Begegnungen mit Bismarck: Bismarck-Erinnerungen 1871-1890; Fürst und Fürstin Bismarck 3806242097, 9783806242096

Otto von Bismarck - der Mensch hinter dem Mythos "Fürst und Fürstin Bismarck" und "Bismarck-Erinnerungen

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German Pages 856 [901] Year 2020

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Table of contents :
Cover
Band 1: Fürst und Fürstin Bismarck
Titel
Impressum
Inhalt
Phantom im Scheinwerferlicht – Eine Einführung von Oliver F. R. Haardt
Vorwort
I. Aus Berlin und Pommern. 1846 bis 1853
II. Frankfurt. November 1853 bis Januar 1859
III. Aeußerungen über Musik. 1853 bis 1871
IV. Petersburg. 1859 bis 1862
V. Berlin. September 1862 bis November 1863
VI. Zusammengehen mit Oesterreich. Dänischer Krieg. November 1863 bis Juli 1864
VII. Allmähliche Lockerung des österreichischen Bündnisses. Gasteiner Vertrag. August 1864 bis August 1865
VIII. Merseburg. Lauenburg. Biarrits. Ende des österreichischen, Abschluß des italienischen Bündnisses. Antrag auf deutsches Parlament. Mobilmachungen. September 1865 bis Juni 1866
IX. Ende des Deutschen Bundes. Krieg und Frieden. Juni bis September 1866
X. Putbus. Gründung des norddeutschen Bundes. Luxemburger Frage. Reform des Zollvereins. Varzin. Eröffnung des Bundesrats. Herbstsitzung des Reichstags. September 1866 bis Oktober 1867
XI. Parlamentarische Schwierigkeiten mit allen Parteien. Wiederholte Krankheitsanfälle. Stellungnahme zur spanischen Königswahlfrage. Französische Kriegserklärung. Oktober 1867 bis Juli 1870
XII. In Frankreich. Deutsches Kaisertum. Frieden. Reichstag. Varzin, Gastein und Salzburg. Schluß. August 1870 bis Oktober 1872
Namensregister
Abbildungsnachweis
Rückcover Band 1
Band 2: Bismarck-Erinnerungen
Titel
Impressum
Vorwort
Inhaltsübersicht
1870‒1871 Erste Begegnungen mit Bismarck. Der Verfasser im Norddeutschen, später im Deutschen Reichstag ‒ Erstes Gespräch mit dem Kanzler ‒ Abendgesellschaften bei Bismarck
1872 Bismarck über Erinnerungen an Petersburg, Konflikte in den Sechzigerjahren u. s. w. ‒ Politische Verstimmung
1873 Bismarck über Napoleon III. und Thiers ‒ Parlamentarisches Diner, Gespräche über innere und höfische Konflikte, Presse etc. ‒ Bismarcks Konflikt mit dem bayerischen Gesandten Pergler v. Perglas ‒ Klagen über Kaiserin Augusta. Schah von Persien in Berlin – Bismarck über die Reichsgründung und die französischen Monarchisten
1874 Bismarck über Italien. Ablehnung eines kostbaren Geschenks des Königs Viktor Emanuel – Zwanglose Tischgespräche – Klagen über parlamentarische Schwierigkeiten – Kaiser Wilhelm I. über Konflikte wegen der Armeereorganisation – Entwicklung und Lösung des Militärkonflikts – Begeisterung der Prinzessin Karl, Schwester der Kaiserin Augusta, für Bismarck – Anspruchslosigkeit der Fürstin Bismarck – Bismarck über das blindsche Attentat – Fall Arnim
1875 Wiederum Fall Arnim – Bismarck über gelegentliche Schwierigkeiten mit dem Kaiser – Graf Schuwalow – Der „Krieg in Sicht“-Artikel – Erzählungen über die Geburt Wilhelms II. – Der Verfasser in Varzin
1876 Bismarck gereizt über die neue Orthographie – Bismarck über Vergeben und Vergessen – Wieder in Varzin. Klagen Bismarcks über Ministerkollegen und Schwierigkeiten mit dem Kaiser
1877 Mit Moltke und Roon bei Bismarck, Gespräch über die Emser Depesche – Mit General Ignatieff bei Bismarck – Leipzig als Sitz des Reichsgerichtes – In Friedrichsruh. Klagen über Kaiserin Augusta – Berufung Bennigsens in das Ministerium erwogen – Bismarck über die Nikolsburger Verhandlungen – Die Prinzen und die Dotationen 1871
1878 Mißverständnis zwischen dem Kaiser und Bismarck wegen des Planes, Bennigsen ins Ministerium berufen zu lassen – Rede Bismarcks über die Orientfragen – Tod Pius IX., Leo XIII. (Kardinal Pecci), sein Nachfolger – Rache- und Haßgefühle Bismarcks – Zwistigkeiten Bismarcks mit dem Finanzminister Camphausen – Schwierigkeit, einen Finanzminister als Nachfolger Camphausens zu finden – Graf Otto Stolberg wird Vizepräsident des Staatsministeriums – Moltke über die Unmöglichkeit, aus einem Kriege mit Rußland Nutz
1879 Bismarcks wirtschaftliche Pläne – Windthorst über Unterordnung der kirchlichen unter die politischen Fragen – Bismarck
1880 König Albert von Sachsen über Bismarck – Der Verfasser in Friedrichsruh – Bismarck über Diplomatie – Minister Hofmann wird Staatssekretär für Elsaß-Lothringen, v. Boetticher Staatssekretär des Innern
1881 Schwierigkeiten wegen Bismarcks Reizbarkeit – Bismarcks Konflikt mit dem Minister des Innern Grafen Botho Eulenburg; der Fall Rommel Kultusminister v. Puttkamer wird Eulenburgs Nachfolger – Konflikt zwischen Bismarck und dem Finanzminister v. Bitter in Sachen des Hamburger Zollanschlusses – Alexander III. Tunis. Italiens Schwankungen – Rücktrittsgesuch des Vizepräsidenten des Staatsministeriums Grafen Stolberg – Klagen Bismarcks über Schwierigkeiten und Intrigen, Einfluß der Kaiserin Augusta, Konflikt mit Stosch – v. Goßler Kultusminister – Große Pläne Bismarcks – Prinz Wilhelm – Kirchenpolitisches – Bismarck für den Sonntag als Wahltag. Kaiser Wilhelm über die Flucht von 1806 – Reichstagswahlen – Bismarck über das Ergebnis der Reichsta als Kanzlerkandidaten. Der Name Mommsen dem Kaiser gänzlich unbekannt – Kaiserliche Botschaft über Sozialpolitik – Bismarck über Hundesperre und Reichstagswahlen
1882 Neujahrsempfang beim Kaiser – Eine inhaltreiche Staatsministerialsitzung – Geburtstagsempfang beim Kaiser – Tabaksmonopol – Parlamentarische Verwicklungen – Empfang beim Kronprinzen, beim Prinzen Wilhelm und beim Kaiser anläßlich der Geburt des nachmaligen Kronprinzen – Bismarck über Kulturkampf und Kurie – Bischöfe Kopp und Korum – Bismarcks Reden zum Tabakmonopol – Abschiedsgesuch des Finanzministers v. Bitter – Bismarck über die Radziwills – Scholz Finanzminister – Kulturkampf-Stimmung – Empfang des Verfassers vor Abreise nach Rußland beim Kaiser; dessen Erinnerungen an frühere russische Reisen – Der Verfasser in Varzin. Bismarck über Feinde im eigenen Lager, über wirtschaftlichen Unitarismus u. s. w. – Graf Hatzfeldt Staatssekretär 48er-Erinnerungen – Wohlwollen des Kaisers für den Verfasser – Prinz Wilhelm über England – Abendgesellschaft bei der Kaiserin in der „Bonbonniere“
1883 Der Kaiser und Bismarck über Gambettas Tod – Differenzen Bismarcks mit den Ministern. Gegen die Doppelmandate der Parlamentarier – Rücktritt des Kriegsministers v. Kameke – General v. Bronsart Kriegsminister. Das Militärkabinett wird unabhängig vom Kriegsministerium – Rücktritt des Generals v. Stosch von der Leitung der Admiralität, General v. Caprivi sein Nachfolger – Der Kaiser über Kommandogewalt, adlige Offiziere u. s. w. Ausführliche Äußerungen über den Rücktritt Stoschs und Kamekes – Der Kaiser über den Prinzen Wilhelm (nachmaligem Kaiser Wilhelm II.) – Bismarck über Abbau des Kulturkampfes – Dr. Schweninger wird Bismarcks Arzt – Gesandter v. Schlözer und der Vatikan – General v. Caprivi über Gefahr und Nützlichkeit eines Krieges Europa und Verdienste um Erhaltung des Friedens – Niederwald-Feier – La Société de Berlin – Klagen Bismarcks über Indolenz und politische Verständnislosigkeit des Kronprinzen – Der Kronprinz über spanische und römische Reiseeindrücke
1884 Herzliche Neujahrsansprache des Kaisers an die Minister – Tod Laskers – Anerkennende Äußerung des Kaisers über den Verfasser – Reibungen mit dem Papst – Bedeutsame Erklärungen Bismarcks im Ministerrat über Absicht, aus den preußischen Ämtern auszuscheiden – Interessanter Geburtstagsempfang beim Kaiser. Kaiser Franz Josef über Zentrum und Sozialistengesetz – Wiedereinsetzung des Staatsrats geplant – Randbemerkungen des nachmaligen Kaisers Wilhelm II. – Bismarck über erstes Auftauchen des Battenberger Heiratsplanes, Nord-Ostsee-Kanal, Erwerbung von Helgoland – Hoffestlichkeit, unter den Gästen der Burenpräsident Krüger, mit dem Bismarck plattdeutsch spricht – Bedeutsame Äußerungen Bismarcks über Kolonialpolitik, Verhältnis zu England, Unf des welfischen Herzogs von Braunschweig – Eröffnung des Staatsrats – Bismarck über parlamentarisches System und Säbelherrschaft – Der Afrikaforscher Stanley in Berlin
1885 Die Bismarck-Spende zum 70. Geburtstag – Die Feier von Bismarcks 70. Geburtstag – Ratschläge Bismarcks an den Verfasser für eine Reise nach Ungarn – Bismarck über den englisch-russischen Konflikt in Afghanistan und englische Unfreundlichkeit gegen Deutschland – Jesuitenintrigen, Karolinenfrage – Vorübergehende Kandidatur des Prinzen Heinrich für die braunschweigische Regentschaft – Wegwerfende Bemerkungen Bismarcks über den Reichstag
1886 25-jähriges Regierungsjubiläum des Kaisers – Bismarck und der Papst – Erregte Ansprache Bismarcks im Staatsministerium – Bismarck stellt dem Kronprinzen auf dessen Anfrage seine Bedingungen für das Verbleiben im Amte bei einem etwaigen Thronwechsel – Sehr scharfe Äußerungen Bismarcks für rigorose Behandlung politischer Gegner – Der Kaiser über das Sozialistengesetz – Bismarck und die päpstliche Kurie. Bismarck will die Grenze der Konzessionen an Rom durch Nationalliberale und Freikonservative bestimmen lassen, nicht mit Konservativen und Zentrum regieren – Die große Arbeitsleistung des alten Kaisers – Prinz Ludwig von Bayern (der nachmalige König Ludwig III.) zum ersten Male am Berliner Hofe – Bismarck über englisch-französische Spannung, bei der man England nicht völlig unterliegen lassen dürfe – Bismarck über Gemeinde und Priestertum bei Katholiken und Protestanten – Bismarck über „Reichstagsschwindler“, Rußland, den Battenberger, den Kronprinzen, Österreich u. s. w. bei einem Besuch des Verfassers in Friedrichsruh
1887 Ansprache des Kaisers bei seinem 80-jährigen Militärjubiläum – Im Staatsministerium bedeutsame Abstimmung über neue kirchenpolitische Zugeständnisse – Die Septennatheeresvorlage im Staatsministerium. Einwirkung des Papstes auf das Zentrum. Bismarck über Schuwalows Besuch und die Beziehungen zu Rußland – Bismarck über Boulanger und Kriegsgefahr – Plan einer 300-Millionen-Kriegsanleihe, Kriegspanik, Wahlbewegung – Anfänge der Krankheit des Kronprinzen – Im Staatsministerium scharfe Äußerungen Bismarcks über Frankreich und Elsaß-Lothringen. Darlegung der Weltlage – Bismarcks „schwarze Liste“ für Hoffeste – Bismarck entschieden gegen evangelisch-lutherische Selbständigkeitsbewegung. Erörterung über reichsländische Frage – Bittere Äußerungen gegen die Juden in der Presse. Klagen Bismarcks über mangelhafte politische Bildung des Prinzen – Äußerung des Prinzen Wilhelm über eventuelle Entbehrlichkeit Bismarcks
1888 Politische Neujahrsansprache des Kaisers – Bismarck ventiliert die Möglichkeit eines selbständigen Polens unter einem Erzherzog – Schwierigkeiten in San Remo. Operation des Kronprinzen – Bismarck über die glänzende Aufnahme seiner berühmten Rede vom 6. Februar bei den Höfen und Kabinetten – Mangelnde Reise des Prinzen Wilhelm – Schlimme Zustände in San Remo; schwierige Verfassungsfragen – Letzte Krankheit und Tod des alten Kaisers – Ungünstige Charakteristik der Kronprinzessin – Am Totenbette des Kaise der Minister mit dem heimkehrenden Kaiser Friedrich in Leipzig – Bismarck über seine Eindrücke vom neuen Kaiser – Leichenbegängnis Kaiser Wilhelms – Erste politische Schwierigkeiten Bismarcks mit Kaiser Friedrich – Stellvertretungsorder fBattenberg-Krisis – Schwerer Krankheitsanfall Kaiser Friedrichs – Erhebung des Verfassers in den Freiherrnstand – Königin Viktoria von England in Berlin – Der Verfasser
1889 Der Fall Geffcken – Brüske Entlassung des Ministers v. Friedberg – Der junge Kaiser über die Vermählung des Battenbergers mit einer Schauspielerin – Beschwerden des Kaisers über die Presse – Der Kaiser gegen Stöcker. Rücktritt des Kriegsministers v. Bronsart; v. Verdy sein Nachfolger – Gereizte Äußerungen Bismarcks über Jagdschutz, neue Hoftracht, höfische Gönnerschaft für die demokratische Volkszeitung – Scharfe Äußerungen des Kaisers über Arbeitgeber. Ablehnung militärischen Schutzes für sie. Widerspruch Bismarcks – König Humbert von Italien mit dem Kronprinzen Viktor Emanuel und Crispi in Berlin – Bismarck über Berliner Besuch des Kaisers Franz Josef und die politische Lage, besonders über das Verhältnis zu England; Samoa; Konsul Kna Kaisers Alexander III. von Rußland
1890 Im Ministerrat scharfer Zusammenstoß zwischen dem Kaiser und Bismarck in den Fragen des Arbeiterschutzes und des Sozialistengesetzes – Die Verlängerung des Sozialistengesetzes im Reichstag abgelehnt – Zornige Äußerungen des Kaisers über Bismarck – Versöhnliche Äußerungen Bismarcks im Staatsministerium; der Kaiser beim Geburtstagsempfang – Wiederbeginn des Konflikts – Caprivis Kanzlerkandidatur – Bismarcks Besprechungen mit Windthorst – Der Bruch zwischen dem Kaiser und Bismarck. Dessen Rücktritt. Mitteilungen Bismarcks im Staatsministerium über die entscheidenden Vorgänge – Bismarck und Caprivi. Die Abreise aus Berlin unter begeisterten Kundgebungen der Bevölkerung
Anlagen Promemoria des Verfassers zur Militärvorlage – Eine Abstimmung des Reichstags 1874 – Der „Krieg in Sicht“-Artikel 1874 – Antrag Lucius betreffend Reichstagsgebäude – Thronrede 1876 – Ein Memoire über die Regentschaftsfrage von 1857 – Briefe und Belege (Korrespondenz zwischen dem Verfasser und dem Fürsten Bismarck sowie dem Grafen Herbert Bismarck)
Nachwort von Christopher M. Clark
Abbildungsnachweis
Rückcover Band2
Rückcover
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Begegnungen mit Bismarck: Bismarck-Erinnerungen 1871-1890; Fürst und Fürstin Bismarck
 3806242097, 9783806242096

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01.09.20 15:11

Mit einem Vorwort von Oliver F.R. Haardt und einem Nachwort von Christopher M. Clark

BEGEGNUNGEN MIT BISMARCK

ROBERT VON KEUDELL ROBERT LUCIUS VON BALLHAUSEN

„Wo ich sitze, ist immer oben“ Otto von Bismarck

BISMARCK – MYTHOS UND MENSCH Unzählige Denkmäler, Straßen und Plätze tragen den Namen des »Eisernen Kanzlers« – über kaum eine Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts wurde so viel geschrieben und geforscht. All dies zeugt von einem Kult, wie es ihn selten um einen Politiker der deutschen Geschichte gegeben hat. Wer aber war der Mensch hinter dem Mythos Bismarck? Aufschlussreich und einzigartig beantworten diese Frage zwei Erinnerungsbücher von Zeitgenossen und engen Freunden Bismarcks: Robert von Keudells »Fürst und Fürstin Bismarck« und die »Bismarck-Erinnerungen« von Robert Lucius von Ballhausen, die nach mehr als hundert Jahren in dieser modernen Neuausgabe erstmals wieder zugänglich gemacht werden.

wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4209-6

© akg-images/Historisches Auge. © SZ Photo / Scherl / Bridgeman Images.

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Oliver F.R. Haardt arbeitet seit 2017 als Lumley Research Fellow in Geschichte am Magdalene College der Universität Cambridge. Für seine Arbeiten erhielt er u.a. den HelmutCoing-Preis des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte.

Umschlagabbildung: Otto von Bismarck und seine Frau Johanna, 1849. © SZ Photo / Scherl / Bridgeman Images. Umschlaggestaltung: Harald Braun, Helmstedt.

INTIME EINBLICKE IN LEBEN UND POLITIK BISMARCKS Als enger Vertrauter Johanna und Otto von Bismarcks zeichnet Robert von Keudell in seinen Erinnerungen ein sehr persönliches und einzigartiges Bild des »Eisernen Kanzlers«. Diese bunte und stellenweise emotionale Collage umfasst eine für die deutsche Geschichte bedeutende Zeitspanne, die ihren Höhepunkt in der Reichsgründung 1871 fand. Mit einer Einführung von Oliver F.R. Haardt macht diese Neuausgabe den Originaltext knapp 120 Jahre nach Erstveröffentlichung wieder zugänglich.

ROBERT VON KEUDELL

Robert von Keudell (1824–1903) war Diplomat des jungen Kaiserreichs, Abgeordneter im Reichstag, ausgezeichneter Pianist und vor allem: ein enger Freund des Reichskanzlers Otto von Bismarck. Während des deutsch-französischen Krieges und der Reichsgründung war er Bismarcks persönlicher Sekretär.

FÜRST UND FÜRSTIN BISMARCK

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ROBERT VON KEUDELL

FÜRST UND FÜRSTIN BISMARCK ERINNERUNGEN AUS DEN JAHREN 1846–1872

Otto von Bismarck (1815–1898) gehört zu den bedeutendsten Personen der deutschen Geschichte und ist zugleich höchst umstritten. Die Erinnerungen von zwei seiner engsten Mitarbeiter und Vertrauten decken gemeinsam fast 50 Jahre ab und helfen, den Menschen hinter dem Mythos Bismarck kennenzulernen. In diesem Band der »Begegnungen mit Bismarck« werden die erstmals 1901 erschienenen Erinnerungen »Fürst und Fürstin Bismarck« des Robert von Keudell abgedruckt. Diese waren bisher nur in Frakturschrift zugänglich.

wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4209-6

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Fürst und Fürstin Bismarck

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Begegnungen mit Bismarck Band 1: Robert von Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck. Erinnerungen aus den Jahren 1846–1872 Band 2: Robert Lucius von Ballhausen, Bismarck-Erinnerungen des Staatsministers Freiherrn Robert Lucius von Ballhausen. 1871–1890

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Robert von Keudell

Fürst und Fürstin Bismarck Erinnerungen aus den Jahren 1846–1872

Mit einer Einführung von Oliver F. R. Haardt

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Bei dem Einzelband „Fürst und Fürstin Bismarck. Erinnerungen aus den Jahren 1846–1872“ handelt es sich um eine Neuedition des 1901 im Verlag von W. Spemann erschienenen „Fürst und Fürstin Bismarck. Erinnerungen aus den Jahren 1846 bis 1872“. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg THEISS ist ein Imprint der wbg. © 2020 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz: Arnold & Domnick GbR, Leipzig Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4209-6

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4267-6 eBook (epub): ISBN 978-3-8062-4268-3

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Inhalt

Phantom im Scheinwerferlicht – Eine Einführung von Oliver F. R. Haardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 I. Aus Berlin und Pommern. 1846 bis 1853 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 II. Frankfurt. November 1853 bis Januar 1859 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 III. Aeußerungen über Musik. 1853 bis 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 IV. Petersburg. 1859 bis 1862 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 V. Berlin. September 1862 bis November 1863 . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 VI. Zusammengehen mit Oesterreich. Dänischer Krieg. November 1863 bis Juli 1864 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 VII. Allmähliche Lockerung des österreichischen Bündnisses. Gasteiner Vertrag. August 1864 bis August 1865 . . . . . . . . . . . . . 130 VIII. Merseburg. Lauenburg. Biarrits. Ende des österreichischen, Abschluß des italienischen Bündnisses. Antrag auf deutsches Parlament. Mobilmachungen. September 1865 bis Juni 1866 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 IX. Ende des Deutschen Bundes. Krieg und Frieden. Juni bis September 1866 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

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X. Putbus. Gründung des norddeutschen Bundes. Luxemburger Frage. Reform des Zollvereins. Varzin. Eröffnung des Bundesrats. Herbstsitzung des Reichstags. September 1866 bis Oktober 1867 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 XI. Parlamentarische Schwierigkeiten mit allen Parteien. Wiederholte Krankheitsanfälle. Stellungnahme zur spanischen Königswahlfrage. Französische Kriegserklärung. Oktober 1867 bis Juli 1870 . . . . . 264 XII. In Frankreich. Deutsches Kaisertum. Frieden. Reichstag. Varzin, Gastein und Salzburg. Schluß. August 1870 bis Oktober 1872 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304

Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351

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Otto von Bismarck, 1862

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Phantom im Scheinwerferlicht Eine Einführung von Oliver F. R. Haardt Über Bismarck wissen wir nahezu alles – und doch fast nichts. Mit der Ausnahme Adolf Hitlers gibt es keine Persönlichkeit der modernen deutschen Geschichte, über die so viel geschrieben worden ist, wie über den „Eisernen Kanzler“. Einen klaren Blick auf diese historische Schlüsselfigur haben wir dennoch nicht. Sie ist umgeben vom dichten Nebel eines vielschichtigen Mythos, der schon zu ihren Lebzeiten heraufgezogen ist, sich seitdem immer wieder verändert hat und sich bis heute hält. Die Geschichtswissenschaft hat mindestens genauso viel dazu beigetragen, diesen undurchsichtigen Schleier zu verdichten, wie dazu, ihn zu durchdringen. In den vergangenen anderthalb Jahrhunderten haben Historiker  – häufig von politischen Motiven geleitet  – die historische Person und ihr Werk immer wieder neu gedeutet. Die borussischen Historiker des Kaiserreiches beschrieben Bismarck als heroischen Reichsgründer, der mehr oder minder im Alleingang die historische Mission der preußischen Monarchie zur Vereinigung des deutschen Nationalstaates erfüllte. Auch nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich diese Verherrlichung fort. Die meisten Historiker der Weimarer Republik hielten am Leitbild der Monarchie fest und glorifizierten Bismarck als staatsmännisches Genie, das ein Vorbild dafür bot, wie das durch die Kriegsniederlage und den „Schandfrieden“ von Versailles geschmähte Deutschland wieder zu nationaler Größe geführt werden könne. Die Geschichtspropagandisten des Dritten Reiches trieben diesen nationalistischen Ansatz auf die Spitze, indem sie Bismarck völkisch umdeuteten und ihren Führer als seinen Erben darstellten.1 Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten Historiker angesichts der Katastrophe, in die die Geschichte des deutschen Nationalstaats jüngst gemündet war, das Leben des Reichsgründers neu zu bewerten. Dabei verfolgten sie sachlichere, weniger nationalistische Ansätze als in der Vergangenheit, hielten aber das überwiegend positive Bismarckbild aufrecht. Die erste Bismarck-Biographie nach dem Krieg, die Wilhelm Mommsen 1959  vorlegte, setzte gleich den entsprechenden Ton. Angloamerikanische Historiker begannen dagegen, die widersprüchliche Persönlichkeit Bismarcks ­mithilfe 9

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Fürst und Fürstin Bismarck

der Psychoanalyse auseinanderzunehmen, allen voran der große A. J. P. Taylor. In den 1960er und 1970er Jahren verdrängte der Aufstieg der Sozialgeschichte vorübergehend die Beschäftigung mit der Person Bismarcks. Stattdessen rückten die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Strukturen in den Vordergrund, innerhalb derer Bismarck – wie jedes andere Individuum auch – agierte.2 Anfang der 1980er Jahre erwachte die biographische Forschung zu Bismarck wieder aus ihrem Winterschlaf. Seitdem haben sowohl deutsche als auch internationale Historiker alle paar Jahre umfangreiche Studien vorgelegt, in denen sie mithilfe neuer Forschungsansätze aus der Politik-, ­Sozial-, und Kulturgeschichte Bismarcks historische Rolle unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten kritisch durchleuchtet haben. Auf diese Weise ist in den vergangenen fünfzig Jahren eine große Vielfalt an unterschiedlichen Interpretationen entstanden, die in der Regel die Vielschichtigkeit des Staats- und Privatmannes, des Preußen und Deutschen, des Genies und – wie der Publizist Johannes Willms titelte – „Dämons“ betonen. Drei besonders berühmte Beispiele müssen hier genügen. In seiner mittlerweile zu einem Klassiker des deutschen Bildungskanons aufgestiegenen Bismarck-­Biographie hat ­Lothar Gall 1980 einen „weißen Revolutionär“ porträtiert, der zum Erhalt und Ausbau der preußischen Monarchie angesichts der wachsenden Kräfte des Parlamentarismus und des Nationalismus den Status quo der deutschen Verhältnisse vollkommen umkrempelte. Der ostdeutsche Historiker Ernst Engelbert hat Bismarck dagegen im Einklang mit dem marxistischen Geschichtsnarrativ der DDR kurz vor der Wiedervereinigung als einen realpolitischen Erneuerer gezeichnet, der die Arbeiterklasse aufgrund seiner Wurzeln im preußischen Junkertum zwar nicht verstand und sie politisch verfolgte – Stichwort: Sozialistengesetze – , ihr aber gleichzeitig mit der Gründung des Nationalstaates die Plattform für ihren weiteren Aufstieg schuf. In einer erst vor wenigen Jahren erschienenen und seitdem viel beachteten Biographie hat Jonathan Steinberg Bismarck schließlich als einen „Magier der Macht“ beschrieben, dem man sich nur über seine widersprüchliche, von Emotionen zerrissene Psyche nähern kann.3 Angesichts dieser großen Bandbreite an Deutungen, die die Geschichtswissenschaft in den letzten anderthalb Jahrhunderten zum ersten deutschen Kanzler hervorgebracht hat, gibt es heute nicht nur einen Bismarck, sondern viele. In einem Artikel zum Thema „100 Jahre Bismarck-Biographien“ hat die in England lehrende Historikerin Karina Urbach diese Tatsache schon 1998 treffend beschrieben: „Mindestens sechs Generationen sind über Bismarcks Leben unterrichtet worden, und man kann mit Fug und Recht 10

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Phantom im Scheinwerferlicht

behaupten, dass fast jede zweite deutsche Generation eine andere Version von Bismarck kennengelernt hat.“ Die Frage bleibt also: Wer und was war Bismarck eigentlich? Wie Urbach überspitzt formuliert hat, gibt es in der historiographischen Debatte „zwischen Heilsbringer und Bösewicht“ nahezu jede Interpretation. Bemerkenswert ist dabei vor allem eines: Unser Bild von Bismarck ist mit der Zeit nicht klarer, sondern eher undeutlicher geworden. Je mehr Historiker die plumpe Verherrlichung früherer Jahre zurückgelassen und auf der Basis sauberer Quellenarbeit ausgewogenere Urteile gefällt, das heißt, nicht nur unhaltbare Apotheosen, sondern auch vorschnelle Verdammungen vermieden haben, desto komplexer ist die historische Figur geworden, die sie schildern. Der Nebel um den Reichsgründer hat sich gewissermaßen nicht gelichtet, sondern nur seine Gestalt geändert. Aus dem Dunst der mythischen Glorifizierung ist der Schleier widersprüchlicher Interpretationen geworden, die versuchen, den Mythos zu dekonstruieren. Dieser Substanzwandel ändert aber nichts an der Wirkung des Nebels: Die Person, die sich hinter ihm verbirgt, bleibt weiterhin ein Phantom, nach dem Historiker mit immer neuen Methoden fahnden, ohne es endgültig zu fassen zu bekommen.4

Bismarck mit den Diplomaten (v. l. n. r. Heinrich Abeken, Robert von Keudell, Rudolf Delbrück, Paul Graf von Hatzfeldt, Friedrich Alexander Graf von Bismarck-Bohlen). Aus einer Serie von Gruppenbildern zur Kaiserproklamation am 18. Jan. 1871 in Versailles.

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Dieses Problem liegt in der Natur der Sache. Ob der vielschichtigen, vermutlich bipolaren Persönlichkeit Bismarcks, der komplexen Umstände seines Wirkens und des widersprüchlichen Charakters des Reiches, das er schuf, werden wir je nach Blickwinkel immer ganz verschiedene Umrisse seiner Person ausmachen. Der Ausschnitt dessen, was wir im Nebel erblicken können, ändert sich gewissermaßen mit jedem neuen Ansatz und mit jeder neuen Erkenntnis. Die gesamte historische Figur wird aber stets so schemenhaft bleiben, dass sie immer auch ganz anders interpretiert werden kann. Alles, was wir daher tun können, ist, uns dem Phantom immer wieder neu zu nähern, dabei unseren Blick zu schärfen und so zu versuchen, die Konturen, die wir im Nebel erkennen, so genau wie möglich nachzuzeichnen. Die Brille, durch die wir dabei schauen müssen, um überhaupt etwas zu sehen, sind die historischen Quellen, die Bismarck und sein Umfeld hinterlassen haben. Besonders aufschlussreich sind dabei die Erinnerungen der Leute, die eng mit Bismarck zusammengearbeitet haben. Denn sie geben uns die Chance, den „Steuermann“, der den deutschen Staat auf dem „Strom der Zeit“ manchmal mit und manchmal gegen die Strömung durch die Wellen und Wogen lenkte, wie Christopher Clark argumentiert hat, aus der Perspektive seiner wichtigsten Crewmitglieder zu betrachten.5 Zwei besonders wichtige derartige „Logbücher“ über Bismarck und seinen politischen Kurs gibt die Wissenschaftliche Buchgesellschaft nun anlässlich des 150. Jubiläums der Reichsgründung neu heraus: die Aufzeichnungen Robert von Keudells über Fürst und Fürstin Bismarck und die Bismarck-­ Erinnerungen Robert Lucius von Ballhausens. Wer waren diese beiden Männer? Und was können uns ihre autobiographischen Schriften über Bismarck sagen? Anders gefragt: Inwiefern können sie uns dabei helfen, ein klareres Bild von dem Phantom im Nebel zu erhalten? Robert von Keudell wurde 1824  in Königsberg in eine wohlhabende Offiziersfamilie geboren. Sein Vater Leopold (1769–1831), Spross eines alten hessischen Adelsgeschlechts, diente als Major in der preußischen Armee, seine Mutter Wilhelmine (1789–1848) war die Tochter des preußischen Generalmajors Gottfried von Hartmann (1738–1807), der in den Revolutionskriegen gegen Frankreich mit dem Pour le Mérite ausgezeichnet worden war. Die sicheren finanziellen Verhältnisse seines Elternhauses erlaubten Robert, von Kindheit an seinen musikalischen Interessen nachzugehen. Während seiner Studienzeit in Heidelberg und Berlin, wo er eine rechtswissenschaftliche Ausbildung absolvierte und Mitglied mehrerer Studentenverbindungen war, entwickelte er sich zu einem ausgezeichneten Konzertpianisten. Er verehrte 12

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den großen Robert Schumann, mit dem er später auch mehrere Jahre lang korrespondierte. Es waren dann auch nicht seine eher überschaubaren Leistungen im preußischen Verwaltungsdienst, in den er nach seinem Studium eintrat, sondern seine musikalischen Fähigkeiten, dank derer er Bismarck kennenlernte. Im August 1846 gab er in Berlin auf Einladung Johanna von Puttkamers ein kleines Hauskonzert, das auch deren Verehrer Bismarck besuchte. Anschließend entwickelte sich zwischen Keudell und der Gastgeberin eine Freundschaft, die sich bald auch auf Bismarck, der Johanna ein Jahr später heiratete, ausdehnte. Als Letzterer zwischen 1852 und 1859 Preußen im Bundestag des Deutschen Bundes vertrat, war Keudell regelmäßig Gast der Familie. Während der drei Jahre, die Bismarck anschließend als preußischer Gesandter am preußischen Zarenhof diente, reiste Keudell gar zwei Mal für einen Besuch nach St. Petersburg.6 1862  bescherte ihm die so genährte Freundschaft einen außergewöhnlichen Karrieresprung. Direkt nach Übernahme des preußischen Ministerpräsidentenamtes folgte Bismarck der Empfehlung seiner Frau und machte Keudell, der gerade erst Regierungsrat in Breslau geworden war, zu seinem persönlichen Sekretär. In dieser Position zählte Keudell während der gesamten Phase der Reichsgründung zu Bismarcks engsten Mitarbeitern. Dabei gab es durchaus Reibungen, weil Keudell mitunter liberalere Ansichten hatte als sein Chef. Letztlich beugte er sich dessen Vorstellungen jedoch zuverlässig. 1864 belohnte ihn Bismarck mit einer Beförderung zum Wirklichen Legationsrat und Vortragenden Rat im preußischen Außenministerium, wo er ihm zusätzlich zu seinen sonstigen Pflichten die Leitung der Personal- und Finanzabteilung anvertraute. 1870 heiratete Keudell die talentierte Pianistin Hedwig von Patow (1842–1882). Diese Verbindung mit der Tochter des ehemaligen preußischen Finanzministers Robert von Patow zementierte endgültig seinen Aufstieg in die politische Elite Preußens. Im selben Jahr zog Keudell quasi im Nebenamt für die Freikonservativen – Bismarcks zuverlässigste parlamentarische Stütze – ins Preußische Abgeordnetenhaus ein. Ein weiteres Jahr später wurde er auch Abgeordneter im ersten gesamtdeutschen Reichstag. Die beiden Parlamentsmandate übte er aller­dings nur kurz aus, da seine treuen Dienste ihm bald einen weiteren prestigeträchtigen Posten bescher­ ten. Schon ein Jahr nach der Gründung des Nationalstaates ernannte ihn der Kaiser 1872 auf Vorschlag des Kanzlers zum Gesandten des neuen Reiches in Konstantinopel. Vier Jahre später kletterte er auf der diplomatischen Karriereleiter weiter nach oben und wurde Botschafter am Quirinal in Rom. Große politische Bedeutung erlangte er in dieser Stellung allerdings 13

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nicht. Im Gegenteil: In den Arbeitsbeziehungen zum Auswärtigen Amt zeigte sich bald, dass der Quereinsteiger Keudell als persönlicher Protegé des Kanzlers zwar akzeptiert, aber politisch nicht für voll genommen wurde. Sein Vorschlag, ein Bündnis mit Italien und Österreich anzustreben, fand in Berlin lange kein Gehör. Friedrich von Holstein, die graue Eminenz des Auswärtigen Amtes, verhöhnte die Idee im Herbst 1880 als „phantastischen Plan“. Als nur zwei Jahre später doch ein solcher Dreibund abgeschlossen wurde, blieb Keudell bei den Verhandlungen weitgehend außen vor. All seine Bemühungen, Anfang der 1880er Jahre auf einen leitenden Regierungsposten zurück nach Deutschland zu wechseln – 1880 war er als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes im Gespräch, drei Jahre später gar als Vizekanzler –, scheiterten am Widerstand des Berliner Ministerialapparates. Zwar genoss er nach wie vor das Vertrauen Bismarcks und diverser Kreise des Hofes, in die er über die Jahre vorgestoßen war. Die Funktionseliten im Auswärtigen Amt lehnten ihn aber rigoros als unqualifiziert ab, allen voran Holstein und Bismarcks Sohn Herbert, der 1886 selbst die Leitung des Ministeriums ü ­ bernahm. ­Letzterer sorgte schließlich dafür, dass Keudell im März 1887 ganz aus dem diplomatischen Dienst ausschied. Im Ruhestand widmete er sich wieder ganz der Muse der Musik. Bereits 1883 hatte er nur ein Jahr nach dem Tode Hedwigs erneut eine begabte Pianistin geheiratet. Die 37 Jahre jüngere Alexandra von Grünhof (1861–1933) war als Tochter des Herzogs Ernst von Württemberg abermals eine gute Partie. Gemeinsam mit ihr verkehrte und musizierte er in den folgenden Jahren regelmäßig mit Joseph Joachim, dem bedeutendsten Violinisten der Zeit, und Anton Rubinstein, dem berühmten russischen Pianisten und Dirigenten. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Neben der Tochter Hedwig umfasste die Familie zwei Söhne, Walter (1884–1973) und Otto (1887–1972), die später in der Weimarer Republik zum Reichsinnenminister beziehungsweise Ministerialrat aufsteigen sollten. Robert von Keudell verstarb schließlich 1903 im westpommerschen Königsberg in der Neumark.7 Sein Namensvetter Robert Lucius Ballhausen wurde am 20. Dezember 1835  in Erfurt als eines der jüngsten von elf Geschwistern in eine reiche Unternehmerfamilie geboren. Sein Vater war der Textilfabrikant Sebastian Lucius (1781–1857), der mit der Herstellung von Wollstrümpfen ein Vermögen verdiente, 1845  die Erfurter Industrie- und Handelskammer gründete und zahlreiche wohltätige Einrichtungen in der Stadt stiftete, darunter ein Krankenhaus, ein Altenheim und eine Erziehungsanstalt. Einer der älteren Brüder Roberts bezeichnete die Familie später einmal als die „Buddenbrooks von Erfurt“. Diese großbürgerliche Herkunft garantierte Robert eine 14

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exzellente Ausbildung. Nach einigen Jahren am Königlichen Gymnasium in Erfurt besuchte er das renommierte Gymnasium Paulinum in Münster und erhielt zusätzlich Privatunterricht. Anschließend studierte er Naturwissenschaften und Medizin in Heidelberg, wo er in der Studentenverbindung Corps Vandalia aktiv war. 1856 wurde er gemeinsam mit zwei anderen „Vandalen“ wegen eines Disziplinarvergehens zwangsextramatrikuliert und von seinen Verbindungsbrüdern mit allen Ehren im Rahmen eines sogenannten Comitats – des letzten in der Heidelberger Universitätsgeschichte – aus der Stadt verabschiedet. Daraufhin schrieb er sich an der Universität Breslau ein, an der er zwei Jahre später in Medizin promovierte.8 Nach seinem Studium folgte er in die Fußstapfen seines ältesten Bruders August, der nach seiner Kaufmannslehre fünf Jahre durch Nordamerika getourt war, und begann das Reisen. Zuerst nahm er 1860 für einige Monate als Mitglied des medizinischen Begleitpersonals am spanischen Marokkofeldzug teil, dann schloss er sich als Schiffsarzt der von Friedrich von Eulenburg geleiteten preußischen Ostasienexpedition an, die Freundschafts-, Handels-, und Schifffahrtsverträge mit den Ländern des fernen Ostens abschließen sollte. Diese Mission führte ihn zwischen 1860 und 1862 nach Ceylon, China, Hongkong, Korea, Siam und Japan, das sich gerade erst dem Westen geöffnet hatte. Zurück in Deutschland trat er nach wenigen Monaten im heimischen Erfurt in die preußische Armee ein. 1864, 1866 und 1870 nahm er als Leutnant beziehungsweise später Oberstleutnant an den drei Einigungskriegen gegen Dänemark, Österreich und Frankreich teil. Am Abend nach der Schlacht von Königgrätz am 3. Juli 1866 begegnete er Bismarck zum ersten Mal persönlich, als dieser ihn im Vorbeireiten mit einen Bekannten verwechselte und ihm die Hand ausstreckte.9 1870  zog Ballhausen  – nach einem erfolglosen Versuch bei den vorangegangenen Wahlen  – für die Freikonservativen in das Preußische Abgeordnetenhaus ein. Im selben Jahr gelang ihm bei einer Nachwahl in einem der Erfurter Wahlkreise auch der Sprung in den Norddeutschen Reichstag. Nach der Reichsgründung wurde er auch in den gesamtdeutschen Reichstag gewählt und stieg 1879 zu dessen Vizepräsidenten auf. Mit diesem parlamentarischen Engagement war er in seiner Familie nicht alleine. Alle drei seiner älteren Brüder waren in den 1870er und 1880er Jahren ebenfalls Abgeordnete im Preußischen Abgeordnetenhaus beziehungsweise im Reichstag, und das bemerkenswerter Weise für drei unterschiedliche Parteien. August, der sich als Maler und Gutsbesitzer betätigte, war Reichstagsabgeordneter für das Zentrum. Ferdinand, der die Leitung der väterlichen Textilfabrik übernommen hatte, gehörte im Reichstag und im Preußischen 15

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Landtag wie Robert den Freikonservativen an. Eugen, ein erfolgreicher Chemiker, der die Farbwerke Hoechst mitbegründete, vertrat die Nationalliberalen im Preußischen Abgeordnetenhaus. Letzterer war es auch, durch den Robert als junger Abgeordneter in enge­ ren Kontakt mit Bismarck kam. Eugen hatte 1860 Maximiliane Becker geheiratet, eine Tochter des Frankfurter Malers Jakob Becker, bei dem Bismarck während seiner Zeit am Bundestag in den 1850er Jahren ein- und ausging. Über die gemeinsame Bekanntschaft zu den Beckers entstanden nach Roberts Eintritt in den Berliner Politikbetrieb bald ein vertrauensvolles Verhältnis und schließlich eine innige Freundschaft zu Bismarck. Tatsächlich wurde Robert zu einem fast täglichen Gast im Hause Bismarck, besonders bei den legendären nachmittäglichen Essgelagen des Kanzlers. Dabei spielte neben persönlicher Sympathie natürlich auch politisches Kalkül eine Rolle. Robert war für Bismarck ein wichtiges Bindeglied zum Parlament. Durch ihn konnte er nicht nur seine Hausmacht bei den Freikonservativen pflegen, sondern auch das Netzwerk der Lucius-Brüder ausnutzen und Bande zu den anderen großen Fraktionen knüpfen. So unterhielt Bismarck während der Zeit des Kulturkampfes über das enge Verhältnis zwischen Robert und August eine indirekte Verbindung zum Zentrum, die 1878 eine wichtige Rolle bei der Annährung zwischen ihm und dem Parteiführer Ludwig Windthorst spielte. Ein Jahr später wurde Robert auf Wunsch Bismarcks preußischer Landwirtschaftsminister. In den Folgejahren kam es im Zusammenhang mit umstrittenen politischen Entscheidungen immer wieder zu durchaus ernsthaften Meinungsverschiedenheiten, die die Freundschaft der beiden Männer zuweilen belasteten, aber nie zerstörten. Während seiner mehr als zehnjährigen Amtszeit setzte sich Ballhausen besonders für Schutzzölle auf Getreide, die Urbarmachung der preußischen Hochmoore, den Ausbau des Veterinärwesens und die Regulierung der Jagd ein. Bei den Landwirten verschaffte ihm das viel Respekt. Wie sehr er in Produzentenkreisen geachtet wurde, zeigte sich zum Beispiel 1884, als die Berliner Baumschule Späth eine neue Birnensorte nach ihm benannte, die „Minister Dr. Lucius-Birne“. 1888 erhob ihn der 99-Tage-Kaiser Friedrich III. auf Bismarcks Vorschlag hin in den erblichen Freiherrenstand. Als der Kanzler zwei Jahre später im Streit mit dem jungen Kaiser Wilhelm II. zurücktrat, legte auch Ballhausen wenige Monate später sein Ministeramt nieder. Politisch aktiv blieb er aber auch weiterhin. Sein Mandat im Abgeordnetenhaus behielt er bis 1893. Zwei Jahre danach wurde er zum Mitglied des preußischen Herrenhauses ernannt. Dort leitete er bis kurz vor seinem Tod die 16

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Haushaltskommission, den mit Abstand wichtigsten Ausschuss der Kammer. Neben seiner politischen Tätigkeit engagierte er sich außerdem in verschiedenen unternehmerischen Projekten. So war er nicht nur an der ersten Zuckerfabrik in Thüringen beteiligt, sondern auch an der Versicherungsgesellschaft Thuringia, die zu den Pionieren des deutschen Unfallversicherungswesens gehörte. Seinen Lebensabend verbrachte er mit seiner Frau Juliet Maria Souchay de la Duboissière (1835–1921), der Tochter einer reichen hugenottischen Kaufmannsfamilie aus der Nähe von Manchester, die er 1864 geheiratet hatte und über die er mit Alfred Weber, Theodor Mommsen und Felix Mendelssohn-Bartholdy verschwägert war. Mit ihr reiste er immer wieder nach England, aber auch nach Osteuropa. Gemeinsam hatten sie zwei Söhne, den Verwaltungsjuristen Otto Lucius von Ballhausen (1867–1932) und den Diplomaten Hellmuth Lucius von Stoedten (1869–1934), von dem später noch die Rede sein wird. Robert starb 1914 wenige Wochen nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges auf dem nördlich von Erfurt gelegenen Rittergut Klein-Ballhausen, das ihm einst sein Vater geschenkt hatte.10 Sowohl Ballhausen als auch Keudell waren, was ihre Interessen angeht, nicht gerade typische Vertreter der höheren Beamtenschaft des Kaiserreiches. Ein weitgereister Abenteurer und ein hochbegabter Musikus waren in den Ministerialapparaten Preußens und des Reiches eher exotisch. Hinsichtlich mehrerer anderer Aspekte waren ihre beiden Lebenswege allerdings geradezu idealtypisch für die politischen Eliten des Kaiserreiches. So liest sich Ballhausens Biographie – großbürgerliche Herkunft, Eintritt in die Armee, Aufstieg durch die Offiziersränge, Nobilitierung und Aufnahme in das Herrenhaus auf Lebenszeit – wie ein Paradebeispiel für die „gewöhnlich überzogen vorgetragene marxistische These der Feudalisierung und Militarisierung des Bürgertums“, wie Ulf Morgenstern in einem Aufsatz über den Memoirenschreiber betont hat. Keudells Karriereverlauf steht hingegen beispielhaft für das die Reichsgründung prägende Patronagesystem der preußischen Monarchie und die danach stattfindende Professionalisierung des Staatsbetriebes im Kaiserreich. Konnte der mäßige Jurist trotz seiner fehlenden Erfahrung in politischen Fragen in den 1860er Jahren noch einfach auf Wink des neuen Ministerpräsidenten ins unmittelbare Zentrum der Macht vorrücken, vermochte er sich zwanzig Jahre später auch mit der anhaltenden Unterstützung Bismarcks nicht gegen die Funktionseliten im Auswärtigen Amt durchzusetzen, die ihm mit Hinweis auf seine vermeintlich mangelnde Qualifikation mehrmals eine Beförderung auf einen hohen Berliner Posten verbauten.11 Die Bedeutung von persönlichen Netzwerken für das politische System 17

