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German Pages [22] Year 1951
ERNST JUNGER
UBER
DIE LINIE
VITTORIO KLOSTERMANN'
FRANKFURT AM MAIN
D I E E R S T E F AS S U N G D I E SE S E S S A Y S E R S C H I E N I N: ANTEILE/MARTIN HEIDEGGER ZUJ>160. GEBURTSTAG VI TT O RIO KL O S TE RMANN· FRANKFURT AM MAIN • 1950
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EHENE AUFLAGE. COPYRIGHT 1951 BY VITTORIO DRITTE DURCHGERSANKFURT/MAIN _ ALLE RECHTE VORBEHALTEN XLOSTERMANN, F MANY _ DRUCK VON C. BRÜGEL & SOHN, ANSBACH - PRINTED IN GER
In den Eingangssãtzen des "Willens zur Macht" bezeichnet Nietzsche sich als "den ersten vollkornmenen Nihilisten Europas, der aber den Nihilismus se1bst schon in sich zu Ende ge1ebt hat, - der ihn hinter sich, .unter sich, auBer sichhat" . Gleich darauf folgt die Bemerkung, daB sich in seiner Arbeit bereits eine Gegenbewegung ankünde, we1che "in irgendeiner Zukunft" jenen vollkornmenen Nihilismus ablõsen werde, wenngleich sie ihn als notwendig voraussetze. Obwohl seit der Konzeption dieser Gedanken mehr als sechzig J ahre verflossen sind, wirken sie noch immer erregend auf uns, als Sãtze, die sich mit unserem Schicksal beschãftigen. Sie füllten sich inzwischen mit Inhalt, mit gelebtem Leben, mit Taten und Schmerzen ano Das geistige Abenteuer bestãtigte und wiederholte sich in der Wirklichkeit. Wenn wir von unserem erreichten Standort auf jene Aussage zurückblicken, scheint sich ein Optimismusin ihr auszudrücken, der spãteren Betrachtern fehlt. Der Nihilismus wird also nicht als Ende angesehen, sondern vielmehr als Phase eines ihn umfassenden geistigen Vorganges, wie sie nicht nur die Kultur in ihrem geschichtlichen Verlaufe, sondern auch der Einzelne in seiner persõnlichen Existenz in sich zu überwinden und auszutragen oder vielleicht auch wie eine Narbe zu überwachsen vermag.
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Die günstige Prognose wird, wie gesagt, von spãteren Betrachteni nicht geteilt. Die Nâhe macht die Massive nur in den Einzelheiten deutlicher, doch nicht im Umfange. Dazu kommt, daB innerhalb der vollen Entfaltung des aktiven Nihilismus das Vordergründige des Unterganges zu stark wird, um Erwãgungen noch Raum zu lassen, die über die Schreckenswelt hinausführen. Das Feuer, der Terror, die Leidenschaften herrschen, wenngleich nur eine Weile lang. Die Einsicht freilich vermag der Geist im Bannkreis der Katastrophe nicht zu vollziehen; es liegt auch kaum Trost in ihr. Was kõnnte es im Augenblicke, in dem Ilions Palãste stürzen, dem Trojaner sagen, daf Aeneas ein neues Reich begründen wird? Diesseits und jenseits der Katastrophen mag der Blick sich auf die Zukunft richten und mag die Wege übersinnen, die dorthin führen - in ihren Wirbeln aber regiert die Gegenwart.
