sieht in der kantischen Verbindung von Tugend und Glückseligkeit „eine bloß willkührliche Zusammensetzung von Begriffen“ (24). Es sei hier nicht die Rede davon, was das Herz wünsche, sondern von dem, was der Verstand als notwendig denken müsse. Der Verfasser sieht nicht nur die Widersprüchlichkeit in der kantischen Konzeption, diese könne sogar praktisch schädlich werden; in Letzterem sieht er den geheimen Ideengang der Französischen Revolution: Das französische Volk sah ein Missverhältnis zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit bei den Adligen und fühlte sich deshalb berechtigt, diesem aus eigener Kraft abzuhelfen. Am Ende sieht der Verfasser den einzigen durch reine Vernunft erweislichen Zweck in der (innerlichen und äußerlichen) Vollkommenheit. Diese explizit auf Leibniz rekurrierende Kritik setzt bereits bei Kants Eingangsargument der notwendigen Verbindung von Tugend und Glückseligkeit ein; auch der empirische Glücksbegriff Kants wird am Rande in Frage gestellt. In dem von Friedrich Immanuel Niethammer herausgegebenen Philosophischen Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten erschien wenig später ein
Für den Deutschen Idealismus ist Kants Lehre vom höchsten Gut noch „von maßgeblicher Bedeutung“, verlor dann aber v. a. aufgrund der scharfen Kritik Hermann Cohens seine Bedeutung im ethischen Diskurs der Gegenwart, vgl. Düsing, Klaus: Das Problem des höchsten Guts in Kants praktischer Philosophie, a.a.O., 6; zur allgemeinen Frage nach dem Glück und dem höchsten Gut vgl. etwa Bien, Günther (Hg.): Die Frage nach dem Glück, Stuttgart-Bad Canstatt 1978. Vgl. dazu Albrecht, Michael: Kants Antinomie der praktischen Vernunft, a.a.O., 44, Anm. 137. [Anonymus]: Von der Proportion zwischen der Moralität und der Glückseligkeit, Philosophisches Archiv 1/4 (1793), 22– 39. [Aetas Kantiana 63]
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weiterer anonymer Aufsatz zur Lehre vom höchsten Gut.³⁶ Dieser sieht deutlich das Problem der (durch Vernunft) notwendigen Verbindung von Tugend und Glück; was Kant nicht selbst ausgeführt hatte, muss offenbar durch weitere Ausführungen ergänzt werden. Der Verfasser gibt sogar einen an Reinhold orientierten Lösungsvorschlag, welchen er aber am Ende als falsch erweist (vgl. 286 ff.). Selbst bei gegebener Lösung liege immer noch ein Widerspruch zwischen theoretischer und praktischer Vernunft vor. So liege in Kants Unsterblichkeitsbeweis ein klarer Widerspruch zu den Bestimmungen des Dinges an sich in der Kritik der reinen Vernunft vor. Vor allem aber werde im höchsten Gut ein empirisch bedingtes und ein notwendiges, ein subjektives und ein objektives Gut „zusammengepaart“ (291). Glückseligkeit könne also, so schließt der Verfasser, kein konstitutiver Teil des höchsten Guts sein.³⁷ Die geläufige Einschätzung, Kant habe zwar in der theoretischen Philosophie alle metaphysischen Spekulationen endgültig „zermalmt“, aber zur Hintertür der praktischen Philosophie doch wieder den „lieben Gott“ eingeschleust, findet sich bereits 1834 prägnant formuliert bei Heinrich Heine: „Immanuel Kant hat bis hier den unerbittlichen Philosophen traziert, er hat den Himmel gestürmt, er hat die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute, es gibt jetzt keine Allbarmherzigkeit mehr, keine Vatergüte, keine jenseitige Belohnung für diesseitige Enthaltsamkeit, die Unsterblichkeit der Seele liegt in den letzten Zügen – das röchelt, das stöhnt – und der alte Lampe steht dabei mit seinem Regenschirm unterm Arm, als betrübter Zuschauer, und Angstschweiß und Thränen rinnen ihm vom Gesichte. Da erbarmt sich Immanuel Kant und zeigt, daß er nicht bloß ein großer Philosoph, sondern auch ein guter Mensch ist, und er überlegt, und halb gutmütig und halb ironisch spricht er: ‚der alte Lampe muß einen Gott haben, sonst kann der arme Mensch nicht glücklich seyn – der Mensch soll aber auf der Welt glücklich sein – das sagt die praktische Vernunft – meinetwegen – so mag auch die praktische Vernunft die Existenz Gottes verbürgen.‘ In Folge dieses Arguments unterscheidet Kant zwischen der theoretischen und der praktischen Vernunft, und mit dieser, wie mit einem Zauberstäbchen, belebte er wieder den Leichnam des Deismus, den die theoretische Vernunft getötet.“³⁸
[Anonymus]: Darlegung einiger Schwierigkeiten in der Lehre vom höchsten Gute, Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten 2 (1795) 283 – 305. [Nachdruck: Hildesheim 1969, Bd. 2] Vgl. zu dieser Kritik auch Garve, Christian: Uebersicht der vornehmsten Principien der Sittenlehre. Von dem Zeitalter des Aristoteles an bis auf unsre Zeiten, Breslau 1798, 283. [Nachdruck: Brüssel 1968, Aetas Kantiana 81] Heine, Heinrich: Zur Geschichte der Religion und der Philosophie in Deutschland [1834], in: ders.: Sämtliche Schriften, hrsg. von Klaus Briegleb, Bd. 5, Frankfurt am Main u. a. 1981, 505 – 641, hier: 604 f.
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Dieser satirisch vorgetragene Einwand Heines hat durchaus eine sachliche Dimension, die von nicht unbedeutender Tragweite ist. So kritisiert Heines Einwand die kantische Argumentation von den sich ergebenden Folgen her oder, psychologisch gewendet, Kants zugrunde liegende Intentionen. Daraus könnte gefolgert werden, Kant falle mit seiner Konzeption des höchsten Guts hinter den von ihm selbst aufgestellten Kritizismus zurück, und seine Ethik müsse deshalb von diesen theologischen Restbeständen gereinigt werden.³⁹ Natürlich werden damit nur die Folgerungen der kantischen Lehre vom höchsten Gut kritisiert und daraus auf die Unhaltbarkeit der gesamten Konzeption geschlossen, ohne Kants Gründe einer näheren Prüfung zu unterziehen. 1874 behandelt Emil Arnoldt in seinem Habilitationsvortrag Kants Idee vom höchsten Gut.⁴⁰ Er untersucht es unter dem besonderen Aspekt des moralischen Gottesglaubens. Zwar stimmt Arnoldt Kant darin zu, dass die „echte und wahre“ (196) Religion der Moral entstammen müsse, doch sieht er entgegen Kant den Übergang von der Moral zur Religion nicht durch die Idee des höchsten Guts und den davon abgeleiteten Ideen von Unsterblichkeit und Gott begründet, sondern durch das „Bewusstsein des moralischen Gesetzes im Zusammenhang mit sittlichen Gefühlen und Stimmungen […].“ (199) So bestreitet auch Arnoldt letztlich den ersten Schritt in Kants Argumentation – den Nachweis, dass reine Vernunft die Idee eines höchsten Guts als die Verbindung von Tugend und Glück entwerfe. Auch Erich Adickes behandelte in einer Reihe von Aufsätzen „Die bewegenden Kräfte in Kants philosophischer Entwicklung“.⁴¹ Er kann zwar die Argumentation äußerlich nachvollziehen, findet es aber bedauerlich, wie Kant „den ganzen Glückseligkeitsschwindel doch schließlich wieder zum Hinterpförtchen hereinlässt“ (396). Auch Adickes sieht den schwerwiegendsten Fehler darin, dass Kant überhaupt Tugend und Glückseligkeit als die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft aufgestellt hat. Den Beweggrund Kants dazu sieht er im Gefolge Heines durch dessen „privatime“ Ansichten über Gott und Unsterblichkeit. Zwar habe Kant in der theoretischen Philosophie jegliche Aussagen über die Dinge an sich ausgeschlossen, sah aber zugleich Gott und Unsterblichkeit als die „unentbehrlichen Stützen für Religion und Sittlichkeit“ (400) an und wollte sie deshalb über die bloß subjektiven Ansichten hinaus als not-
Vgl. dazu auch Himmelmann, Beatrix: Kants Begriff des Glücks, a.a.O., 214 ff.; Brandt, Reinhard: Gerechtigkeit und Strafgerechtigkeit bei Kant, in: G. Schönrich & Y. Kato (Hgg.): Kant in der Diskussion der Moderne, Frankfurt am Main 1996, 425 – 463, bes. 439 u. 461. Arnoldt, Emil: Über Kants Idee vom höchsten Gut (1874), in: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von Otto Schöndörfer, Bd. 2, Berlin 1907, 196 – 228. Adickes, Erich: Die bewegenden Kräfte in Kants philosophischer Entwicklung, Kant-Studien 1 (1897), Teil 1: 9 – 59; Teil 2: 161– 196; Teil 3: 352– 415, hier: 393 ff.
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wendige und objektive Annahmen gesichert wissen. So kam denn Kant aus „menschlicher Schwäche“ (396) zu der Lehre vom höchsten Gut. Besonders bekannt ist die scharfe Kritik Hermann Cohens an Kants Lehre vom höchsten Gut. Der Neukantianer legte eine umfassende Studie zu Kants Begründung der Ethik vor.⁴² Cohen fragt sich beinahe verzweifelt „was in aller Welt hat Kant dazu gebracht, von der unbezwingbaren Feste seines Formalismus sich herauszubegeben in die vieldeutige, allem Subjektivismus preisgegebene Mannigfaltigkeit der Güter?“ (347) Cohen zieht in der Folge eine Analogie zwischen dem moralischen Gefühl der Achtung und dem höchsten Gut. Bei beiden Teilmomenten des kantischen Systems handele es sich um eine Anwendung des Sittengesetzes auf die empirischen Bedingungen des Menschen. Entgegen Kants eigenem Ansatz braucht das Sittengesetz einen Gegenstand nicht erst (äußerlich) zu gewinnen. „[…] das Prinzip der Persönlichkeit selbst ist jenes vermisste Objekt.“ (348) Zwar könne durch die Zusammenfassung im Begriff des höchstens Guts die empirische Mannigfaltigkeit und Kontingenz vermieden werden, allerdings könne die daraus entspringende Dialektik nicht gelöst werden. Der Superlativ in seiner Zweideutigkeit decke bereits den Widerspruch zwischen der ethischen und sinnlichen Schätzung auf. Tugend sei zwar das oberste Gut (supremum) und als solches die Bedingung des vollendeten Guts (consummatum), der Verbindung von Tugend und Glück. Aber damit „wird die Tugend zur obersten Bedingung zwar, aber dennoch zur Bedingung und also zum Mittel „aller unserer Bewerbung um Glückseligkeit““ (349). Dementsprechend sei nicht nur das Sittengesetz Zweck an sich selbst, wie es Kant noch in der Analytik dargelegt hatte, sondern die sinnliche Glückseligkeit werde ebenfalls als Zweck an sich selbst betrachtet. Ist das kein offensichtlicher Widerspruch zur Analytik? Kant bestehe auch in der Dialektik auf die synthetische Verbindung von Tugend und Glück. Doch Cohen bezweifelt trotz allem gerade die Fragestellung als solche; er bestreitet genauerhin, dass das höchste Gut in einer Verbindung von Tugend und Glück besteht. Die Frage nach dem höchsten Gut wurde für Cohen bereits in der Analytik beantwortet: „Als die Realität des Sittengesetzes ist das höchste Gut praktisch möglich.“ (350) Sowohl das oberste als auch das vollendete Gut sieht er in dem Ideal des Sittengesetzes, in der „Maximen-Realität der Freiheit“ (351). So fühlt sich Cohen vollständig als „Behaupter und Festhalter“ (vgl. 352) von Kants eigentlichem Grundgedanken, wenn er die Lehre vom höchsten Gut schlicht als Ganzes ablehnt. Es wird nicht nur
Cohen, Hermann: Kants Begründung der Ethik, Berlin 21910 (11877).
2.1 Rezeption
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eine bestimmte Form des Glücks kritisiert, sondern die Relevanz des Glücks überhaupt für Kants Ethik geleugnet.⁴³ Der Hegelianer Richard Kroner behandelt in seinem weit reichenden Werk „Von Kant bis Hegel“⁴⁴ am Rande die kantische Lehre vom höchsten Gut. Er sieht eine deutliche Analogie zwischen der Funktion der Ideen in der Kritik der reinen Vernunft und den Postulaten in der Kritik der praktischen Vernunft. Sollten jene die Wiedervereinigung des in der transzendentalen Analytik zergliederten sinnlichen Stoffs und den reinen Verstandesformen leisten, sollen nun die Postulate die Elemente unseres Wollens wieder zusammenfügen. Weiterhin sollen sich an diesem „äußersten Ende der Kantischen Spekulation […] theoretische und praktische Vernunft vollständig versöhnen“ (200). Kritisch sieht Kroner vor allem dreierlei: Zunächst meldet er Zweifel an, wie denn die Existenz Gottes im praktischen Gebrauch ihre Rechtfertigung finden könne, wenn doch die Existenz eines Dinges anzunehmen bloß Sache der theoretischen Philosophie sein solle. Weiterhin sieht er einen Widerspruch zwischen dem höchsten Gut als notwendigen Zweck eines moralisch bestimmten Willens und dem Lehrsatz, dass allein die bloße Form des Gesetzes sich zum Bestimmungsgrund des guten Willens eigne. Zuletzt sieht er den schwerwiegenden Vorwurf, dass zwar die Beförderung des höchsten Guts gefordert werde, aber andererseits der Wille dazu gar nicht fähig sei, sondern nur der transzendente Wille Gottes. Kroner versucht zu zeigen, wie Kant zunächst ein bloß formales und abstraktes Gesetz aufstellt und hinterher den Begriff des Höchsten Guts braucht, um das leere Gesetz mit Inhalten zu füllen. Doch gerade darin sieht Kroner über die konkreten Konzeptionsprobleme hinaus das zentrale Problem. Werde der absolute Endzweck allen Wollens (das Gesetz) mit empirischen Zwecken vereinigt, „so ist der Gedanke des höchsten Gutes […] im Keime tot und kann zu keinem wahren leben erweckt werden.“ (208) So ist nach Kroner bereits die Startphase des höchsten Guts, die Rede von einer unbedingten Totalität der reinen praktischen Vernunft, falsch; es sei entgegen Kants Annahme nicht die reine praktische Vernunft, die zur Totalität des höchsten Guts dränge, sondern es sei das Problem einer spekulativen Vereinigung der Idee der reinen mit den Zwecken der empirischen praktischen Vernunft. Demnach sieht Kroner im Gefolge von Hegel und Schelling den entscheidenden Fehler in Kants empirischem Glücksbegriff.
Ähnlich, aber in der Darlegung der Einwände nicht so ausführlich, auch Döring, Alfred: Kants Lehre vom höchsten Gut. Eine Richtigstellung, Kant-Studien 4 (1900) 94– 101. Kroner, Richard: Von Kant bis Hegel, Tübingen 21961 (11924), 200 ff.
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Walter Brugger unterzieht 1964 Kants Lehre vom höchsten Gut einer an Aristoteles orientierten kritischen Prüfung.⁴⁵ Er sieht die Problematik vor allem in der Definition der Glückseligkeit. Wie solle die Verbindung von empirischer Glückseligkeit und Tugend a priori erkannt werden, wenn doch ersteres a priori völlig unbestimmt sei? So bestreitet er denn auch die Lösung Kants, nimmt vor dem Hintergrund der kantischen Lehre eigene Änderungen vor und kommt zuletzt zu Gott als dem Unbedingten der praktischen Vernunft; Gott sei – unabhängig von den Postulaten – „die Bedingung der Möglichkeit der praktischen Vernunft und daher ebenso gewiß wie diese selbst.“ (61) Bruggers Analysen sind zwar hinsichtlich der Klarheit und Schlüssigkeit problematisch, sein zentraler Einwand kann aber festgehalten werden. Wie bereits Kroner, so sieht auch Brugger den entscheidenden Mangel in der empirischen Glückseligkeit. Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts entwickelt sich ausgehend von dem Kommentar Lewis White Becks zur Kritik der praktischen Vernunft eine breite Diskussion zur kantischen Lehre vom höchsten Gut. Beck⁴⁶ sieht im Begriff des höchsten Guts als eines bonum consummatum zwei wesentliche Fragen: (1) Ist es der Bestimmungsgrund eines sittlichen Willens? Beck sieht einerseits Kants eigenen Anspruch deutlich, dass das höchste Gut nicht unabhängig vom kategorischen Imperativ Bestimmungsgrund des Willens sein kann. Doch meint Beck, werde damit dieselbe Sache nur zweimal ausgedrückt. Entweder entstehe also ein Widerspruch zwischen der Analytik und der Dialektik; ein Widerspruch insofern Kant einmal behaupte, „das höchste Gut sei eine Triebfeder für den reinen Willen, und zugleich erklär[t], das höchste Gut sei dies nur unter der einschränkenden Bedingung, dass der Mensch ein Objekt haben muss, das nicht ausschließlich sittlich ist […].“ (226) Oder, das scheint mir im Gegensatz zu folgen, das höchste Gut hat in der kantischen Ethik keinerlei funktionale Stelle, die über die Analytik hinaus nötig wäre. Allenfalls sieht Beck eine psychologische Notwendigkeit, die als solche aber nur empirisch begründet werden könne. So erhebt Beck dementsprechend die bekannten Einwände, dass die Dialektik der Analytik widerspreche und darüber hinaus, dass es sich beim höchsten Gut nicht um die unbedingte Totalität der reinen praktischen Vernunft handele. (2) Ist es moralisch notwendig (Pflicht), es zu erstreben? Auch in dieser Frage ist Beck skeptisch. Diese Forderung werde in der Dialektik nur beiläufig eingeführt, in der Metaphysik der
Brugger, Walter: Kant und das höchste Gut, Zeitschrift für philosophische Forschung 18 (1964) 50 – 61; zu einer an Aristoteles orientierten Kritik vgl. auch Seidl, Hans: Das sittliche Gute (als Glückseligkeit) nach Aristoteles, Philosophisches Jahrbuch 82 (1975) 31– 53. Beck, Lewis W.: Kants „Kritik der praktischen Vernunft“, a.a.O., 225 ff.
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Sitten gehöre das höchste Gut nicht zu den Zwecken, die zugleich Pflicht sind,⁴⁷ kurz: „Es existiert gar nicht.“ (227) Über die Befolgung des kategorischen Imperativs hinaus werde nichts gefordert – so bleibt auch in dieser Frage keine Stelle für das höchste Gut. J.R. Silber⁴⁸ unterzieht in seiner Rezension von Becks Kommentar besonders dessen Deutung des Höchsten Guts einer kritischen Revision. Beck ist der Meinung, dass die Lehre vom höchsten Gut der Lehre der strengen Moralität nichts hinzufügt. Silber hält dem entgegen, die Beförderung des höchsten Guts ginge insoweit über die Befolgung des Sittengesetzes hinaus, als es angebe „what specifically is to be done in a concrete situation.“ (183) Um diese These zu begründen, versucht Silber keine vollständige Widerlegung der Thesen Becks, sondern legt vielmehr seine eigene Interpretation ausführlich dar. Silber zufolge lag der Konzeption der Kritik der praktischen Vernunft das zentrale Problem des Guten zugrunde. Entgegen der traditionellen Behandlung dieses Problems sah Kant die notwendige Unterscheidung des Guten als Moralität einerseits und Glückseligkeit andererseits. Ebenfalls entgegen der Tradition bestimmte er das Gute durch das vorrangige formale Gesetz der Vernunft. Doch sah er durchaus die Notwendigkeit beider Begriffe des Guten und musste deshalb deren Verbindung aufzeigen „and he found his solution in the concept of the highest good as the synthesis of the dual aspects of the good.“ (185) Silber sieht im formalen Sittengesetz keine hinreichende inhaltliche Bestimmung des Willens. (vgl. 183 ff.) Demgegenüber sei die Lehre vom höchsten Gut von zentraler Wichtigkeit in Kants Ethik, „to give concrete direction to moral volition.“ (195) In einer Reihe weiterer Aufsätze stellt Silber Kants Konzeption des höchsten Guts auch in einen größeren Zusammenhang.⁴⁹
Es ist zwar richtig, dass in der Tugendlehre der Begriff des höchsten Guts nicht eigens erwähnt wird, doch kann entgegen Becks Bemerkung die gesamte Lehre Kants von den „Zwecken, die zugleich Pflicht sind“ (MST A 1 ff.) als Explikation der Lehre vom höchsten Gut gelesen werden: Eigene Vollkommenheit ist die erste und notwendige Bedingung des höchsten Guts und die Beförderung Fremder Glückseligkeit kann als das zweite Moment des höchsten Guts verstanden werden. Silber, John R.: The Importance of the Highest Good in Kant’s Ethics, Ethics 73 (1963) 179 – 197; vgl. auch die kritische Besprechung des Beck’schen Kommentars von Silbers Schülerin: Zeldin, M.-B.: The Summum Bonum, the Moral Law and the existence of God, Kant-Studien 62 (1971) 43– 54. Silber, John R.: Immanenz und Transzendenz des höchsten Guts bei Kant, Zeitschrift für philosophische Forschung 18 (1964) 386– 407; ders.: Der Schematismus der praktischen Vernunft, KantStudien 56 (1965) 253– 273; ders.: Die metaphysische Bedeutung des höchsten Guts als Kanon der reinen Vernunft in Kants Philosophie, Zeitschrift für philosophische Forschung 23 (1969) 539 – 549.
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Auch Jeffrie G. Murphy nimmt in dieser Debatte dezidiert Stellung.⁵⁰ Besonders die zentrale Frage beschäftigt ihn, ob Kants Begriff des höchsten Guts ein notwendiger Gegenstand des formal bestimmten moralischen Willens sei. Das Ergebnis werde zeigen, dass dies falsch ist. Falsch deswegen, weil dieser Gegenstand offensichtlich bereits in „the context of common moral experience“ gegeben ist (102). Murphy bringt in der Folge vor allem zwei prinzipielle Einwände gegen Kant (und Silber) vor: Wenn mit einem „notwendigen Objekt“ gemeint sei, dass das höchste Gut ein (inhaltlicher) Bestimmungsgrund des Willens sei, so widerspreche dies klar der Analytik. Sei der erste Einwand zugestanden und darauf entgegnet, dass das höchste Gut keine Willensbestimmung impliziert, aber dessen Beförderung nichtsdestotrotz durch das (formale) Sittengesetz geboten wird, genauer: die Übereinstimmung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit herzustellen, wird geboten. So bleibt doch der zweite Einwand: Wir können nicht verpflichtet sein zur Beförderung des höchsten Guts, weil wir in keinster Weise dazu fähig sind. Wir seien nicht dazu fähig, weil wir nicht wissen können, wer wann tugendhaft ist und könnten deshalb nicht das höchste Gut befördern (im Sinne von der Tugend das entsprechende Glück zuteilen). Um Kants Konzeption doch noch einen Sinn abzugewinnen, stellt Murphy weitere Überlegungen an. Das höchste Gut „seems to represent more of an aesthetic ideal for which we can hope than a moral obligation which binds us by duty to promote it.“ (109 f.) Zuletzt bezieht sich Murphy noch auf Silbers Aussage, wonach das höchste Gut für Kants formales Gesetz benötigt wird, um positiv inhaltlich bestimmte Pflichten abzuleiten. Das wäre nicht nötig und auch nicht möglich. „The highest good, as an attempt to introduce such content, does not work and is not needed.“ (110) Dieser langen Kritik an Kants Lehre vom höchsten Gut stellt sich Klaus Düsing ⁵¹ unter Einbezug der frühen Entwürfe Kants entgegen. Er möchte besonders das Höchste Gut als ein berechtigtes Problem wiedergewinnen. Seiner zentralen These zufolge, gehe der späten Theorie vom höchsten Gut eine vollständig ausgebildete frühere Theorie voraus, die noch in die Fragen nach den Prinzipien der Ethik hineingehöre. Berücksichtige man die sachlichen Motive zur Veränderung der
Murphy, John G.: The Highest Good as Content for Kant’s Ethical Formalism. Beck vs. Silber, Kant-Studien 56 (1965) 102– 110. Vgl zu dieser Debatte auch Barnes, Gerald W.: In defence of Kants doctrine of the highest good, The Philosophical Forum 2 (1971) 446 – 458. Düsing, Klaus: Das Problem des höchsten Guts in Kants praktischer Philosophie, a.a.O. Gegen Düsings These, Kant habe in den Reflexionen der siebziger und frühen achtziger Jahren einen intellektuellen Begriff der Glückseligkeit vertreten, siehe Albrecht, Michael: „Glückseligkeit aus Freiheit“ und „empirische Glückseligkeit“. Eine Stellungnahme, in: G. Funke (Hg.): Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses Mainz 1974, Teil II, 2., Berlin/New York 1974, 563 – 567.
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Theorie, so ergebe sich, dass die spätere Lehre vom höchsten Gut gerade eine Konsequenz von Kants reifer Moralphilosophie sei. In der Kritik der praktischen Vernunft schließe Kant die Lehre vom höchsten Gut aus der Grundlegung der Ethik aus und „begründet damit die Idee des höchsten Guts in der Struktur des sittlichen, aber zugleich endlichen Willens als einem Vermögen der Zwecke.“ (29) Auch Düsing behandelt die einschlägigen Kritiker der kantischen Konzeption und legt in der Folge eine eigene fundierte Interpretation vor, die in weitem Umfang die Reflexionen der 70er und frühen 80er Jahre berücksichtigt und die spätere Theorie unter Einbezug der Kritik der Urteilskraft und der Metaphysik der Sitten rekonstruiert. Die Idee des höchsten Guts sei danach notwendig für einen endlichen moralischen Willen. Der endliche Wille (Willkür) sei die Fähigkeit, sich selbst Zwecke zu setzen und auf ihrer Vorstellung in der sinnlichen Welt handeln zu können. Zwar könne das Sittengesetz den Willen unabhängig von bestimmten Zwecken bestimmen, aber die Notwendigkeit, sich material bestimmte Zwecke zu setzen und zu verwirklichen, bleibe für einen endlichen Willen auch beim sittlichen Willen erhalten. Der höchste physische Zweck für endliche vernünftige Wesen sei aber die eigene Glückseligkeit. Sittliche Zwecke entspringen erst durch die Subsumtion möglicher Inhalte, die allem Handeln nach Zwecken vorgegeben sein müssen, unter das Sittengesetz. Man darf wohl annehmen, was Kant selbst in der Metaphysik der Sitten nicht ausdrücklich sagt, „daß die besonderen sittlichen Zwecke die Idee des höchsten Guts voraussetzen.“ (31) Die notwendige Beförderung des höchsten Guts komme nicht als Bestimmungsgrund zum Sittengesetz hinzu, sondern „ist die Anwendung des Sittengesetzes als Bestimmungsgrund auf ein Wollen und Handeln nach Zwecken.“ (33) (2) Aus der gerade ausgeführten kritischen Rezeptionsgeschichte der kantischen Lehre vom höchsten Gut lassen sich, so weit ich sehe, vier systematische Einwände zusammenfassen. Dem ersten Einwand zufolge wird gegen das höchste Gut als Objekt und zugleich Bestimmungsgrund des sittlichen Willens die Formalität des Sittengesetzes geltend gemacht. In der Verbindung von formalem Gesetz und höchstem Gut wird ein Widerspruch gesehen. Damit liegt der Widerspruch in der Konzeption der Kritik der praktischen Vernunft. Entgegen Kants eigenen Ansichten müsse die Lehre vom höchsten Gut aus seiner Ethik ausgeschlossen werden. Die Folge solch einer Interpretation ist, dass die Relevanz der Lehre vom höchsten Gut vollständig geleugnet wird. Nicht nur ist das formale Sittengesetz der alleinige Bestimmungsgrund des Willens, sondern es gibt dem Willen zugleich ein unbedingtes Objekt – der intellegible Mensch als Zweck an sich selbst. Die Glückseligkeit als notwendiges Bedürfnis endlicher Vernunftwesen wird damit zwar nicht ganz geleugnet, aber in die privatime Sphäre empirischer Glücksforschung abgedrängt.
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Der zweite Einwand schließt sich an den vorigen an, geht aber in bestimmter Hinsicht noch über diesen hinaus. Demzufolge wird zwar nicht geleugnet, dass es über das formale Sittengesetz hinaus einer unbedingten Totalität der praktischen Vernunft bedarf. Es wird aber geleugnet, dass es sich dabei um die unbedingte Totalität der reinen praktischen Vernunft handelt. Das Problem bestehe vielmehr in einer Verbindung von reiner und empirisch bedingter Vernunft. Demzufolge ist unverständlich wie der Gegenstand einer reinen praktischen Vernunft zugleich empirische Bestandteile enthalten kann. Dem dritten Einwand zufolge muss die kantische Ethik von den theologischen Restbeständen gereinigt werden. Die Postulate von Gott und Unsterblichkeit erwecken auf den ersten Blick Unbehagen und Kritik an der kantischen Konzeption. Die Konzeption des höchsten Guts als Verbindung von Tugend und Glück wird dabei lediglich als Mittel gesehen, diese theologischen Wunschträume wieder zur Hintertür einzuführen. Angesichts der Ohnmacht der reinen Vernunft gegenüber der Sinnlichkeit wird das höchste Gut nur durch den Einsatz Gottes gewährleistet werden können.⁵² Die Frage, ob das höchste Gut eine Berechtigung in der kantischen Konzeption hat, wird dabei umgangen. Der Einwand zielt nicht auf einen Widerspruch zwischen Analytik und Dialektik, sondern auf die Unplausibilität der durch das höchste Gut begründeten Postulatenlehre. Nicht zuletzt wird in einem vierten Einwand in der Konzeption des höchsten Guts ein interner Widerspruch gesehen. Hier wird nicht die Dialektik insgesamt der Analytik gegenübergestellt. Es wird auf die merkwürdige Konstruktion der kantischen Konzeption des höchsten Guts aufmerksam gemacht. Genauer fordere Kant einerseits explizit die Beförderung des höchsten Guts und andererseits folgere doch aus seiner Konstruktion, dass der moralische Wille zur Beförderung des höchsten Guts gar nicht fähig ist. Die Beförderung des höchsten Guts könne bloß vom transzendenten Gott geleistet werden, der die Verbindung von Tugend und Glück verbürgt. Weil also dem moralischen Willen eine Pflicht auferlegt ist, die er prinzipiell nicht erfüllen kann, sei die kantische Konstruktion zum Scheitern verurteilt. Damit ist insbesondere der zugrunde liegende empirische Glücksbegriff problematisiert, weil dieser sich dem Handlungsspielraum des Individuums prinzipiell entzieht. Wenn das Glück in der unmittelbaren Befriedigung vorgegebener Begierden und Neigungen besteht, bleibt das Handlungssubjekt machtlos, weil es weder die Begierden steuern noch die günstigen Umstände in der Welt beherrschen kann. „Daher sind sie [die Neigungen] einem vernünftigen Wesen
So auch Bartuschat, Wolfgang: Artikel: „Gut, das Gute, das Gut“, IV. Neuzeit, in: J. Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Darmstadt 1974, 963.
2.1 Rezeption
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jederzeit lästig und, und wenn es sie gleich nicht abzulegen vermag, so nötigen sie ihm doch den Wunsch ab, ihrer entledigt zu sein.“ (KpV A 212) Wie man an diesem kurzen Abriss der Rezeptionsgeschichte des höchsten Guts sehen kann, sind die vorliegenden Kritikpunkte überwiegend der Nichtbeachtung und dem Unverständnis des zweiten Hauptstücks geschuldet. Denn dort erfolgt der systematische Übergang von der Formalität des Willens zu einem Gegenstand der reinen praktischen Vernunft, die handelnd in die empirische Welt hinein wirkt. Damit scheinen mir insbesondere die Einwände eins und zwei hinfällig zu sein. Denn im zweiten Hauptstück wird die über die Formalität des reinen Willens hinausgehende Notwendigkeit eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft begründet. Darüber hinaus wird durch die obige Interpretation der Kategorien der Freiheit, die alle Begehrungen zur Einheit unter das moralische Gesetz ordnen, die Verbindung von Tugend und Glück im Gegenstand der reinen praktischen Vernunft verständlich. Die Einwände drei und vier wiegen trotz einer wohlwollenden Interpretation ungleich schwerer, weil sie die Konstruktion der Lehre vom höchsten Gut selbst betreffen. Wenn die Lehre vom höchsten Gut im Ergebnis zu solch unplausiblen Ergebnissen führt, wird man nicht unberechtigt an den Voraussetzungen zweifeln können. Diese bestehen entsprechend dem vierten Einwand im Wesentlichen auf dem vereinfachten empirischen Glücksbegriff, der keiner rationalen Vermittlung fähig ist und dem Individuum einen Großteil seines Handlungsspielraums nimmt. Diese Interpretation zeitigt dementsprechend ein doppeltes Ergebnis im Hinblick auf die in Frage stehende Tugendlehre. Zum einen zeigt es die Möglichkeit und Plausibilität eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, der sich in der Pflicht zur Beförderung der eigenen Vollkommenheit und fremden Glückseligkeit äußert. Zum anderen zeigt es die Problematik in der kantischen Konstruktion der Lehre vom höchsten Gut. Diese besteht in Kants vereinfachtem empirischem Glücksbegriff, der dem Individuum den Handlungsspielraum zur Vermittlung von Tugend und Glück benimmt. Dagegen wurde bereits in den Kategorien der Freiheit deutlich, dass durch die moralische Orientierung die Neigungen des Individuums eine widerspruchsfreie Ordnung und hierarchische Ausrichtung erfahren, wodurch die Neigungen eine im Eigeninteresse liegende Aufklärung, Änderung und Beförderung erfahren. Damit zeigt sich im kantischen Theorierahmen eine im Handlungsspielraum des Individuums liegende Möglichkeit der Vermittlung von Tugend und Glück. Diese Vermittlung im konkreten Handeln wird in der Tugendlehre fortgeführt und dort durch die zahlreichen Einzeltugenden im Detail aufgezeigt. Damit zeigt sich die Tugendlehre als sachliche Fortführung der Lehre vom höchsten Gut, auch wenn dieser Zusammenhang merkwürdigerweise von Kant an keiner Stelle ex-
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2 Die Lehre vom höchsten Gut
pliziert wird. Das Höchste Gut zeigt den notwendigen Zusammenhang von Tugend und Glück auf, während die Tugendlehre den Zusammenhang durch die Vielfalt und Weite der möglichen Tugendhandlungen im Konkreten vermittelt. Bevor die Tugendlehre im Detail erarbeitet wird, soll zunächst die gründliche Erläuterung der Lehre vom höchsten Gut die bisher erörterten Thesen festigen.
2.2 Metaphysik und Glück Der Übergang zum Dialektik-Kapitel erfolgt abrupt und bietet daher wenig Verbindungspunkte zur Analytik. Der Anspruch Kants kann aus dem Titel des Zweiten Buchs entnommen werden. Es ist überschrieben: „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“. Dialektik besagt in diesem Falle die „Darstellung und Auflösung des Scheins in Urteilen der praktischen Vernunft […].“ (KpV A 32) Das bezieht sich nicht auf den Schein, wie Kant noch in der Grundlegung andeutet, der daraus entsteht, dass die empirisch bedingte praktische Vernunft ihre Grenzen überschreitet und die Stelle der reinen praktischen Vernunft einzunehmen strebt.⁵³ Es handelt sich vielmehr um eine Dialektik reiner praktischer Vernunft, insofern sie als Vernunft nach dem Unbedingten fragt. „Die reine Vernunft hat jederzeit ihre Dialektik, man mag sie in ihrem spekulativen oder praktischen Gebrauche betrachten; denn sie verlangt die absolute Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten […].“ (KpV A 193) Als gesichert kann gelten, dass sich Dialektik und Analytik nicht widersprechen. Denn es wird an verschiedenen Stellen immer wieder auf das subtile Verhältnis von moralischer Willensbestimmung und höchstem Gut als Gegenstand der reinen praktischen Vernunft eingegangen. Die praktische Vernunft sucht zu dem praktisch Bedingten das Unbedingte. Das praktisch Bedingte beruht auf Neigungen und Bedürfnissen und verlangt nach einem Unbedingten, das ihm Grund und Richtung gibt. Das Unbedingte wird nicht als Bestimmungsgrund des Willens gesucht, denn dieser wurde bereits im moralischen Gesetz gegeben. Gesucht wird dagegen „die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des höchsten Guts.“ (KpVA 194) Wie Kant selbst nochmals eindeutig feststellt ist „Das moralische Gesetz […] der alleinige Bestimmungsgrund des reinen Willens.“ (KpVA 197) Gleichwohl „versteht [es] sich von selbst“, (ebd.), dass das höchste Gut nicht nur Objekt, sondern sein Begriff zugleich der Bestimmungsgrund des reinen Willens sein muss, wenn im Begriff des höchsten Guts das moralische Gesetz mit enthalten ist.
Vgl. GMS, AB 23; Beck, Lewis W.: Kants „Kritik der praktischen Vernunft“, a.a.O., 223 f.
2.2 Metaphysik und Glück
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Man glaubt fast, Kant hat die im Laufe der Rezeptionsgeschichte gemachten Einwände bereits bei der Niederschrift vor Augen gehabt. Denn, so Kant, es müsse doch nur die „Ordnung der Begriffe von der Willensbestimmung […] nicht aus den Augen gelassen werden“, (ebd.) um zu sehen, dass alles in der vollkommensten Harmonie neben einander besteht. Zur Verdeutlichung dieser kurzen Passagen sollte man sich die oben gemachten Erwägungen in Erinnerung rufen. Wenn auch das moralische Gesetz alleiniger Bestimmungsgrund des Willens ist, so bedarf derselbe als endlicher doch eines Objekts, das nach vollbrachter Bestimmung das Handeln ermöglicht. Darüber hinaus wird die Glückseligkeit als notwendiger Zweck eines endlichen Vernunftwesens geltend gemacht, wie Kant es bereits bei den hypothetischen Imperativen unterstellt. In einer analytischen Begriffsbestimmung klärt Kant nun den Begriff des Höchsten.⁵⁴ Dieses ist bereits mehrdeutig und kann dadurch bei einer Nichtbeachtung zu Missverständnissen führen. Es kann einerseits das Oberste (supremum) und andererseits das Vollendete (consummatum) bedeuten. Das Oberste ist die unbedingte Bedingung, die also keiner anderen untergeordnet werden kann (originarium). Das Vollendete dagegen ist dasjenige Ganze, das kein Teil eines noch größeren von derselben Art sein kann (perfectissimum). Dass die Tugend das oberste Gut, d.i. die oberste Bedingung alles nur wünschenswerten ist, wurde von Kant in der Analytik bewiesen. Doch ist damit noch nicht das Höchste in seinem vollständigen Begriff bestimmt. Es fehlt das vollendete Gute, durch die Glückseligkeit wird das höchste Gut erst zu einem Ganzen, das selbst nicht Teil eines noch größeren derselben Art ist. Erst in der Verbindung der beiden Teilmomente entsteht das höchste Gut „als Gegenstand des Begehrungsvermögens vernünftiger endlicher Wesen;“ (KpV A 199). Tugend und Glückseligkeit zusammen machen demnach den Besitz des höchsten Guts in einer Person aus. Wie aber muss die Verbindung der beiden Teilmomente genauer verstanden werden? Zwei in einem Begriffe notwendig verbundene Bestimmungen müssen nach Kant als Grund und Folge verknüpft sein, und zwar entweder als analytische oder als synthetische Einheit. Im ersteren Falle erfolgt die Verbindung nach dem Gesetz der Identität, im zweiten Falle nach dem Gesetz der Kausalität. Die Verknüpfung der Tugend mit der Glückseligkeit kann entweder so verstanden werden, dass die Bestrebung nach beiden ein und derselben Maxime folgt und dementsprechend beide Handlungen identisch sind. Oder die Verbindung kann als un-
Vgl. zum Folgenden auch Förster, Eckart: Die Dialektik der reinen praktischen Vernunft, in: O. Höffe (Hg.): Immanuel Kant. Kritik der praktischen Vernunft (Reihe Klassiker Auslegen), Berlin/ New York 2002, 173 – 186.
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terschiedene Maximen bzw. Handlungen verstanden werden und wird alsdann nach dem Schema von Ursache und Wirkung hervorgebracht. Die analytische Verbindung der beiden Elemente versuchten nach Kant die antiken Lehren der Stoiker und der Epikureer herauszutüfteln. Beide setzten also eine Identität der Begriffe und bestimmten nur unterschiedlich deren Verhältnis. Während die Epikureer behaupteten, die Tugend sei das Bewusstsein des Glückstrebens, behaupteten die Stoiker umgekehrt, Glückseligkeit bestehe im Bewusstsein der vollbrachten Tugend.⁵⁵ Dass aber Maximen der Sittlichkeit und Maximen der Glückseligkeit auf zwei spezifisch unterschiedenen Prinzipien beruhen, hatte Kant in der Analytik begründet. Alle Maximen der Glückseligkeit beruhen letztlich auf praktischen Prinzipien, die ein Objekt des Begehrungsvermögens voraussetzen. Dagegen beruhen Maximen der Sittlichkeit lediglich auf der bloßen Form der allgemeinen Gesetzgebung: Ob die Form oder die Materie als Bestimmungsgrund dient, ist also die differentia specifica, die Maximen im Blick auf Moral zu unterscheiden erlaubt. Daraus ergibt sich als Negativschluss, dass es sich im Begriff des höchsten Guts lediglich um eine synthetische Verbindung von Tugend und Glück handeln kann. Wie Kant nun weiter behauptet, wird die Verbindung von Tugend und Glück im Begriff des höchsten Guts praktisch notwendig, a priori, erkannt. Als a priori notwendig kann die Möglichkeit des höchsten Guts nicht aus empirischen Prinzipien abgeleitet werden, sondern wird vielmehr einer transzendentalen Deduktion bedürfen. „Es ist a priori (moralisch) notwendig, das höchste Gut durch Freiheit des Willens hervorzubringen; es muss also auch die Bedingung der Möglichkeit desselben lediglich auf Erkenntnisgründen a priori beruhen.“ (KpV A 203) Die Antinomie der praktischen Vernunft ergibt sich aus der dargelegten Verbindung von Tugend und Glück. Diese werden im Begriff des höchsten Guts notwendig verbunden. Das eine kann ohne das andere nicht durch reine praktische Vernunft angenommen werden. Beide sind notwendige Bedingungen des höchsten Guts. Nun muss die geforderte Verbindung der beiden entweder analytisch oder synthetisch sein. Die analytische Verbindung ist durch das Ergebnis der Analytik ausgeschlossen. Demgemäß kann die Verbindung nur eine synthetische sein, die die beiden Teilmomente nach dem Schema von Ursache und Wirkung verknüpft. Die Begründung der synthetischen Verbindung ergibt sich durch einen Negativschluss von der Zurückweisung der Möglichkeit der analytischen Verbindung. Es muss sich um eine synthetische Verbindung, um die Verbindung einer Ursache mit einer Wirkung handeln, „weil sie ein praktisches Gut,
Zum Verhältnis Kants und der Stoiker vgl. Himmelmann, Beatrix: Kants Begriff des Glücks, a.a.O., 121 ff.