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der Bismarckzeit spiegelt sich auch in Ballhausens Vita wider. Die Freundschaft zum Kanzler wäre ohne den gemeinsamen Kontakt zur Familie Becker wohl nie entstanden. Einige der mächtigsten Männer des preußischen Ministerialapparates lernte Ballhausen bereits als Teil der preußischen Ostasienexpedition kennen, nicht zuletzt deren Leiter Friedrich zu Eulenburg, der 1862 nach dem erfolgreichen Abschluss der Mission preußischer Innenminister wurde und diesen Posten bis 1878 bekleidete. Außerdem bildeten die in den beiden wichtigsten Parlamenten des Reiches sitzenden Gebrüder Lucius selbst eine mächtige politische Seilschaft, die quer durch das Parteienspektrum reichte. Insofern war jeder der vier wohlhabenden Unternehmersöhne ein Beispiel für die Verquickung von wirtschaftlichen und politischen Eliten im Kaiserreich, die vor allem in der Geschichtsschreibung der DDR stark kritisiert worden ist. Schließlich und endlich stehen der Abenteurer mit dem Medizinkoffer und der Diplomat mit dem Klavier auch exemplarisch für eine ganze Generation von Deutschen, die einerseits transnational agierten, sprich: viel und weit reisten, Freundschaften oder gar Ehen mit Ausländern schlossen und sich wie selbstverständlich auf internationaler Bühne bewegten, andererseits aber glühende Nationalisten waren.12 Die Erinnerungen, die Keudell und Ballhausen jeweils über Bismarck abfassten, gehören zu den Standardquellen der Forschung zum „Eisernen Kanzler“. Dennoch beziehungsweise gerade deswegen lohnt es sich, vor der Lektüre darüber nachzudenken, um welche Art von Quellen es sich eigentlich handelt und was sie zu unserem Bild von Bismarck eigentlich beitragen können. Keudell veröffentlichte seine Erinnerungen an Fürst und Fürstin Bismarck im Herbst 1901, also knapp drei Jahre nach dem Tod des Altkanzlers. Zu diesem Zeitpunkt waren die ersten beiden Bände von Bismarcks autobiographischen Gedanken und Erinnerungen, die 1898 posthum erschienen waren, längst ein Bestseller. Ausgewählte Briefe, Reden und Aktenstücke waren schon 1890 als Gesammelte Werke in vier Bänden publiziert worden. Außerdem waren in den Vorjahren verschiedene Teile von Bismarcks Privatkorrespondenz erschienen, allen voran die 1900 veröffentlichten Briefe an seine Braut und Gattin. Keudell fügte also einem rasch wachsenden Korpus an öffentlich zugänglichen Bismarckquellen ein weiteres Stück hinzu. Die Motivation dafür war angesichts der hohen Verkaufszahlen der genannten Publikationen sicherlich zumindest teilweise finanzieller Natur. Auch und vor allem scheint Keudell aber die Tatsache umgetrieben zu haben, wie er in seinem Vorwort betont, dass „die Zeugen [des] Wirkens [Bismarcks], welche ihm als Abgeordneten, Gesandten und jugendlichen Minister nahe standen, […] nach und nach fast alle verstummt [waren], ohne Berichte über 18

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ihn zu hinterlassen“. Deswegen sah er an sich „die Aufgabe [herantreten], zu erzählen, was [er] damals [im] Hause und […] Dienste [Bismarcks] erlebt habe“.13 Ballhausens Bismarck-Erinnerungen sind unter ganz anderen Vorzeichen entstanden. Während seiner Zeit als Abgeordneter und Minister führte der Tausendsassa akribisch Tagebuch über den Berliner Regierungsbetrieb. In diesen Aufzeichnungen spielte sein Chef und Freund Bismarck naturgemäß eine Hauptrolle. Nach Bismarcks Tod fasste Ballhausen 1899 daher den Entschluss, wie er in einer Vorbemerkung zu den Erinnerungen beschreibt, „die persönlichen Erinnerungen, welche [er] in einer langen Reihe von Jahren im Verkehr mit [Bismarck] gesammelt habe, an der Hand [dieser] Tagebuchnotizen und Briefe zusammenzufassen“. Um dies ohne Abstriche tun zu können, dachte er dabei von Anfang an „nicht daran […], [diese Erinnerungen] zu [seinen] Lebzeiten zu publizieren“. Diesen Luxus konnte er sich relativ einfach leisten, da er ob seines beträchtlichen Privatvermögens an einem finanziellen Gewinn aus seinen Begegnungen mit Bismarck kein großes Interesse haben musste. Nach seinem Tode 1914 veröffentlichte sein Sohn Hellmuth die Manuskripte sechs Jahre später. Dabei betonte er in einer Herausgebernotiz, dass der Druck schon vor dem Ableben seines Vaters fertiggestellt worden sei, da dieser so habe sicherstellen wollen, dass „nachträglich keinerlei Änderungen an seinen Aufzeichnungen mehr vorgenommen“ werden würden. Nur ein Jahr nach Ende des Ersten Weltkrieges erschienen, wurde das Buch daraufhin bald Teil der „Hintergrunderzählung […] des Bismarck-Kultes“, die „in den 1920er Jahren in protestantisch-nationalen Milieus als Kompensationslektüre für den Verlust der Großmachtstellung des Deutschen Reiches diente und unter Verweis auf die Fehler der Wilhelminischen Epoche die Leistungen der Reichsgründungszeit betonte“, wie Ulf Morgenstern erläutert hat.14 Diese beiden Entstehungsgeschichten produzierten zwei sehr unterschied­ liche Quellen über Bismarck. Bei Keudells Erinnerungen handelt es sich um einen retrospektiven Bericht, den dieser mit verschiedenen Dokumenten durchsetzte, um ihn authentischer zu machen. Darunter sind neben Ausschnitten aus verschiedenen Reden Bismarcks vor allem zahlreiche Briefe, die dessen Gattin im Laufe der Jahre an ihren engen Vertrauten Keudell schickte. Diese persönliche Korrespondenz habe er in seine Ausführungen aufgenommen, so Keudell in seinem Vorwort, da sie „Aufschlüsse über manche weniger bekannte Erlebnisse“ Bismarcks gebe und „viele Seelen zu herzlicher Verehrung“ anregen werde. Vor allem letztere Bemerkung ist aufschlussreich. Denn sie zeigt, wie sehr Keudell seinen Bericht mit Blick auf 19

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die direkt geplante Veröffentlichung und ihre Wirkung auf das sich langsam ausformende Bild der Öffentlichkeit über den verstorbenen Kanzler schrieb. Anders gesagt: Beim Abfassen seiner Erinnerungen an die Vergangenheit hatte Keudell mindestens ein Auge auf die Gegenwart. Dementsprechend erstellte er eine bunte Collage aus persönlichen Erlebnissen, die er zum Beispiel durch die häufige Verwendung der direkten Rede äußerst lebhaft, ja stellenweise sogar emotional schildert.15 Ballhausens Erinnerungen sind dagegen kein nachträglicher Report, sondern eine Zusammenfassung der Tagebucheinträge, die er einst über den Umgang mit Bismarck angefertigt hatte. Zu dieser Herangehensweise erklärte er in seinen einleitenden Bemerkungen: „Solche [Tagebuchnotizen] haben nur Wert, wenn sie auf Aufzeichnungen beruhen, welche damals in der Gegenwart gemacht wurden, weil solche, welche aus der Erinnerung nach langen Jahren gemacht, notwendig beeinflußt sein müssen durch die seitdem erlebten Tatsachen. Allerdings muß man dann auch die Selbstverleugnung üben, zur Zeit gefällte Urteile nicht zu modifizieren, sondern sie in ihrer Schiefheit bestehen zu lassen.“ Ballhausen wählte also im Vergleich zu Keudell einen geradezu gegenteiligen Ansatz, der versuchte, sich von der Gegenwart möglichst weit zu befreien und genau deswegen darauf verzichtete, die Erinnerungen noch zu Lebzeiten des Autors zu veröffentlichen. Das bedeutet natürlich nicht, dass Ballhausen seine Erinnerungen überhaupt nicht nachträglich einfärbte beziehungsweise versuchte, sein bevorzugtes Bild von Bismarck zu zeichnen. Auch seine Darstellung ist nicht frei von befangenen Lobgesängen. Insgesamt gesehen produzierte er jedoch ein sehr viel kritischeres Werk als Keudell, in dem er seine eigene Rolle bemerkenswert nüchtern betrachtet.16 Zusammengenommen decken Keudells und Ballhausens Erinnerungen den gesamten Zeitraum ab, in dem Bismarck an die Spitze der preußischen Regierung aufstieg, den Vereinigungsprozess steuerte und schließlich die Geschicke des neu gegründeten Reiches bestimmte. Keudells Darstellung umfasst die Jahre 1846  bis 1872.  In zwölf chronologisch geordneten Kapiteln schildet er jeweils das erste Kennenlernen mit Bismarck, die Zeit beim Bundestag in Frankfurt, Bismarcks musikalische Vorlieben, die drei Jahre am Petersburger Hof, die Berufung zum preußischen Ministerpräsidenten, den Deutsch-Dänischen Krieg, das Auseinanderbrechen der Koalition mit Österreich, das Ende des Deutschen Bundes, den Deutsch-Deutschen Krieg, die Gründung des Norddeutschen Bundes, den schwierigen Ausbau des neuen Bundesstaates und schließlich den deutsch-französischen Krieg, die Einigungsverhandlungen und den Abschied aus den Diensten des Kanzlers. 20

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Bismarck im Hauptquartier von Versailles 1871, rechts neben ihm sitzend Paul von Hatzfeld und Robert von Keudell, stehend v. l. n. r. Graf von Wartensleben, Wellmann, Graf von Bismarck-Bohlen, Blanquart, Delbrück (mit Zylinder), Zezulke, Bucher, Wiehr, Abeken, Willisch, Dr. Busch, Taglioni, Wagner und von Holstein.

Ballhausens Erinnerungen beschreiben hingegen die Zeit von der Eröffnung des ersten gesamtdeutschen Reichstages 1871  bis zu Bismarcks Rücktritt 1890. Die insgesamt fast 600 Seiten starke Darstellung ist in zwanzig Kapitel gegliedert, die jeweils ein Jahr von Bismarcks Kanzlerschaft behandeln. Dabei kommt das Ringen um innen- und außenpolitische Entscheidungen genauso zur Sprache wie die zahlreichen Krisen und Intrigen des Berliner Regierungsbetriebes, Bismarcks häufige Strategiewechsel und Stimmungsschwankungen und seine zahlreichen Auseinandersetzungen mit Parlamentariern, Journalisten, Ministern und dem Kaiser. Je nach persönlichen Interessen findet jede Leserin und jeder Leser in diesen reichhaltigen Erinnerungsdokumenten andere Schätze. An dieser Stelle möchte ich daher beispielhaft nur zwei Passagen nennen, die für mich als Verfassungshistoriker besonders faszinierend sind. In seinem Kapitel über die Gründung des Norddeutschen Bundes schildert Keudell eingehend, wie Bismarck im Herbst 1866 die Grundkonzeption für die künftige Verfassung des Deutschen Reiches entwickelte. Dabei durchsetzt Keudell die Beschreibung seiner eigenen Erlebnisse mit zahlreichen Briefen und Doku­menten. Darunter sind zwei der wichtigsten Aktenstücke zur Genese der Reichsverfassung überhaupt: die sogenannten Putbuser Diktate, die Keudell erstmals der Öffentlichkeit zugänglich machte. Bei diesen 21

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Schlüsseldokumenten der deutschen Verfassungsgeschichte handelte es sich um detaillierte Anweisungen, die Bismarck während eines Erholungsurlaubes im pommerschen Ostseebad Putbus vermittels Keudell nach Berlin schickte, um die dortigen Stellen darüber zu informieren, wie das politische System des sich nach dem Sieg über Österreich gerade formierenden norddeutschen Bundesstaates zu gestalten sei.17 Ballhausen gibt uns wiederrum in seinem Kapitel über das Dreikaiserjahr 1888 einen faszinierenden Einblick in die Erbfolgepolitik, die sich hinter den Kulissen des Berliner Politikbetriebes abspielte, sobald nach dem Tode des alten Kaisers Wilhelm klar war, dass dessen Sohn Friedrich, der Hoffnungsträger der Liberalen, wegen eines fortgeschrittenen Kehlkopfkrebsleidens nur kurz regieren und der Thron bald an den viel konservativeren, erst 29-jährigen Kronprinzen Wilhelm übergehen würde. Ausführlich beschreibt Ballhausen, wie sich Friedrich bemühte, wenigstens kleine Teile seines liberalen Programms in der ihm verbleibenden Zeit umzusetzen, und wie sich Bismarck mit allen Mitteln dagegen wehrte. Schonungslos ­schildert er dabei auch, wie der Kanzler unter Androhung des Rücktritts der gesamten Regierung den todkranken, schon seiner Stimme beraubten und im Rollstuhl sitzenden Kaiser dazu zwang, ein Gesetz, das dieser nicht hatte unterschreiben wollen, doch auszufertigen. Nicht ohne kritischen Unterton veranschaulicht Ballhausen die Motivation hinter derartigen Aktionen durch die Wiedergabe der Aussage seines Chefs, dass die gegenwärtigen Regierungsgeschäfte „schon mehr mit Rücksicht auf den Thronfolger“ abzuwickeln seien. Diesen Zusammenhang verdeutlicht Ballhausen noch zusätzlich dadurch, dass er kurz nach der erwähnten Episode einen Fall beschreibt, in dem Bismarck dem Kaiser sein Vetorecht nicht absprach, sondern ihn dazu ermutigte, davon Gebrauch machen, weil er hoffte, so den für das betroffene Gesetz zuständigen, zur bedrohlichen Clique des Kronprinzen gehörenden Minister bloßzustellen und idealerweise schon einmal vorsorglich loszuwerden, wozu es schlussendlich dann auch kam.18 Wenn wir solche Passagen lesen, müssen wir stets im Hinterkopf behalten, dass Keudell und Ballhausen natürlich nicht immer alles historisch akkurat schildern. Im Lichte des heutigen Forschungsstandes zu Bismarck und seiner Zeit erkennen wir schnell, dass die beiden autobiographischen Aufzeichnungen solch komplexe Ereignisse wie die Entstehung der Verfassung oder das Dreikaiserjahr mal überspitzt und mal nur ausschnittsweise darstellen. Vor allem im Fall von Keudell sind die Verzerrungen mitunter groß. So schildert dieser die Entstehung der Schlussversion des Verfassungsentwurfs als einen spontanen Geniestreich seines Chefs. Bismarck habe 22

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„mit der fürstlichen Gelassenheit […] die ersten, wichtigsten Abschnitte des Entwurfs, nämlich über den Bundesrat […], das Präsidium und den Reichstag […] angeblich teils im Wortlaute, teils in Anweisungen zur Ausarbeitung“ erst am Nachmittage vor der entscheidenden Sitzung des preußischen Kronrates einfach aus dem Kopf heraus diktiert. In Wirklichkeit ging der Verfassungsentwurf, den Bismarck einige Wochen später zuerst einer Regierungskonferenz der deutschen Einzelstaaten und dann dem konstituierenden Reichstag vorlegte, auf umfangreiche Vorarbeiten von verschiedenen Ministerialbeamten, Juristen und Beratern Bismarcks zurück, wie wir heute wissen.19 Angesichts derartiger Verzerrungen müssen wir Keudells und Ballhausens Erinnerungen – wie jede andere autobiographische Quelle auch – mit Vorsicht genießen und im Zweifelsfall mit dem aktuellen Forschungsstand abgleichen. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie als Informationsquellen vollkommen kompromittiert sind. Im Gegenteil: Jede Verzerrung, die wir ausmachen, verrät uns etwas über den Bismarck-Kult, zu dessen Narrativ die beiden Werke nach ihrer Veröffentlichung beitrugen. So ist es durchaus vielsagend, dass Keudell den Drang verspürte, den ohnehin großen Anteil seines Chefs an der Ausarbeitung der Verfassung noch weiter zu überhöhen. Denn diese Übertreibung zeigt uns, dass bestimmte Kreise Bismarck nicht nur als Staatsgründer, sondern auch als Verfassungsvater verehrt wissen wollten. Alles in allem gleichen die Bismarck-Erinnerungen Keudells und Ballhausens also einem Paar Scheinwerfer, die Licht auf das Phantom im Nebel werfen, dabei aber – wie jede andere intensive Lichtquelle auch – das, was sie beleuchten, zu einem gewissen Grade verzerren. Es liegt an uns, diese Unschärfe zu korrigieren, indem wir unseren Blick weiten und das, was wir im Schein des einen Lichtkegels erkennen, zusammen mit dem betrachten, was wir durch die Leuchtkraft anderer Lichtquellen sehen können. Tun wir das, so können wir mithilfe der Aufzeichnungen Keudells und Ballhausens das Phantom im Nebel ein ganzes Stück weit besser ausmachen. Das gilt nicht zuletzt insofern, als dass die beiden uns auf ihre jeweils eigene Weise vergegenwärtigen, dass für die so umstrittene historische Figur Bismarck ganz besonders die Schlussfolgerung gilt, die Thomas Nipperdey am Ende seiner epochalen Darstellung des Kaiserreiches für die Geschichte insgesamt gezogen hat: „Die Menschen unterschieden sich nicht in gute und böse, das Kaiserreich war nicht gut und nicht böse oder nach Gutem und Bösem deutlich unterscheidbar: Die Grundfarben der Geschichte sind nicht Schwarz und Weiß, ihre Grundmuster nicht der Kontrast eines Schachbretts; die Grundfarbe der Geschichte ist grau, in unendlichen Schattierungen.“20 23

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Fürst und Fürstin Bismarck

Anmerkungen 1

Zur Geschichte der Bismarck-Historiographie der Artikel von Karina Urbach, „Between Saviour and Villain: 100 Years of Bismarck Biographies“, in Historical Journal, 41/4 (1998), 1141–60, auf dem der folgende Überblick über die Entwicklung der Bismarck-Forschung beruht. 2 Wilhelm Mommsen, Bismarck: Ein politisches Lebensbild (München 1959). A. J. P. Taylor, Bismarck: the man and the statesman (London 1955). 3 Johannes Willms, Dämon der Deutschen. Anmerkungen zu einer Legende (München 1997). Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär (Frankfurt a. M. 1980). Ernst Engelbert, Bismarck, 2. Bd. (Berlin 1985 und 1990). Jonathan Steinberg, Magier der Macht (Berlin 2012). 4 Urbach, „Between Saviour and Villain“ (wie Anm. 1). 5 Christopher Clark, Von Zeit und Macht (München 2018), Kapitel 3.  6 Erste Begegnung mit Bismarck geschildert in Robert von Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck. Erinnerungen aus den Jahren 1846 bis 1872, Original Stuttgart 1901 (Neuauflage Darmstadt 2020), S. 28 f. Zu den Russlandreisen Keudells siehe Johannes Schultze, „Robert von Keudell „als Tourist“ in Rußland 1860“, in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 20/4 (1972), 571–80.  7 Schilderung der Biographie Keudells nach Günter Richter, „Keudell, Robert v.“, in Neue Deutsche Biographie, Bd. 11 (Berlin 1977), S. 560 f., online verfügbar unter https://www.deutsche-biographie.de/ pnd116152133.html#ndbcontent (letztmals abgerufen: Juli 2020). Zu Roberts musikalischen Bekanntschaften über Alexandra siehe zum Beispiel Stephen A. Bergquist, Music in Art, 35/1–2  (2010), ­271–289 [278  f.]. 8 Zit. in Ulf Morgenstern, „Arzt und Abenteurer, Minister und Memoirenschreiber. Autobiographische Aufzeichnungen des Bismarck-Vertrauten Robert Lucius von Ballhausen“, in ders. (Hrsg.), Arzt und Abenteurer, Minister und Memoirenschreiber. Autobiographische Aufzeichnungen des Bismarck-Vertrauten Robert Lucius von Ballhausen, S. 8.  9 Erste Begegnung mit Bismarck geschildert in Robert Lucius von Ballhausen, Bismarck-­Erinnerungen, Original Berlin 1920 (Neuauflage Darmstadt 2020), S. 16. 10 Schilderung der Biographie Ballhausens nach Karl Erich Born, „Robert Frhr. L. v. Ballhausen“, in Neue Deutsche Biographie, Bd. 15  (Berlin 1987), S. 278 f., online verfügbar unter https://www. deutsche-biographie.de/pnd117261386.html#ndbcontent  (letztmals abgerufen Juli 2020) und den beiden Aufsätzen von Ulf Morgenstern, „Arzt und Abenteurer“ (wie Anm. 8) bzw. dem Nachfahren Ballhausens Robert von Lucius, „Der vierte Bruder. Die Gebrüder Lucius  – Weltreisende, Abgeordnete, Bismarck-Vertraute, Kaufleute“, beide in Morgenstern (Hrsg.), Arzt und Abenteurer, Minister und Memoirenschreiber. Autobiographische Aufzeichnungen des Bismarck-Vertrauten Robert Lucius von Ballhausen, S. 5–12, 13–27.  11 Zit. aus Morgenstern, „Arzt und Abenteurer“ (wie Anm. 8), S. 7. 12 Zur Familie Ballhausen als Beispiel für die Verflechtung von Wirtschaft und Politik siehe Lucius, „Der vierte Bruder“ (wie Anm. 10), S. 20. Zu Ballhausen als Beispiel für die Verbindung der Gegensätze des Transnationalen und des Nationalistischen siehe Morgenstern, „Arzt und Abenteurer“,(wie Anm. 8) S. 6 f. 13 Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck (wie Anm. 6), S. 27. Gesammelte Werke, 4 Bd., ges. u. hrsg. v. Bruno Walden (Berlin 1890). Gedanken und Erinnerungen, 3. Bd. (Bd. 1–2 Stuttgart 1998. Bd. 3 Stuttgart 1919). Fürst Bismarcks Briefe an seine Braut und Gattin, hrsg. v. Fürst Herbert von Bismarck (Stuttgart 1900). 14 Ballhausen, Bismarck-Erinnerungen (wie Anm. 9), S. 15. Hellmuths Vorbemerkung in ebd., S. 7. Zu

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Phantom im Scheinwerferlicht Hellmuth als Herausgeber siehe Lucius, „Der vierte Bruder“ (wie Anm. 10), S. 19. 1922 gab Hellmuth zwei weitere autobiographische Aufzeichnungen seines Vaters heraus, eine kurze Selbstbiographie und einen Aufsatz über die Entlassung Bismarcks, der sich in großen Teilen mit den „Bismarck-Erinnerungen“ überschneidet. Beide Texte sind vor einigen Jahren von der Otto-von-Bismarck-Stiftung in dem schon erwähnten Band Morgenstern (Hrsg.), Arzt und Abenteurer, Minister und Memoirenschreiber (wie Anm. 10) herausgegeben worden. Zitat Morgenstern ebd., S. 5.  15 Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck (wie Anm. 6), S. 27. 16 Ballhausen, Bismarck-Erinnerungen (wie Anm. 9), S. 15. Zum erstaunlichen „Understatement“ der Erinnerungen siehe Morgenstern, „Arzt und Abenteurer“ (wie Anm. 8), S. 10.  17 Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck (wie Anm. 6), Kapitel 10, bes. S. 227, 231–234. Zu den Putbuser Diktaten und ihrer Bedeutung im Entstehungsprozess der Reichsverfassung siehe Oliver Haardt, Bismarcks ewiger Bund. Eine neue Geschichte des Kaiserreichs 1871–1918 (Darmstadt 2020), Kapitel 2, 18 Ballhausen, Bismarck-Erinnerungen (wie Anm. 9), Kapitel 1888, bes. S. 391–393, 407–413, Zit. S. 413. Zu der geschilderten Auseinandersetzung um die Vetos Friedrichs III. siehe Haardt, Bismarcks ewiger Bund (wie Anm. 17), Kapitel 4. Zur Erbfolgepolitik um Friedrich III. siehe Frank Lorenz Müller, Der 99-Tage-Kaiser. Friedrich III. von Preußen. Prinz, Monarch, Mythos (München 2013), Kapitel 4 und 5. 19 Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck (wie Anm. 6), S. 237. Zu den Vorarbeiten der Verfassung siehe Haardt, Bismarcks ewiger Bund (wie Anm. 17), Kapitel 2. 20 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2, Machtstaat vor der Demokratie (München 1992), S. 905. 

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Vorwort Fürst Bismarck steht der heutigen Welt als bejahrter Reichskanzler vor Augen. Die Zeugen seines Wirkens, welche ihm als Abgeordneten, Gesandten und jugendlichem Minister nahestanden, sind nach und nach fast alle verstummt, ohne Berichte über ihn zu hinterlassen. An mich trat daher die Aufgabe heran, zu erzählen, was ich damals in seinem Hause und in seinem Dienste erlebt habe. Mannigfache Auszeichnungen kamen dabei dem Gedächtnis zu Hilfe. Daß ich meiner Darstellung einzelne Abschnitte der bekannten politischen Reden eingefügt habe, mag dem Bestreben verziehen werden, der minder kundigen Jugend die Eigenart des gewaltigen Mannes möglichst nahezubringen. Die kürzlich erfolgte Veröffentlichung der Briefe des Fürsten an seine Braut und Gattin erleichtert mir den Entschluß, auch mit meinen Erinnerungen an die Fürstin hervorzutreten und einen Teil des Schatzes herauszugeben, den ich in ihren schriftlichen Mitteilungen besitze. Die Briefe der edlen Frau geben Aufschlüsse über manche weniger bekannte Erlebnisse ihres Gemahls und werden viele Seelen zu herzlicher Verehrung anregen. Charlottenburg, den 20. September 1901. Robert von Keudell

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I. Aus Berlin und Pommern. 1846 bis 1853. Im August 1846 sah ich zum ersten Mal Herrn von Bismarck-Schönhausen. Fräulein von Puttkamer-Reinfeld, welche sich im folgenden Jahre mit ihm vermählte, hatte bei kurzem Aufenthalt in Berlin mich schriftlich eingeladen, ihr und einigen Freunden im Saale des damals berühmten Klavierbauers Kisting um 5 Uhr nachmittags etwas vorzuspielen. An der Fensterwand standen ein Sofa und einige Stühle, quer davor der Flügel, so nahe, daß ich während des Spielens die Zuhörer genau sehen konnte. Rechts neben mir, am ersten Fenster, saß Fräulein von Puttkamer, auf dem Sofa Herr von Blanckenburg, der später als ein Führer der Konservativen im Landtage hervortreten sollte. Er begrüßte mich als alten Bekannten, da wir früher einmal in der Schweiz zusammengetroffen waren. Neben ihm auf dem Sofa saß seine junge, auffallend schöne Frau und neben dieser am zweiten Fenster auf einem Sessel, in hellem Tageslichte, Herr von Bismarck, welcher gewöhnlich die Unterhaltung führte. Seine weiche Sprechstimme in Baritonlage war meinem Ohre wohlthuend. Kurz geschorene blonde Haare und ein kurzer Vollbart umrahmten das freundliche Gesicht; unter buschigen Brauen sehr hervortretende, hellstrahlende Augen. Er sah jugendlich aus, hatte aber das Wesen eines vollkommen gereiften Mannes. Nach einleitenden Stücken spielte ich auf Verlangen von Fräulein von Puttkamer etwas von Beethoven. Bismarck erwähnte, daß er als Student lange mit einem Kurländer, Grafen Alexander Keyserling, zusammengewohnt und von diesem oft beethovensche Musik gehört habe, welche ihm besonders zusage. Darauf spielte ich eine lange Sonate (f-Moll) und sah bei deren leidenschaftlich erregtem letztem Stück eine Thräne in Bismarcks Auge glänzen. Eine besondere Erinnerung mochte ihn bewegen; denn niemals habe ich später wahrgenommen, daß Musik so stark auf ihn wirke. Als Minister hat er einmal nach demselben Stücke gesagt: „Das ist wie das Ringen und Schluchzen eines ganzen Menschenlebens“; damals aber sagte er nichts. Ich spielte noch ein ruhiges Stück und setzte mich dann zu den andern. 28

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I. Aus Berlin und Pommern. 1846 bis 1853.

Zufällig sprach man von dem unerbittlichen deutschen Ehrgefühl. Bismarck erzählte von einem hochbegabten Göttinger Studenten, der abends beim Wein wettete, er würde auf seiner edlen Rappstute in einem Bach bis an das sich drehende Mühlrad galoppieren und über das Rad hinunterspringen. „Vergebens bemühten wir uns am folgenden Tage, ihm die Ausführung dieser unsinnigen Wette auszureden. Er glaubte seine Ehre verpfändet. Viele Freunde waren an der Mühle versammelt. Das schöne Pferd kam im Mühlbach ruhig galoppierend an das schäumende Rad heran. Ohne zu stutzen, trug es den Reiter auf das Rad und in die Tiefe; aber beide standen nicht wieder auf.“ Nach einer kleinen Pause nahm Frau von Blanckenburg mit anmutiger Freundlichkeit das Wort, um mir von heiteren musikalischen Erlebnissen der letzten Tage zu erzählen. Die Anwesenden hatten zusammen mit mehreren sangeskundigen Damen und Herren der Familien von Mittelstädt und Wangemann soeben eine mehrtägige Reise durch den Harz gemacht und aus manchen schönen Punkten waren vierstimmige Lieder gesungen worden. Als man aufbrach, um im Gasthaus das Abendessen zu nehmen, fragte mich Herr von Bismarck: „Werden Sie sich uns jetzt anschließen?“ Ich war leider verhindert. Fräulein von Puttkamer-Reinfeld hatte ich ein Jahr früher in Pommern kennengelernt. Sie war befreundet mit Anna von Blumenthal-Quackenburg, deren Mutter, eine Schwester meiner Mutter, als Witwe in dem pommerschen Städtchen Stolp lebte. Ich hatte einige Jahre in Berlin studiert und war dann beim dortigen Stadtgericht eingetreten. Auf einer Ferienreise aus meiner ostpreußischen Heimat nach Berlin zurückkehrend, besuchte ich meine Tante und fand in deren Hause Fräulein Johanna von Puttkamer, eine junge Dame, welche von Verwandten und Freundinnen sozusagen vergöttert wurde. Als einziges Kind gottesfürchtiger Eltern hatte sie eine sehr sorgfältige Erziehung erhalten. Sie stand im dreizehnten Lebensjahre, als einmal im Reinfelder Wohnhause Feuer ausbrach. Da bewies sie mehr Geistesgegenwart als alle andern Hausbewohner und rettete mit eigener Hand die wertvollsten Gegenstände. Das wurde in der ganzen Umgegend bekannt. Heranwachsend gewann sie die Herzen durch anmutige Bescheidenheit bei tapferem Freimut. Ihre Gesichtszüge waren nicht regelmäßig schön, aber durch sprechende blaue Augen eigentümlich belebt und von tiefschwarzem Haar umschattet. 29

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Für Musik hatte sie eine besondere Begabung. Ohne guten Unterricht genossen zu haben, spielte sie viele Klavierstücke auswendig und namentlich volkstümliche Melodien mit natürlichem Ausdruck. Ungewöhnlich war ihre musikalische Empfänglichkeit. Triviales wie Schwülstiges schroff abweisend, wurde sie von warm empfundener Musik lebhaft ergriffen und nie ermüdet. Da es in ihrer ländlichen Abgeschiedenheit an neuen Musikstücken fehlte, übernahm ich gern, aus einer Berliner Bibliothek regelmäßig ihren Bedarf zu beschaffen. Bald darauf kam sie einmal mit ihrer Mutter nach Berlin und besuchte meine Mutter, bei der ich wohnte. Dann führte ich die Damen zu Kisting und ließ sie dessen besten Flügel hören. Im folgenden Sommer machte Fräulein von Puttkamer mich in der erwähnten Weise mit ihren Freunden bekannt. Meine regelmäßigen Sendungen von Musikheften dauerten fort, bis sie im Juli 1847 das Elternhaus verließ. Im Januar hatte sie sich verlobt. Zwanzig Jahre später sprach Bismarck einmal über den Eindruck, den seine Erscheinung auf die Damen der Nachbarschaft von Reinfeld gemacht hätte, denen er plötzlich als „Johannas Verlobter“ vorgestellt wurde. „Die vielen Cousinen,“ sagte er, „nahmen es sehr übel, daß sie vorher gar nichts von der Sache erfahren hatten, und fixierten ihre Meinung bald übereinstimmend dahin: ‚Ja, haben möchten wir ihn nicht, aber er ist ja sehr vornehm‘. Nun ist doch ein pommerscher Gutsbesitzer nicht vornehmer wie der andere; aber man hatte gehört, daß ich öfters am Hofe gewesen war, und das gab mir in dem abgelegenen Ländchen ein Relief.“ Diese Worte ergänzten eine Nachricht, die ich bald nach der Verlobung erhalten hatte. Die Cousinen und Freundinnen der Braut waren in ernster Sorge wegen ihrer bevorstehenden Verbindung mit einem Manne, der seit Jahren in Pommern der „tolle Bismarck“ genannt wurde. Man hatte gehört, „seine Verhältnisse wären sehr verwickelt und er wohl nicht ganz der Mann, sie in Ordnung zu bringen, viel unterwegs und viel mit andern Dingen als mit  ­seiner Wirtschaft beschäftigt.“ Wer man fand einen Trost darin, daß seine Persönlichkeit den Eindruck ungewöhnlich vornehmer Gesinnung machte.

* * * Bald nach dieser Verlobung erschien das königliche Patent, durch welches die Stände der einzelnen Provinzen Preußens zu einem „Vereinigten Landtage“ einberufen wurden. 30

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I. Aus Berlin und Pommern. 1846 bis 1853.

König Friedrich Wilhelm III. hatte in verschiedenen Kundgebungen (1815, 1820, 1823) in Aussicht gestellt, die Machtfülle der Krone durch Reichsstände einzuschränken, namentlich (1820) für Fälle von neuen Belastungen der Staatsfinanzen. Es kam jedoch unter seiner Regierung nur zu gesetzlicher Einrichtung von Kreis- und Provinzialständen. Die französische Julirevolution sowie deren Nachwirkungen in Polen, Belgien und einigen deutschen Staaten verstärkten die in Berlin obwaltenden Bedenken gegen Gewährung einer reichsständischen Verfassung. Nach der Thronbesteigung Königs Friedrich Wilhelm  IV. regten sich lebhafter in weiten Kreisen des Volkes die lange zurückgehaltenen politischen Wünsche. Aber während die Landtage der Provinzen Preußen, Posen und Rheinland bei jeder Gelegenheit um Gewährung der verheißenen Reichsstände petitionierten, warnten eindringlich davor die Landtage von Brandenburg und Pommern. Der König verharrte einige Jahre in ablehnender Haltung. Da trat das Bedürfnis hervor, zum Zwecke der Eisenbahnverbindung Ostpreußens mit Berlin eine Staatsanleihe aufzunehmen oder wenigstens eine staatliche Zinsgarantie zu gewähren. Beides erwies sich unausführbar ohne die in dem Gesetze vom 17.  Januar 1820  vorgesehene reichsständische Genehmigung. Diese Schwierigkeit gedachte man durch einmalige Vereinigung der Landtage aller Provinzen in Berlin zu beseitigen. Bismarck war nur als Stellvertreter eines Abgeordneten der sächsischen Ritterschaft gewählt und hoffte das Frühjahr nicht in Berlin, sondern großenteils in Reinfeld zu verleben. Es sollte aber anders kommen. Der Abgeordnete war behindert, der Stellvertreter mußte im April dessen Sitz im Vereinigten Landtage einnehmen und fand am 17. Mai Anlaß, mitzusprechen. Seine Erlebnisse bei diesem ersten Auftreten erzählte Bismarck mehrere Jahre später in folgender Weise: „Der Landtag hatte eine Gesetzesvorlage über Rentenbanken aus verschiedenen Gründen abgelehnt. Der Abgeordnete von Saucken kam zwei Tage später darauf zurück und sagte, die Gesetzgebung komme nicht vorwärts, weil im Volke das volle Vertrauen zu der Staatsregierung fehle, welche durch Einberufung des Vereinigten Landtages die alte Verheißung von Reichsständen nicht erfüllt habe. Man solle nur an 1813 denken; damals habe das Volk sich einmütig erhoben aus Dankbarkeit für die liberale Gesetzgebung von 1807. „Ich sagte darauf: Ich und viele andere hätten nicht aus politischen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen gegen das Rentenbankgesetz gestimmt. Ich müsse auch dem widersprechen, daß die Volkserhebung von 1813 ­anderen 31

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Beweggründen zuzuschreiben wäre als dem Zorn über die Schmach, daß Fremde in unserem Lande geboten; es heiße der Nationalehre einen schlechten Dienst erweisen, wenn man annehme, daß die Mißhandlungen, die die Preußen jahrelang durch fremde Gewalthaber erlitten, nicht hingereicht hätten, ihr Blut in Wallung zu bringen und ihren Haß zu entflammen. „Ich wurde mehrfach durch lautes Murren unterbrochen. Zwei Redner gaben Saucken recht und sagten, ich dürfe gar nicht mitreden, weil ich 1813 noch nicht gelebt hätte. „Als ich wieder die Tribüne bestieg, wurde ich von Pfuirufen begrüßt. Ich kehrte der Versammlung den Rücken, zog die Spenersche Zeitung aus der Rocktasche und las ruhig, bis der Lärm aufhörte. „Dann sagte ich trocken: Ich kann allerdings nicht in Abrede stellen, im Jahre 1813 noch nicht gelebt zu haben. Ich habe immer aufrichtig bedauert, daß mir nicht vergönnt gewesen ist, an der damaligen Bewegung teilzunehmen; mein Bedauern ist aber vermindert worden durch die heute erhaltene nicht sehr dankenswerte Belehrung. „Als ich die Tribüne verließ, erneutes Toben. „Bald nachher äußerte zu mir beim Essen ein älterer Verwandter: ‚Du hattest ja ganz recht; aber so etwas sagt man doch nicht‘. Ich erwiderte: wenn du meiner Meinung warst, hättest du mir beistehen sollen. Nur dein eisernes Kreuz hindert mich, dir einen verletzenden Vorwurf zu machen. Bismarck fügte hinzu: „Mut auf dem Schlachtfelde ist bei uns Gemeingut; aber Sie werden nicht selten finden, daß es ganz achtbaren Leuten an Civilcourage fehlt. „Dieses erste Erlebnis auf parlamentarischem Boden steigerte meine natürliche Kampflust wie meinen Haß gegen die landläufigen hohlen Phrasen.“ Die vorstehende, nach einer im Sommer 1864  gehörten Erzählung geschriebene Darstellung der Vorgänge vom 17. Mai 1847  stimmt mit dem stenographischen Sitzungsbericht im Wesentlichen überein; die kurze Erwähnung derselben in den fast dreißig Jahre später diktierten „Gedanken und Erinnerungen“ (I, S. 18) lautet etwas abweichend. Nach Uebernahme des Ministerpräsidiums war Bismarck inmitten einer überwältigenden Masse täglich herantretender Geschäfte fast ununterbrochen thätig in schöpferischem Erfinden und Gestalten künftiger Bildungen; auf Einzelheiten der Vergangenheit zu ruhen, lag dem immer vorwärtsdrängenden Geiste fern. So erkläre ich mir, daß trotz seines vielfach als ungewöhnlich stark bewährten Gedächtnisses bald nach 1866 in seinen Vorstellungen von vergangenen Dingen mitunter Lücken wahrzunehmen waren, deren er sich nicht bewußt zu werden schien, weil eine rastlose Phan32

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tasie ihm jederzeit Bilder zur Verfügung stellte, welche in die Lücken paßten. Einmal, im Herbst 1868, klagte er selbst über Nachlassen seines Gedächtnisses. Er hatte zufällig in Varzin viele an ihn gerichtete Briefe eines Engländers aufgefunden, dessen er sich in keiner Weise erinnern konnte. Ueber die Vorgänge des 17. Mai 1847  äußerte sich nach Blanckenburgs Zeugnis dessen Gutsnachbar, der damals als politischer Schriftsteller bekannte Herr von Bülow-Kummerow, in folgenden Worten: „Ich habe den Bismarck doch für einen gescheiten Menschen gehalten; ich begreife nicht, wie er sich so blamieren konnte!“ Blanckenburg erwiderte: „Ich finde, daß er recht hatte, und freue mich, daß er Blut geleckt hat. Sie werden nun den Löwen bald noch ganz anders brüllen hören.“ Wirklich zeigte sich Bismarck schon in den nächsten Wochen als ein bedeutender Redner und als ein ernster Staatsmann, welcher seine der Majorität antipathischen Ueberzeugungen umsichtig vertrat. Der Vereinigte Landtag lehnte die ihm zugemutete Genehmigung einer Anleihe für die Ostbahn ab, weil ihm weder Einsicht in die gesamte Finanzlage gewährt noch Periodicität seiner Sitzungen zugesagt worden war. Bismarck führte neben dem Freiherrn Otto Manteuffel die Minorität, welche die Anleihe bewilligen wollte. Er vertrat zwar in keiner Weise die Ansicht vieler Märker und Pommern, daß Reichsstände ein Unglück für das Land sein würden, aber er wollte die Krone nicht drängen. In England, sagte er, sei 1688, in Frankreich 1815 das Volk in der Lage gewesen, die Krone zu verschenken und an dieses Geschenk Bedingungen zu knüpfen; in Preußen aber sei die Machtfülle des Monarchen seit Jahrhunderten unbeschränkt gewesen; und wenn die Krone manche politische Rechte zum Wohle des Landes freiwillig abgetreten habe, so dürfe man vertrauen, daß sie darin auch weiter gehen werde. … Ueber die Beschaffenheit unseres Rechtsbodens gingen die Ansichten weit auseinander; man möge aber die Blume des Vertrauens nicht ausreißen und wegwerfen wie ein Unkraut, welches den Rechtsboden verdecke. Ich darf erwähnen, daß ich, in ostpreußischen Anschauungen aufgewachsen, die mehrfach verheißene reichsständische Verfassung für eine gesunde Entwickelung unseres politischen Lebens ersehnte und daher Bismarcks Stellungnahme, bei aller Bewunderung seines Talents, tief bedauerte. Sein Anschluß an die Majorität würde  – so schien es mir  – deren Drängen unwiderstehlich gemacht haben. Diese Hypothese war aber ein Irrtum. Denn, wenn Bismarck es wirklich mit seiner Ueberzeugung hätte vereinigen können, sich der Majorität anzuschließen, so würden Manteuffel und die anderen Mitglieder der Minorität dem Neuling nicht gefolgt sein. 33

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Heute meine ich, daß die Haltung Bismarcks auf dem Vereinigten Landtage politisch nützlich gewesen ist, weil sie das besondere Vertrauen hervorgerufen hat, womit der König ihn in den folgenden Jahren, zum Heile des Landes, beehrte. Wenn er 1847  mit der Majorität ging, so wäre er wahrscheinlich weder im Herbst 1848 in die Lage gekommen, das Ministerium Brandenburg-Manteuffel zusammenzubringen, noch hätte er 1851  den Frankfurter Posten erhalten, welcher ihn auf die Lösung der Aufgabe Preußens in Deutschland vorbereiten sollte. Anfang September 1847 kam er auf seiner Hochzeitsreise nach Venedig, wo der König zufällig verweilte, und wurde sogleich zur Tafel gezogen.