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Zwanzig J ahr früher hatte Dostojewski die Niederschrift des Raskolnikow" beendet, den er 1886 im "Russischen Bote~" erscheinen lieB. Mit Recht hat man seit Iangern díese Schõpfung als die andere groBe Quelle zur Kenntnis des Nihilismus angesehen. Das Objekt der Betrachtung ist genau das gleiche wie im "Willen zur Macht"; verschieden dagegen ist die Perspektive der Beobachtung. Das Auge des Deutschen richtet sich auf die geistig-konstruktiven Maííe, und ein Gefühl des Wagemutes, des hõheren Abenteuers begleitet seinen Blick. Den Russen dagegen beschãftigen die moralíschen und theologischen Iuhalte. Nietzsche erwãhnt ihn flüchtig und kann nur Teile seines Werkes gekannt haben, an dem ihn vor allem die psychologische, das heiBt die handwerkliche Meisterschaft fesselte. Beide Autoren wurden verschiedentlich zu N apoleon in vergleichende Beziehung gebracht. Am gründlichsten ist das in einer besonderen Arbeit von Walter Schubart geschehen. Dieser Vergleich lie'gtnahe, da sowohl im "Willen zur Macht" ais auch im "Raskolnikow" der Hinweis auf Napoleon eine bedeutsame Rolle spieIt. Das groííe, von den 6
letzten Fesseln des 18. Jahrhunderts befreite Individuum wird hier in seiner Licht- und dort in seiner Schattenseite wahrgenommen - hier im GenuB der neuen Maeht die fl~ssig einstrõmt, und dort im Leiden, das untrennbar mit dl,eser ~~cht verbunden ist. Beide Verfahren ergãnzen sich wie POSlÍIV-und Negativabzug zur Vorstellung der geistigen Realitãt, AIs günstiges Zeichen darf gedeutet werden daf beide Autoren in der Prognose übereinstimmen. Diese ist auch bei Dostojewski optimistisch; er sieht den Nihilismus nicht aIs Ietzte, tõdliche Phase ano Er hãlt ihn vielmehr für heilbar und zwar für heilbar durch deu Schmerz, Das Schicksal des RaskoInikow gibt im Modell die Vorschau auf die groíle Wandlung, an der zahllose Millíonen teilhaben. Man hat auch hi~r deu Eind~uck, daB der Nihilismus als notwendige Phase mnerhalb emer auf bestimmte Ziele gerichteten Bewegung begriffen wird.
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Die Frage, welche Punkte die Bewegung inz:wisehen er~e.ichte, ist da~er ersten Ranges und drãngt sich sogleich beí jeder Beurteilung der Lage auf, in allenGesprãchen und Selbstgespra.c?en, d~es~chmit der Zukunft besehãftigen. Die Antw'~rt freilich, wie immer man sie formulieren und wie man sie .unterbauen mõge, wird stets bestreitbar sein. Der Grund liegt darin, daíí sie weniger von Tatbestãuden ab~ãngt, als von der Lebensstimmung und Lebensaussícht uberhaupt. Das macht sie wiederum in anderer und zwingenderer Weise aufsehluBreich. Der Optimismus oder aueh der Pessimismus einer solchen J\ntwort r~nkt sich zwar an Beweisen, doe h gründet er sich nIch.t ~ufsle. Es h.ande~t sic.h um versehiedene Range; dem Optimísmus verleiht die Tiefe, und dem Beweis die Klarheit die Überzeugungskraft. Der Optimismus kann Schichten erreichen, in denen die Zukunft schlummert und befruchtet wird. In diesem Falle begegnet man ihm ais einem Wissen, das tiefer reicht als die Gewalt der Tatsachen - ja, das Tatsachen sehaffen kann. Sein Schwerpunkt liegt eher
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im Cha~akter als ín der WeIt. Ein so fundierter Optimismus ist an sich zu schãtzen, insofern seinen Trãger ja der Wille, die Hoffnung und auch die Aussicht beIeben muB, im WandeI der Geschichte und ihrer Gefahren zu bestehen. Darin liegt viel, ... . AIs Widerspruch zu diesem Optlmlsmus. ist nicht d~r Pessimismus anzusehen. Die Katastrophe ist von pesslmistischen insbesondere von kuIturpessimistischen Strõmungen u~ringt. Der Pessimismus kann sich, wie bei Burckhardt als Eke1 ãuBern vor dern, was man heraufkommen sieht ~ man wendet dann die Augen auf'schõnere, wenngIeich vergangene Bilder ab. Dann gibt es Ums.chwü~.ge zum Optimismus, wie etwa bei Bernanos - das Licht gIanzt auf, wenn es ganz dunkel geworden isto