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d.i. was durch Handlung möglich ist, betrifft.“ (KpV A 204) Dementsprechend muss entweder die Tugend die zugrunde liegende Ursache sein und Glückseligkeit die daraus folgende Wirkung – oder umgekehrt. „entweder die Begierde nach Glückseligkeit [ist] die Bewegursache zu Maximen der Tugend, oder die Maxime der Tugend muß die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein.“ (KpV A 204) Als Thesis und Antithesis formuliert:⁵⁶ Thesis:
Das Streben nach Glückseligkeit ist die Ursache zu Maximen der Tugend Antithesis: Die Maxime der Tugend ist die Ursache der Glückseligkeit Die Thesis kann unmöglich wahr sein. Denn wie in der Analytik bewiesen wurde, sind Maximen, welchen das Verlangen nach Glückseligkeit zugrunde liegt, moralisch falsch und können so keine Tugend bewirken. So wäre bereits die erste Bedingung des höchsten Guts unmöglich: Das oberste Gut, wie es Kant in der einleitenden Begriffsbestimmung nennt. Die im obersten Gut geforderte unbedingte Bedingung, die Moralität, wäre auf diese Weise nicht zu realisieren, weil sie gerade in der Abweisung – oder etwas schwächer – in der Nichtbeachtung des Glücksstrebens liegt. Die Antithesis ist ebenfalls unmöglich, zumindest in der geforderten Strenge. Denn ob jemand glückselig in der Welt wird, ist nicht eine unmittelbare Folge der Willensbestimmung. Vielmehr werden dazu „Kenntnis der Naturgesetze und [Gebrauch des] physischen Vermögen[s]“ (KpV A 205) benötigt. Kant setzt freilich seinen in der Analytik zugrunde liegenden Glücksbegriff voraus. Glück ist eine empirische Bestimmung des Wohlbefindens, das sich aus den kontingenten Präferenzen der jeweiligen Handlungssubjekte und den dazu gehörigen Umständen in der Welt ergibt. Bei allem Zweifel an der Angemessenheit dieses Glücksbegriffs, ist die durchgängige Stringenz der kantischen Argumentation nicht zu übersehen. In Übereinstimmung mit der Analytik entwickelt Kant die sich daraus ergebende Antinomie, zeigt deren Widerspruch auf und führt die Alternativen in eine begründete Sackgasse. Auch in der Antithesis zeigt sich zunächst keine notwendige für das höchste Gut zureichende Verbindung der beiden Teilmomente. Kant zieht daraus die folgerichtige Konsequenz, dass das moralische Gesetz bei einer Nichtauflösung der Antinomie „an sich falsch sein“ (KpV A 205) muss. Denn im Begriff des höchsten Guts werden Tugend und Glückseligkeit als notwendig verbunden gedacht. Wenn das moralische Gesetz die not-
Es handelt sich allerdings nicht um einen kontradiktorischen Widerspruch nach Analogie der Dritten Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft (vgl. KrV B 472 ff.). Siehe auch die klaren Ausführungen bei Beck, Lewis W.: Kants „Kritik der praktischen Vernunft“, a.a.O., 228 ff.
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wendige Verbindung und Verwirklichung von Tugend und Glück fordert, diese notwendige Verbindung aber nicht möglich ist, fordert das Gesetz etwas Unmögliches und muss selbst falsch bzw. unmöglich sein. Die Thesis – Glücksstreben bringt Tugend hervor – ist schlechterdings falsch. Denn im Streben nach Glück widerspreche ich gerade der obersten Bedingung zum höchsten Gut: der Tugend. So wird bereits die notwendige Bedingung nicht erfüllt und die darauffolgende Bedingung der notwendigen Verbindung zum Glück ist ebenfalls hinfällig. Die Antithesis – Tugend bringt Glückseligkeit hervor – ist immerhin nicht unmöglich. Unmöglich wäre diese nur, wenn die Tugendgesinnung als „die Form der Kausalität in der Sinnenwelt betrachtet wird.“ (KpV A 206) In diesem Falle wäre die Verbindung der Tugend mit der Glückseligkeit keine notwendige. Ist Tugend die Form der Kausalität in der Sinnenwelt, kommt es zur Erreichung des Glücks lediglich auf die Kenntnisse der Naturgesetze und das physische Vermögen an, diese nach seinem Belieben zu gebrauchen. Doch eine notwendige Verbindung von Tugend und Glückseligkeit lässt sich so nicht herstellen. Bei der Begrenzung des menschlichen Wissens und dem konstitutiven Mangel an physischen Fähigkeiten wird eine vollständige und notwendige Übereinstimmung von Tugend und Glückseligkeit nicht gelingen. Doch selbst bei gegebener vollständiger Kenntnis der Naturgesetze und der entsprechenden Vermögen kann keine notwendige Verbindung von Tugend und Glück hergestellt werden, weil sich das die Verbindung herstellende physische Vermögen nicht nach der (moralischen) Gesinnung richtet. Zwar könnte dadurch die beste aller möglichen Welten hergestellt werden, was einer umfassenden Glückseligkeit entspräche. Allerdings bestünde dann Tugend gerade nur in der Kenntnis der Naturgesetze und das Glück eben in der dazugehörigen maximalen Weltbeherrschung. Man sieht schnell, dass dies auf eine Umkehrung der Tugend hinauslaufen würde. Die Beförderung maximaler Glückseligkeit qua Lustbefriedigung wird zugunsten formaler Orientierung am moralischen Gesetz absolut gesetzt. Oder anders gewendet: Fällt Tugend in den Bereich der sinnlichen Kausalität, wird letztlich die Verbindung der beiden Teilmomente durch eine Reduktion auf eines der beiden Elemente zustande gebracht. Damit wird das Problem scheinbar gelöst, widerspricht aber eindeutig den in der Analytik gewonnenen Ergebnissen. Tugend kann auf diese nicht zustande kommen. Beachtet man dagegen mit Kant die Unterscheidung von Noumenon und Phainomenon, löst sich diese Antinomie in der gewohnten Weise auf. Tugend muss streng auf das intellegible Reich der Vernunft bezogen werden und Glückseligkeit auf die Sinnenwelt. Mit dem moralischen Gesetz steht uns ein intellegibler Bestimmungsgrund zur Verfügung. Dies war das Ergebnis der Analytik und kann von Kant an dieser Stelle herangezogen werden. Der Bestimmungsgrund ist nicht nur abgelöst von der Sinnenwelt, im Sinne der Unabhängigkeit, sondern zugleich positiv auf diese bezogen, im Sinne der inhaltlichen Bestimmung der
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Kausalität. Das moralische Gesetz bestimmt mittels transzendentaler Freiheit unsere Kausalität in der Sinnenwelt. Tugend ist die oberste Bedingung des höchsten Guts und wird in der Auflösung der Antinomie vorausgesetzt. Der einzelne Mensch kann genau dies leisten: eine tugendhafte Gesinnung. Allerdings ist zur Auflösung der Antinomie, zur Erreichung des höchsten Guts, weiteres nötig. Es muss durch diese tugendhafte Gesinnung, die sich dem intellegiblen Grund des Menschen verdankt, ein äquivalenter Zustand in der kontingenten Sinnenwelt hergestellt werden. Die intellegible Kausalität muss sich in der empirischen Kausalität abbilden. Doch wie ist das zu denken? Kann es einen notwendigen Zusammenhang zwischen intelligibler Gesinnung und empirischer Welt geben? Offenbar nicht. Bereits durch lebensweltliche Erfahrungen zeigt sich, dass dieser notwendige Zusammenhang nicht besteht. ‚Gute Menschen‘ mit edlem Charakter und besten Absichten sind zumindest manchmal unglücklich und von schlechten Weltzuständen umgeben. Dagegen verfügen ‚schlechte Menschen‘ bisweilen über glückliche Umstände und (egoistisches) Wohlbefinden. Zudem kann zwar das individuelle Handlungssubjekt mittels seiner transzendentalen Freiheit einzelne Handlungen in der Sinnenwelt steuern, aber dadurch ist kein notwendiger Zusammenhang zwischen tugendhafter Gesinnung und Glückseligkeit in der Welt möglich. Denn dazu würde eine vollständige Weltbeherrschung aus reiner Vernunft erfordert werden. Möglich sind aber nur kontingente Veränderungen der Welt. Zur hinreichenden Verbindung von Tugend und Glück wird Kants Glücksbegriff folgend eine vollständige Übereinstimmung der Welt mit den individuellen über die Lebensdauer sich verändernden Präferenzen erfordert. Und diese Übereinstimmung wiederum muss vollständig mit der zugrunde liegenden Gesinnung korrelieren. Solch eine starke Kausalitätsrelation kann vom individuellen moralischen Subjekt nicht hergestellt werden. Zwar besteht eine eindeutige Kausalitätsrelation zwischen Gesinnung und empirischer Handlung. Doch überschreitet das Gesamtgefüge der Welt den Handlungsspielraum des Einzelnen. Wie kommt es dann zu der geforderten Übereinstimmung von Tugend und Glückseligkeit in der Welt, wenn diese notwendige Verbindung nicht unmittelbar durch das jeweilige Handlungssubjekt geleistet werden kann? Kants Lösung der Antinomie ist so naheliegend wie obskur. „vermittels eines intellegiblen Urhebers der Natur“ (KpV A 207) wird die notwendige Verbindung von Tugend und Glückseligkeit möglich. Das ist die knappe, aber weitreichende Antwort Kants auf die Antinomie der reinen praktischen Vernunft. Wenn reine praktische Vernunft die Übereinstimmung von Tugend und Glückseligkeit fordert, wenn gleichwohl dieselbe die Übereinstimmung nicht hinreichend gewährleisten kann und wenn ferner die Übereinstimmung nicht durch eine sinnliche Ursache bewirkt werden kann, dann muss ein intellegibler Urheber die Übereinstimmung möglich
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machen. Vorausgesetzt ist dabei die Ohnmacht der reinen praktischen Vernunft in Gestalt des einzelnen Handlungssubjekts. Der einzelne bleibt gegenüber seinem eigenen Glück handlungsunfähig oder in seinen Möglichkeiten doch sehr stark limitiert und bleibt auf eine den individuellen Präferenzen entsprechende Welt angewiesen. Eine der Vernunft äußerliche Natur kann nicht in deren Verfügungsbereich liegen. Angesichts dieser dualistischen Trennung kann aber nicht erklärt werden, wie zwischen diesen zwei Bereichen eine durch reine Vernunft gewirkte Verbindung bestehen soll. Wenn reine praktische Vernunft diese Verbindung allein nicht hervorbringen kann, dann muss ein beide Bereiche übergreifender „Urheber“ postuliert werden. Allein, wie kann angesichts der der Vernunft äußerlichen Natur eine Verbindung durch reine Vernunft postuliert werden? Neben diesen grundsätzlichen Zweifeln lässt sich gleichwohl die Aufstellung und Lösung der Antinomie innerhalb des kantischen Theorierahmens klar rekonstruieren. Dabei darf die Ordnung der beiden Teilmomente nicht aus dem Blick geraten. Zuerst wird der Wille allein durch das formale Sittengesetz bestimmt und danach kann ihm das Objekt des höchsten Guts vorgestellt werden. Wenn Kant an verschiedenen Stellen behauptet, dass das höchste Gut der Bestimmungsgrund des Willens ist, dann muss immer die Ordnung innerhalb der zwei Teilmomente mitgedacht werden. Sittlichkeit als oberstes Gut ist die „erste Bedingung des höchsten Guts“ (KpVA 214). Glückseligkeit macht das zweite Element des höchsten Guts aus, und zwar so, dass sie „die moralisch-bedingte, aber doch notwendige Folge“ (ebd.) der Sittlichkeit ist. „In dieser Unterordnung allein ist das höchste Gut das ganze Objekt der reinen praktischen Vernunft […].“ (ebd.) Sieht man dementsprechend von den grundsätzlichen Zweifeln an Kants vereinfachtem Glücksbegriff ab, ergibt sich die Aufstellung und Auflösung der Antinomie folgerichtig aus der Grundlegung der Ethik in der Analytik. Der in den Kategorien der Freiheit vollzogene Übergang von der formalen Willensbestimmung zu einem Gegenstand der reinen praktischen Vernunft, der in der Welt handelnd verwirklicht werden soll, macht diese sachliche Kongruenz überaus deutlich. Aus dieser Auflösung der Antinomie folgt, so Kant, „daß sich in praktischen Grundsätzen eine natürliche und notwendige Verbindung zwischen dem Bewußtsein der Sittlichkeit, und der Erwartung einer ihr proportionierten Glückseligkeit, als Folge derselben, wenigstens als möglich denken (darum aber freilich nicht erkennen und einsehen) lasse;“ (ebd.) Im Gegensatz dazu kann die grundsätzliche Ausrichtung auf Glückseligkeit unmöglich Sittlichkeit hervorbringen, denn diese würde bereits der ersten und obersten Bedingung des höchsten Guts widersprechen. So ist bisher die Möglichkeit des höchsten Guts in Aussicht gestellt worden. Zuerst kann es sich nicht um eine analytische Verbindung handeln, sodann kann die synthetische Kausalverbindung nur von der Moralität zur Glückseligkeit ver-
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laufen, und dies bloß so, dass ein intellegibler Urheber die geforderte notwendige Verbindung verbürgt. Daher ist das höchste Gut zwar möglich, aber nur unter der problematischen Voraussetzung eines intellegiblen Urhebers. Eine überzeugende Begründung für die Annahme desselben fehlt indessen bislang in der kantischen Argumentation. Um von einer problematischen zu einer assertorischen Behauptung des höchsten Guts zu gelangen, müssen die Gründe dieser Möglichkeit aufgezeigt werden. Weil das höchste Gut zum einen durch das individuelle Handeln des einzelnen hervorgebracht werden soll, zum andern allein dadurch nicht hinreichend gesichert werden kann, so müssen die Gründe zur Möglichkeit des höchsten Guts bei diesen zwei Aspekten gesucht werden. Die zwei Aspekte entsprechen den zwei Teilmomenten des höchsten Guts. Die Tugend als oberste Bedingung liegt im Verfügungsbereich des Handlungssubjekts und muss allein durch dasselbe erreicht werden. Wie indes die Tugend vollständig realisiert werden kann, bedarf einer weiteren Begründung. Denn angesichts der immer widerstreitenden Neigungen wird selbst die Möglichkeit der obersten Bedingung zweifelhaft. Die notwendige Übereinstimmung von Tugend und Glückseligkeit, das zweite Teilmoment des höchsten Guts, indessen liegt nicht im Verfügungsbereich des Einzelnen. Deshalb wird zu untersuchen sein, „was uns Vernunft, als Ergänzung unseres Unvermögens, zur Möglichkeit des höchsten Guts […] darbietet“ (KpV A 216). Diese Argumentation führt bekanntlich zu den Postulaten der praktischen Vernunft. Unsterblichkeit der Seele und Gott sind notwendige Ergänzungen der praktischen Vernunft, um die Verwirklichung des höchsten Guts zu ermöglichen. Angesichts der bereits geäußerten Bedenken wird man einerseits einer immanenten Interpretation folgend die Postulate als gerechtfertigte Ergänzungen ansehen können, andererseits offenbaren die Postulate die Ohnmacht der praktischen Vernunft. Bereits Tugend kann in der kantischen Strenge nicht von einem endlichen Vernunftwesen geleistet werden und bedarf deshalb eines ins unendliche gehenden Progresses. Weiterhin entzieht sich empirische Glückseligkeit grundsätzlich dem Handlungsspielraum und muss deshalb auf den gütigen Eingriff Gottes hoffen. Den Postulaten stellt Kant ein kurzes Kapitel Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der Spekulativen voran. Es soll scheinbare Widersprüche der Postulate mit den Ergebnissen der Kritik der reinen Vernunft ausräumen. Denn theoretisch lassen sich weder die Unsterblichkeit der Seele noch die Existenz Gottes einsehen, da beide keine Gegenstände möglicher Erfahrung sind. Nun schreibt Kant jedem Vermögen des Gemüts ein Interesse zu. Dies ist „ein Prinzip, welches die Bedingungen enthält, unter welcher allein die Ausübung desselben befördert wird.“ (KpV A 216) Das Interesse der theoretischen Vernunft besteht in der Erkenntnis des Objekts bis hin zu den höchsten Prinzipien a priori. Das Interesse der praktischen Vernunft „in der Bestimmung des Willens,
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in Ansehung des letzten und vollständigen Zwecks.“ (ebd.) Sollte die praktische Vernunft nichts weiter annehmen dürfen als was durch die theoretische Vernunft erkannt werden kann, dann läge der Primat bei der theoretischen Vernunft. Wenn allerdings die praktische Vernunft für sich über ursprüngliche Prinzipien a priori verfügt, die mit theoretischen Positionen korrespondieren, dann stellt sich die Frage des Primats von neuem. Entweder die theoretische Vernunft weist diese Ansprüche hartnäckig zurück oder sie nimmt die praktischen Prinzipien auf und versucht sie mit sich zu vereinigen, obgleich die praktischen Grundsätze über die Grenzen der theoretischen Vernunft hinausgehen. Kant spricht sich deutlich für die zweite Alternative aus. Freilich könnte diese Vereinigung der theoretischen Vernunft gar nicht zugemutet werden, wenn die praktische Vernunft nur die pathologischen Neigungen zur Glückseligkeit verwalten würde. „Allein wenn reine Vernunft für sich praktisch sein kann und es wirklich ist, wie das Bewußtsein des moralischen Gesetzes es ausweiset, so ist es doch immer nur eine und dieselbe Vernunft, die, es sei in theoretischer oder praktischer Absicht, nach Prinzipien a priori urteilt […]“ (KpV A 218). Wenn demnach sowohl die theoretische als auch die praktische Vernunft über reine Prinzipien a priori verfügen, so können beide sich keinesfalls widersprechen und miteinander vereinigt werden. Das Interesse der praktischen Vernunft hat folglich das Primat vor der theoretischen, weil die Postulate der praktischen Vernunft über die Einsichten der theoretischen hinausgehen, gleichwohl aber mit derselben vereinigt werden können und ihr zuletzt die Richtung zu den höchsten Prinzipien a priori anweisen. Die Postulate der praktischen Vernunft widersprechen dem Interesse der theoretischen Vernunft, „das in der Einschränkung des spekulativen Frevels besteht“ (ebd.), ganz und gar nicht, da diese nur in praktischer Absicht und das heißt ohne den Anspruch theoretischer Erkenntnis angenommen werden. Ist das höchste Gut einmal als notwendiges Objekt reiner praktischer Vernunft nachgewiesen, ergeben sich die Bedingungen der Möglichkeit mit transzendentaler Strenge.⁵⁷ Die Unsterblichkeit der Seele verbürgt dabei die „völlige Angemessenheit der Gesinnungen zum moralischen Gesetze“ (KpV A 220). Die Tugend muss als oberste Bedingung des höchsten Guts möglich sein. Die völlige Angemessenheit zum moralischen Gesetz ist indessen eine Vollkommenheit, ja Hei-
Lorentz, Paul: Über die Aufstellung von Postulaten als philosophische Methode bei Kant, Philosophische Monatshefte 29 (1893) 412– 433, hier: 425 ff. – sieht zwar eindeutig die Abhängigkeit der Postulate von der Lehre vom höchsten Gut, bezweifelt aber die Möglichkeit des letzteren und folglich auch die kantische Methode zur Aufstellung der Postulate. Gleichwohl hält Lorentz an den Postulaten der Unsterblichkeit der Seele und des Dasein Gottes fest, aber leitet sie direkt aus dem intellegiblen Sittengesetz ab.
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ligkeit, die von keinem endlichen Vernunftwesen als endliches „in keinem Zeitpunkt seines Daseins“ (ebd.) erreicht werden kann. Die Neigungen stehen in der Sinnenwelt jederzeit der formalen Bestimmung durchs Gesetz entgegen. Das einzelne Handlungssubjekt kann sich selbst zu keiner Zeit sicher sein, das moralische Gesetz gänzlich ohne andere egoistische Antriebe befolgt zu haben. Wie kann dann aber die Heiligkeit des Willens, die ja praktisch notwendig gefordert wird, realisiert werden? Sie kann es nur unter der Voraussetzung eines ins Unendliche gehenden Progresses, dessen Fluchtpunkt die Heiligkeit darstellt. Wird, so Kant, die völlige Angemessenheit des Willens notwendig gefordert, kann aber in endlicher Perspektive nicht erreicht werden, so muss die Voraussetzung dazu „als das reale Objekt unseres Willens“ (ebd.) angenommen werden. Der unendliche Progress ist die notwendige Voraussetzung zur Heiligkeit des Willens. Dazu wiederum muss die ins Unendliche gehende Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens angenommen werden. Denn nur so kann der Progress selbst ermöglicht werden. Die ins Unendliche gehende Existenz derselben Persönlichkeit ist freilich nichts anderes als die Unsterblichkeit der Seele. Kants „moralischen Beweis“ der Unsterblichkeit der Seele versteht er selbst als ein Postulat, „worunter ich einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz verstehe, sofern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt.“ (ebd.) Es muss zwar die Unsterblichkeit der Seele angenommen werden, allein sie kann nicht theoretisch eingesehen werden, weil sie außerhalb möglicher Erfahrung liegt. Das endliche Moralsubjekt muss sich dieser kantischen Lehre zufolge „von den niederen zu den höheren Stufen der moralischen Vollkommenheit“ (KpV A 221) emporarbeiten. Dieser endlichen Perspektive entgegen steht die intellektuelle Anschauung des „Unendliche[n], dem die Zeitbedingung nichts ist“ (ebd.). Gott übersieht die gesamte unendliche Zeitdauer der tugendhaften Anstrengung und kann auf diese Weise dem Einzelnen sein entsprechendes Glück zuteilen. Allerdings ergibt sich dabei eine gewisse Spannung, indem Kant zwei unterschiedliche Begriffe der Unendlichkeit zu unterstellen scheint. Einerseits muss das moralische Subjekt in einer unendlichen Zeitdauer der Heiligkeit des Willens entgegenstreben, andererseits überblickt Gott in einer zeitlosen Unendlichkeit die intellegible Gesinnung des Moralsubjekts.⁵⁸ So widerspricht die prinzipielle Unvollkommenheit zu jedem Zeitpunkt des Daseins der in der zeitlosen Unendlichkeit liegenden Heiligkeit, die doch, auf die Zeitpunkte angewandt, zu jedem Zeitpunkt (durch Gott) festzustellen sein müsste.
Zur Unterscheidung von unendlicher Zeitdauer und zeitloser Unendlichkeit siehe auch: Das Ende aller Dinge, AA VIII 325 ff.
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Zugrunde liegt der Doppelaspekt der Tugend, die immerhin eine intellegible Gesinnung voraussetzt, aber dennoch im Kampf gegen die Sinnlichkeit der Arbeit des Sisyphos gleicht. Daraus ergibt sich sofort eine zweite Spannung in der kantischen Argumentation. Denn vorausgesetzt ist die prinzipielle Unzulänglichkeit des endlichen Daseins zur Heiligkeit des Willens. Die Unzulänglichkeit ergibt sich aus dem dialektischen Widerspiel zwischen Neigungen und moralischer Gesinnung, das ausschließlich in einer endlichen Existenz stattfinden kann. Daraus folgert Kant die Notwendigkeit einer unendlichen Fortdauer der Existenz, um sich sukzessiv der Heiligkeit anzunähern. Doch wie muss man die Unendlichkeit der Fortdauer genau verstehen? Liegt ein zeitloses paradiesisches Szenario zugrunde, so widerspricht es der sinnlichen Ausgangsbedingung und führt die Argumentation ad absurdum: ein Moralsubjekt ohne widerstreitende Neigungen bedarf keines Progresses mehr. Ersichtlich kann die Unendlichkeit der Fortdauer nur in einer unendlichen und physischen Zeitdauer liegen. Wie dies zu denken sei bleibt vor dem christlichen Hintergrund eine offene Frage. Ist das erste Teilmoment des höchsten Guts hinreichend durch die Unsterblichkeit der Seele gesichert, muss ferner das zweite Teilmoment, die der Tugend entsprechende Glückseligkeit, verbürgt werden. Kant hatte ja bereits die Auflösung der Antinomie nur zustande gebracht, indem er auf einen intellegiblen Urheber der Natur verwies, der die moralische Gesinnung des Moralsubjekts mit dessen Glückseligkeit vermitteln kann. Dieser methodische Trick muss nach erbrachter Begründung der Möglichkeit des vollkommenen Willens das Objekt des höchsten Guts begründen. Dieses besteht in der der Glückswürdigkeit entsprechenden Glückseligkeit der endlichen Vernunftwesen. Kant stellt der Argumentation eine weitere Definition der Glückseligkeit voran. „Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht, und beruht also auf der Übereinstimmung der Natur zu seinem ganzen Zwecke, imgleichen zum wesentlichen Bestimmungsgrund seines Willens.“ (KpV A 224) Die begriffliche Bestimmung hebt deutlich den empirischen Charakter der Glückseligkeit hervor: sie ist der Zustand des Vernunftwesens in der Welt.Weiterhin handelt es sich um den Zustand, der sich über die gesamte Existenz erstreckt, nicht etwa nur um kurzfristige Lusterlebnisse. Letztlich besteht Glückseligkeit in der Erfüllung individueller Präferenzen, die allerdings feste Größen darstellen und auf die passende Einrichtung der Welt angewiesen sind. Das Glücksstreben entzieht sich auf diese Weise dem Handeln des Einzelnen, der zwar die Welt teilweise umgestalten kann, aber zur Erfüllung aller Präferenzen über die gesamte Lebensspanne reicht die Handlungsmacht nicht aus. Nicht übersehen werden darf die letzte Bestimmung der Glückseligkeit als Übereinstimmung der Natur mit dem ganzen Zweck des Menschen und zugleich mit dem wesentlichen Bestimmungsgrund
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des Willens. Der ganze Zweck des Menschen als endliches Wesen besteht, wie man aus den vorigen Darlegungen weiß, in seiner Glückseligkeit als erträgliches System der Neigungen. Doch unterliegen die Neigungen der strengen Restriktion des kategorischen Imperativs als wesentlichen Bestimmungsgrund des Willens. Es darf nicht alles gewünscht werden, die zweckrationalen Präferenzen werden durch das unbedingte Gebot der Pflicht eingeschränkt und geleitet. Die scharfe Grenzlinie zwischen Tugend und Glückseligkeit zeigte sich immer wieder von der Grundlegung der Ethik, über die Aufstellung bis zur Auflösung der Antinomie. Desgleichen benötigt die Argumentation zum Gottespostulat diese Trennung, da bloß dadurch kein hinreichend direkter Zusammenhang zwischen intellegiblem Gesetz und empirischer Glückseligkeit begründet werden kann. Denn, so Kant weiter, das moralische Gesetz gebietet durch Bestimmungsgründe, die von der Natur völlig unabhängig sind. Jetzt greift das „handelnde vernünftige Wesen“ zwar in die Welt partiell ein, ist aber „doch nicht zugleich Ursache der Welt und der Natur selbst.“ (ebd.) So besteht kein direkter Zusammenhang zwischen moralischer Willensbestimmung und völliger Naturbeherrschung, der doch zur Glückseligkeit erfordert wird. Die Glückseligkeit in ihrer Maximalform über die gesamte Lebensspanne verlangt eine ursächliche Naturbeherrschung, welche nicht von endlichen Vernunftwesen geleistet werden kann. Dennoch „sollen [wir] das höchste Gut (welches also doch möglich sein muß) zu befördern suchen.“ (KpVA 225) Es muss folglich „das Dasein einer von der Natur unterschiedenen Ursache der gesamten Natur“ (ebd.) postuliert werden. Diese soll die Möglichkeit der geforderten Übereinstimmung von Tugend und Glückseligkeit begründen. Diese oberste Ursache soll aber nicht eine Übereinstimmung zwischen Sittengesetz und Natur herstellen, sondern eine Übereinstimmung zwischen moralischer Gesinnung und Natur. Das höchste Gut verlangt kein intellegibles Paradies, sondern eine der menschlichen Gesinnung entsprechende Welt. Damit liegt die eigentliche Argumentation des Gottespostulats vor. Allein, es fehlt noch der explizite Begriff Gottes zur Vollständigkeit. Darauf kommt Kant, indem er die bisherigen Bestimmungen der „obersten Ursache“ auf geschickte Weise auf den traditionellen Gottesbegriff bezieht. Die oberste Ursache als „Wesen“ muss der Vorstellung der Gesetze fähig sein, um die individuellen Gesinnungen der endlichen Vernunftwesen einsehen zu können, und ist deshalb eine „Intelligenz“ mit Verstand. Die Kausalität nach der Vorstellung der Gesetze (zur Hervorbringung der Übereinstimmung von Tugend und Glückseligkeit) wird Wille genannt. Damit ist die oberste Ursache der Natur ein Wesen, „das durch Verstand und Willen die Ursache (folglich der Urheber) der Natur ist, d.i. Gott.“ (KpV A 226) Abschließend lässt sich feststellen, dass die notwendige Verbindung von Tugend und Glück auf die Postulate angewiesen bleibt. Die Plausibilität und problematische Lösung der Lehre vom höchsten Gut kann in unserem Zusam-
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2 Die Lehre vom höchsten Gut
menhang nicht endgültig geklärt werden. Gerade die Postulatenlehre ist nicht nur aus heutiger Sicht unplausibel, sondern zeigt bei genauer Analyse immanente Widersprüche. Das Postulat der Unsterblichkeit setzt unterschiedliche Begriffe von Unendlichkeit voraus, die vor Kants dualistischer Perspektive nur unzureichend aufeinander bezogen werden können. Dass das höchste Gut den notwendigen Begriff der reinen praktischen Vernunft darstellt, und dass dazu sowohl die moralische Gesinnung als oberste Bedingung als auch die äquivalente Glückseligkeit als vollendetes Gut gehören, das konnte entgegen den ersten beiden Einwänden plausibel aufgezeigt werden. Über die Kategorien der Freiheit lassen sich die Grundannahmen der Lehre vom höchsten Gut plausibel rekonstruieren. Lebensweltliche Betrachtungen zeigen meines Erachtens über die strenge Systematik hinaus die Plausibilität der kantischen Annahmen. Zum einen ist die Übereinstimmung der moralischen Güte einer Person mit ihrem Zustand in der Welt sicherlich kontingent. Sobald man beginnt, von seinem eigenen Glücksstreben zu abstrahieren und einen universalen Standpunkt einnimmt, wird man eingestehen müssen, dass nicht das je eigene Glücksstreben Erfüllung verdient, sondern das Moral und Glück in einem proportionalen Verhältnis stehen sollten. So bleibt das höchste Gut als Ideal ein notwendiger Gegenstand der reinen praktischen Vernunft. Was sonst sollte das Ziel allen moralischen Räsonierens sein als das höchste Gut, der notwendigen und proportionalen Übereinstimmung von Tugend und Glück? Als Ideal bleibt die notwendige Übereinstimmung in der Welt grundsätzlich defizitär. Die zugestandenen Probleme innerhalb der Lehre vom höchsten Gut betreffen darüber hinaus den empirischen, vereinfachten Glücksbegriff und die daraus resultierenden Handlungsdefizite des jeweiligen Individuums. Mir scheint diese Lösung im Hinblick auf das höchste Gut als Ideal durchaus plausibel. Denn durch einen intellektuellen Glücksbegriff die Differenz zwischen Tugend und Glück in eine Identität aufzulösen stellt innerhalb des kantischen Theorierahmens eine undenkbare Lösung dar. Zwar erkennt Kant das lebensweltliche Phänomen an, dass sich durch das Bewusstsein der Tugend eine gewisse „Selbstzufriedenheit“ (vgl. KpVA 213) einstellt. Diese sei aber nicht identisch, schon gar nicht hinreichend für die eigene Glückseligkeit, denn dabei handelt es sich lediglich um ein „negatives Wohlgefallen an seiner Existenz“ (ebd.). Und dies kann keineswegs gleichgesetzt werden mit dem notwendigen Streben eines endlichen Vernunftwesens nach Befriedigung der eigenen Neigungen. Dadurch wird die folgerichtige Fortführung der Analytik in der Dialektik umso deutlicher, dass Kant die begriffliche Unterscheidung von Tugend und Glück nicht aufgibt. Demnach bleibt schon die Befriedigung der eigenen Neigungen in der sinnlichen Welt grundsätzlich kontingent. Die geforderte proportionale Übereinstimmung von zugrunde liegender Tugend und individuellem Glück ist angesichts
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dieser kontingenten Bedingungen der Welt unwahrscheinlich. Insofern zeigt sich zwar der geforderte Zusammenhang als plausibles Ideal, aber zugleich als Ideal immer unerreichbar in der Welt. Dies zugestanden zeigt sich innerhalb des kantischen Modells eine Möglichkeit, wie die herausgestellten Kritikpunkte des vereinfachten unmittelbaren Glücksbegriffs und der damit einhergehenden Handlungsohnmacht des Individuums zur Vermittlung von Moral und Glück eine Lösung erfahren können. Wie bereits mehrfach darauf hingewiesen wurde, ergibt sich durch die Orientierung an den Kategorien der Freiheit eine zeitliche und hierarchische Ordnung der eigenen Neigungen. Die Neigungen erfahren durch diese reflexive Aufklärung zugleich eine inhaltliche Veränderung und Annäherung zum moralischen Gesetz. Interessanterweise wird durch die Bereicherung und Veränderung die Befriedigung dieser Neigungen zugleich befördert. Denn durch die Orientierung am moralischen Gesetz entwickelt und kultiviert das Individuum ein reflexives Verhältnis zu den Neigungen, wodurch die scheinbar unveränderlichen Neigungen wieder dem Handlungsspielraum des Individuums erschlossen werden. Unerlässlich für das Verständnis dieser sachlichen Zusammenhänge im kantischen Werk ist die Einsicht, dass sich der Übergang durch eine schrittweise Perspektivenverschiebung ergibt. Dabei ist die Begründung des kategorischen Imperativs als Struktur der transzendentalen Freiheit ebenso vorausgesetzt wie der Übergang zur Sinnlichkeit in den Kategorien der Freiheit. Die konkrete Vermittlung von Moral und Glück, die in der Kritik der praktischen Vernunft abstrakt und schematisch dargestellt wurde, vollzieht sich in der konkreten Arbeit an der eigenen Tugend in der eigenen Lebenswelt. Die beiden Zwecke, die zugleich Pflicht sind, können aus der Konzeption des höchsten Guts abgeleitet werden. Denn es handelt sich dabei um die Teilmomente, die durch uns in der Welt befördert werden können.⁵⁹ In der Tugendlehre entsteht das Bild eines bewussten Lebens, das um seine Neigungen weiß, klug mit diesen umgeht und die Moral als letzten Orientierungspunkt des eigenen Handelns akzeptiert.
3 Tugend und Glück In der Kritik der praktischen Vernunft wurden die Prinzipien und Gegenstände der Ethik begründet. Bereits in der Untersuchung der Kategorien der Freiheit wurde Das sehen auch Gregor, Mary: Laws of Freedom, a.a.O., 85 – 94; Eisenberg, Paul: From the Forbidden to the Supererogatory. The Basic Ethical Categories in Kant’s ‘Tugendlehre’, American Philosophical Quarterly 3 (1966) 255 – 269, hier: 9, Potter, Nelson: Kant on Ends that are on the Same Time Duties, a.a.O., 84.
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deutlich, dass über die formale Bestimmung des Willens hinaus der Entwurf eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft für endliche Vernunftwesen notwendig ist, um in Raum und Zeit handeln zu können. In den Kategorien der Freiheit vollzieht sich der Übergang von der Struktur der transzendentalen Freiheit zur Gesamtheit der Begehrungen der praktischen Vernunft. Durch den konstitutiven Bezug der reinen praktischen Vernunft auf die Kategorien der Freiheit wird die Moralität als oberste Bedingung aller Handlungen deutlich herausgestellt. Da die Kategorien der Freiheit das Mannigfaltige der physischen Begehrungen ordnen und damit auf sie bezogen sind, enthalten sie zugleich implizit die Vorstellung der eigenen Glückseligkeit, die mit der obersten Bedingung der Moralität kompatibel ist und in einem proportionalen Verhältnis steht. Dadurch konnte über die Kategorien der Freiheit das höchste Gut plausibel rekonstruiert werden. Wenn auch die Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft, speziell die Postulatenlehre nicht zu überzeugen vermag, konnte doch die grundsätzliche Notwendigkeit des höchsten Guts plausibel gemacht werden. Im Kern zeigte sich der vereinfachte, unreflektierte Glücksbegriff, den Kant durchweg verwendet, als unbefriedigend und unplausibel. Denn dadurch entzieht sich nicht nur das eigene Glück dem Handlungsspielraum des Individuums, sondern auch die von der reinen praktischen Vernunft geforderte proportionale Übereinstimmung von Moral und Glück. Obwohl Kant selbst an keiner Stelle die Kategorien der Freiheit und die Lehre vom höchsten Gut mit der Tugendlehre in Verbindung bringt, ergibt sich meines Erachtens bei einer sachlichen Rekonstruktion der Textstücke ein deutlicher Zusammenhang. Entsprechend schaffen die Kategorien der Freiheit den Übergang von der Struktur der transzendentalen Freiheit zur Struktur eines endlichen Vernunftwesens, die in der Lehre vom höchsten Gut dialektisch expliziert wird. Der entscheidende Perspektivenwechsel von Vernunftwesen überhaupt zum Menschen als eines vernünftigen Naturwesens vollzieht sich alsdann in der Metaphysik der Sitten insgesamt, und in Hinsicht auf das Verhältnis von Moral und Glück ganz besonders in der Tugendlehre. In diesen komplexen Zusammenhängen zeigt sich bei genauerem Hinsehen innerhalb des kantischen Theorierahmens eine Möglichkeit, das Glücksstreben durch eine an der Moral orientierte reflexive Aufklärung zu verändern und anzureichern. Dadurch wird nicht nur das eigene Glück wieder für den Handlungsspielraum des Individuums erschlossen, weil es nicht nur durch die unmittelbare Befriedigung vorgegebener Neigungen, sondern auch durch das Verhalten zu den Neigungen und deren kohärente Ordnung befördert wird. Darüber hinaus werden auf diese Weise die begrifflich unterschiedenen Momente, Moral und Glück, im Konkreten miteinander vermittelt. Diese Vermittlung wird durch das vielfältige und
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komplexe System der Tugenden inhaltlich angereichert, weil dort der ganze Mensch als vernünftiges Naturwesen Thema der kantischen Ethik ist.⁶⁰ Bevor das Glück im System der Tugenden ausführlich untersucht werden kann, müssen zunächst die entscheidenden Weichenstellungen und Perspektivenwechsel der Tugendlehre expliziert werden, um nicht vorschnellen Missverständnissen zu erliegen. Im Folgenden werde ich deshalb zunächst die wechselnde Perspektive der Tugendlehre erläutern (3.1.). Der Mensch als vernünftiges Naturwesen steht mit all seinen physischen Voraussetzungen im Mittelpunkt der kantischen Überlegungen. Aufgrund dieses Perspektivenwechsels soll im Anschluss die Notwendigkeit von Zwecken, die zugleich Pflicht sind, verständlich rekonstruiert werden (3.2.), um zuletzt entgegen der überwiegenden Kritik die Systematik der Tugendlehre aufzuzeigen (3.3.).
3.1 Der Mensch als vernünftiges Naturwesen In der Kritik der praktischen Vernunft wurden die Prinzipien und Gegenstände der Ethik begründet. Den Übergang zur spezifischen Struktur des Menschen als vernünftiges Naturwesen leistet darüber hinaus die Metaphysik der Sitten. Dort werden die Bedingungen der Ausführung ethischer Prinzipien entwickelt und begründet. Ging es ersterer also um die Abgrenzung der sinnlichen Neigungen von den Prinzipien – zum Zwecke der Grundlegung freier Handlungen, so wird in der letzteren das wechselseitige Zusammenspiel, die Vermittlung von Neigungen und Prinzipien – zum Zweck der Ausführung menschlicher Handlungen – thematisiert. Bezeichnenderweise beginnt die Einleitung in die Metaphysik der Sitten mit der Untersuchung „Von dem Verhältnis der Vermögen des menschlichen Gemüts zu den Sittengesetzen“ (MSR AB 1,2) Dort werden moralische und handlungstheoretische Grundbegriffe expliziert, die in den Grundlegungsschriften bereits implizit zu greifen waren, aber nicht ausführlich besprochen wurden.⁶¹ Den Im Begriff der Autokratie, der die Perspektive der Tugendlehre besonders deutlich hervorscheinen lässt, unterliegen die Neigungen nicht einer Entgegensetzung und Unterdrückung durch die Vernunft, sondern es wird gerade umgekehrt ein freies und vernünftiges Verhältnis zur Seite der Sinnlichkeit des Menschen entwickelt. Vgl. MST A 9; das sieht auch Römpp, Georg: Die Artikulation der Autonomie. Zur systematischen Stellung der Tugendlehre in der kantischen Moralphilosophie, in: Gerhardt, Volker/Horstmann, Rolf-Peter/Schumacher, Ralph (Hgg.): Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, Bd. 3, Berlin/New York 2001, 80 – 88, hier: 83. Einen Überblick zum Text der Einleitung gibt Zöller, Günter: Idee und Notwendigkeit einer Metaphysik der Sitten, in: A. Trampota et al. (Hgg.): Kant’s ‘Tugendlehre’, a.a.O., 11– 24; Das Verhältnis von Kants Ethik und der empirischen Psychologie von Wolff, Baumgarten und Hut-
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Ausgangspunkt bildet das Begehrungsvermögen, das bestimmt wird als „Vermögen, durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein.“ (MSR AB 1,2) Mit dem Begehren eines Gegenstandes geht immer ein Gefühl der Lust oder Unlust einher. Umgekehrt kann es sehr wohl ein Gefühl der Lust geben, das mit keinem Begehren verbunden ist. Das ist in der Ästhetik, dem Wohlgefallen an Kunstwerken der Fall, weil dort ein Gefühl der Lust bei der Betrachtung empfunden wird, obwohl das Kunstwerk als solches nicht begehrt wird. Im Zusammenhang praktischer Überlegungen blickt Kant primär auf das Gefühl der Lust, das notwendig mit dem Begehren zusammenhängt. Eine wichtige Unterscheidung dieser praktischen Lust bildet die Einsicht, dass das Gefühl der Lust einmal als Ursache des Begehrens angesehen werden kann, desgleichen umgekehrt, dass das Gefühl der Lust als Wirkung an einer vorhergehenden Bestimmung des Begehrens betrachtet werden kann. Ist die Lust die Ursache zur Bestimmung des Begehrungsvermögens, spricht Kant von Begierde. Wird diese habitualisiert, entwickelt sie sich zur Neigung (vgl. MSR AB 3). Die aus der Kritik der praktischen Vernunft bekannte Unterscheidung zwischen dem Bestimmungsgrund des Willens und dem Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens, die dort mit Bedacht rekonstruiert werden musste, wird nun von Kant anhand der Begriffe des Willens und der Willkür weiter expliziert.⁶² Diese Unterscheidung ist von zentraler Wichtigkeit, wenn man die eigentümliche Perspektive der Tugendlehre verstehen möchte. Denn durch die unterschiedlichen Begriffe klärt Kant die Struktur des Begehrungsvermögens genauer auf und weist in ihm unterschiedliche Funktionen nach. „Das Begehrungsvermögen nach Begriffen, sofern der Bestimmungsgrund desselben zur Handlung in ihm selbst, nicht im Objekte angetroffen wird, heißt ein Vermögen nach Belieben zu tun oder zu lassen.“ (MSR AB 4 f.) In dieser Spezifikation des Begehrungsvermögens scheint mir der wesentliche Punkt der Bezug auf die „Begriffe“ zu sein, der es als menschliches auszeichnet.Wenn das Begehrungsvermögen darüber hinaus „mit dem Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objekts verbunden ist,
cheson bestimmt Baum, Manfred: Gefühl, Begehren und Wollen in Kants praktischer Philosophie, Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006) 125 – 139. Diese Unterscheidung berücksichtigt nicht Römpp, Georg: Kants Kritik der reinen Freiheit. Eine Erörterung der Metaphysik der Sitten, Berlin 2006, 77 ff.; den Willen mit der legislativen Instanz und die Willkür mit der exekutiven Instanz identifizieren Allison, Henry E.: Kant’s Theory of Freedom, Cambridge 1990, 129 ff. – und Timmermann, Jens: Sittengesetz und Freiheit, a.a.O. 2003, 147; einen systematischen Überblick gibt Bojanowski, Jochen: Kants Theorie der Freiheit. Rekonstruktion und Rehabilitierung (Kant-Studien Ergänzungshefte Bd. 151), Berlin/New York 2006, 239 ff.