* * * Einige Wochen früher kam ich in die Gegend von Pommern, in welcher Bismarck von 1839 bis Ende 1845 gewohnt hatte und auch nach Uebernahme des altmärkischen Stammgutes Schönhausen bis zur Verpachtung der Güter Kniephof und Jarchelin (Ende 1846) oft gewesen war. Der aus Ostpreußen gebürtige Präsident des Oberlandesgerichts in Cöslin hatte mich nämlich eingeladen, nach Ablegung des Richterexamens die vor der letzten juristischen Prüfung notwendigen praktischen Arbeiten unter seiner Leitung zu erledigen, um schneller als in Berlin möglich zum Ziele zu kommen. Auf dem Wege nach Cöslin besuchte ich einen Bruder, welcher seit Kurzem bei dem damals in Treptow (jetzt in Thorn) stehenden Ulanenregiment als Rittmeister diente, und blieb einige Wochen bei ihm. Wir ritten fast täglich nach dem an der Regamündung gelegenen Seebade Deep, wo ich häufig mit dem Landrat des Kreises, Herrn von Marwitz-Rützenow, zusammenkam. Dieser liebenswürdige und gescheite Mann fand Vergnügen an meinem Klavierspiel und belohnte mich gelegentlich durch ausführliche Mitteilungen über „Otto Bismarck“, der schon als Schüler in Berlin einige Zeit mit ihm zusammen gewesen war und kürzlich mehrere Jahre im benachbarten Naugarder Kreise gewohnt hatte. Er erzählte: „Wenn ich nach langer Fahrt auf schlechten Wegen bei ihm in Kniephof ankam, wurde ein einfacher Imbiß aufgetragen; er nahm Porter und Sekt aus dem Wandschrank, setzte die Flaschen vor mich hin und sagte: Help yourself. Während ich mich stärkte, sprach er viel und anregend. Er hatte Reisen in Deutschland, England und Frankreich gemacht und las gewaltig viel, meistens Geschichtswerke. Er vertiefte sich auch gern in Spezialkarten, nament34

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lich von Deutschland und in die alte zwanzigbändige „Erdbeschreibung“ von Büsching, welche ausführliche Angaben über die meisten deutschen Landschaften enthält. Von sehr vielen Gütern in Pommern, in der Mark und im Magdeburgischen kannte er die Bodenverhältnisse, die Größen und sogar die zu verschiedenen Zeiten dafür gezahlten Kaufwerte. „Auch über Politik sprach er gern; und was er sagte, klang manchmal ziemlich oppositionell, weil ihm die schleppende Geschäftsbehandlung bei den Regierungskollegien in Aachen und Potsdam mißfallen hatte. Aber sein Soldatenherz kam bei jedem Anlaß zum Vorschein. „So betonte er im vorigen Jahre gegenüber mehreren älteren Herren, welche mit den aufständischen Polen sympathisierten, daß diese Posener als eidbrüchige Hochverräter hätten bestraft werden sollen. „In früher Jugend hatte er Soldat werden wollen, seine Frau Mutter aber wünschte ihn dereinst als wohlbestallten Regierungsrat zu begrüßen. Ihr zuliebe verbrachte er mehrere Jahre im Justiz- und Verwaltungsdienste, fand aber keinen Geschmack daran. Nach ihrem Tode kam er in unsere Gegend und genoß die Freiheit des Landlebens in vollen Zügen. „Er freute sich immer sehr, wenn man ihn besuchte; und wenn man fortfuhr, pflegte er die Gäste zu Pferde bis über seine Gutsgrenzen zu begleiten. Zu seinem Vergnügen kam er einmal nach Treptow und diente längere Zeit als Landwehrleutnant bei den Ulanen. Das kameradschaftliche Leben sagte ihm sehr zu. „Er war der verwegenste Reiter und stürzte öfters, einmal so gefährlich, daß ein anderer wohl nicht lebendig davongekommen wäre; aber seine Riesennatur trotzte jeder Störung. „Die meisten Besuche, auch auf weite Entfernungen, machte er zu Pferde und brachte lebendigen Verkehr in die ganze Gegend. „Er war ein vorzüglicher Jäger und oft König der Jagd. In Kniephof war das Jagddiner immer einfach, doch saßen wir, trinkend und rauchend, gewöhnlich bis in die tiefe Nacht. Bismarck war ein starker Zecher, aber niemals hat ihn jemand berauscht gesehen. „Eines Abends wollte ich mit einem Freunde von Regenwalde nach Naugard fahren. Es war schon spät, als wir durch Kniephof kamen, und wir beschlossen, dort die Nacht zu bleiben. Bismarck empfing uns sehr freundlich, sagte aber sogleich, er könne uns am andern Morgen keine Gesellschaft leisten, da er schon um 7 Uhr nach Naugard fahren müßte. Das wollten auch wir. Er empfahl uns wiederholt, nicht so früh aufzubrechen, sagte aber endlich: ‚Gut, wenn ihr es denn nicht anders wollt, so werde ich euch um halb sieben wecken‘. 35

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„Es war ziemlich spät, als er uns die Treppe hinauf zum Schlafzimmer geleitete. Vor dem Einschlafen sagte mein Gefährte: ‚Ich habe mehr getrunken, als ich gewohnt bin, und möchte morgen ausschlafen‘. ‚Das wird nicht gehen‘, sagte ich, ‚denn nach dem, was wir abgemacht haben, wird Bismarck uns um halb sieben mobil machen‘. ‚Abwarten‘, sagte der andre, verschloß die Thür und schob mit äußerster Kraftanstrengung einen schweren Schrank davor. Um halb sieben – es war schon hell – ruft Bismarck vor der Thür: ‚Seid ihr fertig?‘ Keine Antwort. Er drückt vergebens auf die Klinke und stößt mit dem Fuße die alte Thüre ein, kann aber des Schrankes wegen nicht weiter. Bald darauf ruft er im Hofe: ‚Seid ihr fertig?‘ Kein Laut. Sogleich krachen zwei Pistolenschüsse, die Fensterscheiben klirren, und Kalk von der angeschossenen Decke fällt auf das Bett meines Gefährten. Da gibt dieser das Spiel verloren, bindet ein Handtuch an seinen Stock und steckt es als Friedensfahne zum Fenster hinaus. Bald darauf waren wir unten. Bismarck empfing uns beim Frühstück mit gewohnter Liebenswürdigkeit, ohne seines kleinen Sieges zu erwähnen. „Später war ich einmal mit mehreren Bekannten zur Jagd in Kniephof. Die nach der Jagd erforderliche Reinigung dauerte bei uns ziemlich lange. Da fielen in kurzen Pausen fünf Pistolenschüsse; wir hörten, wie die Kugeln in die Fensterkreuze einschlugen. Otto amüsierte sich, uns zu necken. Niemandem fiel es ein, daß er hätte vorbeischießen und einen von uns treffen können, denn wir kannten seine Pistole als unfehlbar sicher; aber der Effekt der Schüsse war doch eine merkliche Beschleunigung unserer Vorbereitungen zum Diner. Dann gab es eine scharfe Sitzung. Am andern Morgen fanden wir unsern Wirt nicht beim Frühstück, vermuteten ihn noch schlafend und fuhren möglichst geräuschlos fort, um zur Jagd bei einem ziemlich entfernt wohnenden Nachbarn nicht zu verspäten. Dort kam Otto uns lachend entgegen; er war auf seinem Lieblingspferde Caleb, einem großen, schnellen Braunen, vorangeritten, um uns zu überraschen. „Wegen solcher lustiger Streiche nannte man ihn damals den „tollen Bismarck“; wir wußten aber genau, daß er viel klüger war, als wir alle zusammen. „Vor längerer Zeit ritt er eines Tages auf Caleb neun Meilen (63 km), um in dem Badeorte Polzin den Abend zu tanzen und dabei eine viel umworbene junge Dame kennenzulernen. Er machte ihr den Hof, schien ihr zu gefallen und dachte an Verlobung. Am folgenden Tage aber gab er diesen Gedanken auf, weil er erkannte, daß ihr Charakter nicht zu dem seinigen paßte. Tief verstimmt ritt er in der Nacht nach Hause. Quer durch einen Wald galoppierend, stürzte Caleb in einen breiten Graben. Bismarck wurde mit dem Kopf gegen einen Hügel geschleudert und blieb einige Zeit bewußtlos liegen. Als 36

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er erwachte, sah er beim Mondschein den treuen Caleb neben sich stehen, stieg auf und ritt ganz langsam nach Hause. „Nach dieser Begebenheit, die ihn, wie er erzählte, einigermaßen erschüttert hatte, war eine Zeit lang wenig von ihm zu hören. „Bismarcks alter Schulfreund Blanckenburg-Zimmerhausen hatte im Herbst 1844 eine entzückende junge Frau geheiratet, die Tochter des Herrn von Thadden-Trieglaff. Bei Blanckenburgs und Thaddens verkehrte er nun viel. In diesen Häusern wehte ein Geist echter Frömmigkeit und das schien ihm sehr zuzusagen. „Leider starb im Spätherbst 1846 Frau von Blanckenburg. Bald darauf verpachtete Bismarck seine pommerschen Güter. Da legten wir alle Trauer an. Wir hoffen aber, ihn von Zeit zu Zeit hier wiederzusehen, da er vor einigen Wochen eine Perle des Pommerlandes heimgeführt hat, die Johanna Puttkamer.“ So plauderte Marwitz. Alle diese kleinen Geschichten sind mir später noch von anderen pommerschen Herren, großenteils auch von Bismarck selbst, mit denselben Einzelheiten erzählt worden. Durch Marwitz angeregt, besuchte ich in jener Zeit den trauernden Witwer Blanckenburg in Zimmerhausen. Auch dieser Freund Bismarcks erzählte gern und viel von ihm. „Ich kannte ihn schon als Nachbarskind,“ sagte er, „da seine Eltern während unserer Kindheit in Kniephof lebten. Später waren wir ein paar Jahre gleichzeitig auf dem Berliner Gymnasium zum Grauen Kloster. Er erschien mir schon damals als ein rätselhafter Mensch; nie sah ich ihn arbeiten, oft spazieren gehen, und doch wußte er immer alles und hatte immer alle Arbeiten fertig. Dann waren wir lange Zeit getrennt, bis er wieder in unsere ­Gegend kam. „Er trieb mehrere Jahre Landwirtschaft, fühlte sich aber davon nicht befriedigt und machte im Winter 1843/44  noch einen Versuch, sich bei der ­Regierung in Potsdam beschäftigen zu lassen, wo er früher schon einmal als Referendar gearbeitet hatte. Das wollte aber nicht glücken. Die Vorgesetzten langweilten, der schleppende Geschäftsgang erbitterte ihn. Der Oberpräsident, ein fleißiger Bureaukrat der alten Schule, hatte kein Verständnis für den außergewöhnlichen Menschen. Er schrieb eines Tages eigenhändig eine Verfügung, welche mit den Worten anfing: ‚Mir ist im Leben schon manches vorgekommen, aber noch kein Referendarius mit 63 Resten.‘ Zu mündlicher Verwarnung citiert, erzählte Bismarck dem Oberpräsidenten harmlos von den Berieselungsanlagen „auf seinen Gütern“ und von anderen landwirtschaftlichen Neuerungen. Es war vernünftig, daß er Potsdam 37

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bald wieder verließ. Nach Kniephof zurückgekehrt, fand er Gelegenheit, den Landrat des Naugarder Kreises, seinen Bruder, lange Zeit hindurch zu vertreten, und machte das ganz vorzüglich.“ „Nach meiner Verheiratung1 war er sehr viel bei uns. Wir hatten zusammen regelmäßige Shakespeareleseabende. Er fühlte, wie unser Leben durch den Glauben beglückt war und strebte ernstlich danach. Ich gab ihm manches Gute zu lesen; er sagte aber mehrmals, er könne sich nicht überzeugen. Schon gab ich fast alle Hoffnung auf. Da kam er eines Tages und sagte, ihm sei geholfen. Gott habe ihn auf den Rücken geworfen und stark geschüttelt. Da sei ihm der Glaube gekommen, zu dem er sich nun freudig bekenne. „Wir, meine selige Frau und ich, waren tief ergriffen von diesem Wunder. Unser Verkehr mit Bismarck wurde nun noch inniger. „Anfangs vorigen Jahres sagte er einmal: ‚Die Landwirtschaft gibt mir nicht genug zu thun; übers Jahr möchte ich entweder eine Frau haben oder ein Amt.‘ Sein Gebet ist erhört worden; er hat die beste Frau gefunden und eine politische Führerstellung errungen, die ihm vielleicht mehr zu thun geben wird wie ein Staatsamt.“ So erzählte Blanckenburg. Bismarck hat bekanntlich in vielen veröffentlichten Briefen sowie in mehreren Parlamentsreden mit frohem Mut von seinem evangelischen Glauben Zeugnis abgelegt. In Privatgesprächen äußerte er als Gesandter wie als Minister, mehrmals, daß früher, ehe er g l a u b t e , das ganze Leben für ihn wenig Wert gehabt habe. Der Glaube heilige die Pflichterfüllung. In der Zeit des Verfassungskonfliktes habe er nur durch den festen Ankergrund des Glaubens die Kraft gefunden, alle Stürme und Gefahren zu bestehen. Das Glück des Glaubens wünschte er jedem Freunde, ohne jemals danach zu fragen. Als aber einmal ein befreundeter Ausländer seinen Unglauben offen bekannte, sagte er: „Ich wünsche Ihnen von Herzen, daß Gott Sie stark zu Boden wirft und durchschüttelt; das könnte Ihnen helfen.“ ‒

* * * Im Winter 1847/48 kam Blanckenburg einmal zu einer landwirtschaftlichen Versammlung nach Köslin und machte mich bekannt mit seinem Schwieger1

Die Vermählung des Herrn von Blanckenburg mit Fräulein Maria von Thadden wurde am 4. Oktober 1844 in Trieglaff gefeiert, nicht, wie Poschinger (Neue Tischgespräche, Bd II, S. 1) angibt, im April 1846.

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vater, Herrn von Thadden-Trieglaff, an dessen prachtvollem Kopf ich mich nicht sattsehen konnte, sowie mit dem nachmaligen Führer der äußersten Rechten, Herrn von Kleist-Retzow, einem Stiefonkel der Frau von Bismarck. Nach der Versammlung, welcher ich als Gast beiwohnte, kamen die drei Herren in meine Wohnung, um Musik zu hören, und erzählten, daß Bismarcks in Schönhausen in glücklicher Zurückgezogenheit lebten. Der März des Jahres 1848  brachte die politischen Stürme, welche in Deutschland alle Ministerien wegfegten und manche Throne zu erschüttern schienen. Den in unklarer Gärung tobenden Berliner Volksmassen wurden feierliche Zugeständnisse gemacht, von denen ein Teil, einige Wochen früher dem Staatskörper eingeimpft, ihn vielleicht vor dem Ausbruch des importierten Revolutionsfiebers geschützt haben würde. Zur Feststellung des Wahlgesetzes für eine preußische Nationalversammlung berief der König noch einmal den „Vereinigten Landtag“. Damals befand ich mich infolge des Todes meiner Mutter einige Zeit in Königsberg und hörte dort manche Urteile liberaler Männer über Bismarck. Man war einig in der Anerkennung der würdigen Worte, mit denen er im Landtage seinem Schmerz über das Geschehene Ausdruck gegeben hatte. Lebhaften Beifall fanden in der Provinz auch seine Worte über eine Vorlage des Finanzministers Hansemann, welcher einen erheblichen Kredit zur Hebung von Handel und Industrie verlangt hatte. Bismarck vermißte darin irgendeine Berücksichtigung der Landwirtschaft und sagte, der Minister schiene die Dinge mehr „durch die Brille des Industrialismus“ zu sehen als mit dem klaren Auge des Staatsmannes, der alle Interessen des Landes mit gleicher Unparteilichkeit überblickt.

* * * Im Juli 1848 hatte ich Gelegenheit, Herrn und Frau von Bismarck einmal, wenn auch nur flüchtig, zu sehen. Von der Frankfurter Nationalversammlung war angeregt worden, für Gründung einer deutschen Flotte in Privatkreisen zu sammeln. Dieser Zweck begeisterte mich und zwei andere junge Leute zu dem harmlosen Unternehmen, mitten im Sommer vier kleine Städte (Köslin, Colberg, Rügenwalde und Stolp) mit Konzerten heimzusuchen. Den Ertrag derselben (im Ganzen 207 Thaler) erhielt das Stettiner Flottenkomitee. Zu dem Stolper Konzert, welches an einem heißen Nachmittage stattfand, kamen Bismarcks aus dem nahe gelegenen Seebade Stolpmünde herüber. 39

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Ich erschrak, als ich ihn sah. Kummervoller Ernst auf seinen gefurchten Zügen, das Haupthaar gelichtet; er schien seit unserm Zusammensein bei Kisting um viele Jahre gealtert. Ich hatte erfahren, daß er nur neun Jahre älter war als ich; doch schien es mir jetzt, als läge ein volles Menschenalter zwischen uns. Nach dem Konzert sagte er mit kühler Höflichkeit: „es war schon heiß genug, aber Sie haben es uns doch noch heißer gemacht“. Dann fuhren die Stolpmünder Gäste zum Seestrande zurück, ich zu Verwandten aufs Land. Anfang 1849 ging ich nach Berlin, um beim Kammergericht zu arbeiten. Bismarck hatte weder für die Berliner noch für die Frankfurter Nationalversammlung kandidiert, wurde aber nach Oktroyierung der preußischen Verfassung in die zweite Kammer gewählt und kam im März mit Familie nach Berlin. Ich schrieb der bereits erwähnten, mit Frau von Bismarck befreundeten Cousine, ich würde die Familie wohl nicht sehen, wenn nicht Herr von Bismarck mir durch einen Besuch zu erkennen gäbe, daß ihm der Verkehr mit mir nicht unerwünscht wäre; denn ich wolle den Schein vermeiden, mich an einen einflußreichen Mann heranzudrängen. Der Größe dieser Prätension war ich mir nicht bewußt. Daß man durch Kartenschicken einen Besuch abmachen könnte, war mir, wie wohl vielen damaligen Berlinern, noch unbekannt; sonst hätte ich natürlich nichts begehrt als den Besitz einer Visitenkarte. Ich erfuhr nicht, ob die Cousine meine Mitteilung weitergegeben hatte; nach einiger Zeit aber kam Bismarck zu Fuß nach meiner Wohnung, die in einem der letzten Häuser der Linkstraße lag, wo damals die Stadt aufhörte. Er fand dort zwei meiner Freunde, die auf meine Rückkehr von einem Spaziergange warteten. Sie luden ihn zum Rauchen ein; er verweilte einige Zeit und sprach mit diesen Unbekannten offenherzig über die politische Lage. Unter anderem sagte er: „Einstweilen muß es uns noch viel schlechter gehen; erst nach zwei oder drei Jahren wird man Leute wie Kleist-Retzow und mich im Staatsdienste verwenden können.“ Diese Worte kamen mir ins Gedächtnis, als zwei Jahre später Kleist für Koblenz, Bismarck für Frankfurt ernannt wurde. Im Frühjahr 1849  wohnte die Familie in einem Eckhaus der Wilhelmsund Behrenstraße. Herr und Frau von Bismarck empfingen mich in freundschaftlicher Weise und luden mich ein, sooft ich Zeit hätte, in der ersten Abendstunde, nämlich vor dem Beginn der Fraktionssitzungen des Abgeordnetenhauses, zu kommen. Ich benutzte diese Erlaubnis gewöhnlich einmal in der Woche und hörte fast jedes Mal irgendeine bedeutsame Aeuße40

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rung. In dem geräumigen Wohnzimmer stand ein Pianino. Wenn Zeit und Stimmung für Musik vorhanden war, wünschte er nur leidenschaftlich aufgeregte Stücke. Ruhige oder heitere Musik nannte er „vormärzlich“.

* * * Die trotz des Belagerungszustandes in einigen öffentlichen Lokalen stattgehabten Märzfeiern gaben Bismarck Gelegenheit zu einer höhnischen Herausforderung der äußersten Linken. Am 21. März sagte er in einer Rede über den Belagerungszustand: „Es wird von jener Seite des Hauses (der linken) jetzt behauptet, daß der Geist des Aufruhrs gänzlich geschwunden sei. Jedoch die Vorgänge am 18. März d. J. sind keineswegs geeignet, diese Behauptung zu bestätigen. „Noch weniger sind die Lieder, die zur Feier des 18. März in Gesellschaften gesungen werden, beruhigender Natur. Mir sind zufällig einige der Art in die Hände geraten. „In einem dieser Lieder werden die Anhänger der Freiheit zu einem tödlichen Kampfe aufgerufen; sie werden aufgerufen, sich unter dem blutroten Banner, dessen Bedeutung wir kennen, zu versammeln. Dieses Banner soll nun gefärbt werden mit Blut, nachdem das Gold der Freiheit daraus gestohlen, das Schwarz hinausgeworfen sei. Es heißt dann: Wir färben echt, Wir färben gut, Wir färben mit Tyrannenblut! „Ich möchte an die Versammlung die Frage richten, ob vielleicht in unserer Mitte sich Herren befinden, welche Gesellschaften, wo Lieder dieser Art gesungen, für welche sie ausdrücklich gedichtet worden, beigewohnt haben, und ob sie uns vielleicht Auskunft darüber geben könnten, welches die Tyrannen sind, mit deren Blut gefärbt werden soll. Eine Gesellschaft derart war z. B. im Café de l’Europe. (Zischen links, Bravo rechts. Eine Stimme: singen.) „Ich weiß, meine Herren auf dieser Seite, daß Sie andrer Ansicht sind wie ich. Es war auch keineswegs meine Absicht, Ihre Ansicht auszusprechen, sondern die meinige. Ich bin nicht hierhergeschickt, Ihre Meinung auszusprechen. Ihre Zeichen, Ihre Unterbrechungen werden nur die Diskussion aufhalten. Wer seine Ansicht mit anderen Waffen, als denen des Geistes verteidigt, von dem muß ich voraussetzen, daß ihm die Waffen des Geistes ausgegangen sind. Wer noch Gründe des Verstandes vorrätig hat, von dem erwarte ich, daß er sie nach mir anwenden wird. Zischen und Geschrei von 41

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Singen gehört nicht hierher. Wer das Lied nachher singen will, für den werde ich es hier deponieren. „Also ich habe auf meine Frage keine Antwort schalten und gehe daher über sie hinweg.“ Der kleine Kreis von gemäßigt liberalen Juristen und Literaten, in dem ich damals verkehrte, war entzückt über die Art, wie Bismarck die Waldeck, d’Ester und andere Teilnehmer jener Märzfeier an die Wand gedrückt hatte. Man nannte ihn zwar oft einen Reaktionär, bewunderte ihn aber als einen „höllischen Kerl“. In jener Zeit wurde in der Frankfurter Paulskirche durch Kompromisse der gagernschen Partei mit der äußersten Linken die Reichsverfassung mit einer Majorität von vier Stimmen zustande gebracht. Eine Deputation der Nationalversammlung kam nach Berlin, um dem König die deutsche Kaiserkrone anzubieten. Die große Mehrzahl aller jungen Leute wie auch der zünftigen Politiker wünschte in glücklicher Sorglosigkeit, daß diese Gelegenheit zur Einigung der deutschen Stämme unter Preußens Führung nicht ungenutzt vorübergehen möchte. Die Erwägung der äußeren politischen Verhältnisse kam den meisten gar nicht in den Sinn. Daß die Annahme der Reichsverfassung in irgendeiner Form zu Kriegen führen würde mit den deutschen Königen, mit Oesterreich, mit dem Kaiser Nikolaus und mit dem nach dem linken Rheinufer lüsternen westlichen Nachbar, daß aber das ungerüstete Preußen in solchen Kämpfen unterliegen müßte, das wurde nur von wenigen kühlen Beobachtern ausgesprochen; so zufällig mir gegenüber in gleicher Weise von zwei politischen Antipoden: dem Oberburggrafen von Brünneck und dem Professor Dirichlet. Der König lehnte die ihm angetragene Kaiserkrone ab, stellte aber Verhandlungen mit den deutschen Fürsten in Bezug auf die Reichsverfassung in Aussicht. Das Abgeordnetenhaus machte mehrere Versuche, nachträglich auf eine wenigstens bedingte Annahme der Reichsverfassung durch den König hinzuwirken. Als der Gegenstand zum letzten Mal verhandelt wurde (am 21. April), war ich unter den Zuhörern. Bismarck hatte den Antrag auf einfache Tagesordnung gestellt und befürwortete denselben ungefähr in folgender Weise. Die Frankfurter Verfassung bringe das Geschenk der Volkssouveränität in dem Suspensivveto des Kaisers; wenn die Volksvertreter es dreimal beschlössen, so würde der Kaiser aufgehört haben zu regieren. Die Reichsverfassung bringe ferner das allgemeine Wahlrecht, welches nur der Linken zu Gute käme, und das uneingeschränkte Budgetrecht der Volksvertretung, 42

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welches dieser die Macht geben würde, die Staatsmaschine auf gesetzlichem Wege zum Stillstand zu bringen. Die Frankfurter Verfassung verlange auch von dem künftigen Kaiser, daß er das g a n z e Deutschland schaffe, also die Fürsten, welche sich nicht unterwerfen wollten, als Rebellen behandle. Demnach könne der Kaiser beispielsweise in die Lage kommen, die Bayern und Hannoveraner zu Kämpfen gegen ihre Könige aufzurufen. „Das ist es wohl, wohin die Herren von der Umsturzpartei uns haben wollen? (Heiterkeit.) Ich habe niemand in diesem Saale bezeichnen wollen; es gibt außerhalb genug.“ (Heiterkeit.) Bismarck fuhr fort: bekannte demokratische Wortführer verlangten stürmisch, daß der Kaiser ihnen das ganze Deutschland schaffe; aber unser König dürfe nicht zum Vasallen dieser Herren herabsinken. Preußen solle Preußen bleiben. Die Frankfurter Krone möge sehr glänzend sein, aber das Gold, welches dem Glanze Wahrheit verleihe, könne erst durch Einschmelzen der preußischen Krone gewonnen werden und der Umguß werde mit der Form dieser Verfassung nicht gelingen. Die ruhig und klar vorgetragene Rede machte auf die leidenschaftlich erregte Mehrheit keinen Eindruck. Die Kommission wollte dem König die Annahme der Reichsverfassung für Preußen und die freiwillig beitretenden Staaten empfehlen. Ihr Berichterstatter, Freiherr Georg Vincke, verstieg sich dahin, die Anschauungen Bismarcks als antediluvianische zu bezeichnen. Die Majorität aber ging weit über den Kommissionsvorschlag hinaus durch den Beschluß, daß die von der deutschen Nationalversammlung vollendete Verfassung als rechtsgültig anzuerkennen sei. In einer persönlichen Bemerkung erinnerte mit Bezug auf den Ausdruck „antediluvianisch“ Bismarck an den noch vor etwa vier Wochen von Vincke eingenommenen Standpunkt und sagte dann: „Mag er eine innere Sündflut erlebt haben, die seine bisherigen Anschauungen weggespült hat, ich bin mir treu geblieben und mein antediluvianischer Standpunkt ist mir noch eben so lieb, wie das Asyl in der Arche Noah, in welcher der verehrte Abgeordnete seine Anschauungen jetzt unterzubringen sucht.“ Diese Bemerkung wurde von Vincke nicht abgelehnt und mag daher durch frühere private Aeußerungen desselben begründet gewesen sein. In den bezüglichen Kammerreden ist eine Veränderung seines Standpunktes nicht nachzuweisen. Dies zu untersuchen, war aber das Publikum nicht in der Lage. Ueberall, auch in liberalen Kreisen, wurde Bismarcks geschickter Ausfall gegen den berühmten Vincke beifällig begrüßt. 43

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Das Abgeordnetenhaus wurde infolge des Beschlusses über die Rechtsverbindlichkeit der Frankfurter Reichsverfassung natürlich aufgelöst und die Familie Bismarck verließ anfangs Mai Berlin.

* * * Um diese Zeit begann der politische Einfluß des Generals von Radowitz. Ich bin diesem merkwürdigen Manne nur einmal im Hause des Oberpräsidenten Flottwell begegnet, werde aber nie den Eindruck seines prachtvollen Kopfes vergessen. Eine breite hochgewölbte Stirn unter kurzem grauen Haar, sprechende dunkle Augen, sanft gebogene Nase, fest geschlossene Lippen, volltönende, weiche Stimme; eine imponierende und zugleich gewinnende Erscheinung. Radowitz hatte in der Frankfurter Paulskirche auf der äußersten Rechten gesessen, war aber von den dort hoch auflodernden Flammen nationaler Einheitsbegeisterung durchglüht worden. Er brachte nach Berlin die Ueberzeugung zurück, daß „die Revolution zu schließen“ nur gelingen könne, wenn man den berechtigten Kern der Volkswünsche zur Entwicklung brächte durch Bildung eines Bundesstaates auf Grundlage der zu modifizierenden Frankfurter Reichsverfassung, mit Zustimmung der Fürsten; daß aber einfache Herstellung des seit 1815 bestandenen deutschen Staatenbundes „die Revolution verewigen“ würde. Diese Anschauungen kamen dem leidenschaftlichen Wunsche des Königs entgegen, in Deutschland auf legalem Wege etwas Haltbares zustande zu bringen. Durch den Ministerpräsidenten Grafen Brandenburg wurde Radowitz zur Leitung der in der deutschen Verfassungsfrage mit den Regierungen angebahnten Verhandlungen berufen. Bei dem Dresdener Aufstand (anfangs Mai) bewährten sich die sächsischen Truppen als zuverlässig, bedurften aber doch der Hilfe eines Berliner Regiments, um zu siegen. In Hannover wurden Unruhen befürchtet. Unter solchen Zeitumständen kam am 26. Mai auf Grundlage des modifizierten Frankfurter Verfassungsentwurfs das sogenannte Dreikönigsbündnis zustande, welchem beizutreten den andern deutschen Staaten freigestellt wurde. An demselben Tage übersandten jedoch Sachsen und Hannover ausführlich motivierte Erklärungen, welche den Rücktritt für den Fall vorbehielten, daß nicht alle deutschen Staaten sich dem Bündnisse anschließen würden. Die Fassung dieser Erklärungen ließ die Abneigung beider Staaten gegen dauernde Unterordnung unter Preußen deutlich erkennen. Die Schrift44

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stücke wurden jedoch, wie es in einem amtlichen Berichte heißt, „im Vertrauen zu der Loyalität der Bundesgenossen entgegengenommen“ und bei den weiteren Verhandlungen nicht beachtet. Den Grafen Brandenburg hatte Radowitz für seine Politik vollständig eingenommen; der Minister Manteuffel aber stand ihr ungläubig, General von Gerlach feindlich gegenüber. Dieser höchst ausgezeichnete Mann hatte sich auch in seiner Stellung als Generaladjutant des Königs eine seltene Geistesfrische und Charakterunabhängigkeit bewahrt. Er kannte die deutschen wie auch die im Osten benachbarten großen Höfe zu genau, um nicht ein trauriges Ende aller damaligen Verhandlungen über einen deutschen Bundesstaat voraussehen zu müssen. Im Sommer brachen Aufstände aus in der bayerischen Pfalz und in Baden, wo die Truppen mehrfach zu den Aufständischen übergingen. Diese wurden überall von preußischen Regimentern geschlagen und zerstreut. Bayern blieb jedoch wie auch Württemberg dem Dreikönigsbündnis fern. Als im August der preußische Landtag wieder zusammentrat, machte die Staatsregierung eingehende Mitteilungen über die Ergebnisse ihrer Verhandlungen mit den deutschen Staaten. Der ausführliche Bericht, welchen Radowitz (am 25. August) dem Abgeordnetenhause über seine Thätigkeit mündlich erstattete, machte einen großen Eindruck. Gelesen erschien diese Rede nur als ein formvollendetes Meisterstück; von Ohrenzeugen wurde mir aber erzählt, daß der wunderbare Mann durch die Töne seines Vortrags viele Abgeordnete bis zu Thränen gerührt hätte sowie daß die große Mehrheit der Versammlung seine Politik vollständig zu billigen schiene. Dem Bündnisse beigetreten waren damals 18  Staaten; vorläufige Bereitwilligkeit zum Beitritt hatten 7 erklärt, während andere 7 noch im Schweigen verharrten. Am 6. September eilte ich ins Abgeordnetenhaus, um Bismarck zu hören, über dessen Stellung zu Radowitz, dem notorischen Lieblinge des Königs, ich noch nicht im Klaren war. Die Abgeordneten waren neu gewählt, nach dem Dreiklassenwahlgesetz. Die demokratische Partei hatte nicht mitgewählt und war daher nicht vertreten. Aber auch in diesem aus gemäßigten Elementen zusammengesetzten Hause war die große Mehrheit von dem leidenschaftlichen Wunsche erfüllt, den deutschen Bundesstaat verwirklicht zu sehen. Die Sitzung begann mit einem durch den Abgeordneten von Beckerath vorgetragenen Kommissionsbericht, welcher die radowitzsche Politik vollständig billigte. Es sprachen dann zwei weniger bekannte Redner dafür und 45

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Reichensperger, welcher die Ausschließung Oesterreichs verabscheute, dagegen. Endlich bestieg Bismarck die Rednerbühne, wie es damals in der Regel geschah, und stand also dem Ministertische nahe gegenüber, an welchem Brandenburg und Radowitz saßen. Nach einleitenden Bemerkungen sagte er, man möge die Errungenschaften des preußischen Schwertes nicht weggeben, „um die Nimmersatten Anforderungen eines Phantoms zu befriedigen, welches unter dem fingierten Namen von Zeitgeist oder öffentlicher Meinung die Vernunft der Fürsten und Völker mit seinem Geschrei betäube, bis jeder sich vor dem Schatten des andern fürchte und alle vergäßen, daß unter der Löwenhaut des Gespenstes ein Wesen steckt von zwar lärmender, aber wenig furchtbarer Natur“. Das Dreikönigsbündnis werde wegen der bekannten Vorbehalte Sachsens und Hannovers voraussichtlich von kurzer Dauer sein. Die projektierte Bundesstaatsverfassung sei in den wichtigsten Bestimmungen unvereinbar mit der von der Staatsregierung als zu Recht bestehend anerkannten Verfassung des Deutschen Bundes. Nach dem vorliegenden Entwurfe solle Preußen ‚seine sämtlichen Aktiva einwerfen in den Konkurs der übrigen deutschen Staaten‘; es solle verzichten auf Disposition über Heer und Finanzen zu Gunsten von abhängigen Reichsbehörden, abhängig von einem Parlament, in dessen Oberhaus von Rechts wegen, im Unterhause durch Einwirkung der Demokratie die preußischen Interessen in der Minorität sein würden. Der Entwurf vernichte das spezifische Preußentum und damit den stärksten Pfeiler deutscher Macht. Der königliche Kommissar (Radowitz) habe recht gehabt, als er sagte, der Entwurf sei von entgegengesetzten Seiten angegriffen worden. Der Entwurf gefalle niemandem, vielleicht mit Ausnahme derer, die an seiner Verfertigung Anteil gehabt hätten. Nach Beleuchtung einiger preußischer Eigenschaften und Verdienste schloß Bismarck mit den Worten: „Wir alle wollen, daß der preußische Adler seine Fittige von der Memel bis zum Donnersberge schützend und herrschend ausbreite, aber frei wollen wir ihn sehen, nicht gefesselt durch einen neuen Regensburger Reichstag und nicht gestutzt an den Flügeln von der gleichmachenden Heckenschere aus Frankfurt. …. Preußen sind wir und Preußen wollen wir bleiben; ich weiß, daß ich mit diesen Worten das Bekenntnis der preußischen Armee, das Bekenntnis der Mehrzahl meiner Landsleute ausspreche; und hoffe ich 46

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zu Gott, daß wir auch noch lange Preußen bleiben werden, wenn dieses Stück Papier vergessen sein wird wie ein dürres Herbstblatt.“ Nach dieser eindrucksvollen Rede erhob sich Radowitz, um ruhig zu erklären, die Regierung wolle, da es sich um ein Vertrauensvotum handele, in die Debatte nicht eingreifen, sondern die Würdigung vieler unbegründeter und ungerechter Angriffe dem Hause und dem Lande überlassen. Am folgenden Tage wurden die Kommissionsbeschlüsse von einer großen Mehrheit angenommen. Der Berichterstatter Beckerath nannte in seinem Schlußwort Bismarck einen verlorenen Sohn Deutschlands. Dieses Gleichnis konnte Bismarck mit der Thatsache, daß er sein Vaterhaus nie verlassen hätte, leicht ablehnen; auch konnte er durch eine andere Bemerkung eine von Beckerath früher gegebene Blöße zu einem scherzhaften Angriff benutzen; aber mehr als drei Viertel aller Anwesenden stimmten schließlich gegen ihn. Mir gaben diese Tage ein unbegrenztes Vertrauen zu seiner Gewissenstreue. Die besondere Vorliebe des Königs für Radowitz und dessen Politik war bekannt. Trotzdem sah sich Bismarck durch sein politisches Gewissen genötigt, gegen den Mann des Tages schonungslose Angriffe zu richten. Den allen älteren Geschichtsfreunden sattsam bekannten Hauptinhalt der beiden Reden Bismarcks gegen die Entwürfe der Reichsverfassung und der Bundesstaats-Verfassung von 1849  habe ich hier wiedergegeben, um der minder kundigen Jugend das Geisteswunder vor Augen zu stellen, daß der entschiedenste Gegner der damaligen Einigungsbestrebungen im Laufe von kaum zwei Jahrzehnten sich zum Baumeister der Einheit Deutschlands entwickelt hat. 1849 sagte er gelegentlich: „Was scheren mich die Kleinstaaten; mein ganzes Streben geht nur auf Sicherung und Erhöhung der preußischen Macht“; 1866 und 1867 aber hörte ich von demselben Manne mehrmals die Worte: „Mein höchster Ehrgeiz ist, die Deutschen zu einer Nation zu machen.“ Im Winter 1849/60  erfüllte er seine Pflichten als Führer der äußersten Rechten, indem er zu jeder im Landtage erscheinenden Gesetzesvorlage öffentlich Stellung nahm. So hielt er eingehende Reden über einzelne Bestimmungen der damals zu revidierenden oktroyierten Verfassung, über die Verhältnisse des Handwerks, über Ablösung der Reallasten, Renten und Waldservituten, über die Civilehe, die Einkommensteuer, die Grundsteuerbefreiungen und den Militäretat. Mich interessierte am meisten seine gelegentliche Ausführung, daß das in andern Ländern geltende unbeschränkte Budgetrecht und das daraus zu folgernde Steuerverweigerungsrecht des Unterhauses für Preußen nicht passe, daß vielmehr zur Wahrung der Stellung des Königs notwendig sei, in der 47

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Verfassung die Bestimmung aufrechtzuerhalten, wonach bestehende Steuern bis zu ihrer gesetzlichen Aufhebung fortzuerheben sind. Bismarck vermochte zwar mit seiner Ansicht damals nicht durchzudringen, da die Majorität des Hauses an der englisch-französischen Dok­trin festhielt; der von ihr gestrichene Satz aber wurde später wiederhergestellt (Art. 109). Derselbe hat bekanntlich in den sechziger Jahren möglich gemacht, die Armeereorganisation des Königs aufrechtzuerhalten.

* * * Frau von Bismarck kam im Oktober nach Berlin und gestattete, daß ich ihr wöchentlich eine Klavierstunde gab. Ihre Studien wurden jedoch durch ein glückliches Familienereignis unterbrochen. Im Dezember 1849 erblickte ein Erbe das Licht der Welt, der jetzige Fürst Herbert. Frau von Puttkamer war von Reinfeld zur Wochenpflege nach Berlin gekommen und blieb dann bis zum Frühjahr dort. Eines Abends sprach sie im Familienkreise davon, daß man ihr erzählt habe, ihr Schwiegersohn tanze in jeder Gesellschaft alle Tänze „wie ein Fähnrich“. „Das ist meiner Gesundheit sehr zuträglich,“ sagte Bismarck, „da es mir jetzt bei Tage an Bewegung fehlt.“ Frau von Puttkamer erwähnte scherzhaft, sie werde oft gefragt, ob er nicht ihre Tochter in die Gesellschaft einführen wolle. „Ich glaube,“ erwiderte er, „daß Johanna viel lieber abends zu Hause bei den Kindern bleibt. Im Gedränge unbekannter Leute würde sie sich nicht wohlfühlen. Um aber bekannt zu werden und sich nicht zu langweilen, müßte sie alles mitmachen und fast jeden Abend ausgehen. Dazu würden ungefähr 15 verschiedene Ballkleider gehören, wenn es nicht mitunter heißen soll: ‚Ach, die trägt heute wieder ihr Blaues.‘ Die Sache wäre also ziemlich umständlich.“ „Fällt mir gar nicht ein,“ sagte Frau von Bismarck, „die Leute sind bloß neugierig, einmal die Frau des berühmten Mannes zu sehen. Aber, wer mich kennenlernen will, kann ja zu mir kommen.“

* * * Im März trat das Erfurter Parlament zusammen. Bismarcks dortiges Auftreten gegen Radowitz war wieder ebenso entschieden als erfolglos. Sachsen und Hannover waren vom Bündnis zurückgetreten; von den beiden Hessen wurde das Gleiche erwartet. Dennoch be48

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willigte eine große, aus gemäßigt Liberalen bestehende Majorität den ganzen Verfassungsentwurf (jetzt nicht mehr Reichsverfassung, sondern Unionsverfassung genannt) in e i n e r Abstimmung und vollendete sodann in wenigen Wochen die vom König gewünschte Revision einzelner Bestimmungen. In den folgenden Monaten, Mai bis November, erlitten wir schmerzliche Demütigungen. Zur Ausführung der in Erfurt beschlossenen Unionsverfassung konnte man sich nicht entschließen; aber ebenso wenig zu deren Aufhebung nach Manteuffels Antrage. Oesterreich berief den alten Bundestag nach Frankfurt und begann zu rüsten, wie auch Bayern und Württemberg. Auf Drängen des Kaisers Nikolaus wurde mit Dänemark Friede geschlossen unter Preisgebung der Elbherzogtümer. In Kurhessen traten wir für Herstellung des vom Ministerium Hassenpflug beseitigten Rechtszustandes ein und ließen im Norden des Landes Truppen einrücken, während zum Schutze der bestehenden Regierung bayerische Regimenter von Süden herankamen. Die von Radowitz wiederholt verlangten Rüstungen unterblieben und er trat ins Privatleben zurück. Bald darauf wurde zwar infolge von Nachrichten aus Oesterreich die ganze Armee mobilgemacht; in Olmütz aber (28. November) verzichtete ­Manteuffel, Schwarzenberg gegenüber, sowohl auf den Schutz von Kurhessen als auf die Unionsverfassung. Die dort in Aussicht genommenen Dresdener Konferenzen führten, wie zu erwarten gewesen, zur Herstellung des Bundestages in Frankfurt. Man hat Radowitz mitunter verdächtigt, das Endziel seiner Politik sei gewesen, das schlecht gerüstete Preußen von Oesterreichs damals weit überlegenen Streitkräften überwinden zu lassen, um den Machtbereich der katholischen Kirche zu erweitern. Er war aber doch nur ein Träger der Politik des Königs, des Prinzen von Preußen und eines Teiles der Staatsminister. Die große Mehrheit der Abgeordneten ersehnte die Unionsverfassung, und Vincke würde ebendahin gesteuert haben, wenn der König ihn zur Leitung der bezüglichen Verhandlungen berufen hätte. Ich würde jene Verdächtigung unerwähnt lassen, wenn nicht Fürst Bismarck in seinen „Gedanken und Erinnerungen“ (Band I S. 64) eine solche Möglichkeit, allerdings nur hypothetisch, angedeutet hätte. Was diesen Zweifel an Radowitz’ Patriotismus veranlaßt hat, ist mir nicht bekannt geworden; dagegen kann ich bekunden, daß Bismarck in Petersburg, im März 1862, über dessen Bestrebungen mit Anerkennung ­geurteilt hat. Bei einem kleinen Diner sagte er, in Gegenwart des Gesandtschaftspersonals 49

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und einiger Gäste, daß, wenn er im Jahre 1849 die jetzt, seit 13 Jahren, gewonnene politische Erfahrung gehabt hätte, er Radowitz unterstützt haben würde. Denn ein Parlament wäre geeignet, die Sonderbestrebungen der kleinen Fürsten einzuschränken. Allerdings hätte die unerläßliche Voraussetzung dieser Politik der Nachweis eines befriedigenden Zustandes unserer Armee sein müssen. Die Annahme, daß Oesterreich sich ohne Kampf aus Deutschland würde verdrängen lassen, sei ein unbegreiflicher Irrtum gewesen, welchen indes auch Personen leitender Kreise sowie die große Mehrzahl der Abgeordneten geteilt hätten. Bismarck war demnach schon im Frühjahr 1862 mit dem Zukunftsbilde des deutschen Reichstages vertraut. Anfangs Dezember 1850 erhielt ich die Nachricht von der Olmützer Verständigung in einem Dorfe an der sächsischen Grenze, wohin ich mit einem Landwehr-Kavallerie-Regiment marschiert war. Das Regiment erschien mir trotz besten Willens der Leute keineswegs kriegstüchtig, und ich war daher zufrieden, daß es nicht zum Schlagen kam. Einige Tage später schrieb mir ein Berliner Freund, Bismarck habe am 3. Dezember in meisterhafter Weise die undankbare Aufgabe gelöst, die ­Olmützer Abmachungen zu verteidigen, ohne unsere militärische Schwäche einzugestehen. Nach Neujahr schrieb Frau von Bismarck mir aus Reinfeld, daß ihr Gemahl  – wie durch die „Gedanken und Erinnerungen“ jetzt allgemein bekannt geworden ist –, nachdem er vom Kriegsminister über den völlig ungenügenden Stand unserer Streitkräfte unterrichtet worden war, unablässig für Verständigung mit Oesterreich gearbeitet habe. Das Weihnachtsfest hätten sie dann im Familienkreise „in seligem Jubel“ verlebt.

* * * Ich wurde erst im Frühjahr 1851 vom Regiment entlassen und bald darauf als Assessor bei der Regierung in Potsdam angestellt. Bismarck vor seiner Ernennung nach Frankfurt persönlich zu begrüßen, fand ich keine Gelegenheit. Die Familie war wegen Krankheiten der Kinder den ganzen Winter in Reinfeld geblieben. Im Mai 1852  kam Kaiser Nikolaus nach Potsdam. Die Offiziere seines Brandenburgischen Kürassier-Regiments, zu dem ich damals auf 4 Wochen kommandiert war, wurden eines Abends in Sanssouci vorgestellt. Auch Bismarck kam dorthin, aber etwas später als das Offizierkorps, und stand zufällig kurze Zeit hinter mir, ohne mich zu erkennen. Beim Vortreten sagte 50

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I. Aus Berlin und Pommern. 1846 bis 1853.

er: „Der starke Haarwuchs Ihres Hinterkopfs hat mich einige Minuten lang beschäftigt. Ich sagte mir, da ist nichts vom Garde-Pli zu erkennen. Das ist ein Mann, den der Kommißdienst langweilt. Er widmet sich ernsten Studien und wird wohl einmal im Generalstabe endigen. Nun ich Sie erkenne, muß ich wohl sagen: in einem Ministerium.“ Allerdings langweilten mich meine Geschäfte bei der Bezirksregierung, weil ich sie vernachlässigte. Meine Studien aber waren damals nur auf die Musik gerichtet. Sehr viele Zeit verwendete ich auf Vorbereitung und Leitung von Chor- und Orchesteraufführungen; Hochgenüsse, zu welchen ein Dilettant nur in einer kleineren Stadt Gelegenheit finden kann. Im folgenden Jahre beschloß ich, Paris und Rom zu besuchen mit dem Vorsatz, zu prüfen, ob der Dienst bei den Gesandtschaften weniger langweilig wäre als bei der inneren Verwaltung. Herr von Usedom, damals Gesandter in Rom, hatte mir gelegentlich in Berlin versprochen, er würde mich alle seine Berichte über die italienischen Ereignisse von 1846 ab lesen lassen. In Paris hoffte ich durch einen mir bekannten Sekretär einige Kenntnis der dortigen Geschäfte zu erhalten. An Frankfurt dachte ich für diese Untersuchung nicht; dort wollte ich nur auf der Durchreise einen Tag verweilen. Ich schrieb an Frau von Bismarck nach Reinfeld, um zu erfahren, ob sie und ihr Gemahl Anfangs November in Frankfurt sein würden. Die Antwort lautete: „Sie gedenken also, im Spätherbst eine größere Reise zu unternehmen und bei der Gelegenheit auch uns zu besuchen? Dazu freuen wir uns recht von Herzen und bitten, daß Sie jedenfalls bei uns wohnen, wenn Sie kommen. Wir haben zwar kein sehr schönes, aber ein recht geräumiges Haus, ganz nahe an den Bahnhöfen, und Sie können völlig ungeniert mit und bei uns leben. Bitte, nehmen Sie dies Anerbieten gewiß an. „Sie fragen nach meiner Musik. Meine Liebe dazu hat nicht im Mindesten abgenommen, wie wäre das wohl je möglich! Die Gebrüder Müller haben mich mit ihren zauberischen, überirdischen Melodien so unbegrenzt entzückt, daß ich fast kindisch wurde in maßloser Freude. Kann es denn aber auch etwas Schöneres geben als Schuberts G-Dur-Quartett mit dem ganz einzigen Trio und Mendelssohns Es-Dur-Quartett mit der träumerischen Canzonetta und dem tieftraurigen Adagio? Ich war, was man so nennt, völlig hingerissen. Kurz, ich liebe die Musik unendlich, aber selbst betheilige ich mich sehr wenig, fast gar nicht mehr daran, habe auch starke Rückschritte gemacht.“

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II. Frankfurt. November 1853 bis Januar 1859. Am 2. November kam ich nach Frankfurt. In einem Hause der Gallusstraße, mit einem kleinen Garten dahinter, wohnte die Familie Bismarck in behaglichen Räumen, welche gelegentlich zu Ballfesten dienen und einige Wohngäste aufnehmen konnten. Ein Zimmer mit Gartenaussicht wurde mir angewiesen. Frau von Bismarck und Frau von Puttkamer, ihre Mutter, empfingen mich mit anmutiger Herzlichkeit. Der Hausherr kam am folgenden Morgen von Berlin zurück. Er schien von der Fahrt gar nicht ermüdet. Beim Frühstück sprach er von der Möglichkeit eines Konflikts der Westmächte mit Rußland, wegen türkischer Fragen, „die uns gar nichts angingen“, und sagte, daß es unverantwortlich sein würde, aus Liebedienerei gegen die Westmächte unsere ­B eziehungen zu Rußland zu verschlechtern. „Die Leute, die das befürworten, sind Phantasten, die nichts von Politik verstehen.“ Damit stand er auf, um in einer Sitzung des Bundestages, der ersten nach den Ferien, nicht zu fehlen. Abends war eine Gesellschaft im Hause des damals mit der Oberleitung der Thurn- und Taxisschen Postverwaltung betrauten Freiherrn von Dörnberg. Die Honneurs machte Baronin Vrints, eine Schwester des österreichischen Ministers Grafen Buol-Schauenstein. Bundestag und Frankfurter Patriziat füllten die behaglichen Räume. Auffallend war mir die Entfaltung ungewöhnlich reichen Brillantschmucks bei den Damen. Baron Prokesch-Osten, der österreichische Gesandte, beehrte mich mit einem würdevollen Vortrag über Paris und das südliche Frankreich, meine nächsten Reiseziele. Das Fest war kurz; man kam gegen halb zehn und ging gegen elf Uhr. Bei jeder Wagenfahrt beanspruchte Bismarck den Rücksitz für sich; ich mußte neben seiner Gemahlin Platz nehmen. Zu Hause angelangt, blieb man noch bei einem Glase Punsch zusammen. Er sagte: „Ich bin von Damen öfters nach Ihnen gefragt worden und pflegte dann zu antworten: das ist ein schmählich reicher Lithauer, der nach Paris geht, um sein Geld totzuschlagen.“ 52

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II. Frankfurt. November 1853 bis Januar 1859.

Am folgenden Morgen mußte ich vieles vorspielen, während Bismarck rauchend auf und ab ging. Beim Gabelfrühstück sprach er über die kaum erträglichen Verhältnisse am Bundestage; von Oesterreich geführt, versuchten die Mittelstaaten oft mit Erfolg, uns zu majorisieren. Es drängte mich, Folgendes zu sagen: „Vor vier Jahren haben Ihre Kammerreden mir klargemacht, daß die damals beabsichtigte Unionsverfassung für uns nicht paßte. Dennoch glaube ich, daß der Grundgedanke der Union unter andren Formen in Norddeutschland einmal verwirklicht werden wird. Der Selbsterhaltungstrieb kann uns dahin drängen. Freilich wissen wir seit 1850, daß das ohne einen Krieg im Süden nicht abgeht. Diesen Kampf können wir vielleicht nur aufnehmen zu einer Zeit, in der Oesterreich noch anderswo beschäftigt ist; auch müßten wir darauf rechnen dürfen, nicht von Osten oder Westen her gestört zu werden. Dazu gehört viel Glück. Aber unser Staat ist noch jung; und warum soll ein junger Mensch nicht nach vielem Kummer auch einmal Glück haben?  – Ich wenigstens hoffe das noch zu erleben. Der Anschluß Süddeutschlands mag vielleicht ein Menschenalter später kommen.“ Bismarck trank mir lebhaft zu und sagte: „Gewiß denke auch ich so etwas zu erleben. Solange Metternichs Grundsatz Geltung hatte, daß die beiden Großmächte am Bunde immer einig auftreten müßten, da mochte die Sache gehen. Aber das jetzige System der Vergewaltigung Preußens am Bunde ist für uns auf die Dauer nicht erträglich. Wie viele Jahre vergehen mögen, bis einmal die Waffen entscheiden, und unter welchen Umständen die ­Auseinandersetzung erfolgt, das kann heute niemand wissen; dahin kommen aber muß es, wenn man in Wien fortfährt, keine Vernunft anzunehmen.“ Er schlug vor, bei dem schönen Wetter hinauszureiten. Frau von Bismarck bestieg eine elegante Rappstute. Es ging in den noch mit rötlichem und gelbem Laube geschmückten Stadtwald. Auf guten Reitwegen wurde flott galoppiert. Kurz vor dem Diner saß ich am Klavier, als Bismarck leise ins Zimmer kam und hinter meinen Stuhl trat. In einem Spiegel sah ich, daß er seine ausgestreckten Hände über meinen Kopf hielt, nur einige Sekunden lang. Dann setzte er sich an ein Fenster und blickte in die Abenddämmerung hinaus, während ich weiterspielte. Beim Mittagessen (5 Uhr) erzählte er von seinem Anteil an der Bildung des Ministeriums Brandenburg-Manteuffel genau so, wie die „Gedanken und Erinnerungen“ diese Begebenheiten des Spätherbstes 1848 darstellen. 53

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Die Sitzung dauerte bei Wein und Cigarren ziemlich lange. Dann gab es wieder etwas Musik. In der Nacht fuhr ich nach Mainz, um das Dampfboot zu erreichen, das am frühen Morgen nach Köln abgehen sollte.

* * * In Paris erfuhr ich, daß das Gesandtschaftsarchiv für mich nicht zugänglich und daß die erwähnte Zusage Usedoms eine unbegreifliche Abweichung von den bestehenden Grundsätzen gewesen sei. Frau v. Bismarck schrieb mir (22. Januar 1854) nach Paris: „Am 19. November war bei uns der erste Ball. Der Vortänzer war in der hiesigen Gesellschaft noch nicht sehr bekannt, aber dennoch endigte der Kotillon, wie mir schien, recht heiter. Anfangs Januar hat man wieder bei uns getanzt unter der Leitung unsers ehemaligen Attaché des Grafen Theodor Stolberg, der von den Frankfurter Damen unaussprechlich geliebt wird, und das Vergnügen war deshalb ohne Grenzen. Wahrscheinlich wird noch ein kleines Zauberfest in den nächsten Tagen bei uns stattfinden und zum Schluß ein ganz großes, wozu wir den jugendlichen Grafen wieder entloben möchten, weil wir dann gewiß sind, daß alle Gemüther befriedigt davongehen, wenn der Reigen verhallt ist. Man ist unendlich aufgeregt in diesem Winter, fast jeder Tag bringt eine neue Lustbarkeit mit sich – und wenn ich mich dabei auch wenig anstrenge, so ermüdet’s mich doch schließlich sehr. Ich werde mich deshalb nächstens ein wenig zurückziehen, um nicht ewig dasselbe zu sehen und zu sprechen. Ich finde, man wird schrecklich langweilig durch so viele Vergnügungen und träge dazu. Trotz aller guten Vorsätze spiele ich fast gar nicht, will mich aber ganz gewiß bessern.“ Als ich nach Rom kam, war Usedom auf viele Monate beurlaubt. Meine geschäftliche Neugierde konnte ich daher auch hier nicht befriedigen. In Sicilien erhielt ich Anfang Juni von Frau von Bismarck die Nachricht, ich würde sie und ihren Gemahl bei meiner Rückkehr (Ende Juli) nicht mehr in Frankfurt finden. Sie schrieb: „Es ist im Rath der Weisen beschlossen und hundertfach beschrieben und besprochen worden, daß ich Ende Juni mit Sack und Pack, d. h. mit drei Kindern, drei Bonnen, einem Diener und Frl. v. Rekow2, nach Pommern aufbrechen soll, wo ich drei Monate lang durch alle Tonarten hindurch Freundschaft zu

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Eine befreundete Dame, die bisweilen nach Frankfurt kam, um im Hauswesen behülflich zu sein.

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II. Frankfurt. November 1853 bis Januar 1859.

schwärmen gedenke. Bismarck3 kann mich leider noch nicht begleiten, aber ich hoffe, er folgt mir im Juli, wo er Ferien zu erpressen hofft, die ich ihm von Herzen gönne, weil er augenblicklich so europa- oder bundesmüde ist, daß seine Klagen einen Stein erbarmen könnten, um wie viel mehr nun mich, sein getreues Ehegemahl. … „Von unserem Leben läßt sich wenig sagen. Spiel und Tanz sind verklungen und  ein Tag geht wie der andre hin ohne bemerkenswerthe Abwechselung, aber sehr angenehm still und ruhig; d. h., nur auf die letzten 8 Tage paßt dies, wo Bismarck wieder einmal fort ist, sonst haben wir gerade auch in diesen M ­ onaten viel Trubel gehabt. Besuch aus Kurland, oder eigentlich aus ­Italien, aber Kurländer waren es doch, die in ihrem kalten Norden mit manchem Sehnsuchtsseufzer nach italienischem Himmel zurückkehrten. Es ­tauchen seit zwei Jahren hin und wieder sehr liebenswürdige Universi­tätsfreunde von Bismarck auf, deren Bekanntschaft mir viele Freude macht; so auch die von Graf und Gräfin Keyserling, die eben vor 8 Tagen einige Zeit hier und immer mit uns zusammen waren … Wenn Sie bei Ihrer Rückreise einen Tag in Frankfurt bleiben, wollen Sie dann nicht Frau v. Eisendecher besuchen, die Sie ja schon kennen? Sie ist sehr liebenswürdig und geistvoll. „Vielleicht macht es Ihnen auch Vergnügen, die Familie des Malers Professor Becker aufzusuchen, welche sehr intim mit Mendelssohn gewesen sind und mir in diesem Winter, wo ich sie kennen lernte und herzlich lieb gewann, recht viel und oft von Ihrem Freunde erzählt haben. Frau Becker hat für mich eine sehr anziehende Stimme. Ich mag mitunter recht gern die weichen, s­ anften Melodien ohne Leidenschaft, und solche singt sie sehr hübsch, recht hell und klar und herzerfreuend wie ein stiller, warmer Frühlingsabend. Beckers sind sehr liebe Leute, die ich viel öfter sehen möchte, wenn ich nur könnte.“

Außer zwei damals noch unerwachsenen Kindern bestand diese Familie, die ich 1855 kennenlernte, aus dem Elternpaar und zwei Töchtern, deren eine früh verstarb (1859), die andere 1861  Herrn Meister heiratete, einen Mitbesitzer der bekannten Höchster chemischen Fabrik. Für Frau Marie Meister hat seit jener Zeit Frau von Bismarck eine innige Zuneigung bewahrt und auch von Berlin aus vielfach bethätigt. 3 Frau von Bismarck folgte in ihren Briefen der um die Mitte des vorigen Jahrhunderts noch in ­Pommern verbreiteten Gewohnheit, den Gemahl mit dem Familiennamen zu bezeichnen; im mündlichen Verkehr aber pflegte sie den Vornamen zu gebrauchen.

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Mit der erwähnten Frau von Eisendecher, Gemahlin des damaligen Oldenburgischen Bundestagsgesandten und Mutter des heutigen p ­ reußischen ­Gesandten in Karlsruhe, ist Frau von Bismarck ebenfalls lebenslang in heimlicher Freundschaft verbunden geblieben. Ueber ihre Auffassung der Freundschaft schrieb sie gelegentlich (Mai 1856): „Wenn ich einen Menschen lieb habe und ihm vertraue – was schadet’s, wenn „falsche falsche Zungen“ ihn verdächtigen wollen – ich laß’ sie reden, solange sie Lust haben, sie mögen erfinden, was ihr schlechtes Herz ihnen eingibt – mich stört’s nie und nimmer – ich freue mich, wenn ich Gelegenheit finde, m e i n e Zunge zur Vertheidigung zu wetzen und wenn man nicht darauf hört – ist’s mir auch gleichgültig, ich weiß doch, was ich weiß – und wo ich e i n m a l Vertrauen gefaßt, da ist’s auch niemals zu erschüttern und wenn eine ganze Welt mit Schmähreden aufstände … Wenn ich einmal Freundschaft zugesagt, so ist’s nicht für einen Tag oder einen Monat oder ein Jahr, sondern für’s ganze Leben – through glory and shame, through sorrow and joy.“ Diese Worte sind Jahrzehnte hindurch buchstäblich bewahrheitet worden. Noch heute leben Frauen und Männer, welche dankbar bezeugen, daß das ihnen geschenkte Wohlwollen der Fürstin durch nichts zu erschüttern gewesen ist. Am 16. Januar 1855 schrieb Frau v. Bismarck aus Frankfurt: „Als ich im November hierher zurückkehrte, feierte ich meinen Einzug mit einem großen Ball, der ja scheinbar die allgemeine Zufriedenheit erlangte. Dann war tiefe Stille in der Gesellschaft bis nach Weihnachten, wo sich nur hin und wieder ein Haus durch Geigenstriche und Tanz bemerkbar machte. Aber im Ganzen scheint’s mir, als sei die Lust zu dergleichen Vergnügungen in diesem Winter nicht sehr groß, und ich finde es sehr begreiflich, daß man endlich müde wird, wenn man so viel gesprungen hat, wie ich’s hier drei Winter angesehn. Meine Kräfte würden wahrscheinlich schon nach den ersten zwei Monaten erlahmt sein, wenn ich mich jemals mitwirkend dabei betheiligt hätte. – Ich bin glückselig über diese Gesellschaftsstille, weil ich mich jetzt so viel mehr meinen kleinen Trabanten hingeben kann wie bisher und weil wir überhaupt ein so ruhiges häusliches Leben führen, wie’s nur im einsamen Schönhausen sein könnte. Das hat mir ja, wie Sie wissen, stets mehr zugesagt als der ewige Trubel unter vielen fremden Menschen, wobei doch nie etwas anders herauskommt, als im besten Fall einige oberflächliche Phrasen und im schlimmsten (und häufigsten) zahllose Klatschgeschichten, Empfindlichkeiten u. s. w. … 56

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II. Frankfurt. November 1853 bis Januar 1859.

„Bismarck jagt heute, ich weiß nicht wo, bei Berlin mit Seiner Majestät. Er ist seit 8 Tagen zwischen Berlin und Potsdam in ewiger Bewegung hin und her und gedenkt am 19.  wiederzukommen, hoffentlich mit ganz sicheren Friedensnachrichten.“4 … Frankfurt, August 1855. ­  „Bismarck war wirklich recht krank, ich nur etwas, an wehen Augen, und … wir sollten beide durchaus nach Kissingen, wozu wir nicht die mindeste Lust hatten, weil ich Eltern und Kinder nicht verlassen mochte und Bismarck durchaus keine Diät halten wollte. So wurde er denn zur Erholung von allem Bundesärger auf Reisen geschickt und ich dazu verurtheilt, h i e r Brunnen zu trinken, was ich nun auch ganz artig seit drei Wochen vollführe und dabei das Haus- und Kinderwesen in Ordnung zu halten mich bestrebe, im unaussprechlichsten Tugendgefühl!  – Bismarck hat in Paris den königlich englischen Einzugs- und Abzugs-Trubel mitgemacht und ist jetzt nach Ostende; wo er verschiedene Bekannte sehen will und dann heimkehren, vielleicht in 8  Tagen. Wenn der Herbst dann nicht schon in seiner ganzen Rauheit über uns gekommen ist, so möchten wir noch sehr gern auf kurze Zeit etwas Studentenleben am Rhein führen.“ … 5. September. ­… „Bismarck und ich sind eben 8 Tage in der Rheinregion gewesen auf Anlaß der königlichen Herrschaften, die sich ja einige Zeit in Stolzenfels aufhielten. Wir sind auf hohen Befehl bis Remagen mitgereist, wo Graf Fürstenberg seine wunderschöne Apollinaris-Kirche zeigte und später ein großes Frühstück auftischte. „Dann fuhren König, Königin und Prinzen mit sämtlichem Gefolge zu Schiff gen Köln, wir aber zogen landeinwärts durch das wundervolle Ahrthal, dessen Stille und Frische uns nach allem Trubel der letzten Tage sehr wohlthat. Den andern Tag schwärmten wir am Laacher See und im Brohlthal umher und schlossen mit St. Goar, von wo wir gestern früh heimkehrten, um von allen Freuden in stiller Zurückgezogenheit auszuruhen.“

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Damals, während der Belagerung von Sebastopol, wurde in Wien verhandelt, um zum Frieden zu gelangen, aber ohne Erfolg.

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Im Oktober besuchte ich die Pariser Weltausstellung und blieb auf der Rückreise drei Tage in Frankfurt. Am ersten Morgen erzählte Bismarck, wie er einem polizeilich verfolgtem jungen Manne zur Flucht verholfen hatte: „Ich erhielt vor Kurzem von Berlin den Auftrag, die hiesige Polizei zu veranlassen, einen politisch kompromittierten Jüngling zu verhaften. Nun ist es wirklich nicht wohlgethan, einen fähigen jungen Menschen, der auf einen falschen Weg geraten ist, durch Verfolgung und Bestrafung als Umstürzler abzustempeln. Es ist sehr möglich, daß er von selbst zur Vernunft kommt, wie es manchen Achtundvierzigern ergangen ist. Ich erstieg also frühmorgens die drei Treppen zu der Wohnung des jungen Mannes und sagte ihm: „Reisen Sie so schnell als möglich ins Ausland.“ Er sah mich etwas verwundert an. Ich sagte: „Sie scheinen mich nicht zu kennen; vielleicht fehlt es Ihnen auch an Reisegeld. Nehmen Sie hier einige Goldstücke und machen Sie, daß Sie schnell über die Grenze kommen, damit man nicht sagt, daß die Polizei wirksamer operiert als die Diplomatie.“ Am folgenden Tage hat die Polizei ihn natürlich nicht mehr gefunden.“ Diplomaten oder Patrizier habe ich weder bei diesem noch bei späteren Besuchen in der Gesandtschaft kennengelernt. Man benutzte die sonnigen Herbsttage zu weiten Spazierritten. Zwei Abende wurden durch die Anwesenheit der Familie Becker verschönert. Bismarck erzählte gern von den Eindrücken der in Paris verlebten Augustwochen. Der Kaiser Napoleon galt damals in der öffentlichen Meinung Deutschlands als einer der klügsten Männer der Welt, dem wie durch Zauber alles zu gelingen schien, was er unternahm, und dessen geheimen oder offenbaren Einfluß man bei allen Vorkommnissen in Europa als selbstverständlich zu betrachten gewohnt war. Bismarck aber schilderte ihn anders, auf Grund mehrfacher Beobachtungen. Sein Verstand, meinte er, sei keineswegs so überlegen, wie es die Welt glaube, und sein Herz nicht so kalt. Manche gemütliche Saiten klängen bei ihm an und er sei im Grunde gutmütig. „Es könnte unter Umständen recht nützlich sein, mit ihm politische Geschäfte zu machen.“ Die „Gedanken und Erinnerungen“ geben (Band I, Seite 149 bis 155) dieselben Mitteilungen über die im J. 1855 in Paris erhaltenen Eindrücke, wie sie mir damals in Frankfurt gewährt wurden.

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II. Frankfurt. November 1853 bis Januar 1859.

Frau von Bismarck schrieb am 30. Dezember 1855: ­… „Um die Weihnachtszeit war Bismarcks Herz unglaublich großmütig liebend gestimmt, so daß er mir zu meiner unendlichen Ueberraschung einen herrlichen andreeschen Mozartflügel unter dem Weihnachtsbaum aufbaute – wirklich und wahrhaftig – und sehr wunderschön, nicht den, welchen Sie versucht, der war verkauft; aber dieser ist reichlich ebenso gut und ich strenge ihn täglich so viel an, daß es meiner Mama schon zu viel wird. Der Eifer wird sich später auch wohl wieder legen, aber jetzt bin ich wirklich in einer glückseligen musikalischen Entzückung. ­… „Wir leben unendlich eingezogen in diesem Winter. Durch den plötzlichen Tod der Frau von Vrints ist eine so trübe und gedrückte Stimmung in die Gesellschaft gekommen, deren belebendes Prinzip sie seit langer Zeit gewesen, daß niemand an Feste denken wird. Diese Frau wurde so mitten in der vollen Lebenskraft und Lebensluft hingerafft; sie wird von vielen sehr betrauert, von allen sehr vermißt werden. – Beckers sehen wir hin und wieder und Frau von Eisendecher, sonst fast niemand.“ Frankfurt, Mai 1856. ­  „Gestern fuhren wir mit Beckers nach Wilhelmsbad, um Schatten unter … Ur-Eichen zu suchen in dieser gewaltigen Hitze. Sie sangen vierstimmig „Der Schnee zerrinnt, der Mai beginnt“  – mir ganz neu, aber reizend wie alle Mendelssöhne – und draußen und drinnen ist’s so herrlich, daß man gar nicht weiß, was man beginnen soll vor ausgelassener Freude. Die heißen Vormittagsstunden vergräbt man sich in dunkle Gartenzimmer und nachmittags wird geritten und gefahren in den unaussprechlich wundervollen Wald oder in’s nicht minder schöne Gebirge. So geht’s alle Tage. Und dieser Mai ist schöner wie alle zuvor.“ Frankfurt, 7. Februar 1857. ­… „Anfangs des Jahres ging’s sehr lustig bei uns her – all überall – jetzt ist es still wie in der Wüste Gobi und ich lebe deßhalb in sehr glücklichem Verkehr mit meinen lieben Beckers, die mir recht „je länger je lieber“ geworden sind.“

Zu Ostern 1857 verlebte ich einige Tage in Frankfurt. Bismarck war, einem vom Kaiser Napoleon kundgegebenen Wunsche folgend, kurz vorher nach Paris gereist und seine Rückkehr wurde täglich, aber vergebens erwartet. Ich mußte, ohne ihn gesehen zu haben, nach Potsdam zurück. Dort erhielt ich folgende Mitteilungen: 59

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Frankfurt, 20. 4. ­… „Bismarck schließt jeden Brief mit dem Wunsch, Sie zu sehen. Ich schrieb ihm von der Möglichkeit Ihrer Wiederkehr zu Pfingsten, was er aber gar nicht berücksichtigt, vielleicht weil er wieder allerhand gütige allerhöchste Absichten b i s d a h i n voraussieht. Der Stümper ist nun einmal zum königlich-preußischen Irrwisch bestimmt. Er schreibt nur: mache, daß Keudell bleibt oder wiederkommt, wenn ich da bin.“ … Den 22. 4. „Er ist gekommen, endlich – und bleibt für’s Erste doch 8 Tage hier – und da das Gewisse immer besser ist wie’s Ungewisse, so geben wir Diest5 auf, um Sie sicher zu haben. Wer weiß, was Pfingsten ist und wo wir vielleicht alle miteinander zerstreut sind. Deshalb, bitte, nur schnell lieber Freund. Wir erwarten Sie mit innigster Freude und heißen Sie herzlich willkommen zu jeder und jeder Stunde.“ …

Am Morgen nach Empfang dieses Briefes war ich wieder in Frankfurt. Am Frühstückstisch saßen wir trinkend und rauchend von zwölf bis drei Uhr. Dann ging’s zu Pferde in den Wald. Der Mittagstisch dauerte von fünf bis neun. Bismarck war unerschöpflich in Erzählungen über seine Erlebnisse in Frankreich. Die Familie Becker war inzwischen in das Musikzimmer eingetreten und erwartete uns da. Am andern Morgen spielte ich vieles; Bismarck ging dabei in einem hellgrünen geblümten Schlafrock rauchend auf und ab, die Damen saßen. Dann erzählte er ausführlich von seinen Gesprächen mit Napoleon; von Bündnisanträgen des Kaisers, die er verschweigen müsse, weil sie sonst wahrscheinlich von Berlin aus nach Wien verraten werden würden; auch von den Mitteln, durch die er das offenbare Annäherungsbedürfnis des Kaisers für unsere Politik auszunutzen versuchen wollte. Er hielt für richtig, wenigstens den Schein, daß wir zu Frankreich in sehr freundschaftlichen und unter Umständen bis zu gemeinsamer Aktion zu entwickelnden Beziehungen ständen, hervorzurufen, um in Wien einen gewissen Druck ausüben zu können und die österreichische Politik von ihrer jetzigen verhängnisvollen Richtung abzulenken.

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Gustav von Diest, damals Oberpräsidialrat in Koblenz, war schon in den Ostertagen in Frankfurt gewesen und mit mir eingeladen worden, um Pfingsten wiederzukommen.

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II. Frankfurt. November 1853 bis Januar 1859.

Im Laufe seiner Erzählungen erwähnte er einen Gedanken des Kaisers, von welchem in den veröffentlichten Briefen an Gerlach und Manteuffel keine Andeutung zu finden ist. Napoleon hatte gelegentlich geäußert, die Verhältnisse in Frankreich seien doch immer unsicher; es komme vor allem darauf an, Unzufriedenheit in der Armee zu verhüten. „Pour moi l’essentiel c’est toujours l’armée.“ Er wünsche deshalb etwa alle drei Jahre une bonne guerre außerhalb der Grenzen Frankreichs. Dieser Worte gedachte ich, als drei Jahre nach dem Pariser Frieden der italienische Krieg ausbrach und drei Jahre nach diesem das mexikanische Abenteuer unternommen wurde. Auch kam drei Jahre nach der Rückkehr Bazaines aus Mexiko der deutsche Krieg, welchen der Kaiser jedoch nur widerwillig, dem Drucke anderer Personen folgend, beschloß. Nach einem Aufenthalt von nur 30 Stunden mußte ich die Rückreise antreten. Zu Pfingsten 1857 war ich nochmals ein paar Tage in Frankfurt, zusammen mit meinem Freunde Diest. Er wohnte zwar nicht in der Gesandtschaft, war aber von Mittag an immer dort und hatte auch sein schönes Violoncell mitgebracht. Trios und Duos hörte Bismarck rauchend mit ungeteilter Aufmerksamkeit und offenbarem Vergnügen. In den Morgenstunden spendete er mir wieder mancherlei politische ­Mitteilungen und las auch den von mir bis in das preußische Postgebiet mitzunehmenden, merkwürdigen Brief an Gerlach vor, in welchem die „Legitimität“ vieler allseitig anerkannter Staatsgewalten analysiert wird. (Gedanken und Erinnerungen S. 175). Meinerseits konnte ich ihm über die politischen Schriften von Gneist manches berichten, was ihn zu interessieren schien. Am Morgen meiner Abreise (31. Mai), ging er einige Zeit mit mir in dem kleinen sonnigen Garten hinter dem Hause auf und ab und sagte: „Ich habe zurzeit in Berlin wenig Einfluß. Meine Bemühungen, die günstigen Dispositionen des kaiserlichen Frankreich für uns nutzbar zu machen, werden keine Erfolge haben. Ueberhaupt hat der König mir seit zwei Jahren nicht mehr dasselbe Vertrauen geschenkt wie früher. Wollte er mich, wie er mehrmals beabsichtigte, zum Minister machen, so würde er nicht 8 Tage lang mit mir auskommen. „Ach, glücklich ist nur die Jugend, die immerzu Hurra schreien kann.“ „Meine Erfahrung,“ sagte ich, „ist die entgegengesetzte. Ich bin heute viel fröhlicher wie als junger Mensch. Fühlen Sie nicht auch heute einen höheren Wellenschlag des Lebens wie als Student?“ 61

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„Nein!“, erwiderte er; und nach einer kleine Pause: „– ja, wenn man so über das Ganze disponieren könnte! –, aber unter einem Herrn seine Kraft verpuffen, dem man nur mit Hilfe der Religion gehorchen kann …“ Bei diesen Worten waren wir an dem Wagen angekommen, der mich zum Bahnhof bringen sollte. Bald darauf schrieb ich einem Freunde, der besorgte, ich könnte durch Bismarcks Einfluß in eine extreme Richtung geraten, folgende Worte: „Beruhige Dich und freue Dich. Bismarck ist jetzt kein Parteimann mehr. Ich habe, wenn ich mit ihm zusammen war, täglich klüger und besser zu werden gefühlt. Die Fülle thatsächlicher Mittheilungen von für mich großem Interesse war noch nicht einmal die Hauptsache; sein unabhängiger, freier ­Ueberblick über die äußeren und inneren Verhältnisse, seine kühnen Pläne, sein Zoll für Zoll männliches Wesen haben mich in tiefstem Grunde angeregt und erfrischt. Gerade in der Unabhängigkeit des Denkens und Wollens fühlte ich mich neu gestärkt durch ihn.“

* * * Im Sommer dieses Jahres (1857) wurde ich als Hilfsarbeiter in das Ministerium des Innern berufen und im Dezember an das Oberpräsidium zu Breslau versetzt. Dadurch war die Möglichkeit häufiger Fahrten nach Frankfurt ausgeschlossen; nicht nur der weiteren Entfernung wegen, sondern auch weil die damals wesentlich in die Hand des Oberpräsidialrats gelegte Verwaltung einer großen Provinz andere Kraftanstrengungen erforderte als die Mitgliedschaft eines Regierungskollegiums. Am 20. August 1857 schrieb Frau von Bismarck aus Stolpmünde: ­… „Die heißbegehrte schwedische Reise ist so vollkommen gelungen, daß Bismarck jetzt die heitersten, entzücktesten Briefe schreibt aus schwedischen und dänischen Schlössern und Dörfern mit recht absonderlichen Namen. … Ich bin glücklich über sein Vergnügen, das aus allen Briefen hervorleuchtet: Jagdlust und Jagderfolge, Naturschwärmerei, Gesundheitsversicherung – alles zusammen klingt herrlich und erfreulich. Es gefällt ihm so wundervoll in diesen nordischen Sphären, daß er fürs Erste und Zweite und Dritte noch an gar keine Rückkehr denkt.“ Am 17. August aber wurden die Jagdfreuden unterbrochen durch einen ­Unfall, welcher für Bismarck die Ursache langwieriger Leiden werden sollte. Er fiel

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II. Frankfurt. November 1853 bis Januar 1859.

auf eine scharfe Felskante und erlitt eine Verletzung am linken Schienbein6, welche ausheilen zu lassen ihm die Geduld fehlte. Nach nur eintägiger Pause fuhr er fort, in Schweden und später in Kurland zu jagen. Die schlecht geheilte Wunde wurde im Juni 1859 in Petersburg durch ein vergiftetes ­Pflaster derartig inficiert, daß zwei lebensgefährliche Krankheiten (1859  in Berlin und 1860  in Hohendorf) sich daraus entwickelten. Auch in späteren Jahren sind nach Ansicht seines langjährigen Arztes, Dr. Struck, aus derselben Ursache  – einer zerstörten Ader des linken Beins  – mehrmals Venenentzündungen und andere gefährliche Erkrankungen entstanden, welche ihn zu dem Gefühle vollkräftiger Gesundheit nur ausnahmsweise in gewissen Zwischenräumen haben kommen lassen. Eine erhöhte Reiz­barkeit des ganzen Nervensystems war die natürliche Folge dieser Störungen. Im Oktober 1857 wurde der Prinz von Preußen mit der Stellvertretung des schwer erkrankten Königs beauftragt. Frau von Bismarck schrieb aus Frankfurt am 27. Dezember 1857: ­… „Unsre Zukunft ist augenblicklich wieder ’mal ziemlich unsicher nach allen Richtungen hin, aber Bismarck ist guter Laune und so bin ich’s auch – habe ja auch alle Ursache dazu, besonders wenn ich in die strahlenden Weihnachtsgesichtchen meiner drei Herzenskleinodien sehe – die meine Seele mit ewigem Lobgesang gegen Gott erfüllen. … Er wandelt eben ganz lang und grün durch alle Zimmer, läßt Sie herzlich grüßen und hat auf meine Frage um mögliche Bestellung an Sie keine Antwort als die Bitte, Sie möchten Rübezahl grüßen, wenn Sie ihn sähen, das wäre der einzige Bekannte, den er in Schlesien hätte.“ Im Herbst 1858 ging Bismarck nicht auf Urlaub, sondern blieb in Frankfurt, weil der in Baden weilende Prinz von Preußen mehrfach seinen Rat verlangte. Im Oktober kam es endlich infolge der andauernden Krankheit des Königs zur Einsetzung der selbständigen Regentschaft des Prinzen. Er berief das Ministerium Hohenzollern-Auerswald, das von der liberalen Mehrheit der Gebildeten mit Jubel begrüßt wurde. Neuwahlen zum Abgeordnetenhause ergaben eine bedeutende ministerielle Majorität von gemäßigt liberaler Färbung. In einem Briefe an Frau von Bismarck erwähnte ich meine Zweifel darüber, ob das Ministerium der „neuen Aera“ – wie es damals genannt wurde – die übergroßen Erwartungen der politischen Welt würde erfüllen können. Die Antwort lautete (Dezember 1858): 6

S. Fürst Bismarcks Briefe an seine Braut und Gattin, S. 382.

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„Was den politischen Theil Ihres Briefes betrifft, den ich Otto vorgelesen, so läßt er Ihnen sagen, Ihre und seine Wege wären dieselben, sogar bis auf das Gras, welches daneben wüchse.“

Die Aeußerung scheint mir so charakteristisch, daß ich sie nicht unerwähnt lasse, obwohl ich über jenes Gras nichts mehr bekunden kann. Zu Neujahr 1859 war ich noch einmal in Frankfurt auf zwei Tage, welche mit viel Musik, unter Mitwirkung der Familie Becker, ausgefüllt wurden, zu politischen Aufzeichnungen aber keinen Stoff darboten.

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III. Aeußerungen über Musik. 1853 bis 1871. Hier möchte ich zusammenstellen, was mir über Bismarcks Verhältnis zur Musik und einzelnen Musikstücken bekannt geworden ist. Er war mit gutem Gehör und wohlklingender Baritonstimme begabt, an deren Ausbildung er jedoch niemals gedacht hat. Die Kreise, in denen er als Jüngling verkehrte, waren vielfach anregend, aber nicht eigentlich musikalisch. Wenn er in späteren Jahren mitunter eine Melodie mitsummte oder für sich allein wiederholte, waren die Töne immer von unanfechtbarer Reinheit. Er hatte ein feines Gefühl für ernste Musik und oft große Freude daran. In seinem Zuhören erlebte ich drei Abstufungen. Als Abgeordneter und in Frankfurt hörte er, gewöhnlich rauchend, mit ungeteilter Aufmerksamkeit; so auch an vielen Winterabenden in Versailles (1870/71) nach dem Diner. In Petersburg pflegte er beim Zuhören zu lesen. Als Minister und Bundeskanzler las er ebenfalls beim Hören, wenn er im Musikzimmer war, öffnete mitunter die Thüre seines nur durch ein offenes Kabinett davon getrennten Arbeitszimmers, um sich beim Schreiben durch Töne anregen zu lassen. Als Reichskanzler aber lehnte er ab, Musik zu hören, weil die Melodien ihn nachts verfolgten und zu schlafen hinderten. In den ersten Jahren seiner Ehe hat Frau von Bismarck ihm viel vorgespielt. Ein Lieblingsstück, welches er sie noch in Frankfurt (1853) in meiner Gegenwart zweimal zu spielen bat, war ein kurzer feuriger Satz von Ludwig Berger (Opus 12, Nr. 3). „Diese Musik“, sagte er, „gibt mir das Bild eines cromwellschen Reiters, der mit verhängten Zügeln in die Schlacht sprengt und denkt: jetzt muß gestorben sein.“ In den letzten Frankfurter Jahren, wie in Petersburg, haben die heranwachsenden Kinder Frau von Bismarck so viel zu thun gegeben, daß mitunter längere Zeit ohne Berührung des Klaviers verging. Zu leichter Erwerbung neuer Stücke fehlte ihr eine bequem gehorchende Technik. Dennoch hat sie später in Berlin manches Neue, auch aus Liederheften und Opern sich angeeignet. Volksmelodien und schöne Walzer haben ihr jederzeit zur Verfügung gestanden. 65

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In Frankfurt äußerte Bismarck mehrmals, daß er nie in ein Konzert gehen möge. Das bezahlte Billet und der eingezwängte Platz verleideten ihm den möglichen Genuß. Schon der Gedanke, für Musik Geld zu zahlen, sei ihm zuwider. Musik müsse frei geschenkt werden wie Liebe. Diese Worte hörte ich von ihm in verschiedenen Jahren (1853, 1855, 1857). In Petersburg sagte er gelegentlich (1860), gute Musik rege ihn oft nach einer von zwei entgegengesetzten Richtungen an: zu Vorgefühlen des Krieges oder der Idylle. Vierhändig spielen zu hören, liebte er nicht. „Die sichtliche Gebundenheit der Spieler an das Notenheft,“ sagte er, „schließt eine freiere Bewegung aus. Nur wenn der Spieler ohne Vermittelung eines Blattes Papier zu seinem Instrument spricht, beginnt für mich der Genuß.“ Damit gerade konnte ich ihm dienen. Ein ungewöhnliches Gedächtnis setzte mich in den Stand, ganze Tage lang immer Neues zu bringen. Ohne Virtuose zu sein, verfügte ich über eine hinreichende Technik, um Werke der Meister von Bach bis auf Chopin und Schumann verständlich darzustellen. Als Student hatte ich ein Berliner Wintersemester (1841/42) ausschließlich auf musikalische Studien verwendet, nämlich auf kontrapunktische Uebungen und beethovensche Klaviersonaten. In den letzten Lebensjahren der 1847 verstorbenen Schwester Mendelssohns, Frau Fanny Hensel, durfte ich in ihrem Hause viel verkehren und einen Schatz von Ueberlieferungen erwerben. Damals wurde ich von Musikern als Fachgenosse begrüßt. Später, in kleinen Städten, war ich unter dem Beifall vieler Freunde bemüht, meinen Vorrat guter Hausmusik zu erhalten und stetig zu vermehren. So fanden Bismarcks Wünsche mich gut vorbereitet. Er war sehr zufrieden, neben neuen Sachen auch bekannte Stücke, namentlich beethovensche Sonaten, wieder zu hören, die er, wie schon einmal erwähnt, als Student durch Graf Alexander Keyserling kennengelernt hatte. Ueber eine Fuge von B a c h in E (Wohltemperiertes Klavier, Band II, Nr. 9) sagte er (1853): „Der Mann hat von Anfang mancherlei Zweifel, ringt sich aber allmählich durch zu einem festen frohen Bekenntnis.“ Ueber andere Stücke von Bach hat er nie etwas gesagt. Ueberhaupt pflegte er nach dem Schluß der Musikstücke zu schweigen, wie um die Töne innerlich nachklingen zu lassen; nur ganz ausnahmsweise fiel mitunter eine Bemerkung. Von M o z a r t s Instrumentalstücken, deren ich übrigens nur wenige spielte, hat ihm keines einen besonderen Eindruck gemacht, auch nicht das Konzert in d-Moll, dessen, etwas gekürzten, ersten Satz Frau von Bismarck nicht oft genug hören konnte. Er sagte danach nur: „Beethchen (Beethoven) 66

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III. Aeußerungen über Musik. 1853 bis 1871.

ist mir lieber“ (1862). Mehrmals hat er im Laufe der Jahre geäußert: „B e e t h o v e n sagt meinen Nerven am besten zu.“ Ueber den ersten Teil der Sonate in Es (27, Nr. 1) sagte er (1853): „Das ist, als wenn man gegen Abend in etwas angeheitertem Zustande langsam durch die Straßen schlendert. Man sieht sehr vergnügt ins Abendrot und denkt: Ob’s wohl morgen wieder so hübsch wird wie heute?“ Ueber das erste Stück der großen Sonate in f-Moll (57) sagte er (1864): „Wenn ich diese Musik oft hörte, würde ich immer sehr tapfer sein.“ Das war eine scherzhafte Wendung zum Lobe der Musik auf Kosten seiner Person; denn nie hat er musikalischer Anregung bedurft, um tapfer zu sein. So weit meine Wahrnehmungen reichen, ist ihm niemals, selbst nicht im Gedränge großer Schwierigkeiten, die Tapferkeit auch nur für einen Augenblick abhandengekommen. Der ihm angeborene Mut hing wohl zusammen mit dem Gefühle physischer, und noch mehr geistiger, Ueberlegenheit über andre Menschen und wurde verstärkt durch die Erkenntnis, daß man bei tapferem Verhalten in allen Fällen am besten wegkommt. Der erste Satz der F-Moll-Sonate gehörte also zu den ihn kriegerisch anregenden Stücken. Ueber den letzten Satz derselben sagte er (1868), wie ich schon einmal erwähnte: „Das ist wie das Ringen und Schluchzen eines ganzen Menschenlebens.“ Als ich dieselbe Sonate in Versailles auf einem schlechten Klavier zum ersten Mal spielte (30. Oktober 1870), sagte er: „Warum das nicht öfter?“ In Bezug auf die vielen andern, von ihm leidenschaftlich geliebten Sonaten hat er in meiner Gegenwart nie ein Wort gesagt. 1853  spielte ich zum ersten Mal das Andante des Konzerts in G (58). Frau von Bismarck fragte: „Klingt das nicht wie das Gemüt unsres Freundes Hippolyt?“ Er antwortete: „Ja, aber wie Hippolyt aus dem Irdischen ins Himmlische übersetzt.“ Später (1867) sagte er nach dem ersten Satze desselben Konzertes: „Wirklich sehr hübsch.“ Beethovens 32 Variationen fand er nur technisch bewunderungswürdig (1865), aber nicht zum Herzen gehend, während Frau von Bismarck sie sehr liebte. Variationen waren ihm überhaupt unerfreulich. Sogar nach dem Andante des schubertschen D-Moll-Quartetts, das er leidenschaftlich liebte, sagte er einmal, das Thema ohne die Variationen ginge ihm eigentlich doch tiefer als das ganze ausgeführte Stück (1869). Nächst, ja neben Beethoven liebte er S c h u b e r t . Von dessen oben genanntem Quartett, das ich für Klavier bearbeitet hatte und oft spielen mußte, 67

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sagte er mehrmals: „Das ist mir wie Beethoven.“ Auch die Menuett des A-Moll-Quartetts liebte er sehr und vom Andante die erste Melodie. Dazu bemerkte er einmal (1869): „Die Stelle nach der Fermate im zweiten Teil der Melodie klingt etwas künstlich und daher nicht ganz so hübsch wie das Übrige.“ Dieses kleine Stück aber von nur 16 Takten berührte ihn wie ein idyllisches Bildchen. Das Trio in Es konnte ich 1857 mit Begleitung vorspielen, während er rauchend auf und ab ging. Er fand es außergewöhnlich hübsch, am meisten das „allerliebste und witzige Scherzo“. Die melodiöse letzte Sonate (in B) war ihm an mehreren Abenden in Versailles angenehm und nervenberuhigend, doch bemerkte er, der letzte Satz stände nicht auf der Höhe der drei anderen. M e n d e l s s o h n hörte er immer gern, wenn auch nicht so gern wie Beethoven und Schubert. Nach dem Präludium in e-Moll (36, Nr. 1) sagte er einmal (1867): „Dem Manne geht es aber wirklich sehr schlecht.“ Beim Hören des Capriccio in E (33, Nr. 2) sagte er (1855): „Stellenweise klingt das wie eine vergnügte Rheinfahrt; an anderen Stellen aber glaube ich einen im Walde vorsichtig trabenden Fuchs zu sehen.“ Von S c h u m a n n spielte ich die populäre Hälfte der „Symphonischen Etüden“ und mehrere andere Stücke; er hörte alle gern, ohne jedoch darüber mehr zu sagen als mitunter: „sehr hübsch.“ Von C h o p i n hörte er lieber die leidenschaftlich bewegten als die träumerischen Stücke. Nach dem Präludium in cis-Moll (ohne Opuszahl), welches viele unerwartete Modulationen bringt, sagte er (1855): „Das klingt ja oft so, als ob ich einem Raucher sagen wollte: Befehlen Sie vielleicht eine Ci- … trone muß man zum Lachs haben.“ Ueber die im Baß donnernde Etüde in c-Moll (10, Nr. 12) sagte er 1853: „Wirklich magnifique.“ B r a h m s sche Klaviermusik spielte ich vor 1872 noch nicht; vermutlich hat er diesen Meister nicht kennengelernt. Auch mit Wa g n e r s Musik war ich damals leider noch nicht vertraut. Daß Bismarck die ersten Werke des Meisters – vermutlich in der Frankfurter Zeit – kennengelernt hat, erfuhr ich erst durch die „Bayreuther Blätter“, welche im Juli d. J. folgenden an denselben gerichteten Brief brachten: Versailles, 21. Februar 1871. „Hochgeehrter Herr! Ich danke Ihnen, daß Sie dem deutschen Heere ein Gedicht gewidmet und daß Sie mir dasselbe haben überreichen lassen. So sehr ich mich geehrt fühle,

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III. Aeußerungen über Musik. 1853 bis 1871.

daß Sie dieses vaterländische Gedicht, wie mir gesagt wird, für mich allein bestimmen, so sehr würde ich mich freuen, es veröffentlicht zu sehen. „Auch Ihre Werke, denen ich von jeher mein lebhaftes, wenn auch zuweilen mit Neigung zur Opposition gemischtes Interesse zugewandt, haben nach hartem Kampfe den Widerstand der Pariser überwunden, und ich glaube und wünsche, daß denselben noch viele Siege, daheim und draußen, beschieden sein werden. „Genehmigen Sie die Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung. v. Bismarck.“

In Berlin hat Bismarck als Minister das Opernhaus meines Wissens nie besucht, Wagners spätere Schöpfungen daher vermutlich nicht kennengelernt. Diese Erinnerungen darf ich mit der Bemerkung abschließen, daß, wenn der Reichskanzler musikempfänglich geblieben wäre, wie er es als Gesandter, Minister und Bundeskanzler war, ich 1872 nicht ins Ausland gegangen sein, sondern als eine wichtige Lebensaufgabe betrachtet haben würde, zur gemütlichen Erfrischung des großen Mannes dauernd beizutragen, wie es mir eine Reihe von Jahren vergönnt gewesen ist.

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IV. Petersburg. 1859 bis 1862. Im Januar 1859 wurde Bismarcks Versetzung nach Petersburg entschieden. Ohne von den Intrigen etwas zu wissen, welche bezweckten, Usedom nach Frankfurt zu bringen, schrieb ich an Frau von Bismarck, daß ich diese Versetzung als ein sehr glückliches Ereignis begrüße. Es schiene mir, ihr Gemahl wäre lange genug in Frankfurt gewesen, um die deutschen Verhältnisse so gründlich als nur möglich kennenzulernen; in Petersburg würde er engere Fühlung gewinnen als irgendjemand vor ihm und das könne gerade für unsre deutsche Politik sehr nützlich werden. Frau von Bismarck antwortete (26. Februar): ­… „Bismarck ist zuerst in Berlin vor Aerger krank geworden, weil man alles so h i n t e r r ü c k s abgemacht hatte, aber er denkt jetzt auch, daß er sowohl hier wie in Berlin gar nichts nützen kann und in Petersburg sowohl politisch wie persönlich beim Kaiser eine sehr angenehme Stellung haben wird. Das ist sein und mein Trost! Und was Sie darüber denken, ist ihm natürlich wieder aus der Seele gesprochen.“ Frankfurt, 30. März 1859. ­… „Uebermorgen werden Sie mit vieler Herzenstreue und Liebe an meinen allerbesten Schatz denken und an mich, die zum ersten Male seit 12 Jahren diesen Tag ohne ihn verleben muß – zwölf Jahre haben wir in unaussprechlichem Glück zusammen verlebt – die kleinen Wolken, die sich ’mal hin und wieder erhoben, sind gar nicht zu rechnen, wenn ich all’ die Freude, all’ den Segen, all die Liebe darüberlege, mit der der Herr uns so überreich erquickt – wirklicher Schmerz ist nur gewesen wenn wir getrennt waren … „Am 25ten hat Bismarck von Kowno gesund und heiter so geschrieben: 11 Uhr abends. Von Königsberg Schneegestöber bis hier, Alles weiß, 2‒7° – Eis. Auf 32 Meilen 28 Stunden mit Courrier-Pferden gefahren, in Preußen und Rußland gleich schlecht. Eben bei schöner klarer Winternacht über Riemen gesetzt. Alte Stadt, Flußufer bergig, hübsch beleuchtet von Sternen, Schnee und

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IV. Petersburg. 1859 bis 1862.

Hauslichtern; schwarzes rauschendes Wasser, breit wie Elbe. Russen sehr liebenswürdig, aber schlechte Pferde, manchmal gar keine. Hier wollen wir 4 Stunden schlafen, dann weiter nach Dünaburg. Diesen Strudelwitz-Prudelwitz-Zettel bekam ich eben“. Frankfurt, 5. April. ­  „Nach 108 Stunden ununterbrochener Reise von Königsberg ist Bismarck … den 29.  morgens glücklich in Petersburg angelangt  – viel Abenteuer erlebt mit stürzenden Pferden, Flußübersetzungen, Schneesteckenbleiben, 12° Kälte, Russisch-Lernen, u. s. w. – aber es ist doch alles sehr gut überstanden, Gott sei Dank, und er nun für’s Erste im Hotel Demuth etabliert“ … Frankfurt, 5. Mai. ­… „Von Bismarck hatte ich gestern einen herzlieben Brief. Er hat ein wundervolles Quartier gemiethet unweit der Newa, mit Aussicht auf Schiffsverkehr und Stadt und fernhin einen Schatten von Wald und Hügel … Er ist: zufrieden, ich also auch – er arbeitet Tag und Nacht und wird geliebt von Kaiser und Kaiserin wie ein verwandtes Wesen. Gott segne sein Thun und Denken.“ … Wiesbaden, 12. August 1859. ­  „Bismarck hatte mir von Petersburg geschrieben, er wäre an rheumati… schen Leiden erkrankt und wiederhergestellt. Es war aber dabei vieles liebevoll verschwiegen. Man hat ihn in Petersburg ärztlich schändlich mißhandelt mit Kuren (inneren und äußeren), von denen kein vernünftiger Mensch eine Idee hat. Die Berliner Aerzte konnten sich gar nicht beruhigen über solch’ förmlich wahnsinniges Verfahren und nannten es Gottes Wunder, daß er dabei am Leben geblieben!  – Er reiste ganz elend ab, nachdem das verrückte Doktor-Volk ihn so weit gebracht, daß sie dringend Luftveränderung anempfahlen. Durch die Reise wurde er natürlich viel schlimmer und war in Berlin jämmerlich elend, ganz gebrochen, lahm, nervös bis zum Aeußersten, Fieber bis zu 115 Schlägen in der Minute, völlig theilnahm- und gedankenlos, matt und schwach zum Umsinken. Von Reinfeld war ich ganz lustig abgefahren (telegraphisch von ihm bestellt), weil ich glaubte, ich wäre ihm wegen Besorgungen nützlich und nun fand ich ihn in dem jammervollen Zustande! – Die Doktors sprachen dringend von Wiesbaden sobald als möglich – ich konnte nicht mehr zurück, meine geliebten Kinder zu sehen, und mußte mit meinem armen lieben Otto hierher in’s alte heiße Bad – worüber er so niedergeschlagen war, daß ich alle meine Kinder-Sehnsucht verbiß und nur fröhlich sein wollte, um zu scheuchen, was ihn trüb machte.