3.1 Der Mensch als vernünftiges Naturwesen
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heißt es Willkür;“ (MSR AB 4) Der folgende Text, in dem der Begriff der Willkür vom Begriff des Willens abgegrenzt wird, ist vieldeutig und schwer verständlich. Die Willkür ist demnach das Begehrungsvermögen in Bezug auf die Handlung, der Wille dagegen ist das Begehrungsvermögen in Beziehung auf den „Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung“ (MSR AB 5). Diese kurze Begriffsbestimmung muss durch weitere Textstellen näher erläutert werden. Im kantischen Text finden sich an verschiedenen Stellen Verweise auf die vorliegende Unterscheidung von Wille und Willkür. Erschwert wird die Interpretation allerdings dadurch, dass Kant den Begriff der Freiheit an verschiedenen Textstellen scheinbar unterschiedlich verwendet und nicht eindeutig auf den Willen oder die Willkür bezieht. Darüber hinaus bezeichnet er an manchen Stellen die Freiheit der Willkür im selben Sinne wie die transzendentale Freiheit aus der Kritik der praktischen Vernunft als „Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe; dies ist der negative Begriff derselben. Der positive ist: das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein.“ (MSR AB 5 f.) Damit werden die unterschiedlichen Funktionen der Begriffe verwischt und undeutlich, wodurch der Anschein entstehen kann, dass Kant lediglich zwei Wörter für dieselbe Sache verwendet. An einer weiteren Stelle, an der man eine Explikation der Begriffe erwarten würde, im Kapitel über die „IV: Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten“, spricht Kant undifferenziert von dem einen Begriff der Freiheit. „Der Begriff der Freiheit ist ein reiner Vernunftbegriff“ (MSR AB 18). Im selben Kapitel findet sich schließlich der entscheidende Hinweis, der meines Erachtens in Verbindung mit der erstgenannten Stelle (MSR AB 5) die funktionalen Unterschiede der beiden Begriffe eindrücklich verdeutlicht. „Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen. Die letztere ist im Menschen eine freie Willkür; der Wille, der auf nichts anderes, als bloß auf Gesetz geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden,weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen (also die praktische Vernunft selbst) geht, daher auch schlechterdings notwendig und selbst keiner Nötigung fähig ist. Nur die Willkür also kann frei genannt werden.“ (MSR AB 26 f.) Diese Stelle zeigt deutlich die Perspektivenverschiebung von der Kritik der praktischen Vernunft zur Tugendlehre. Und sie zeigt deutlich die unterschiedlichen Funktionen von Wille und Willkür innerhalb der kantischen Handlungstheorie. Ganz im Einklang mit der wechselseitigen Begründung von formalem Sittengesetz und Freiheit des Willens erklärt Kant, dass vom Willen die Gesetze „ausgehen“. Und das Gesetz zeigt sich im endlichen Bewusstsein als Gewissen, das das Gesetz als Imperativ erfährt. Der Wille vollzieht demnach keine Entscheidung für oder gegen das Gesetz, weil ja von ihm das Gesetz, und nur das Gesetz, ausgeht. Dass Kant den Willen an dieser Stelle als „weder frei noch unfrei“ bezeichnet, verwirrt
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nur, wenn man nicht bedenkt, dass er in der Metaphysik der Sitten die Begründung der transzendentalen Freiheit durch das Faktum der Vernunft bereits voraussetzen kann. Der Wille als Autonomie ist als solcher weder frei noch unfrei, sondern schlicht notwendig. Dadurch erschließt sich nicht nur die eigentümliche Perspektive der Tugendlehre, sondern es wird auch in der Retrospektive die Kritik der praktischen Vernunft verständlicher. Der Wille geht demnach ausschließlich auf „die Gesetzgebung für die Maxime der Handlung“ und nicht auf die Handlung selbst. Vor allem geht der Wille nicht auf die faktische Entscheidung zu einer Maxime, sondern fordert als Imperativ zu bestimmten Maximen auf. Denn die Maximen gehen von der Willkür aus und dazu gehören nicht nur rein moralische Maximen, sondern auch Maximen der Glückseligkeit. Die Willkür repräsentiert das in den Kategorien der Freiheit geordnete gesamte, sowohl endliche als auch reine, Begehrungsvermögen. Da es selbst vom Willen bestimmt werden kann, kann es zugleich frei genannt werden. Aus Sicht der zweiten Kritik muss natürlich auch der Wille frei genannt werden, denn er verfügt über jene transzendentale Freiheit, die die Möglichkeit des Sittengesetzes gewährleistet. Sie ermöglicht die Unabhängigkeit von der Naturkausalität und schafft dadurch positiv aus sich heraus das Sittengesetz. Damit ist die Funktion des Willens angegeben, über die hinaus der Wille als reine praktische Vernunft keine alternative Funktion aufweist. Er geht nur auf das Gesetz und sonst nichts.⁶³ Aus der Perspektive des Menschen als vernünftiges Naturwesen kann die Willkür als frei bezeichnet werden, und dies ebenfalls im Sinne der Unabhängigkeit. Unabhängigkeit jedoch nicht von der Naturkausalität im Ganzen, sondern von „sinnlichen Antrieben“, die das endliche Bewusstsein beeinflussen können, aber dank der grundsätzlicheren Freiheit des Willens nicht notwendig müssen. Positiv kann die Freiheit der Willkür bezeichnet werden als „das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein.“ In der Willkür zeigt sich das Vermögen der reinen Vernunft allerdings nicht, indem von ihr die Gesetze ausgehen, sondern indem sie sich nach dem Gesetz bestimmt, das sie als Faktum im endlichen Bewusstsein vorfindet. Wenn Kant das Verhältnis der Lust zum Begehrungsvermögen differenziert, dann setzt er auf der Ebene der Willkür an und setzt die transzendentale Begründung des freien Willens voraus. Dass die Lust Ursache des Begehrens sein kann, schließt die Bestimmung durch die reine Vernunft keineswegs aus. Der Argumentationsgang der Kritik der praktischen Vernunft schloss zwar materiale Bestimmungsgründe aus einem Gefühl der Lust rigoros aus, aber nur als
Vgl. auch Geismann, Georg: Recht und Moral in der Philosophie Kants, Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006) 3 – 124, 11 ff.
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Bestimmungsgründe des freien Willens, insofern er einen allgemeingültigen Grundsatz begründet. Der Wille muss selbstverständlich unabhängig von Objekten und der Lust an denselben bestimmt werden können, er schließt die Lust als Bestimmungsgrund kategorisch aus, weil sonst keine Freiheit des Willens gegeben wäre und der kategorische Imperativ keine Gültigkeit beanspruchen könnte. Die endliche Willkür des Menschen, sein Entscheidungsvermögen etwas „nach Belieben zu tun oder zu lassen“ (MSR AB 5), ist dagegen dialektisch strukturiert und lässt den Bestimmungsgrund gerade offen. Weil sie durch den reinen Willen bestimmt werden kann, ist sie eine freie Willkür. Die tierische Willkür dagegen kann ausschließlich durch Neigungen bestimmt werden, weshalb ihr die menschliche Freiheit nicht zukommt. Der Mensch als sinnliches Wesen wird auch durch Neigungen affiziert und oft bestimmt, allein nicht notwendig. Vielmehr ist der negative Begriff der Freiheit der Willkür gerade diese Unabhängigkeit von sinnlichen Antrieben. Der positive Begriff ist die Bestimmung durch den reinen Willen oder, was dasselbe bedeutet: die reine Vernunft. Durch diese begriffliche Differenzierung schafft Kant den Übergang von der Grundlegung der Ethik hin zu deren Ausführung in Bezug auf den Menschen. Wie bereits die Untersuchung der Kategorien der Freiheit gezeigt hatte, werden diese zwar durch reine Vernunft begründet, beziehen sich aber auf Handlungen der sinnlichen Welt und verbinden dadurch alle endlichen Begehrungen. Die Metaphysik der Sitten hat nun „die Freiheit der Willkür zum Objekte“ (MSR AB 10) und das ist nichts anderes als der in der Kritik der praktischen Vernunft begründete freie Wille, der, wie gerade angeführt wurde, die Unabhängigkeit der Willkür von sinnlichen Antrieben gewährleistet. Und dies bewerkstelligt er positiv durch das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft. Der kategorische Imperativ bleibt also in der Tugendlehre die Grundlage ethischer Ausführungen, es handelt sich lediglich um eine begriffliche Differenzierung und Anwendung auf den Menschen. Demgemäß erfolgt die Bestimmung der menschlichen Willkür durch die reine praktische Vernunft durch die Prüfung der Maximen auf ihre Gesetzestauglichkeit (vgl. MSR AB 6). Dazu wird das gesamte menschliche Begehrungsvermögen nach Begriffen (die Willkür), das artikuliert ist in den persönlichen Maximen, zum Ausgangspunkt der Bestimmung gemacht. Um die Unabhängigkeit der Bestimmung von den Gegenständen der sinnlichen Neigungen zu gewährleisten, muss die reine Vernunft von den konkreten Gegenständen absehen, so dass ihr nichts anderes bleibt „als die Form der Tauglichkeit der Maxime der Willkür zum allgemeinen Gesetze selbst zum obersten Gesetze und Bestimmungsgrund der Willkür [zu] machen“ (MSR AB 6). Und da die subjektiven Maximen mit den objektiv geprüften nicht notwendig übereinstimmen, handelt es sich aus der Perspektive der endlichen Willkür um einen Imperativ, der Gebote und Verbote vorschreibt.
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Doch darf man dabei nicht übersehen, inwiefern von den Gegenständen der Willkür abstrahiert wird. Es muss von dem empirisch gegebenen Gegenstand und dem an ihm empfundenen Gefühl der Lust abstrahiert werden, weil sonst die Lust die Ursache des Begehrens sein würde. Da das Begehrungsvermögen aber notwendig durch die Vorstellung von Gegenständen dieselben handelnd hervorbringt und dies immer mit einem Gefühl der Lust einhergeht, so muss auch die formale Bestimmung der Willkür einen begehrten Gegenstand vorstellen, durch den anschließend ein Gefühl der Lust im menschlichen Begehrungsvermögen bewirkt wird und so zum Handeln motiviert. Hier deutet sich bereits der Zusammenhang zwischen formalem und materialem Bestimmungsgrund an, der unten genauer erläutert wird. Das formale Gesetz bleibt auf diese Weise in der Tugendlehre das maßgebliche Bewertungskriterium. Doch so, dass dabei alle menschlichen Objekte des Begehrens enthalten sind. Denn die Gegenstände der lebensweltlich vorgegebenen Maximen bleiben in der formalen Prüfung vorausgesetzt. Zudem erscheint die Freiheit der Willkür dem konkreten Handlungssubjekt als Imperativ, weil dieses immer durch seine Neigungen beeinflusst bleibt, ja notwendig von diesen ausgehen muss. Wie bereits die Kategorien der Freiheit gezeigt haben, ordnet und hierarchisiert der kategorische Imperativ das faktische Emotionsgefüge hin auf die Form eines allgemeinen Gesetzes. Und weil die Maximen zwar durch die reine Form des Gesetzes bestimmt werden sollen, zugleich aber auf endliche Gegenstände gerichtet sind, wird sowohl das individuelle Glücksstreben als auch die reine Moralität berücksichtigt. Die eigentümliche Perspektive der Tugendlehre bezieht sich demnach auf den Menschen als sinnliches Wesen, das zuerst und zumeist durch die unmittelbaren Neigungen beeinflusst wird. Nur vor diesem Hintergrund wird der Pflichtbegriff überhaupt verständlich, indem er nämlich eine Nötigung der Willkür impliziert, die nur bei Menschen als vernünftige Naturwesen vorkommen kann. Diese Formulierung findet sich gleich zu Beginn der Einleitung zur Tugendlehre. „Der moralische Imperativ verkündigt, durch seinen kategorischen Ausspruch (das unbedingte Sollen) diesen Zwang, der also nicht auf vernünftige Wesen überhaupt (deren es etwa auch heilige geben könnte), sondern auf Menschen als vernünftige Naturwesen geht, die dazu unheilig genug sind, dass sie die Lust wohl anwandeln kann“ (MST A 3). Insgesamt zeigt sich diese perspektivische Verschiebung durch die gesamte Tugendlehre. Sie liegt der Begründung der Notwendigkeit von Zwecken, die zugleich Pflicht sind, zugrunde, als auch der Besprechung der einzelnen Tugendpflichten in der Einleitung und der Elementarlehre.Vor diesem Hintergrund sollte man einmal den Versuch wagen, nicht die Tugendlehre von der Kritik der praktischen Vernunft aus zu kritisieren, sondern umgekehrt die Grundlegung der Ethik besser zu verstehen, indem man sie im Lichte des Spätwerks betrachtet. Daher ist
3.2 Die Notwendigkeit von Zwecken, die zugleich Pflicht sind
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natürlich die erläuterte perspektivische Verschiebung zu berücksichtigen. Und selbst wenn man diese beachtet, bleibt doch die wesentliche Frage noch ungeklärt, wie der formale Bestimmungsgrund der Willkür mit einem in der Tugendlehre begründeten materialen Bestimmungsgrund zusammengedacht werden kann, den Zwecken, die zugleich Pflicht sind?
3.2 Die Notwendigkeit von Zwecken, die zugleich Pflicht sind Kant entwickelt die Tugendpflichten und die Begründung der Notwendigkeit von Zwecken, die zugleich Pflicht sind, an vielen Stellen in Gegenüberstellung und Absetzung zu den Rechtspflichten. Beide Pflichten sind spezifisch voneinander unterschieden, haben aber das Gemeinsame, dass sie ihre Gültigkeit dem einen Sittengesetz verdanken. Die formale Bestimmung der Willkür gründet sich, wie Kant ausführt, auf Gesetze der Freiheit. Im Unterschied zu Naturgesetzen können diese auch moralische Gesetze genannt werden. Entsprechend der Zweiteilung der Metaphysik der Sitten fallen darunter sowohl juridische als auch ethische Gesetze. Beide beziehen sich letztlich auf das eine formale Gesetz der Freiheit. Die juridischen Gesetze beziehen sich nur auf die widerspruchsfreie Verallgemeinerbarkeit von äußeren Handlungen und lassen damit den inneren Motivationsgrund, den zugrunde liegenden Zweck, außer Betracht. Die ethischen Gesetze dagegen fordern darüber hinaus, dass die Gesetze selbst der Bestimmungsgrund der Handlungen sein sollen und beziehen damit die Motivationsebene, d. h. den Akt der zugrunde liegenden Zwecksetzung mit ein (vgl. MSR AB 6 f.). In beiden Fällen wird die Begründung der transzendentalen Freiheit und des formalen Sittengesetzes vorausgesetzt und angewandt auf unterschiedliche Bereiche spezifischer Normen.⁶⁴ Das vermittelnde Moment ist dabei der Maximenbegriff.⁶⁵ Dieser kann folgendermaßen rekonstruiert werden: Ich möchte x (eine Handlung als Mittel) wegen y (dem Zweck als Objekt der Maxime). Die in der Maxime enthaltenen Handlungen sind Mittel zu bestimmten der Maxime zugrunde liegen Rechts- und Tugendlehre sind allerdings nicht vollständig getrennt, vielmehr beinhaltet die Tugendlehre auch alle Pflichten der Rechtslehre, mit der spezifischen Erweiterung, dass die äußerlichen Handlungen auch aus einer bestimmten Zwecksetzung heraus ausgeführt werden sollen, vgl. MSR AB 15: „Die ethische Gesetzgebung dagegen macht zwar auch innere Handlungen zu Pflichten, aber nicht etwa mit Ausschließung der äußeren, sondern geht auf alles, was Pflicht ist, überhaupt.“ Zum Begriff der Maxime vgl. auch Bittner, Rüdiger: Maximen, in: G. Funke (Hg.): Akten des IV. Internationalen Kant-Kongresses, Mainz 6.–10. April 1974, Kant-Studien Sonderheft, Bd. 65, Teil II.2: Sektionen, Berlin/New York 1974, 485 – 498; Willaschek, Marcus: Praktische Vernunft, a.a.O., 60 ff.
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den Zwecken und die Rechtslehre sieht von den Zwecken ab und prüft die Maximen darauf, ob die „Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann […].“ (MSR AB 33) Die Maximen werden daraufhin geprüft, ob sie sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung „qualifizieren“ (vgl. MST A 19), allerdings bloß im Hinblick auf die Handlungen als Mittel zu beliebigen Zwecken. Ein materialer Bestimmungsgrund kommt schon allein deswegen nicht in Betracht, weil von den Zwecken abstrahiert wird. Das gilt umso mehr, als die eigentümliche Struktur der menschlichen Willkür in der Anwendung des formalen Sittengesetzes keine Rolle spielt, weil die Rechtslehre die äußere Handlungsfreiheit zum Gegenstand hat. Die Tugendlehre dagegen bezieht sich primär auf die zugrunde liegenden Zwecke der Maximen, weil gefordert wird, eine bestimmte Handlung aus einem bestimmten Grund, nämlich der Pflichtbefolgung, auszuführen. Man muss indessen sehen, dass der endlichen Willkür inhaltliche Zwecke geboten werden, dass also der materiale Bestimmungsgrund sich auf die Willkür bezieht und nicht auf den Willen selbst. Im Falle des Willens widersprechen sich ein materialer und formaler Bestimmungsgrund freilich kontradiktorisch, weil durch einen materialen Bestimmungsgrund die ratio essendi des Sittengesetzes, nämlich die transzendentale Freiheit, ausgeschlossen wird. Dagegen ist durch die dialektische Struktur der Willkür gerade die notwendige Bedingung für einen materialen Bestimmungsgrund derselben gegeben. In der Forschung sind die von Kant vorgebrachten Argumente zur Begründung der Notwendigkeit von Zwecken, die zugleich Pflicht sind, stark umstritten.⁶⁶ Neben einem grundsätzlichen Widerspruch zur vorrangigen Grundlegung werden darüber hinaus die Argumente im Detail für nicht überzeugend und stichhaltig befunden. Berücksichtig man die Perspektivenverschiebung der Tugendlehre, die Ausrichtung auf den Menschen als vernünftiges Naturwesen, erhalten die kantischen Argumente dagegen eine neue Tragweite und Plausibilität. Soweit ich sehe lassen sich vier Argumente finden, die die Annahme von Zwecken, die zugleich Pflicht sind, notwendig machen. (1) Schon vor allen spezifischen Argumenten in der Einleitung scheint mir die grundlegende handlungstheoretische Ausrichtung der Tugendlehre auf den
Grundlegend dazu sind Anderson, Georg: Die „Materie“ in Kants Tugendlehre und der Formalismus der kritischen Ethik, Kant-Studien 26 (1921) 289 – 311; Potter, Nelson: Kant on Ends that are on the Same Time Duties, Pacific Philosophical Quarterly 66 (1985) 78 – 82; Atwell, John E.: Ends and Principles in Kant’s Moral Thought, Dordrecht 1986; Allison, Henry E.: Kant’s Doctrine of Obligatory Ends, Jahrbuch für Recht und Ethik 1 (1993) 7– 23; Baum, Manfred: Probleme der Begründung kantischer Tugendpflichten, Jahrbuch für Recht und Ethik 6 (1998) 41– 56 und Trampota, Andreas: The Concept and Necessity of an End in Ethics, a.a.O.
3.2 Die Notwendigkeit von Zwecken, die zugleich Pflicht sind
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Menschen als vernünftiges Naturwesen die Notwendigkeit von Zwecken, die zugleich Pflicht sind, deutlich zu zeigen. Nicht umsonst ist die formale Willensbestimmung in der Kritik der praktischen Vernunft ein kaum verstandenes, zumindest stark umstrittenes, Theoriestück der kantischen Ethik. Angesichts der Konstitution des menschlichen Begehrungsvermögens kann es nur eine scholastische Verirrung und Begriffsklauberei darstellen, die menschliche Willkür allein und direkt durch die bloße Form des Gesetzes zum Handeln in der Welt bewegen zu wollen. Dass Kant die Ethik auf eine neue grundlegende Weise begründete, wird allzu schnell durch Ausschluss der weitergehenden Theoriestücke, namentlich den Kategorien der Freiheit und der Lehre vom höchsten Gut, zu einer verstarrten Interpretation, die das konkrete menschliche Leben und Handeln schlicht übergeht. Dass Kant selbst die menschliche Konstitution berücksichtigt hat, zeigt sich an den von ihm begründeten Tugendpflichten, die als Pflichten zugleich die sinnlichen Voraussetzungen zur Ausführung von Pflichten berücksichtigen. Das zeigt sich nicht nur darin, dass Zwecke geboten werden, sondern auch darin, dass die Zwecke inhaltlich auf das menschliche Glücksstreben ausgerichtet sind. Man muss sich immer wieder vergegenwärtigen, dass Kant die Begründung der transzendentalen Freiheit voraussetzt und sie in der Tugendlehre anwendet auf die Ausführungsbedingungen menschlicher Willkür. Diese kann ausschließlich durch die Vorstellung eines Zwecks zum Handeln bestimmt werden, der „Zweck ist ein Gegenstand der Willkür (eines vernünftigen Wesens), durch dessen Vorstellung diese zu einer Handlung, diesen Gegenstand hervorzubringen, bestimmt wird.“ (MST A 4) Eine wie auch immer geartete formale Bestimmung der Willkür, die keinen Zweck beinhaltet, kann nicht handlungswirksam werden und widerspricht sich demnach selbst. Alle Handlungen setzen Zwecke der Willkür voraus, auf die hin die Handlung ausgeführt wird. Die Menschheit als Zweck an sich,wie sie in der Grundlegung entwickelt wird (vgl. GMS AB 64 ff.), kann diesen Überlegungen nicht undifferenziert als negativer Zweck entgegengesetzt werden, wie es Allison zu tun scheint.⁶⁷ Beide Werke widersprechen sich nicht nur nicht, sondern stützen sich sogar gegenseitig. Denn auch in der Grundlegung fordert Kant über die bloß negative Einschränkung des Handelns hinaus die Zwecke des Subjekts positiv zu meinen eigenen Zwecken zu machen. Und der „Naturzweck, den alle Menschen haben, [ist] ihre eigenen Glückseligkeit.“ (GMS
Allison, Henry E.: Kant’s Doctrine of Obligatory Ends, a.a.O., 7, 9 und öfter. Dass aufgrund der vorausgesetzten Perspektive des Menschen als vernünftiges zweckorientiertes Naturwesen Zwecke in einem positiven Sinne notwendig sind, vertreten auch Gregor, Mary: Laws of Freedom, a.a.O., 88; O’Neill, Onora: Universal Laws and Ends-in-themselves, in: dies.: Constructions of Reason. Explorations of Kant’s Practical Philosophy, Cambridge 1989, 126 – 144; Trampota, Andreas: The Concept and Necessity of an End in Ethics, a.a.O.
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3 Tugend und Glück
AB 69). So kommt man zum Ergebnis, die fremden Zwecke zu den eigenen zumachen, d. h. sich die fremde Glückseligkeit zum Zweck zu setzen. Dementsprechend lassen sich durch die Berücksichtigung der spezifischen Perspektiven der unterschiedlichen Werke die Ergebnisse wechselseitig erläutern und stützen. (2) In der Erörterung des Begriffs einer Tugendlehre entwickelt Kant aus dem Pflichtbegriff und der ethischen Gesetzgebung heraus die Notwendigkeit von Zwecken, die zugleich Pflicht sind. Demzufolge ist der Pflichtbegriff „an sich schon der Begriff von einer Nötigung (Zwang) der freien Willkür durchs Gesetz;“ (MST A 2). Dieser Zwang geht, entsprechend der Gesamtperspektive der Tugendlehre, nicht auf vernünftige Wesen überhaupt, sondern auf den Menschen als vernünftiges Naturwesen. Denn der Mensch ist es, der aufgrund seiner dialektisch strukturierten Willkür durch das Gesetz bestimmt werden kann, aber nicht notwendig wird. Bekanntlich kann ihn „die Lust wohl anwandeln“ (ebd.) das moralische Gesetz zu übertreten. Die ethische Gesetzgebung macht, anders als die juridische Gesetzgebung, die Pflicht zugleich zur Triebfeder (vgl. MSR AB 15). Der Begriff der Willkür bringt es des Weiteren mit sich, dass die geforderte Triebfeder nicht durch äußeren Zwang, sondern allein durch einen Selbstzwang angenommen werden kann. Die Willkür wird durch die Vorstellung eines Gegenstandes zur Hervorbringung dieses Gegenstandes in einer Handlung bestimmt. Wenn die Pflicht allein die Willkür zu einer Handlung bestimmen soll, kann sie dies nur durch die Vorstellung des Gesetzes. Und dies kann durch keinen äußeren Zwang, sondern allein durch einen Selbstzwang geleistet werden. „Nun kann ich zwar zu Handlungen, die als Mittel auf einen Zweck gerichtet sind, nie aber einen Zweck zu haben von anderen gezwungen werde, sondern ich kann nur selbst mir etwas zum Zweck machen.“ (MST A 4 f.) Wie ist dieser Selbstzwang in der Willkür des Individuums zu denken? Die menschliche Willkür kann sowohl durch die Neigungen als auch durch die reine Vernunft bestimmt werden. Da die Neigungen die Willkür zu bestimmten Zwecken „verleiten“ (MST A 4), die der Pflicht widersprechen können, die Willkür aber ausschließlich durch die Vorstellung von Zwecken bestimmt werden kann, so muss die reine Vernunft einen entgegengesetzten Zweck a priori bestimmen, um den Neigungen entgegenwirken zu können. Der Begriff einer Tugendlehre macht demnach nur Sinn, wenn er Pflichten enthält, die allein durch einen Selbstzwang die menschliche Willkür bestimmen. Und diese Bestimmung ist nur möglich, wenn Zwecke geboten werden, weil nur diese unabhängig von physischem Zwang angenommen werden können. (3) Kant berücksichtigt in der Tugendlehre beide Bestimmungsgründe. Die formale Bestimmung der Willkür ist nur eine und fordert, dass die pflichtmäßige Handlung aus Pflicht vollzogen wird. Die Zwecke sollen nur um der Zwecke selbst willen gewollt werden, nicht um weitergehender Zwecke willen (etwa der eigene
3.2 Die Notwendigkeit von Zwecken, die zugleich Pflicht sind
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Glückseligkeit). Damit wird das grundlegende Kriterium festgelegt, das alle weiteren Bestimmungen erschließt. „Die Form der Tauglichkeit der Maximen der Willkür zum allgemeinen Gesetz selbst“ (MSR A 6) ist der oberste Grundsatz der Bestimmung der Willkür aus reiner Vernunft. Es handelt sich um das bloß „Förmliche“ (MST A 8) der Bestimmung, dass nur diejenigen Zwecke gewollt werden, welche es auch seien, die die Form eines allgemeinen Gesetzes aufweisen. Von konkreten Inhalten wird dabei in der Tat abstrahiert. Erst wenn der formale Bestimmungsgrund angewandt wird auf lebensweltlich vorgegebene Zwecke, werden diese Gegenstände anhand der Gesetzesform geordnet und es entstehen materiale Bestimmungsgründe der Willkür. Diejenigen Zwecke werden geboten, die der formalen Prüfung standhalten. Weil dieses praktische Prinzip „nicht die Mittel (mithin nicht bedingt) sondern den Zweck selbst (folglich unbedingt) gebietet, so ist es ein kategorischer Imperativ der reinen praktischen Vernunft, mithin ein solcher, der einen Pflichtbegriff mit dem eines Zwecks überhaupt verbindet.“ (MST A 11) Kants Begründung der Zwecke, die zugleich Pflicht sind, setzt im Ganzen die Begründung des kategorischen Imperativs selbstverständlich voraus und wenden diesen auf die konstitutiven Bedingungen des Menschen als vernünftiges Naturwesen an.Wie das eben aufgeführte Zitat zeigt, verbindet er den begründeten kategorischen Imperativ mit einem Zweck „überhaupt“, weil die Willkür immer auf Zwecke gerichtet ist und nur dadurch handelnd in die Welt wirken kann. Zwecke überhaupt sind zudem alle Begehrungen des menschlichen Begehrungsvermögens, die „verbunden“ und untergeordnet werden der grundsätzlichen Orientierung am kategorischen Imperativ als Achtung vor dem Gesetz. „Denn, da es freie Handlungen gibt, [und Handeln immer zweckgerichtet ist] so muß es auch Zwecke geben, auf welche, als Objekt, jene gerichtet sind.“ (MST A 12) Damit scheint mir die grundsätzliche Notwendigkeit der Zwecke, die zugleich Pflicht sind, begründet zu sein. Die unterstellten Voraussetzungen werden hier deutlich herausgestellt. Zum einen muss der kategorische Imperativ und mit ihm die transzendentale Freiheit begründet sein, das hatte Kant in der Kritik der praktischen Vernunft geleistet. Zum anderen muss man die konstitutiven Bedingungen des Menschen als vernünftiges Naturwesen voraussetzen, speziell die Struktur seines Begehrungsvermögens, das notwendig zweckgerichtet ist. Würde es keine unbedingten Zwecke, die zugleich Pflicht sind, geben, so wären alle Zwecke immer nur Mittel zu weitergehenden Zwecken. Dadurch wäre die entscheidende Voraussetzung der Wirklichkeit des kategorischen Imperativs unmöglich gemacht. Da der kategorische Imperativ notwendig ist, folgt daraus im Umkehrschluss die Notwendigkeit der Zwecke, die zugleich Pflicht sind. (4) Im Abschnitt IX. Was ist Tugendpflicht? gibt Kant schließlich eine „Deduktion aus der reinen praktischen Vernunft“ (MST A 30). Zuvor unterscheidet
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3 Tugend und Glück
Kant explizit zwischen dem Formalen der Maximen und der Materie derselben. „Die Tugend, als die in der festen Gesinnung gegründete Übereinstimmung des Willens mit jeder Pflicht, ist, wie alles Formale, bloß eine und dieselbe.“ (MST A 29) Dies betrifft nur das Formale der Maximen, wohingegen der Zweck, der zugleich Pflicht ist, auf die Materie der Maximen geht. Damit unterscheidet Kant die Tugend als ganze von den vielfältigen Tugendpflichten. Die Tugend ist die grundsätzliche Orientierung am kategorischen Imperativ, der eine allgemeine Form der Maximen gebietet und damit das Materiale der Maximen, die Zwecke, ordnet und bestimmt. Die Zwecke, die zugleich Pflicht sind, begründen ein Gesetz für die Maximen der Handlungen, nicht für die Handlungen selbst, „indem der subjektive Zweck (den jedermann hat), dem objektiven (den sich jedermann dazu machen soll) untergeordnet wird.“ (MST A 19) Entsprechend ist das oberste Prinzip der Tugendlehre formal strukturiert, bezieht sich aber zugleich auf alle möglichen Zwecke und generiert dadurch materiale Bestimmungsgründe der Willkür: „handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann.“ (MST A 30) Die rigoristische Deutung, wonach der Mensch von seinem individuellen Glücksstreben absehen soll und nur die Menschheit als Zweck an sich selbst betrachten soll, wird durch diese Formulierung ad absurdum geführt. Denn es wird gefordert nach Zwecken zu streben, die für jedermann, und zwar als endliches aber vernünftiges Naturwesen, ein allgemeines Gesetz sein kann. Da hierzu notwendig das Streben nach dem eigenen Glück gehört, ist dieses durchaus enthalten, wird aber eingeschränkt auf die Bedingung der Allgemeingültigkeit. Und da es sich um Zwecksetzungen, also Akte des positiven Wollens, handelt, kann nicht nur die Instrumentalisierung anderer und seiner selbst verboten werden, in welchem Fall eine Indifferenz gegenüber anderen möglich wäre. Vielmehr fordert die Verallgemeinerung des subjektiven Wollens gerade sich den Menschen überhaupt als sinnliches Naturwesen positiv zum Zweck zu machen. Die Parallele zum Zweiten Hauptstück der Kritik der praktischen Vernunft scheint mir deutlich zu sein. Denn um für die Willkür einen materialen Bestimmungsgrund zu begründen, muss die reine Vernunft einen notwendigen Gegenstand entwerfen, der für alle Menschen geboten ist. Durch die dort entworfenen Kategorien der Freiheit werden die endlichen Zwecke einheitlich geordnet, und zwar so, dass sie alle Zwecke auf die Bedingung einschränken, dem Begriff des Guten zu entsprechen. Berücksichtigt man, dass die Zwecke der individuellen Willkür zunächst und zumeist auf das eigene Glück bezogen sind und verallgemeinert diese Maxime des Glücksstrebens, so ergibt sich die einschränkende Bedingung des individuellen Glücksstrebens, dass es primär auf die eigene Moralität achten soll
3.3 Die Systematik der Tugendlehre
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(eigene Vollkommenheit), und dass das Glück anderer ebenso positiv befördert werden muss, wie ich es von mir erwarte (fremde Glückseligkeit).⁶⁸ Die materialen Bestimmungsgründe der Willkür widersprechen folglich nicht der formalen Bestimmung der Willkür, vielmehr sind Zwecke, die zugleich Pflicht sind, zur Bestimmung der menschlichen Willkür durch die reine Vernunft sogar notwendig. Die beiden Zwecke sind: Eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit. Diese konkreten Zwecke ergeben sich durch die Verallgemeinerung und Ordnung der lebensweltlich vorgegebenen Zwecke des menschlichen Begehrens durch die reine praktische Vernunft. Die Tugendlehre formuliert demnach die Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Handlungen – unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft.
3.3 Die Systematik der Tugendlehre Wie sich gezeigt hat, kann der Zusammenhang zwischen der Kritik der praktischen Vernunft und der Tugendlehre unter Berücksichtigung der spezifischen Perspektiven beider Werke plausibel rekonstruiert werden. Dieser ergibt sich unter Berücksichtigung der transzendentalen Freiheit aus der Interpretation der Kategorien der Freiheit und den beiden Tugendpflichten der eigenen Vollkommenheit und fremden Glückseligkeit, wie sie in der Einleitung zur Tugendlehre expliziert werden. Von besonderer Wichtigkeit war dabei die Unterscheidung zwischen den Begriffen des Willens und der Willkür, die die unterschiedlichen Perspektiven deutlich machen. Die Tugendlehre hat dementsprechend den Menschen als vernünftiges Naturwesen zum Gegenstand. So ergibt sich bereits in der systematischen Überschau eine Vermittlung von Moral und Glück, insofern das menschliche Glücksstreben als faktisches Begehren zum Ausgangspunkt der Tugendpflichten wird. Dieses wird lediglich geordnet und auf die Bedingung allgemeiner Gesetzlichkeit eingeschränkt. Von besonderem Interesse ist in unserem Zusammenhang das näher zu bestimmende Verhältnis von individuellem Glück und den gebotenen Tugendpflichten. Auch wenn die eigentümliche Perspektive der Tugendlehre deutlich geworden sein sollte, die entgegen der klassisch rigoristischen Kantdeutung das individuelle Glück nicht nur berücksichtigt, sondern gar zum Ausgangspunkt der Begründung der Tugendpflichten macht, so blieb das individuelle Glück im System der Tugenden bisher weitgehend unterbestimmt. In welchem Verhältnis stehen etwa das eigene Wohltun und das Gebot der Beförderung der fremden
Eine anschauliche Darstellung dieser Argumentation findet sich im Ersten Abschnitt der Ethischen Methodenlehre, MST A 168 „Bruchstück eines moralischen Katechismus“.
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3 Tugend und Glück
Glückseligkeit? Oder in wie fern lässt die Beförderung der eigenen Vollkommenheit einen Spielraum für die Befriedigung unserer individuellen Neigungen? Um diese Verhältnisse weiter aufzuklären, muss zunächst die Systematik der kantischen Tugendlehre genau bestimmt werden. Diese lässt sich dem Aufbau des Werks nicht unmittelbar entnehmen und ist, nicht zuletzt wegen scheinbar widersprüchlichen Gliederungen und Formulierungen zwischen der Einleitung und der Elementarlehre, in der Forschung stark umstritten.⁶⁹ Denn die Elementarlehre führt zahlreiche Tugendpflichten an, die in dieser Form in der Einleitung nicht genannt werden. Wird in der Einleitung der Tugendpflicht zur eigenen Vollkommenheit die Kultur aller Vermögen überhaupt und die Kultur der Moralität untergeordnet, so finden sich in der Elementarlehre die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst der Selbsterhaltung einerseits und die unvollkommenen Pflichten gegen sich selbst der Naturvollkommenheit und der moralischen Vollkommenheit andererseits. Auch die Tugendpflicht zu fremder Glückseligkeit wird in der Einleitung unterteilt in die Beförderung der physischen Wohlfahrt und das moralische Wohlsein, dagegen finden sich in der Elementarlehre die Liebes- und Achtungspflichten gegen andere. So ist bereits die Anzahl der Pflichten disparat, ihre Formulierungen weisen große Diskrepanzen auf und der Zusammenhang wird kaum deutlich. Erschwerend kommt insbesondere hinzu, dass Kant in der Einleitung unvollkommene Pflichten und Tugendpflichten gleichzusetzen und so gegen die vollkommenen Rechtspflichten abzusetzen scheint. In der Elementarlehre wird die Pflicht zur Selbsterhaltung dann aber als vollkommene Pflicht, wenngleich nicht explizit als Tugendpflicht, bezeichnet. Da aber eindeutig „alle Einteilung der Tugendlehre auf Tugendpflichten“ (MST A 56) geht, stellt sich grundsätzlich die Frage nach der Begründung und systematischen Stellung der vollkommenen Pflichten gegen sich selbst. Kann es vollkommene Tugendpflichten geben, obwohl dies in der Einleitung bestritten wird? Auch die Achtungspflicht wird in der Elementarlehre als „vergleichsweise […] enge“ (MST A 120) bezeichnet, was sie scheinbar wieder an die Rechtspflichten annähert und dadurch die prinzipielle Bereits kurz nach Erscheinen wurden auch populär gehaltene „Erläuterungen“ und „Reflexionen“ zur kantischen Tugendlehre herausgegeben, siehe etwa Bergk, Johann A.: Reflexionen über Immanuel Kants metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, Leipzig 1798 [Aetas Kantiana]; Tieftrunk, Johann H.: Philosophische Untersuchungen über die Tugendlehre zur Erläuterung und Beurtheilung der metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre von Herrn Prof. Imm. Kant, Halle 1798 [Aetas Kantiana]; einen Überblick zur neueren Forschung geben Hill, Thomas E., Jr.: Kant on Imperfect Duty and Supererogation, in: ders.: Dignity and Practical Reason in Kant’s Moral Theory, Ithaca/London 1992, 147– 175, hier: 153 f.; Alves, Julius: Vollkommene Tugendpflichten. Zur Systematik der Pflichten in Kants Metaphysik der Sitten, Zeitschrift für philosophische Forschung 64 (2010) 520 – 545, hier: 527 ff.
3.3 Die Systematik der Tugendlehre
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Unterscheidung der beiden Bereiche in Frage stellt. Es ist in der Tat schwer zu bestreiten, dass der Text durch viele scheinbar disparate Aussagen geprägt ist. Trotzdem scheint mir die Grundstruktur deutlich zu sein. Ich vertrete dabei die These, dass die Tugendpflichten der Elementarlehre Unterkategorien der beiden Tugendpflichten eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit aus der Einleitung sind.⁷⁰ Diese Interpretation scheint mir schon allein aufgrund des systematischen Anspruchs Kants zwingend. Wie immer man die Tugendpflichten im Einzelnen bestimmen möchte, so muss doch diese Bestimmung einen sachlichen Zusammenhang zwischen der Einleitung und der Elementarlehre herstellen.⁷¹ Und durch die Orientierung an den beiden Tugendpflichten der Einleitung klärt sich desgleichen der sachliche Zusammenhang der vielfältigen Tugendpflichten der Elementarlehre. Dies wird verständlich, wenn man die entscheidenden Begriffe und Einteilungspassagen im Kontext betrachtet, darüber hinaus aber die eigentümliche Perspektive der Tugendlehre insgesamt im Blick behält. Der Mensch als vernünftiges Naturwesen ist Ausgangs- und Zielpunkt der Tugendlehre. Durch seine dialektische Struktur ist stets das individuelle Glück als auch die eigene Vollkommenheit im Blick. Die Einteilung der Tugendpflichten orientiert sich an dieser Perspektive, insofern sie stets den Menschen als vernünftiges aber auch animalisches Wesen voraussetzt. Im Folgenden werde ich (1) die Unterscheidung zwischen Rechts- und Tugendpflichten auf einen strengen Begriff der Vollkommenheit zurückführen, sodann (2) die unterschiedliche Weite und Enge der Tugendpflichten durch einen graduellen Begriff der Vollkommenheit erklären und auf dieser Grundlage schließlich (3) die kategoriale Unterordnung der Pflichten der Elementarlehre unter die beiden Tugendpflichten der Einleitung aufzeigen. (1) Die Unterscheidung der Rechtspflichten von den Tugendpflichten stellt die erste Schwierigkeit dar. Denn die Rechtspflichten sind explizit „von enger Verbindlichkeit“ (MST A 20), die Tugendpflichten dagegen von weiter Verbindlichkeit. Die Weite der Verbindlichkeit wird darüber hinaus gleichgesetzt mit der Unvollkommenheit der Verbindlichkeit. Rechtspflichten sind demnach eng und vollkommen. Tugendpflichten dagegen sind weit und unvollkommen.⁷² Nun sind zwar
Vgl. dazu Abb. 2: Systematik der Tugendlehre. Alves, Julius: Vollkommene Tugendpflichten, a.a.O., klärt zwar die einzelnen Begriffe, lässt aber den entscheidenden Zusammenhang zwischen Einleitung und Elementarlehre im Dunkeln. „Die unvollkommenen Pflichten sind also allein Tugendpflichten.“ (MST A 21) Der Satz ist zweideutig, vgl. Forkl, Markus: Kants System der Tugendpflichten, a.a.O., 129 f. Ich vertrete die These, dass die Distinktion weit-eng mit der Distinktion unvollkommen-vollkommen gleichzusetzen ist.