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„In Berlin hat er 14 Tage ausdauern müssen, lag fest im Bett ohne Rücken und Rühren, dann einige Stunden auf dem Sofa, dann ein bisschen Ausfahren und dann gleich hierher … „Die Bäder und Brunnen stärken ihn täglich mehr, so daß er jetzt schon einmal um den Teich herum riskieren kann, freilich am Stock und ziemlich steif, aber es geht doch und wir finden Wunder was für Vergnügen an diesem Spaziergang! Unser Haus liegt nahe am Kurgarten und wir gehen täglich bis zu den Bäumen hinter dem Kursaal, sehen in den Teich, sehen durch offene Fenster in die Spielsäle, trinken Selterswasser und hören schlechte Orchestermusik. Das ist unsre tägliche Beschäftigung draußen – drinnen liegt er meist auf dem Sofa, liest oder hört, was ich ihm vorspiele auf einem mittelmäßigen Pianino, und ich sitze bei ihm von früh bis spät. So leben wir ohne Abwechslung, ganz stillchen eine Stunde nach der andern. Die Frankfurter Bekannten sind alle auf dem Lande oder in entfernten Bädern. Hier in Wiesbaden kennen wir keine Seele – mich freut’s für seine Nerven, denen die Ruhe so Noth thut, die so entzwei waren, daß er in Berlin, als es etwas besser ging, er dringend nach Musik verlangte und ich ihn eines Morgens, nachdem er aufgewacht, auf einem heimlich beschafften Klavierchen mit einem Choral überraschte – in helle Thränen ausbrach vor Freude und Wehmuth! Daran können Sie abmessen, wie furchtbar elend er durch und durch gewesen … Gott der Herr ist mir aber recht nahe gewesen, immer und immer, so habe ich mir schon durchhelfen können.“ … Reinfeld, 23. Oktober. ­… „In Wiesbaden haben wir in heißer Luft und heißem Wasser 14 Tage lang Heilkraft gesucht, aber nicht gefunden, es blieb ziemlich gleich von Anfang bis zu Ende, die Schmerzen kehrten sogar wieder. Ich zog unsern früheren Frankfurter Arzt Dr. Struck zu Rath. Der stimmte aber sofort gegen alles, was man in Berlin und Wiesbaden verordnet, und schickte uns eilends nach Nauheim, was meinem lieben Otto in jeder Weise so wunderbar gut that, daß er nach 8 Tagen wie ein anderer Mensch war und nach 16 so viel besser, daß man uns ziehen ließ. Am 7. September früh ging’s von Nauheim nach Berlin und dort fanden wir eine telegraphische Depesche vom Regenten, die Bismarck schleunigst nach Baden beschied. Wir besorgten in kurzer Zeit möglichst viel und jagten dann nach Norden und Süden auseinander.“ …

Ende Oktober kamen der Prinzregent und der Kaiser Alexander in Warschau zusammen und reisten dann zu einer Truppenbesichtigung nach Breslau. Bismarck war natürlich immer zugegen. In Breslau konnte ich ihm während zweier Tage morgens vorspielen und später verschiedene kleine 72

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IV. Petersburg. 1859 bis 1862.

Dienste erweisen. Er lud mich ein, ihn bald in Petersburg zu besuchen, erzählte viel von seiner Krankheit und äußerte sich abfällig auch über Berliner Aerzte, welche ihn durch zu starke Dosen von Jod dem Tode nahegebracht hätten. Erst nachdem seine Frau die Jodflasche zum Fenster hinausgeworfen, wäre ihm besser geworden. Bald darauf trat er mit der Familie die Reise nach Petersburg an, erkrankte aber schwer an einem Ruhetag bei Herrn von Below in Hohendorf (Ostpreußen). Frau von Bismarck schrieb am 30. Januar 1860 aus Hohendorf: ­… „Zwölf Wochen sind wir nun hier, und was Liebe und Güte irgend auf der Welt zu leisten vermag, das haben wir hier in überreichem Maß von der ersten Stunde an jeden Augenblick erfahren, so daß kein Mund genug davon rühmen, kein Herz genug dafür danken kann! Wer ebenso ist’s auch nimmer zu beschreiben, was wir ausgestanden in namenloser Todesangst und Sorge, Verzagtheit – ach fast Verzweiflung – alle die schreckliche Krankheitszeit der ersten gefährlichsten Wochen, wie nachher, als die Genesung wohl eintrat, nach Doktors Worten – er aber stets zurückfiel in die alten Zustände und ich mich fast aufrieb in unaufhörlicher Todesbetrübniß. ‒ „Seit Neujahr ist es nun doch anders geworden; wenn die große Mattigkeit, Trübseligkeit, Schlaflosigkeit auch noch wiederkehrte und die aufkeimende Hoffnung zu Schanden machen wollte, so sah es doch im Ganzen besser aus, seit er hinauskonnte – 5 Minuten, 10 Minuten, nach und nach bis zur halben Stunde. „Und seit den letzten 8 Tagen scheint es mir weit frischer zu gehen und ich glaube nun fest, daß Gottes Barmherzigkeit ihm die alten Kräfte noch einmal wiedergeben wird – worauf ich nicht zu hoffen wagte all die vergangenen Wochen. ‒ „Was wird nun? Ja, wer weiß es! Ich nicht! Kein Mensch kann’s sagen. Bismarck spricht entschieden von Rückkehr nach dem gräßlichen Petersburg, wogegen Aerzte predigen und Freunde warnen. Wenn er alles aufgeben möchte, was mit Politik und Diplomatie zusammenhängt, wenn wir, sobald er g a n z gesund wäre, schnurstracks nach Schönhausen gingen, uns um nichts kümmernd als um uns selbst, um unsre Kinder, Eltern und die wirklichen wahrhaften Freunde, das wäre meine Wonne. Dann würde er gewiß bald wieder so stark und frisch werden wie vor 10 Jahren, als er eintrat in diese unleidliche stürmische Diplomaten-Welt, die ihm gar nichts Gutes gebracht – nur Krankheit, Aerger, Feindschaft, Mißgunst, Undankbarkeit und – Verbannung; wenn er den Staub seiner lieben Füße über den ganzen nichtsnutzigen Schwindel schütteln und all’ dem Unsinn entrinnen wollte, in den 73

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er mit seinem ehrlichen, anständigen grundedlen Charakter nie hineinpaßt – dann wäre ich vollkommen glücklich und zufrieden! – Aber – er wird’s leider wohl nicht thun, weil er sich einbildet, dem „theuren Vaterland“ seine Dienste schuldig zu sein, was ich vollkommen übrig finde.“ Hohendorf, 26. Februar 1860. ­   „Endlich kann ich Ihnen die liebliche Botschaft von seiner Genesung geben. … Sie wissen, wie viel an seinem geliebten Leben hängt! Mein Herz ist so voll von dem Jubel über sein Wohlsein, daß die Feder gleich davon überströmen muß! Gottlob, daß sie es kann …“ Berlin, 14. April 1860. „­ … wir sitzen seit Anfang März noch immer hier, erst durch Krankheit, dann durch Entschlußlosigkeit des Ministeriums aufgehalten! In welcher Stimmung, können Sie sich ungefähr denken, wenn ich Ihnen sage, daß wir Abschied von den Kindern und Eltern genommen auf höchstens 8 Tage, die jetzt runde vier Wochen geworden sind.“ Petersburg, 23. Juni 1860.

­  „Seit dem 5ten sind wir hier eingezogen, hatten eine langsame ziemlich be…

queme Reise durch polnische und russische Steppen von Mittwoch früh bis Dienstag früh, fast 8 Tage, sind den ersten Morgen hier derb durchgeweht worden von einem eisigen Orkan (Thermometer stand auf 0), haben die ersten 8 Tage bitter gefroren, sind dann aber durchglüht worden von einer Hitze, die mir im Vaterlande nie vorgekommen  … Es ist eine merkwürdige, unendliche Stadt, dies in jeder Beziehung steinreiche Petersburg. Schön, man kann’s nicht leugnen, und großartig. Unsere Wohnung liegt charmant am Quai – und der Schiffsverkehr ohne Ende von einem Licht in’s andre – der wundervolle Sonnenuntergang, die ewige Abendröthe durch die ganze Nacht, die eigentlich nur helle Dämmerung genannt werden kann, macht mir viel Freude! Ebenso die Spazierfahrten auf den Inseln in sausender Carriere und nach Zarske und Pawlowsky… Bismarck geht’s, Gott sei gepriesen, recht gut! Er ist wohl noch nicht der Alte wieder, aber ich hoffe, das kommt mit der Zeit. … Musik habe ich bis jetzt nur genossen in den russischen höchst merkwürdigen mysteriösen Melodien, die das Volk auf der Straße, auf den Inseln, fahrend, gehend, reitend, arbeitend immer und immer singt …“

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IV. Petersburg. 1859 bis 1862.

21. Juli. ­… „Bismarck hat vier Wochen Karlsbader Brunnen getrunken, der ihm gar nicht gut that, so daß ich zu meiner Freude endlich den Schluß durchgesetzt, der erst zwei Wochen später erfolgen sollte … Er mußte Ruhe haben, der geliebte Bismarck, aber er hat keine Ruhe d a z u und fühlt sich höchst unglücklich ohne Beschäftigung – so muß man sich fügen. Aber Angst ist mir sehr um ihn und Gott möge in Gnaden dreinsehen, ihm mehr Schlaf und Nervenstärkung geben. Krank ist er gottlob nicht, aber es war noch kein Tag, an dem er sich vollkommen kräftig gefühlt …“

* * * Wiederholten Einladungen folgend, erreichte ich auf dem Stettin-Petersburger Postdampfer am Morgen des 28. August die Newa-Stadt. Oberhalb der Landungsstelle am südlichen Ufer lag damals die Wohnung unseres Gesandten. Das Haus enthielt große und bequeme Wohnräume und ausreichenden Platz für die Kanzlei. Das hübsche Arbeitszimmer des Gesandten lag an der Nordseite und gewährte aus zwei Fenstern den Blick auf den Strom, eine Brücke und in der Ferne einen Waldessaum. Dieselbe Aussicht war aus den vier Fenstern des großen Damensalons, in dessen Mitte der Flügel stand. Das Eßzimmer lag am Hofe und führte zum Hinterhause. Die ganze Wohnung war größer und eleganter als die beiden in Frankfurt verlassenen, aber für große Gesellschaften gegenüber den Petersburger Ansprüchen nicht groß genug. Beim Frühstück sagte mein gütiger Wirt: „Da Sie gern reiten, habe ich Pferde nach den Inseln vorausgeschickt. Ist es Ihnen recht, so fahren wir dorthin.“ Frau von Bismarck fuhr nicht mit; nach der Frankfurter Zeit hat sie nicht mehr geritten, um sich ganz den heranwachsenden Kindern widmen zu können. ‒ Wir fuhren also zu zweien in einer kleinen offenen Droschke. Die beiden kleinen Pferde gingen in gestrecktem Galopp auf dem Straßenpflaster und den Chausseen, im Schritt auf den Brücken, niemals im Trabe. Unser Weg führte ostwärts den Quai entlang, an den kaiserlichen Palästen vorbei und über eine tausend Schritt lange hölzerne Brücke. Die Newa ist der breiteste Strom, den ich kenne. Im nahen Ladogasee völlig abgeklärt, hat sie keine trübenden Zuflüsse aufzunehmen und ist durchsichtig bis zu bedeutender Tiefe. Sie liefert für ganz Petersburg das Trinkwasser. Bismarck sprach mit Lebhaftigkeit von der Schönheit des großen Stromes, über welche er sich jeden Tag freue. 75

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Die von mehreren Newa-Armen gebildeten Inseln enthalten Flächen von einigen Quadratmeilen und sind ganz von Parkanlagen und Landhäusern bedeckt. Wäldchen von Tannen, stark entwickelten Birken, Erlen und Ahornen umkränzen weite Rasenflächen. Die Nachmittagssonne war so warm, daß Bismarck den Sommerüberrock auszog und auf den linken Arm nahm. Er erlaubte mir nicht, ihm diese kleine Last abzunehmen. Das Wetter blieb schön in der ganzen Woche meines Petersburger Aufenthaltes und der Ausflug nach den Inseln wurde daher fast täglich wiederholt. Es war eine gesellschaftlich stille Zeit; der Kaiser in der Krim, die Großfürsten und fast die ganze vornehme Welt auf dem Lande. Fürst Gortschakoff aber wurde durch die Geschäfte in der Stadt zurückgehalten. Als er eines Tages Bismarck besuchte, bat ihn dieser, den Rückweg durch den Damensalon zu nehmen; dort würde er ihm einen heimatlichen Freund vorstellen, der doch in Berlin müsse erzählen können, daß er den berühmten Kanzler gesehen habe. Darauf beehrte mich der Fürst mit einem längeren Gespräche in reinstem Deutsch. Den Altreichskanzler Grafen Nesselrode, welcher mit seiner schönen Tochter auf einer der Inseln wohnte, durfte ich als Begleiter von Frau von Bismarck besuchen. Alles, was ich in Petersburg sah, interessierte mich so lebhaft, daß mir ein Abstecher nach Moskau empfohlen wurde. Eine Zeile von Bismarcks Hand an den Intendanten der dortigen kaiserlichen Schlösser, Fürsten Obolenski, bewirkte, daß dieser würdige Herr mich zwei volle Tage, vom frühen Morgen bis Mitternacht, in seinem Wagen umherfuhr und wie einen Verwandten bewirtete. Ich wurde tief berührt von dem Zauber echt russischer Gastfreundschaft, dank der persönlichen Verehrung des Fürsten für unseren Gesandten. Die letzten Petersburger Tage brachten mir einige politische Aeußerungen Bismarcks. „Es war“, sagte er, „die Partei des ‚Preußischen Wochenblattes‘, die mit der Regentschaft ans Ruder kam. Von diesen Herren kannte ich Albert Pourtales etwas näher, schon von der Schule her. Er und sein Bruder wurden dort die „Pourtaliden“ genannt. Ich traf ihn einmal im Januar 1859 und sagte ihm: ‚Ihr scheint zu glauben, daß Ihr hexen könnt. Ihr meint, durch die jetzige, freudig erregte Stimmung der öffentlichen Meinung würden alle Schwierigkeiten beseitigt, alle Fragen gelöst werden. Aber der Rausch wird bald verfliegen und dann wird es darauf ankommen, ob einer von Euren Ministern etwas kann. Ich glaube das nicht; ich fürchte, weder den inneren noch den äußeren Schwierigkeiten werdet Ihr gewachsen sein.‘ 76

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„Schneller, als ich dachte, hat sich das erwiesen. Die auswärtige Politik während des italienischen Krieges war schwankend und schwach. Ich dachte damals noch, daß ich vielleicht einigen Einfluß ausüben könnte, und aus alter Frankfurter Gewohnheit schrieb ich mir die Finger ab, um zu verhindern, daß wir ohne Sicherheit ausreichender Entschädigung wie Vasallen Oesterreichs in den Krieg einträten. Dennoch wurden fünf Armeekorps mobilgemacht; und vielleicht hat nur der übereilte Vertrag von Villafranca uns davor bewahrt, steuerlos in einen unabsehbaren französischen Krieg hineinzutreiben, dessen Früchte, wenn wir siegten, Oesterreich und die Mittelstaaten uns verkümmert haben würden. „Und erst im Innern! Das Ministerium verfügte über eine große Majorität, denn die meisten Abgeordneten waren von seiner Farbe. Nun war ja schon in der ersten Kundgebung des Prinzregenten erwähnt, daß Verbesserungen der bestehenden wohlfeilen Heeresverfassung unerläßlich sein würden, damit die Armee im entscheidenden Augenblicke sich bewähren könnte. Zu Anfang dieses Jahres werden endlich die Reorganisationspläne vorgelegt. Alles kommt darauf an, sie durchzusetzen; aber die Minister üben keinen Einfluß auf ihre Freunde. Die Sache wird in der Kommission abgelehnt und gar nicht ins Plenum gebracht. Das war ein übler Mißerfolg; denn wir brauchen die Verstärkung und Verjüngung der Armee so nötig wie das tägliche Brot. Roon, der dem Hause noch unbekannt war, konnte die Sache nicht machen. Aber die alten Parteiführer Auerswald und Schwerin hätten ihre Leute wie Vincke und Stavenhagen zur Vernunft bringen müssen. Das haben sie nicht gekonnt; es fehlte ihnen die nötige Energie. „Merkwürdig ist jetzt die Entwickelung der Dinge in Italien. Der Kaiser Napoleon scheint durch Garibaldis Erfolge und den Zusammenbruch des Königreichs Neapel wirklich überrascht worden zu sein. Sein hiesiger Botschafter, Graf Montebello sagte kürzlich: Nous voyons monter cela comme la marée et nous ne savons que faire. Voilà l’impuissance des hommes vis-avis des événements.“ Als ich endlich abreisen mußte, begleitete mein gütiger Wirt mich zum Bahnhof und sagte dort: „Sehen Sie nur in den Wartesälen die Menge eigentümlicher Gesichter, Bärte und Trachten. Geschickte Maler sollten herkommen, um Studien zu machen.“

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Frau von Bismarck schrieb am 17. September: ­… „Bismarck kam ganz melancholisch von der Eisenbahn zurück mit den Worten: ‚– er nimmt jedes Mal ein großes Stück Heimath mit – und jetzt will ich sehr viel arbeiten, sonst bange ich mich zu sehr nach ihm.‘“ … Petersburg 12. Oktober 1860. ­  „Im Alexander-Newsky-Kloster gab’s eine Gedächtnißfeier mit sehr viel … Gepränge. Unzählige Popen, kaiserliche Familie, diplomatisches Corps, sehr viel Militär, besonders Tscherkessen, und hohe Würdenträger aller Art – es funkelte und blitzte, wohin man sah. Die Kloster- und Hof-Sänger producierten prachtvolle Stimmen, die aber doch nicht an unsern Berliner Domchor heranreichen. Bismarck erschien als weißer Rittmeister, der zu meiner Freude über alle Collegen hinausragte und alle ausstach mit seinem vornehmen Anstand. Alle standen krumm und schief mit der Zeit – er allein sah aus, wie ein kaiserlicher Zwillingsbruder – und ich hatte mein stilles Vergnügen daran von meinem Versteck aus als Zuschauerin …“

* * * Anfang November besuchte der Prinzregent den Kaiser Alexander in Warschau. Natürlich war auch Bismarck zugegen. Auf der Rückreise hielt der königliche Zug in Breslau, wo die Generalität und die Spitzen der Behörden versammelt waren und ich als Begleiter des Oberpräsidenten zu erscheinen hatte. Bismarck sah mich von Weitem und bahnte sich den Weg zu mir durch die Herren Generale, um die ganze Zeit des Aufenthalts mit mir zu sprechen. Er sagte: „Ich reite noch immer auf den Inseln, aber jetzt fehlt mir leider die Gesellschaft. Sie sollten bald einmal wiederkommen, um sich Petersburg in der Winterpracht anzusehen.“ Von Politik natürlich kein Wort. Ein Bekannter drängte sich mit der Frage heran: „Nun, was bringen Sie uns aus Warschau?“ Er antwortete: „Schlechte Nachrichten. Das Befinden der Kaiserin Mutter hat sich in bedenklicher Weise verschlimmert.“ Am 24. November schrieb Frau von Bismarck aus Petersburg: ­… „Der Tod der Kaiserin Mutter ist uns recht nahegegangen, weil sie Bismarcks große Gönnerin, ich möchte sagen, Freundin gewesen. Wir gehen nun 6 Monate wie die. kohlschwarzen Raben einher, bis an die Zähne verhüllt, leben still wie die Einsiedler und ich hoffe, Bismarcks Nerven sollen sich recht stärken in der stillen Zeit und unser häusliches Leben soll recht angenehm werden …“ 78

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IV. Petersburg. 1859 bis 1862.

2. Februar 1861. ­… „Am Heiligen Abend kam ein intimster Universitätsfreund, Graf Alexan­ der Keyserling (Bruder des Rautenburger), den eine 23-jährige Trennung ohne briefliche Brücken kein Haar breit von Bismarck entfremdet, was mir viele Freude gemacht. Sie klinkten in die alten Verhältnisse mit einer harmlosen Heiterkeit und warmen Herzlichkeit ein, wie wenn sie nie getrennt gewesen. Er lebt auf dem Lande in Esthland … ­… „Vor einigen Tagen wurde ich zu der wundervollen Großfürstin Helene befohlen. Das Palais ist einzig behaglich, so wie keins wieder – schon auf der prächtigen Treppe weht’s einen wohlthuend an, in dem Hauptsalon aber ist’s so schön, daß man nie fort möchte. Und Helene, die Herrliche, in Liebenswürdigkeit strahlend, reißt mich immer wieder ganz hin, so daß ich zum ersten Mal in meinem Leben gedacht habe, es könnte hübsch sein, Hofdame zu werden, nämlich bei ihr der schönen Lieblichen! – So grundvornehm ist alles und doch fern von aller erkältenden, glatten Hofatmosphäre – kurz: reizend von Anfang bis zu Ende. Man spielte ein entzückendes Trio von Mendelssohn, das ich noch nicht kannte (Rubinstein, Wieniawski und ein Namenloser). Darin kam ein Scherzo vor, so einschmeichelnd und übermüthig zugleich, daß ich ganz verging in stiller Wonne. Und die großfürstliche Helene in demselben Freudenrausch wie ich ließ das Scherzo wiederholen“ … Den 21. April 1861. ­  „Bismarck hat mehrmals kleine rheumatische Anfälle gehabt, die mich viel… leicht mehr alterierten wie ihn. Außerdem sind seine Nerven immer in einem so erbärmlichen Zustande, daß man ihn nur mit Bangigkeit ansehen kann“ … 1. Juni 1861. ­… „So Gott will, ziehe ich den 5ten in das Heimathland ab mit Kindern, Lehrer, Französin und Dienstboten, leider noch ohne Bismarck, der mir in drei bis vier Wochen zu folgen hofft … Mir wird die Trennung von ihm zum Weinen schwer – und wenn er ein Wort vom Bleiben sagte, rührte ich mich trotz aller Heimathssehnsucht nicht von der Stelle – aber er treibt mich mit aller Macht fort um Billchens willen, damit die Hitze uns nicht Schaden bringend überfällt wie im vorigen Jahre“ …

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Fürst und Fürstin Bismarck

Reinfeld, den 20. Juli 1861. ­… „Er ist gekommen! – Nicht ‚in Sturm und Regen‘7, sondern im herrlichsten Sonnenschein  – gestern, ohne jegliche Anmeldung, ganz überraschend  – umso schöner! … Er soll Kissinger hier trinken und Soole baden, auch hier, zu gleicher Zeit, drei bis vier Wochen lang – dann noch eine drei bis vier Wochen lange Ostseeabkühlung in Stolpmünde.“ … 8. August. ­  „Unsere Reinfelder Existenz ist unbeschreiblich angenehm, so ruhig, wie … ich sie nur irgend zu wünschen vermag. Bismarck hat nun 16  Kissinger Flaschen und 7 Soolbäder überwunden und trinkt und badet fröhlich fort. Die Reinfelder Stille behagt ihm herrlich. Niemand stört ihn hier. Diplomaten sind in weiter Welt, Vettern tief in Erntefreuden vergraben und die alten und jungen Dämchen, die sich manchmal, aber selten blicken lassen, derangieren ihn nicht in seinen Spaziergängen, seiner ‚Hausblätter‘-Lektüre und dergleichen harmlosen Vergnügungen, die er hier treibt. Ich hoffe, er soll durch solch’ sanftes beschauliches Leben recht gesund werden, und bitte Gott innig, daß Er’s ihm segnen möge an Leib und Seele.“ … Reinfeld, 15. Oktober. ­  „Als wir von Stolpmünde auseinanderflogen, wähnte Bismarck in acht … Tagen spätestens wieder da zu sein. Es sind aber drei Wochen geworden, die er in Coblenz und Berlin, dann in Schönhausen, Kröchlendorf, Külz und Zimmerhausen zugebracht. Von Letzterem hatte er Blanckenburg gleich mitgenommen, mit dem er zwei Tage hier war. Gottlob sehr munter. Vorgestern eilte er weiter nach Königsberg, wo, wenn die Krönung vorüber, unser Schicksal sich entscheiden soll, über welches noch immer so viel Möglichkeiten auf und nieder schwanken, daß man schwindlich davon wird. Denken Sie, man hat ihm plötzlich London angedeutet, aber nur interimistisch für einige Monate, was mich in verbissene Wuth bringt, weil wir natürlich für die Zeit getrennt bleiben müßten, und wie weit getrennt! – Dann ist’s mit der Wilhelmstraße auch wieder ’mal nicht geheuer, dann tänzelt Paris vor uns auf und nieder und dann ist auch Petersburg wieder ziemlich sicher! So geht’s her und hin den ganzen Sommer und ich möchte mitunter vor innerer Ungeduld in alle Tische beißen …“

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Anfangsworte eines beliebten Liedes von Rob. Franz (op. 4 Nr. 7).

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IV. Petersburg. 1859 bis 1862.

Reinfeld, 26. Oktober. ­… „In Königsberg, als am 20. die Festlichkeiten ausläuteten, hieß es plötzlich: schleunigst nach Petersburg. Dieselbe Weisung sandte er mir.“ … Petersburg, 25. November. ­… „Es gab wohl im Sommer oft Momente, in denen mir Paris mit Klima und allerlei andern herrlichen südlichen Vorzügen besonders verlockend erschien, sodaß der Wunsch nach „Veränderung unserer Lage“ sich ziemlich fest in meine alte Seele eingenistet; aber jetzt fühle ich mich hier wieder ganz behaglich und das völlige sans-gêne, in dem ich hier, fast wie in Frankfurt, leben kann, möchte ich drüben, jenseits des Rheins, wohl sehr vermißt haben, da es mir nach 37-jähriger Gewohnheit so zur andern Natur geworden, daß ich mich in förmlichen Verhältnissen, wie sie in Paris sein sollen, gewiß nicht leicht zurechtfinden würde. Und wer hätte mir dort die Zimmer zum fröhlichen Willkommen mit Blumen und Früchten ausgeschmückt, wer hätte mich liebreich in den Arm genommen und mit lautem Jubel begrüßt wie hier meine lieben Freundinnen Bertheau und Schrenck?8 Kein Mensch weit und breit. Darum kein Wort mehr von seufzender Unzufriedenheit, nur tiefe Beschämung über alle mögliche Undankbarkeit und herzinniger Dank gegen Gott für alle gnädige Fügung und Führung.“… 4. Januar 1862. ­  „Heute hatte ich einen fröhlichen Brief von Bismarck, der die Erlegung … eines Elch’s meldet, welches 2 ½ Elle hoch und 3 ½ Elle lang, „also nur klein“ gewesen wäre. Er scheint zufrieden, obgleich 11  Wölfe (elf!) furchtbar aufgeregt, mitten durch’s Treiben gerannt.“ … 7. Januar. ­  „Nach mehreren Jagdtagen ist er gestern sehr froh heimgekehrt mit einem … Bären und einem riesengroßen Elch und gottlob recht munter trotz aller Strapazen. Den Kindern geht’s auch gut, gottlob, und sie waren gestern überglücklich durch die Bekanntschaft mit den Eisrutschbergen, auf die Baron Stieglitz uns eingeladen.“ …

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Frau Bertheau, Gattin eines deutschen Kaufherrn; Frau von Schrenck, Witwe eines esthländischen Grundbesitzers, lebte mit ihrer Tochter einige Jahre in Petersburg.

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29. Januar. ­… „Wir husten allesamt und ich so, daß ich nächstens die Stumme von Portici spielen könnte – „italiansky banditzky“ heißt es hier –, sonst aber geht es uns leidlich gut. Fest auf Fest folgt sich, private und kaiserliche; letztere sind so brillant gewesen, zweimal, wie meine unwissenden Augen sich dergleichen nimmer vorstellen konnten. Die Diamanten, mit denen Ihre Majestät die Kaiserin geschmückt war, wurden von Sachverständigen auf 15 Millionen geschätzt.“ …

* * * Mitte März 1862  kam ich zum zweiten Mal als Gast des Gesandten nach Petersburg. Bei meiner Ankunft war der Hausherr nicht anwesend. Wenige Tage vorher hatte ein Bauer gemeldet, daß etwa 250 Werst von Petersburg entfernt, aber unweit der Eisenbahn, ein im Winterschlaf liegender Bär zu finden wäre. Bismarck entschloß sich sogleich, dorthin zu fahren. Am Tage nach meiner Ankunft kam er zurück und schien so munter und frisch, wie ich ihn seit Jahren nicht gesehen. Er trug einen Jägeranzug von braunem Schafpelz, der mit dem gleichen Pelz gefüttert war. Nach der ersten Begrüßung ging er, ohne an Wechseln des Anzuges zu denken, im Salon auf und ab und sagte, zu mir gewendet: „Sie konnten nicht zu den Winterfesten kommen wegen hartnäckiger Erkältungsbeschwerden. Wahrscheinlich, weil Sie zu wenig auf die Jagd gehen. Das Jägerleben ist eigentlich das dem Menschen natürliche. Und wenn man auch nur einen Tag in den Wäldern sein kann, so bringt man doch immer merkliche Stärkung mit nach Hause. Unsere gestrige Jagd freilich war verfehlt. Der Bär kam zwar gerade auf mich los in langsamem Trabe, aber ein anderer Jäger verscheuchte ihn durch einen vorzeitigen Schuß und er ging zwischen den Treibern davon. Dennoch freue ich mich, einmal wieder in der beschneiten Waldwildnis geatmet zu haben. Es geht nichts über Urwälder, in denen keine Spur von Menschenhänden zu finden. In Rußland gibt es deren noch viele, wahre Jägerparadiese. Auch bei Ihrem Vetter Sacken in Don­dangen, wo ich vor Jahren zwei Elche schoß, gibt es noch Urwälder. Dort haben Sie ja auch gejagt. In Deutschland gibt es zwar keine großen Urwälder mehr, aber doch herrliche Waldungen in Masse, wo man Erquickung und Stärkung finden kann.“ Dieser Aeußerungen habe ich mich später erinnert, wenn er als Minister trotz drängender Geschäfte nicht selten Einladungen zu Hofjagden annahm. Das Bedürfnis der Nervenstärkung zog ihn in die Wälder. Die durch 82

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IV. Petersburg. 1859 bis 1862.

den Ausfall eines oder zweier Tage entstandenen geschäftlichen Rückstände schnell zu erledigen, schien ihm immer leicht zu gelingen. Abends saßen wir rauchend am Kaminfeuer. Er erzählte von verschiedenen Bärenjagden. „Nur einmal,“ sagte er, „ist ein angeschossener Bär hoch aufgerichtet, mit offenem Rachen, auf mich zugekommen. Ich ließ ihn bis auf fünf Schritte herankommen und gab ihm dann zwei Kugeln in die Brust, wonach er tot hintenüberfiel. Ich hatte dabei keinen Moment das Gefühl, mich in einer Gefahr zu befinden. Hinter mir stand immer der Jäger mit einer zweiten geladenen Doppelbüchse. Die andern Bären, die ich erlegen konnte, fielen unter Feuer, ohne sich aufzurichten. Es ist gewöhnlich eine sehr leichte Jagd, denn der aus dem Winterschlaf aufgeweckte Bär ist noch träge und langsam. Im Sommer jagt man ihn nicht, da wäre er für die Treiber zu gefährlich.“ In den Wohnzimmern erschienen damals mitunter zwei kleine Bären, deren possierliche Bewegungen Jung und Alt belustigten. Eines Abends war eine irdene Schale mit Milch für eines der Tierchen auf die Thürschwelle des Salons gesetzt. Die Milch war, wie nachher konstatiert wurde, sauer geworden. Der kleine Bär beschnupperte die Schale, holte dann mit der rechten Tatze aus und schlug von der Seite so heftig dagegen, daß die Schale an der nächsten Wand in Stücke sprang. Allgemeine Heiterkeit. – Als Bismarck Petersburg verließ, schenkte er die Bären dem Zoologischen Garten in Frankfurt a. M. Hoffeste gab es natürlich in der Fastenzeit nicht; doch hatte ich auf einem Raout bei dem Fürsten Gortschakoff Gelegenheit, den Kaiser Alexander zu sehen und zu hören, wie er sich längere Zeit mit Bismarck unterhielt, zum Teil in russischer Sprache. Ich bezweifle, daß je ein anderer Diplomat dem Kaiser dieses Vergnügen hat bereiten können. Bismarck aber hat während der ganzen Zeit seines Petersburger Aufenthaltes Unterricht im Russischen genommen. Abends, während Musik gemacht wurde, pflegte er immer in einem russischen Buche zu lesen. Mit den beiden Knaben, Herbert und Bill, lief ich fast täglich Schlittschuh auf der Newa, bei hellem Sonnenschein und 8‒10 Grad Kälte. Herbert begleitete mich auch mit seinem Hauslehrer, dem Kandidaten Braune, in die kaiserlichen Schlösser und zeigte dort vor historischen Bildern überraschende Kenntnisse in der neuesten Geschichte. Sein Vater hatte die große Güte, mich einmal in eine Gemäldegalerie zu führen, doch schien mir das mehr ein Akt ausgesuchter Höflichkeit als eine Folge besonderen Interesses für die Bilder. An dem Mittagessen (6 Uhr) pflegten teilzunehmen der damals schon 83

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als Schriftsteller bekannte Legationssekretär von Schlözer (nachmals Gesandter beim Vatikan) und der Attaché von Holstein. Von gelegentlichen Tischgästen darf ich erwähnen einen früheren preußischen Offizier, Oberst von Erckert, der lange im Kaukasus gewesen war und damals in Petersburg ein Infanterieregiment kommandierte, den Staatsrat von Brevern sowie den ehemals berühmten Klavierspieler und Komponisten Adolf von Henselt. In politischer Beziehung war Bismarck damals wenig mitteilsam, vielleicht, weil die bevorstehende Versetzung nach Paris und der nicht unwahrscheinliche spätere Einzug in das Ministerium seine Gedanken auf künftige Probleme richteten. Mehrmals erwähnte er, daß er dienstlich in der Vertretung der Interessen der in Rußland lebenden Deutschen „seine Schuldigkeit“ thue, in der europäischen Politik aber keinerlei Initiative nähme und sich passiv verhalte, was den immer auf Intrigen gefaßten Fürsten Gortschakoff sehr befriedigte. Als ich nach vierzehntägigem Aufenthalt abreiste, begleitete er mich wieder zum Bahnhof. Dort sagte er: „Ich würde mich über Ihren Besuch noch mehr gefreut haben, wenn ich Ihnen eine Bärenjagd geben und Sie da zu Schuß bringen gekonnt hätte. Aber in den letzten Wochen ist kein Bär gemeldet worden.“

* * * Frau von Bismarck schrieb am 16. April: ­… „An Bismarcks Geburtstag wurden wir von der Großfürstin Helene zu einem kleinen Diner befohlen, worüber ziemliche Verblüffung in der kleinen und großen Familie herrschte. Nach Bismarcks Anordnung gab es hier um 3 Uhr mit sämtlichen Gesandtschaftsmitgliedern (5), Keyserling, Erckert, Kindern und Lehrer fröhliches Geburtstagsfrühstück und um ½ 7 zweite Auflage in Form und Feierlichkeit bei der Großfürstin. Die kleine Verstimmung vergaßen wir bald in Gesellschaft der wirklich strahlend liebenswürdigen Helena, die uns am ganz kleinen runden Tisch um sich versammelte (nur Keyserling, Suwarow und ihre bevorzugte Hofdame Fräulein von Rahden, außer uns) und eine so unbefangene, interessante, lustige Unterhaltung in Gang brachte, als wäre es der intimste Freundeskreis. Nach Tisch verwöhnte sie die passionierten Raucher noch mit ausgezeichneten Cigarren, und als sie uns um ½10 Uhr entließ, wollte sie keinen Abschied nehmen, „weil es ihr zu schwer würde“ … Jetzt werden täglich viele Visiten absolviert, 50 habe ich überwunden, 39 noch vor mir, dazu die wahrscheinlichen Abschieds-Couren in Palais Michael und Leuchtenberg und verschiedene Freundschafts84

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IV. Petersburg. 1859 bis 1862.

abende … So viel steht fest, daß wir eine angenehmere, bequemere Stellung wie hier nirgend wieder finden werden – weshalb wir wirklich mit Wehmuth von Petersburg scheiden, trotz Klima und Theuerung – die lieben Schrenck und Bertheau noch gar nicht eingerechnet, von denen der Abschied mir wahrhaft schwer werden wird. … Keyserling ist ein wahres Prachtexemplar innerlich, trotz äußerer Unscheinbarkeit. Er hat einen ganz ungewöhnlich scharfen Verstand und richtiges Urtheil nach jeder Richtung hin; er ist nicht wie ein trockner Gelehrter, sondern wie ein farben- und duftreicher Blumengarten – voll zarter Poesie –, wie man es sehr selten im Leben findet … Ich werde diesen liebsamen Freundschaftsverkehr schmerzlich vermissen, wenn ich mich in Paris oder sonstwo mit den langweiligsten Creaturen abquälen muß.“ … Den 30. April. ­… „Vorgestern Gratulationscour und Ball im Kaiserlichen Palais, höchst glänzend und fröhlich für die tanzlustige Jugend. Mir war’s zu voll und zu heiß für meine ehrsamen Jahre. Ich habe mich mit angenehmen Abschiedsregrets von rechts und links unterhalten lassen und meine Augen an den kaiserlichen Diamanten zum letzten Mal geblendet. … Des Kaisers wiederholter Händedruck wie der außerordentlich weiche herzliche Ton seiner wohlklingenden Stimme, mit dem er „aufrichtig lebhaft bedauerte“, daß man uns nicht in Petersburg lassen wollte, hatte wirklich etwas Rührendes. Bismarck hat mehrmals gesagt, daß die herzliche Manier des Kaisers unwiderstehlich sei, was ich nie glauben wollte – aber heute wurde ich selbst ergriffen, besonders bei seinen letzten Worten: „Aber wir bleiben doch immer Freunde, nicht wahr?“ Die Kaiserin war auch sehr freundlich mit huldvollster Umarmung, ebenso die Großfürstinnen Helene, Marie, Konstantine – es ging von einer Umarmung in die andere.“ …

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V. Berlin. September 1862 bis November 1863. Reinfeld, 21. Juni 1862. ­  „Aus Paris bekomme ich oft liebe und Gott sei Dank gute Gesundheits-­ … Briefe, nur stets in Angst um Berliner Telegramme, die Wilhelmstraßen-­ Gefängniß bringen könnten. Bismarck hat 14 Tage in Berlin auf Entscheidung gewartet, ist dann ärgerlich geworden, worauf man ihn schleunigst nach Paris ernannte, aber gleich dabei sagte, unter Umständen wäre wohl eine baldige Zurückberufung möglich. …“ 3. Juli. ­  „Von Bismarck hatte ich eben einen lieben Brief – gottlob gesund, aber un… sicher wie immer. Heute sollte er in Fontainebleau bei Louis speisen und parforcejagen.“ … 9. August. ­… „Von Bismarck kommen die liebsten Briefe  – ganz berauscht von den wundervollen Gegenden, die er am Atlantischen Ocean wie in den schönen Pyrenäen täglich durchwandert. St. Sebastian scheint ihm bis jetzt den überwältigendsten Eindruck gemacht zu haben, aber er war auch sehr entzückt von verschiedenen französischen Schlössern (Chambord und Chenonceaux), von Bordeaux und Biarrits; er ist gottlob recht wohl und noch nicht entschieden, wie lange und wo er eigentlich bleiben will; vierzehn Tage hat er von seinen 6 Wochen Urlaub schon verreist und das Heimweh plagt ihn trotz aller himmlischen Naturgenüsse so sehr, daß er die Badekur in Biarrits, die er sich vorgenommen, wohl ziemlich kurz einrichten wird.“ … Reinfeld, den 7. September. ­… „In diesem Monat soll sich viel entscheiden. Bismarcks letzter Brief (vom 30ten aus Biarrits) war fast wehmüthig über die baldige Trennung von dem reizenden Meer, den liebenswürdigen Russen und der schönen Bummelzeit, die er mit ihnen vier Wochen dort vollführt – er ist ganz hingerissen von

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V. Berlin. September 1862 bis November 1863.

Kathi Orlow (Frau des russischen Gesandten in Brüssel), die ihm täglich alle Beethovens, Schuberts, Mendelssohns u. s. w. vorspielt; und wenn ich Anlage zu Neid und Eifersucht hätte, könnte ich mich jetzt wahrscheinlich bis in tiefste Abgründe von diesen Leidenschaften tyrannisieren lassen. In meiner Seele ist aber gar kein Stoff dazu vorhanden, ich freue mich nur immerzu ganz ungeheuer, daß mein lieber Gemahl die reizende Frau dort gefunden, ohne deren Gesellschaft er nimmer so lange Ruhe auf einem Fleck gehabt hätte und dann nicht so gesund geworden wäre, wie er’s in jedem Briefe rühmt. Das biskaische Meerwasser und die südfranzösische Luft haben ihm wundervoll wohlgethan – Gott sei tausend Dank dafür.“ … 24. September. ­  „Unser Schicksal wird sich in diesen Tagen entscheiden, ist vielleicht … schon geschehen, da Bismarck nach seiner Rückkehr von Meer und Gebirgsfreuden mit zwei telegraphischen Depeschen eilends nach Berlin gerufen wurde, von wo er mir schon freundlichst und gesund, aber sehr mißgestimmt geschrieben, weil er wieder große Uneinigkeit in allen Regionen gefunden und tobend fürchtet, um nichts und wieder nichts festgehalten zu werden und am Ende ganz dort hängen zu bleiben, was ihm einen gleichen Schauder gibt wie mir. Gott mög’s fügen, wie es heilsam für uns ist – man hat nach all’ der langen Bummelei gar keinen Willen mehr, und ich flehe nur d r i n g e n d , daß es gut werde für Bismarck und die Kinder – ich bin wirklich sehr Nebensache und stets zufrieden, wo die v i e r glücklich und gesund sind. Das weiß Gott!“ …

Am 23. September erfolgte die Berufung Bismarcks zur Leitung des Staatsministeriums.