Abb. 2: Systematik der Tugendlehre
80 3 Tugend und Glück
3.3 Die Systematik der Tugendlehre
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nicht alle ethischen Pflichten Tugendpflichten (MST A 8), doch da alle Einteilung der Ethik (die Elementarlehre) eindeutig „nur auf Tugendpflichten“ (MST A 56) geht, besteht ein Widerspruch zu den „vollkommenen Pflichten gegen sich selbst“ (MST A 70 ff.). Kant bezeichnet die Pflichten gegen sich selbst zwar nicht explizit als Tugendpflichten, durch die eben angeführt Stelle scheint mir der Schluss aber zwingend. Und so entsteht die Schwierigkeit, dass eine unvollkommene Tugendpflicht zugleich vollkommen sein soll und die Unterscheidung zwischen Rechts- und Tugendpflichten dadurch ad absurdum geführt wird. Zudem wird dabei der Zusammenhang zwischen der Einleitung und der Elementarlehre fraglich, weil nicht nur die Anzahl der Tugendpflichten divergiert, sondern darüber hinaus die Tugendpflichten sachlich unterschiedlich klassifiziert werden. Diese Problematik wurde durch unterschiedlichste Interpretationsvorschläge zu lösen versucht. Alves etwa schlägt vor zwischen den paradigmatischen Tugendpflichten der Einleitung und den Tugendpflichten im weiteren Sinne der Elementarlehre zu unterscheiden.⁷³ Dieser Vorschlag scheitert meines Erachtens schon allein daran, dass dann der sachliche Zusammenhang zwischen Einleitung und Elementarlehre nicht deutlich wird. Und die Vollkommenheit der Pflichten gegen sich selbst kann zwar mit Bezug auf einzelne Begriffe geklärt werden, ist aber mit dem Text nur schwer in Einklang zu bringen.⁷⁴ Wenn man gerade umgekehrt verfährt und die Tugendpflichten nicht unterscheidet, sondern lediglich zwischen einem strengen und einem graduellen Verständnis der Vollkommenheit bzw. Enge, lassen sich erstens die Rechts- von den Tugendpflichten klar unterscheiden, wird zweitens die Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Tugendpflichten verständlich und drittens der Zusammenhang zwischen Einleitung und Elementarlehre deutlich. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, lässt sich eine strenge Bedeutung des Begriffs der Vollkommenheit unter Rekurs auf die unterschiedliche Gesetzgebung von Rechts- und Tugendpflichten entwickeln. Und innerhalb der Tugendpflichten lässt sich eine graduelle Bedeutung des Begriffs der Vollkommenheit unter Rekurs auf die Qualität der Pflichten als Gebote oder Verbote entwickeln. Kant unterscheidet zunächst die Rechtspflichten von den ethischen Pflichten in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten. Kant geht von der damaligen Naturrechtsdiskussion aus, knüpft an diese an, aber hebt deren Struktur auf ein bis
Alves, Julius: Vollkommene Tugendpflichten, a.a.O., 528 ff. Alves, Julis: Vollkommene Tugendpflichten, a,a,O., 544 wundert sich etwa über die Kasuistik der vollkommenen Pflichten gegen sich selbst.
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dahin ungekanntes Niveau. Der Pflichtenlehre des 18. Jahrhunderts⁷⁵ nach waren vollkommene Rechtspflichten durch strenge Verbindlichkeit charakterisiert, die sie durch die Möglichkeit des äußeren Zwangs erhielten. Demgegenüber waren Tugendpflichten unvollkommene Gesetze der Gütigkeit, da sie keines äußeren Zwanges fähig waren und aus dem inneren Vermögen des einzelnen Menschen hergeleitet waren. Bereits hier wurden die Rechtspflichten als solche definiert, die eines äußeren Zwanges fähig waren. Rechtspflichten gebieten äußere physische Handlungen und sind deshalb eines äußeren Zwanges fähig. Demgegenüber gebieten Tugendpflichten „innere Handlungen“, das sind Zwecksetzungen unabhängig von der darauf folgenden Handlung gedacht. Zwecksetzungen kann man nicht kontrollieren oder gar durch einen äußeren Zwang erzwingen. Diese durchaus berechtigte Unterscheidung bezog man allerdings auch auf den unterschiedlichen Grad der Verbindlichkeit. Rechtspflichten sind aufgrund ihrer Fähigkeit zu einem äußeren Zwang durch strenge Verbindlichkeit charakterisiert. Tugendpflichten dagegen, da sie dieser Fähigkeit ermangeln, sind lediglich unvollkommene Pflichten der Gütigkeit. Recht und Tugend unterschieden sich also durch die Stärke der Verbindlichkeit. Die Stärke der Verbindlichkeit ist ihrerseits abhängig von der Art der Triebfeder (äußerer Zwang oder innerer Antrieb). Rechtspflichten, einerseits, können nur in einer positiven Gesetzgebung verbindlich sein, aus dem Naturrecht begründete Rechtspflichten sind so nicht möglich. Tugendpflichten, andererseits, entbehren strenger Verbindlichkeit, wenn sie lediglich aus dem inneren Vermögen des einzelnen Menschen hergeleitet werden. Kant konnte sich hier mit seinem Verständnis von Pflicht als kategorische Verbindlichkeit und Allgemeinheit nicht zufrieden geben. Denn das Recht würde so der Allgemeinheit und die Tugenden der kategorischen Verbindlichkeit ermangeln.⁷⁶ Das entscheidende Unterscheidungskriterium ist demnach die zugrunde liegende Triebfeder (vgl. MSR AB 13 f.). Wenn eine Handlung geboten ist und diese Pflicht zugleich die Triebfeder sein soll, handelt es sich um ethische Pflichten. Dasjenige Gebot, das die Pflicht als Triebfeder nicht verlangt und auch eine andere Triebfeder zulässt, ist dagegen eine Rechtspflicht. Man darf in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Handlungen nicht
Vgl. dazu Kersting, Wolfgang: Das starke Gesetz der Schuldigkeit und das schwächere der Gütigkeit. Kant und die Pflichtenlehre es 18. Jahrhunderts, Studia Leibnitiana 14 (1982) 184– 220, ders.: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Berlin 1984. Zur Begründung der Tugendlehre und der Rechtslehre aus dem gemeinsamen obersten Prinzip der Sittenlehre vgl. auch Baum, Manfred: Recht und Ethik in Kants praktischer Philosophie, in: J. Stolzenberg (Hg.): Kant in der Gegenwart, Berlin/New York 2007, 213 – 226, bes. 217 ff.; Geismann, Georg: Recht und Moral in der Philosophie Kants, a.a.O., 3 – 124, hier: 25 – 43.
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übersehen (Vgl. MSR AB 14 f.). Innere Handlungen sind nämlich gerade Zwecksetzungen, die das Spezifikum der Tugendpflichten darstellen. Äußere Handlungen dagegen sind physische Handlungen in Raum und Zeit. Die Rechtspflichten beziehen sich demnach ausschließlich auf äußere Handlungen, weil hier von der zugrunde liegenden Triebfeder abstrahiert wird und deshalb nur äußere Handlungen beurteilt werden können. Es sind solche Pflichten, die einer äußeren Gesetzgebung (dem Zwang) fähig sind und das sind äußere physische Handlungen. „Die ethische Gesetzgebung dagegen macht zwar auch innere Handlungen zu Pflichten, aber nicht etwa mit Ausschließung der äußeren, sondern geht auf alles, was Pflicht ist, überhaupt.“ (MSR AB 15) Die ethische Gesetzgebung schließt sowohl bei äußeren als auch bei inneren Handlungen (Zwecksetzungen) die Idee der Pflicht als Triebfeder mit ein. Gleichwohl darf die Unterscheidung zwischen ethischer und juridischer Gesetzgebung nicht vorschnell identifiziert werden mit der Unterscheidung von Moralität und Legalität einer Handlung.⁷⁷ Die Rechtspflichten sind also ein Teil der Ethik, nämlich solche Pflichten, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist. Die Ethik bezieht sich auf alle Pflichten überhaupt, innere und äußere Handlungen, weil alle Pflichten der inneren Gesetzgebung unterliegen, die die Idee der Pflicht als Triebfeder beinhaltet. Die Tugendpflichten sind nun der spezifische Teil der Ethik, der keiner äußeren Gesetzgebung fähig ist. Und das sind die Zwecke, die zugleich Pflicht sind, weil es sich hier um eine innere Handlung handelt, die keines äußeren Zwanges fähig ist. Kant unterscheidet dementsprechend zwischen direkt-ethischen und indirektethischen Pflichten (Vgl. MSR AB 18). Die direkt-ethischen sind diejenigen, für die keine äußere Gesetzgebung möglich ist, also die Tugendpflichten als Zwecke, die zugleich Pflicht sind. Die indirekt-ethischen Pflichten sind darüber hinaus alle Pflichten überhaupt und beinhalten auch die Rechtspflichten als äußere Handlungen, verlangen aber von diesen die Idee der Pflicht als Triebfeder. Die Unterscheidung der Ethik vom Recht in der Einleitung zur Tugendlehre folgt diesem Schema, präzisiert aber die Eigentümlichkeit der jeweiligen Pflichten. Die Rechtslehre hat „es bloß mit der formalen Bedingung der äußeren Freiheit
Es gibt also auch eine Legalität der Tugendpflichten als Zwecksetzungen, nämlich dann, wenn die Zwecke, die zugleich Pflichten sind, zwar gesetzt werden, aber nur wegen weiterführender Zwecke (Klugheit im Hinblick auf die eigene Glückseligkeit). Erst wenn die Zwecke, die zugleich Pflicht sind, rein aus Pflicht, d. h. ohne weitergehende Klugheitsüberlegungen, gesetzt werden, ist die Moralität der Tugendpflichten gegeben. – Diese Unterscheidung übersieht Ludwig, Bernd: Die Einteilungen der Metaphysik der Sitten im Allgemeinen und die der metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre im Besonderen, in: A. Trampota et al. (Hgg.): Kant’s ‘Tugendlehre’, a.a.O., 59 – 84.
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(durch die Zusammenstimmung mit sich selbst, wenn ihre Maxime zum allgemeinen Gesetz gemacht wurde), d.i. mit dem Recht zu tun.“ (MST A 4) Rechtspflichten gebieten demnach äußere Handlungen und schränken diese auf die Form eines allgemeinen Gesetzes ein, weil die äußere Freiheit äußere Handlungen beinhaltet. Die Überschrift des VI. Abschnitts der Einleitung formuliert das eindeutige Unterscheidungskriterium von Rechts- und Tugendpflichten. Das Recht gibt Gesetze für die Handlungen, die Ethik gibt Gesetze für die Maximen der Handlungen. Das Recht gebietet direkt äußere Handlungen und schränkt diese nur auf die Zusammenstimmung mit sich selbst in einer allgemeinen Gesetzgebung ein (vgl. Definition des Rechts, MSR AB 33). Das Recht ist einer äußeren Gesetzgebung fähig und auch einem äußerlichen Zwang, deshalb können nur äußere Handlungen zu Rechtspflichten erhoben werden. Dass die Ethik ein Gesetz für die Maximen der Handlungen gibt, scheint nahe zulegen, dass nur in der Ethik Maximen überhaupt relevant seien, wenn man unterstellt, dass Maximen nur Zwecke beinhalten. Das scheint mir aber ein Fehlschluss zu sein. Denn weil das menschliche Handeln regelgeleitet ist, die Maximen diese Grundsätze und darunter subsumierte praktische Regeln darstellen und Regeln Konjunktionen darstellen, die einen Zweck mit einer Handlung verbinden, muss der Maximenbegriff sowohl Zwecke als auch Handlungen beinhalten. Das gilt umso mehr als sonst das vermittelnde Glied zwischen Rechtsund Tugendpflichten und dem kategorischen Imperativ nicht auszumachen ist. Der Maximenbegriff leistet den Übergang von der allgemeinen Grundlegung des Sittengesetzes zu der spezifischen Anwendung desselben in Recht und Ethik, weil er die allgemeine handlungstheoretische Voraussetzung der kantischen praktischen Philosophie darstellt.⁷⁸ Die Rechtspflichten abstrahieren dementsprechend von dem zugrunde liegenden Zweck und prüfen lediglich die darin enthaltenen Handlungen, ob sie sich „zu einer allgemeinen Gesetzgebung bloß qualifizieren“ (MST A 19). Dagegen gebietet die Tugendlehre innere Handlungen qua Zwecksetzungen. Ein Gesetz für die Maximen der Handlungen impliziert, dass die Zwecksetzung und zwar eine bestimmte geboten ist. Der Begriff des Zwecks impliziert wiederum, dass vielfältige Handlungen zur Erreichung des Zwecks unter den Zweck fallen können. Der für die Tugendpflichten charakteristische Spielraum entsteht durch die handlungstheoretische Voraussetzung des Maximenbegriffs, wonach Handlungen immer auf Zwecke gerichtet sind und viele Handlungsoptionen zu einem bestimmten Zweck möglich sind.
Das sieht auch Steigleder, Klaus: Kants Moralphilosophie, a.a.O., 8.
3.3 Die Systematik der Tugendlehre
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Die Tugendpflichten geben nicht bestimmt an „wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle.“ (MST A 20) Der Spielraum ist, wie Kant selbst sagt, „eine Folge aus dem vorigen“ (MST A 20), dass die Tugendpflichten Gesetze für die Maximen der Handlungen geben.⁷⁹ Wegen des Spielraums sind deshalb die Tugendpflichten von weiter Verbindlichkeit. Die Rechtspflichten dagegen sind von enger Verbindlichkeit, weil sie keine zweckrationalen Überlegungen zulassen. So ergibt sich die klare Disjunktion zwischen Rechts- und Tugendpflichten aus einem strengen Begriff der Vollkommenheit unter Rekurs auf die unterschiedliche Gesetzgebung. (2) Die unterschiedliche Weite und Enge der Tugendpflichten kann darüber hinaus durch einen graduellen Begriff der Vollkommenheit erklärt werden. Denn setzt man, wie es die folgenden Ausführungen nahe legen⁸⁰, Weite und Unvollkommenheit von Pflichten gleich, so ergibt sich die Bestimmung der Tugendpflichten als unvollkommene Pflichten und der Rechtspflichten als vollkommene Pflichten. Angesichts der vollkommenen Pflichten gegen sich selbst in der Elementarlehre stellt sich freilich die Frage wie eine per definitionem unvollkommene Tugendpflicht vollkommen sein kann. Dieser Widerspruch stellt nicht nur die Disjunktion zwischen Rechts- und Tugendpflichten in Frage, sondern lässt darüber hinaus den Zusammenhang zwischen den Tugendpflichten der Einleitung und der Elementarlehre problematisch erscheinen.⁸¹ Denn wenn man nur die Einleitung berücksichtigt, wo zwei Tugendpflichten genannt werden und diese als unvollkommen bezeichnet werden, so scheinen die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst prima facie damit in Widerspruch zu stehen oder zumindest unabhängig davon begründet zu sein. Da aber in der Elementarlehre keine grundlegende Begründung der einzelnen Tugendpflichten zu finden ist, scheint deren Systematik insgesamt eine unbegründete willkürliche Zusammenstellung d zu sein. So entsteht der Eindruck, die Elementarlehre sei nicht fundiert und der historischen Zufälligkeit der kantischen Weltanschauung zu verdanken. Allein, die Problematik lässt sich durch zwei unterschiedliche Bedeutungen des Begriffs der Vollkommenheit lösen. Die oben entwickelte Unterscheidung zwischen den Rechts Vgl. auch AA XXIII 380: „Diese Nöthigung ist […] zu einer Gattung von Handlungen (z.E. des Wohlwollens) so daß in Ansehung einzelner Fälle Freyheit der Wahl so wohl der Art als des Grades übrig gelassen wird“. Vgl. MST A 20: „Je weiter die Pflicht, je unvollkommener also die Verbindlichkeit des Menschen zur Handlung ist […]“ mit ebd.: „Die unvollkommenen Pflichten sind also allein Tugendpflichten.“ Ich setzte dabei voraus, dass die Elementarlehre nur Tugendpflichten enthält. Denn die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst werden nicht explizit als „Tugendpflichten“ bezeichnet. Das ergibt sich aber meines Erachtens aus MST A 56: „Daher wird alle Einteilung der Ethik nur auf Tugendpflichten gehen.“
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und Tugendpflichten unter Rekurs auf die unterschiedliche Gesetzgebung entspricht dem strengen Begriff der Vollkommenheit. Freilich nennt Kant diese Bedeutung nicht explizit, aber aus dem sachlichen Zusammenhang des Textes folgt diese Interpretation zwingend. Der Begriff der Vollkommenheit bezieht sich im Allgemeinen auf die Weite der Verbindlichkeit. Und diese lässt sich entsprechend der sachlichen Struktur der Pflichten auf unterschiedliche Perspektiven beziehen. Folgerichtig ergibt sich die strenge Bedeutung des Begriffs der Vollkommenheit aus der unterschiedlichen Gesetzgebung und generiert auf diese Weise die Unterscheidung zwischen Rechts- und Tugendpflichten. Doch innerhalb dieser Unterscheidung lässt sich eine weitere Bedeutung des Begriffs der Vollkommenheit unterscheiden, der sich auf die Qualität der Pflichten als Gebote,Verbote und Erlaubnisse bezieht. Im Falle der Rechtspflichten ist diese Bedeutung auch gegeben, es gibt ja sowohl Gebote als auch Verbote in der Rechtssprechung. Da sich die Rechtspflichten aber direkt auf äußere Handlungen beziehen, ergibt sich daraus kein Unterschied im Hinblick auf die Weite der Pflichten. Bestimmte Handlungen sind geboten und bestimmte Handlungen sind verboten. Doch da sich die Tugendpflichten auf Zwecke beziehen, ergibt sich bei Geboten und Verboten eine unterschiedliche Weite der Pflichten. Verbote verbieten konkrete Handlungen, die einem bestimmten Zweck widersprechen und schränken dadurch die möglichen Handlungsalternativen ein. Dagegen lässt das Gebot zu einem bestimmten Zweck mögliche Handlungsalternativen offener. Der Unterschied ist hierbei aber nur gradueller Natur, weil auch Verbote einem bestimmten Zweck zuwider zu handeln eine Vielzahl an Handlungsmöglichkeiten beinhalten können. Es spiegelt den graduellen Unterschied der Quantität der Handlungen, die unter diese Pflicht fallen wider. Dieser graduelle Begriff der Vollkommenheit ist es gerade, der den Differenzierungen innerhalb der Tugendpflichten entspricht. Die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst sind dementsprechend ausnahmslos Unterlassungspflichten und die Achtungspflicht ist „verhältnisweise […] enge“ (MST A 120), weil sie „eigentlich nur negativ ist (sich nicht über andere zu erheben)“ (MST A 88). Die Pflichten des Menschen gegen sich selbst in Ansehung seines Zwecks (Naturvollkommenheit und moralische Vollkommenheit) sind unvollkommen und weit, weil sie die Beförderung eines Zweckes gebieten. Sie enthalten, wie alle Tugendpflichten, ein Gesetz für die Maximen der Handlungen ohne zugleich etwas über die Art und den Grad der Handlungen zu bestimmen. Und das aus dem einfachen Grund, weil sie Gebotspflichten zur Beförderung eines Zwecks sind. (vgl. MST A 113) Schließlich sind die Liebespflichten „weite Pflichten“ (ebd.), weil Sie ebenfalls die Beförderung des Zwecks anderer gebieten. (3) Die Systematik der Tugendpflichten stellt sich als Problem besonders und gerade wegen der Unterschiede zwischen Einleitung und Elementarlehre. Der Zu-
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sammenhang ist durch die bisherigen Ausführungen allerdings nicht hinreichend geklärt. Gleichwohl gestattet diese Interpretation den Zusammenhang allererst in den Blick zu bekommen, weil sie den scheinbaren Widerspruch zwischen den zweifellos unvollkommenen Tugendpflichten der Einleitung (im strengen Sinne) mit den vollkommenen Tugendpflichten der Elementarlehre (im graduellen Sinne) auflöst. Allein, die These der kategorialen Unterordnung der Tugendpflichten der Elementarlehre unter die Tugendpflichten der Einleitung ist damit nicht begründet. Die genaue Klärung des Zusammenhangs steht allerdings vor der Schwierigkeit, dass Kant an keiner Stelle explizit die beiden Tugendpflichten der Einleitung in Zusammenhang bringt mit den Differenzierungen der Elementarlehre. Die Interpretation muss deshalb von einzelnen Stellen ausgehend den sachlichen Zusammenhang rekonstruieren. Den Ausgangspunkt bilden der Interpretationsthese entsprechend die beiden Tugendpflichten der Einleitung, eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit. Diesen werden dort jeweils zwei Pflichten untergeordnet. Der eigenen Vollkommenheit die Kultur aller Vermögen überhaupt und die Kultur der Moralität. Der fremden Glückseligkeit die physische Wohlfahrt und das moralische Wohlsein. Die erste Einteilung der Elementarlehre in Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere folgt eindeutig den beiden Tugendpflichten der Einleitung (eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit). Deshalb stellt sich genauerhin die Frage nach der Zuordnung der Pflicht zur eigenen Vollkommenheit zu den Pflichten gegen sich selbst insgesamt, einerseits und andererseits der Pflicht zur Beförderung der fremden Glückseligkeit zu den Pflichten gegen andere (Liebe und Achtung). Das entscheidende Vermittlungsstück⁸² liegt meines Erachtens in der subjektiven Einteilung der Pflichten des Menschen gegen sich selbst 1. als animali-
Im Text finden sich – neben der Einteilung der eigenen Vollkommenheit und fremden Glückseligkeit in den Abschnitten V. und VIII. der Einleitung – folgende explizite Einteilungspassagen: a) XVII. Vorbegriffe zur Einteilung der Tugendlehre b) XVIII. [Einteilung der Ethik] c) § 4. Vom Prinzip der Einteilung der Pflichten gegen sich selbst d) § 23 [Die oberste Einteilung der Pflichten gegen andere bloß als Menschen] a) behandelt die Abgrenzung der Tugendlehre von der Rechtslehre insgesamt, wie oben bereits ausgeführt wurde. Der Abschnitt kennzeichnet alle Tugendpflichten in formaler Hinsicht als weite Pflichten, und das deshalb, weil sie ein Gesetz für die Maximen der Handlungen geben. Das ist das Spezifikum der Tugendpflichten und gilt folgerichtig auch für die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst. Im Hinblick auf die interne Systematik der Tugendpflichten liefert diese Stelle allerdings keine Hinweise. Auch der folgende Abschnitt b) gibt lediglich die allgemeine Gliederung der Tugendpflichten in Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere vor, als auch die Einteilung in Elementarlehre und Methodenlehre. Für die interne Systematik
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sches und zugleich moralisches Wesen und 2. als bloß moralisches Wesen. Zwar dient diese Unterscheidung explizit nur als Einteilungsprinzip der Pflichten gegen sich selbst, aber unter Berücksichtigung der Gesamtanlage der Tugendlehre muss diese Unterscheidung auch allen anderen Pflichten, in Einleitung und Elementarlehre, zugrunde liegen. Denn die eigentümliche Perspektive der Tugendlehre liegt ja gerade darin, dass sie, im Gegensatz zu den Grundlegungsschriften, den „Menschen als vernünftiges Naturwesen“ (MST A 2) behandelt und voraussetzt. Nur unter dieser Voraussetzung lassen sich Zwecke, die zugleich Pflicht sind, begründen. Und nur unter dieser Voraussetzung lassen sich positive Pflichten gegen andere, insbesondere die Beförderung fremder Glückseligkeit, begründen. Einmal wird der Mensch als physisches und zugleich moralisches Wesen betrachtet, das andere Mal als bloß moralisches. Beide Male aber als vernünftiges Naturwesen überhaupt. Beide Perspektiven lassen sich demnach auf die allgemeine Perspektive der Tugendlehre insgesamt zurückführen, auf den Menschen als vernünftiges Naturwesen. Denn warum wird der Mensch als animalisches und zugleich moralisches Wesen betrachtet und nicht nur als animalisches? Bedenkt man die Bestimmung der Freiheit der menschlichen Willkür im Gegensatz zur bloß tierischen Willkür, wird dies verständlich (MSR AB 5 ff.). Der Mensch wird zwar durch sinnliche Antriebe affiziert, aber nicht notwendig bestimmt. Vielmehr besteht bei ihm stets die Möglichkeit der rationalen Zwecksetzung unabhängig von vorgegebenen sinnlichen Antrieben. Das Vermögen sich Zwecke nach Begriffen zu setzen ist ein Vermögen der menschlichen, selbstbewussten Willkür und die Voraussetzung durch Pflichtbegriffe bestimmbar zu sein. Kant bezeichnet dies auch als das Prinzip der inneren Freiheit. Es ist das Vermögen über seine Leidenschaften „Herr“ und über seine Affekte „Meister“ (MST A 50) zu sein. Die Freiheitsfähigkeit bestimmt sich zunächst negativ gegen die animalischen Leidenschaften und Affekte. Sie ist demnach die grundlegende Voraussetzung der moralischen Bestimmbarkeit, setzt aber die mögliche Bestimmbarkeit durch animalische Antriebe voraus. Die Freiheit der Willkür hat durchaus eine physische Komponente. Im Gegensatz zur transzendentalen Freiheit kann sie durch empirische Faktoren beeinflusst werden, namentlich dem Drogengebrauch oder durch übermäßige Affekte und Leidenschaften. Die Freiheit
der Tugendpflichten ist diese Stelle nicht dienlich. Die Pflichten gegen andere werden im Textabschnitt d) eingeteilt. Und dies so, dass zwischen verdienstlicher und schuldiger Pflicht unterschieden wird. Mir scheint diese Unterscheidung an sich plausibel, aber im Hinblick auf den Zusammenhang mit den beiden Tugendpflichten der Einleitung kaum aussagekräftig zu sein. So bleibt als entscheidendes Vermittlungsstück c).
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der Willkür muss vom jeweiligen Menschen in seiner Lebenszeit und Lebenswelt erarbeitet und kultiviert werden. Die Kultivierung und Vervollkommnung der menschlichen Willkür setzt freilich die transzendentale Freiheit des Willens voraus. Nur insofern die Willkür „durch reine Vernunft bestimmt werden kann, heißt […, sie] freie Willkür.“ (MSR AB 6) Gleichwohl muss die Freiheit der Willkür in der Auseinandersetzung mit der animalischen Natur des Menschen gewonnen und erarbeitet werden. Und das bedeutet, sie bleibt immer gefährdet durch empirische Faktoren, die folgerichtig als Verbote artikuliert werden, um die Freiheit der Willkür zu gewährleisten. Insofern wird der Mensch als ein animalisches Wesen betrachtet, aber als ein solches, das durch moralische Pflichten bestimmbar ist. Der Körper stellt darüber hinaus eine grundlegende animalische Voraussetzung zu moralischem Handeln dar. Weil er die Voraussetzung zu moralischem Handeln ist, wird der Mensch mit seinem Körper als ein zwar animalisches, aber zugleich moralisches Wesen betrachtet. Auch der Körper muss insoweit kultiviert oder geschützt werden als er die Voraussetzung zu moralischem Handeln darstellt. Der Körper als ein animalischer steht in der Tugendlehre nur insofern im Blick als er tugendhaftes Handeln ermöglicht und gewährleistet. Körperliche Aspekte, die zu moralischem Handeln irrelevant sind, können nicht erörtert werden (z. B. Aussehen, Köperbau, etc.). Freilich gibt es vielfältige körperliche Aspekte, die zwar nicht irrelevant für moralisches Handeln sind, die gleichwohl keiner strengen Reglementierung unterliegen. Der Körper sollte soweit gepflegt und kultiviert werden, damit er eine große Vielfalt an Fähigkeiten zur Ausführung möglicher (moralische) Zwecke bereitstellt. Der Körper ist dem Prinzip der inneren Freiheit unterworfen und wird demnach als ein freilich animalischer aber zugleich moralischer Bestandteil des Menschen betrachtet. Und nicht zuletzt zeichnet das Glücksstreben den Menschen als animalisches Wesen aus. Weil es interindividuell eingeschränkt werden muss, wird der Mensch als zwar animalisches, aber zugleich moralisches Wesen betrachtet. Das Glücksstreben bedarf einer intra- und interindividuellen Strukturierung, um nicht mit den moralischen Forderungen in Konflikt zu geraten. Andererseits ermöglicht die moralische Bestimmung erst diese Strukturierung, um langfristig seine eigenen „wahren Bedürfnisse“ (MST A 27) und die Dritter zu befördern. So wird der Mensch als animalisches mit empirischen Bedürfnissen behaftetes Wesen und zugleich als ein moralisches Wesen betrachtet. Die Willkür, der Körper, alle Gemütskräfte und das Glücksstreben sind die Perspektiven, die den Menschen als animalisches und zugleich moralisches Wesen auszeichnen. Diese können, wie unten gezeigt wird, die Systematik der Tugendpflichten verdeutlichen. Der Mensch, bloß als moralisches Wesen, wird in der Tugendlehre nicht als reines homo noumenon betrachtet, sondern als vernünftiges Naturwesen. Doch
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so, dass der Mensch als Zweck an sich selbst vorausgesetzt wird, der sich dadurch auszeichnet, dass er nach Grundsätzen handelt und unter moralischen Gesetzen steht. Dabei werden also nicht die physischen Voraussetzungen, sondern das Handeln nach Grundsätzen und das gegenseitige Verhältnis der Menschen als Zwecke an sich selbst betrachtet. Das Handeln nach Grundsätzen und der gegenseitige Respekt und die Achtung stehen im Mittelpunkt dieser Perspektive. Dieser subjektiven Einteilung steht die objektive Einteilung gegenüber, die zwischen einschränkenden bzw. negativen und erweiternden bzw. positiven Pflichten unterscheidet. Beide werden explizit als „Tugendpflichten“ (MST A 66) bezeichnet. Aus der Unterscheidung von Geboten und Verboten ergibt sich, wie oben gezeigt wurde, der graduelle Begriff der Vollkommenheit, der alle Tugendpflichten intern strukturiert. Dass diese Unterscheidung nicht nur den Pflichten gegen sich selbst zugrunde liegt, sondern auf alle Tugendpflichten angewendet werden kann, zeigt ein sachlich-strukturell orientierter Blick. Merkwürdig ist nur, dass Kant diese Unterscheidungen nicht explizit, etwa in der Einleitung, auf die beiden Tugendpflichten bezieht. Dieser Bezug ergibt sich indessen aus der sachliche Rekonstruktion des Textes. Durch diese objektive Einteilung wird es möglich, die Einteilung der Pflichten gegen sich selbst in vollkommene und unvollkommene nachzuvollziehen, als auch die eigentümliche Stellung der Achtungspflichten als vergleichsweise enge Pflichten. Die Tugendpflicht der eigenen Vollkommenheit unterteilt Kant in die Kultur aller Vermögen überhaupt und die Kultur der Moralität. (vgl. MST VIII.) Kant geht explizit „von der dem Menschen überhaupt (eigentlich der Menschheit) zugehörigen Vollkommenheit“ (MST A 14) aus. Diese beinhaltet das allgemeine Vermögen sich überhaupt Zwecke zu setzen und das Vermögen die Pflicht rein aus Pflicht zu tun. Der Zweck, der zugleich Pflicht ist, ist der Mensch überhaupt. Entsprechend den Kategorien der Freiheit (KpV A 101 ff.) kann dieser zweifach betrachtet werden. Einmal ist der physische Zustand der Person der Zweck, das andere Mal die moralische Person selbst der Zweck.⁸³ Einmal wird der Mensch als physisches und zugleich moralisches Wesen betrachtet, das andere Mal als bloß moralisches. Beide Male aber als vernünftiges Naturwesen überhaupt. Und dies deshalb,weil die Pflicht zur physischen Vollkommenheit den Anbau aller „Gemüts- und Leibeskräfte“ (MST A 25), die „Kultur der rohen Anlagen seiner Natur“ (MST A 22) fordert.
Auch in der Religionsschrift unterscheidet Kant die Tierheit, die Menschheit und die Persönlichkeit in der Bestimmung des Menschen. Die Menschheit betrachtet den Menschen als einen „lebenden und zugleich vernünftigen“ (Rel. A 13).
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Die Pflicht spricht also den Menschen in seiner animalischen Natur an. Dabei unterstellt die Pflicht zur physischen Vollkommenheit zugleich, dass der Mensch ein zurechnungsfähiges Wesen ist, das Pflichten unterliegen kann. Die Freiheitsfähigkeit des Menschen wird hier, der allgemeinen Perspektive der Tugendlehre entsprechend, zur Pflicht gemacht. Sie ist die grundlegende Voraussetzung zur Bestimmung durch moralische Grundsätze. Und weil der Mensch nicht aus Naturtrieben heraus seine Naturanlagen kultiviert, er vielmehr zum Genuss und zur Gemütlichkeit neigt, ergibt sich dies als Pflicht, die der Mensch als Zwang erlebt. So wird der Mensch als animalisches und zugleich moralisches Wesen in der Pflicht zur eigenen physischen Vollkommenheit betrachtet. Das Vermögen zur Zwecksetzung ist nach Kant das Charakteristische des Menschen. Deshalb fordert die erste der Tugendpflichten die Kultur aller Vermögen überhaupt. Der Zweck ist der ganze Zustand der Person, sowohl der intellektuelle als auch der leibliche Zustand. Denn das Vermögen zur Zwecksetzung setzt alle Vermögen des Menschen voraus. Ohne einen Körper kann kein Zweck im Handeln verwirklicht werden. Ohne leibliche Kräfte können zumindest nicht alle Zwecke im Handeln verwirklicht werden. Bestimmte Zwecke setzen einen gesunden, weiterhin einen starken und manche einen ausdauernden Körper voraus. Auch Überlegung und Intelligenz sind für bestimmte Zwecke notwendig, aber eben nicht für alle. Das Prinzip ist darum die innere Freiheit des Menschen, die Tauglichkeit für alle möglichen Zwecke, die einem „aufstoßen können“ (MST A 25). Die Freiheitsfähigkeit ist für den Menschen als vernünftiges Naturwesen in einer Welt zwar in erster Linie das Zwecksetzungsvermögen, aber darüber hinaus auch alle Vermögen des Menschen überhaupt, weil unterschiedliche Zwecke unterschiedliche Fähigkeiten erfordern. Das Gesetz gebietet jedoch nicht direkt Handlungen, sondern nur die Maximen zu Handlungen. Und man sieht doch schnell, dass in der Einleitung der Zweck zwar positiv bestimmt wird, dass aber durchaus Handlungen darunter fallen, die den Zweck befördern, als auch solche, die ihn verhindern. Entsprechend der objektiven Einteilung werden die den Zweck verhindernden Handlungen folgerichtig als Verbote formuliert. Und da diesen nicht dieselbe Weite an Handlungsmöglichkeiten zukommt, werden sie von Kant als vollkommene Pflichten gegen sich selbst bezeichnet. Die vollkommenen Pflichten des Menschen gegen sich selbst als ein animalisches Wesen und die unvollkommene Pflicht gegen sich selbst in Entwicklung und Vermehrung seiner Naturvollkommenheit setzen beide denselben Zweck, namentlich die Kultur aller Vermögen, voraus. Im ersten Fall werden Handlungen verboten, die den Zweck verhindern, im zweiten Fall werden vielfältige unbestimmte Handlungen geboten, die den Zweck befördern. Die Pflicht zur Kultur der Moralität betrachtet den Menschen als bloß moralisches Wesen, das nach Grundsätzen handeln kann. Der Zweck, der zugleich
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Pflicht ist, ist die moralische Person selbst. Zugleich wird der Mensch als vernünftiges Naturwesen betrachtet. Das wird deutlich, wenn man Kants Erörterungen in diesem Kontext betrachtet, wonach das Gesetz nicht die Handlung selbst, sondern nur die Maxime zu Handlungen gebietet. Denn die Moralität als Handlung ist eine enge Verbindlichkeit, weil sie eine konkrete Handlung, die Pflicht rein aus Pflicht zu tun, gebietet. Würde der Mensch als bloß moralisches Wesen betrachtet werden, käme er Gott gleich, dessen innere Motivation in jeder Handlung erkennbar ist. Da der Mensch als vernünftiges Naturwesen seine zugrunde liegende Handlungsmotivation niemals sicher erkennen kann, wird die Moralität als Zweck, der zugleich Pflicht ist, geboten. Das gilt umso mehr, als der Mensch alternative Bestimmungsmöglichkeiten zu Handlungen hat. Er kann Zwecke aus weitergehenden zweckrationalen Überlegungen heraus setzen oder bestimmte Zwecke nur der Zwecke wegen annehmen. Doch ob und wann der Mensch Zwecke nur deshalb annimmt, weil sie Pflicht sind, bleibt selbst dem jeweiligen Individuum introspektiv verborgen. Und das heißt wiederum hier wird der Mensch als fehlbares, weil Naturwesen betrachtet, das unter vernünftigen Gesetzen steht. Gleichwohl wird der Mensch als moralisches Wesen betrachtet, weil seine moralische Person der Gegenstand der Tugendpflicht ist. Wiederum der objektiven Einteilung gemäß lassen sich dem Zweck der Kultur der Moralität gemäß sowohl Gebote als auch Verbote formulieren. Verboten sind all diejenigen Handlungen, die dem positiv bestimmten Zweck verhindern oder direkt widerstreiten.Und wiederum sind die Verbote aufgrund ihres Bezugs auf Handlungen vollkommene Pflichten. Die vollkommenen Pflichten des Menschen gegen sich selbst als ein moralisches Wesen und die unvollkommene Pflicht gegen sich selbst in Erhöhung seiner moralischen Vollkommenheit setzen beide denselben Zweck, namentlich die Kultur der Moralität, voraus. Im ersten Fall werden Handlungen verboten, die den Zweck verhindern, im zweiten Fall werden vielfältige unbestimmte Handlungen geboten, die den Zweck befördern. Die Tugendpflicht zur Beförderung der fremden Glückseligkeit unterteilt Kant in die physische Wohlfahrt und das moralische Wohlsein. Dort wird der Mensch einmal als animalisches und zugleich moralisches Wesen, das andere Mal als bloß moralisches Wesen betrachtet. Beide Male aber als vernünftiges Naturwesen überhaupt. Bei der Pflicht zur physischen Wohlfahrt ist das leicht zu ersehen. Denn bereits der Titel enthält den ersten Hinweis auf das physische, nämlich animalische des Menschen. Die Glückseligkeit ist das notwendige Streben eines endlichen und zwar animalischen Wesens. Doch der Mensch wird zugleich als moralisches Wesen betrachtet, weil er einer Zurechnung fähig ist. Zudem geht die Tugendpflicht vom individuellen Glücksstreben aus, unterstellt aber die Fähigkeit zu einer allgemeinen Gesetzge-
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bung und kommt so auf die Pflicht, das fremde physische Wohlsein zu befördern. Das physische Wohlsein unterliegt, dem Menschen als vernünftiges Naturwesen entsprechend, grundlegenden Beschränkungen, weil nur solche Neigungen gefördert werden dürfen, die erlaubt sind (vgl. MST A 17). Und die Beförderung des fremden Wohlseins wird des Weiteren durch die erlaubte Beförderung des eigenen Wohlseins in moralischer Hinsicht beschränkt, weil nur so eine allgemeine Gesetzgebung möglich ist. Die Pflicht zum moralischen Wohlsein anderer stellt nun eine gewisse Schwierigkeit dar. Was soll damit gemeint sein, wenn doch die Moralität nicht Sache dritter sein kann? Aus den kurzen Ausführungen im VIII. Abschnitt lässt sich nicht viel entnehmen. Man denkt an dieser Stelle gleichwohl am ehesten an Verführungen zu Straftaten, die man unterlassen soll. Doch das wäre eine Rechtsund keine Tugendpflicht. Was also kann mit dem moralischen Wohlsein genauer hin gemeint sein? Es handelt sich hierbei um eine „negative Pflicht“ (MST A 27), man soll verhüten, dass andere ein innerer Vorwurf „wie der Gram, die Furcht und jeder andere krankhafte Zustand“ (ebd.) trifft. Oder, was wohl dasselbe meint, etwas zu unterlassen „worüber ihn sein Gewissen nachher peinigen kann, welches man Skandal nennt.“ (MST A 28) Licht ins Dunkel kommt, wenn man bedenkt, welcher Zweck hier in Betracht steht. Es ist doch die Persönlichkeit des anderen als vernünftiges Naturwesen. Also nicht nur seinen physischen Zustand, sondern seine Person soll ich mir zum Zweck machen. Und das bedeutet nichts anderes als die Achtung vor ihm. Wenn ich etwas tue, das die Achtung des anderen einschränkt, verleite ich den anderen nicht zu bestimmten Straftaten, sondern kränke ihn in seiner Persönlichkeit, die der andere als Gram oder Furcht, sicher aber als Gewissenspeinigung erfährt. Hier ist der Mensch als bloß moralisches Wesen in Betrachtung, weil die Perspektive auf das moralische Wohlsein, die Achtung der fremden Person gelegt ist. Gleichwohl berücksichtigt die Pflicht den Menschen als vernünftiges Naturwesen, weil sie mit Übertretungen rechnet. Mit „Verleitung“ (MST A 28) zu einem schlechten Gewissen. Und dies ist ja nur möglich, insofern die moralische Person als Zweck geboten, aber der Mensch als vernünftiges Naturwesen vorausgesetzt ist. Das moralische Wohlsein kann demnach in seiner Dunkelheit inhaltlich aufgeklärt werden, wenn man es auf die Achtungspflicht bezieht. Neben Plausibilitätsüberlegungen findet sich eine Textbasis in dem Wörtchen „Skandal“, das in beiden Abschnitten in gleicher Bedeutung verwendet wird.⁸⁴ Die Achtungspflicht ist eine Unterkategorie der Pflicht zur fremden Glückseligkeit. Sie wird als „verhältnisweise […] enge“ Pflicht dargestellt, die den Rechtspflichten in gewissem Sinne analog ist, und dies
Vgl. MST, Einleitung A 27 mit MST, Elementarlehre A 142.