* * * Um die Aufgabe verständlich zu machen, vor welche er damals gestellt wurde, muß ich kurz erzählen, wie aus der Heeresreform der Verfassungskonflikt erwachsen war. Nach den grundlegenden Gesetzen von 1814  und 1815  war in Preußen jeder gesunde Mann vom 20. bis zum 50. Lebensjahre wehrpflichtig, und zwar 3 Jahre im stehenden Heere, 2 Jahre in der Reserve; dann in der Landwehr und im Landsturm. Die Landwehrdienstpflicht endete im ersten Aufgebot mit dem 32., im zweiten mit dem 39. Jahre. Die Reservisten hatten jährlich einige Wochen in den Linienregimentern zu üben. Die Landwehrleute 87

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ersten Aufgebots wurden der Regel nach nur einmal in 4 Jahren auf 8 Tage einberufen, aber zu besonderen Infanterie- und Kavallerieregimentern formiert, welche mit je einem Linienregimente zusammen eine Brigade in der mobilen Feldarmee zu bilden hatten. Das zweite Aufgebot der Landwehr sollte nur zur Landesverteidigung und zum Festungsdienst, der Landsturm nur in äußersten Notfällen einberufen werden. Die Stärke des stehenden Heeres und der Landwehr war „nach den jedesmaligen Staatsverhältnissen“ zu bestimmen. Im Kriege sollten bei eintretendem Bedürfnis auch Landwehrleute als Reservisten eingezogen werden. Die im Jahre 1820 vollendete Organisation des stehenden Heeres gab die Möglichkeit, jährlich 40.000 Rekruten einzustellen. Diese Ziffer war für die damalige Bevölkerung Preußens von etwa 11  Millionen Seelen berechnet; später aber mußten viele wehrfähige junge Leute wegen Mangels an Raum in den Cadres dienstfrei bleiben. Die Zahl derselben war im Jahre 1859, bei einer Bevölkerung von etwa 18 Millionen, auf mehr als 23.000 Köpfe jährlich herangewachsen. Statt der dreijährigen Dienstzeit wurde lediglich aus Ersparnisrücksichten im Jahre 1833 die zweijährige bei der Infanterie versuchsweise eingeführt; auf Grund der damit gemachten Erfahrungen aber ging man 1852 zur 2 ½-jährigen über und kam 1856 zur dreijährigen Dienstzeit zurück. Als im Jahre 1859 während des italienischen Krieges 5 Armeekorps mobilgemacht wurden, befanden sich unter den einberufenen Landwehrleuten ersten Aufgebotes 55.277  Familienväter, während Hunderttausende gesunder junger Leute dienstfrei umhergingen. Der Prinz von Preußen hatte seit Jahrzehnten für die Hauptaufgabe seines Lebens gehalten, die erkannten Mängel der militärischen Einrichtungen zu beseitigen und die Kriegstüchtigkeit des Heeres zu erhöhen. Als Prinzregent befahl er, im Februar 1860, dem Landtage einen Gesetzentwurf vorzulegen, in welchem zwei Grundgedanken hervortraten: vollständige Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht und Ersetzung der Landwehr ersten Aufgebots in der mobilen Feldarmee durch Reservisten. Zur Aufnahme der bis dahin jährlich dienstfrei gebliebenen über 23.000 Mann als Rekruten war eine bedeutende Vermehrung der Regimenter erforderlich. Durch Ausdehnung der Reservepflicht von 2 auf 5 Jahre aber gedachte man die Schlagfertigkeit des Heeres zu erhöhen, die Mobilmachungszeit abzukürzen und die älteren Leute zu schonen, welche im ersten Aufgebot der Landwehr zur Hälfte, im zweiten zu 5/6 verheiratet waren. 88

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Es kam auch in Betracht, daß die seit dem Aufhören der „heiligen Alli­anz“ wesentlich veränderte Lage von Europa militärische Demonstrationen nötig machen konnte, zu welchen die Landwehr heranzuziehen dem Lande Lasten auferlegt haben würde, wie sie bei den Mobilmachungen von 1850 und 1859  wegen der den Kreisbehörden obliegenden Ernährung der Familien einberufener Landwehrmänner als unverhältnismäßig schwer empfunden worden waren. Zur Ausführung der Heeresreform wurde eine Erhöhung des Militärbudgets um 9 ½ Millionen Thaler jährlich verlangt. Die von Vincke präsidierte Kommission des damals gemäßigt-liberal und ministeriell gefärbten Abgeordnetenhauses folgte den Ratschlägen des Generalmajors a. D. Stavenhagen, welcher zwar die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht billigte, aber die Erhaltung der Landwehr in der mobilen Feldarmee und Einführung zweijähriger statt der dreijährigen Dienstzeit bei der Infanterie forderte. Man bezeichnete die „durch ruhmvolle Erinnerungen geheiligte“ Institution der Landwehr als den kräftigsten Bestandteil des Heeres und als Bindeglied zwischen dem Volke und dem durch den exklusiven Corpsgeist der größtenteils adligen Offiziere unpopulären stehenden Heere. Wegen der zweijährigen Dienstzeit bezog man sich auf deren langjährige faktische Geltung und auf einige militärische Autoritäten früherer Zeit. Vergebens kämpfte der Kriegsminister von Roon mit Gründen überlegener Einsicht; die populären Schlagworte „Erhaltung der Landwehr“ und „zweijährige Dienstzeit“, deren sich fast die ganze liberale und demokratische Presse bemächtigt hatte, behielten auch in der Kommission die Oberhand, obwohl es kein Geheimnis war, daß der Prinzregent die dreijährige Dienstzeit zu kriegstüchtiger Ausbildung der Infanterie mit den modernen Waffen für unerläßlich, und daran festzuhalten für Gewissenspflicht hielt. Infolge der unbeugsamen Haltung der Kommission mußte das Ministerium die Ablehnung des Gesetzentwurfs im Plenum für sehr wahrscheinlich halten und zog denselben im Mai 1860 zurück. Nun hatte aber die europäische Lage nach dem italienischen Kriege notwendig gemacht, das Heer auf dem Fuße einer gewissen Kriegsbereitschaft zu halten; und daß dies Bedürfnis auch im Jahre 1860 noch fortdauerte, war von den einflußreichsten Abgeordneten mehrfach anerkannt worden. Diese für Bildung neuer Cadres günstigen Zeitverhältnisse sollten nicht unbenutzt bleiben. Man kam im Mai – leider um fünf Monate zu spät – im Kriegsministerium auf den Gedanken, daß es eines neuen Gesetzes gar nicht bedürfe, um neue 89

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Regimenter zu schaffen, und daß dazu nur eine Geldbewilligung erforderlich sei; diese würde durch den im Frühjahr bekannt gewordenen günstigen Finanzabschluß des letzten Jahres erleichtert werden. Allerdings waren die beabsichtigten Formationen neuer Cadres nach den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen ausführbar; und auf die danach im Frieden nicht zulässige Einberufung der jüngsten Jahrgänge der Landwehr zum Reservistendienste konnte man vorläufig verzichten. Man verlangte demnach vom Abgeordnetenhause neun Millionen auf 14 Monate zu dem Zwecke „der Aufrechterhaltung und Vervollständigung derjenigen Maßnahmen, welche für die fernere Kriegsbereitschaft und die erhöhte Streitbarkeit des Heeres erforderlich und auf den bisherigen gesetzlichen Grundlagen thunlich“ wären. An den Kommissionsverhandlungen über diese Vorlage hat Roon persönlich keinen Teil genommen. Er wußte, daß im Dezember 1859 seine Ernen­ nung von der liberalen Partei mit Mißtrauen begrüßt worden war. Es wurde damals erzählt, sein in der Partei beliebter Vorgänger, General von Bonin, habe sich zurückgezogen, weil er einige von ihm gewünschte Einschränkungen des Reorganisationsprojektes wegen Widerspruchs des Generals Freiherrn Edwin von Manteuffel, damaligen Chefs des Militärkabinetts, nicht habe zur Geltung bringen können. Roon war noch nie in der Lage gewe­ sen, eine politische Farbe zu bekennen; aber infolge unbestimmter Gerüch­te und weil er alle von seinem Kriegsherrn beabsichtigten Neuerungen zu vertreten unbedenklich übernahm, wurde er als ein „Reaktionär“ angesehen. Die unfreundliche Stimmung der Majorität war ihm in der Kommission fühlbar geworden. Er mochte daher für geraten halten, in die Verhandlungen über den verlangten Kredit nicht einzugreifen und die Vertretung des Ministeriums in der Kommission dem persönlich beliebten Finanzminister Freiherrn Patow zu überlasten. Roon dachte, jedermann würde verstehen, daß es sich um die Mittel für Einrichtung der neuen Cadres handelte, welche zu der allseitig gebilligten stärkeren Rekruteneinstellung erforderlich waren; und er setzte als bekannt voraus, daß – wie er später einmal sagte – „Regimenter nicht von Diätarien kommandiert werden könnten“. Umgekehrt aber dachten die meisten Abgeordneten, daß nach den heißen Kämpfen um die gesetzlichen Bedingungen der Heeresreform diese nicht ausgeführt werden könne ohne ein neues Gesetz. Sie wurden in ihrem Irrtum dadurch bestärkt, daß Patow in der Kommission erklärte, es handle sich um ein Provisorium, welches den in Betreff der Dienstzeit und der Landwehr geäußerten Wünschen nicht präjudizieren werde. Allerdings blieben diese beiden Fragen offen; aber weder der Ausdruck „Provisorium“ war zu90

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treffend noch die daran geknüpfte Betrachtung, daß, wenn der Landtag später zur definitiven Organisation seine Zustimmung versage, „alles wieder auf den früheren Stand gebracht werden könnte.“ Diese Erklärungen nahm jedoch Vincke als Referent in den Kommissionsbericht auf, und unter starker Betonung ihrer bindenden Kraft empfahl er die Bewilligung des verlangten Kredits. Im Plenum modifizierte nun zwar – vermutlich auf den Rat des Kriegsministers – Patow seine früheren Aeußerungen dahin: „Die Umgestaltungen im Heerwesen, welche erforderlich wären, um die waffenpflichtigen Mannschaften auch waffenfähig zu machen, würden nur in dem Sinne provisorisch sein, daß zu ihrer definitiven Regelung die Zustimmung des Landtages notwendig wäre.“ Das Haus aber schien keine Notiz von dieser Erklärung zu nehmen. Der anwesende Kriegsminister fand keinen Anlaß, den Worten Patows, welche verständlich auf die zur Ausbildung von 63.000 statt 40.000 Rekruten notwendigen neuen Cadres hinwiesen, etwas hinzuzufügen. Vincke kam dem Finanzminister augenscheinlich entgegen, indem er sagte, die Bewilligung des Kredits habe keine Gefahr, denn, wenn beispielsweise zehn Kavallerieregimentskommandeure ernannt und ihre Stellen später nicht genehmigt würden, so „kämen sie auf den Aussterbeetat“. Daß der Berichterstatter der Kommission in diesem Falle nur für seine Person gesprochen hätte, konnte niemand vermuten; die Regierung hatte daher Grund, aus Vinckes Worten zu schließen, daß die Majorität erwartete, es würden viele neue Regimenter formiert werden. Die Minister wurden auch durch die ungewöhnliche Beschleunigung der Verhandlungen, sowie durch vertrauliche Mitteilungen einzelner Abgeordneter in den Glauben versetzt, daß es ihrer im Hause maßgebenden Partei erwünscht wäre, über den in der Heeresreformfrage hervorgetretenen peinlichen Gegensatz schnell und möglichst geräuschlos hinwegzukommen. Man täuschte sich gegenseitig; aus diesen Täuschungen aber erwuchs der verhängnisvolle Konflikt. Man kann sagen, derselbe sei entstanden, weil Minister wie Abgeordnete ihn hervorzurufen scheuten. Nach meiner Auffassung lag jedoch die Hauptursache des Konflikts in Unterlassungen des Ministeriums. Hätten die leitenden Männer, die Auerswald und Schwerin, die unermeß­ liche Tragweite der Heeresreform für das Land und für ihre Partei gewürdigt, wären sie mit ganzem Herzen dafür eingetreten, so hätten sie v o r Einbringung der Vorlagen Vincke und andere Führer wahrscheinlich dafür zu gewinnen vermocht. Vom Finanzminister Patow, der für die damals beanspruchten jährlich 9 ½ Millionen noch keine sichere Deckung hatte, war das nicht zu verlangen; die anderen populären Minister aber hätten die 91

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Sache von langer Hand her einleiten und vielleicht retten können. Stattdessen überließen sie die Vertretung des gewaltigen Projekts dem noch unbekannten, des Konservatismus verdächtigen Roon. Nachdem nun, wie zu erwarten gewesen, die Kommission Herabsetzung der enormen Ausgabesteigerung verlangt und populäre Schlagworte dafür gestempelt hatte, schien die Sache unrettbar verfahren. Da begingen die Minister die zweite Unterlassungssünde, nämlich, nicht zu sagen, daß ihre Ansicht über die Notwendigkeit eines neuen Wehrgesetzes sich geändert hatte. Ich möchte jedoch dem nachmals von den Patrioten aller Farben gepriesenen Kriegsminister auch als ein großes historisches Verdienst anrechnen, sein Gewissen mit dieser Reticenz belastet zu haben, da ohne ein solches „Kunststück“ die für den Entscheidungskampf um Deutschland notwendige Heeresreform bei dem damaligen Stande der öffentlichen Meinung wahrscheinlich nicht ausführbar gewesen wäre. Die neun Millionen wurden fast einstimmig bewilligt. Beim Schlusse der Session dankte die Thronrede hierfür in Worten, welche erwiesen, daß der Prinzregent überzeugt war, der Landtag habe durch diese Bewilligung die Ausführung der geplanten Formationen genehmigen wollen. Im Sommer und Herbste wurden die Cadres für 36  neue Infanterieregimenter, 9 Füsilierbataillone und 10 Kavallerieregimenter geschaffen, die anderen Truppengattungen angemessen verstärkt, die Offiziere und Unteroffiziere ernannt und die erforderlichen Fahnen und Standarten verliehen. Da ging durch weite Kreise im Lande der Ruf: „Wir sind betrogen; statt provisorischer Einrichtungen, für welche das Geld bewilligt war, hat man unabänderliche geschaffen. Das wird unerträgliche Steuererhöhungen verursachen.“ Bei zwei Stichwahlen entschieden sich die früher gemäßigt-­ liberalen Wahlmänner für zwei Führer der äußersten Linken: Waldeck und Schulze-Delitzsch. Am 2. Januar 1861 wurde König Friedrich Wilhelm IV. von seinen Leiden erlöst; König Wilhelm bestieg den Thron. Bald darauf gelangte an das neue Abgeordnetenhaus ein Etat; in welchem die durch die neuen Regimenter bedingten Erhöhungen der Militärausgaben erschienen, als wäre alles in Ordnung und ein neues Wehrdienstgesetz überflüssig. Die bezüglichen Verhandlungen verliefen im Abgeordnetenhause merkwürdig ruhig, weil die Majorität den Sturz des Ministeriums herbeizuführen scheute. Nur ein Abgeordneter (Hoverbeck) nannte das Verfahren der Regierung, wenn auch vielleicht legal, so doch „nicht loyal“. Es wurde aber die für die neuen Regimenter im laufenden Jahre erforderliche Summe nur als „einmalige außerordentliche“ Ausgabe bewilligt und ein Antrag 92

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­ inckes, die Regierung zur Vorlegung des – zu Einberufung der jüngsten V Jahrgänge der Landwehr als Reservisten unerläßlich notwendigen – Wehrdienstgesetzes aufzufordern, einstimmig angenommen. Im Sommer bildete sich die demokratische sogenannte Fortschrittspartei. Mißtrauen und Haß gegen die Minister verbreitete sich in immer weitere Kreise. „Es mögen gute Leute sein,“ sagte man, „aber sie lassen sich mißbrauchen, die Kastanien aus dem Feuer zu holen für die Junkerpartei, welche sie nach Hause schicken wird, sobald sie diesen Dienst geleistet haben.“ Eine große Zahl der bis dahin ministeriellen Abgeordneten näherte sich der Fortschrittspartei, und diese erfocht bei den im Dezember stattfindenden allgemeinen Wahlen glänzende Siege. Dem neuen Hause wurde im Januar 1862 ein Etat vorgelegt, in dem die Mehrforderungen für die Heeresreform als ordentliche Ausgaben figurierten, obgleich nicht anzunehmen war, das jetzt überwiegend demokratische Haus würde Ausgaben als fortdauernde genehmigen, die das frühere, gemäßigt-liberale nur als einmalige bewilligt hatte. Ein kurzer Gesetzentwurf, betreffend Abänderungen einiger Bestim­ mungen des Kriegsdienstgesetzes, in welchem die Reservedienstzeit auf vier statt fünf Jahre bemessen und die Landwehrdienstzeit um drei Jahre verkürzt war, ging zuerst dem Herrenhause zu und kam, von diesem genehmigt, im Februar an das Abgeordnetenhaus, gelangte aber hier nicht zur Verhandlung, weil das Haus wegen eines anderweiten regierungsfeindlichen Beschlusses schon im März aufgelöst wurde. Alle als liberal bekannten Minister traten zurück und wurden durch konservative ersetzt; nur Roon und Bernstorff blieben auf ihren Posten und von der Heydt, bis dahin Handelsminister, übernahm die Finanzen. Bei den Neuwahlen machte die Demokratie noch weitere Fortschritte; die Zahl der Konservativen sank bis auf elf. Im Juni wurden dem neuen Hause die Etats für 1862 und 1863 vorgelegt, worin die Kosten der Heeresreform wieder als ordentliche Ausgaben erschienen; ein Wehrgesetz aber, „mit dessen Diskussion die Sommersession nicht belastet werden sollte,“ stellte man für den Winter in Aussicht. Der Finanzminister hatte mit bewundernswürdiger Kunst Ersparnisse im Militäretat von etwa zwei Millionen und zugleich den Wegfall gewisser, 1859 eingeführter Steuerzuschläge ermöglicht. Diese wesentlichen Erleichte­ rungen machten jedoch auf das tief erregte Haus keinen merklichen Eindruck. Im September kam es wegen des Militäretats zu einer mehrtägigen Redeschlacht. Die seit zwei Jahren durch mancherlei Rücksichten verdeckte Glut des Hasses gegen die Militärverwaltung schlug jetzt in hellen Flammen auf. 93

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Die Landwehrfrage trat zwar jetzt nach Vinckes Zeugnis im Lande zurück; umso fester aber hielt man an der Forderung der zweijährigen Dienstzeit. Das Finanzjahr fiel damals mit dem Kalenderjahr zusammen. Da der Landtag regelmäßig im Januar zusammentrat, vergingen immer einige Monate, ehe das Budget festgestellt werden konnte, und in diesen Monaten wurden die laufenden Staatsausgaben wie natürlich geleistet, obwohl sie streng genommen vorheriger Genehmigung durch das Budgetgesetz bedurft hätten. So war es auch im Jahre 1862 geschehen, in welchem wegen der Auflösung des Hauses und der Neuwahlen die Etatsberatung sich ungewöhnlich lange verzögerte. Jetzt aber erhob man gegen das Ministerium den Vorwurf der Verfassungsverletzung wegen dieses Verfahrens, namentlich in Bezug auf die von diesem Hause noch nicht genehmigten und von einem früheren Hause ausdrücklich nur für 1861 bewilligten Ausgaben. Von der Heydt und Roon kämpften mit bewunderungswürdiger Ruhe und Umsicht, aber vergebens. Am 23. September beschloß das Haus mit 273 gegen 68 Stimmen, im Etat von 1862 die für die Heeresreform vorgesehenen Ausgaben – im Belaufe von ungefähr sechs Millionen – zu streichen. Dann wurde der so verstümmelte Etat von 308 gegen 11 Stimmen genehmigt. Die gestrichenen Posten waren zu drei Vierteln bereits thatsächlich verausgabt. Der Beschluß, daß solche Ausgaben nicht geleistet werden sollten, war daher unausführbar und konnte nur bezwecken, die Macht des Hauses fühlbar zu machen. Da Worte des Mißtrauens gegen die Minister nichts erreicht hatten, sollte eine That dem Könige deutlich machen, daß er diese Männer entlasten und andere ernennen müsse, die sich mit der Majorität des Hauses zu verständigen vermöchten. Im Lande fand der Beschluß des Hauses nur ausnahmsweisen Widerspruch. Daß die Minister ungesetzlich verfahren wären, sagten die meisten. Auch aus politischen Gründen gab man ihnen unrecht. Zur Einheit Deutschlands, dachte man, wäre auf friedlichem Wege zu gelangen, wenn Preußen einen liberalen Musterstaat mit parlamentarischer Regierung darstellte; dann würde es den kleineren Staaten gegenüber eine ähnliche Anziehungskraft auf politischem Gebiete ausüben wie früher auf handelspolitischem bei Gründung und Erweiterung des Zollvereins. Daß solche politische Angliederung sich ohne Schwertstreich vollziehen könne, wurde trotz der Erfahrung von 1850 vielfach ehrlich geglaubt und sogar von Abgeordneten öffentlich ausgesprochen. Auch von dem Koburger Hofe ausgehende Anregungen förderten diesen Glauben. Es wurde damals oft bezweifelt, ob wirklich ein wohlgeschultes Heer zum Schutze des Landes gegen die benachbarten großen Militärstaaten not94

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wendig wäre. Sogar in Kreisen hoher und höchster Civilbeamten begegnete man oft genug der Meinung, daß für das Militär „eigentlich schon viel zu viel geschähe“ und daß es ratsamer sein würde, das Landwehrsystem weiterzuentwickeln, als das stehende Heer durch junge Reservisten zu verstärken. Von den ungeheuren Vorteilen technischer Durchbildung der Truppen hatten nur sehr wenige eine annähernd richtige Vorstellung. Wünsche nach einer Erleichterung des Militärdienstes wie der Steuerlasten waren im Volke weit verbreitet. Durch das preußische Dreiklassenwahlgesetz war die Entscheidung bei den Wahlen in die Hände der bemittelten Klassen gelegt. Gerade diese hatten 1861 und 1862 in zwei kurz aufeinander folgenden Wahlen die Heeresreform mit dreijähriger Dienstzeit entschieden abgelehnt. Die große Mehrheit der Wähler hatte sich mit den Abgeordneten einverstanden erklärt. Unlösbar schien die Aufgabe, die Volksvertretung und die Wähler unter den Willen des Königs zu beugen. Nur ein Held, „der das Wichten nicht gelernt hatte,“ konnte übernehmen, das zu versuchen. Der König war ungewiß, ob er einen solchen finden würde. Er war schon vertraut mit dem Gedanken der Abdikation, als er am 22. September an Bismarck die Frage richtete, welche Bedingungen dieser bei Uebernahme des Ministeriums stellen würde. Die Antwort lautete: „Gar keine. Ich fühle wie ein churbrandenburgischer Vasall, der seinen Lehnsherren in Gefahr sieht. Was ich vermag, steht Eurer Majestät zur Verfügung.“ Diesen Anfang der Audienz, deren Verlauf in den „Gedanken und Erinnerungen“ (I, S. 267) dargestellt ist, hat Bismarck mehrmals in meiner Gegenwart erzählt. Er ging ohne Freude, aber in festem Gottvertrauen an’s Werk. Er war überzeugt, daß die von dem königlichen Kriegsherrn jahrzehntelang erwogenen Mittel zur Steigerung der Kriegstüchtigkeit des Heeres die richtigen wären; und unerträglich war ihm der Gedanke, daß der Versuch des Abgeordnetenhauses, durch einen unausführbaren Beschluß den Willen des Kriegsherrn zu brechen, gelingen sollte. Seine Uebernahme des Ministerpräsidiums steigerte die Erbitterung des Hauses. Die von ihm in den Jahren 1849 und 1850 gegen die Frankfurter wie gegen die Erfurter Verfassung gehaltenen Reden waren in aller Gedächtnis. Auf Grund einer vertraulichen, vielleicht mißverstandenen Aeußerung des Königs der Belgier zu einem Schriftsteller verdächtigte man ihn, mit Napoleon über die Vergrößerung Preußens unter Abtretung des linken Rheinufers verhandelt zu haben. Im Innern erwartete man von ihm 95

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Abschaffung der Verfassung, wie im Jahre 1850 Schwarzenberg sie in Oester­ reich herbeigeführt hatte. Seine ersten Versuche, sich mit dem Abgeordnetenhause zu verständigen, fanden natürlich kein Entgegenkommen. In einer Kommissionssitzung sagte er mit Hinweisung auf die Heeresreform: „Die Einheit Deutschlands wird nicht durch Kammerreden bewirkt werden, sondern durch Eisen und Blut.“ Als diese Worte bekannt wurden, ging ein Schrei des Unwillens durch das Land. In Breslau erzählte mir ein hoher Regierungsbeamter, Bismarck habe an diesem Tage zu stark gefrühstückt; „sonst hätte er wohl so etwas nicht sogen können.“ Das Herrenhaus verwarf am 10. Oktober den vom andern Hause verstümmelten Etat von 1862. Dadurch wurde eine budgetlose Verwaltung unvermeidlich. Die Session des Landtags endete am 12. Oktober. Am 19. reiste ich von Breslau zur dritten Weltausstellung nach London und, um Bismarck als Minister zu begrüßen, meldete ich mich bei ihm als Kurier zur Mitnahme von Depeschen. Er sah blaß, aber wohl aus, sprach ausführlich über einige gerade vorliegende Fragen des auswärtigen Dienstes und lud mich ein, auf der Rückreise einige Tage in Berlin zu bleiben. Als ich am 1. November zurückkehrte, befand er sich in Paris zur Verabschiedung beim Kaiser Napoleon. An diesem Tage hörte ich von einem mir befreundeten Landsmann, dem Literaturhistoriker Julian Schmidt, daß Bismarck in den ersten Tagen seines Ministeriums zwei altliberale Abgeordnete zu sich eingeladen hatte, um ihnen Ministerposten anzubieten. Diese Thatsache ist durch Sybels Geschichte der Begründung des Deutschen Reiches9, wenn nicht früher, bekannt geworden. Dort wird aber nicht erwähnt, daß er – nach Schmidts Zeugnis – auch den Redakteur der National-Zeitung, Herrn Dr. Zabel, zu einer Besprechung einlud und demselben ausführlich darlegte, er strebe in der deutschen Politik nach demselben Ziele wie die liberale Partei; zu dessen Erreichung sei jedoch Aufrechterhaltung der Heeresreform unerläßliche Vorbedingung; die Partei handle daher völlig verkehrt, wenn sie ihn nicht unterstütze. Bei dem damaligen Stande der öffentlichen Meinung konnte aber jeder der Eingeladenen nur erklären, daß ohne die Zusage der zweijährigen Dienstzeit irgendeine Unterstützung der Regierungspolitik vonseiten der liberalen Parteien unmöglich sei. Am 1. Dezember hatte ich in Berlin Privatgeschäfte und war zu Tische bei Bismarck um 5 Uhr, was damals noch die gewöhnliche Zeit seiner Haupt9 Band II S. 440.

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mahlzeit war. Es kam mir nicht in den Sinn, nach den eben erwähnten Vorgängen zu fragen. Ich wußte, daß die Form der Frage ihm in der Unterhaltung nie willkommen war, und darf hier erwähnen, daß er vielen politischen Agenten die Instruktion gegeben hat, im Verkehr mit Vertretern einer fremden Macht direkte Fragen möglichst zu vermeiden. Wolle man eine gewisse Nachricht konstatieren, so möge man in geschickter Weise das Gespräch auf den Gegenstand bringen. Sei der andere geneigt, das Gewünschte mitzuteilen, so werde er es dann freiwillig thun; habe er jedoch Ursache, darüber zu schweigen, so werde man auch durch eine Frage die Sache nicht herausbringen, sondern dem Gefragten nur eine Mißempfindung bereiten, welche auf schwebende Verhandlungen ungünstig zurückwirken könne. Ich erhielt also damals keine Bestätigung der Mitteilungen von Julian Schmidt. Anfang Juni 1866 aber erzählte Bismarck, daß er „wieder einmal“ Herrn Zabel zu einer Besprechung eingeladen hätte und daß die politischen Meinungen dieses trefflichen Mannes im Grunde nicht sehr weit von seinen eigenen entfernt wären. Bei dem erwähnten Diner (am 1. Dezember 1862) hörte er mit Interesse, daß ich in London bei einem deutschen Maler zufällig Mazzini getroffen hatte, welcher versicherte, das nächste Ziel der italienischen Aktionspartei würde nicht Rom, sondern Venedig sein. Nach dem Essen am Kamine rauchend, sagte Bismarck: „Ich habe Sie im Staatsministerium zum Oberregierungsrat vorgeschlagen. Die andern meinten aber, das ginge nicht, da Sie erst kürzlich vom Assessor zum Rat befördert seien. Ich habe gedacht, ein Adjutantenposten bei mir würde Ihnen nicht zusagen, da Sie an mehr Unabhängigkeit gewöhnt sind. Ich bat deshalb einen Vetter, zu mir zu kommen, den Rittmeister Grafen Karl Bismarck-Bohlen, der hier bei den Dragonern gestanden, aber den Abschied genommen hat. Natürlich fehlt ihm noch Geschäftskenntnis, wohl auch eine feste Gesundheit.“ Darauf ich: „In meinem ganzen Bekanntenkreise weiß ich nur einen Menschen, der vielleicht einigermaßen zu Ihrem Adjutanten passen würde, das bin ich selbst.“ „Sie sind zu schade dazu,“ sagte er; „ich kann Sie doch nicht aus Ihren gesicherten Verhältnissen herausreißen, um hier Laufbursche zu werden. Eine Ratsstelle ist nicht vakant.“ „Daran liegt mir gar nichts,“ erwiderte ich. „Sie mögen es mit andern versuchen, schließlich werden Sie hoffentlich auf mich zurückkommen.“

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Die erste gründliche Auseinandersetzung des Ministerpräsidenten mit dem Abgeordnetenhause fand im Januar 1863 statt bei den Beratungen über die an den König zu richtende Adresse, welche den Vorwurf der Verfassungsverletzung und überdies eine Reihe von Beschwerden gegen das Ministerium erheben sollte. Der Abgeordnete Peter Reichensperger (Geldern) führte aus den Landtagsverhandlungen von 1849, auf welche man, um die Verfassung richtig zu interpretieren, zurückgehen müsse, den Nachweis, daß die meisten Redner beider Häuser unter Zustimmung der Minister dem Abgeordnetenhause ein volles Ausgabebewilligungsrecht hätten beilegen wollen. Andere Redner überhäuften das Ministerium mit leidenschaftlichen Angriffen. Bismarck trat dem Vorwurfe der Verfassungsverletzung bekanntlich mit dem Wortlaute des Artikel 99  der Verfassungsurkunde entgegen, welcher lautet: „Alle Einnahmen und Ausgaben des Staates müssen für jedes Jahr im Voraus veranschlagt und auf den Staatshaushalts-Etat gebracht werden. Letzterer wird jährlich durch ein Gesetz festgesetzt.“ Nun gehöre, sagte er, zum Zustandekommen dieses wie jedes anderen Gesetzes Uebereinstimmung der drei Faktoren der Gesetzgebung. Solange diese fehle, habe eine Ausgabeverweigerung des Abgeordnetenhauses nur den Wert einer Meinungsäußerung, keineswegs aber rechtsverbindliche Kraft. Wenn eine entgegengesetzte Praxis sich in England durch altes Herkommen gebildet habe, wenn solche auch in andern Ländern gelte, wo parlamentarische Verfassungen nach englischem Muster eingeführt wurden, und wenn sich hierdurch eine entsprechende staatsrechtliche Doktrin gebildet habe, so sei das ohne praktische Bedeutung für Preußen, weil unsere Verfassung die Mitwirkung des Herrenhauses und des Königs zum Budgetgesetze wie zu jedem anderen vorschreibe. Da der Wortlaut der Verfassungsurkunde einen völlig klaren Sinn gäbe, so sei kein Anlaß zu irgendwelcher Interpretation. Allerdings könne hienach jeder der beiden andern Faktoren das Ausgabebewilligungsrecht des Abgeordnetenhauses vernichten; ebenso klar aber sei, daß nach dem englischen Rechte das Abgeordnetenhaus die Staatsmaschine willkürlich zum Stillstand bringen könne. Es müsse eben als natürlich vorausgesetzt werden, daß jede der gesetzgebenden Gewalten ihr Recht mit Mäßigung und in Hinblick auf das Gemeinwohl ausüben würde, was jedoch hier im vorigen Jahre nicht geschehen sei. Bismarck schloß mit den berühmten Worten: „Das preußische Königtum hat seine Mission noch nicht erfüllt, es ist noch nicht reif dazu, einen rein orna­mentalen Schmuck Ihres Verfassungsgebäudes zu bilden, noch nicht 98

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reif, als ein toter Maschinenteil dem Mechanismus des parlamentarischen Regimentes eingefügt zu werden.“ Es war vorauszusehen, daß beide Teile, das Ministerium wie das Abgeordnetenhaus, für Gewissenspflicht halten würden, auf ihrem Rechtsstandpunkte auszuharren. Eine Lösung des Konflikts schien auf theoretischem Gebiete unmöglich. Außerhalb der Offizierskreise standen in Breslau fast alle meine Bekannten, die sich überhaupt äußerten, auf der Seite des Abgeordnetenhauses; aber mein in Ostpreußen lebender Bruder stimmte voll ein in meine Bewunderung für den Mann, der einen gangbaren Weg gefunden hatte, um den Prachtbau der Heeresreform vor Zerstörung zu retten. Frau von Bismarck schrieb mir nach Breslau am 27. Januar 1863: ­… „Diesen Schwirr von früh bis spät jeden und jeden Tag vertrage ich kaum. Ich werde allgemach unausstehlich dabei und die Sorge um Bismarck seufzt ununterbrochen in den kläglichsten Molllauten durch mein Herz … „Man sieht ihn nie und nie – morgens beim Frühstück fünf Minuten während Zeitungsdurchfliegens –, also ganz stumme Scene. Drauf verschwindet er in sein Kabinett, nachher zum König, Ministerrath, Kammerscheusal – bis gegen fünf Uhr, wo er gewöhnlich bei irgendeinem Diplomaten speist, bis 8 Uhr, wo er nur en passant Guten Abend sagt, sich wieder in seine gräßlichen Schreibereien vertieft, bis er um halb zehn zu irgendeiner Soiree gerufen wird, nach welcher er wieder arbeitet bis gegen ein Uhr und dann natürlich schlecht schläft. Und so geht’s Tag für Tag – soll man dabei nicht elend werden vor Angst und Sorge um seine armen Nerven … „Wie sich das Demokraten-Volk gegen meinen besten Freund benimmt, lesen Sie hinlänglich in allen Zeitungen. Er sagt, es sei ihm „nitschewo“10, aber ganz kalt läßt es ihn doch nicht.“ … Dieser Brief wurde geschrieben am Abend des zweiten Tages der langatmigen Verhandlungen des Abgeordnetenhauses über den damals im Königreich Polen ausgebrochenen Aufstand und den Versuch der Regierung, denselben durch Verständigung mit Rußland von unseren Grenzen fernzuhalten. Allerdings überschütteten selbst Führer der altliberalen Partei, die Sybel, Twestten und Simson, in jenen Tagen den Ministerpräsidenten mit ausgesuchten Liebenswürdigkeiten. Der eine sagte: „Diese Regierung kann weder im Innern noch nach außen handeln, weder ruhen noch wirken, ohne die Gesetze dieses Landes zu 10 Das russische Wort „nitschewo“ bedeutet ungefähr: „Das ist mir absolut gleichgültig“.

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verletzen … unter solchen notorisch unfähigen und unglücklichen Befehlshabern sind überall Niederlagen zu erwarten.“ Der andere: „Die Ehre der augenblicklichen Regierung ist nicht mehr die Ehre des Staates und des Landes.“ Der Dritte: Zu gutem Regieren gehöre Genie oder wenigstens Talent; dieser Regierung könne man jedoch nur die jedem Seiltänzer zugewendete Bewunderung zollen, daß sie nicht fällt. Mir erschien es bewunderungswürdig, daß Bismarck solchen Maßlosigkeiten gegenüber eine äußerlich ruhige Haltung beobachtete. In diesen Tagen sprach er die später oft angeführten Worte: „Die Neigung, sich für fremde Nationalitäten und Nationalbestrebungen zu begeistern auch dann, wenn dieselben nur auf Kosten des eigenen Vaterlandes verwirklicht werden können, ist eine politische Krankheitsform, deren geographische Verbreitung sich auf Deutschland leider beschränkt.“ Am 26. März schrieb Frau von Bismarck: ­… „Sehr reizend wäre es, wenn ich Sie nächsten Mittwoch, den 1. April, um 10 Uhr früh zu seinem Geburtstag aufbauen könnte. Was meinen Sie? … Von dem geselligen Wirrwarr sage ich nichts. Sie kennen das, wie es hier geht und wie man zuletzt ganz schwach davon wird, nicht leiblich, sondern geistig. Das Schlimmste ist, wenn zwischendurch pommersche Verwandte und gute Bekannte hereinfallen, die einen sehen wollen und gekränkt sind, wenn man sich ihnen nicht immer zur Disposition stellt. – Bismarck bekommt aus allen Provinzen viele freundliche Adressen und Depeschen, Säbel, Kuchen, Lorbeerkränze und Gedichte und freut sich, daß man ihn liebt. Ich freue mich auch und fände es wunderbar, wenn es nicht wäre … Sein Befinden ist leidlich, aber blaß und unermeßlich beschäftigt ist er von 10 Uhr morgens immer bis 1 Uhr nachts) trotz Bitten und Lampenauslöschen“ … Am 1. April kam ich früh in Berlin an und blieb von 10 Uhr morgens bis 10 Uhr abends bei Bismarcks. Er litt an starken Kopfschmerzen und lag den ganzen Vormittag auf dem Sofa, ohne ein Wort zu sagen. Erst gegen Abend wurde es besser. Besuch wurde nicht angenommen; nur einige Verwandte, namentlich seine schöne und geistvolle Schwester, Frau v. Arnim-­Kröchlendorff, mit Gemahl und Tochter leisteten ihm Gesellschaft. Er war in alter Weise freundlich zu mir, sagte aber kein Wort über die Möglichkeit meiner Berufung. Bald darauf hatte ich Anlaß, sein Vertrauen in einer wichtigen Angelegenheit anzusprechen. In Breslau wurde der konservative Oberbürgermeister Elwanger trotz anerkannt großer Verdienste um die städtische Verwaltung nicht wieder 100

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gewählt, sondern die Wahl der Stadtverordneten fiel auf den Regierungsrat Hobrecht, welchen Graf Schwerin 1860 als Hilfsarbeiter in das Ministerium des Innern berufen hatte und welcher sich auch 1863 noch in dieser Stellung befand. Ende April beschloß die Breslauer Regierung mit nur einer Stimme Majorität, die Bestätigung des Gewählten zu befürworten. Ich befürchtete Beanstandung dieses Antrages im Staatsministerium und schrieb daher an Frau von Bismarck, mit der Bitte um Mitteilung an ihren Gemahl, einige Bemerkungen zu Gunsten Hobrechts, den ich als einen vertrauten Jugendfreund genau kannte. Sie erwiderte: „Hobrecht ist vorgelesen, aber man liebt ihn gar nicht, wie es scheint, also weiß ich nicht, was geschieht.“ Da mir Gefahr im Verzuge möglich schien, telegraphierte ich sofort zurück die Worte: „Bürge für den Mann mit Ehre und Vermögen“; worauf ich natürlich keine Antwort erwartete. Am 26. Mai war ich in Berlin bei Bismarcks zu Tische und saß neben dem Minister. In einer Pause des allgemeinen Gesprächs fragte er mich: „Sie halten den Mann also für tugendhaft?“ Ich erwiderte: „Mehr als ausreichend für den Bürgermeisterposten. Es ist ein Glücksfall, daß die überwiegend demokratischen Stadtverordneten diesen zuverlässigen Altliberalen gewählt haben, der manche Eigenschaften besitzt, um bald Einfluß auf die Leute zu gewinnen. Würde er nicht bestätigt, so wäre die Wahl eines roten Demokraten zu erwarten. Dann müßte ein Regierungskommissar mit Leitung der Stadtverwaltung beauftragt werden, der noch weniger Einfluß haben würde als der frühere Bürgermeister.“ „So“, sagte der Minister leise für sich und begann dann wieder ein allgemeines Gespräch. Gegen Abend fuhr er nach dem Potsdamer Bahnhof und lud mich ein, mitzufahren. Er sprach von der durch den General von Alvensleben im Februar abgeschlossenen preußisch-russischen Konvention. „Dieselbe hat bewirkt,“ sagte er, „daß die Polenfreunde in Petersburg nicht zur Geltung kamen und daß der Kaiser Alexander uns im Gegensatz zu Oesterreich und den Westmächten als Freunde erkannte. Die Konvention wird vom Publikum falsch beurteilt, weil man die Erdschichten nicht kennt, in welchen die Wurzeln dieses Gewächses lagen.“ Plötzlich fragte er, ob ich kommen wolle, wenn er mich riefe, auch ohne sichere Aussicht auf eine Ratsstelle. „Gewiß“, sagte ich. „Daß keine Ratsstelle frei ist, beruhigt mich einigermaßen. Eine längere Probezeit scheint mir gerade in diesem Falle unerläßlich.“ Er meinte dann, die amtliche Einberufung würde erst im Herbst erfolgen, nach Rückkehr des Königs von den Sommerreisen. 101

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Anfang Juli schrieb mir Frau von Bismarck in seinem Auftrage, daß er nur auf Grund meiner Bürgschaft die Bestätigung Hobrechts im Staatsministerium durchgesetzt habe. Bei diesem Beschluß hatte er vielleicht auch eine persönliche Mißempfindung zu unterdrücken. Einige Monate vorher war im Staatsministerium über den Entwurf der Kreisordnung, welchen Graf Schwerin hatte ausarbeiten lassen, beraten worden. Als dabei der Ministerpräsident sich über das ganze Projekt in wegwerfendem Tone äußerte, begann Hobrecht als Referent seine Erwiderung mit den Worten: „Ich weiß nicht, ob Sie den Entwurf gelesen haben.“ Nur Hobrecht selbst hat mir dies später erzählt. Nach Jahren hat Bismarck mir zweimal für meine Empfehlung Hobrechts gedankt. Als im Frühjahr 1866, beim Herannahen des Krieges, aus Ostpreußen, Pommern und vom Rhein viele kleinmütige Adressen um Erhaltung des Friedens an den König gerichtet wurden, kam von den Breslauer Stadtbehörden eine kriegerisch begeisterte Bitte um gründliche Lösung der deutschen Frage; das Verdienst dieser Kundgebung wurde natürlich dem Oberbürgermeister zugeschrieben. Einige Jahre später äußerte Bismarck: „Von den Bürgermeistern gilt dasselbe, was man von den Frauen sagt: die, von denen gar nicht gesprochen wird, sind die besten. Von Breslau höre ich nie etwas, folglich muß Hobrecht seine Sache sehr gut machen.“

* * * Ende September 1863 wurde in Breslau bekannt, daß meine Berufung zum Hilfsarbeiter im Staatsministerium bevorstand. Außer den Offizieren bedauerten fast alle meine Bekannten, liberale wie konservative, daß ich mein Geschick an das eines maßlos verwegenen Mannes und an eine hoffnungslose Sache ketten wollte. Oft genug mußte ich versuchen, den Leuten ihren Irrtum klarzumachen. In der auswärtigen Politik war doch bis dahin offenbar alles geglückt, was der Ministerpräsident unternommen hatte. Im November 1862 wurde der halsstarrige Kurfürst von Hessen dadurch zum Nachgeben bewogen, daß Bismarck in einem an den Minister Dehn gerichteten Briefe auf das mögliche Eingreifen der kurfürstlichen Agnaten hindeutete. Angesichts der im Anfang des Jahres in Polen ausgebrochenen Unruhen befestigte Bismarck durch Aufrechterhaltung der Ordnung in den preußi102

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schen Grenzprovinzen und durch eine bezügliche Verständigung mit Rußland dessen Freundschaft, während die Westmächte und Oesterreich auf ihre wiederholt nach Petersburg gerichteten polenfreundlichen Ratschläge anfangs höfliche, zuletzt schroffe Abweisungen erfahren hatten. Der übereilte Versuch Oesterreichs, die Bundesverfassung in seinem und der Mittelstaaten Interesse durch Beschlüsse der in Frankfurt versammelten souveränen Bundesfürsten so weit umzugestalten, daß unserm König sogar die Entscheidung über Krieg und Frieden entzogen würde, dieser Versuch endete mit einem vollständigen Mißerfolg, nachdem der König auf Bismarcks Rat der Fürstenversammlung ferngeblieben war. In den preußischen Gegenvorschlägen wurde zum ersten Male amtlich auf die Ersprießlichkeit einer Volksvertretung am Bunde hingewiesen. Gegen Dänemark endlich wurde von Preußen und Oesterreich gemeinschaftlich trotz der Opposition der Mittelstaaten ein Beschluß des Deutschen Bundes erreicht, das Exekutionsverfahren durch militärische Besetzung Holsteins eintreten zu lassen (1. Oktober). Alle diese Thatsachen ließen doch in der Leitung unserer auswärtigen Angelegenheiten einen zielbewußten Kopf und eine glückliche Hand erkennen. Aber selbst gegen diese Auffassung wurde manches eingewendet. Ein mir von der Schule her befreundeter Gelehrter, der Privatdozent (später Professor) der Geschichte, Dr. Neumann11, kam zu mir, um mich eindringlich zu warnen. Er hatte einige Jahre unter Schleinitz und Bernstorff, zuletzt auch einige Monate unter Bismarck im Auswärtigen Amte für die Presse gearbeitet. „Bismarck“, sagte er, „leidet an einer schweren Nervenkrankheit und ist mir mitunter wie nicht ganz zurechnungsfähig erschienen. Wenn er z. B. Instruk­ tionen für die Presse gab, kam er zuweilen bald in einen gewissen ‚Galopp des Denkens‘, dem man kaum folgen konnte, und verlangte mitunter ganz unausführbare Dinge. Unter den Berliner Diplomaten ist die Meinung vorherrschend, daß er nervenkrank sei und nicht mehr lange leben werde, da er sich in keiner Beziehung schont. Als ein Symptom seiner Krankheit wurde auch das Gespräch aufgefaßt, welches er im letzten Dezember bekanntlich mit dem Grafen Karolyi gehabt hat; denn wie kann ein ganz gesunder Mensch dem Vertreter Oesterreichs sagen: ‚Ihr thätet gut, euren Schwerpunkt nach Ofen zu verlegen‘. Gesellschaftlich mag Bismarck sehr angenehm sein; aber wenn du in sein Ministerium eintreten willst, so wirst du ein morsches Schiff besteigen.“ 11 Verfasser der „Hellenen im Skythenlande“ (1855).

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Graf Limburg-Stirum, der Vater des jetzigen Führers der Konservativen im Abgeordnetenhause, sagte mir: „Es muß schön sein, der Fahne eines Mannes wie Bismarck zu folgen, wenn sie auch in den Tod führen mag.“ Das stimmte mit meiner Auffassung, jedoch mit dem Unterschiede, daß ich keinerlei Gefahr zu ahnen vermochte. In Bezug auf die Minister schien im Falle eines Thronwechsels die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß sie wegen der budgetlosen Verwaltung mit Regreßansprüchen an ihr Privatvermögen bedroht werden könnten. Das Abgeordnetenhaus hatte am 17. Februar 1863  mit allen gegen 45  Stimmen beschlossen, bis nach Prüfung der Jahresrechnungen von 1862  die Entscheidung darüber vorzubehalten, für welche der verausgabten Summen die Minister mit ihrer Person und ihrem Vermögen haftbar wären12. Man riet damals dem Ministerpräsidenten, seinen Grundbesitz an einen Verwandten abzutreten; er lehnte das entschieden ab, um den Schein einer Besorgnis für sein Vermögen zu vermeiden. Ein Nachbar von Schönhausen aber, Herr von Katte-Roskow, hat – wie er mir 1864 erzählte – thatsächlich Vorkehrungen getroffen, um im Falle eines Regresses an Bismarck diesem ein ansehnliches Kapital zur Verfügung zu stellen. Wenn demnach daran gedacht worden war, die Minister als persönlich haftbar anzusehen, so konnten doch deren Beamte in keinem Falle durch Regresse bedroht werden. Eine zu teilende Gefahr stand also für mich nicht in Aussicht, sondern nur eine kaum erwähnenswerte Einbuße an Wohlwollen bei vielen alten Bekannten und Landsleuten, wenn ich dem damals „bestgehaßten“ Manne persönlich dienstbar wurde. Am 19. Oktober abends kam ich nach Berlin und übernachtete bei dem im Hausministerium angestellten Geheimrat von Loeper, dem hochverdienten Goethe-Herausgeber. Von diesem hörte ich zum ersten Male die Ansicht aussprechen, daß Bismarck trotz mancher unnötigen Schroffheiten seines Auftretens wahrscheinlich sehr viele Jahre lang der Leiter unsrer Politik bleiben werde. Am 20. früh meldete ich mich beim Ministerpräsidenten im Auswärtigen Amte (Wilhelmstraße 76). Er sagte: „Sie müssen in meiner Nähe wohnen, finden aber in dieser Gegend der Stadt keine mietbaren Räume. Das Staatsministerium steht leer. Ich habe dort im vorigen Jahre einige Wochen gewohnt. Ein Beamter machte mich mit Stolz auf einige neue Tapeten aufmerksam; ich fand aber, daß diese Tapeten an eine Ausspannung in Prenzlau

12  Stenographischer Bericht von 1863, S. 243.

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erinnerten. Nehmen Sie sich dort so viele Zimmer, wie Sie brauchen können, meinetwegen alle.“ Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: „Ich denke, Sie sollen einmal einen ‚propren‘ Bundestagsgesandten abgeben.“ Diese Aeußerung erwähne ich nur, weil daraus zu schließen ist, daß Bismarck im Oktober 1863 noch eine langjährige Fortdauer des Bundestages für wahrscheinlich gehalten hat. Ich bezog sofort zwei Zimmer im Hinterhause des damaligen Staatsministerialgebäudes (Wilhelmstrabe 74), welches nachmals für den Bundesrat und für das Reichsamt des Innern ausgebaut worden ist. Um 5 Uhr erschien ich nach Bestimmung des Ministers zum Essen mit ihm allein. Seine Gemahlin befand sich noch in Reinfeld in tiefer Trauer um ihre Mutter, welche dort im September gestorben war. Er sah blaß und müde aus und sagte nach längerer Pause: „Es kommt mir vor, als wäre ich in diesem einen Jahr um fünfzehn Jahre älter geworden. Die Leute sind doch noch viel dümmer, als ich sie mir gedacht hatte.“ Ich erwiderte: „Sie werden hoffentlich wieder viel jünger werden, sobald es eine große auswärtige Verwickelung gibt.“ Noch an demselben Abende besuchte ich den Geheimrat Hegel, welcher als vortragender Rat im Staatsministerium13 fungierte. Dieser Schwiegersohn des Staatsministers von Flottwell war mir seit vielen Jahren als ein verehrungswürdiger Mann bekannt. Er sagte: „Die Lage ist fast verzweifelt; unser Chef aber ist ihr vollkommen gewachsen und wird mit Gottes Hilfe obsiegen, wenn auch vielleicht erst nach langer Zeit.“ Als Hilfsarbeiter war damals im Staatsministerium auch der Regierungsrat Zitelmann, hauptsächlich für die Presse, beschäftigt, welcher schon in Frankfurt unter Bismarck gedient und ihn 1863 im Gefolge des Königs nach Karlsbad und Gastein begleitet hatte; ein bescheidener und liebenswürdiger Mann, mit dem ich jedoch nur selten zusammenkam. Der früher erwähnte Hilfsarbeiter Graf Bismarck-Bohlen war wegen Kränklichkeit auf unbestimmte Zeit beurlaubt, hatte jedoch die Zusage erhalten, wieder einberufen zu werden, wenn es einmal zu einem Kriege käme und sein Vetter mit zu Felde zöge. 13 Mit diesem Worte wird außer dem Kollegium der Staatsminister auch diejenige Centralbehörde bezeichnet, deren Geschäftsbereich die allen Staatsministern gemeinsamen Angelegenheiten umfaßt, nämlich Vorbereitung und Registrierung der Sitzungen, Sammlung schriftlicher Gutachten der Staatsminister und die an den Ministerpräsidenten persönlich gerichteten Gesuche.

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Der Minister des Innern, Graf Eulenburg, empfing mich als Ostpreußen mit landsmannschaftlicher Herzlichkeit. Er dankte für meine Empfehlung Hobrechts, den er „ohne meine Hilfe schwerlich durchgebracht hätte“, und sagte dann: „Ihre Stellung bei Bismarck wird sehr schwierig werden, darauf machen Sie sich nur gefaßt. Er ist ein gewaltiger Mensch und duldet keinen Widerspruch. Wer mit ihm zu thun hat, den zwingt er zum Gehorsam, mag man dagegen ‚strampeln‘, soviel man will. Und nun ist Ihnen ja eine besondere Vertrauensstellung zugedacht. Sie werden es sehr schwer haben und ich wünsche von Herzen, daß Sie lange aushalten.“ Am folgenden Tage erhielt ich von Frau von Bismarck aus Reinfeld einen Brief, in dem es hieß: ­… „Gott segne Ihren Einzug bei ihm, lieber Herr von Keudell, ich freue mich, daß Sie da sind, wenn auch mit Zittern, und wiederhole stets: Vereinigen und verwechseln Sie nie den Minister mit dem Freunde. Es sind gewiß zwei ganz verschiedene Menschen. Wenn der Minister verstimmt ist und Sie in solch unerquicklicher Laune anbrummt, weiß der Freund nichts davon und liebt Sie ungestört alle Zeit. Ich vergesse nicht mancher Sekretäre Verzweiflung in solchen Fällen; und wenn Sie auch kein so verzagtes Gemüth wie diese Jünglinge besitzen, so möchte ich Sie doch an all dies wieder erinnern mit herzlichen Bitten, in Ihrem Vertrauen und Ihrer Anhänglichkeit nicht zu wanken, da Bismarck deren mehr bedarf wie jeder andere. Er hat ja fast keinen wahren treuen Freund – ich mißtraue ihnen allen –, wenn’s darauf ankommt, lassen sie ihn alle im Stich, bin ich überzeugt. Wer bitte, thun Sie es nicht, halten Sie aus, wenn er auch oft recht unfreundlich scheint. Innerlich ist er’s bestimmt nie, das versichere ich Ihnen.“ … Geschäftlich wurden mir alle an den Ministerpräsidenten persönlich gerichteten Gesuche zugewiesen. Morgens um zehn Uhr und abends um sieben Uhr hatte ich mich beim Chef zu melden, um die Eingänge in Empfang zu nehmen und die Entwürfe der Antworten vorzulegen, die er dann in meiner Gegenwart erstaunlich schnell durcharbeitete und unterschrieben zurückgab. Keine Sache blieb 24 Stunden unerledigt. Ich stand damals im vierzigsten Lebensjahre und war seit langer Zeit gewohnt gewesen, daß meine Entwürfe amtlicher Schriftstücke von Vorgesetzten fast gar nicht korrigiert wurden; jetzt aber kam ich wieder in die Stellung eines Schülers, dessen Konzepte selten unverändert stehen blieben. Auffallend war mir die Behandlung der zahlreichen Bettelbriefe. Wenn solche den Eindruck wirklicher Not machten, wurde ich beauftragt, die Bittsteller aufzusuchen und kleine Unterstützungen zu spenden, nicht etwa aus 106

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irgendeinem staatlichen Dispositionsfonds, sondern aus den Privatmitteln des Ministers. Einmal mußte ich einer in der Köpenikerstraße 4 Treppen hoch wohnenden Witwe 25 Thaler (75 Mark) überbringen, was mir für die Privatverhältnisse des Gebers sehr hoch gegriffen schien. Ich erlaubte mir abzuraten von dieser dilettantischen Armenpflege, die immer neue unerfüllbare Ansprüche hervorrufen müßte. Die Antwort lautete: „Wer sich in Not bittend an mich wendet, dem helfe ich, soweit ich es mit meinen geringen Mitteln vermag.“ Gelegentlich fragte ich, ob es nicht zweckmäßig sein würde, durch das Bureau nur die wichtigeren Eingänge vorlegen zu lassen. „Nein,“ sagte der Minister, „wenn ich nicht alles sehe, was ankommt, verliere ich die Fühlung mit dem, was im Lande vorgeht.“ Nach mehreren Wochen wurde jedoch infolge der diplomatischen und militärischen Vorbereitungen zum dänischen Kriege die Geschäftslast so groß, daß er die augenscheinlich unwichtigeren Eingänge mit der Bezeichnung O als nicht gelesen an das Bureau gehen ließ und nach deren Erledigung nicht fragte. Am 30. Oktober schrieb ich meinem Bruder: „Bismarck ist in Geschäften wirklich wundervoll, von unbegreiflich schnellem Ueberblick und heiterer Entschlossenheit, verlangt aber mitunter Unausführbares, weil nicht alle Verwaltungsgesetze ihm geläufig find. Gestern Abend mußte ich wieder einmal vorstellen, daß dies und das nicht möglich sei. Er wurde wie immer in solchen Fällen ärgerlich und persönlich, ohne aber die Form im Mindesten zu verletzen. In der Nacht grübelte ich darüber, ob ich für sein Naturell den richtigen Ton zu treffen vermöchte, und heute morgen ging ich in etwas gedrückter Stimmung zum Vortrag. Da kam er mir mit besonderer Freundlichkeit entgegen und sagte, er wolle mich nun auch im auswärtigen Dienst beschäftigen und deshalb mit Thile sprechen.“ So geschah es. Der Unterstaatssekretär von Thile war ein kerniger und wohlwollender Mann von ungewöhnlicher wissenschaftlicher Bildung. Er empfing mich in liebenswürdiger Weise, verhehlte mir aber nicht, daß die zurzeit nicht gerade massenhaften Geschäfte der politischen Abteilung in festen Händen seien und daß es schwierig sein würde, dort für mich ein Arbeitsfeld zu schaffen. Allerdings hätte die außergewöhnliche Arbeitskraft und Arbeitslust des mir seit Jahren wohlbekannten Geheimrat Abeken für sich allein hingereicht, um alles, was damals in der „hohen Politik“ vorkam, zu erledigen; es war aber in dieser Abteilung noch ein zweiter Rat angestellt, welcher doch 107

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auch Anspruch auf Beschäftigung machte. Nur wenn Bismarck selbst mich mit einer kleinen Arbeit in französischer Sprache, wohl um mich zu prüfen, beauftragte, gab es im Auswärtigen etwas für mich zu thun. Der Regel nach blieb ich mit inländischen Angelegenheiten beschäftigt, erhielt auch öfters mündliche Aufträge an einzelne Minister, namentlich an Roon und Eulenburg. Erst im Februar 1864 wurde mir eine in der zweiten Abteilung des Ministeriums erledigte Ratsstelle übertragen, mit welcher die Bearbeitung aller Personalien und die Verwaltung der sogenannten Legationskasse, d. h. des Etats der auswärtigen Angelegenheiten, verknüpft war. Dieses Arbeitsfeld blieb mir bis zum Herbst 1872 anvertraut.

* * * Anfang November 1863 kehrte Frau von Bismarck aus Reinfeld nach Berlin zurück. Bald darauf wurde die Landtagssession eröffnet. Das vor Kurzem neu gewählte Abgeordnetenhaus brachte zwar statt der früheren 11 konservativen Mitglieder deren 36, zeigte aber im Ganzen dieselbe feindselige Haltung wie das im Sommer aufgelöste. Trotz der tiefen Trauer der Familie Bismarck pflegten sich doch einige der vertrauten Freunde abends gegen 9 Uhr einzufinden in dem Empfangssaale, welcher auf der Gartenseite des Hauses lag. Die gütige Hausfrau oder deren heranwachsende anmutige Tochter machte den Thee; auf zwei oder drei Tischen standen einfache kalte Speisen, Wein und Bier. Jeder Gast bediente sich nach Belieben. Am häufigsten kamen damals: Herr von Arnim-Kröchlendorff mit Gemahlin und Tochter, Blanckenburg, Graf Eberhard Stolberg mit Gemahlin, der junge Eisendecher14 und Herr von Dewitz-Milzow, ein Göttinger Corpsbruder des Hausherrn. Dieser pflegte gegen elf Uhr auf eine halbe oder ganze Stunde zu erscheinen, um eine satte Speise und ein Glas Bier oder auch dicke Milch zu nehmen. Thee oder Wein genoß er abends nie, um den ohnehin schwer zu findenden Schlaf nicht ganz zu verscheuchen. Die Unterhaltung pflegte er in heiterem Tone zu führen, Politik aber nur selten und flüchtig zu streifen. Ich war in den ersten Wintermonaten der einzige abends im Salon anwesende Beamte des Ministeriums, in jedem Augenblicke amtlicher Aufträge gewärtig. 14 Der einzige Sohn des oldenburgischen Bundestagsgesandten von Eisendecher trat in die Marine ein, war von 1862 bis 1872 mit Unterbrechungen in Berlin beschäftigt und wurde fast wie ein Verwandter des Hauses angesehen.

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An der kurzen Nordseite des Gesellschaftszimmers lag ein schmales Kabinett, dessen Länge der Breite des ersteren entsprach und welches immer offen stand, da die Thür aus den Angeln entfernt worden war. Von diesem Kabinett führten zur Linken wenige Stufen hinab in das Schulzimmer, wo die Knaben unter Leitung des Hauslehrers, Kandidaten Braune, zu arbeiten pflegten. Die Thüre dieses Zimmers stand ebenfalls gewöhnlich offen. Wenn nun Schlafenszeit für die Jugend herankam, pflegte die weiche Stimme der Hausfrau in das Kabinett hineinzuschallen: „Jüngchen! Zu Bett!“ Eine ältere Dame hat mich noch kürzlich hieran erinnert. Auf der rechten Schmalseite des Kabinetts führte eine Thüre zu dem auf der Straßenseite des Hauses gelegenen Arbeitszimmer des Ministers. Wurde abends mein Klavierspiel verlangt, so pflegte Frau von Bismarck diese kleine Thüre leise zu öffnen und, wenn kein Besuch sichtbar war, halb offen stehen zu lassen, da der Minister sich damals nicht ungern durch Töne anregen ließ, während er arbeitete. Am 23. November sagte er einmal nach Tische, zu seinem Schwager und zu mir gewendet: „Wir brauchten eigentlich zwei Garnituren Regierungsbeamte: eine konservative und eine liberale, von denen eine immer zur Disposition gestellt werden müßte, wenn ein Ministerwechsel eintritt. Die vielen liberalen Beamten können doch jetzt unmöglich mit Freudigkeit und Hingebung ihre Pflicht thun.“ Ich erlaubte mir meine abweichende Ansicht auszuführen, auf deren Inhalt es hier nicht ankommt. Dieses Gespräch erwähne ich nur, weil dessen frische Erinnerung mich einige Tage später zu einem unbesonnenen Schritte gedrängt hat.

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VI. Zusammengehen mit Oesterreich. Dänischer Krieg. November 1863 bis Juli 1864. Nach dem Ableben des Königs Friedrich VII. von Dänemark (15. November) schien mir der Augenblick gekommen, daß den Elb-Herzogtümern endlich zu ihrem Rechte verholfen werden könnte. Nun unternahm aber unsere Regierung gemeinschaftlich mit Oesterreich Schritte, welche die Anerkennung des Königs von Dänemark Christians IX. als Erben von Schleswig-Holstein voraussetzten. Bismarck war in den folgenden Tagen von diplomatischen Geschäften so in Anspruch genommen, daß ich nicht zum Vortrag gelangen konnte. Da er nun kürzlich betont hatte, wie großen Wert er darauf legte, daß die Ueberzeugung der Verwaltungsbeamten mit der ihres Chefs übereinstimmte, so trieb mich mein Gewissen, schriftlich vorzutragen, daß ich der Meinung sei, uns werde eine herrliche Gelegenheit geboten, an die Spitze der gewaltigen Bewegung der Geister in Deutschland dadurch zu treten, daß wir für das Recht des Herzogs von Augustenburg Krieg führten, um die Herzogtümer vom dänischen Joche zu befreien. Wenn ihm diese Ansicht mißfalle, so sei ich bereit, wieder in die Provinz zurückzukehren, und würde dabei keine persönliche Mißempfindung zu überwinden haben. Diese Gedanken entwickelte ein Schreiben, das ich am Sonnabend, dem 28. November, in das Arbeitszimmer des Ministers tragen ließ. Am Abend des folgenden Sonntags wurde mein Gruß von der Hausfrau kaum erwidert; ich unterhielt mich daher nur mit einigen Gästen. Am Montag früh ließ Bismarck mich rufen. Die anderen Minister waren schon zu einer „vertraulichen Besprechung“ mit ihm in dem sogenannten chinesischen Saal versammelt, welcher auf der Straßenseite des Hauses unmittelbar vor seinem Arbeitszimmer lag. Um in dieses einzutreten, mußte ich daher bei den Herren Ministern vorbeigehen. Er begann mit gedämpfter Stimme, aber in sichtlicher Erregung: „Sagen Sie ’mal, weshalb haben Sie mir eigentlich diesen Brief geschrieben? Wenn Sie glaubten, auf meine Entschließungen einwirken zu können, so müßte ich sagen, das wäre Ihren Lebensjahren nicht angemessen. 110

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VI. Zusammengehen mit Oesterreich … November 1863 bis Juli 1864.

„Es kann ja ganz ehrenvoll sein, für eine gute Sache unterzugehen, aber besser ist es doch, sich so einzurichten, daß man die Möglichkeit hat, zu siegen. „In der polnischen Sache war das ganze Ministerium gegen mich; man beschwor mich, es anders zu machen, um des Heiles meiner Kinder willen; nachher waren sie alle mit dem Erfolg zufrieden. Jetzt ist die ganze politische Abteilung wieder augustenburgisch; das stört mich nicht. Aber daß Sie, der Sie mich so lange und so gut kennen, denken, ich wäre in diese große Sache hineingegangen wie ein Fähnrich, ohne mir den Weg klarzumachen, den ich vor Gott verantworten kann, das vertrage ich nicht, das hat mir den Schlaf zweier Nächte gestört. Sie zu entlassen, liegt ja gar kein Anlaß vor. Ich habe Ihnen nur zeigen wollen, wie die Kugel sitzt, die Sie mir in die Brust geschossen haben.“ Von den letzten Worten erschüttert, sagte ich sogleich: „Es ist mir nicht in den Sinn gekommen, daß mein Brief Ihnen wehthun könnte. Bitte, geben Sie ihn mir zurück; es thut mir sehr leid, ihn geschrieben zu haben. Ich bitte von ganzem Herzen um Verzeihung.“ Er gab mir den Brief mit den Worten: „Danke. Nun ist alles weggewischt und Sie können sicher sein, daß keine unangenehme Erinnerung bei mir „haken“ bleibt. Aber wenn Sie wieder einmal anderer Ansicht sind, so schreiben Sie nicht, sondern reden Sie.“ Ich entfernte mich eilig durch die Mitte der Herren Minister und kam nach kurzer Ueberlegung des Gehörten auf e i n e Lösung des Rätsels der augenblicklichen Politik: Wenn wir allein gegen den Willen der andern vier Großmächte vorgingen, so konnte dieser Weg zum Untergange führen; handelten wir aber gemeinschaftlich mit einer zweiten Großmacht, so würden vermutlich die drei andern Bedenken tragen, thätig einzugreifen. Schon diese Erwägung verbot thätige Unterstützung der augustenburgischen Ansprüche. Einen andern Beweggrund der Regierungspolitik sollte ich in der Neujahrsnacht erfahren. Am Abend sagte Frau von Bismarck in Gegenwart anderer Personen: „Eine reizende Eigenschaft von Otto ist, daß er gar nicht nachträgt. Wenn eine Meinungsverschiedenheit befriedigend ausgeglichen ist, so bleibt kein Schatten von Groll, ja kaum eine Erinnerung an den Streit in ihm zurück.“ Drei Tage später erklärte Bismarck im Abgeordnetenhause, nur der von den Großmächten mit Dänemark 1852  in London geschlossene Vertrag gäbe uns ein Recht, im Herzogtum Schleswig mitzusprechen, welches nicht zum Deutschen Bunde gehörte; nur durch diesen Vertrag seien wir berechtigt – wie es von uns in Gemeinschaft mit Oesterreich seit Monaten 111

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geschehe  –, zu fordern, daß Dänemark die gegen die Herzogtümer übernommenen Verpflichtungen erfülle. Jetzt werde namentlich die Aufhebung des kürzlich dort erlassenen Gesetzes über die Verfassung des Gesamtstaates nachdrücklich gefordert. Ich darf hier einschalten, daß dem Londoner Vertrage zwei Reihen von Verhandlungen vorangegangen waren, deren befriedigende Abschlüsse erst Preußens und Oesterreichs Zustimmung zu jenem Vertrage möglich machten. Nach mehrjährigem, namentlich von österreichischer Seite mit Nachdruck geführten Schriftwechsel übernahm die dänische Regierung durch Note vom 29. Januar 1852  die Verpflichtung, Schleswig nicht zu „inkor­ porieren“. Der Herzog Christian von Augustenburg aber, dessen Erbansprüche auf Schleswig-Holstein der von Dänemark gewünschten Regelung der Thronfolge hinderlich waren, versprach (am 23. April) für sich und seine Familie, nichts gegen die dereinstige Herrschaft des Prinzen von Glücksburg in den Herzogtümern zu unternehmen. Angesichts dieser Thatsachen unterzeichneten die Vertreter der Großmächte am 8. Mai 1852 in London ein Protokoll, worin sie unter Bezeichnung des Prinzips der Integrität Dänemarks als eines europäischen Bedürfnisses den Prinzen von Glücksburg als dänischen Thronfolger anerkannten. Diese Erklärungen wurden überdies in Verträgen niedergelegt, welche jede der Mächte mit Dänemark abschloß. Das Ziel der Einverleibung Schleswigs hatten aber seit Jahrzehnten die in Kopenhagen einflußreichsten Politiker, die sog. Eiderdänen15, angestrebt; und man ging trotz der Londoner Verträge auf diesem Wege rücksichtslos weiter. Die deutsche Bevölkerung in Schleswig wurde durch schwer erträgliche Maßregeln gequält, und 1858 wurde Schleswig faktisch mit den rein dänischen Landesteilen vereinigt. Der Uebermut der Eiderdänen steigerte sich nach der Berufung Bismarcks zum Ministerpräsidenten, da man sich erinnerte, wie er als Landtagsabgeordneter im Jahre 1849  die Unterstützung der schleswig-holsteinischen Erhebung durch „königlich preußische Truppen“ verurteilt hatte. So eilten sie, auch durch vielfache englische Sympathiekundgebungen getäuscht, ihrem Verhängnisse entgegen. Nach vorbereitenden Schritten kam es im November 1863 zu gesetzlicher Feststellung einer Gesamtstaatsverfassung, welche Schleswig vollständig 15 Die Eider scheidet bekanntlich Schleswig von Holstein.

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VI. Zusammengehen mit Oesterreich … November 1863 bis Juli 1864.

i­nkorporierte und Holsteins Rechte ignorierte. Dieselbe sollte am 1. Januar 1864 in Kraft treten. Gegen diesen flagranten Bruch der übernommenen Verpflichtungen konnte auf zwei Wegen Ausgleichung gesucht werden. Man konnte den Londoner Vertrag für hinfällig erklären und ohne einen speziellen Rechtstitel gegen Dänemark Krieg wegen Schleswig führen, mit der Gewißheit, dadurch alle Großmächte herauszufordern, welche 1852 Dänemarks Integrität für ein europäisches Bedürfnis erklärt hatten. Oder man konnte unter Berufung auf den Vertrag dessen Erfüllung von dänischer Seite fordern und nötigenfalls durch Krieg erzwingen, was eine natürliche Lösung des Vertrages in Aussicht stellte. Dieser ohne Verletzung des bestehenden Völkerrechts allein gangbare Weg schien aber unseren Abgeordneten zu lang und zu unsicher. Sogar Sybel charakterisierte diese Politik als eine „selbstmörderische“. Das Haus beschloß in einer Adresse an den König zu erklären, die Ehre und das Interesse Deutschlands erfordere die Anerkennung und Unterstützung des Erbprinzen von Augustenburg als Herzog von Schleswig-Holstein.

* * * In der Neujahrsnacht kamen zu Bismarcks außer mir nur Verwandte. In dem auf der Straßenseite des Hauses vor dem chinesischen Saale gelegenen Eßzimmer stand der Weihnachtsbaum, eine stattliche Tanne, von der der Weihnachtsschmuck entfernt war. Bismarck nahm einen Hirschfänger, trennte damit nach und nach die Zweige vom Stamme, warf sie einen nach dem andern in den Kamin und freute sich mit der Jugend am Prasseln der Tannennadeln. Währenddessen bereitete die gütige Hausfrau mit eigentümlicher Anmut den Silvesterpunsch und setzte die Bowle nahe dem Kamin auf einen kleinen Tisch, an welchem neben Bismarck und seinem Schwager (Arnim) auch ich einen Platz erhielt. Der Minister prüfte den Punsch und sagte dann, zu seinem Schwager gewendet, in ruhigem Tone: „Die ‚up ewig Ungedeelten‘16 müssen einmal Preußen werden. Das ist das Ziel, nach dem ich steuere; ob ich es erreiche, steht in Gottes Hand. Aber ich könnte nicht verantworten, preußisches Blut vergießen zu lassen, um einen neuen Mittelstaat zu schaffen, der am Bunde mit den andern immer gegen uns stimmen würde.“ 16 In einer damals oft angeführten Urkunde vom Jahre 1460  hatte König Christian I. versprochen, die Lande Schleswig und Holstein sollten „up ewig ungedeelt“ (auf ewig ungeteilt) bleiben.

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„Der Erbprinz von Augustenburg, den jetzt die öffentliche Meinung in Deutschland protegiert, hat gar kein Successionsrecht17. Die Entsagung des Vaters zu seinen Gunsten ist ohne rechtliche Wirkung, da der Vater seit 1852 selbst kein Recht mehr hatte. Wegen seiner Parteinahme gegen Dänemark in den Kriegen von 1848‒50 dachte man in Kopenhagen daran, seine schleswigschen Güter zu konfiszieren. Erst infolge unserer Vermittelung wurden ihm die Güter für 2 ½ Millionen dänischer Thaler unter der Bedingung abgekauft, daß er für sich und seine Familie allen Successionsansprüchen auf Schleswig-Holstein entsagte. Wie das geschah, weiß niemand genauer als ich, da ich die Verhandlungen mit ihm in Frankfurt zu führen hatte. Das viele Geld wurde bei mir auf der Gesandtschaft deponiert. Nach einigen Wochen hatte ich das ganz vergessen und suchte in einem für gewöhnlich verschlossen gehaltenen Schrank nach einem Aktenstück. Da fand ich zu meiner Ueberraschung die dänischen Millionen wohlverpackt unter alten Akten begraben. Welcher Leichtsinn, dachte ich; aber nach längerem Ueberlegen fand ich doch nichts Klügeres, als sie wieder unter die reponierten Akten zu legen, die ja keine angreif ’sche Ware sind. Dort blieb das Geld bis zur Auszahlung. „Ein besonderes Glück ist, daß man in Wien auch nicht an den Augusten­ burger glaubt. Graf Rechberg, der mein Kollege in Frankfurt war, kennt die Sache ganz genau. Er ist auch der Meinung, daß nur der Londoner Vertrag uns berechtigt, die Dänen zur Erfüllung ihrer darin für Schleswig übernommenen Verpflichtungen anzuhalten. Rechberg ist seiner Natur nach konservativ. Die übereilten Anerkennungen des Erbprinzen als Herzog vonseiten Koburgs, Badens, des Nationalvereins und aller demokratischen Ele-

17 Nach Ansicht vieler Juristen lag die Rechtsfrage keineswegs so einfach. Die Dänen hatten, um den Schein förmlicher Anerkennung des augustenburgischen Rechts zu vermeiden, 1852 vom Herzog Christian nicht einen Verzicht auf sein Thronfolgerecht, sondern nur das Versprechen verlangt, daß er und seine Nachkommen nichts gegen die Succession des Prinzen von Glücksburg unternehmen würden. Als er dieses Versprechen gab, verzichtete er also eigentlich nicht auf sein Recht, sondern nur auf die Ausübung desselben gegen den von den Großmächten einzusetzenden Thronfolger. Seine Söhne aber hatten das Abkommen nicht mitunterschrieben. Sie waren daher nach Ansicht vieler Kenner des deutschen Privatfürstenrechts vermöge des ihnen zustehenden unantastbaren Personalrechts, zu dessen Ausübung befugt, sobald der Vater abdizierte oder starb. So votierten die juristischen Fakultäten mehrerer Universitäten; derselben Meinung waren im Jahre 1865 auch 7 unter den 18 preußischen Kronjuristen, während die Majorität nicht das „feudale“ Privatfürstenrecht, sondern das, wesentlich auf den englischen Rechtsanschauungen der letzten Jahrhunderte beruhende, moderne Staats- und Völkerrecht entscheiden ließ. Es war demnach natürlich, daß der Erbprinz Friedrich auf Grund des deutschen Privatfürstenrechts, und von gelehrten Juristen unterstützt, an sein Thronfolgerecht unerschütterlich glaubte.

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mente in Deutschland haben ihn geärgert. Für die Mittelstaaten hat er seit dem gänzlichen Mißlingen des Fürstentag-Projektes nichts übrig. Neuerlich hat er auch die unruhigen Bemühungen des bayrischen Gesandten am Bundestage für den Augustenburger übel vermerkt. Kurz, wir sind bis jetzt ein Herz und eine Seele. Wie lange es später zusammengehen wird, weiß ich nicht, aber der Anfang ist gut; und die Halsstarrigkeit der Dänen wird uns wahrscheinlich schaffen, was wir brauchen, nämlich den Kriegsfall.“ Es war dies das erste und letzte Mal, daß ich den Minister im Familienkreise ausführlich über die auswärtige Politik habe sprechen hören. Gewöhnlich suchte er im Salon die Tagesfragen zu vergessen und sich durch Unterhaltung über andre Dinge zu erfrischen. An jenem Silvesterabende aber schien es ihm Vergnügen zu machen, zweien Zuhörern, deren begeisterter Zustimmung er gewiß sein konnte, das Endziel seiner augenblicklichen Aktion zu enthüllen. In derselben Woche18 fand in Gegenwart des Königs und des Kronprinzen eine Sitzung des Staatsministeriums statt, in welcher Bismarck die Annexion der Elbherzogtümer als das wünschenswerte Ziel der einzuleitenden Unternehmungen hinstellte. Irgendeine zustimmende Aeußerung wurde aber nicht laut. Das Geheimnis dieser amtlichen Erklärung wurde nicht völlig bewahrt. Auf einem Balle im königlichen Schlosse erzählte mir eine gefeierte Dame, ein früherer Minister der auswärtigen Angelegenheiten habe ihr soeben gesagt: „An die Möglichkeit der Annexion von Schleswig-Holstein werden Sie doch nicht glauben! Das ist ja barer Unsinn.“ Baron Schleinitz galt als ein Gegner Bismarcks. Aber auch ein als begeisterter Verehrer bekannter hoher Beamter sagte mir unter vier Augen: „So etwas ist ja in unserer Zeit nicht ausführbar; es bekümmert mich, daß der Ministerpräsident daran denkt.“ Vermutlich drang die Kunde von diesem Zukunftsprogramm Bismarcks auch nach Wien und an andere Höfe, nicht aber, soviel ich weiß, in das Abgeordnetenhaus. Dänemark beantwortete das preußisch-österreichische Ultimatum wegen Aufhebung der Gesamtstaatsverfassung am 2. Januar, wie vorausgesehen war, mit einer entschiedenen Ablehnung. Als es sich nun darum handelte, die Erfüllung der nach der Zusage von 1852 vollberechtigten, seit zwölf Jahren ver18 In den „Gedanken und Erinnerungen“ (Band II Seite 11) wird dieser Ministerrat in die letzten Dezembertage gelegt; ich halte aber die Angaben von Horst Kohl (Wegweiser S. 90; Regesten S. 216), wonach er in den ersten Tagen des Januar stattgefunden hat, für wahrscheinlich. Die Staatsministerial-Protokolle jener Zeit sind noch nicht zugänglich.

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geblich gestellten Forderungen militärisch zu erzwingen, war eine spezielle Uebereinkunft mit Oesterreich erforderlich. Graf Rechberg schlug vor, darin zu erwähnen, daß man sich von dem Prinzip der Integrität der dänischen Monarchie nur unter beiderseitigem Einverständnis lossagen würde. Also Personalunion der Herzogtümer mit Dänemark, nach Erfüllung der vertragsmäßigen dänischen Verpflichtungen, schwebte ihm vor als der höchste im Kriege zu erringende Siegespreis. Bismarck aber lehnte auf Befehl des Königs entschieden ab, in Bezug auf die zukünftigen Verhältnisse der Herzogtümer eine andere Verpflichtung zu übernehmen, als die, daß darüber nur in gemeinsamem Einverständnisse Preußens und Oesterreichs verfügt werden sollte. Rechberg gab nach; der erste Schritt auf einem für Oesterreich verhängnisvollen Wege. Am 16. Januar wurde das preußisch-österreichische Bündnis abgeschlossen. Inzwischen waren sächsische und hannövrische Truppen im Auftrage des Deutschen Bundes am 24. Dezember in Holstein eingerückt, ohne Widerstand von dänischer Seite zu finden. Zwei Kommissare des Bundes übernahmen in Kiel die oberste Civilverwaltung. Unmittelbar nach dem Abzuge der dänischen Truppen bildeten sich im Lande zahlreiche Vereine, welche den Erbprinzen von Augustenburg als Herzog proklamierten. Derselbe ließ sich bewegen, am Jahresschlusse von Koburg nach Kiel zu reisen. In seiner Begleitung befanden sich die von ihm für Ministerposten in Aussicht genommenen Männer. Diese traten mit den Bundeskommissaren in vertrauliche Beziehungen und ihre Ratschläge fanden gewöhnlich günstige Aufnahme. Eine „Landesregierung“ wurde für Holstein gebildet und in ihren sechs Mitgliedern wie auch in den ihr untergebenen Behörden fast ausschließlich augustenburgisch gesinnte Beamte angestellt. Die beiden Bundeskommissare beschränkten sich auf eine milde Oberaufsicht. Diese thatsächliche Befestigung des augustenburgischen Einflusses machte die Bundesverwaltung populär in ganz Mittel- und Süddeutschland. Der Bund lehnte jedoch den preußisch-österreichischen Antrag ab, die Bundesexekution auf Schleswig auszudehnen. Dadurch kamen Preußen und Oesterreich in die Lage, den Schutz der Deutschen in Schleswig als europäische Großmächte selbständig zu erzwingen. Als dieser Beschluß der beiden Mächte bekannt wurde, wäre wohl bei unbefangenen Landsleuten freudige Dankbarkeit natürlich gewesen; aber die umgekehrte Wirkung trat ein. Stürme der Entrüstung tobten durch die Bevölkerungen der Mittelstaaten mit solchem Getöse, daß man in Wien ge116

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raten fand, die kaiserlichen Truppen nicht durch Bayern oder Sachsen, sondern durch Schlesien nach dem Norden zu dirigieren.

* * * Auch die große Mehrheit des preußischen Abgeordnetenhauses war von tiefem Mißtrauen gegen die preußisch-österreichische Politik erfüllt und überdies natürlich durch den Verfassungskonflikt erbittert. Im Dezember und im Januar wurden die für den preußischen Anteil an den Kosten der Bundesexekution sowie die für den Krieg gegen Dänemark geforderten Anleihebewilligungen abgelehnt. Der Berichterstatter der Kommission (Aßmann) sagte (am 21. Januar) u. a., es sei rühmlicher für Preußen, nichts zu thun, als ein Verbrechen zu begehen … Ohnmacht sei dem Selbstmorde vorzuziehen. Virchow meinte, Bismarck habe vielleicht, als er das Ministerium übernahm, beabsichtigt, eine von der Kreuzzeitungspartei unabhängige Politik zu machen, dann aber sich von Tag zu Tage mehr jener Richtung genähert. Jetzt sei er „dem Bösen verfallen und werde nicht mehr von ihm loskommen“. … Die Mittel des Landes dürften „nicht nutzlos vergeudet werden im Interesse der Tyrannei“. Bismarck hielt in den beiden Tagen dieser Verhandlungen vier bedeutsame Reden, von denen ich zwei kurze Bruchstücke hier anführen möchte. Auf einen Angriff des Grafen Schwerin entgegnete er: „Der Herr Vorredner hat als Motiv unserer Handlungsweise die Furcht  vor  der Demokratie und Furcht vor dem Auslande der Regierung untergeschoben. Ich glaube, der Herr Redner kennt mich lange genug, um zu wissen, daß ich Furcht vor der Demokratie nicht kenne. Hätte ich diese, so stände ich nicht an diesem Platze oder würde das Spiel verloren geben … Ich fürchte diesen Gegner nicht, ich hoffe sicher, ihn zu besiegen; ich glaube, das Gefühl, daß es so kommen werde, ist Ihnen nicht mehr ganz fern. Was dagegen die Furcht vor dem Auslande betrifft, so bestreite ich die Richtigkeit des Ausdrucks. Man kann Vorsicht Furcht, man kann Mut Leichtfertigkeit nennen. Der Mut nimmt meines Erachtens diesen Cha­rakter an, wenn man einer Regierung, die für das Schicksal eines großen Landes verantwortlich ist, zumutet, wie mir das in der Kommission vonseiten des Herren Referenten geschehen ist, auch gegen die erdrückendste Uebermacht, die sich von Hause aus herausstellt, Preußen zu den Waffen greifen zu lassen. Meine Herren! Das kann eine Regierung nicht; das kann der Einzelne, der entschlossen ist, seine Person daran zu setzen. Eine Regie­rung hat nicht das 117

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Recht, das Land, dessen Schicksal ihr anvertraut ist, gegen eine von Hause aus erdrückende Uebermacht ohne Not ins Feld zu führen.“ In Bezug auf den Kommissionsbericht bemerkte er u. a. Folgendes: „Das Hauptmotiv, weshalb Sie ablehnen werden, ist der Mangel an Vertrauen zu dem jetzigen Ministerium; darin konzentriert sich alles, das ist der Brennpunkt Ihrer ganzen Argumentation. Ich habe mich deshalb gefragt: Was müßten wir – was müßte ein preußisches Ministerium thun, um Ihr Vertrauen zu erwerben? … Es müßte sich von der Verfassung lossagen, indem es die Hand dazu böte, die Alleinherrschaft dieses Hauses in Preußen herzustellen, indem es die Hand dazu böte, der Fortdauer der Auflehnung der Krone gegen die Herrschaft dieses Hauses den Boden zu entziehen durch Verweigerung seiner Kontrasignatur.“ „Sie haben sich in dem vorliegenden Bericht, meine Herren, mit einer  Deutlichkeit darüber ausgesprochen, daß ich glaube, Sie werden heute nicht mehr in der Lage sein, einer Aeußerung gegenüber, die ich etwa  vor  einem Jahre an dieser Stelle gethan habe, nämlich, daß es sich hier  um einen Kampf handelt über die Herrschaft in Preußen zwischen dem  Hause der Hohenzollern und dem Hause der Abgeordneten  – eine Aeußerung, die damals mit einem Rufe des Staunens, der mißbilligenden Kritik, empfangen wurde  –, ich glaube, Sie werden heute diese Mißbilligung nicht mehr aussprechen können, sondern sich offen zu Ihren Thaten bekennen.“ „Ich gehe, um meine Behauptungen zu belegen, einige Stellen Ihres Berichtes durch, da ich wohl annehmen darf, daß Sie mit der Annahme des Antrages auch den Bericht Ihrer Kommission sich aneignen werden.“ „Nach der Verfassung steht Seiner Majestät dem Könige das Recht über Krieg und Frieden zu, steht Seiner Majestät dem Könige das Recht zu, seine Minister zu wählen, sowie die ganze Exekutivgewalt zu. Wie fassen Sie diese Bestimmungen nun auf? Sie sagen auf Seite 5, es liege Ihnen die Besorgnis nahe, daß die Richtung der Regierung den in der Resolution vom 2. Dezember ausgesprochenen Intentionen des Abgeordnetenhauses zuwiderlaufen könne. Das darf also nach Ihrer Meinung nicht sein, das darf sich die Krone nicht erlauben, daß sie eigene Intentionen hat in Bezug auf auswärtige Politik, die den Ihrigen zuwiderlaufen.“ „Seite 6 verlangen Sie, daß die Regierung des Königs nicht bloß den Willen habe, das Recht und die Ehre des Landes zu schützen, sondern auch die Maßregeln, welche im gegebenen Falle zur Lösung dieser Aufgabe erforderlich sind, der Erwägung des Abgeordnetenhauses entsprechend auswähle. Hier trifft also der Eingriff in die Exekutive nicht nur ihre Gesamtrichtung, son118

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dern auch die Details in den einzelnen Maßregeln. Sie setzen sich ein, meine Herren, als den diplomatischen Hofkriegsrat, von dessen Zustimmung die Aktion der Krone abhängt, dessen Genehmigung die Regierung selbst für die einzelnen Maßregeln in jedem gegebenen Falle notwendig bedarf, wenn sie handeln will.“ „Seite 7 machen Sie das Recht der Krone über Krieg und Frieden in dürren Worten von Ihrem Votum abhängig; die Argumentation, wie Sie dazu kommen, kann jeder selbst nachlesen.“ „Seite 8 sprechen Sie den Entschluß aus, die Regierung zur Aktion zu veranlassen. Das überschreitet an sich Ihren verfassungsmäßigen Beruf. Aber Sie fügen ausdrücklich hinzu: zu einer Aktion nicht nach dem Ermessen der Exekutivgewalt, sondern zu einer von Ihnen bestimmten Aktion, deren Ziele klar von Ihnen vorgeschrieben werden. Nun, wenn es irgendeinen Anspruch gibt, der Krone die ihr verfassungsmäßig zustehenden Rechte der Exekutive aus den Händen zu winden, so ist er in diesen Worten so klar ausgesprochen, wie es irgend sein kann.“ … … „Sie fordern auf Seite 15, daß der König auf Ihr Geheiß einen Eroberungskrieg führe, um Schleswig für den Herzog von Augustenburg zu gewinnen. Mit einem Worte, meine Herren, wenn man Ihr Vertrauen erwerben soll, so muß man sich Ihnen in einer Weise hingeben, wie es für die Minister des Königs von Preußen nicht möglich ist. Wir würden dann nicht königliche Minister, wir würden Parlamentsminister, wir würden Ihre Minister sein, und dazu, das hoffe ich zu Gott, werden wir nicht kommen.“ … „Meine Herren! Sie widersprechen durch Ihr Verhalten nicht nur der  Verfassung, sondern auch den Traditionen und der Geschichte, Sie widersprechen dem Volksgeist Preußens. Der Volksgeist Preußens ist durch und durch monarchisch, Gott sei Dank! Und dabei wird es auch trotz Ihrer ­Aufklärung, die ich Verwirrung der Begriffe nenne, bleiben. Sie widersprechen den ruhmvollen Traditionen unserer Vergangenheit, indem Sie die Stellung, die Großmachtsstellung Preußens, welche durch schwere Opfer  an  Gut und Blut des Volkes erkämpft wurde, desavouieren und damit der glorreichen Vergangenheit des Landes, indem Sie in einer Machtfrage zwischen der Demokratie und den kleinen Staaten auf der einen und dem preußischen Thron auf der andern Seite, für die erstgenannte Seite Partei nehmen. ­Indem Sie auf diese Weise dahin streben, Preußen unter eine Bundesmajorität zu mediatisieren, thun Sie, was Sie uns toto die ­vorwerfen. Sie setzen den Parteistandpunkt über die Interessen des ­Landes; Sie sagen: ‚Preußen mag bestehen, wie wir es wollen, oder, wenn nicht, so mag es zu Grunde gehen.‘ 119

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Sie fühlen – und gerade diese R ­ esolution19 ­beweist es mir mehr als jedes ­andere – Sie fühlen und denken nicht wie das preußische Volk.“ … … „Meine Herren! Fühlte das preußische Volk, wie Sie, so müßte man einfach sagen, der preußische Staat habe sich überlebt und die Zeit sei gekommen, wo er anderen historischen Gebilden Platz zu machen habe. So weit sind wir aber noch nicht. Ich erinnere Sie an eine Anekdote, die in früheren Zeiten bei der Grundsteuerverhandlung in diesen Räumen häufig citiert wurde. Es ist das Schreiben König Friedrich Wilhelms I. an ein Mitglied der ostpreußischen Stände bei Einführung der Grundsteuer. Er sagt darin, wenn ich mich der Worte richtig erinnere: „Was ich ruiniere, das ist das nie pozwalam20 der Junker; Ich etabliere die souveraineté comme un rocher de bronze.“ Meine Herren! Der rocher de bronze steht noch heute fest; er bildet das Fundament der preußischen Geschichte, des preußischen Ruhms, der preußischen Großmacht und des verfassungsmäßigen Königtums. Diesen ehernen Felsen werden Sie nicht zu erschüttern vermögen durch Ihren Nationalverein, durch Ihre Resolution und durch Ihr liberum Veto!“ Die Ablehnung der Anleihe wurde mit 275 gegen 51 Stimmen beschlossen, die Resolution Schulze aber angenommen. Das vom Kriegsminister vorgelegte Wehrdienstgesetz zogen die Abge­ ordneten gar nicht in Beratung und strichen, ebenso wie das frühere Haus im Jahre 1862, die durch die Heeresreform verursachten Kosten im Etat. Infolgedessen wurde das Etatsgesetz vom Herrenhause wieder verworfen und der Landtag am 25. Januar geschlossen.

* * *

19 Die von dem Abgeordneten Schulze-Delitzsch beantragte Resolution lautete: „In Erwägung, daß Preußen gemeinsam mit Oesterreich dem Bunde erklärt, es werde sich dem Bundesbeschlusse vom 14.  d. M. widersetzen, die Schleswig-Holsteinsche Sache in die eigene Hand nehmen und die Besetzung Schleswigs als europäische Großmacht ausführen; in Erwä­gung, daß Preußen damit von Deutschland abfällt und seine Großmachtstellung mißbraucht; in Erwägung, daß diese preußisch-österreichische Politik kein anderes Ergebnis haben kann, als die Herzogtümer abermals Dänemark zu überliefern; in Erwägung, daß die angedrohte Vergewaltigung den wahlberechtigten Widerstand der übrigen deutschen Staaten und damit den Bürgerkrieg in Deutschland herausfordert – erklärt das Haus der Abgeordneten, daß es mit allen ihm zu Gebote stehenden gesetzlichen Mitteln dieser Politik entgegentreten werde.“ 20 nie pozwalam (das erlaube ich nicht) waren die Worte, durch die jedes Mitglied des polnischen Reichstages einen Beschluß desselben entkräften konnte.

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Einen Aufschub der Feindseligkeiten zu erreichen, bemühten sich die Westmächte vergeblich. Kaiser Napoleon verhielt sich ablehnend gegenüber wiederholten Anträgen Englands auf gemeinschaftliche materielle Unterstützung Dänemarks. Infolgedessen ging auch England über die Linie mora­ lischen Beistandes nicht hinaus. Am 1. Februar überschritten die verbündeten Truppen die Eider. Nach mehreren Gefechten mit den tapferen, aber an Zahl schwächeren und militärisch weniger durchgebildeten Feinden, Gefechten, bei denen die österreichischen Truppen sich vorzüglich zu bewähren Gelegenheit hatten, kam man bis an die Grenze Jütlands. Hier aber wurde durch den König Halt geboten, weil man in Oesterreich besorgte, durch Ueberschreiten der schleswigschen Grenze die Westmächte zu thätigem Eingreifen zu reizen. General Edwin Manteuffel ging, von Bismarck mit ausführlichen Instruktionen versehen, in königlicher Spezialmission nach Wien. In mehrtägigen Verhandlungen gelang es ihm, die obwaltenden Bedenken abzuschwächen. Er vermochte der Ansicht Geltung zu verschaffen, daß es zu schneller Beendigung des Krieges unerläßlich sei, dem Feinde die aus dem weiten jütländischen Gebiete fließenden Hilfsquellen zu verschließen. Demnach wurde im März trotz tapferster Gegenwehr der Dänen der größte Teil Jütlands besetzt, im April aber die an der Ostküste Schleswigs belegene stark befestigte Stellung von Düppel nach mehrwöchentlicher Belagerung erstürmt.

* * * Der König fuhr am 21. April nach Flensburg, um die siegreichen Truppen zu begrüßen. Bismarck folgte ihm wegen eines eiligen Vortrages am 22. und nahm mich mit. Heller Sonnenschein lag auf der bräunlichen Heide, über welche der Zug von Schleswig nach Flensburg fuhr. Bismarck ließ während der ganzen Fahrt die Cigarre nicht ausgehen und sprach im Ganzen wenig. Einmal aber sagte er halblaut: „Es ist nicht leicht zu begreifen, weshalb eigentlich die Oesterreicher mit uns hierhergekommen sind, wo sie doch nicht bleiben können. Diplomatisch waren sie allerdings seit Jahren gegen Dänemark engagiert; sie haben es mehrere Male nachdrücklich aufgefordert, den Londoner Vertrag zu erfüllen. Aber das militärische Zwangsverfahren hätten sie uns allein überlassen können. Vielleicht ist es dem Kaiser ganz erwünscht gewesen, einem Teil seiner Truppen eine gute Gelegenheit zu geben, sich in einem Winter121

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feldzug als kriegstüchtig zu bewähren. Vielleicht hat der hohe Herr auch Vertrauen zu unsrer konservativen Politik; ich kann mir nicht denken, daß das parlamentarische Getreide der Mittelstaaten ihm sympathisch ist. Das Hauptmotiv aber des österreichischen Mitgehens wird wohl die Besorgnis gewesen sein, daß wir in Deutschland zu mächtig werden würden, wenn wir allein die dänische Sache zum Austrage brächten. Unsere Stellung den Mächten gegenüber wäre freilich schwierig geworden, wenn wir allein die Cam­ pagne übernahmen. Zur Vermeidung von Interventionsversuchen war es von großem Wert, daß österreichische Truppen mit den unsern marschierten. Aber es war schwer zu erreichen, daß sie nach Jütland hineingehen durften – Edwin hat sich da mit Ruhm bedeckt – und solche Schwierigkeiten können bei jedem weiteren Schritte wiederkommen. Bis jetzt haben wir unsere Bundesgenossen wie an einem dünnen Faden mit uns gezogen; aber der Faden kann auch einmal reißen.“ In Flensburg wurde übernachtet bei einem liebenswürdigen Rechtsanwalt Namens Schulz, der dem Minister sehr gut gefiel. Am andern Morgen besuchten wir die Schanzen auf der Höhe von Düppel, deren Böschungen im Süden nach einer breiten Meeresbucht, im Osten nach dem Alsensund sanft abfallen. Bekannte Offiziere berichteten über die in drei Stunden vollbrachte Erstürmung aller Festungswerke. Zwei Thaten Einzelner schienen dem Minister besonders denkwürdig. Der Pionier Klincke hatte, um in dem Palissadenwalle eine Oeffnung zu schaffen, durch Anzünden eines Pulversackes sich selbst mit einigen Palissa­ den in die Luft gesprengt. Hauptmann Stöphasius vom Magdeburgischen Artillerieregiment war so schnell in eine große Mine eingedrungen, daß er dem dänischen Feuerwerker, der gerade das Pulver entzünden wollte, die Lunte entreißen konnte. Alle Eindrücke, die Bismarck bei Flensburg aus militärischen Kreisen erhielt, erfrischten ihn und bestärken seinen Glauben, daß die seit 1860  in der Armee eingeführten Verbesserungen schon in diesen wenigen Jahren die Leistungsfähigkeit der organisierten Truppenkörper wie des einzelnen Mannes bedeutend erhöht hätten. Im Gefolge des Königs kehrten wir am Abend des 23. zurück.

* * * In Berlin war nach dem ersten Kanonenschuß ein Umschwung der Stimmung eingetreten. Man nahm lebhaften Anteil an den Leistungen unserer und der österreichischen Regimenter, die in Schnee und Eis biwakierten, 122

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als wären sie das immer gewöhnt gewesen, und die bei berechtigtem Selbstgefühl auch den Freunden ihre glänzenden Erfolge neidlos gönnten. Die Nachrichten von Düppel zumal riefen in der ganzen Stadt freudige Erregung hervor. Als Abendgäste im bismarckschen Hause erschienen nach der Jahreswende auch öfters einige der Legationssekretäre, die, aus dem Auslande zurückgekehrt, eine Zeit lang im Ministerium beschäftigt werden sollten. Es waren dies: Graf Wesdehlen, Graf Limburg-Stirum, Herr von Holstein und Graf Heinrich Keyserling. Der Charakter des eigentümlich anmutenden ­Salons blieb jedoch immer derselbe; es schien, als sei man in einem großen Landhause versammelt.

* * * Bald nach der Einnahme von Düppel wurde eine nach London zu Friedensvermittlungsversuchen einberufene Konferenz eröffnet. Vertreten waren dort die Großmächte, der Deutsche Bund, Dänemark und Schweden. Ein Waffenstillstand wurde vereinbart, welcher vom 12. Mai bis zum 26. Juni gedauert hat. Preußen und Oesterreich erklärten, die einzige sichere Grundlage eines dauerhaften Friedens würde in politischer Trennung der Herzogtümer von Dänemark zu finden sein. Die dänischen Bevollmächtigten aber verwarfen sofort diese Lösung auch für den Fall, daß dem König Christian IX. die Landeshoheit in den Herzogtümern zugedacht wäre. Durch diese Erklärung wurde das Ziel der österreichischen Aktion, nämlich die Personalunion der Herzogtümer mit Dänemark (durch den Träger der dänischen Krone), endgültig beseitigt. Man forderte daher die deutschen Mächte zu anderen Vorschlägen auf. Bismarck stellte nun in einer merkwürdigen, nach Wien gerichteten Depesche drei andere Lösungen zur Wahl, obwohl er natürlich voraussah, daß jede derselben von Dänemark ebenfalls abgelehnt werden würde, nämlich: Einsetzung des Erbprinzen von Augustenburg, oder des Großherzogs von Oldenburg, welcher ebenfalls Erbansprüche angemeldet hatte, als Herzog oder preußische Annexion der Herzogtümer. Für diese letztere Lösung waren in jüngster Zeit sowohl in Preußen als in der Ritterschaft der Herzogtümer gewichtige Stimmen öffentlich eingetreten; doch erklärte Bismarck sich weit davon entfernt, durch Bestrebungen in dieser Richtung europäische Verwickelungen hervorrufen oder das Einverständnis mit Oesterreich gefährden zu wollen. 123

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Rechberg gab sofort seine Zustimmung zu dem ersten dieser Vorschläge zu erkennen, und so wurde denn merkwürdigerweise am 28. Mai in L ­ ondon als die am leichtesten ausführbare Lösung die Einsetzung des Erbprinzen von Augustenburg als Herzog von Schleswig-Holstein bezeichnet. Aber nicht nur Dänemark, sondern auch Rußland und die Westmächte lehnten diesen Vorschlag mit aller Entschiedenheit ab. In einer späteren Sitzung teilte der russische Bevollmächtigte mit, daß der Kaiser Alexander die Erbansprüche des Hauses Gottorp auf Teile von Schleswig-Holstein an den Großherzog von Oldenburg abgetreten habe. Es wurden nun auf der Konferenz noch verschiedene Anträge von englischer, französischer und preußischer Seite gestellt: wegen einer Teilung Schleswigs in deutsche und dänische Distrikte, wegen bezüglicher Befragung der Bevölkerungen, wegen Vermittelung einer unparteiischen Macht in Bezug auf die Grenzlinie und wegen Verlängerung des Waffenstillstandes. Alle diese von deutscher Seite angenommenen Vorschläge wurden jedoch von Dänemark abgelehnt, welches immer noch auf materielle Unterstützung durch England hoffte. Die Konferenz blieb daher resultatlos und wurde am 25. Juni geschlossen. Eine nach wenigen Tagen folgende Besprechung des Krieges im eng­ lischen Parlament vernichtete die Hoffnung der Dänen auf fremden Beistand.