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deshalb, weil sie „eigentlich nur negativ ist (sich nicht über andere zu erheben)“ (MST A 118). Entsprechend werden die Achtungspflichten als Verbote formuliert, weshalb sie als verhältnisweise enge und daher als verhältnisweise vollkommene Pflichten angesehen werden können. Es hat sich somit gezeigt, dass die kantische Textbasis zwar prima facie widersprüchlich ist, und dass im Hinblick auf die Systematik sogar keine expliziten Textstücke ausgemacht werden können. Anhand der sachlichen Struktur konnte aber gezeigt werden, dass den Einteilungen und Begriffsverwendungen Kants in der Tugendlehre eine klare Struktur und Systematik zugrunde liegt. Die Tugendpflichten der Einleitung finden ihre Konkretisierung in den vielfältigen Tugendpflichten der Elementarlehre. Beide Textstücke erhellen sich gegenseitig und geben dem kantischen Text einen wohldurchdachten Sinn.
4 Das Glück im System der Tugenden Die aufgezeigte kategoriale Unterordnung der Tugendpflichten der Elementarlehre unter die Tugendpflichten der Einleitung ermöglicht in der Folge eine konkrete und differenzierte Beurteilung der einzelnen Tugendpflichten. Der Ort des Glücks im System der Tugenden soll im Folgenden ausführlich aufgezeigt werden. Insgesamt ist deutlich, dass durch die Perspektive der Tugendlehre auf den Menschen als vernünftiges Naturwesen die strenge Trennung des Menschen als homo noumenon und homo phaenomenon⁸⁵ zwar nicht aufgehoben, wohl aber der Graben inhaltlich aufgefüllt und differenziert wird. Das ist das Ergebnis der Grundlegungsschriften, dass diese die transzendentale Freiheit und die Wirklichkeit der Autonomie aufzeigen und begründen. Dort legt Kant den Menschen als homo noumenon frei und begründet dessen Freiheit. Auch wenn die Freiheit im transzendentalen Sinne begründet ist, bleibt sie immer bezogen auf die empirische Realität des Menschen als homo phaenomenon. Und gerade diese physische Realität ist nicht nur Bezugspunkt für die Tugendpflichten, sondern stellt in gewissen Grenzen die Bedingung der Möglichkeit zur Realisierung dieser Tugendpflichten dar. Ohne einen Körper kann keine Zwecksetzung, geschweige denn eine Handlung erfolgen. Ohne einen zurechenbaren Verstand, wenn er etwa durch Alkohol oder sonstige Drogen betäubt ist, kann die transzendentale Freiheit nicht in Erscheinung treten.
Vgl. etwa MST A 65.
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Der Begriff der inneren Freiheit, wie er in der Tugendlehre verwendet wird⁸⁶, bringt diese Spannung zwischen transzendentaler Freiheit und physischer Bedingung derselben sehr gut zum Ausdruck. Diese innere Freiheit der Willkür setzt in der Tat die transzendentale Freiheit voraus, geht aber nicht darin allein auf.⁸⁷ Vielmehr wird der negative Begriff der Freiheit der Willkür, die „Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe“ (MSR AB 6), auch in physischer Hinsicht weiter ausdifferenziert. Nicht umsonst führt Kant eine zwar unscheinbare, aber sehr tragende Anmerkung „Von der Tugendlehre nach dem Prinzip der inneren Freiheit“ im XIV. Abschnitt der Einleitung an. In physischer Hinsicht erfordert die Unabhängigkeit der Willkür von sinnlichen Antrieben die Freiheit von Affekten und Leidenschaften. Oder genauer: die Zähmung der Affekte und die Beherrschung der Leidenschaften. Dies sind die beiden Stücke, die in der dortigen Anmerkung als physische Bedingungen der inneren Freiheit angeführt werden. Bezeichnenderweise sind die Formulierungen so gewählt, dass deutlich wird, dass eine vollkommene Freiheit von Affekten und Leidenschaften für den Menschen als sinnliches Wesen grundsätzlich nicht möglich ist.Vielmehr gilt es Regeln, Strategien und Künste zu entwickeln, die eine Beherrschung und Zähmung langfristig ermöglichen, ohne zur Gewohnheit zu erstarren, „denn, wenn sie Angewohnheit (assuetudo), d.i. durch öfters wiederholte Handlung zur Notwendigkeit gewordene Gleichförmigkeit derselben ist, so ist sie keine aus der Freiheit hervorgehende, mithin auch nicht moralische Fertigkeit.“ (MST A 50) Und gerade diese Freiheit von Leidenschaften und Affekten wird später den naheliegenden Übergang von der Tugendlehre hin zur Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ermöglichen. Denn die Tugendpflichten reglementieren zwar einen weiten Bereich des menschlichen Handelns, einen weiteren noch als die Rechtspflichten mit erzwingbaren Handlungen regeln, aber nichts desto trotz verbleibt letztlich ein Bereich des menschlichen Handelns, der moralisch erlaubt und daher nicht streng reglementiert ist. Das sind die Bereiche der individuellen Lebensführung und der persönlichen Lebenskunst, die entgegen der klassischen Kantinterpretation durchaus in der Anthropologie festgemacht werden können.⁸⁸
MSR AB 7 („Freiheit sowohl im äußeren als inneren Gebrauche der Willkür“), MST A 49 (Von der Tugendlehre nach dem Prinzip der inneren Freiheit“), MST A 65 („mit innerer Freiheit begabtes Wesen“). Prauss, Gerold: Kant über Freiheit als Autonomie, Frankfurt am Main 1983, 28 ff. – berücksichtigt diese Vermittlung von Natur und Freiheit in der Tugendlehre nicht. So auch Geismann, Georg: Kant über Freiheit in spekulativer und in praktischer Hinsicht, KantStudien 98 (2007) 283 – 305, hier: 303. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden, einen Überblick gibt Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst. a.a.O., .36 ff.
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Diese Berücksichtigung der inneren Freiheit ermöglicht eine ausgewogene Beurteilung der einzelnen Tugendpflichten im Hinblick auf das individuelle Glück. Entsprechend der entwickelten Systematik der kantischen Tugendlehre sind die Beförderung der eigenen Vollkommenheit und der fremden Glückseligkeit die beiden obersten Tugendpflichten, die es zu verwirklichen gilt. Diese objektiven Zwecke stellen die strukturellen Voraussetzungen der inneren Freiheit und der moralischen Integrität unter den Bedingungen des Menschen als vernünftiges Naturwesen vor.⁸⁹ Sie richten sich auf die physische Seite des menschlichen Daseins als auch auf die moralische Integrität im engeren Sinne. Die beiden Tugendpflichten zur eigenen Vollkommenheit und fremden Glückseligkeit können freilich nicht vertauscht werden, in eigene Glückseligkeit einerseits und fremde Vollkommenheit andererseits. Denn eigene Glückseligkeit ist ein Zweck, den alle endlichen Vernunftwesen bereits „vermöge des Antriebs ihrer Natur“ (MST A 13) haben. Was jemand schon unvermeidlich selbst will kann aber nicht ohne Widerspruch unter den Begriff der Pflicht subsumiert werden, weil dieser ja den Begriff eines Zwanges zu einem „ungern genommenen Zweck“ (ebd.) enthält. Fremde Vollkommenheit kann ebenfalls nicht als Pflicht geboten werden, da der Begriff der Vollkommenheit ein solcher ist, den jeder selbst vollbringen muss. Was jeder selbst vollbringen muss, kann von keinem Dritten übernommen werden. Einen Dritten aber gegen seine eigene Zwecksetzung zu einer höheren Vollkommenheit bringen zu wollen, ist nicht nur unrealistisch, sondern sogar ein Widerspruch in sich selbst. Denn die Tugend zur eigenen Vollkommenheit besteht gerade darin, sich diese selbst als Zweck zu setzen und danach zu streben. Die physische Seite des Menschen wird meist unter der Glücksperspektive und der Gewährleistung der inneren Freiheit gesehen. Der Fokus liegt, wie die Tugendpflichten bereits ausdrücken, auf der Beförderung der fremden Glückseligkeit, weil diese, anders als die eigene Glückseligkeit, zur Tugendpflicht erhoben werden kann. Bleibt dabei die eigene Glückseligkeit im Text vielfach unterbelichtet, liegt das keineswegs an einer systematischen Irrelevanz. Vielmehr ist dies dem Text geschuldet, der directe ausschließlich von Tugendpflichten handelt und, da es keine direkte Pflicht zur eigenen Glückseligkeit geben kann, weil dies jedes vernünftige Naturwesen notwendig von sich aus anstrebt, deshalb die eigene Glückseligkeit weitestgehend ausgeblendet bleibt. Dem ungeachtet lassen sich vielfältige Anknüpfungspunkte zwischen den Tugendpflichten und dem individuellen Glückstreben im kantischen Text ausfindig machen. Des Weiteren ist die Gewährleistung der inneren Freiheit der wesentliche Zielpunkt der Tugendpflichten, insbesondere der Pflicht zur eigenen Vollkom-
Hier folge ich Esser, Andrea M.: Eine Ethik für Endliche , a.a.O., 324.
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menheit. Mit Hilfe dieses recht verstandenen Prinzips lassen sich zudem aus heutiger Sicht inhaltlich unplausible Tugendpflichten mit Kant gegen Kant kritisieren. Denn auch wenn der kantische Tugendkatalog in bestimmten Details nicht zu überzeugen vermag, lassen sich wesentliche Zusammenhänge plausibel rekonstruieren und bestimmte Inhalte modifizieren. Schließlich stellt die Pflicht zu moralischer Integrität oder wie Kant sagt: der Mensch „bloß als moralisches Wesen betrachtet.“ (MST A 68) einen wichtigen Schlüsselbegriff zum genauen Verständnis der einzelnen Tugendpflichten dar. Dort steht die formale Anwendung des kategorischen Imperativs, wie sie aus den Grundlegungsschriften wohlbekannt ist, im Vordergrund. Wie sich im Folgenden zeigen wird, wird das eigene Glück im System der Tugenden mit der Tugend vermittelt. Auf diese Weise entsteht das Bild eines bewussten Lebens, das um seine Triebkräfte weiß, klug mit diesen umgehen kann und die Moral als letzten Orientierungspunkt versteht.
4.1 Kultur der Moralität Die Pflicht zur eigenen Vollkommenheit behandelt Kant in den Abschnitten V. und VIII. der Einleitung in die Tugendlehre. Ihm ordnet er zwei Pflichten unter: Die Kultur der Moralität und die Kultur aller Vermögen überhaupt. Beide verweisen auf die zentrale Differenzierung zwischen dem Menschen als animalisches und moralisches Wesen und dem Menschen bloß als moralisches Wesen. Die Kultur der Moralität fordert, „daß zu allen pflichtmäßigen Handlungen der Gedanke der Pflicht für sich selbst hinreichende Triebfeder sei.“ (MST A 26) Es wird nicht die innere Handlung der Moralität selbst zur Pflicht erhoben, sondern nur die Maxime danach nach allen Mitteln zu streben. Man soll sich soweit möglich Klarheit über seine eigene Handlungsmotivation verschaffen, dass die Handlungen nicht aus zweckrationalem Kalkül, sondern allein des Gesetzes wegen ausgeführt werden. Freundlichkeit, Aufrichtigkeit und Zuvorkommen sind alles erstrebenswerte Haltungen, die man einer Person aufgrund bestimmter Handlungen zuschreibt. Doch kann eine Person dergleichen Handlungen ebenso gut aus reinem Kalkül vollziehen und dabei die langfristige Überlistung der betroffenen Personen im Auge haben. Andererseits wird man bei ehrlicher Selbstreflexion immer eine gewisse langfristige Kalkulation in seinen Triebfedern erkennen. Diese notwendige Dialektik war Kant durchaus klar. Und das bereits in der ersten Ausformulierung des kategorischen Imperativs in der Grundlegung. Nicht umsonst gebietet die Zweckformel den Menschen „jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel“ (GMS AB 67) zu betrachten. Denn angesichts der menschlichen Sinnlichkeit lassen sich
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diese Kalkulationen nicht vermeiden, aber doch einschätzen, zumindest in eigener Introspektion, welche der beiden Alternativen eher im Vordergrund steht. Allein die Introspektion mit dem Ziel die eigenen Triebfederstruktur aufzudecken und die tugendhafte in den Vordergrund zu rücken ist bereits die Erfüllung der von Kant angesetzten Tugendpflicht zur Kultur der Moralität. Dieser feine Unterschied verdeutlicht ein weiteres Mal die eigentümliche Perspektive der Tugendlehre, wo nicht die allgemeinen Strukturen der Autonomie erläutert und begründet werden, sondern der Mensch als vernünftiges aber fehlbares Naturwesen, dem es auf Grund seiner Sinnlichkeit grundsätzlich nicht möglich ist vollkommene Moralität zu erreichen, noch nicht einmal die letzten Triebfedern des eigenen Handelns zu erkennen. Die Legalität der eigenen Handlung ist kein hinreichender Gradmesser zur Beurteilung der Moralität der Person. Es kommt dabei sehr auf die kontingenten Umstände der Handlung und der Person an. So kann jemand nur glücklich sein, niemals in eine versucherische Situation geraten zu sein oder umgekehrt unglücklich darüber in eine Situation geraten zu sein, für die er (noch) nicht hinreichend gerüstet war. Das Entscheidende ist die ständige Reflexion über die zugrunde liegenden Triebfedern. Erfolgt diese Reflexion schonungslos und offen zu sich selbst, so ist der Zweck der Tugendpflicht als Zweck angenommen und bereits in jedem Moment verwirklicht, auch wenn die Moralität der Handlung selbst weiterhin im Ungewissen verbleibt. Wie ist angesichts der Maxime, die Tugendpflicht rein aus Pflicht zu erfüllen, das Verhältnis zur eigenen Glückseligkeit einzuschätzen? Man muss scheinbar von den individuellen Neigungen absehen, ja gegen diesen unmittelbaren Trieb ankämpfen und sich gegen diesen und für das Gesetz um des Gesetzes willen entscheiden. Damit wird zwangsläufig das individuelle Glücksstreben zugunsten des Pflichtgesetzes negiert und beides fällt in einen kontradiktorischen Widerspruch. Denkbar ist lediglich ein Bereich des menschlichen Handelns der keiner moralischen Reglementierung unterliegt. Dieser moralneutrale Bereich beinhaltet alle erlaubten Handlungen, unterliegt nicht der Pflichterfüllung und kann deshalb nicht in Widerspruch mit derselben geraten. Allerdings ist das doch eine sehr unbefriedigende Ausflucht? Handelt es sich lediglich um Handlungen wie alleine Zähne zu putzen, alleine zu kochen, alleine zu schreiben, alleine Sport zu treiben, alleine einzukaufen, kurz: die Welt eines einsamen Eremiten? Und wenn das keine denkbare Alternative ist, bleibt dann nur der notwendige Konflikt zwischen Pflichterfüllung und Glücksstreben? Und muss folgerichtig im Zweifelsfall stets der Moral gefolgt werden? Kann das Individuum nur auf eine glückliche Fügung der Welt hoffen, dass seine Wünsche nicht in Konflikt mit der Moral geraten werden? Oder lassen sich im Text Alternativen aufweisen?
4.1 Kultur der Moralität
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Bei der Pflicht zur Beförderung der fremden Glückseligkeit kommt dieser Widerspruch abermals zu tragen, wird aber weitestgehend aufgelöst. Denn die Beförderung der fremden Glückseligkeit, und darin liegt gerade die eigene Moralität, kann ebenso in einen Konflikt mit dem eigenen Glückstreben führen. Entgegen der im Zweifelsfall kategorischen Zurückweisung der eigenen Neigungen, dem eigenen Glücksstreben, muss die Moralität selbst widerspruchsfrei gedacht werden können. Und das beinhaltet, dass die Beförderung der Glückseligkeit alle Wesen gleichermaßen behandeln muss. Der moralische Agent ist selbst ein Teil der Welt und muss berücksichtigt werden. Deshalb darf die eigene Glückseligkeit nicht zu Gunsten fremder Glückseligkeit aufgegeben werden. Vielmehr muss im Konfliktfall das eigene faktische Glücksstreben mit der Pflicht zur Beförderung der fremden Glückseligkeit in Ausgleich gebracht werden. Das Gesetz „erlaubt es dir, dir selbst wohlzuwollen, unter der Bedingung, daß du auch jedem anderen wohl willst; weil so allein deine Maxime (des Wohltuns) sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung qualifiziert, als worauf alles Pflichtgesetz gegründet ist.“ (MST A 121) Überdem könne niemand „Aufopferung meiner nicht unmoralischen Zwecke“ von mir verlangen (MST A 18). Zudem leitet die Moralität die Zwecksetzung an und ordnet sie auf kohärente Weise. Durch die Orientierung an der widerspruchsfreien Zwecksetzung der Moralität ergibt sich nicht nur ein inhaltlich tugendhaftes System der Maximen, es ergibt sich darüber hinaus ein formal widerspruchsfreies System der individuellen Maximen und damit eine interne Kohärenz der eigenen Neigungen. Das individuelle Glückstreben wird durch die Orientierung an der obersten Tugendpflicht zur Kultur der Moralität kohärent geordnet und erfährt dadurch eine Bereicherung im Hinblick auf die von Kant genannten Modalitäten des Glücksstrebens⁹⁰, nämlich den Umfang, die Intensität und insbesondere die Dauer. Die zeitliche Perspektive des Glücksstrebens erfährt gerade durch die Moralität eine enorme Bereicherung, weil nur durch die kohärente und vernünftige Orientierung an der reinen praktischen Vernunft langfristig ein geordnetes System der eigenen Maximen möglich ist. Sicherlich schränken die moralischen Zwecke die individuellen Maximen quantitativ ein, d. h. die bösen, nicht widerspruchsfrei denkbaren Maximen, müssen ausgeschlossen werden. Doch daneben ergeben sich vielfältige Möglichkeiten der Vermittlung, Hierarchisierung und Differen-
„Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen (so wohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive, dem Grade, und auch protensive, der Dauer nach).“ (KrV A 806 B 834).
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zierung der Maximen. Das Glücksstreben erfährt eine strukturelle und zeitliche Ordnung durch die praktische Vernunft. Die Pflicht zur Kultur der Moralität lässt sich weiter differenzieren. Und zwar im Hinblick auf die negativen Pflichten der Selbsterhaltung und die positiven Pflichten der Vervollkommnung, entsprechend dem Prinzip der Einteilung der Pflichten gegen sich selbst (MST §4). Die ersteren sind einschränkende Pflichten und verbieten dem Menschen dem Zweck seiner Natur entgegenzuhandeln. Da das wesentliche Charakteristikum des Menschen die freie und widerspruchsfreie Zwecksetzung ist, soll auch dieser Bedingung nicht zuwider gehandelt werden. Der Mensch als bloß moralisches Wesen muss auf widerspruchsfreie Zwecksetzung achten, der Mensch als animalisches und zugleich moralisches Wesen muss die moralische Zwecksetzung positiv immer weiter anstreben. Die letzteren sind erweiternde Pflichten und verlangen, sich einen bestimmten Gegenstand zum Zweck zu setzen. Dieser Gegenstand ist der Mensch als vernünftiges Naturwesen mit seinem wesentlichen Charakteristikum der freien und widerspruchsfreien Zwecksetzung. Diesen allgemeinen Überlegungen gemäß lassen sich die vollkommenen Pflichten des Menschen gegen sich selbst als ein bloß moralisches Wesen und die unvollkommene Pflicht gegen sich selbst in Erhöhung seiner moralischen Vollkommenheit unter die allgemeine Tugendpflicht zur Kultur der Moralität subsumieren. Unter der vollkommenen Pflicht des Menschen gegen sich selbst, bloß als moralisches Wesen betrachtet, behandelt Kant die entgegengesetzten Laster. Diese sind (1) die Lüge, (2) der Geiz und (3) die Kriecherei. Da es sich um Pflichten zur Kultur der Moralität handelt, scheint die Ansicht naheliegend, dass diese Pflichten bzw. die Verbote der Laster keinerlei Bezug zum individuellen Glücksstreben aufweisen. Freilich sind die Pflichten oder Verbote nicht aus dem menschlichen Glücksstreben abgeleitet, aber sie stehen doch nicht unabhängig davon. Das wird in der detaillierten Besprechung der Pflichten und Laster immer weiter sichtbar. So wird der in den Grundlegungsschriften statuierte Gegensatz zwischen Moral und Glück zwar nicht aufgehoben, wohl aber in den Tugendpflichten selbst vermittelt. Lüge, Geiz und Kriecherei sind Laster, weil sie der widerspruchsfreien Zwecksetzung des Menschen widersprechen und damit dessen eigentlichen Zweck zunichtemachen. (1) Kant unterscheidet eine äußere Lüge gegen andere und eine innere Lüge gegen sich selbst.⁹¹ Die Begründung diese Verbots erfolgt, wie unmissverständlich
Die Stellung des Lügenverbots in Kants Ethik untersucht Babić, Jovan: Die Pflicht nicht zu lügen. Eine vollkommene, jedoch nicht auch juridische Pflicht, Kant-Studien 91 (2000) 433 – 446. Er übersieht allerdings das zentrale Charakteristikum der Tugendpflichten, auch der vollkomme-
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deutlich wird, nicht im Hinblick auf das individuelle Glück maximierende Klugheitsüberlegungen, sondern allein weil „die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person“ (MST A 83) verletzt wird. „Die Lüge ist Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde.“ (ebd.) Die Pflicht zur Ehrlichkeit, Redlichkeit und insgesamt zur Aufrichtigkeit wird – den Grundlegungsschriften entsprechend – ohne jegliche Bezugnahme auf das individuelle Glücksstreben begründet und kategorisch eingefordert. Es lässt sich aber sinnvoll fragen, welche Konsequenzen sich aus dieser inhaltlichen Tugendpflicht für das individuelle Glücksstreben ergeben. Wie glücklich ist ein Mensch, der ehrlich ist und damit ohne innere Widersprüche, weil er sich selbst nicht belügt? Oder anders gefragt: ist ein Mensch, der lügt, glücklich? Unmoralisch ist er, das ist keine Frage. Lügt er andere an, d. h. begeht er eine äußere Lüge, besteht stets die Gefahr, enttarnt zu werden. Damit werden seine mit einer oder mehreren Lügen angestrebten Neigungen gerade nicht befriedigt, ja es besteht sogar die große Gefahr, Schaden davon zu tragen. Sei es in sozialer Geringschätzung, in dem Verlust einer erstrebten Sache oder einer gewünschten Person. In allen Fällen einer enttarnten Lüge wird das Glück des Lügners stark beeinträchtigt. Selbst wenn die Lüge nicht enttarnt wird, lebt der Lügner in der ständigen Lage, seine Lüge verbergen zu müssen und muss deshalb alle folgenden Äußerungen aufs genaueste Bedenken, um nicht durch einen versehentlichen Widerspruch oder eine spontane Äußerung enttarnt zu werden. Durch die Lüge wird eine Neigung eventuell befriedigt, doch diese Befriedigung wird eingeschränkt durch mindestens eine entgegengesetzte Neigung, und das ist die Neigung zur Sicherheit und Gelassenheit. So entsteht qualitativ und protensiv betrachtet eine Verminderung der individuellen Glückseligkeit. Moral liegt im wohlverstandenen Eigeninteresse des nach Glück strebenden Individuums. Begeht ein Mensch eine innere Lüge, verlagert sich der Konflikt von der intersubjektiven Sphäre in die individuelle subjektive Sphäre der eigenen Gedanken. Ein solcher Konflikt ist, wie der Äußere, durch eine große Beeinträchtigung des eigenen Glücks gekennzeichnet. Das gilt umso mehr als damit die widersprüchliche Ausbildung individueller Maximen einhergeht. Im Fall der inneren Lüge werden ja gegensätzliche Neigungen durch eine Lüge zwar vordergründig beseitigt, bleiben aber faktisch bestehen und werden mit gewisser Wahrscheinlichkeit früher oder später zu Bewusstsein gelangen. Für eine widerspruchsfreie Ausbildung eines System der Maximen, stellt somit die Ehrlichkeit und Redlichkeit eine notwendige Bedingung dar, die es zwar rein aus Pflicht zu befolgen gilt, aber zugleich dadurch
nen Pflichten gegen sich selbst, als weite Pflichten und schafft sich dadurch unnötige Schwierigkeiten das Lügenverbot von den Rechtspflichten abzugrenzen.
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eine positive Auswirkung auf das individuelle Glücksstreben leistet. Nur wenn die moralischen Zwecke als oberste Bedingung in einer Person gegeben sind, kann auf dieser Grundlage das Glücksstreben erfolgreich umgesetzt werden. (2) Das Verbot des Geizes zeigt auf eindringliche Weise, dass die Tugend nicht nur nicht im Gegensatz zum eigenen Glückstreben steht, sondern vielmehr dessen Ermöglichungsbedingung darstellt. Kant unterscheidet zur bestimmteren Begründung unterschiedliche Arten des Geizes voneinander. Diese Unterscheidung zeigt auf sehr eindringliche Weise die unterschiedlichen Perspektiven auf, in welcher Moral und Glück in Widerstreit geraten können oder sich sehr wohl gegenseitig sinnvoll ergänzen. Im Falle des habsüchtigen Geizes, „der Erweiterung seines Erwerbs der Mittel zum Wohlleben über die Schranken des wahren Bedürfnisses“ (MST A 88) steht wohl ein überzogenes Glücksstreben tatsächlich in Widerspruch mit der Pflicht gegen Andere. Doch Kant behandelt an dieser Stelle eine andere Bedeutung des Geizes, den Geiz als Pflicht gegen sich und entsprechend steht nicht der Bezug auf andere Personen im Blick, sondern der eigene Selbstbezug. Die Differenzierung Kants wird im Text nicht explizit begründet, er bestimmt aber den von ihm gemeinten Geiz als „die Verengung seines eigenen Genusses der Mittel zum Wohlleben unter das Maß des wahren eigenen Bedürfnisses“ (MST A 89). Wie in der Begründung des Verbots des „übermäßigen Gebrauchs der Genußmittel“ (MST A 80 f.), so wird das Verbot des Geizes als Widerspruch zum Prinzip der inneren Freiheit, der freien Zwecksetzung erläutert. So kann der habsüchtige Geiz zwar in Konflikt mit einer gebotenen Liebespflicht treten, doch er gerät als solcher in keinen Selbstwiderspruch mit der freien Zwecksetzung des Menschen. Und dies deshalb, weil er zwar vielfältige und überzogene Mittel zum Wohlleben anhäuft, das aber „in der Absicht auf den Genuß“ (MST A 90) derselben macht. Damit gerät er nicht mit der Zwecksetzung überhaupt – formal betrachtet – in Widerspruch, sondern allenfalls untergräbt er im Zuge seines Geizes die Liebenspflichten gegen andere. In dieser Form des Geizes zeigt sich dementsprechend eine klare Entgegensetzung von Moral und Glück, weil habsüchtiger Geiz mit gebotenen Liebespflichten gegen andere in Konflikt gerät. Der von Kant im Rahmen der Pflichten gegen sich selbst behandelte Geiz als Laster dagegen zielt auf den „Erwerb sowohl als die Erhaltung aller Mittel des Wohllebens, aber ohne Absicht auf den Genuß […].“ (ebd.) Es werden Mittel zur Umsetzung von Zwecken angehäuft, ohne irgendwelche Zwecke zu intendieren. Es handelt sich um eine leere, widersprüchliche Zwecksetzung, Mittel für Zwecke anzuhäufen ohne irgendwelche Zwecke zu intendieren. Damit gerät der Geizige in eine widersprüchliche Selbstkasteiung, die unter das Maß des wahren eigenen Bedürfnisses führt. Das berechtigte individuelle Glücksstreben, die wahren eigenen Bedürfnisse, werden durch den Geiz unzureichend berücksichtigt und erstrebt. Zwar ergibt sich die Begründung dieses Verbots wiederum unabhängig vom
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Glücksstreben, aber in der Konsequenz wird das individuelle Glücksstreben auf ein berechtigtes und zugleich gefordertes Minimum eingestellt. Dieses Minimum sollte nicht nur aus Klugheitsüberlegungen eingehalten werden, sondern es ergibt sich aus der notwendigen Berücksichtigung des Menschen als vernünftiges Naturwesen, aufgrund seiner inneren Zwecksetzung. Umgekehrt sieht man bereits an dieser Stelle, dass die Moral nicht in falsch verstandenen Liebespflichten, einem selbstlosen Altruismus, aufgeht. Das individuelle Glücksstreben steht nicht grundsätzlich in untrennbarem Widerspruch mit den Anforderungen der Moral. Beide, so sieht man an den konkreten Ausarbeitungen der Tugendpflichten, ergänzen und vermitteln sich wechselseitig. Die Forderungen der Moral finden ihre selbstauferlegte Grenze an dem berechtigten Glücksstreben des Individuums, weil das Glücksstreben ein wesentlicher Bestandteil der freien Zwecksetzung ist. (3) Das Verbot der Kriecherei wird abermals durch eine klare Bezugnahme auf die Autonomiestruktur des Menschen begründet. Kant erläutert dies durch die zweifache Natur des Menschen als homo phaenomenon und homo noumenon. Als „Tiermensch“ (MST A 94) ist der Mensch ein Wesen „von geringer Bedeutung und hat mit den übrigen Tieren, als Erzeugnissen des Bodens, einen gemeinen Wert“ (MST A 93). Als „Vernunftmensch“ (MST A 94) dagegen wird der Mensch als Person betrachtet, „d.i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft“ (ebd.). Als solcher ist er Zweck an sich selbst und besitzt eine Würde, die allen – auch sich selbst – Achtung vor seiner Person abverlangt. Die moralische Persönlichkeit, die Fähigkeit zur inneren Freiheit, stellt alle Personen als Personen „auf den Fuß der Gleichheit“ (ebd.). Unterschiede in der Bildung, der Leistung oder den sozialen Rollen spielen für die Achtung einer Person keine Rolle. Die Achtung zwischen Personen kann und darf nicht zugunsten irgendwelcher lebensweltlicher Vor- oder Nachteile oder unterschiedlicher Zustände aufgebrochen werden.Wird meine Achtung durch eine andere Person verletzt oder verletzte ich die Achtung einer dritten Person, handelt es sich um eine Tugendpflicht gegen andere. An diesem Punkt behandelt Kant aber die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst. Deshalb steht die Verletzung der eigenen Achtung durch sich selbst im Vordergrund. Wird die eigene Achtung aus Kalkül weggeworfen, „bloß als Mittel zu Erwerbung der Gunst eines Anderen“ (MST A 95), steht das eigene Glücksstreben im Vordergrund und nicht die kategorische Achtung der eigenen Person als vernünftiges Moralsubjekt. Insofern stehen sich bei der Kriecherei Glück und Moral entgegen. Heuchelei und Schmeichelei sind alles Handlungen, die die Achtung der eigenen Person verletzen und deshalb verboten sind. Wenn auch Offenheit und Aufrichtigkeit, die der Lüge entgegengesetzten Pflichten, zu Kontroversen führen können, so darf nicht um eines zweifelhaften Wohlbefindens wegen der Friede
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durch Heuchelei und Schmeichelei aufrecht erhalten werden. Zum Beispiel ist im Falle von knappen Arbeitsstellen und damit einhergehender Existenzgefährdung die Verleitung zu Heuchelei und Schmeichelei besonders groß. Doch muss, um die Achtung der eigenen Persönlichkeit aufrecht zu erhalten, Kriecherei, Heuchelei und Schmeichelei verboten werden. Die der Selbstachtung entgegengesetzte Kriecherei ist deshalb kategorisch verboten, steht sie aber tatsächlich mit dem eigenen Glücksstreben in Gegensatz? Die Zeitdimension des individuellen Glücksstrebens erlaubt in diesem Fall eine differenzierte Beurteilung. Denn zwar wird durch die Kriecherei eine kurzfristige Befriedigung der Neigungen erreicht. Die dabei verloren gehende Selbstachtung stellt aber eine notwendige Bedingung für das langfristige Glücksstreben dar. Ohne Selbstachtung stellen die größten Glücksfälle keine Befriedigung dar, der Genuss wird getrübt durch ein mangelhaftes Selbst, das erst durch die Selbstachtung hinreichend begründet wird. Deshalb ist die Befolgung des Verbots zur Kriecherei im wohlverstandenen Eigeninteresse. Die Moral ist gerade auch in der Tugendpflicht zur Selbstachtung eine notwendige Bedingung des individuellen Glücksstrebens. Das Verbot zur Kriecherei beinhaltet nicht nur das Verbot bestimmter Handlungen, sondern fordert zugleich positiv bestimmte Handlungen heraus, sollte die eigene Achtung durch das Verhalten anderer Menschen eingeschränkt werden. Kant bringt dies durch einige Beispiele zum Ausdruck. Die Aufforderungen „Werdet nicht der Menschen Knechte. – Laßt euer Recht nicht ungeahndet von anderen mit Füßen treten“ (MST A 97) sind ein Aufruf zur Aktivität und verbieten die widerstandslose Einnahme einer Opferrolle.⁹² Es muss immer wieder darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Begründung der Tugendpflichten stets konsistent unabhängig vom Glücksstreben erfolgt. In der Konsequenz führt die Tugend, das sollen die Ausführungen zeigen, zu einem recht verstandenen, bewussten Glücksverständnis. Wie Kants Aufforderung zum Widerstand gegen Achtung missachtende Handlungen zeigt, löst sich die Trennung von Moral und Glück in der Tugendlehre zwar nicht auf, doch wird im Konkreten das abstrakt Getrennte zumindest angenähert. Denn durch die Selbstachtung aufrechterhaltenden Handlungen wird zugleich das eigene Glücksstreben, die langfristige Befriedigung unserer Neigungen, gewährleistet. Kants Ausführungen zu den unvollkommenen Pflichten gegen sich selbst sind insgesamt sehr knapp gehalten und bedürfen daher weiterer sachlicher Differenzierungen. Die „Pflicht gegen sich selbst in Erhöhung seiner moralischen Vollkommenheit“ (MST A 113) unterscheidet Kant in zweierlei Hinsicht. In sub-
Zum Verhältnis von Tugendlehre und Psychotherapie vgl. Esser, Andrea M.: Eine Ethik für Endliche, a.a.O., 368.
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jektiver Hinsicht wird die „Lauterkeit (puritas moralis) der Pflichtgesinnung“ (ebd.) verlangt. Das Gesetz selbst soll alleine Triebfeder der Handlungen werden, „ohne Beimischung der von der Sinnlichkeit hergenommenen Absichten“ (ebd.). Entsprechend der kantischen Dichotomie sind die von der Sinnlichkeit hergenommenen Absichten letztlich unter das Prinzip der Glückseligkeit subsumierbar (KpV §3). So bleibt Kant in der Tugendlehre konsequent in den von ihm vorgegebenen Bahnen der Grundlegungsschriften. Dies wird auch in der zweiten Hinsicht deutlich. Objektiv betrachtet wird die „Erreichung der Vollständigkeit des moralischen Zwecks in Ansehung seiner selbst“ (ebd.) gefordert. Nicht nur die Triebfeder, auch die inhaltlichen Zwecke sollen verwirklicht werden. Es sollen die richtigen Dinge mit der richtigen Motivation ausgeführt werden. Doch war Kant Realist genug, um die „Gebrechlichkeit der menschlichen Natur“ (MST A 114) in Anschlag zu bringen. Die kategorische Forderung der Pflichterfüllung rein aus Achtung vor dem Gesetz ist im Hinblick auf den Menschen eine Idee, eine „Vollkommenheit nämlich, zu welcher zwar das Streben, aber nicht das Erreichen derselben (in diesem Leben) Pflicht ist“ (ebd.). Entsprechend ist die Tugendpflicht zu moralischer Vollkommenheit im Hinblick auf das Objekt, die Idee der Pflicht, eine enge und vollkommene Pflicht, im Hinblick auf das Subjekt, den Menschen als vernünftiges Naturwesen, ist sie eine weite und unvollkommene Pflicht. Nun soll die Idee angestrebt werden und die Begründung der Tugendpflicht zur moralischen Vollkommenheit erfolgt unabhängig vom Glücksstreben. Es lässt sich aber fragen was sich daraus ergibt für das faktische Verhältnis von Moral und Glück? Selbst im Hinblick auf das entscheidende Theoriestück der kantische Ethik wie wir sie aus den Grundlegungsschriften kennen, nämlich die Triebfeder, ergibt sich durch die perspektivische Verschiebung hin zum Menschen als vernünftiges Naturwesen ein Raum für das individuelle Glück. Die Weite der unvollkommenen Pflicht gegen sich selbst in Erhöhung seiner moralischen Vollkommenheit erlaubt einen Spielraum für das eigene Glück, wenn auch einen klar umgrenzten. Objektive Laster sind schlicht verboten und unmoralisch. Aber die Weite der positiven Tugendzwecke in Verbund mit der Weite der subjektiven Triebfeder lassen eine gewisse Dopplung von Moral und Glück aus systematischen Gründen offen. Insbesondere die Triebfeder zu einer tugendhaften Handlung kann durchaus (annähernd) die reine Achtung vor dem Gesetz sein. Aufgrund der „Tiefen des menschlichen Herzens“ (ebd.) ist es aber stets denkbar, dass das Streben nach der eigenen Glückseligkeit, wenn nicht die zugrunde liegende, so zumindest eine beigemischte Triebfeder der Handlungen ist. Was nimmt es denn einer tugendhaften Handlung, wenn nach eingängiger Selbstreflexion die Achtung vor dem Gesetz als die zugrunde liegende Triebfeder erkannt wurde und doch zugleich eine gewisse Freude, eine Lust an der Handlung erkannt wird?
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Umgekehrt sind dem Glücksstreben klare Grenzen gesetzt. Ist die Triebfeder nur oberflächlich die Achtung vor dem Gesetz und zugrunde liegt ein egoistisches Streben nach eigener Glückseligkeit, ist dies klarerweise nicht tragbar. Doch bereits das Bestreben nach Selbsterkenntnis der eigenen Triebfedern zeigt deutlich das Streben nach moralischer Vollkommenheit und realisiert als solches Streben die Forderungen der weiten und unvollkommenen Tugendpflicht zur Erhöhung seiner moralischen Vollkommenheit. Nicht umsonst nennt Kant die Selbsterkenntnis des eigenen Herzens das erste Gebot aller Pflichten gegen sich selbst (vgl. MST A 104). Hier soll der Mensch „in die schwerer zu ergründenden Tiefen (Abgrund) des Herzens zu dringen“ (ebd.) versuchen. Die unabschließbare Aufgabe der eigenen Selbsterkenntnis ist das erste Gebot aller Pflichten gegen sich selbst. Als Tugendpflicht wird die Selbsterkenntnis als unangenehmer Selbstzwang erfahren, denn es ist nicht einfach, mit moralischer Strenge und Klarheit die eigenen Neigungen und Triebfedern zu erforschen.
4.2 Kultur aller Vermögen Die Kultur aller Vermögen überhaupt ist Pflicht und wird gefordert „auch ohne Rücksicht auf den Vorteil, den sie uns gewährt“ (MST A 24). Es handelt sich nicht um einen pragmatischen Imperativ (der Klugheit) zur Beförderung der eigenen Glückseligkeit, sondern um einen kategorischen Imperativ (der Sittlichkeit).⁹³ Die Begründung stützt sich ein weiteres Mal auf die für den Menschen charakteristische Freiheitsfähigkeit, „sein Vermögen, sich überhaupt irgend einen Zweck zu setzen“ (ebd.). Die Freiheitsfähigkeit hat beim Menschen als vernünftiges Naturwesen auch eine physische Seite, die als Verwirklichungsbedingung der moralischen Selbstbestimmung in Anschlag gebracht wird. Um moralische Zwecke zu verwirklichen sind „Gemüts- und Leibeskräfte“ (ebd.) in vielfältiger und a priori unbestimmter Art und Weise nötig. Der jeweilige konkrete Mensch als moralisches Subjekt kann niemals sicher über die ihm in einer bestimmten Situation und zu einer bestimmten Zeit abverlangten Zwecke und Handlungen Bescheid wissen. Deshalb muss er seine gesamten Vermögen und Kräfte ins unbestimmte kultivieren. „Tauglichkeit für alle Zwecke […], die dir aufstoßen können“ (ebd.) ist das entscheidende Kriterium für die Tugendpflicht zur Kultur aller Vermögen überhaupt. Dem liegt das Prinzip der inneren Freiheit zugrunde, die Freiheitsfähigkeit, die neben der moralischen Integrität das charakteristische des Menschen als
Zur Differenzierung der Imperative vgl. GMS AB 41 ff.
4.2 Kultur aller Vermögen
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vernünftiges Naturwesen darstellt und entsprechend die vielfältigen Tugendpflichten strukturiert und begründet. Die Freiheitsfähigkeit muss sowohl durch bestimmte Verbote geschützt, als auch durch weite Gebote erweitert werden. Der oben dargelegten Systematik folgend stellen die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst als einem animalischen Wesen und die unvollkommene Pflicht gegen sich selbst in Entwicklung und Vermehrung seiner Naturvollkommenheit Unterkategorien der Pflicht zur Kultur aller Vermögen überhaupt dar. Entsprechend gehören die Verbote zur (1) Selbstentleibung, (2) wohllüstigen Selbstschändung und (3) Selbstbetäubung zur Klasse der Pflichten zur Kultur aller Vermögen überhaupt. Und dies trotz des vermeintlichen Widerspruchs zur Weite und Unbestimmtheit dieser Tugendpflicht. Das wird umso verständlicher je genauer man die strukturellen Zusammenhänge betrachtet und insbesondere das entscheidende Prinzip der inneren Freiheit in Anschlag bringt. Denn durch die Freiheitsfähigkeit erschließt sich zu aller erst das Gemeinsame der vollkommenen und unvollkommenen Pflichten und der scheinbare Widerspruch verschwindet sofort. Wie bereits erläutert sind ja sowohl Verbote als auch Gebote in einer Tugendlehre zu formulieren und nur deshalb, weil die Verbote die notwendigen physischen Bedingungen der Freiheitsfähigkeit schützen, ergeben sich dadurch konkrete Handlungsanweisungen. Dagegen bleibt das Gebot zur Erweiterung der Freiheitsfähigkeit, d. h. die positive Kultur aller Vermögen überhaupt zwangsläufig unbestimmt. Das liegt nicht an mehr oder weniger willkürlichen systematischen Entscheidungen Kants, sondern einfach an der Natur der Sache. Es ist nicht möglich, in einer kontingenten Welt mit unterschiedlichen Individuen konkrete Anforderungen an deren Gemüts- und Leibeskräfte zu stellen, zu denen sie aus kontingenten Gründen nicht fähig sind. Kant war hier Realist genug, um die Kontingenz der Welt und der Menschen als vernünftige Naturwesen nicht zu übersehen und in sein System der Tugendlehre einzubauen. „Wie weit man in der Bearbeitung (Erweiterung oder Berichtigung seines Verstandesvermögens, d.i. in Kenntnissen oder in Kunstfähigkeiten) gehen solle, schreibt kein Vernunftprinzip bestimmt vor; auch macht die Verschiedenheit der Lagen, worein Menschen kommen können, die Wahl der Art der Beschäftigung, dazu er sein Talent anbauen soll, sehr willkürlich.“ (MST A 24) (1) Kant vertritt die These, dass die Selbsttötung ein Laster gegen die vollkommene Pflicht des Menschen gegen sich selbst als animalisches Wesen ist. Die Selbsttötung ist ein Verbrechen und deshalb als Selbstmord zu bezeichnen (MST A 72). Und dies deshalb, weil die Selbsttötung der Freiheitsfähigkeit des Menschen widerspricht.⁹⁴ Die Freiheitsfähigkeit ist das Charakteristische des Menschen als
Ich folge darin im wesentlich Esser, Andrea: Eine Ethik für Endliche, a.a.O., 352 f.; Marx,
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vernünftiges Naturwesen und besteht gerade darin sich überhaupt Zwecke setzen und handelnd verwirklichen zu können. Setzt sich ein Mensch den Zweck sein Leben zu beenden, setzt er es sich zum Zweck keine Zwecke mehr setzen zu können, was offensichtlich ein Widerspruch in sich selbst ist und der Freiheitsfähigkeit entgegen ist. Die Begründung bezieht sich dabei auf den Menschen als homo noumenon, dem der Mensch als homo phaenomenon untergeordnet ist. Der Mensch als Naturwesen ist die physische Voraussetzung zur Verwirklichung des Menschen als moralische Persönlichkeit und muss deshalb geschützt werden. Die freie Zwecksetzung kann nur erfolgen durch einen Leib, der die Zwecksetzung handelnd in der Welt verwirklicht. Schützenswert ist dementsprechend nicht der Leib als solcher, sondern lediglich der Mensch in seiner Persönlichkeit als homo noumenon. Der kategorische Imperativ liegt auch dieser Argumentation in seiner formalen Struktur zugrunde, ohne Bezug auf das empirische Glücksstreben, das sich direkt auf den Körper bezöge. „Der Persönlichkeit kann der Mensch sich nicht entäußern, so lange von Pflichten die Rede ist, folglich so lange er lebt, und es ist ein Widerspruch, die Befugnis zu haben, sich aller Verbindlichkeit zu entziehen […]“ (MST A73). Kants knappe Ausführungen legen denn auch nahe, dass die Selbsttötung kategorisch und das heißt immer und überall unter allen Umständen verboten ist. Diese Interpretation kann zwar einige Plausibilität und Textnähe für sich beanspruchen, ist aber bei weitem nicht zwingend. Denn der kantische Text zeigt im §6 „Von der Selbstenleibung“ (MST A72 ff.) zwar die gerade beschriebene Argumentation unter Rekurs auf die Persönlichkeit. Gleichwohl schließt sich daran ein Abschnitt an über „Kasuistische Fragen“. Insofern scheinen gewisse Abwägungen durchaus möglich. Selbst wenn Kant als historische Person in einem historisch-kulturellen Kontext von einer rigoristischen Deutung dieser konkreten Tugendpflicht ausging, kann gleichwohl sinnvoll gefragt werden, ob sich eine solche Deutung zwingend aus der Theorieanlage der kantischen Tugendlehre ergibt. Auch wenn einzelne inhaltliche Ausgestaltungen der kantischen Tugendpflichten im modernen Kontext nicht mehr plausibel erscheinen, kann nichts desto trotz die Theorieanlage als Ganze beibehalten werden und einzelne Tugendpflichten daraus sinnvoll modifiziert werden. Dementsprechend vertrete ich die These, dass in der kantischen Tugendlehre durchaus kontextbezogene Abwägungen eine tragende Rolle spielen.⁹⁵ Angesichts
Wolfgang: Gibt es ein Menschenrecht auf freie Gestaltung des eigenen Lebens? in: ders./G. Brudermüller/K. Schüttauf (Hgg.): Suizid und Sterbehilfe, Würzburg 2003, 69 – 79 – unterstellt Kant dagegen fälschlicherweise eine Begründung des Suizidverbots aus dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb heraus. Esser, Andrea: Eine Ethik für Endliche, a.a.O., 355 ff.
4.2 Kultur aller Vermögen
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der bereits aufgezeigten Perspektivenverschiebung in der Tugendlehre und der Berücksichtigung des Menschen als vernünftiges Naturwesen ist diese These sachlich naheliegend und inhaltlich plausibel. Das Selbsttötungsverbot bezieht sich, wie gerade dargelegt, auf die zugrunde liegende Freiheitsfähigkeit des Menschen und nicht direkt auf die Selbsterhaltung des Leibes als solchen. Wert besitzt der Mensch nur als homo noumenon und nicht direkt als homo phaenomenon. Kants allgemeinem Verständnis der Tugendpflichten gemäß kann der Selbstmord gar nicht in einem kategorischen Handlungsverbot resultieren, und dies deshalb, weil ja die Tugendpflichten auf Maximen gehen und nicht direkt auf Handlungen. Es soll lediglich die Maxime erstrebt werden, die Freiheitsfähigkeit in ihren grundlegenden physischen Bedingungen zu schützen. Und dies solange wie die Freiheitsfähigkeit realistisch gegeben oder (wieder) hergestellt werden kann. Gerade mit Bezug auf aktuelle Euthanasiedebatten bietet auf diese Weise der recht verstandene kantische Ansatz eine wertvolle Alternative zu den verhärteten Fronten. In den Euthanasiedebatten steht dem kategorischen Verbot die vorbehaltlose Erlaubnis im Sinne der beliebigen Entscheidungsfreiheit des jeweiligen Individuums entgegen. Doch die beliebige Entscheidung des Individuums gründet sich letztlich, um in kantischem Wortgebrauch zu sprechen, auf das Prinzip der Glückseligkeit. Zumindest liegt hierin gerade die Gefahr, die vielfach kritisiert wird. Wenn der individuellen Entscheidung kein qualitatives Kriterium übergeordnet wird, so kann die Entscheidung rational nicht angefochten und von Dritten kritisiert werden. Rational gerechtfertigt wäre in diesem Sinne auch die Selbsttötung aus Liebeskummer, aus einer depressiven Verstimmung oder einfach aus Überdruss am Leben heraus. Gerade diese Fälle, scheint mir, hat Kant im Blick, wenn er dem Selbstmörder unterstellt „über sich als bloßes Mittel zu [einem] ihm beliebigen Zweck zu disponieren.“ (MST A 73)⁹⁶ Und diese Fälle sind es ja im Alltag auch, die eine besondere Bestürztheit und Ratlosigkeit der Angehörigen auslösen. Dass damit kategorisch die Selbsttötung verboten ist, ist aber wiederum ein Fehlschluss. Denn die Probleme der modernen Sterbehilfediskussion sind damit nicht einfach identisch und insofern ist das scheinbar kategorische Selbsttötungsverbot nicht kategorisch, sondern eines, das nach einer kontextbezogenen Abwägung verlangt. Denn beachtet man die zugrunde liegende Freiheitsfähigkeit, so lassen sich durchaus Situationen denken, die eine Selbsttötung natürlich nicht gebieten,wohl aber erlauben. Entscheidendes Kriterium ist die Freiheitsfähigkeit, ob der Mensch noch in der Lage ist, oder wieder in die Lage versetzt werden kann, Zwecke zu
Zur Begründung des Selbstmordverbots vgl. auch GMS AB 53 f.
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setzen und darüber hinaus diese handelnd zu verwirklichen. Das principium diiudicationis selbst, die Freiheitsfähigkeit, wird aus der Vernunft begründet. Es bedarf darüber hinaus aber empirisch-kontextbezogener Abwägungen, um das Prinzip anzuwenden. Ob der Mensch in seiner Menschheit (auch vor sich selbst) geschützt werden muss, entscheidet sich mit Bezug auf die empirischen Fakten, ob der Mensch zur für die Menschheit charakteristischen Zwecksetzung fähig ist. Ist er das nicht, folgt natürlich umgekehrt kein Gebot der Tötung. Dagegen folgt meines Erachtens durchaus, dass in diesen Fällen eine Selbsttötung zumindest erlaubt ist. Dies auch dann, wenn aktuell noch eine Freiheitsfähigkeit besteht, aber durch Krankheit ein Verlust derselben bereits nach bestem medizinischen Ermessen absehbar ist. Im Blick⁹⁷ sind alle Fälle von passiver Sterbehilfe, die eine Behandlung aufgrund aussichtsloser Heilungschancen abbrechen oder indirekter Sterbehilfe, die eine Schmerzbehandlung mit dem unvermeidlichen Nebeneffekt des beschleunigten Totes ausführen, um den Patienten zu schützen. Unbestimmt müssen in der vorliegenden Arbeit die sehr umstrittenen Fälle der aktiven Sterbehilfe bleiben. Denn dazu sind weitergehende Konkretisierungen notwendig, um zu einem abgewogenen Urteil zu kommen. Vor dem Hintergrund der vorliegenden Interpretation wird eine aktive Sterbehilfe im kantischen Theorierahmen zumindest diskussionsfähig. Dies aber nur insoweit, als die Freiheitsfähigkeit im Zentrum der Diskussionen steht und auf konkrete Umstände und Fälle bezogen wird. Die Begründung der Tugendpflicht zur Selbsterhaltung erfolgt infolgedessen ohne Bezug auf das individuelle Glücksstreben. Nichts desto trotz kann die moralische Entscheidung in einem konkreten Fall dem individuellen Glücksstreben entgegenkommen. Und dies scheint mir im Großteil der denkbaren Situationen der Fall zu sein, bei welchen der Verlust der Freiheitsfähigkeit mit einem großen Schmerzpotential und einer allgemeinen Beeinträchtigung der Neigungen einhergeht. Der Schmerz als solcher darf nicht direkt das moralische Urteil begründen, aber der Schmerz kann doch die Freiheitsfähigkeit des Menschen faktisch beeinträchtigen und dadurch in der Folge ein moralisches Urteil beeinflussen. Oder die Freiheitsfähigkeit kann aufgrund anderer Faktoren eingeschränkt sein und führt zu einer negativen Beeinträchtigung der Befriedigung der Neigungen. Entscheidend ist die moralische Betrachtung der Freiheitsfähigkeit, die meines Erachtens in gewissen Fällen eine Selbsttötung zumindest erlaubt.
Einen Überblick geben Schöne-Seifert, Bettina: Medizinethik, in: J. Nida-Rümelin (Hg.): Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch, Stuttgart 22005, 750 – 764; Grimm, Carlo & Hillebrand, Ingo: Sterbehilfe. Rechtliche und Ethische Aspekte, Freiburg 2009.
4.2 Kultur aller Vermögen
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Ist die Selbsttötung moralisch erlaubt, wird der jeweilige Mensch in die Lage versetzt anhand weitergehender Klugheitsüberlegungen individuell abzuwägen. Es eröffnet sich für die Betroffenen ein Spielraum erlaubter Handlungsmöglichkeiten, die anhand der eigenen Lebensqualität, dem System der eigenen Neigungen, entschieden werden können. Und diese Abwägung gründet sich bei Kant auf das Prinzip der Glückseligkeit. So wird abermals das konkrete Verbot der Selbsttötung unter Rekurs auf die reine Vernunft begründet, führt aber gleichwohl zu Konsequenzen für das individuelle Glücksstreben. Im vorliegenden Fall wird durch die recht verstandene Moral unter bestimmten Bedingungen ein Spielraum für das individuelle Glück ermöglicht, den es klug auszufüllen gilt. Wenn man bedenkt, dass das individuelle Glück als Befriedigung aller unserer Neigungen nicht nur Lustvermehrung, sondern auch Schmerzvermeidung erstrebt, so ist eine Selbsttötung unter bestimmten Bedingungen durchaus vernünftig vom jeweiligen Individuum zu wünschen möglich. Nämlich genau dann, wenn eine freie Zwecksetzung, die auch handelnd in der Welt wirken kann, faktisch nicht mehr möglich ist. Über diese oberste Bedingung hinaus müssen alle weiteren Randbedingungen und empirischen Handlungsmöglichkeiten für eine konkrete Entscheidung in Betracht gezogen werden. Und dies im Hinblick auf eine recht verstandene Klugheitsentscheidung über das eigene Glück. Die Zeitperspektive spielt dabei eine wesentliche Rolle. Denn über eine kurzfristige Schmerzvermeidung hinaus sind vielfältige Abwägungen auf eine längerfristige Perspektive denkbar und beeinflussen maßgeblich die konkrete Entscheidung in einem bestimmten Augenblick. In der Euthanasiedebatte wurden Argumente in dieser Richtung bekanntlich bereits vorgebracht.⁹⁸ Entgegen einer kurzsichtigen Interessensbekundung zu einer Selbsttötung müssen oder genauer: sollten im recht verstandenen Eigeninteresse vernünftige und das heißt vielfältige und langfristige Interessenperspektiven berücksichtigt werden. Ist denn der Schmerz und ganz besonders das Sterben nicht ein positiver Vorgang, den das Individuum wenn nicht genießen, so doch bejahen kann? Und dies aus Eigeninteresse und nicht wegen einer kategorischen Pflicht. So verwandelt sich der scharfe Gegensatz zwischen Moral und Glück in eine fruchtbare Ergänzung und gegenseitige Bereicherung. Denn die Moral kann bestimmte Entscheidungen nicht letztgültig sanktionieren, sei es positiv als Gebot oder negativ als Verbot. Hier bereichert das Prinzip der Glückseligkeit die ver-
Vor allem in der Hospizbewegung versucht man durch eine umfassende psychosoziale Betreuung den Sterbeprozess zu unterstützen. Im Vordergrund steht, neben palliativen Hilfestellungen, die Förderung des bewussten Umgangs mit dem Sterbeprozess.
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nünftigen Überlegungen und Entscheidungen des jeweiligen Individuums. Und dies durchaus über eine kurzfristige Neigungsbefriedigung hinaus. Denn eine Klugheitsentscheidung mit Absicht auf Glückseligkeit ist prinzipiell kein kategorischer, sondern ein hypothetischer Imperativ. Und angesichts der Komplexität des Menschen und seiner Lebenswelt wird ein hypothetischer Imperativ für eine konkrete Situation keine eindimensionale Entscheidung sein. Die hier vorgestellte Interpretation der kantischen Tugendlehre ist selbstverständlich keine zwingende. Sie verbindet den kantischen Theorierahmen mit der modernen Sterbehilfeproblematik, die Kant selbst in seiner Zeit natürlich in dieser Form unbekannt war. Demnach ist unter bestimmten Bedingungen eine Selbsttötung moralisch erlaubt. Diese Erlaubnis wiederum stellt die konkrete Entscheidung in das Eigeninteresse, das eigene Glück, des betroffenen Individuums, das natürlich vielfältige Abwägungen und Überlegungen erfordert. „Wenn du unheilbar krank bist, dann solltest du dich selbsttöten“ ist ein hypothetischer Imperativ, den in dieser Simplizität kein vernünftiger Mensch fordern würde. Und dies deshalb, weil die Lebenswelt und der Mensch so komplex sind, dass eine vernünftig nachvollziehbare Empfehlung in der Form eines hypothetischen Imperativs vielfältige Perspektiven berücksichtigen muss. So wie ein spontaner Wunsch zur Selbsttötung hinterfragt werden muss, kann die kategorische Verlängerung der bloßen Lebenszeit unter der Moralperspektive nicht gewollt werden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind zumindest die sozialen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, die individuelle Vorgeschichte, der Charakter und die Persönlichkeit, die Schwere und das Ausmaß der Erkrankung bzw. der körperlichen Lage überhaupt. Insgesamt ergibt sich unter bestimmten Bedingungen immerhin eine Erlaubnis zur Selbsttötung und im gegebenen Fall keinerlei Pauschalempfehlung, sondern gerade eine wohlüberlegte und vielfach abgewogene vernünftige Entscheidung. (2) Kants Ausführungen über das Laster der „wohllüstigen Selbstschändung“ (MST A 75.) sind aus heutiger Perspektive kaum nachvollziehbar.⁹⁹ Und so ist es nicht verwunderlich, wenn von solchen Textstellen ausgehend der universalistische Anspruch Kants zumindest fragwürdig wird. Denn wenn derlei Pflichten zwingend aus dem universalen kategorischen Imperativ folgen, die konkreten Pflichten offensichtlich historisch kontingent sind, dann liegt die Vermutung nahe, dass das zugrunde liegende Moralprinzip ebenfalls der historischen Kontingenz unterliegt. Die Selbstverständlichkeiten und pathetischen Begrifflichkeiten des kantischen Textes verstärken diesen Eindruck. So sei die Selbstbefriedigung „eine
Esser, Andrea M.: Eine Ethik für Endliche, a.a.O., 356; Gregor, Mary: Laws of Freedom, a.a.O., 140 ff.
4.2 Kultur aller Vermögen
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Schändung (nicht bloß Abwürdigung) der Menschheit in seiner eigenen Person“ (MST A 7). Dass es sich dabei um eine Pflichtverletzung handele, „fällt jedem, zugleich mit dem Gedanken von demselben, so fort auf, erregt eine Abkehrung von diesem Gedanken, in dem Maße, daß selbst die Nennung eines solchen Lasters bei seinem eigenen Namen für unsittlich gehalten wird;“ (ebd.) Der Mensch schämt sich wohl überhaupt, so Kant, „einer solchen ihn selbst unter das Vieh herabwürdigenden Behandlung seiner eigenen Person fähig zu sein“ (MST A 78). Dass Kant in seiner Zeit kein Verständnis hatte für eine wechselseitige auf die Persönlichkeit gehende Sexualität, und sei dies selbst in der rechtlich erlaubten Weise der Ehe, zeigt sich anhand seiner schroffen Einordnung des Liebesaktes als „erlaubte (an sich freilich bloß tierische) körperliche Gemeinschaft beider Geschlechter“ (ebd., vgl. auch MSR AB 106 ff.). Kants moralische Bindung des Geschlechtsaktes an die Erhaltung der Art ist argumentativ schlicht nicht haltbar.¹⁰⁰ Daraus folgt noch viel weniger eine „Unnatürlich[keit]“ (MST A 76) der Selbstbefriedigung und schon gar kein kategorisches Verbot desselben. Das gilt umso mehr, als Kant selbst in der folgenden Kasuistik die Frage nach der „Einschränkung einer weiten Verbindlichkeit“ (MST A 79) zur Keuschheit immerhin diskutiert. Es stellt sich die Frage, ob Kant über die Grenzen der bloßen Vernunft hinaus biologische und anthropologische Annahmen schlicht unbegründet aufstellt. Die Funktion des Geschlechtsaktes zur Erhaltung der Art ist sicherlich unbestreitbar. Und die „Liebe zum Geschlecht“ (MST A 75) ist aus biologischer Sicht eine notwendige Bedingung, um das Individuum zur Weitergabe der Gene anzuregen. Das bedeutet aber keinesfalls eine ausschließliche und schon gar keine moralische Verpflichtung auf den Zweck der Nachkommenserzeugung. Eine primäre Orientierung am Lustgewinn widerspricht der Erhaltung der Art nicht, sondern fördert sie gerade. Die bewusste Zwecksetzung des jeweiligen Individuums ist dazu nicht ausschlaggebend. Aus biologischer Sicht entscheidend zur Erhaltung der Art ist nur, dass Nachkommen erzeugt werden.¹⁰¹ Des Weiteren folgt die Unnatürlichkeit der Selbstbefriedigung nicht aus der Funktion des Geschlechtsaktes zur Erhaltung der Art. Denn es kann der Erhaltung
So auch Esser, Andrea M.: Eine Ethik für Endliche, a.a.O., 358; Gregor, Mary: Laws of Freedom, a.a.O.,140 ff.; dagegen König, Peter: §§ 18 – 31, Episodischer Abschnitt, §§ 32 – 40, in: O. Höffe (Hg): Immanuel Kant. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (Reihe Klassiker Auslegen), Berlin/New York 1999, 133 – 154, hier: 141. In der kantischen Tugendlehre zeigt sich meines Erachtens insgesamt das Potential zu einem fruchtbaren interdisziplinären Diskurs zwischen (idealistischer) Philosophie einerseits und moderner Soziobiologie und evolutionärer Psychologie andererseits. Vgl. zu diesen Voland, Eckart: Soziobiologie. Die Evolution von Kooperation und Konkurrenz, Heidelberg 32009; Buss, David M.: Evolutionäre Psychologie, München 22004.
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der Art aus biologischer Sicht durchaus zuträglich sein, wenn die Männchen regelmäßig Selbstbefriedigung betreiben, um die Frische und Qualität der Spermien zu erhalten.¹⁰² Selbst wenn man die Erhaltung der Art unterstellt, ist die Selbstbefriedigung so lange zumindest erlaubt, als sie dem primären Zweck nicht widerspricht. Diese empirischen Fakten und Überlegungen zeigen, dass Kant über seine streng begründete reine Tugendlehre hinaus falsche Schlüsse gezogen und seinem historischen und kulturellen Selbstverständnis erlegen ist. Dies einmal zugestanden, kann die menschliche Sexualität zwar nicht in Bezug auf die Erhaltung der Art reglementiert werden, sondern muss in dieser Hinsicht gerade moralisch unbestimmt bleiben. Doch angesichts der entscheidenden Orientierung an der Autonomie und der wechselseitigen Achtung zwischen Personen lässt sich sowohl die Fixierung auf die Reproduktion der Gattung als auch die ausschließliche Orientierung an der eigenen Lustempfindung als unzulässige Instrumentalisierung kritisieren. In dieser Perspektive muss die wechselseitige Achtung der Person im Zentrum stehen und die Sexualität ist insofern erlaubt oder reglementiert als sie unter diese Kriterien fällt. Die Verwandlung des Geschlechtsverkehrs hin zur Erotik ist eine mögliche Forderung, die sich aus der kantische Tugendlehre ergibt.¹⁰³ Es muss immer wieder betont werden, dass die Begründung der Tugendpflichten den Grundlegungsschriften gemäß rein aus Vernunftgründen erfolgt, wobei Glücksperspektiven keinerlei Rolle spielen. Doch ergeben sich aus der Verpflichtung zur wechselseitigen Achtung Konsequenzen für das jeweilige eigene Glücksstreben, das durch die Tugendverpflichtungen eingeschränkt, aber auch strukturiert wird. Denn für das eigene Glück kann es durchaus klüger sein, kurzfristig auf Lustmaximierung zu verzichten, um langfristig eine größere oder umfassendere Erfüllung der eigenen Neigungen zu erzielen. Und die Tugendpflicht zur wechselseitigen Achtung in der Sexualität, wenn dies zugestanden wird, kann unter Umständen mit dem wohlverstandenen Eigeninteresse des Individuums im Einklang stehen. (3) Die „Selbstbetäubung durch Unmässsigkeit im Gebrauch der Geniess- oder Nahrungsmittel“ (MST A 80) ist das dritte der den vollkommenen Pflichten des Menschen als animalisches Wesen entgegengesetzten Lastern. Wie in der gesamten Tugendlehre erfolgt die Beurteilung dieses Lasters nicht in Bezug auf das Prinzip der Glückseligkeit, nicht in Bezug auf den Schaden also, den das Indivi-
Dieser Zusammenhang wurde immerhin im Tierreich bei japanischen Rotgesichtsmakaken nachgewiesen, vgl. Thomson, Ruth: Sperm Competition and the Function of Masturbation in Japanese Macaques (Macaca fuscata), München 2000, edoc.ub.uni-muenchen.de/105/1/Thomson_Ruth.pdf (08.10. 2012). Esser, Andrea M.: Eine Ethik für Endliche, a.a.O., 358.
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duum durch derlei Handlungen sich möglicherweise zuzieht. Gesundheitliche Empfehlungen gehören zu einer Diätetik und nicht in eine reine Tugendlehre.¹⁰⁴ Aus dem Prinzip der Glückseligkeit lässt sich „nie eine Pflicht, sondern nur eine Klugheitsregel begründen“ (ebd.). Das entscheidende Kriterium ist das Prinzip der inneren Freiheit, welches die Fähigkeit zur Selbstbestimmung zum Maßstab erhebt und die moralische Integrität des Individuums. Durch den übermäßigen Konsum von Genussmitteln verlieren diese ihren Charakter als Mittel zum Zweck des Genusses, gerade umgekehrt werden sie zum Zweck aller Bemühungen und Handlungen, nämlich zur Sucht. Dadurch gerät das Individuum allmählich in eine Abhängigkeit, die ihm die Fähigkeit zur Selbstbestimmung nimmt. Unmäßiger oder auch übermäßiger Gebrauch von Genussmitteln kann bereits kurzfristig zu einer Einschränkung, wenn nicht Einstellung, der Selbstbestimmungsfähigkeit führen. Sowohl die kurzfristige als auch die langfristige Einschränkung der Freiheitsfähigkeit ist demnach verpflichtend zu vermeiden. Das Verbot dieses Lasters geht aber wie alle Tugendpflichten nicht auf Handlungen, sondern auf Maximen.¹⁰⁵ Man soll, positiv gewendet, sein Handeln und Leben auf eine Weise strukturieren, die einem die Möglichkeit der Selbstbestimmung und moralischen Integrität erhält. Denn durch übermäßigen Alkoholkonsum droht das individuelle Leben inkonsistent zu werden. Wenn nämlich der Alkoholkonsum einen zu Handlungen zwingt, die man selbst nicht wollen kann. Das sind Handlungen, zu denen man sich nicht (mehr) frei entscheiden kann, oder durch welche die eigene Achtung vor sich selbst oder vor anderen eingeschränkt wird. Verliert der Mensch im Zustand der Betrunkenheit die Fähigkeit zu vernünftiger Selbstbestimmung, verliert er damit das charakteristische Vermögen als Mensch in seiner Menschheit. „Im Zustand der Betrunkenheit ist der Mensch nur wie ein Tier, nicht als Mensch, zu behandeln.“ (MST A 81) Der Bezug auf die Maxime seine Freiheitsfähigkeit zu erhalten untersagt auf der anderen Seite jedes rigoristische Verbot. Das kategorische Gebot zu absoluter Abstinenz oder zu einer bestimmten Lebens- und Ernährungsform kann moralisch nicht gerechtfertigt werden. Denn derlei Gebote oder strikte Verbote beschneiden die freiheitliche Selbstbestimmung ebenso wie der übermäßige Gebrauch der Genussmittel. Abermals werden die Tugenden und Laster ohne Bezug auf die individuelle Glückseligkeit begründet. Ist nicht gerade hier die Kongruenz von
Vgl. etwa Kants Beitrag zur Diätetik: Kant, Immanuel: Von der Macht des Gemüths durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein, hrsg. und mit Anm. versehen von C.W. Hufeland, Leipzig 1851. Der Begriff der Maxime wird im Text nicht explizit genannt. Das ergibt sich aber durch die Gesamtanlage der Tugendlehre. Vgl. auch Esser, Andrea M.: Eine Ethik für Endliche, a.a.O., S. 359.
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Moral und Glück im Detail greifbar? Denn wenn auch die Selbstbestimmung und moralische Integrität als oberste Bedingung den individuellen Maximen voraus liegt, so ergeben sich doch daraus Konsequenzen für das individuelle Glück, die Befriedigung aller meiner Maximen. Dies zu ermöglichen, dazu ist die Moral die oberste Bedingung, denn sie stellt die Konsistenz des Systems der Maximen her und ermöglicht dadurch aller erst die Befriedigung aller Maximen. Widersprüchliche Maximen, die auf widersprüchliche Neigungen gehen, lassen sich nicht alle befriedigen. Durch diese strukturelle als auch zeitliche Ordnung, die durch die Tugenden aufgebaut wird, wird aller erst eine vollständige Erfüllung des eigenen Glücks möglich. Denn selbstverständlich sind die Vermeidung von Schaden und körperlichem Schmerz, der durch den übermäßigen Gebrauch der Genussmittel entstehen kann, auch im egoistischen Interesse des Individuums und eine Frage der Klugheit. Da die Freiheitsfähigkeit und die Mittel-Zweck-Ordnung der Genussmittel im Zentrum stehen, ist der Konsum von Genuss- und Nahrungsmitteln solange erlaubt, als er den genannten Kriterien nicht widerspricht. Und gerade ein solcher Umgang mit Genuss- und Nahrungsmittel ermöglicht eine – langfristig betrachtet – maximale Befriedigung der zugrunde liegenden Neigungen. Denn durch den übermäßigen Gebrauch wird gerade der langfristige Genuss zunichte gemacht. Zur Kultur aller Vermögen gehört der obigen Interpretation folgend ganz entscheidend die „Pflicht gegen sich selbst in Entwickelung und Vermehrung seiner Naturvollkommenheit“ (MST A 110). „Der Anbau (cultura) seiner Naturkräfte (Geistes-, Seelen- und Leibeskräfte), als Mittel zu allerlei möglichen Zwecken ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst.“ (ebd.) Und dies nicht etwa aufgrund von glücksbezogenen Klugheitsüberlegungen, sondern rein aus Pflicht. Kant begründet dies der Gesamtperspektive der Tugendlehre entsprechend durch den Menschen als vernünftiges Naturwesen und dessen wesentliches Charakteristikum: das „Vermögen, sich überhaupt irgend einen Zweck zu setzen.“ (MST A 24) Das ist das Charakteristische der Menschheit im Unterschied zur Tierheit, aus der heraus sich der Mensch immer weiter hin zur Menschheit bilden soll. Die Begründung erfolgt also eindeutig unabhängig vom individuellen Glücksstreben. Ob es für das Glück des Individuums ratsam ist, seine Naturanlagen auszubauen und zu kultivieren, ist eine weitergehende Frage, auf die weiter unten eingegangen wird. Für die von der Tugend geforderten notwendigen Zwecke sind natürliche Fähigkeiten notwendig, um die Zwecke setzen und ausführen zu können. Welche konkreten Zwecke in welcher konkreten Situation gefordert sein werden, ist a priori nicht absehbar. Deshalb müssen alle Gemüts- und Leibeskräfte ins unbestimmte ausgebildet werden, um für alle Fälle der Moral nach Möglichkeit gerüstet zu sein. Das gilt umso mehr als es sich bei allen Tugendpflichten um weite Pflichten handelt, die kein Gesetz für die Handlungen, sondern bloß für die
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Maximen der Handlung geben. Sie lassen dem Handlungssubjekt einen Spielraum, der je nach vorgegebenen Anlagen, Fähigkeiten und gesellschaftlichen Lagen unterschiedlich ausgestaltet werden kann. Letztlich ist der Mensch verpflichtet, sich um die Menschheit in ihm verdient zu machen. Es „ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst, ein der Welt nützliches Glied zu sein, weil dieses auch zum Wert der Menschheit in seiner eigenen Person gehört, die er also nicht abwürdigen soll.“ (MST A 113) Um die innere Freiheit zu gewährleisten, muss der Mensch die „rohen Anlagen seiner Natur“ (ebd.) kultivieren und ausbauen. Die für die Moral unentbehrlichen Fähigkeiten des Menschen sind alle seine „Gemüts- und Leibeskräfte“ (ebd.). In der Elementarlehre differenziert Kant etwas weiter zwischen Geistes-, Seelen- und Leibeskräften. Die Geisteskräfte sind nur durch die Vernunft möglich, der Kreis derselben ist sehr klein. Es handelt sich nur um diejenigen Kräfte, die a priori aus Prinzipien abgeleitet werden, und das sind Mathematik, Logik und Metaphysik der Natur. Die Seelenkräfte unterstehen dem Verstand. Dazu gehören das Gedächtnis und die Einbildungskraft, auf diese gründen sich alle Fragen der Intelligenz und des Geschmacks. Und nicht zuletzt ist die „Kultur der Leibeskräfte […] Zweck des Menschen gegen sich selbst.“ (MST A 112) Die Leibeskräfte sind „das Zeug (die Materie) am Menschen“ (ebd.). Ohne diese Materie am Menschen blieben die selbst gesetzten Zwecke letztlich unausgeführt und damit leer. Aus pragmatischer Sicht könnte es durchaus klüger sein die angelegten Fähigkeiten „unbenutzt und gleichsam rosten zu lassen“ (MST A 110). Die pragmatische Sicht kennzeichnet sich ja dadurch, dass sie Mittel zu einem vorgegebenen Zweck beurteilt, und das ist letztlich das eigene Glück. Kant betont aber unermüdlich, dass die Tugenden nicht aus pragmatischen Gründen der Klugheit, sondern aus moralischen Gründen der Sittlichkeit verpflichtend sind. Nach erfolgter Begründung der Tugendpflichten können gleichwohl Konsequenzen für das kluge Glücksstreben aus der moralischen Orientierung gezogen werden. Die Kultur aller Vermögen ist im System der Tugenden ganz besonders derjenige Punkt, an dem sich die Bereiche von Moral und Glück tatsächlich überschneiden. Kant grenzt zur Begründung dieser Tugendpflicht Moral und Glück deutlich voneinander ab. Überdem könne, so Kant, der Mensch wohl „auch mit dem angeborenen Maß seines Vermögens für die natürlichen Bedürfnisse zufrieden sein“ (ebd.).Wobei dieses Zufriedensein gerade das Glück des Individuums ausmachen würde, immer Kants Glücksbestimmung als Befriedigung aller unserer Neigungen vorausgesetzt. Kant unterstellt dabei einen vorreflexiven Glückszustand, der sich unmittelbar aus dem „Instinkt der Natur“ (ebd.) ergibt. Diese instinktive Zufriedenheit mit dem eigenen Zustand müsse nun aber „seine Vernunft […] erst durch Grundsätze anweisen“ (ebd.). Und das lieferte die moralische Begründung der Tugendpflicht zur Kultur aller Vermögen.
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4 Das Glück im System der Tugenden
Wenn Kant auch an dieser Stelle leider die gewünschte Ausführlichkeit missen lässt, so zeigt sich nichts desto trotz mit großer Plausibilität die reflexive Klärung des eigenen Glücksstrebens durch die Tugenden. Dabei wird das Glück selbst begrifflich nicht verändert, es bleibt die Befriedigung aller unserer Neigungen. Nur wird nun die instinktive Befriedigung der Neigungen reflexiv durch die Tugenden transformiert. Die Tugenden strukturieren das System der Maximen in zeitlicher und qualitativer Sicht. Die Befriedigung der Neigungen wird den Tugenden unterstellt, und zwar so, dass die instinktiven Neigungen durchaus einen negativen, mit Unlust verbundenen, Zwang erfahren. Und gerade diese instinktiven Neigungen können unter Umständen mit bestimmten Lastern übereinstimmen. Die Neigung sein Leben zu beenden, um einer kurzfristigen oder affektiven Verstimmung zu entgehen, ist ein Beispiel solch einer instinktiven Neigung. Diese sind natürlich den Tugenden entgegengesetzt und erfahren insofern einen Zwang durch das moralische Gesetz. Auch der unmäßige Gebrauch von Genuss- und Nahrungsmitteln folgt den instinktiven und tierischen Neigungen des Menschen. Kant selbst war durchaus realistisch genug, um derlei Neigungen zu sehen. Gerade diese sind es, die ihm die scharfe Entgegensetzung von Neigung und Pflicht erlaubten. Und selbst Lüge, Geiz und Kriecherei können als instinktive Neigungen beschrieben werden, denen der Mensch in seiner Tierheit instinktiv folgt, um seinen vermeidlich bestmöglichen Vorteil herauszuschlagen. Die Nahrungszufuhr, der Gebrauch von Genussmitteln wie Alkohol, Süßigkeiten oder Zigaretten befriedigen ja kurzfristig eine Neigung und erzeugen ein bestimmtes Lustgefühl. Der unmäßige Gebrauch derselben ist, nach Kant, moralisch nicht vertretbar und soll unterlassen werden. Aber warum sollte der Mensch als vernünftiges Naturwesen nicht in der Lage sein, eine reflexive Haltung zu seinen instinktiven Neigungen einzunehmen? Und warum sollte die reflexive Haltung nicht eine qualitative Differenzierung der Neigungen ermöglichen? Die Berücksichtigung der entscheidenden Gesamtperspektive der Tugendlehre ermöglicht die begrifflich durch Kant festgeschriebene Kluft zwischen Moral und Glück im Detail wieder aufzufüllen und differenziert zu betrachten. Denn der entgegengesetzte Standpunkt zu den instinktiven Neigungen ist nicht, oder zumindest nicht ausschließlich, der Standpunkt der Moral. Durch die kritische Reflexion auf die eigenen Neigungen werden dieselben nicht nur objektiv durch das Gesetz bewertet, sondern zugleich subjektiv durch das Individuum transformiert hin zu wohlverstandenen aufgeklärten Neigungen. Die Anthropologie kommt dadurch aus ihrem Schattendasein heraus, weil sich dort noch deutlicher als Kant das in der Tugendlehre leisten könnte die Kluft zwischen
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Moral und Glück durch eine differenzierte Betrachtung des Menschen als vernünftiges Naturwesen verringert.¹⁰⁶ Kants Ausführungen sind leider in Hinsicht auf eine qualitative Unterscheidung der Neigungen nicht sehr fruchtbar. Und doch ergeben sich von der Sache her solche qualitativen Überlegungen mit Notwendigkeit. Innerhalb des kantischen Begriffsrahmens können, wie ich zu zeigen versuche, derlei qualitative Unterscheidungen sinnvoll vertreten werden. Als Laster sind diese schlicht verboten, aber als Regeln der Klugheit sind sie zugleich im wohlverstandenen Eigeninteresse des Individuums. Denn selbstverständlich ist es möglich und tatsächlich oft der Fall, dass die natürlichen Anlagen aus Bequemheit oder mangelnder Entschlusskraft nicht weiter ausgebaut werden. Oftmals ist das der bequemere, weil unmittelbar lustvollere Weg der persönlichen Kultur. Indem die Vernunft die instinktive Zufriedenheit mit dem individuellen Zustand bewertet und einen reflexiven Zustand der Zufriedenheit durch Grundsätze anweist, erschließt sie zugleich einen neuen Horizont des eigenen Glücksstrebens. Dass die Reflexion auf die Empfindungen für das eigene Glück entscheidend ist, stellt Kant auch in einer Reflexion der 80er Jahre heraus: „Man kan nicht glüklich seyn, ohne nach seinem Begriffe von Glückseeligkeit, man kan nicht elend seyn, ohne nach dem Begriffe, den man sich vom Elende macht, d.i. Glückseeligkeit und Elend sind nicht empfundene, sondern auf bloßer Reflexion beruhende Zustände. Vergnügen und Schmerz werden empfunden, ohne daß man den mindesten Begrif sich von ihnen machen könte, denn sie sind unmittelbare Einflüsse auf das Bewustseyn des Lebens. Aber nur dadurch, daß ich die Summe meiner Vergnügen und Schmerzen in einem Ganzen zusammenfasse und das leben nach der Schetzung derselben wünschenswerth oder unerwünscht halte, dadurch, daß ich mich über diese Vergnügen selbst freue oder über den Schmerz betrübe, halte ich mich für glüklich oder unglüklich und bin es auch.“¹⁰⁷
Die Anthropologie wurde in der Forschung kaum berücksichtigt, Brandt, Reinhard: Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Hamburg 1999 konstatiert, dass es „bis heute keine namhafte Studie“ gibt; Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt am Main 1998 erwähnt die Anthropologie lediglich am Rande; Himmelmann, Beatrix: Kants Begriff des Glücks, a.a.O. bespricht die Imperative der Klugheit und Affekte und Leidenschaften anhand der Anthropologie und der Ethikvorlesungen; zum Verhältnis von Anthropologie und Moralphilosophie vgl. Firla, Monika: Untersuchungen zum Verhältnis von Anthropologie und Moralphilosophie bei Kant, Frankfurt am Main 1991; Louden, Robert B.: Kant’s impure ethics. From rational beings to human beings, New York 1999, 62 ff.; Brandt, Reinhard/Stark, Wernerg, Einleitung, in: AA XXV, Bd.1, XLVIff. R 610, AA XV 261. Vgl. auch König, Peter: Autonomie und Autokratie. Über Kants Metaphysik der Sitten, Berlin/New York 1994, 177ff.; Himmelmann, Beatrix: Kants Begriff des Glücks, a.a.O., 169.
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Dieser zeitlich und qualitativ strukturierte Horizont wird von der Tugend vorgegeben. Das sind die Tugenden insgesamt und die Pflicht zur Kultur aller Vermögen überhaupt insbesondere. Denn gerade diese verpflichtet den Menschen „zur Tauglichkeit für alle Zwecke […], die dir aufstoßen können“ (MST A 24). Die Tauglichkeit für alle Zwecke wird geboten, weil sie eine notwendige Bedingung zur Ausführung der Pflichten darstellt. Nun ist es eine sehr interessante Beobachtung, dass zur Befriedigung aller Neigungen die Tauglichkeit für alle Zwecke zwar nicht notwendig, aber auch sehr förderlich ist. Notwendig ist sie deshalb nicht, weil im Falle der Neigungen durchaus eine passive Befriedigung denkbar ist, die keine aktive Zweckumsetzung des Individuums erfordert. Moralische Zwecke erfordern immer die aktive Handlung des Individuums, weil sie bereits die freie, aktive Zwecksetzung fordern und darüber hinaus die Umsetzung im Handeln. Die Kultur aller unserer Vermögen hin zur Tauglichkeit für alle Zwecke ist demnach sowohl durch die Moral geboten als auch vom individuellen Glück gewünscht. Gewünscht wird die Kultur aller Vermögen aber nicht von den instinktiven Neigungen, sondern von den durch die Tugenden reflexiv geklärten Neigungen. Denn es ist doch auch im langfristigen Eigeninteresse des Individuums, seine Fähigkeiten auszubauen und dadurch vielfältigere und umfassendere Möglichkeiten nicht nur zur Erfüllung, sondern bereits zur Erschließung der Neigungen zu erreichen. Darüber hinaus kommt die Weite der gebotenen Tugendpflicht zur Kultur aller Vermögen dem Glücksstreben ebenfalls entgegen. Die Tugend fordert nicht dogmatisch eine bestimmte Lebensform, schon gar keine bestimmte Handlung, sondern lediglich „die Maxime der Handlungen, welche so lautet: „baue deine Gemüts- und Leibes-kräfte zur Tauglichkeit für alle Zwecke an, die dir aufstoßen können““ (MST A 24). Wie weit man dabei gehen soll, kann nicht durch die Vernunft selbst bestimmt vorgeschrieben werden. Es ist abhängig von der „Verschiedenheit der Lagen, worein Menschen kommen können“, von „ihrer eigenen vernünftigen Überlegung, in Ansehung der Lust zu einer gewissen Lebensart und zugleich der dazu erforderliche Kräfte“ (ebd.). Das ermöglicht dem Menschen einen breiten Spielraum der Kultur seiner individuellen Vermögen. Von den intellektuellen über die emotionalen bis hin zu den körperlichen Fähigkeiten stehen vielfältige Möglichkeiten der persönlichen Vervollkommnung zur Verfügung. Das gilt umso mehr, als nicht nur der jeweilige Grad, sondern auch die Schwerpunktsetzung zwischen den Fähigkeiten im Belieben des Individuums steht. Die in der Gegenwart immer mehr zur Geltung kommende Pluralität der Lebensformen und Lebenswelten ist mit der kantischen Tugendlehre nicht nur vereinbar, sie ergibt sich sogar notwendig daraus. Jeder Beruf hat sein spezifisches Fähigkeitsprofil, in das sich das Individuum bei gegebener Veranlagung hineinentwickelt und vervollkommnet. Darüber hinaus
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besteht immer der Spielraum, im persönlichen Rahmen spezifische Fähigkeiten auszubauen und zu kultivieren. Der Akademiker zum Beispiel wird von Berufswegen notwendig intellektuelle Fähigkeiten nicht nur kultivieren, sondern auch perfektionieren. Gleichwohl bleibt ihm ein Spielraum der persönlichen Entfaltung, der ihm nicht vorgeschrieben ist und der Entwicklung seiner (erlaubten) Neigungen gilt. Moral und Glück fallen also in der konkreten Pflicht zur Kultur aller Vermögen zwar nicht in eins, überlagern sich aber sinnvoll. Das Streben nach Vervollkommnung der Vermögen ist zwar nicht notwendig, aber oft mit Lust und Freude verbunden. Kants deutliche Begründung der Tugendpflicht aus moralischen Gründen und die klare Vorrangstellung der Moral vor dem Glück widerspricht nicht dem möglichen Lustgewinn aus der Kultivierung der Vermögen. So ist die Kultivierung aller Vermögen zum einen bereits mit Lust verbunden, zum anderen erschließt sie vielfältige und differenzierte Möglichkeiten zur Umbildung, Neubildung und Befriedigung der eigenen Neigungen. Nicht nur die inhaltliche Differenzierung und Weiterentwicklung aller Neigungen geht mit der Kultivierung aller Vermögen einher. Darüber hinaus wird durch die Kultivierung der Vermögen die Reflexion über die eigenen Neigungen und dadurch die Haltung zu diesen verändert und weiterentwickelt. Die Unabhängigkeit der inneren Freiheit „durch sinnliche Antriebe“ (MSR AB 6 f.) ist eine konkret erlebbare Unabhängigkeit vom Zwang der Affekte, der Leidenschaften und der Bedürfnisbefriedigung. So bleiben die Neigungen im Zweifelsfall inhaltlich erhalten, die Haltung zu diesen wird aber durch die Tugenden und die Kultivierung aller Vermögen überhaupt wesentlich verändert. Die Kultivierung der Moralität und die Kultivierung aller Vermögen überhaupt ergänzen sich in diesem Punkt. Durch die Kultivierung der Moralität wird die Haltung zu den Neigungen einer stetigen Reflexion unterzogen. Die Kultivierung der Moralität allein würde, scheint mir, die Neigungen selbst aber nicht verändern. Vielmehr würde die scharfe Entgegensetzung von Moral und Glück durch die strenge und einseitige Entwicklung der Moralität nur verschärft und befestigt. Dadurch, dass die Kultivierung der Moralität immer zugleich mit der Kultivierung aller Vermögen überhaupt einhergeht, scheint mir aber die Möglichkeit gegeben, dass die Neigungen selbst eine Veränderung und Weiterentwicklung erfahren und Moral und Glück sich im Gang der Kultivierung aneinander angleichen.
4.3 Liebespflichten – physische Wohlfahrt Die Tugendpflicht zur Beförderung der fremden Glückseligkeit unterteilt Kant in der Einleitung in die physische Wohlfahrt und das moralische Wohlsein. Beide
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4 Das Glück im System der Tugenden
lassen sich der obigen Interpretation entsprechend sinnvoll auf die Tugendpflichten gegen andere aus der Elementarlehre beziehen. Die Liebespflichten fördern insgesamt die physische Wohlfahrt anderer, während die Achtungspflichten das moralische Wohlsein anderer fördern. Im Hinblick auf das fragliche Verhältnis von Moral und Glück wird das Verhältnis konkretisiert zu der Entgegensetzung von fremder und eigener Glückseligkeit. Insbesondere da Kant das eigene Glück in den Bereich des Physischen legt, ist das Verhältnis von eigenem und fremdem physischem Wohlsein genauer zu untersuchen. Nun stehen sich nicht mehr zwei begrifflich unterschiedene Bereiche – Vernunft und Sinnlichkeit – entgegen, sondern zwei Interessen in demselben Bereich der Sinnlichkeit. Das eigene steht potentiell in Konflikt mit dem fremden Wohlsein. Die Liebespflichten stehen in einem Spannungsverhältnis zur eigenen Glückseligkeit. Die Liebespflichten sind insgesamt verdienstliche Pflichten, durch deren Ausübung der Begünstigte verbunden wird. Liebe und Achtung als Pflichtgesetze erläutert Kant mithilfe der Analogie zu Naturgesetzen. Liebe und Achtung beschreiben dabei „die Verbindung vernünftiger Wesen (auf Erden) durch Anziehung und Abstoßung“ (MST A 117). Die Liebespflichten fordern also von den Menschen sich gegenseitig zu nähern. Doch sieht Kant deutlich das Problem des Paternalismus, dem er durch seinen unbestimmten subjektiven Glücksbegriff und die Achtungspflichten entgegenwirkt.¹⁰⁸ Insbesondere die Wohltätigkeit darf nicht nach meinen Begriffen und Vorstellungen von Glückseligkeit, sondern muss „nach jenes seinen Begriffen, dem ich eine Wohltat zu erweisen denke“ (MST A 126) abgewogen werden. Das Entscheidungskriterium der Liebespflichten im Ganzen bleibt damit die interne Lebensqualität des jeweiligen Menschen. Nur dieser kann letztlich über sein eigenes Glück bestimmen und verfügen. Doch dies nicht ohne Rückbindung an die Moralität als letztes qualitatives Kriterium der eigenen Glückseligkeit. Wie in der Besprechung der vollkommenen Pflichten gegen sich selbst deutlich wurde, darf der Mensch nicht alles wollen, was er einer unmittelbaren Neigung gemäß erstrebt. Damit wird das Kriterium der eigenen Lebensqualität für einen rationalen Diskurs zugänglich.¹⁰⁹ Durch die Moral wird sowohl eine notwendige Bedingung gesetzt als auch die Neigungen einer widerspruchsfreien Ordnung unterzogen.
Vgl. zur modernen Diskussion in der Medizinethik Maio, Giovanni: Mittelpunkt Mensch. Ethik in der Medizin. Ein Lehrbuch, Stuttgart 2012, 151 ff. Diese Kantinterpretation folgt in der Sache Quante, Michael: Menschenwürde und personale Autonomie. Demokratische Werte im Kontext der Lebenswissenschaften, Hamburg 2010. Quante entwickelt sein Verständnis von Autonomie und Menschenwürde ohne Bezug auf Kant, das wurde denn auch sofort empörend festgestellt von Hoffmann, Thomas S.: Ohne Kant ist Bioethik
4.3 Liebespflichten – physische Wohlfahrt
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Der Begriff der Liebe erfährt bei Kant eine Doppeldeutigkeit, die textlich nicht eindeutig expliziert wird. Die sachliche Differenzierung ist dem Text gleichwohl zu entnehmen. Einerseits sind „Liebe und Achtung […] die Gefühle, welche die Ausübung dieser Pflichten begleiten“ (MST A 116). Sie sind demnach Gefühle und nicht die Pflichten selbst. Andererseits spricht Kant an anderer Stelle davon, dass die „Liebe […] hier aber nicht als Gefühl (ästhetisch)“ (MST A 118) verstanden wird. Kant unterscheidet demnach den Begriff der Liebe als ästhetisches Gefühl von dem Begriff der Liebe als Pflicht. Und die Liebe als Pflicht bezieht sich nicht auf ein Gefühl des Wohlgefallens, sondern auf die Maxime des Wohlwollens, „welche das Wohltun zur Folge hat“ (ebd.). Nicht ein bestimmtes Gefühl, sondern eine Maxime fordern die Liebespflichten. Auch deshalb umgeht Kant geschickt das Problem des Paternalismus, weil nicht bestimmte Handlungen, sondern bestimmte Maximen geboten werden, die bekanntlich einen Handlungsspielraum eröffnen. Die kantische Tugendlehre zeigt damit einen klugen Mittelweg auf zwischen einem rigoristischen Paternalismus und einem leeren Wohlwollen. Kant verhandelt das Verhältnis von eigener und fremder Glückseligkeit an vielfältigen Stellen in der Tugendlehre. Entscheidend ist bereits das genaue Verständnis der Begründung der Liebespflichten.¹¹⁰ Denn entsprechend der Grundlegungsschriften begründet Kant die Tugendpflichten aus reiner praktischer Vernunft und so auch im Falle der Liebespflichten. Unabhängig von den kontingenten Gefühlen des Wohlwollens oder der Abneigung muss man sich die Glückseligkeit der anderen zum Zwecke machen. „Denn alles moralisch-praktische Verhältnis gegen Menschen ist ein Verhältnis derselben in der Vorstellung der reinen Vernunft, d.i. der freien Handlungen nach Maximen, welche sich zur allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren, die also nicht selbstsüchtig […] sein dürfen.“ (MST A 120) Damit wird die Voraussetzung konkreter Maximen zur Prüfung durch den kategorischen Imperativ besonders deutlich: „Ich will jedes anderen Wohlwollen (benevolentiam) gegen mich; ich soll also auch gegen jeden anderen wohlwollend sein.“ (MST A 120) Wie man an dem angeführten Zitat sieht, geht die Begründung der Liebespflichten von dem konkreten Glücksstreben des Menschen aus, das ganz
wirklich einfacher. Menschenwürde mit Verfallsdatum, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.12. 2010. Entgegen der in der deutschen Bioethik-Debatte überwiegend vertretenen Kantinterpretation lassen sich nach meiner Auffassung die kantische Ethik und moderne Abwägungsfragen sehr wohl vereinbaren. Ich stimme also mit Hoffmann nur insofern überein, dass die Position von Quante unter Bezug auf Kant umso plausibler begründet werden kann. Zur Begründung der Liebespflichten vgl. Esser, Andrea M.: Eine Ethik für Endliche, a.a.O., 374 ff.; Horn, Christoph: The Concept of Love in Kant’s Virtue Ethics, in: M. Betzler (Hg.): Kant’s Ethics of Virtue, Berlin/New York 2008, 147– 173, bes. 161 ff.
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auf der Linie der Grundlegungsschriften grundsätzlich selbstbezogen ist.Wird nun dieses selbstbezogene Wohlwollen durch die reine Vernunft verallgemeinert, so entsteht die Pflicht zur Beförderung der fremden Glückseligkeit, weil nur so eine widerspruchsfreie, allgemeine Maxime des Wohlwollens möglich ist (vgl. auch MST A 168 ff.). Überwindet die Begründung der allgemeinen Liebespflicht zunächst das ausschließlich selbstbezogene Glücksstreben, darf gleichwohl nicht auf das entgegengesetzte Extrem, die kategorische Selbstaufgabe in der Pflichterfüllung, geschlossen werden. Denn entsprechend der Allgemeinheit des Pflichtgebots wird auch das angesprochene Individuum eingeschlossen. Das bedeutet wiederum nicht, dass die eigene Glückseligkeit zur Pflicht gemacht wird, und dies allein deshalb, weil der Mensch als vernunftbegabtes Naturwesen unvermeidlich seine eigene Glückseligkeit anstrebt. Was unvermeidlich bereits von selbst angestrebt wird, kann zwar eine Erlaubnis, aber keinesfalls ein Pflichtgebot darstellen. Die Erlaubnis zur Beförderung der eigenen Glückseligkeit stellt Kant explizit neben das Pflichtgebot. Niemand habe ein Recht die „Aufopferung meiner nicht unmoralischen Zwecke“ (MST A 18) von mir zu fordern. Das Gesetz „erlaubt es dir, dir selbst wohlzuwollen, unter der Bedingung, daß du auch jedem anderen wohl willst; weil so allein deine Maxime (des Wohltuns) sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung qualifiziert, als worauf alles Pflichtgesetz gegründet ist.“ (MST A 121) So ergibt sich aufgrund der Begründung aus reiner Vernunft die Erlaubnis zur Beförderung der eigenen Glückseligkeit. Die grundsätzliche Spannung zwischen Moral und Glück verschiebt sich dadurch von der begrifflichen Entgegensetzung, die scheinbar keine Vermittlung erlaubt, hin zu einer Abwägung im Einzelfall. Denn die Tugendpflichten gebieten zwar kategorisch, aber durch die notwendige Weite der Tugendpflichten entsteht ein Spielraum für Abwägungen im Einzelfall. Abstrakt betrachtet besteht ein Widerspruch zwischen der Erlaubnis zur Beförderung der eigenen Glückseligkeit und der Pflicht zur Beförderung der fremden Glückseligkeit. Angesichts der Endlichkeit des Menschen als vernünftiges Naturwesen muss es notwendig zu Konflikten kommen. Doch im Konkreten ergeben sich wieder Spielräume des Ausgleichs und der Abwägung. Wann, wo, wem und wie viel muss ich die Glückseligkeit Dritter fördern? Und wann, wo und wie viel muss ich von meiner eigenen Glückseligkeit Abstriche machen? Wegen dieser vielfältigen Variablen wird die Frage nach dem Verhältnis von Moral und Glück zu einer existentiellen Herausforderung im tätigen Vollzug der jeweiligen Vernunft. Es ist die Urteilskraft, die auf diese Weise wieder in den Blick kommt.¹¹¹ Wegen dieser vielfältigen Variablen bleibt einerseits eine grundsätzliche
Die Bestimmung der phronesis durch Aristoteles (EN Buch VI) rückt damit näher an Kant
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Spannung zwischen Moral und Glück bestehen, andererseits entsteht die Möglichkeit der Vermittlung im konkreten Einzelfall. Unglückseligkeit, „Schmerz und Mangel“ (MST A 17), können zwar unbestreitbar zu einer Übertretung der Pflicht verleiten. Armut und Unglückseligkeit sind keine notwendigen aber sehr wahrscheinliche Ursachen für Laster wie Neid, Geiz oder selbstsüchtige Teilnahmslosigkeit. Die Steigerung der eigenen Glückseligkeit wirkt solchen Einflüssen entgegen und kann dadurch durchaus Übertretungen von Pflichten verhindern. „Aber alsdenn ist diese [eigene Glückseligkeit] nicht der Zweck, sondern die Sittlichkeit des Subjekts ist es, von welchem die Hindernisse wegzuräumen es bloß das erlaubte Mittel ist“ (MST A 18). Die Beförderung der eigene Glückseligkeit stellt also eine Erlaubnis dar und allenfalls eine indirekte Pflicht, um Versuchungen zu Lastern abzuwehren. Inwieweit das Streben nach der eigenen Glückseligkeit eine Erlaubnis erfährt, muss im Durchgang durch die einzelnen Liebespflichten (1) der Wohltätigkeit, (2) der Dankbarkeit und (3) der Teilnehmung untersucht werden. Denn zwar ist das Streben grundsätzlich erlaubt, aber es kann gleichwohl im Einzelfall in Konflikt geraten mit der Beförderung fremder Glückseligkeit. Ebenso ist der gegenteilige Fall denkbar, den Kant implizit einräumt. Dass nämlich die Beförderung von fremder und eigener Glückseligkeit in eins fällt und sich gerade nicht widerspricht. Kant grenzt das Wohlwollen des Wunsches von dem tätigen Wohltun ab, und gesteht letzterem eine graduelle Verschiedenheit „nach Verschiedenheit der Geliebten“ (MST A 122) ein. Dem Wohlwollen des Wunsches nach kann ich jedem gleich wohlwollen, denn der Wunsch als solcher kostet keine Anstrengung und erfordert keinerlei Differenzierung. Doch das geforderte praktische Wohltun erfordert sogar eine graduelle Differenzierung, weil sonst eine zeitliche und materielle Überforderung des Individuums unumgänglich ist. Die Handlungsmöglichkeiten der Menschen sind in Raum und Zeit grundsätzlich begrenzt, so dass man zwangsläufig Abstufungen des Wohltuns vornehmen muss. Die erforderte und erlaubte graduelle Ungleichbehandlung Dritter geschieht nun nach Maßgabe der emotionalen Zuneigung, „deren einer mich näher angeht als der andere“ (MST A 122). Das bedeutet, dass mir nahe stehenden Personen vornehmlich und mehr wohlgetan werden muss. Meine Neigung und damit meine Glückseligkeit richten sich aber umso mehr auf andere Personen, je näher sie mir persönlich stehen. Damit bleiben eigene und fremde Glückseligkeit zwar weiterhin klar unterschieden, gleichen sich aber graduell an, weil die Struktur der Pflichten mit den faktischen Neigungen konform geht. Wenn ich das Glück mir naheste-
als vielfach angenommen, das sieht auch Höffe, Otfried: Universalistische Ethik und Urteilskraft, a.a.O.
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hender Personen fördere, dann befördere ich gleichzeitig meine eigene Glückseligkeit und befolge das sittliche Gebot der Liebespflichten. Klarerweise darf sich die Begründung der Liebespflichten nicht auf die Neigungen stützen, weil diese als Gefühle stets kontingent sind und deshalb keine allgemeingültigen Normen generieren können. Doch nach vollbrachter Begründung beziehen sich die Normen letztlich auf den Menschen als vernünftiges Naturwesen und haben deshalb Konsequenzen für das eigene Glücksstreben. Und im Falle der Liebespflichten ergibt es sich glücklicherweise, dass eigene und fremde Glückseligkeit sich graduell annähern. Je näher mir eine fremde Person steht, desto eher neige ich zu einer Wohltat und desto mehr bin ich gleichzeitig zu einer Wohltat verbunden. (1) Die erste der drei Liebespflichten ist die Wohltätigkeit. Hier findet sich wieder eine deutliche Bekräftigung der Erlaubnis zur Beförderung der eigenen Glückseligkeit. Der entgegengesetzte Geiz, der sich dem „zum frohen Genuß des Lebens Notwendigen“ (MST A 123) beraubt, ist ein den Tugendpflichten gegen sich selbst entgegengesetztes Laster. Eine gewisse Beförderung und Erhaltung der eigenen Glückseligkeit ist also in gewissen Grenzen erlaubt. An manchen Stellen erscheint es sogar als ob es sich dabei um eine Pflicht gegen sich selbst handelt. Doch kann dies nur indirekte Pflicht sein, um nämlich Hindernisse für die gebotene Sittlichkeit auszuräumen. „Sich selber gütlich tun, so weit als nötig ist, um nur am Leben ein Vergnügen zu finden […] gehört zu den Pflichten gegen sich selbst“ (ebd.). Inwieweit die Wohltätigkeit gegen andere in Konflikt gerät mit der Beförderung der eigenen Glückseligkeit wird deutlich in Kants Diskussion des Reichtums der Wohltäter. Reichtum bedeutet hier mit Mitteln „über sein eigenes Bedürfnis versehen“ (MST A 125) zu sein. Der Reiche kann leicht geben, weil er mehr hat als er zur Befriedigung seiner Neigungen benötigt. Der Reiche kann das Geben für seine eigene Luststeigerung benutzen, wenn er das Geben als „eine Art, in moralischen Gefühlen zu schwelgen“ (ebd.) verwendet. Dadurch wird die primäre Orientierung an der Achtung vor dem Gesetz aufgegeben und die Tugendpflicht zu ihrem Gegenteil, der Lustmaximierung, verkehrt. Demzufolge wird die Beförderung der fremden Glückseligkeit nur als Vorwand benutzt, um die eigene Glückseligkeit zu steigern. Der Empfänger wird zum Mittel der eigenen Luststeigerung degradiert. Man sieht, dass Kant durchaus die beiden Bereiche deutlich voneinander unterscheidet und die Moral als Bedingung des Glücksstrebens in der Tugendlehre an keiner Stelle aussetzt. Letztlich entscheidend ist „der überlegte Vorsatz, einem starken, aber ungerechten Gegner Widerstand zu tun.“ (MST A 4) Gleichwohl ist die konkrete Ausformung eine diffizile Frage. Denn auch wenn die primäre Ausrichtung auf die Lustmaximierung durch wohltätiges Verhalten
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keine erlaubte Maxime ist, so kann nichts desto trotz im Einzelfall mit der tugendhaften Maxime eine gewisse Freude und Zufriedenheit mit dem eigenen sittlichen Verhalten einhergehen. Entscheidend ist nicht das Vorhandensein oder Fehlen einer solchen Gemütsstimmung, sondern die rationale Ausrichtung auf eine tugendhafte Maxime. Damit wird die klare Hierarchie zwischen Moral und Glück bestätigt und zugleich dem eigenen Glücksstreben klare Grenzen gesetzt. Zum einen ist der eigenen und der fremden Glückseligkeit auf diese Weise eine klare Hierarchie vorgegeben, sodass beide einen gewissen Ausgleich finden, da unter der Voraussetzung einer rationalen Ausrichtung auf eine moralische Maxime die Ausführung von Wohltaten als Zufriedenheit und persönliche Luststeigerung erlebt werden darf. Zum anderen bleibt trotz allem bei Kant eine klare Entgegensetzung von Moral und Glück, wenn er den Grad der Tugend abhängig macht von der Inkaufnahme persönlicher Übel. „Größer ist diese Tugend, wenn das Vermögen zum Wohltun beschränkt, und der Wohltäter stark genug ist, die Übel, welche er anderen erspart, stillschweigend über sich zu nehmen, wo er alsdann wirklich für moralisch-reich anzusehen ist.“ (MST A 125) An der Überwindung der Widerstände lässt sich die Stärke der Tugend beurteilen. Je geringer die Möglichkeiten und je größer der eigene Selbstbezug ist, desto mehr wird die errungene Tugend gelten dürfen. Nicht umsonst sind nach Kant die Liebespflichten, im Gegensatz zu den Achtungspflichten,verdienstliche Pflichten,weil sie eine tatsächliche Bereicherung und Wohltat für den Empfänger bedeuten, auf die er keinen rechtlichen und moralischen Anspruch hat. Es handelt sich um positive und weite Pflichten, die aufgrund ihres Bezugs auf eine Maxime eine unheimliche Vielfalt und Offenheit für konkrete Situationen erlaubt, die so für die Achtungspflicht, die „eigentlich nur negativ ist (sich nicht über andere zu erheben)“ (MST A 118) nicht gilt. Negative Pflichten sind „verhältnisweise […] enge“ (MST A 119), weil Unterlassungen auf konkretere Strukturen und Handlungszusammenhänge gerichtet sind. Darüber hinaus sind die Liebespflichten verdienstliche Pflichten, weil sie an dem Grad gemessen werden, in welchem der Wohltäter sein eigenes Glücksstreben einschränkt. Wenn auch Liebespflichten verdienstliche Pflichten sind, die von mehr oder weniger reichen mehr oder weniger unter Einbußen der eigenen Glücksseligkeit vollzogen werden, so ist auf jeden Fall der Schein zu vermeiden, als ob durch die Wohltat eine Verbindlichkeit des Empfangenen gegenüber dem Wohltäter entsteht. Denn dann handelt es sich in der Tat um keine Wohltat, sondern ganz im Gegenteil um eine rein auf den eigenen langfristigen Vorteil bedachte Klugheitshandlung, die möglichst viele Menschen in der Schuld halten möchte, um bei Gelegenheit wieder Vorteil daraus zu ziehen. So sind insgesamt eigene und fremde Glückseligkeit eng beieinander und müssen streng getrennt und hierarchisch strukturiert gehalten werden, um keine Verkehrung der Tugendpflichten zu erzeugen.
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Auch der bereits erwähnte Paternalismus stellt besonders in der Pflicht zur Wohltätigkeit eine mögliche Verkehrung der Tugendpflicht dar. Es stellt sich die nur scheinbar einfache Frage, was für den einzelnen in einer bestimmten Situation eine Wohltat darstellt. Da die Tugendpflichten insgesamt wie die Pflicht zur Wohltätigkeit im Besonderen eine Maxime und nicht eine konkrete Handlung zur Pflicht machen, ergibt sich dadurch der weite Handlungsspielraum, der für die Tugendpflichten charakteristisch ist. Die letzte Maßgabe zur Beurteilung ist stets die individuelle Lebensqualität, die subjektiven Begriffe der jeweiligen Glückseligkeit. Auch das folgt aus dem kantischen Glücksbegriff, der bereits der Argumentation der Kritik der praktischen Vernunft zugrunde liegt. Das eigene Glück muss stets vom Individuum selbst beurteilt werden und kann nicht nach den Vorstellungen und Begriffen Dritter über eine vermeidliche allgemeingültige Glückseligkeit beurteilt werden. „Ich kann niemand nach meinen Begriffen von Glückseligkeit wohltun (außer unmündigen Kindern oder Gestörten), sondern nach jenes seinen Begriffen, dem ich eine Wohltat zu erweisen denke.“ (MST A 126) (2) Die Dankbarkeit ist eine weitere Liebespflicht, die auf die Beförderung des physischen Wohlseins gerichtet ist. „Dankbarkeit ist die Verehrung einer Person wegen einer uns erwiesenen Wohltat.“ (MST A 127) Der Wohltäter muss darauf achten, dass er den Empfänger nicht verbindet und ihn dadurch herabwürdigt. Gleichwohl ist der Empfänger von sich aus dazu verpflichtet dem Wohltäter gegenüber Dankbarkeit zu bezeugen. In der Wohltätigkeit als auch in der Dankbarkeit sind die Personen als vernünftige Naturwesen wechselseitig aufeinander bezogen und gehen aufeinander zu. Beides wird von der Sittlichkeit gefordert und darf nicht von konkreten Menschen eingefordert oder benutzt werden. Es handelt sich um die Beschreibung des diffizilen Verhältnissen von Menschen zueinander, das von sehr feinen Faktoren abhängig ist. Auch deshalb handelt es sich um eine Tugendpflicht, weil es eine stetige Bemühung erfordert, die immer weiter voran schreitet, aber grundsätzlich nicht abschließend ausgeführt werden kann. Kant unterscheidet eine tätige von einer bloß affektionellen Dankbarkeit (vgl. MST A 127). Beide sind seltsamerweise Tugendpflichten.¹¹² Im Gegensatz zur Wohltätigkeit, die Kant über das bloße Wohlwollen hinaus fordert, ist im Falle der Dankbarkeit bereits „ein bloßes herzliches Wohlwollen des anderen, ohne physische Folgen“ (ebd.) als Tugendpflicht zu bezeichnen. Das scheint mir darin zu liegen, dass – anders als bei der Wohltätigkeit – bei der Dankbarkeit der emotionale Bezug auf eine Person entscheidend ist. Die geforderte „Verehrung“ ist in erster Linie ein Gefühl, das sich selbstverständlich auch in physischen Handlungen zeigen kann, aber nicht notwendig muss. Bereits eine kleine Geste oder
Entgegen der Vereinfachung von Esser, Andrea M.: Eine Ethik für Endliche, a.a.O., 378.
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eine Miene genügen, um die empfundene Dankbarkeit auszudrücken. Auch erlaubt die Pflicht zur Dankbarkeit keine schnelle Quittierung einer empfangenen Wohltat, denn der Wohltäter hat zumindest immer den Vorzug der erste im Wohlwollen gewesen zu sein, den der Empfänger niemals tilgen kann. Es ist ein Zeichen für Größe, wenn eine Wohltat mit Dankbarkeit und nicht mit Neid und Groll entgegen genommen wird. Die benannte Größe ergibt sich durch die Selbstsicherheit der eigenen Autonomie. Die reine Vernunft fordert diese Dankbarkeit als Pflicht und der Mensch als vernünftiges Naturwesen kann diese Pflicht emotional erfüllen und Dankbarkeit empfinden oder er kann diese Pflicht nicht erfüllen und das entgegengesetzte Laster des Neides empfinden. Die Dankbarkeit ist letztlich ein Bewusstsein der eigenen Autonomie, die die Dankbarkeit gebietet und zugleich leistet. Nur wenn der Mensch sich seiner Selbstzweckhaftigkeit bewusst ist, kann er die geforderte Pflicht der Dankbarkeit erfüllen. Wer sich dessen nicht bewusst ist, bleibt ständig in seinem Selbstwert angreifbar, weil er abhängig ist von physischen Bedingungen und eigenen Leistungen. So bilden Dankbarkeit und Wohltätigkeit ein sensibles Verhältnis, das stets aufs Neue ausgebildet werden muss. Denn auch der Wohltäter darf nicht primär auf Dankbarkeit ausgerichtet sein, kann sich aber durchaus berechtigt durch mangelnde Dankbarkeit in seiner Achtung eingeschränkt sehen. Dass beide Pflichten sind und nicht bloße Klugheitsmaximen, erschwert die Abwägung im Einzelfall weiter. Ob gezeigte Dankbarkeit aus Achtung vor dem Wohltäter oder lediglich aus einer Klugheitsüberlegung heraus erfolgt, ist eine im Einzelfall schwierig zu entscheidende Frage. Das gilt umso mehr als selbst das Individuum niemals hinreichend über die eigenen Motive Klarheit erlangen kann. Auch die Dankbarkeit befördert die fremde Glückseligkeit, indem sie sich die ganze Person zum Zweck macht. In der Differenz zwischen Dankbarkeit aus Klugheit und der Dankbarkeit aus Pflicht offenbart sich damit ein weiteres Mal die Differenz zwischen eigener und fremder Glückseligkeit. Dankbarkeit aus Klugheitsüberlegungen verfolgt das langfristige Ziel der Befriedigung der eigenen Neigungen, während die Dankbarkeit aus Pflicht primär die Beförderung der fremden Glückseligkeit anstrebt. Durch die Dankbarkeit werden keine Neigungen direkt befördert, aber durch die Aufrechterhaltung der Achtung der Person fördert sie die notwendige Bedingung der eigenen Glückseligkeit. Auffällig ist, dass die Dankbarkeit aus Klugheit und die Dankbarkeit aus Pflicht deutlich voneinander abgegrenzt werden und die Pflicht die oberste Stelle einnimmt. Doch nach vollbrachter Begründung und deutlicher Hierarchisierung ergibt sich in der Konsequenz für den Menschen als vernünftiges Naturwesen eine mögliche Vermittlung von Moral- und Glücksorientierung. Beide, Moral und Glück, gehen meist miteinander einher. Das stellt weder ein Makel der kantischen
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Theorie noch ein Makel der Moral selbst dar, sondern ist eine Konsequenz aus der Endlichkeit des Menschen als vernünftiges Naturwesen. Im Konkreten ist die Entgegensetzung von Pflicht und Klugheit, Moral und Glück, keine absolute, sondern eine graduelle. Beide Bereiche sind notwendig Bestandteil des menschlichen Handelns und liegen in Graden und Abstufungen jeder Handlung zugrunde. Die Frage ist lediglich, welche der beiden Orientierungen primär dominiert. Auch wenn also in einem gegebenen Fall die Dankbarkeit primär aus Pflicht bezeugt wird, so kann dessen unbeschadet eine pragmatische Überlegung hinzukommen. Das gilt umso mehr, wenn der erwartete Nutzen nicht bewusst erstrebt, sondern lediglich gehofft wird. Man erinnere sich der aus der Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft bekannten Schwierigkeit, wonach man zuerst rein aus Pflicht handeln soll ohne auf die eigene Glückseligkeit zu schielen und hinterher doch wieder auf eine Belohnung für die eigene Glückseligkeit zumindest hoffen darf. Diese Schwierigkeit wird in der obigen Diskussion der Dankbarkeit aus Pflicht und aus Klugheit konkretisiert und zugleich aufgelöst. Denn dort steht man vor der Schwierigkeit, Dankbarkeit zu zeigen ohne klug das eigene langfristige Glück zu berechnen. Nichts desto trotz werden zumindest in der Folge notwendig Klugheitsüberlegungen auftauchen. Und dies allein deshalb, weil der Mensch als vernünftiges Naturwesen über Selbstbewusstsein und ein weitläufiges Reflexionsvermögen verfügt. Dabei kommen Klugheitsüberlegungen aufgrund der Endlichkeit und Unvollkommenheit des Menschen notwendig auf. Die Frage ist lediglich wie man mit derlei Vorstellungen, Affekten und Leidenschaften umgeht. Die kritisierte Schwierigkeit stellt demnach keine Fehlkonstruktion der kantischen Theorie dar, sondern ist im Gegenteil eine adäquate phänomenologische Beschreibung der menschlichen Wirklichkeit. In der Perspektive der Tugendpflichten wird dies umso deutlicher, weil die Schwierigkeit in jeder konkreten Situation aufs Neue bewältigt werden muss. Es werden unbestreitbar meist Klugheitsüberlegungen vor einer Entscheidung aufkommen und zugleich Gebote der Pflicht bewusst werden. Dem Mensch als vernünftiges Naturwesen stellt sich diese Spannung zwischen Moral und Glück im Konkreten immer wieder als Aufgabe. (3) Als letzte der drei Liebespflichten nennt Kant die teilnehmende Empfindung. Dabei unterscheidet er aber wiederum zwischen dem empirischen Gefühl des Mitleids und der Mitfreude einerseits und einer tätigen Mitteilung der eigenen Gefühle als Pflicht andererseits. Das Mitgefühl der teilnehmenden Empfindung bezeichnet Kant auch als Menschlichkeit. Es ist die spezifische Emotionalität des Menschen, „wozu schon die Natur in den Menschen die Empfänglichkeit gelegt hat.“ (MST A 129) Kant sieht demnach den Menschen in seiner Menschlichkeit als ein vernünftiges Naturwesen, das zu den Gefühlen des Mitgefühls, des Mitleides und der Mitfreude empirisch immer schon befähigt ist. Kultivierung der Gefühle ist
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eine Forderung, die sich aus der eigentümlichen Perspektive der Tugendlehre ergibt, „weil hier der Mensch nicht bloß als vernünftiges Wesen, sondern auch als mit Vernunft begabtes Tier betrachtet wird.“ (MST A 130) Die Menschlichkeit kann nun in zweierlei Bedeutung verstanden werden. Einmal meint sie „Vermögen und Willen, sich einander in Ansehung seiner Gefühle mitzuteilen“ (ebd.). Nur diese kann als frei bezeichnet werden, weil hier eine tätige Vernunftleistung, wenn auch unter Voraussetzung einer kultivierten Emotionalität, in Anschlag gebracht wird, die im Bereich der menschlichen Willkür liegt. Das andere Mal meint sie nur die „Empfänglichkeit für das gemeinsame Gefühl des Vergnügens und des Schmerzens“ (ebd.). Diese Form der Menschlichkeit ist als unfrei zu bezeichnen, weil sie sich als „Mitleidenschaft“ (ebd.) natürlicherweise von selbst unter Menschen verbreitet und nur die affektionelle Betroffenheit vom Leid oder der Freude eines anderen zum Ausdruck bringt. Die erstere Form der Menschlichkeit ist denn auch die teilnehmende Empfindung, die als Tugendpflicht formuliert wird. Die teilnehmende Empfindung ist eine bedingte Pflicht, weil sie „als Mittel zur Beförderung des tätigen und vernünftigen Wohlwollens“ (MST A 130) gebraucht wird.Wie dort deutlich wurde, setzt das tätige Wohlwollen als letzten Maßstab die individuelle und subjektive Lebensqualität voraus.Wir dürfen nicht nach unseren oder möglichen dogmatischen Maßstäben paternalistisch über die Glückseligkeit fremder verfügen, sondern müssen deren Glückseligkeit nach deren eigenen Begriffen und Vorstellungen befördern. Wie kann man aber über diese subjektiven Vorstellungen und Begriffe verfügen? Das leistet die teilnehmende Empfindung.Wir sind verpflichtet uns gegenseitig unsere Gefühle mitzuteilen. Dies schafft aller erst die Möglichkeit über die Glückseligkeit anderer Kenntnis zu erlangen und sie nach ihren Begriffen von Glückseligkeit zu fördern und ihnen wohlzutun. Diese Mitteilung selbst ist bereits ein prekärer Prozess, weil der Mensch sich durch die Mitteilung von Gefühlen offenbart und damit sowohl für Wohltaten aber auch für Verletzungen empfänglich ist. Wie sich bereits bei der Dankbarkeit zeigte, sind auch bei der teilnehmenden Empfindung Klugheitsüberlegungen im konkreten Fall unumgänglich. Denn ob man einer Person in einer konkreten Situation seine Gefühle mitteilen wird, hängt zunächst entscheidend davon ab,was wir uns davon im Hinblick auf unsere eigene Glückseligkeit erwarten. Nur wenn wir der Ansicht sind, dass die Mitteilung der Gefühle positive Auswirkungen auf unsere Gesamtbefindlichkeit haben wird, werden wir diese aussprechen. Damit liegen beim Menschen als vernunftbegabtes Tier zunächst und zumeist Klugheitsüberlegungen im Hinblick auf die eigene Glückseligkeit zugrunde. Das widerspricht scheinbar der teilnehmenden Empfindung als Tugendpflicht und stellt in der Tat eine Schwierigkeit dar, die aber nicht der kantischen Theorie,
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sondern abermals dem Menschen als vernunftbegabtes Naturwesen anzulasten ist. Es ist die Herausforderung, die allen Tugendpflichten gemein ist, dass der Mensch sich zu seinen unmittelbaren Affekten und Vorstellungen ins Verhältnis setzen und diese mit den Forderungen der Moral in Einklang bringen muss. Die Abwägung und Entscheidung vollzieht sich stets im konkreten Einzelfall in einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort und in Auseinandersetzung mit einer bestimmten Person. Wie alle Tugendpflichten gebietet die Pflicht zur teilnehmenden Empfindung keine Handlung, sondern die Annahme einer bestimmten Maxime. Und entsprechend der Maximenorientierung bleibt ein Spielraum des „wie und wie viel“ der Mitteilung der Gedanken. In geschäftlichen Verhältnissen etwa ist es eine pragmatisch notwendige und moralisch erlaubte Klugheit, nicht alle seine Gefühle der Angst, der Unsicherheit oder der Armut mitzuteilen, weil sonst die Geschäftspartner diese Informationen zum eigenen Vorteil und damit zum Nachteil des Mitteilers verwenden können. Und selbst in privaten und sehr persönlichen Verhältnissen mit Menschen ist es oft anratig nicht alle seine Gefühle dem anderen mitzuteilen. Entweder weil man sich dadurch angreifbar macht und dem Gegenüber Ausnutzung der Informationen zutraut oder weil man dadurch das physische Wohlsein des anderen vermindert. Es ist eine schwierige und diffizile Angelegenheit, die im konkreten Einzelfall abgewogen werden muss. So sind auch bei der teilnehmenden Empfindung die eigene und die fremde Glückseligkeit in einem gewissen Spannungsverhältnis und verlangen nach einem Ausgleich. Entweder zugunsten der Moral und damit der schonungslosen Offenbarung der eigenen Gefühle oder zugunsten der eigenen Glückseligkeit und der klugen Ausnutzung der Mitteilung der Gefühle. Klarerweise liegt im Zweifelsfall die Priorität bei der Verpflichtung ohne Berücksichtigung der möglichen Folgen für das eigene Glück. Doch nach vollbrachter Begründung und Abwägung mit einer klaren Hierarchisierung der Tugendpflichten kann sich durchaus eine Konvergenz von moralischer Forderung und eigenem Glücksstreben ergeben. So ist eine gewisse Offenherzigkeit in der Mitteilung der Gefühle durchaus vereinbar mit der langfristigen Nutzenmaximierung der eigenen Glückseligkeit. Im Anschluss an die Liebespflichten behandelt Kant die „der Menschliebe gerade (contrarie) entgegengesetzten Laster des Menschenhasses“ (MST A 133). Diese sind (1) der Neid, (2) die Undankbarkeit und (3) die Schadenfreude. Dabei zeigt sich ein weiteres mal, dass Kant die moralischen Forderungen unabhängig vom Streben nach Glückseligkeit begründet und zugleich, das mag besonders im Zusammenhang mit den Lastern überraschen, dass die Orientierung an den moralischen Forderungen das eigene Glücksstreben ordnet und verändert. Interessanterweise stehen alle drei Laster zumindest im Zusammenhang mit dem eignen Wohl. Prima facie wird man lediglich eine scharfe Entgegensetzung von eigenem Wohl und Pflicht finden, weil den der
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Pflicht entgegengesetzten Lastern natürliche Neigungen zugrunde liegen. Führen diese zu die Rechte und die Achtung anderer einschränkenden Handlungen, handelt es sich um „qualifizierte“ Laster.¹¹³ (1) Der aufmerksame Leser findet gleichwohl eine interessante Vermittlung von Tugend und eigenem Glück in der konkreten Arbeit an den Lastern. Denn tatsächlich liegen etwa die „Regungen des Neides […] in der Natur des Menschen“ (MST A 134) und gehören insofern zum Bereich der Neigungen, deren Befriedigung Glück verspricht. Das ist beim Neid sehr deutlich, denn Kant bestimmt diesen „als Hang, das Wohl anderer mit Schmerz wahrzunehmen“ (ebd.) Man vergleicht sich mit dem Wohl anderer und findet sein eigenes Wohl durch das Wohl der anderen verringert und empfindet es dadurch als Schmerz, nämlich Verringerung des eigenen Glücks. Da es sich um einen Hang handelt, der in der Natur des Menschen liegt, scheint der Schmerz, und das heißt das eigene Glück, nicht im Verfügungsbereich des eigenen Handelns zu liegen. Führt dieser Schmerz „zur Tat (jenes Wohl [des anderen] zu schmälern)“ (ebd.), handelt es sich um das Laster des qualifizierten Neides. Dieser ist unabhängig von dem zugrunde liegende Hang verboten und soll scheinbar ohne Rücksicht auf das eigene Glück unterlassen werden. Damit bliebe es bei einer scharfen Entgegensetzung von Moral und Glück. Die kantische Argumentation begründet jedoch nicht nur das Verbot des Lasters, sondern zeigt durch eine Analyse der menschlichen Natur zugleich implizit eine Möglichkeit der Vermittlung auf. Bei genauem Hinsehen zeigt sich, dass der Neid durch ein falsches Verständnis des eigenen Glücks entsteht. Denn im Neid vergleicht man das eigene Wohl mit dem Wohl eines anderen und sieht dadurch den Maßstab des eigenen Glücks im Glück des anderen. Durch die Orientierung an den Zwecken der reinen praktischen Vernunft besteht immerhin die Möglichkeit, dass das Individuum zugleich über seine Neigungen aufgeklärt wird und lernt, das eigene Glück „in dessen innerem Wert“ (ebd.) zu schätzen. Damit erfahren die unmittelbaren Neigungen eine reflexive Aufklärung und das Glück eine Bereicherung, weil es sich unabhängig macht von nicht beeinflussbaren Umständen, nämlich dem Wohl anderer Menschen. (2) Undankbarkeit ist das zweite Laster, das der Menschenliebe entgegengesetzt ist. Geht man soweit seinen Wohltäter zu hassen, handelt es sich um qualifizierte Undankbarkeit. „Diese ist aber alsdann ein die Menschheit empörendes Laster […] weil die Menschenliebe hier gleichsam auf den Kopf gestellt, und der Mangel der Liebe gar in die Befugnis, den Liebenden zu hassen, verunedelt wird.“ (MST A 135) Die Begründung des Verbots des Lasters erfolgt aus der Negation des
Diese Unterscheidung trifft Kant bei allen drei Lastern, siehe MST A 134 f.
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Zwecks, der zugleich Pflicht ist. Das Laster der Undankbarkeit handelt dem Zweck der Beförderung der fremden Glückseligkeit entgegen und ist deshalb verboten. Die Undankbarkeit kann unabhängig von seiner moralischen Rechtfertigung als natürliches Phänomen erklärt werden. Sie entsteht durch eine missverstandene Pflicht gegen sich selbst. Man meint die Wohltätigkeit anderer nicht zu bedürfen, weil man sich dadurch eine Verbindlichkeit gegen sie auferlegt und meint nicht in Schulden gegen andere kommen zu dürfen. Indem man „lieber die Beschwerden des Lebens selbst zu ertragen“ (MST A 134) trachtet, geht man der Wohltätigkeit durch andere und darum dem eigenen Wohl verlustig. Wird man doch einer Wohltätigkeit teilhaftig entsteht der Hass auf den Wohltäter, der neben seiner Qualität als Laster zugleich die erhaltene Wohltat zumindest schmälert und die Wohltat nicht als Beförderung des eigenen Glücks erscheinen lässt. Durch die abermalige Orientierung an den Tugendpflichten wird das Individuum zugleich über seine eigenen Bedürfnisse und unmittelbaren Neigungen aufgeklärt. Man lernt, dass man durch fremde Wohltaten nicht „auf die niedere Stufe des Beschützten gegen seinen Beschützer“ (MST A 135) gerät. Die echte „Selbstschätzung“ besteht in der „Würde der Menschheit in seiner eigenen Person“ (ebd.). Durch das Bewusstsein seiner moralischen Verpflichtung wird das Individuum zugleich seines eigenen inneren Wertes bewusst und kann fremde Wohltaten als Wohltaten entgegennehmen ohne sich aus einem falsch verstandenen Stolz heraus der Beförderung der eigenen Neigungen verlustig zu machen. Auf diese Weise wird Moral und Glück in der konkreten Tugend vermittelt. (3) Das letzte der Menschenliebe entgegengesetzte Laster stellt die Schadenfreude dar. „wenn sie so weit geht, das Übel oder Böses selbst bewirken zu helfen, sie als qualifizierte Schadenfreude den Menschenhaß sichtbar macht und ihrer Gräßlichkeit erscheint.“ (ebd.) Wie der Neid, so entsteht auch die Schadenfreude durch einen falsch verstandenen Vergleich mit dem Wohlergehen der anderen. Das eigene Glück wird umso mehr befördert als man sich des Unglücks der anderen bewusst ist. Demnach stehen sich die moralische Orientierung und die unmittelbaren Neigungen wieder entgegen. Da die Schadenfreude der Tugendpflicht der teilnehmenden Empfindung entgegengesetzt ist, ist sie selbstverständlich verboten. Lässt sich das Individuum durch die reine Vernunft aufklären, kann es zu einem reflexiven Verhältnis zu den eigenen Neigungen kommen und sie nicht an fremden, sondern an den eigenen Maßstäben messen.
4.4 Achtungspflichten – moralisches Wohlsein
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4.4 Achtungspflichten – moralisches Wohlsein Ganz im Sinne der Grundlegung ¹¹⁴ bestimmt Kant die Tugendpflicht der Achtung aus der Würde der Menschheit in jeder Person. „denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von anderen noch so gar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle anderen Weltwesen, die nicht Menschen sind, und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt.“ (MST A 140)¹¹⁵ Die Subsumierung der Achtungspflichten unter die Beförderung des moralischen Wohlseins, als Unterkategorie der Pflicht zur Beförderung der fremden Glückseligkeit ist nicht leicht zu sehen. Betrachtet man lediglich die Einleitung und versucht das moralische Wohlsein inhaltlich genauer zu verstehen, stößt man aufgrund des geringen Textbestandes schnell an hermeneutische Grenzen. Problematisch ist insbesondere die aus der Pflicht zur eigenen Vollkommenheit wohlbekannte Tatsache, dass moralische Verantwortung und Vervollkommnung nicht von Dritten übernommen werden kann. Darin besteht gerade die autonome Leistung einer Person, dass „er selbst vermögend ist, sich seinen Zweck nach seinen eigenen Begriffen von Pflicht zu setzen“ (MST A 14). Genau das scheint Kant nun doch in Betracht zu ziehen,wenn er schreibt es sei „nichts zu tun, was, nach der Natur des Menschen,Verleitung sein könnte zu dem, worüber ihn sein Gewissen nachher peinigen kann, welches man Skandal nennt.“ (MST A 27) Direkt widerspricht sich Kant zwar nicht, weil er die Verleitung wieder abgrenzt zur letztlich eigenverantwortlichen Tat, „daß jenen dieser innere Vorwurf nicht verdienterweise treffe, ist nun zwar eben nicht meine Pflicht, sondern seine Sache;“ (ebd.). Gleichwohl ergibt sich durch die mögliche Verleitung durch andere Personen ein gewisser Spielraum der Verantwortlichkeit, der aus der alltäglichen Rechtsprechung wohlbekannt ist. Bevor man allzu schnell einen Widerspruch sieht zu den Grundlegungsschriften, in denen die Autonomie der Person an die transzendentale Freiheit mit kategorischer Schärfe gebunden ist und deshalb keinerlei Einschränkungen zu
Vgl. GMS AB 64 ff.: „der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.“ Darwall, Stephen: Kant on Respect, Dignity and the Duty of Respect, in: M. Betzler (Hg.): Kant’s Ethics of Virtue, Berlin/New York 2008, 175 – 199, hier: 177 – vertritt darüber hinaus die These, dass das Konzept der Achtung in der Tugendlehre über die Grundlegungsschriften hinaus geht und diese gar „in a philosophically interesting way“ besser verständlich macht.
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erlauben scheint, sollte man sich die eigentümliche Perspektive der Tugendlehre abermals vor Augen führen. Entwickelt die Kritik der praktischen Vernunft die Bedingung der Möglichkeit von moralischer Verantwortung überhaupt, so setzt die Tugendlehre gerade diese abstrakte Begründung voraus, konkretisiert die Pflichten aber weiter in Hinblick auf den Menschen als vernünftiges Naturwesen und kann durch diese spezifisch menschliche Perspektive sowohl sinnliche als auch intelligible Aspekte miteinander vermitteln. Das gilt umso mehr, als diese Perspektive immer schon in jeder alltäglichen moralischen Beurteilung berücksichtigt wird und Kant dies nur sinnvoll auf den Begriff bringt. Es ist Ausdruck der grundsätzlichen Spannung zwischen sinnlichen Automatismen und autonomer Bestimmung. Die Autonomie stellt aus der Perspektive des Menschen eine nie endende Aufgabe dar, die es von Moment zu Moment immer wieder aufs Neue zu bewältigen gilt. Die Verleitung ist kein Widerspruch zur Autonomie, sondern stellt ihr gerade erst den Widerstand entgegen, durch den sie sich ihrer Freiheit bewusst wird. Woran ist bei der Pflicht zur Beförderung des moralischen Wohlseins konkret zu denken? Aus dem Text der Einleitung sind keine konkreten Beispiele zu entnehmen. Aufgrund der bereits zitierten Passagen, der verbotenen Verleitung zu Gewissensbissen, wird man primär an die Verleitung zu Straftaten oder lasterhaften Handlungen denken. So plausibel das auf den ersten Blick erscheinen mag, so merkwürdig ist es denn doch, dass sich in der Elementarlehre keinerlei entsprechende Textstellen finden lassen, die auf die Verleitung zu konkreten Lastern eingehen. Stattdessen findet man bei genauerer Lektüre an prominenter Stelle der Achtungspflichten zumindest einige mit dem Einleitungstext übereinstimmende Schlagworte. Die Pflicht zur Beförderung des moralischen Wohlseins anderer ist eine „nur negative Pflicht“ (MST A 27) und die Verleitung zu Gewissensbissen nennt Kant „Skandal“ (ebd.). Selbstverständlich bieten diese Schlagworte allein keinen hinreichenden Grund für eine eindeutige Interpretation. Doch angesichts des gesamten Textbestandes, der entwickelten Gesamtperspektive und der leitenden Annahme, dass ein Zusammenhang zwischen der Einleitung und der Elementarlehre hergestellt werden muss, stellt die Gleichsetzung der Unterkategorie des moralischen Wohlseins mit den Achtungspflichten im Ganzen eine sinnvolle Interpretation dar. Die Pflicht zur Achtung anderer ist demensprechend „eigentlich nur negativ“ (MST A 118) und Kant bezeichnet den Verstoß gegen die Achtung vor dem Menschen als „Skandal“ (MST A 142). Merkwürdig ist nur, dass Kant selbst keine expliziten systematischen Zusammenhänge erläutert. Wie bisher deutlich wurde, kann der systematische Zusammenhang sachlich rekonstruiert werden, ist aber im Ganzen doch auf vielfältige interpretatorische Spekulationen angewiesen. Inso-
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fern ist die These vom altersgeschwächten Kant nachvollziehbar, aber kein Grund für eine sachliche Verwerfung der Tugendlehre im Ganzen. Explizite Verweise finden sich also nicht. Und doch wird man sachliche Überschneidungen nicht leugnen können. Denn der in seiner Achtung gekränkte wird durchaus Gewissensbisse spüren, und zwar weil er nicht hinreichend für sein Recht auf Achtung eingestanden ist. Kant diskutiert die gesamten Achtungspflichten verständlicherweise überwiegend aus der Perspektive des Verpflichteten, weil die Tugendpflicht vom Verpflichteten ausgeführt werden soll. Die Konsequenzen bei einem Verstoß gegen die Achtungspflicht für den Gekränkten werden demgegenüber kaum behandelt, lassen sich gleichwohl sachlich erschließen. So bilden das moralische Wohlsein und die Achtungspflicht zwei komplementäre Perspektiven des einen Sachverhalts. Zwei Menschen verhalten sich handelnd zu einander und werden wechselseitig beeinflusst. Die durch eine Handlung realisierte Achtung zielt auf den Zweck des moralischen Wohlseins Dritter. Wird gegen die Achtungspflicht verstoßen, wird der Gekränkte durchaus zu einem ebensolchen Achtungsverstoß verleitet, weil er diese Kränkung als Angriff empfindet, den er durch einen direkten Gegenschlag zu vergelten gedenkt. Das wechselseitige Verhältnis von Personen stellt demnach ein sensibles Gleichgewicht dar, das es immer wieder im konkreten Fall auszugleichen gilt. Kommt es zu einem Verstoß gegen die Achtungspflicht und damit zu einer Verletzung des moralischen Wohlseins eines Dritten, steht der gekränkte Dritte aber auch in der Pflicht. Und zwar muss er den Verstoß als solchen kenntlich machen, die eingeschränkte Achtung einfordern, und dies alles ohne wiederum die Achtung des anderen zu kränken, sondern ihn gerade trotz der Kränkung als Person zu betrachten und zu behandeln. So unscheinbar unkompliziert die Achtungspflichten auf den ersten Blick erscheinen, umso diffiziler ist deren Befolgung und Einforderung im konkreten Fall. Die oft kritisierte Unbestimmtheit des Würdebegriffs¹¹⁶ resultiert aus diesem Konkretisierungsproblem der Achtung, das durch eine Berücksichtigung der Tugendlehre seine Aufhellung erfährt. Denn natürlich ist die Achtung der Würde der Person eine abstrakte Forderung, die als solche notwendig unbestimmt bleiben muss. Und dies deshalb, weil sie eine allgemeine Struktur beschreibt, die alle möglichen Fälle im menschlichen Handeln strukturiert und anleitet. Die inhaltliche Ausgestaltung im konkreten Einzelfall, das zeigt die Tugendlehre durch die Weite ihrer Tugendpflichten, unterliegt den Abwägungen der einzelnen Beteiligten. Die Achtung der Würde jeder Person muss deshalb im jeweiligen Einzelfall immer wieder aufs Neue eingefordert und wechselseitig ausgeglichen werden. Es
Hoerster, Norbert: Sterbehilfe im säkularen Staat, Frankfurt am Main 1998, 12 ff.
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ist ein dialektischer Prozess von „Anziehung und Abstoßung“ (MST A 117), in dem die Achtung immer wieder eine Konkretion erfährt. Die unbestimmte Forderung nach Achtung impliziert, dass die Achtung als immer schon vorausgesetzte Struktur des menschlichen Handelns im Handeln konkretisiert und dadurch allererst realisiert werden muss. Achtung gegen andere ist die oberste Einschränkung in der Beförderung der eigenen Glückseligkeit. Die Befriedigung der Neigungen findet ihre Grenze an der moralischen Würde, der Achtung Dritter. Deshalb sind die Achtungspflichten negative Pflichten, weil es verboten ist, andere in ihrer Würde einzuschränken bzw. sich über andere zu erheben. Insofern geben sie eine klare Grenzlinie der eigenen Glückseligkeit an. Im Umkehrschluss bedeutet das eine aktive Beschränkung der selbstbezogenen Eigenliebe, die Kant auch als Bescheidenheit (vgl. MST A 139) bezeichnet. Die Beförderung der eigenen Glückseligkeit findet ihre Grenzen direkt an der Achtung anderer Personen. Den Liebespflichten vorgängig muss zunächst auf einen angemessenen Abstand zwischen den Personen geachtet werden, um nicht ihre Würde zu schmälern. Hier bleibt die Tugendlehre ganz in den Spuren der Grundlegungsschriften. Die Tugendpflichten werden ohne Bezug auf die Glückseligkeit begründet und im Kollisionsfall muss stets die Moral vor der eigenen Glückseligkeit berücksichtigt werden. Die Glückseligkeit als Befriedigung aller meiner Neigungen wird nun durch die Bescheidenheit eingeschränkt, die ja eine „freiwillige Einschränkung der Selbstliebe eines Menschen“ (MST A 139) ist. Bescheidenheit kann darüber hinaus zu einer internalisierten Eigenschaft werden, wobei sie die Neigungen in ein angemessenes Verhältnis und eine strukturierte Ordnung bringt. Die Bescheidenheit kann bei Kant durchaus eine positive Eigenschaft sein, nämlich Beherrschung der Affekte und Leidenschaften. Diese sind es ja, die die der Achtung entgegengesetzten Laster hervorbringen. Wird die Bescheidenheit zur Tugend, werden die Affekte und Leidenschaften beherrscht, was zumindest langfristig die Befriedigung der Neigungen in ein „erträgliches System“ (KpV A 129) bringt und dementsprechend die eigene Glückseligkeit in einem recht verstandenen Sinne befördert. Dass Bescheidenheit auch ohne die Berücksichtigung der eigenen Glückseligkeit gefordert wird, bleibt dabei selbstverständlich unangetastet. Denn das moralisch Entscheidende ist die negative Pflicht, die der Achtung entgegengesetzten Laster zu unterlassen. Doch nach der entsprechenden Begründung der Tugendpflicht ergeben sich wie bei allen Tugendpflichten Konsequenzen für die Beförderung der eigenen Glückseligkeit. Die Bescheidenheit liegt im wohlverstandenen Eigeninteresse, und zwar genau dann, wenn die Befriedigung aller Neigungen unabhängig von der Moral einer Regelung und Struktur bedarf, um langfristig und widerspruchsfrei vollzogen werden zu können.
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Die Bescheidenheit schafft denn auch diejenige Eingrenzung der Neigungen, die vom Individuum in seinem Streben nach eigener Glückseligkeit gewollt werden kann. Es werden selbstverständlich unmittelbare Neigungen teilweise nicht befriedigt, wenn man der Bescheidenheit folgt. Aber das bedeutet keine langfristige Verminderung der eigenen Glückseligkeit, sondern gerade umgekehrt eine langfristige Steigerung und reflexive Klärung des eigenen Glücksstrebens. Vermeintliche Affekte und Leidenschaften, die das Individuum in seiner starren Eigenliebe als notwendige Bestandteile der eigenen Glückseligkeit betrachtet, erfahren durch die Bescheidenheit eine reflexive Klärung und gegebenenfalls eine Zurückweisung. So ist das Individuum durch seine Dopplung als Vernunft- und Naturwesen in einem internen Konflikt der Hierarchisierung von Neigungen und Pflichten eingebunden. Sobald man die unmittelbare Befriedigung der Neigungen einer reflexiven Klärung unterzieht, ergeben sich Differenzen zwischen unmittelbarer und reflektierter Neigung. Letztere ermöglicht dem Individuum der Moral entsprechend zu handeln und zugleich die eigene Bedürfnisstruktur einer Klärung und Ordnung zu unterziehen, so dass zumindest in konkreten Fällen eine Übereinstimmung von moralischer Rationalität und sinnlicher Neigung möglich und erstrebenswert wird. Wie sich zeigte können Moral und Glück in der Achtungspflicht partial vermittelt werden. Die Achtung Fremder als Bescheidenheit liegt auch im wohlverstandenen Eigeninteresse des Individuums. Kant führt in der Folge drei konkrete Laster an, die der Pflicht zur Achtung Fremder entgegengesetzt sind. Und dies deshalb, weil die Achtung eine primär negative Pflicht ist, „sich nicht über andere zu erheben“ (MST A 119). Deshalb ist die Unterlassung der Achtungspflichten ein Laster, während die Unterlassung der Liebespflichten bloß Untugend darstellt. Kant nennt drei der Pflicht der Achtung für andere entgegengesetzte Laster: (1) der Hochmut, (2) das Afterreden und (3) die Verhöhnung. (1) „Der Hochmut […] ist eine Art von Ehrbegierde (ambitio), nach welcher wir anderen Menschen ansinnen, sich selbst in Vergleichung mit uns gering zu schätzen“ (MST A 144). Davon unterschieden ist der Stolz als Ehrliebe, dieser ist „Sorgfalt, seiner Menschenwürde in Vergleichung mit anderen nichts zu vergeben (der daher auch mit dem Wort des edlen belegt zu werden pflegt)“ (ebd.). Dieser Stolz kann aber zumindest zu einem „Fehler“ werden, wenn er „bloß ein Ansinnen an andere ist, sich mit seiner Wichtigkeit zu beschäftigen“ (ebd.). Wie sich im Hochmut abermals zeigt, ist das Bestreben nach Stolz, nach Selbstachtung, ein nicht nur erlaubter, sondern gar gebotener Zweck jeden Individuums. Denn natürlich ist jeder verbunden die Achtung für andere zu erhalten, aber zugleich ist man jederzeit verbunden bei einer selbst erfahrenen Missachtung seiner Menschenwürde in Vergleichung mit anderen nichts zu vergeben, d. h. seine
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eigene Selbstachtung zu verteidigen und nicht durch Kränkungen in Gewissensbisse zu verfallen. Die Eigenliebe findet nur dort ihre Grenze wo sie sich über andere erhebt und sie, wenn auch subtil und verschleiert, auffordert sich bloß mit der scheinbaren Wichtigkeit der eigenen Person zu beschäftigen. Diese grenzenlose Eigenliebe wird spätestens dann zum Laster, wenn sie andere Personen geringer schätzt als die eigene Person. Abermals findet die Befriedigung der eigenen Glückseligkeit ihre deutliche Grenze an der Achtung für andere. Sie müssen als ebenbürtige Personen geachtet werden und dürfen nicht in Vergleichung mit sich selbst gering geschätzt werden. Der Hochmut ist zudem ein hervorragendes Beispiel dafür, dass die Tugenden nur scheinbar der eigenen Glückseligkeit widersprechen. Wenn der Hochmut auch eine unmittelbare Neigung ist, so doch keine reflexiv vertretbare. Eine reflexive Befriedigung der eigenen Neigungen berücksichtigt gerade die moralischen Forderungen der Tugendpflichten und vermittelt Moral und Glück durch eine reflexive Klärung der eigenen Neigungen. So ist der Hochmut, wie Kant deutlich macht, nicht nur eine Torheit, sondern sogar eine Narrheit. Die Torheit erstrebt etwas, das in bestimmten Verhältnissen gar nicht den Wert eines Zwecks hat (vgl. MST A 145). Der Hochmut erstrebt sich über andere Personen zu stellen und sinnt ihnen an, dass sie sich im Vergleich zu uns gering schätzen sollen. In wechselseitigen Abhängigkeits- und Achtungsverhältnissen, die überdem der allgemeinen Kontingenz der Welt unterliegen, wo jeder jederzeit in Not und Leid geraten kann, ist aber gerade diese gleiche Anerkennung der Achtung aller eine notwendige Bedingung für das eigene Glück. Denn nur unter dieser Voraussetzung kann eine allgemeine wechselseitige Achtung und teilnehmende Empfindung für andere realisiert werden. Narrheit bedient sich Mittel zu einem Zweck, die gerade das Entgegengesetzte des erstrebten Zwecks hervorbringen. Der Hochmütige erstrebt zwar die Achtung für seine Person, diese wird ihm aber gerade durch sein Verhalten, dass er sich über andere erhebt, entzogen. Das eigensüchtige Verhalten des Hochmütigen schlägt in den eigenen Nachteil um, so dass der Hochmütige eine Missachtung durch andere erfährt. So ist denn die Befolgung der Pflicht zur Achtung anderer im wohlverstandenen Eigeninteresse des Individuums. Denn durch aufrichtig bezeugte Achtung wird (meist) der eigenen Person ebenso Achtung entgegengebracht. Torheit und Narrheit schaden langfristigem dem eigenen Glücksstreben. (2) Die Afterrede bzw. die üble Nachrede ist die „auf keine besondere Absicht angelegt Neigung […] etwas der Achtung für andere Nachteiliges ins Gerücht zu bringen“ (MST A 145). Eine solcherlei üble Nachrede nennt Kant, wie alle Vergehen gegen die Achtungspflichten insgesamt, einen „Skandal“ (MST A 146). Indem die Achtung für andere dadurch geschwächt wird, wird auch der „Antrieb zum Sittlichguten“ (ebd.) geschwächt, weil auf der Achtung der Antrieb zum Sittlichen
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insgesamt beruht. Gegen uns sollen wir moralisch handeln, weil wir zur Selbstachtung verbunden sind, gegen andere sollen wir moralisch handeln, weil auch sie ein Recht auf Achtung haben. Das Afterreden entspricht „einer hämischen Lust an der Bloßstellung der Fehler anderer“ (ebd.). Sie versucht sich der Meinung zu versichern, genauso gut, zumindest nicht schlechter als andere Menschen zu sein. Da Beispiele der Achtung, welche durch andere gegeben werden, die Bestrebungen nach nachahmenden moralischen Handlungen anregen, wird umgekehrt durch die Afterrede die Achtung vor der gesamten Menschheit verringert, „um endlich auf unsere Gattung selbst den Schatten der Nichtswürdigkeit zu werfen“ (ebd.). Deshalb ist die „Ausspähungsucht der Sitten anderer“ (ebd.) der Pflicht zur Achtung anderer entgegengesetzt. Vielmehr muss man im öffentlichen Urteil über andere Milde walten lassen oder in bestimmten Fällen die Fehler und Schwächen ganz verschweigen. Die zugrunde liegende Triebfeder des Lasters zum Afterreden ist wie bereits erwähnt eine egoistische und insofern glücksbezogene. Man möchte sich darüber versichern gut oder zumindest nicht schlechter als andere zu sein. Gerade dieses Laster impliziert, dass das eigene „gut sein“ eine fundamentale Neigung innerhalb des egoistischen Glücksstrebens ist. Dieses „gut sein“ ist eine Form der Selbstachtung, die aber die ursprüngliche Form der Selbstachtung als Grund der Moralität in ihr Gegenteil verkehrt. Dieser Sachverhalt wird im kantischen Text nicht explizit ausbuchstabiert, lässt sich aber sachlich rekonstruieren. Es zeigt eindringlich die Vermittlung von Moral und Glück in den konkreten Tugenden und Lastern der Tugendlehre. Denn nun stehen nicht mehr beliebige Objekte der Neigungen in Widerstreit mit moralischen Gegenständen, sondern die Selbstachtung als ursprünglich moralischer Gegenstand ist zugleich Gegenstand der Neigungen. Dabei wird zugleich die hierarchische Ordnung zwischen Moral und Glück umso deutlicher. Denn die unmittelbare Neigung nach Selbstachtung als Grund des Afterredens verkehrt gerade den Sinn der Selbstachtung als in sich ruhender Zweck an sich selbst. So versucht das falsch verstandene Glücksstreben die Selbstachtung ausschließlich im Verhältnis zu anderen Menschen zu bestimmten und wird dadurch verleitetm, das Ansehen anderer Menschen zu verringern und das eigene Ansehen dadurch vermeintlich zu steigern. Diese unmittelbare Neigung wird abermals durch die Moral reflexiv geklärt und strikt eingegrenzt. Derlei egoistische Bestrebungen sind schlicht verbotene Laster. Durch die moralische Orientierung erfährt das Individuum eine reflexive Klärung der eigenen Neigungen und muss erkennen, dass der eigene Wert, die Selbstachtung, nicht im Verhältnis mit anderen Menschen bestimmt werden kann, sondern der Mensch je als Zweck an sich selbst der Selbstachtung fähig und verpflichtet ist. So ist denn die Tugend der Achtung für andere im wohlverstan-
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denen Eigeninteresse des Menschen, insofern er dadurch die moralische Selbstachtung als notwendige Bedingung des eigenen Glücksstrebens erkennt. Durch die moralische Selbstachtung wird der Mensch in seinem Glücksstreben unabhängig von den empirischen Verhältnissen zwischen den Menschen. (3) Nicht zuletzt stellt die Verhöhnung ein Laster wider die Pflicht zur Achtung gegen andere dar. Unter Verhöhnung versteht Kant die Tadelsucht, die Spottsucht und die bittere Spottsucht.¹¹⁷ Alle drei Formen sind vom Scherz als Vertraulichkeit unter Freunden zu unterscheiden. Dieser spielt zwar auch mit dem Fehler der anderen, dient der Belustigung und beinhaltet einen gewissen Tadel. Dabei wird indessen der Freund nicht tatsächlich in seiner Achtung herabgewürdigt oder gekränkt. Des Weiteren fällt die „spottende Abweisung der beleidigenden Angriffe eines Gegners mit Verachtung“ (MST A 147) nicht unter das Laster der Verhöhnung, weil hier der Spötter selbst gleichmäßig verspottet wird. So ist es denn grundsätzlich erlaubt beleidigende Angriffe mit Spott und Verachtung abzuwehren. Sobald aber moralische Interessen betroffen sind, ist selbst bei Beleidigung der eigenen Person nur eine ernsthafte Verteidigung angemessen.
Forkl, Markus: Kants System der Tugendpflichten, a.a.O., 232.
Schluss: Bewusstes Leben. Moral und Glück bei Kant Die Untersuchung der Tugendlehre zeichnet ein vielfältiges und erfrischendes Bild der kantischen Ethik. Dieses wird ermöglicht durch die Berücksichtigung der spezifischen Perspektiven sowohl der Kritik der praktischen Vernunft als auch der Tugendlehre. Liegt die Perspektive in der Grundlegung der Ethik noch auf der Freilegung und Begründung der transzendentalen Freiheit und des Sittengesetzes, so verschiebt sich diese Perspektive im Spätwerk auf den ganzen Menschen als vernünftiges Naturwesen und die Befolgung konkreter Pflichten. Dieser Perspektivenwechsel wird schon im Zweiten Hauptstück der Kritik der praktischen Vernunft mit den Kategorien der Freiheit eingeleitet. Diese ordnen alle Begehrungen des endlichen Bewusstseins unter die einigende Bedingung des Sittengesetzes. Dort vollzieht sich der Übergang von dem abstrakten Grundsatz des kategorischen Imperativs zu konkreten Gegenständen des Begehrungsvermögens. In der Lehre vom höchsten Gut vollzieht Kant explizit die Vermittlung von Moral und Glück durch die Postulate von der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes. Wenn auch unter Rekurs auf die Kategorien der Freiheit das höchste Gut als Problem plausibel rekonstruiert werden kann, so bleibt Kants Lösung insofern unbefriedigend als es das Glück dem Handeln des Individuums systematisch entzieht und in einem allzu vereinfachten hedonistischen Glücksbegriff befangen bleibt. Das Individuum ist auf die gütige Hilfe Gottes angewiesen, damit seine vorgegebenen Neigungen und Begierden durch eine adäquate Einrichtung der Welt befriedigt werden. Gerade hier setzt aber die folgende Tugendlehre an, indem sie einerseits die metaphysische Makroperspektive der Lehre vom höchsten Gut voraussetzt und insofern daran anknüpft. Andererseits erfahren nun Moral und Glück im Mikrobereich des konkreten Handelns eine plausible Vermittlung. Das Glück des Individuums wird durch die Befolgung der konkreten Tugendpflichten reflexiv bereichert,verändert und befördert. Dabei behält Kants hedonistischer Glücksbegriff aus der Grundlegung der Ethik auch in seinem Spätwerk seine Geltung. Doch durch eine Vermittlung im konkreten Handeln erfahren die Neigungen eine reflexive Klärung und Bereicherung. So bleibt das eigene Glück letztlich immer auf den Lustgewinn durch die Befriedigung der Neigungen ausgerichtet. Und die primäre Ausrichtung auf die Befolgung der Tugendpflichten ist die unbezweifelte Basis der gesamten kantischen Ethik. Die Befolgung der Tugenden erschließt indes zugleich die unmittelbaren Neigungen dem Handlungsspielraum des Individuums, weil es durch die Tugenden in ein reflexives Verhältnis zu den Neigungen treten kann. Dadurch werden natürlich manche unmittelbare Neigungen zu-
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gunsten der Moral kategorisch zurückgewiesen, insgesamt aber erfährt das System der Neigungen eine innere Kohärenz und Bereicherung durch die Orientierung an den Tugenden. Auf diese Weise werden im Durchgang durch die einzelnen Tugendpflichten Moral und Glück im Konkreten vermittelt. Die Vermittlung von Moral und Glück lässt sich im kantischen Theorierahmen strukturell beschreiben, bleibt aber letztlich die nicht endende Aufgabe eines bewussten Lebens, das um seine Neigungen weiß, klug mit diesen umgeht und die Moral als letzten Orientierungspunkt versteht. Dieses erweiterte Bild der kantischen Ethik scheint mir viele neue und interessante Forschungsfelder und -kooperationen zu erschließen. Im kantischen Werk selbst muss die Anthropologie umso interessanter erscheinen, als man die grundsätzliche Ausrichtung auf ein bewusstes Leben akzeptiert. Denn die Tugendpflichten setzen die innere Freiheit von Affekten und Leidenschaften voraus, und der Umgang mit diesen ist ein umfassendes Thema der Anthropologie. So münden die ethischen Grundlagen in eine philosophisch fundierte Lebenskunst, die konkrete Empfehlungen im Umgang mit den eigenen Neigungen geben kann. Dadurch erfährt die kantische Ethik eine enorme inhaltliche Bereicherung, die sie anschlussfähig für einen interdisziplinären Dialog mit Psychologen und Soziobiologen macht. Denn zumindest auf der Ebene konkreter Tugendpflichten, und noch mehr auf der Ebene konkreter Affekte und Leidenschaften, wird die Vermittlung von naturwissenschaftlichen und philosophischen Perspektiven unumgänglich.
Siglenverzeichnis Die Werke Immanuel Kants werden nach dem Text der Werkausgabe (12 Bde., hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 200412) zitiert; zunächst durch Angabe der Sigle, dann der Paginierung der Originalausgabe (A- und/ oder B-Auflage) und schließlich der Seitenzahl (Beispiel: KpV A 15). Anthr. Anthropologie in pragmatischer Absicht GMS Grundlegung zur Metaphysik der Sitten KpV Kritik der praktischen Vernunft KrV Kritik der reinen Vernunft KU Kritik der Urteilskraft MAN Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft MSR Metaphysik der Sitten. Erster Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre MST Metaphysik der Sitten. Zweiter Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre Rel. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Alle übrigen Werke Kants werden nach den Gesammelten Schriften zitiert (hg. von der (Königlichen) Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1900 – 1966), und zwar mittels der Abkürzung AA, Angabe des Bandes und der Seitenzahl (Beispiel: AA XX 254). Hervorhebungen des Quellentextes durch Kant werden bei der Zitation grundsätzlich übernommen. Anderweitige Hervorhebungen oder Änderungen stammen vom Verfasser und sind entsprechend kenntlich gemacht (Herv. d.Verf.).
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Sachregister Achtung 18, 42, 75, 87, 90, 93, 103 ff., 114 f., 122 ff., 133, 136 ff. – Selbstachtung 13, 104, 139 ff. – Achtungspflicht/Pflicht zur Achtung 6, 78, 86, 90 ff., 122, 127, 136 ff. – Achtungsverhältnis 140 – Missachtung 139 f. – Achtungsverstoß 137 – Verachtung 142 Affekte 13, 21 ff., 36, 88, 95, 118 ff., 130 ff. Anthropologie 22, 25, 95,0 118, 144 Autonomie 4, 9, 68, 94, 98, 103, 114, 129, 135 f. Begehrungsvermögen 5, 18 ff., 29 ff., 38, 51 f., 66 ff., 75, 143 Begierde 7, 24, 48, 53, 66, 139, 143 Bestimmungsgrund 4, 8, 15 f., 25, 29, 31 f., 34, 43 f., 46 f., 50 ff., 60 f., 66 ff. Bewusstsein 13, 15 f., 34 ff., 41, 52, 62, 67 f., 101, 129 f.,134, 143 Eigene Vollkommenheit 5, 77, 79, 87 Eigeninteresse 24, 35, 49, 101, 104, 111 f., 114, 119 f., 138 ff. Einleitung zur Tugendlehre 14; 70, 77, 83 Einleitung zur Metaphysik der Sitten 17, 81 Elementarlehre (der Tugendlehre) 6, 28, 70, 78 f., 81, 85 ff., 94, 117, 122, 136 Entscheidung 13, 15, 67 f., 107, 109 ff., 130, 132 – Klugheitsentscheidung 111 f. Erlaubnis 86, 109, 112, 124 ff. Freiheit 3 ff., 9 ff., 16 ff., 26 ff., 42, 49, 52, 55 f., 62 ff., 67 ff., 75 ff., 83 f., 88 ff., 94 ff., 102 f., 106 f., 115, 117, 121, 135 f., 143 f. – Entscheidungsfreiheit 10, 13, 109 – Handlungsfreiheit 10, 72 – Freiheit des Willens 17; 29; 52, 67 f., 89 – transzendentale Freiheit 4, 9 f., 12 f., 34, 67 f., 72, 75, 89, 94 f., 135 – Freiheit der Willkür 67 ff., 88 f., 95 – innere Freiheit 91, 95, 117, 144
– Freiheitsfähigkeit 88, 91, 106 ff., 115 f. – Freiheitsantinomie 9 ff., 14 f., 29 Gebot 20, 22, 31, 61, 69, 77, 81 f., 86, 90, 92, 106 f., 110 f., 115, 124, 126, 130 Gefühl 1, 16, 18 ff., 21, 29, 31 f., 41 f., 66, 68, 70, 123, 126, 128, 130 ff. – Gefühl der Lust/Unlust, Lustgefühl 16, 19 f., 31 f., 66, 68, 70, 118 – Mitgefühl 130 Gesetz 10 ff., 16 f., 19 f., 25 f., 29 ff., 34, 36 f., 41, 43, 45 ff., 49 ff., 53 ff., 58 f., 61, 63, 67 ff., 82, 84 ff., 90 ff., 97 ff., 105 f., 116, 118, 124, 126 – Sittengesetz/Moralgesetz/Pflichtgesetz 4 f., 25, 36, 38, 42, 45 ff., 56, 61, 65, 67 f., 71 f., 84, 98 f., 122, 124, 143 – Gesetz der Natur/Kausalgesetz 12, 16, 19, 53 f, 71, 122 – Vernunftgesetz 32 – ethisches Gesetz/Gesetzgebung 74, 83 – juridische/äußere Gesetzgebung 74, 83 – Gesetzesform 75 Gewissen 15 f., 67, 93, 135 ff., 140 Glück/Glückseligkeit 1 ff., 9, 13 ff., 17 f., 22 ff., 32 ff., 51 ff., 68, 73 ff., 87 f., 92 ff., 96 ff., 109, 111 f., 114 ff., 138 ff. – Eigene Glückseligkeit 6, 32, 47, 62, 96, 99, 124 ff., 130 f., 138 – Fremde Glückseligkeit 5, 37, 74, 77, 79, 87, 125 ff., 129, 132 – Glücksstreben 3 f., 7, 17 f., 23, 25 f., 36, 53 f., 60, 62, 64, 70, 73, 76 f., 89, 92, 98 ff., 108, 110 f., 114., 116 ff., 123 f., 126 f., 132, 139 ff. Handlung 5, 7, 10, 12, 16, 18 ff., 26, 29, 31, 34, 37 f., 48 f., 51 ff., 55 ff. 60, 62 ff., 71 ff., 83 ff., 91 f., 94 f., 97 f., 103 ff., 109, 111, 115 ff., 120, 123, 125, 127 f., 130, 132 f., 136 f., 141, 143 – Handlungstheorie 19, 23, 65, 67, 72, 84 – Handlungssubjekt 23, 35, 48, 53, 55 ff., 59, 70, 117
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Sachregister
Homo noumenon 4, 18, 89, 94, 103, 108 f. Homo phaenomenon 5, 25, 94, 103, 108 f. Imperativ 24 f., 37, 67 ff., 106 – kategorischer Imperativ 5, 8, 10, 13 ff., 20, 22 f., 25 ff., 29 f., 35 ff., 44 f., 61, 63, 69 f., 75 f., 84, 97, 106, 108, 112, 123, 143 – hypothetischer Imperativ 4, 18, 23 f., 26, 32, 37, 51, 112 Innere Handlung 82 ff., 97 Kategorien der Freiheit 4 f., 9, 18, 26 ff., 33 ff., 49, 56, 62 ff., 68 ff., 73, 76 f., 90, 143 Klugheit 24 ff., 101, 103, 106, 111 f., 115 ff., 119, 127, 129 ff. Kultur aller Vermögen 6, 37, 78, 87, 90 f., 97, 106 f., 116 f., 120 f. Kultur der Moralität 6, 37, 78, 87, 90 ff., 97 ff. Lebenswelt 16, 21, 36, 55, 62 f., 70, 75, 77, 89, 103, 112 Legalität 83, 98 Leidenschaften 13, 21 f., 24, 36, 88, 95, 121, 130, 138 f., 144 Lust/Unlust 15 f., 18 ff. 31 f., 35 f., 54, 60, 66, 68 ff., 74, 105, 111, 113 f., 118, 120 f, 126 f., 141, 143 Maxime 4, 16, 18, 20 ff., 26, 32, 35 ff., 42, 51 ff., 67 ff., 75 f., 84 ff., 91 f., 97 ff., 109, 115 ff., 120, 123 f., 127 ff., 132 Menschheit 73, 76, 90, 101, 110, 113, 115 ff., 133 ff., 141 Mitleid 130 Moralisches Wohlsein 6, 135 Moralität 5 f., 17 f., 22, 25, 37 ff., 45, 53, 56, 64, 70, 76, 78, 83, 87, 90 ff., 97 ff., 121 f., 141 Naturwesen 5, 14 ff., 18, 26, 64 f., 68, 70, 72 ff., 79, 88 ff., 96, 98, 100, 103, 105 ff., 116124, 126, 128 ff., 132, 136, 139, 143 Neigung 7, 13, 15, 21 ff., 26, 30, 35 f., 48 ff., 57 ff., 69 f., 74, 78, 93, 98 f., 101, 104,
106, 110 ff., 114, 116 ff., 125 f., 129, 133 f., 138 ff., 143 f. Person/Persönlichkeit 21, 23, 36 f., 42, 51, 59, 62, 69, 90 ff., 95, 97 f., 101 ff., 108, 112 ff., 117, 119 ff., 125 ff., 131 f., 134 f., 137 f., 140, 142 Pflicht 3, 5 f., 8, 13 f., 16, 20 f., 25, 27, 36, 44 ff., 48 f., 61, 63, 65, 70 ff., 81 ff., 111 ff., 120 ff. – Direkt-/indirekt-ethische Pflichten 83 Physische Wohlfahrt 6, 87, 92, 121 f. Prinzip/Prinzipien 15, 20, 26, 32, 37, 42, 46, 48, 52, 57 ff., 63, 65, 75 f., 78, 88 f., 91, 95, 97, 100, 102, 105 ff., 109 ff., 114 f., 117 Rechtspflichten 20, 71, 78 f., 81 ff., 93, 95 Reflexion/Selbstreflexion 22, 47, 97 f., 105, 118 f., 121, 130 Tierheit 33, 116, 118 Triebfeder 29, 44, 74, 82 f., 97 f., 105 f., 141 Tugend 6, 18, 24, 39 ff., 44, 46, 48 ff., 57 f., 60 ff., 65, 76 f., 82, 94, 96 f., 102, 104, 116 ff., 120 f., 127, 133 f., 138 ff., 143 f. – Tugendhandlung 50 – Tugendethik 2 – tugendhaft 46, 55, 59, 89, 98 f., 105, 127 – Tugendkatalog 97 – Tugendpflichten 5 f., 20, 23 f., 28, 38, 70 f., 73, 76 ff., 81 ff., 89 ff., 96 ff., 103 ff., 114 ff., 120 ff., 126 ff., 130 ff., 134 f., 137 f., 140, 143 f. – Zwecke, die zugleich Pflicht sind 5, 27, 63, 75 ff., 83, 88 – notwendiger Zweck 21, 51 Verbot/verboten 22, 37, 69, 76, 81, 86, 89 ff., 94, 100, 102 ff., 107 ff., 111, 113, 115, 119, 133 f., 136, 138, 141 - Selbsttötungsverbot/Suizidverbot 109 – Handlungsverbot 109 Vernunft 5, 8, 10 f., 14 ff., 21 ff., 43 ff., 54 ff., 64 ff., 79, 88 ff., 96, 98 ff., 103, 105 ff., 122 ff., 126, 128 ff., 136, 139, 143
Sachregister
Wille 5, 8, 10, 13 ff., 25, 27 ff., 32 ff., 37 f., 43 ff., 56 f., 59 ff., 66 ff., 72 ff., 76 f., 89, 98, 131 Willkür 5, 13, 16, 21, 27, 47, 66 ff., 85, 88 f., 95, 107, 131 Zwang 10, 70, 74, 82 ff., 91, 96, 106, 118, 121 Zweck 5, 8, 14, 16, 21, 24 ff., 36 f., 39, 42 f., 45, 47, 51, 58, 60 f., 63, 65, 70 ff., 83 ff.,
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88 ff., 96 ff., 105 f., 108 f., 113 ff., 120, 123 ff., 129, 133 ff., 137, 139 ff. Zwecksetzung 21, 71, 76, 82 ff., 88, 91, 94, 96, 99 f., 102 f., 108, 110 f., 113, 120 Zweckrational/-orientiert/-gerichtet 24, 61, 75, 85, 92, 97 Naturzweck 73 Zweckformel 97 Selbstzweckhaftigkeit 129