* * * Bald nach Oesterreichs Erklärung zu Gunsten des Erbprinzen von Augusten­burg hatte Bismarck sich mit demselben in Verbindung gesetzt, um zu erfahren, wie weit er geneigt sein würde, durch Konzessionen in Bezug auf Land- und Seewehr den preußischen und den allgemeinen deutschen Interessen entgegenzukommen. Es schien natürlich, daß ein selbständiger Herzog von Schleswig-Holstein Angriffen von Norden her in jeder europäischen Krise ausgesetzt sein und daß deren Abwehr vornehmlich Preußen zur Last fallen würde. Bismarck war daher entschlossen, die Einsetzung eines Landesherrn in den Herzogtümern nur unter der Bedingung zu gestatten, daß derselbe Bürgschaften gäbe für genügende Ausbildung der Wehrkräfte des Landes und Stellung derselben unter preußischen Oberbefehl. Die entgegengesetzte Auffassung war in den österreichischen Landen verbreitet. Die Bevölkerung war dort bundesfreundlich und augustenburgisch gesinnt, der Krieg an Preußens Seite immer sehr unpopulär gewesen. Als 124

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nun im Mai der Erbprinz von Preußen selbst vorgeschlagen wurde, brachten alsbald Wiener Blätter diese frohe Kunde, mit dem Hinzufügen jedoch, daß der Herzog, um als Bundesfürst anerkannt zu werden, keinerlei Hoheitsrechte an eine andere Macht abtreten dürfe. Solche Preßstimmen waren nach Berlin gedrungen, aber keine Kunde von einer Thatsache, die erst durch die Denkwürdigkeiten des Herzogs Ernst von Koburg21 bekannt geworden ist. Graf Rechberg selbst nämlich hat dem augustenburgischen Agenten in Wien, Herrn von Wydenbruck, heimlich mitgeteilt, Oesterreich wolle für die Einsetzung des Erbprinzen als Herzog eintreten, wenn derselbe nicht etwa Konzessionen, die mit der Stellung eines selbständigen Bundesfürsten unverträglich wären, einem anderen Bundesstaate einräumen würde. So eindringlich gewarnt, kam der Erbprinz nach Berlin. Es war natürlich, daß er in seiner dreistündigen Unterredung mit Bismarck (am 1. Juni) sich sehr zurückhaltend zeigte, um die Unterstützung Oesterreichs und des Bundes nicht zu verlieren. Die Folge dieses Gespräches war, daß Bismarck die Einsetzung des Prinzen dem preußischen wie dem allgemein deutschen Interesse nachteilig erachtete und demgemäß handelte22. Graf Rechberg hatte bei seiner geheimen Eröffnung an den Augustenburger Agenten anscheinend nur das formale Bundesrecht vor Augen, ohne daran zu denken, daß die Folgen dieser Instruktion für die Förderung der preußischen Annexion und die Sprengung des Bundes wirksam werden konnten. Bald nach dieser Unterredung beauftragte Bismarck unsere Vertreter in London und Paris, die Kandidatur Augustenburg in keiner Weise weiterzufördern, nach Petersburg und Wien aber teilte er mit, daß infolge der Ablehnung des bezüglichen Vorschlags vonseiten aller Neutralen sowie der Abtretung der gottorpschen Erbansprüche an den Großherzog von Oldenburg d i e s e r Prätendent nunmehr in den Vordergrund trete. Auf die Vorlesung dieser Depesche durch den Gesandten erwiderte Rechberg nur mündlich, 21 Ernst II., Herzog von Koburg-Gotha, Aus meinem Leben und aus meiner Zeit (Berlin, Herz 1889). Bd. III, S. 444. 22 In seinem von mir aufrichtig bewunderten Werke über den „Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland“ sagt Friedjung (I, S. 95), Bismarck habe durch sofortige Publikation seiner Aufzeichnungen über den Inhalt jener Unterredung in Preußen gegen den Erbprinzen Stimmung machen wollen. Diese Behauptung ist unhaltbar. Denn die fragliche Publikation im Reichsanzeiger erfolgte (wie auf Seite 96 von Friedjung selbst richtig angegeben ist) am 2. Juli 1865, also Jahr und Tag später, und wurde veranlaßt durch das natürliche Bedürfnis der Abwehr gegen die von einem holsteinischen Blatte auf Grund unvollständiger Mitteilungen über jene Unterredung gegen Bismarck gerichteten Angriffe.

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wir würden unsere Position den Neutralen gegenüber wohl nicht verbessern, wenn wir so schnell unsere Stellung wechselten. Am 18. Juni reiste der König nach Karlsbad; abends folgte Bismarck, ­begleitet von mir und zwei Beamten des Chiffrierbureaus, die sich in einen ­anderen Wagen des Eisenbahnzuges setzten. In der Abenddämmerung sagte der Minister: „Meine Kindheit hat man mir in der Plamannschen Anstalt verdorben, die mir wie ein Zuchthaus vorkam. Infolgedessen werden meine Jungen natürlich verzogen; vielleicht aber werden Herberts Kinder wieder sehr streng gehalten werden. Ich weiß von mehreren Familien, in denen die Erziehungsweise gewechselt hat; auf eine verprügelte Generation folgte eine verzogene und dann wieder eine verprügelte. Es ist ja natürlich, daß Eltern wünschen, den Kindern das zu gewähren, was bei ihrer eigenen Erziehung gefehlt hat. „Ich war vom 6. bis zum 12. Jahre in der Plamannschen Erziehungsanstalt, welche damals für eine mustergültige Verwirklichung pestalozzischer Prinzipien gehalten wurde. Bis zum 6. Jahre war ich in Kniephof fast immer in freier Luft oder in den Ställen gewesen. Ein alter Kuhhirt warnte mich einmal, nicht so zutraulich bei den Kühen herumzukriechen. Die Kuh, sagte er, kann dir mit dem Hufe ins Auge treten. Die Kuh merkt nichts davon und frißt ruhig weiter, aber dein Auge ist dann futsch. Daran habe ich später mehrmals gedacht, wenn auch Menschen, ohne es zu ahnen, anderen Schaden zufügten. „Die Plamannsche Anstalt lag so, daß man auf einer Seite ins freie Feld ­hinaussehen konnte. Am Südwestende der Wilhelmstraße hörte damals die Stadt auf. Wenn ich aus dem Fenster ein Gespann Ochsen die Ackerfurche ziehen sah, mußte ich immer weinen vor Sehnsucht nach Kniephof. In der ganzen Anstalt herrschte rücksichtslose Strenge. Einmal war im Nachbarhause jemand gestorben. Ich hatte noch nie einen Toten gesehen und kletterte durch ein Fenster, um die Leiche genau zu betrachten. Dafür wurde ich hart bestraft. Mit der Turnerei und jahnschen Reminiscenzen trieb man ein gespreiztes Wesen, das mich anwiderte. Kurz, meine Erinnerungen an diese Zeit sind sehr unerfreulich. Erst später, als ich aufs Gymnasium und in eine Privatpension kam, fand ich meine Lage erträglich.“ In Leipzig wurde übernachtet. Am andern Morgen im Eisenbahnwagen rauchend, sagte der Minister: „In den nächsten Tagen wird viel zu reden sein. Der Kaiser Franz J­ oseph kommt nach Karlsbad und Rechberg will mich vorher sprechen. England hat vorgeschlagen, daß wir eine neutrale Macht ersuchen sollen, als Schieds126

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VI. Zusammengehen mit Oesterreich … November 1863 bis Juli 1864.

richter eine Linie zu bestimmen, um in Schleswig die Deutschen von den Dänen zu trennen. Der König sieht aber zu einem Schiedsgericht keinen Anlaß und würde nur eine freundschaftliche Vermittelung annehmen. Rechberg besorgt nun, England würde deshalb in den Krieg eintreten; aber da Louis nicht mitmachen will, ist das sehr unwahrscheinlich. Uebrigens werden die Dänen vermutlich in Bezug auf die Grenzlinie auch die bloße Vermittelung einer anderen Macht ablehnen. Der Fortgang des Krieges nach Ablauf des Waffenstillstandes ist vorauszusehen, und wir müssen auf die Inseln, um rasch zu Ende zu kommen. Aber das wollen unsere Freunde nicht, um nicht den englischen Löwen zu reizen, der doch gar nicht blutgierig ist.“ Bald darauf hielt der Zug in Zwickau. „Da steht Rechberg“, sagte der ­Minister. Eine mittelgroße, schlanke Gestalt, ein feiner Kopf, lebhafte graue Augen unter einer Brille, um die Lippen ein Zug von Gutmütigkeit. Ich stieg in einen anderen Abteil, um die Minister allein zu lassen. Bei der Station Schwarzenberg endete die Eisenbahn und standen Postwagen bereit. Ich fuhr zusammen mit einem Wiener vortragenden Rat, welcher das nahe bevorstehende Glück der eichenbekränzt heimkehrenden Krieger und ihrer Familien lebhaft ausmalte. Abends hielt der Wagen in Karlsbad vor dem Gasthof „Zum Blauen Schiff “, wo passende Bureauräume gemietet waren. Bismarck wohnte aber im Nebenhause, was den amtlichen Verkehr erschwerte. Er zog daher nach Abreise der österreichischen Gäste mit allen Beamten in die „Drei Lerchen“. Am 21. Juni kam Abeken an, der begabteste Rat unseres Ministeriums. Nach langen Verhandlungen kamen die beiden Minister zu einem Einverständnis erst dann, als Bismarck angedeutet hatte, daß der König keinesfalls auf halbem Wege stehen bleiben, sondern nötigenfalls den Krieg allein zu Ende führen würde. Rechberg gab nach, daß die zu Schleswig gehörige Insel Alsen erobert und Jütland bis zur Nordspitze besetzt werden könne. Einen Angriff auf Fünen wollte er nicht genehmigen. Doch wurden auf Bismarcks Veranlassung auch zu diesem Angriff alle militärischen Vorbereitungen für den Fall getroffen, daß die Eroberung von Alsen nicht genügen sollte, um den Krieg zu beendigen. Die Zusammenkunft der Monarchen gab dem Bündnisse erneute Festigkeit. Bald nach dem Ablaufe des Waffenstillstandes gelang die Eroberung der Insel Alsen. Dieses Ereignis brach die dänische Widerstandskraft; man fühlte sich auch auf den Inseln nicht mehr sicher. Der Wunsch nach Waffenstill127

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stand und Frieden wurde von dänischer Seite ausgesprochen und v­ eranlaßte Verhandlungen, welche uns demnächst nach Wien führen sollten. Für Bismarck waren die Karlsbader Wochen zwar arbeitsvoll, aber, mit seiner Berliner Existenz verglichen, doch eine Erholungszeit. Täglich machte er weite Spaziergänge in den ausgedehnten städtischen Waldungen; abends fand er mitunter die Zeit, im Gasthof „Zur Stadt Hannover“, wo sich mehrere Herren des königlichen Gefolges zu versammeln pflegten, ein Glas Pilsener Bier zu nehmen. Die tägliche Geschäftslast war allerdings groß; Telegramme gingen ohne Unterlaß ein und aus, und mehrmals in der Woche brachten Feldjäger wohlgefüllte Mappen mit Schriftstücken des Auswärtigen Amtes und des Staatsministeriums; die unmittelbare Nähe des Bureaus aber, welches neben dem Wohnzimmer des Ministers lag, und der in jedem Augenblicke bequeme Verkehr mit nur zwei Räten, welche von morgens 8  bis abends 8 Uhr (mit Ausschluß der Mittagsstunde) am Arbeitstische saßen, erleichterte schnelle Erledigung aller Eingänge. Abeken war mir an Arbeitsfähigkeit und Kenntnissen weit überlegen, aber der denkbar liebenswürdigste Kamerad. Ihm war die ganze diplomatische Korrespondenz zugewiesen, ich hatte die nicht politischen auswärtigen sowie alle inländischen Angelegenheiten einschließlich der Verwaltung von Schleswig zu erledigen, wo seit unserer Besetzung des Landes der Regierungspräsident Freiherr von Zedlitz-Neukirch die Civilbehörden beaufsichtigte. Jeder las die ganze Korrespondenz des anderen. Vor und nach der Arbeitszeit pflegten wir Waldspaziergänge zu machen. Einen besonderen Reiz erhielt Karlsbad im Sommer 1864 durch die Anwesenheit23 der Frau Großfürstin Helene von Rußland. Die hohe Frau veranstaltete mitunter kleine Abendunterhaltungen für den König, bei denen Bismarck erschien und ich für Musik sorgen durfte. Auch mit Einladungen zu anderen Abenden wurden Abeken und ich öfters beehrt. Am 19. Juli, dem Tage vor der Abreise Seiner Majestät nach Gastein, waren wir alle zur königlichen Tafel befohlen. Unmittelbar nach Aufhebung derselben kam aus Rendsburg ein Telegramm, welches so laut verlesen wurde, daß alle Anwesenden es hören konnten. Unsere dortigen Hospitale, hieß es, seien bedroht infolge einer Schlägerei zwischen preußischen und den unter hannöverschem Oberbefehl stehenden Bundestruppen. Einige Gesichter verfärbten sich, Bismarck lächelte. Er folgte dem König in ein Nebenzimmer. Ich ging sofort nach dem Bureau, um für eine vermutlich erforderliche tele-

23 Der Sohn desselben ist seit vielen Jahren Führer der Freikonservativen im Abgeordnetenhause.

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graphische Antwort zur Hand zu sein. Bald darauf kam der Minister aus seinem Wohnzimmer an meinen Arbeitstisch und fragte leichthin: „Was würden Sie jetzt thun?“ „Rendsburg mit überlegener Macht besetzen.“ „Ist schon angeordnet,“ erwiderte er und ließ mich allein. Am 21. fuhr er mit Abeken und mir im offenen Wagen bei hellem Sonnenschein durch das anmutige Böhmerland nach Prag. Keine Silbe von Politik. Am 22. fanden wir auf der Eisenbahnfahrt nach Wien in Prager Zeitungen die Mitteilung, Rendsburg wäre plötzlich von 6000 Preußen besetzt worden und die Bundestruppen hätten sich von dort zurückgezogen. In der ­Wiener Tagespresse veranlaßte dieses Ereignis heftige Ausfälle gegen den preußischen Uebermut; nur e i n wenig bekanntes Blatt verteidigte die Maßregel. Bei Besprechung der Sache mit Graf Rechberg betonte Bismarck, daß es schon im Privatverkehr, noch mehr aber im internationalen, ratsam sei, Ungebührliches nicht stillschweigend hinzunehmen. Er wohnte bei Baron Werther, unserm Gesandten, und wir im Gasthof. In diesen Wiener Tagen (23. Juli bis 1. August) war die Arbeitslast für Abeken und mich nicht schwer, da wir den Verhandlungen der Minister mit den dänischen Bevollmächtigten nicht beizuwohnen hatten und deren Ergebnisse sich ziemlich einfach gestalteten. Der König von Dänemark trat seine Landeshoheit in den Herzogtümern Schleswig-Holstein und Lauenburg an die verbündeten Monarchen ab. Von verschiedenen Seiten wurde uns erzählt, wie Bismarcks persönliches Eingreifen in die Verhandlungen die Gegner zu bedingungsloser Nachgiebigkeit bewogen hatte. An der kaiserlichen Tafel in Schönbrunn wurden Abeken und ich zwischen hohen Würdenträgern placiert; einer meiner Nachbarn war General Graf Clam-Gallas. Ein kleines. Diner auf dem Landhause des Grafen Rechberg in Kettenhof bei Schwechat verlief sehr behaglich. In amtlichen Kreisen schien das Ergebnis des Präliminarfriedens volle Befriedigung hervorzurufen; die Herzogtümer waren vom dänischen Drucke für immer befreit. In unabhängigen Wiener Kreisen aber trat, wie ich von einem befreundeten Landsmann erfuhr, die Freude über die Erwerbung Schleswig-Holsteins weit zurück hinter die Sorge, daß Preußen demnächst überwiegende Vorteile gewinnen und Oesterreich zu kurz kommen würde.

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VII. Allmähliche Lockerung des österreich. Bündnisses. Gasteiner Vertrag. August 1864 bis August 1865. Am 1. August abends fuhr der Minister mit Abeken und mir nach Salzburg, am 2. im offenen Postwagen nach Gastein. Er hatte sich in Berlin eine Menge österreichischer Silbergulden einwechseln lassen, um sie als Trinkgelder zu verwenden und, wie er scherzweise sagte, auch den Postillonen, die vermutlich seit Jahren nichts als Papiergeld gesehen hätten, eine Vorstellung von der Ueberlegenheit der preußischen Finanzen zu geben. Es amüsierte ihn, die erstaunten Gesichter der Leute zu beobachten, wenn ich ihnen die blanken Silberlinge einhändigte. Den Aufenthalt im engen Hochgebirgsthal von Gastein liebte Bismarck nicht, obwohl die dortigen Bäder ihm zusagten. Er sprach öfters aus, daß der Mangel eines weiten Horizonts ihm unerfreulich wäre und daß er die der Jahreszeit gemäßen Getreidefelder ungern vermißte. Man hatte für ihn keine andere Wohnung gefunden, als zwei Zimmer in dem großen Straubingerschen Gasthofe, der unmittelbar an dem berühmten Wasserfalle liegt. Das unaufhörliche Brausen der hoch herabstürzenden Wassermassen quälte seine empfindlichen Nerven. Jetzte erst meinte er, „den tiefen Sinn des alten Liedes ‚Büchlein laß dein Rauschen sein‘ ganz zu erfassen“. Berge zu ersteigen, sagte er, hätte ihm nie rechte Freude gemacht. Als Student wäre er einmal trotz starken Nebels auf den Rigi gestiegen und, als nach dem Herabsteigen das Wetter sich klärte, sogleich zum zweiten Mal. An so etwas auch nur zu denken, wäre ihm jetzt unbehaglich. In der Ebene gehe und reite er gern und ausdauernd; starke Steigungen aber wären ihm unerwünscht. Als die Kur des Königs beendet war, gab der Minister sich und uns drei Ferientage. Ohne Telegrammadressen zu hinterlassen, fuhren wir bergab und seitwärts nach Radstadt, am zweiten Tage nach Hallstadt und trafen am dritten in Ischl wieder mit dem königlichen Gefolge zusammen. 130

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VII. Allmähliche Lockerung des österreich. Bündnisses … August 1864 bis August 1865.

Dann waren wir alle während dreier Tage Gäste Seiner Majestät des Kaisers Franz Joseph in Schönbrunn. Zwei große Treibjagden, im Walde auf Hirsche und im Felde auf niederes Wild, machten dem Minister viel Vergnügen. In diesen sonnigen Festtagen kam aber die Frage der Zukunft Schleswig-Holsteins ihrer Lösung nicht näher. Der König wünschte eine baldige Entscheidung nicht, weil die verschiedenen Erbansprüche noch nicht gründlich geprüft waren. Bei Berührung der Möglichkeit einer preußischen Annexion trat hervor, daß Oesterreich eine solche nur gegen Abtretung deutschen Gebietes oder Garantie für seinen außerdeutschen Besitz genehmigen würde, daß aber der König beide Bedingungen unannehmbar fand. Er hätte eher auf Schleswig-Holstein verzichtet als ein Stück von Schlesien abgetreten oder eine Garantie in Betreff Venetiens übernommen. Auch bei den handelspolitischen Besprechungen kam es zu keinem klaren Ergebnis. Die durch den preußisch-französischen Handelsvertrag von 1862  verursachte Zollvereinskrise war damals noch nicht ganz beendigt, wenn auch der endliche Beitritt der noch zögernden Staaten (Bayern, Württemberg, Hessen-Darmstadt und Nassau) als wahrscheinlich galt. Mit diesen zusammen hatte Rechberg in den Jahren 1862 und 63 gegen Ausdehnung des preußisch-französischen Handelsvertrages gewirkt. Man bezog sich dabei auf einen in dem preußisch-österreichischen Handelsvertrage von 1853 enthaltenen Artikel (25.), welcher zusagte, daß nach zwölf Jahren (also 1865) über eine vollständige Zolleinigung zwischen Preußen und Oesterreich verhandelt werden sollte. Aus dieser Zusage wollte man folgern, daß Preußens Tarifpolitik keine Richtung einschlagen dürfe, welche die Zolleinigung mit Oesterreich erschweren würde. Zu Ende des Jahres 1863 hatte nun zwar Graf Rechberg aus politischen Rücksichten diesen Kampf eingestellt; im Juli 1864 aber war er mit den genannten früheren Kampfgenossen übereingekommen, die jetzt offenbar nicht zu erreichende Zolleinigung wenigstens für die Zukunft als ein zu erstrebendes Ziel festzuhalten. Er legte daher hohen Wert darauf, daß die erwähnte Zusage des alten Vertrages (Art. 25) in den neuen Handelsvertrag ausgenommen würde, welcher im Jahre 1865 wieder auf 12 Jahre mit Preußen abzuschließen war. Er deutete an, daß entgegengesetzten Falles seine Ministerstellung unhaltbar werden würde. Bismarck war verwundert, daß sein Kollege einer offenbar inhaltleeren Phrase so große Wichtigkeit beimaß; denn da für eine vollständige Zolleinigung zwischen dem Deutschen Zollverein und Oesterreich gewisse unerläßliche Vorbedingungen fehlten, war mit Sicherheit vorauszusehen, daß 131

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dieses Ziel 1877 ebenso unerreichbar sein würde wie 1865. Er fand aber das Versprechen, nach 12  Jahren über eine unlösbare Aufgabe zu verhandeln, völlig ungefährlich und sagte zu, in Berlin bei den Fachministern für Erfüllung dieses Wunsches zu thun, was er vermöchte. So trennte man sich in Freundschaft24. Auf der Durchreise nach Baden besuchte Bismarck in München den Minister von Schrenck. Eine Nacht blieben wir in Augsburg in dem berühmten Gasthof „Zu den drei Mohren“. Dort wurde das Frühstück vor demselben Kamine serviert, in welchem Anton Fugger vor den Augen Kaiser Karls V. dessen Schuldschein verbrannt hat. Am 29. August abends kamen wir nach Baden, wo der preußische Gesandte, Graf Flemming, eine zwischen bewaldeten Hügeln schön gelegene Villa, in welcher auch er mit seiner Familie wohnte, für Bismarck und dessen Begleiter gemietet hatte. Die nun folgenden sonnigen Herbsttage in Waldesstille wären für Bismarck erquicklich gewesen, wenn nicht ein Uebermaß von Geschäften und Besuchen ihn täglich ermüdet hätte. Doch schaffte er sich mitunter eine freie Stunde, um dem schönen Violoncellspiel des Grafen Flemming mit Behagen zuzuhören. Nach kurzem Aufenthalt in Frankfurt kehrten wir am 12. September nach Berlin zurück. Der Minister fuhr bald darauf zu seiner nicht unbedenklich erkrankten Gemahlin nach Reinfeld und verweilte dort bis zum 27. Dann reiste er am 1. Oktober mit Abeken und mir wieder nach Baden und am 5. allein nach Biarrits. 24 Am Tage der Abreise des Königs (25. August) gab Graf Rechberg dem Kollegen ein diplomatisches Diner, nach welchem der französische Botschafter Herzog von Gramont (Mémor: l’Allemagne nouvelle. Paris. Dentu. 1879, p. 148) von Bismarck folgende Worte über die Zukunft der österreichischen Monarchie gehört haben will: „Ce qui est allemand retournera tôt ou tard à l’Allemagne, c’est inévitable. Il n’est pas plus difficile de gouverner Vienne de Berlin que de gouverner Pesth de Vienne. Ce serait même beaucoup plus facile.“ Diese Aeußerungen find mehrfach reproduziert worden (s. z. B. Kohl, Regesten I, S. 238). Friedjung bezeichnet (I, S. 97) die ganze bezügliche Mitteilung als „mit Vorsicht hinzunehmen“. Ich war nicht Zeuge jener Unterhaltung und kann daher nicht kategorisch dementieren, halte mich aber für verpflichtet, die Ueberzeugung auszusprechen, daß Bismarck jene Aeußerungen nicht gethan haben kann. Denn in den neun Jahren seines täglichen Verkehrs mit mir habe ich oft genug von ihm gerade die entgegengesetzten Ansichten aussprechen hören, nämlich: die Deutsch-Oesterreicher würden niemals mit uns in einem Staatswesen verbunden werden können; schon allein die Existenz der Stadt Wien mache das unmöglich. Dieselbe Ueberzeugung ist auch in den „Gedanken und Erinnerungen“ ausgesprochen (Bd. II, S. 45). Ich darf übrigens daran erinnern, was den Zeitgenossen bekannt war, daß Bismarck, auch nach gelegentlichem Genuß schwerer Weine, sich immer bewußt geblieben ist, zu wem, wo und was er sprach. Nun hat er oft gesagt: Was einer im diplomatischen Corps weiß, pflegen bald alle zu erfahren und dann kommt es an den auswärtigen Minister. Demnach halte ich für undenkbar, daß er im Hause des freundlichen Gastgebers zu einem Mitgliede des diplomatischen Corps Aeußerungen gethan haben könnte, deren Wiederholung den von ihm als unersetzlich betrachteten politischen Freund tödlich hätte verletzen müssen.

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VII. Allmähliche Lockerung des österreich. Bündnisses … August 1864 bis August 1865.

Die dienstlichen Sommerreisen hatten für mich die Folge, daß ich angewiesen wurde, wie unterwegs so auch in Berlin, alle Eingänge und Ausgänge der politischen Abteilung täglich zu lesen. Von da ab mußte also jede Bewegung unserer auswärtigen Politik zu meiner Kenntnis kommen.

* * * Während der auf die Abreise von Schönbrunn folgenden sechs Wochen hatte Bismarck vielfach über Rechbergs erwähnten Wunsch in Betreff des Handelsvertrags sowohl mit unsern Fachministern als mit dem österreichischen Kollegen korrespondiert. Einigung war aber in Berlin auch durch mündliche Besprechungen nicht zu erreichen. Der damalige Leiter der Zollvereinspolitik, Ministerialdirektor Delbrück, erklärte, ins Privatleben zurücktreten zu wollen, wenn durch Wiederaufnahme des Versprechens, nach 12 Jahren über Zolleinigung mit Oesterreich zu verhandeln, die Quelle der zollpolitischen Intrigen der letzten Jahre offengehalten würde. Sein Chef, der Handelsminister, trat für Delbrücks Auffassung ein, ebenso der Finanzminister. Bismarck drang mit Entschiedenheit darauf, daß zur Erhaltung des einzigen Wiener Vertreters der preußischen Allianz in seiner leitenden Stellung eine Phrase in den Vertrag gesetzt würde, welche, wenn wir unserer Festigkeit vertrauten, praktische Bedeutung nie erhalten könnte. Die Nichtgewährung dieser rein formellen Konzession müsse in Wien den Eindruck machen, als ob uns das Stehen oder Fallen des Grafen Rechberg gleichgültig sei. Der König entschied für die Fachminister. Dem Vernehmen nach war Sr.  Majestät die innere Unwahrheit unannehmbar, welche in dem Versprechen gelegen hätte, über etwas zu verhandeln, was man unter keinen Umständen zu konzedieren fest entschlossen war. Wenn die Stellung des Grafen Rechberg von einer solchen Phrase abhing, so mußte sie schon tief erschüttert sein; und, um ihn vielleicht noch kurze Zeit am Ruder zu halten, wäre der Verlust des unersetzlichen Delbrück ein zu großes Opfer. Der preußische Bevollmächtigte zu den in Prag beabsichtigten Konferenzen über den Handelsvertrag erhielt demnach entsprechende Instruktion. Rechberg fühlte sich tief gekränkt. Bismarck erhob noch von Biarrits aus telegraphisch und schriftlich dringende Vorstellungen, um nachträgliche Gewährung der verlangten ­Konzession zu erreichen, aber vergeblich. Die Preisgebung des Grafen Rechberg gerade in diesem Augenblick hielt er für einen schweren politischen 133

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Fehler; an Roon schrieb er aus Biarrits, er müsse sich von aller Verantwortung für die Rückwirkungen dieses Fehlers auf unsere auswärtige Politik lossagen. Sein nachhaltiger Kummer über den harten Eingriff der Fachminister in die schonungsbedürftigen Beziehungen zu Oesterreich beweist unwiderleglich, wie ernst sein Bestreben war, die obwaltenden Schwierigkeiten friedlich auszugleichen, und wie fern ihm der Gedanke lag, durch einen großen Krieg Gelegenheit zur Lösung des preußischen Verfassungskonflikts suchen zu wollen. Diesen hoffte er durch vieljährige Konsequenz endlich zu annehmbarem Austrage zu bringen. Der unaufhörlich wiederholte Vorwurf des Verfassungsbruches würde, meinte er, sich nach und nach abstumpfen und auf die öffentliche Meinung geringere Wirkung ausüben als zu Anfang des Konflikts. Rechberg trat Ende Oktober, kurz vor dem endgültigen Abschluß des „Wiener Friedens“ mit Dänemark, in das Privatleben zurück. Wenn Bismarck von dessen geheimen Eröffnungen an den Erbprinzen von Augustenburg Kenntnis gehabt hätte, würde er den Sturz desselben wohl nicht so schmerzlich bedauert haben. Denn danach mußte ausgeschlossen erscheinen, daß dieser Vertreter der preußischen Allianz unsere für die Einsetzung eines Herzogs in Schleswig-Holstein notwendigerweise zu stellenden Bedingungen hätte befürworten oder gar bei dem Widerstreben der ganzen politischen Welt Wiens zur Annahme bringen können. In Schönbrunn war nun bereits hervorgetreten, daß Oesterreichs Zustimmung zur Annexion nur unter einer für den König unannehmbaren Bedingung erreichbar schien. Kriegerische Lösung der Frage war daher, auch wenn Rechberg im Amte blieb, wahrscheinlich. Wäre es jedoch dessen vermittelnder Thätigkeit gelungen, den Krieg hinauszuschieben, so würde die europäische Lage sich ungünstiger für uns gestaltet haben. Denn vom Herbst 1867 ab waren alle in Mexiko verwendet gewesenen französischen Truppen wieder in Frankreich verfügbar, und dann hätte der Kaiser Napoleon vermutlich ganz anders eingegriffen, als es 1866 geschah. Ich bin deshalb der Meinung, daß die vom Könige wegen des Handelsvertrages getroffene Entscheidung das Vaterland keinesfalls irgendwie geschädigt, sondern vielleicht vor großem Schaden bewahrt hat. Der unter der Bezeichnung „Wiener Friede“ bekannte Friedensvertrag mit Dänemark wurde auf der erwähnten Grundlage des Präliminarfriedens vom 1. August in Wien am 30. Oktober abgeschlossen.

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VII. Allmähliche Lockerung des österreich. Bündnisses … August 1864 bis August 1865.

Nach Rückkehr des Ministers von Biarrits (29. Oktober) kam ich in die Lage, bei ihm die Einberufung des Gerichtsassessors a. D. Bucher in das Auswärtige Amt anzuregen. In den Jahren 1864 bis 1866 erhielt ich fast täglich schriftliche Mitteilungen und politische Ratschläge von Herrn Rudolf Schramm, einem unabhängigen Rheinländer, welcher früher der demokratischen Partei angehört hatte, seit 1862 aber sich öffentlich als Anhänger Bismarcks bekannte und später zum Generalkonsul in Mailand ernannt wurde. Der Minister beauftragte mich, alle Briefe Schramms zu lesen, aber nur ganz ausnahmsweise, nach meinem Ermessen, darüber Vortrag zu halten. Dazu schien mir die im November 1864  eingehende Meldung geeignet, daß Lothar Bucher, mit seinen früheren Parteigenossen gänzlich zerfallen, im Wolffschen Depeschenbureau seinen Lebensunterhalt erwerbe und vielleicht für den auswärtigen Dienst zu gewinnen sein würde. Ich hatte im Jahre 1848 in Cöslin einen Bruder und den Vater Buchers als sehr gebildete und achtbare Männer kennengelernt. Lothar, der damals in der Nachbarstadt Stolp als Kreisrichter angestellt war, aber viele Jahre bei den Cösliner Gerichten gearbeitet hatte, lernte ich nicht persönlich ­kennen. Es wurde indes gelegentlich seiner Wahl zur preußischen Nationalversammlung in Cöslin viel von ihm gesprochen. Einstimmig war die A ­ nerkennung seiner ausgezeichneten Fähigkeiten und Kenntnisse wie seines ehrenhaften Charakters; allgemein in Beamtenkreisen das Bedauern, daß er durch seine radikale politische Richtung dem Staatsdienst voraussichtlich entzogen werden würde. Wirklich eines politischen Vergehens a­ ngeklagt, ging er 1850 nach England, wo er bis zur allgemeinen Amnestie des Jahres 1860  als Schriftsteller lebte. Seine Korrespondenzen für die Nationalzeitung, namentlich die Aufsehen erregenden Berichte über die ersten beiden Weltausstellungen (1851  in London, 1855  in Paris), erwiesen ungewöhnliches Talent, sich in fremden Regionen zurechtzufinden; seine Schrift über den Parlamentarismus in England aber zeigte einen vorurteilsfreien Geist, der mit dem damals in Deutschland landläufigen Glauben an die Notwendigkeit streng parlamentarischer Regierung gründlich gebrochen hatte. Das alles trug ich dem Minister vor. Er hörte ruhig zu und rief dann lebhaft: „Bucher ist eine ganz ungewöhnliche Kraft. Ich würde mich freuen, wenn wir ihn gewinnen könnten. Im Abgeordnetenhause habe ich manchmal seinen hohen schmalen Schädel betrachtet und mir gesagt: der Mann gehört ja gar nicht in die Gesellschaft von Dickköpfen, bei denen er jetzt sitzt; der wird wohl einmal zu uns kommen. Seine literarische Thätigkeit habe ich mit Interesse verfolgt. Nun kann man allerdings nicht wissen, wie 135

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weit seine Entwickelung jetzt gediehen ist; aber ich halte nicht für gefährlich, ihn in unsre Karten sehen zu lassen. Wir kochen alle mit Wasser und das meiste, was geschieht oder geschehen soll, wird gedruckt. Gesetzt den Fall, er käme als fanatischer Demokrat zu uns, um sich wie ein Wurm in das Staatsgebäude einzubohren und das Ganze in die Luft zu sprengen, so würde er bald einsehen, daß nur er selbst bei dem Versuche zu Grunde gehen müßte. Bliebe die Möglichkeit. Daß Bucher kleine Geheimnisse um kleiner Vorteile willen verriete; solcher Gemeinheit aber halte ich ihn für unfähig. Sprechen Sie mit ihm, ohne nach seinem Glaubensbekenntnis zu fragen; mich interessiert nur, ob er kommen will oder nicht.“ Er kam gern, wurde vereidigt und in die politische Abteilung eingeführt. Die Herren von Thile und Abeken waren keineswegs erbaut von der Wahl des neuen Kollegen und ich hatte einige Mühe, ihnen die Auffassung des Chefs verständlich zu machen. Nach und nach aber kam Bucher durch sein einfaches, bescheidenes Wesen und durch die unanfechtbare Beschaffenheit seiner Arbeiten in eine leidliche Stellung. Nach einiger Zeit wurde dem Minister berichtet, daß Lassalle, der im letzten Sommer in einem Duell gefallen war, Bucher zum Exekutor seines Testaments ernannt hätte, daß daher die Beziehungen beider intime gewesen sein müßten und Bucher vermutlich Sozialdemokrat sei. Ich riet ihm, über sein früheres Verhältnis zu dem bekannten Agitator möglichst vollständige Aufklärung zu geben. Er händigte mir alle Briefe ein, die Lassalle ihm jemals geschrieben hatte. Es ging daraus hervor, daß Lassalle ihn gerngehabt und öfters zum Essen eingeladen hatte, daß aber dessen wiederholte Versuche, ihn zu seinen sozialistischen Ansichten zu bekehren, erfolglos geblieben waren. Der Minister, dem ich die Briefe vorlegte, sagte mir bei Rückgabe derselben, der Verkehr mit Lassalle habe ihm selbst so viel Vergnügen gemacht, daß er aus diesem Umgang Bucher keinen Vorwurf machen könne. Schon 1863 sprach Bismarck gelegentlich davon, daß Lassalle ihn mehrere Mal besucht und sehr gut unterhalten hätte. Derselbe sei zwar ein Phantast und seine Weltanschauung eine Utopie, aber er spreche so geistvoll darüber, daß man ihm gern zuhöre. Er sei der beste aller jemals gehörten R ­ edner. Sein Sport sei, vor einigen Tausend Arbeitern zu sprechen und sich an deren Beifall zu berauschen. Politisch willkommen wäre seine Gegnerschaft gegen die Fortschrittspartei; man könne deshalb seine Agitation eine Weile ­fortgehen lassen mit dem Vorbehalt, im geeigneten Moment einzugreifen. Einige Wochen nach Ausbruch des dänischen Krieges gab mir der Minister ein Schreiben Lassalles, mit welchem dieser zwei Exemplare eines eben erschienenen Werkes eingeschickt hatte. Das kleine Buch war betitelt: 136

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VII. Allmähliche Lockerung des österreich. Bündnisses … August 1864 bis August 1865.

„Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch, der ökonomische Julian, oder Kapital und Arbeit.“ In dem Schreiben hieß es, „der Minister würde aus diesem Holze Kernbolzen schneiden können zu tödlichem Gebrauche, sowohl im Ministerrat wie den Fortschrittlern gegenüber … auch wäre es s e h r nützlich, wenn der König einige Abschnitte des Buches läse, dann würde er erkennen, welches Königtum noch eine Zukunft hat, und klar ersehen, wo seine Freunde, wo seine wirklichen Feinde sind.“ Der Minister gab mir das sonderbare Schreiben und trug mir auf, da er sehr beschäftigt sei, mündlich oder schriftlich in seinem Namen den Empfang dankend zu bestätigen. In jenen Jahren (1863‒1865) war die Zahl der Personen groß, die den Minister zu sprechen wünschten, um Rezepte zur Heilung des Verfassungskonfliktes anzubieten, und deren Gesuche er regelmäßig mir zuschickte mit dem Auftrage, die Leute zu hören. Dadurch war ich mit unfruchtbaren Geschäften stark belastet und hatte kein Verlangen, die persönliche Bekanntschaft des notorisch übermäßig eitlen Briefstellers zu machen. Wagener hörte gelegentlich von ihm die Worte: „Ich, Bismarck und Sie sind die drei klügsten Leute in Preußen.“25 Einige Tage später erwähnte der Minister lächelnd, Lassalle habe sich schrift­lich beschwert, daß er für seine große auf das Buch verwendete Mühe nur durch ein trockenes Billet eines Rats belohnt worden sei; er verlange sachliches Eingehen auf sein Werk und müsse den Minister bald sprechen. Diese Tonart fand keinen Anklang bei Bismarck. Meines Wissens hat er den geistreichen Redner nach dem Februar 1864 nicht mehr gesehen. Die Nachricht von Lassalles Tode, die wir Anfang September in Baden erhielten, schien auf ihn keinen Eindruck zu machen. Das Wohlwollen des Ministers hatte Lassalle durch Hervorkehren seines krankhaft überspannten Selbstgefühls verscherzt. Dieselbe Eigenschaft sollte seinen Tod herbeiführen; denn er konnte nicht ertragen, daß eine junge Dame, deren Anerbieten, mit ihm zu fliehen, er abgelehnt hatte, ihm ihre Neigung entzog, seine förmliche Bewerbung zurückwies und sich mit einem andern Manne verlobte. Diesem gab er Anlaß, ihn im Duell zu erschießen.

* * * 25 Hermann Wagener, Erlebtes. Berlin, R. Pohl, 1884, II. Abteilung, S. 6.  Der Verfasser ist der auch als ein Führer der Konservativen im Abgeordnetenhause bekannt gewordene erste Redakteur der Kreuzzeitung; von 1866 bis 1873 war er vortragender Rat im „Staatsministerium“.

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Nachfolger des Grafen Rechberg wurde General Graf Mensdorff-Pouilly, der ein Anhänger des preußischen Bündnisses zu sein glaubte, aber in den  auswärtigen Geschäften wenig erfahren war und dadurch von vornherein in  Abhängigkeit von den Räten des Ministeriums kam. Bismarck bezeichnete wiederholt als die eigentlichen Leiter der Wiener Politik die  aus Rheinhessen gebürtigen Freiherren von Biegeleben, von Meysenbug und von ­Gagern. Unter diesen galt als der hervorragendste Biegeleben, ein gelehrter, schriftstellerisch begabter Mann, der von dem Berufe der alten Kaisermacht, Deutschland zu beherrschen, überzeugt war und daher im Sinne des Fürsten Schwarzenberg gegen Preußen zu wirken für seine Pflicht hielt. Seit 1852 ­bearbeitete er in dieser Richtung die deutschen Angele­genheiten und hatte sich der im November 1863 eingetretenen Wendung nur widerwillig  gefügt. Seinem Drucke folgend, machte selbst Graf Rechberg in den letzten Monaten seiner Amtsführung den Mittelstaaten einige hier nicht einzeln zu erwähnende Konzessionen; nach dem Ministerwechsel  aber wurde Biegelebens Einfluß völlig maßgebend. Alsbald versuchte man, eine gründliche Lösung der schleswig-holsteinschen Frage im Sinne der Mittelstaaten durch direkte Verhandlungen mit Preußen anzubahnen. Am 12. November gingen drei lange und lehrhafte Depeschen nach Berlin ab. Darin wurde empfohlen, der König möge dieselbe Entsagung üben, zu welcher der Kaiser bereit wäre, nämlich seinen Anteil an der Souveränität über Schleswig-Holstein dem Erbprinzen von Augustenburg als dem bestberechtigten der Prätendenten cedieren. Nur die Einsetzung desselben als eines selbständigen, mit allen Hoheitsrechten bekleideten Bundesfürsten würde den Frieden in Deutschland herstellen. Uebrigens war Graf Karolyi ermächtigt, bei Uebergabe dieser Depeschen mündlich mitzuteilen, daß man bei geeigneter Entschädigung durch deutsches Gebiet auch in die preußische Annexion von Schleswig-Holstein willigen würde. Bismarck hatte einige Wochen früher angeregt, daß die Bundestruppen Holstein verlassen müßten, und beschloß, jene Depeschen nicht vor Erledigung dieser Forderung zu beantworten. Die Bundesexekution war 1863 beschlossen worden gegen König Christian IX. als Landesherrn von Holstein zum Schutze der dortigen Deutschen gegen dänische Uebergriffe; sie hatte offenbar keinen Zweck mehr, nachdem zwei deutsche Fürsten Landesherren geworden waren. Wir erwarteten daher Oesterreichs Zustimmung zu unserm Wunsche, die Bundestruppen das Land räumen zu sehen. 138

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Graf Rechberg aber antwortete im Oktober, daß allerdings eine Berech­ tigung des Bundes, die Exekution fortbestehen zu lassen, nicht existiere, empfehlenswert jedoch scheine, „in bundesfreundlicher Gesinnung“ etwa 2000 Mann Bundestruppen in Holstein zu belassen. Der Grund dieses überraschenden Vorschlages konnte nur in dem Bestreben gesucht werden, die Einsetzung des Erbprinzen zu erleichtern, dessen Interessen durch die Anwesenheit der Bundestruppen fortwährend gefördert worden waren. Bismarck setzte nun in einem ausführlichen Erlaß, welcher sich mit den erwähnten Wiener Depeschen vom 12. November kreuzte, auseinander, daß dieser Vorschlag durch das Bundesrecht in keiner Weise motiviert werden könne, daß es daher angezeigt sei, Sachsen und Hannover zur Zurückziehung ihrer Truppen aus Holstein einzuladen. Auch dieser wiederholte Antrag wurde in Wien abgelehnt, was nicht gerade politische Voraussicht bekundete. Der König war sofort entschlossen, sein Hausrecht in Holstein unter allen Umständen zu wahren. Der Rückmarsch unserer Regimenter aus Holstein wurde sistiert und durch Zusammenziehung einiger Truppenkörper an den Grenzen von Hannover und Sachsen der Ernst der Lage angedeutet. Unsere Gesandten an den dortigen Höfen wurden angewiesen, zur Rückberufung der Exekutionstruppen einzuladen. In Hannover war man dazu bereit, vorbehaltlich der Zustimmung Oesterreichs; in Dresden aber erklärte der thatendurstige Minister Freiherr von Beust, die sächsischen Truppen würden bis zur Einsetzung des rechtmäßigen Landesherrn in Holstein verbleiben, außer wenn ein Bundesbeschluß ihre Zurückziehung anordnete. Die beurlaubten Mannschaften des sächsischen Heeres wurden zur Fahne einberufen. Inzwischen war man in Wien zu der Einsicht gelangt, daß einzulenken geraten sei. Graf Mensdorff erklärte sich bereit, bei Mitteilung des dänischen Friedensvertrages an den Bund einen Antrag auf Zurückberufung der Bundestruppen aus Holstein mit Preußen gemeinschaftlich zu stellen. Bismarck genehmigte diese Form, da in der Sache das Richtige geschehen sollte. Unser Gesandter in Frankfurt, Herr von Savigny, erhielt einen bezüglichen Auftrag und zugleich die vertrauliche Mitteilung, daß Preußen drei Tage auf den beantragten Bundesbeschluß warten, aber, wenn er verspäte, Selbsthilfe eintreten lassen werde; eine interessante Neuigkeit, die der Gesandte einigen seiner Kollegen nicht vorenthalten zu sollen glaubte. Der beantragte Beschluß kam rechtzeitig zustande, aber nur mit 9 gegen 6 Stimmen. 139

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Bismarck nahm aus dieser Thatsache Veranlassung, den dissentierenden mittel- und süddeutschen Regierungen eine Verwarnung zugehen zu lassen. In einem zur Mitteilung bestimmten Rundschreiben (vom 13. Dezember) an unsere Gesandten legte er dar, daß die bei dieser Abstimmung hervorgetretene Tendenz, Holstein bis zur Einsetzung eines Herzogs teilweise besetzt zu halten, durch das bestehende Bundesrecht nicht zu begründen sei. Der letzte Bundesbeschluß würde, wenn nur 2 Stimmen der Majorität zur Minorität übergingen, für das Bestehen des Bundes selbst gefährlich gewesen sein; derartige für Preußen unannehmbare Ueberschreitungen der streng begrenzten Kompetenz des Bundes könnten in Zukunft zu dessen Auflösung führen. Der in dieser Weise angedrohte Fall sollte am 14. Juni 1866 thatsächlich eintreten. Nachdem gegen Oesterreichs Wunsch die Entfernung der Bundestruppen aus Holstein durchgesetzt worden war, nahm Bismarck die Korrespondenz mit Wien über die Zukunft der Herzogtümer wieder auf. Vorher schon hatte Baron Werther dem Grafen Mensdorff gegenüber vertraulich zur Sprache gebracht, daß der Ton seiner letzten Depeschen ein unter befreundeten Mächten ungewöhnlicher gewesen sei. Der Minister erwiderte, Se. Majestät der Kaiser habe schon gelegentlich ein Bedauern darüber ausgesprochen, daß Biegeleben mitunter eine so scharfe Feder führe. Ob er selbst, der Minister, in der Lage gewesen wäre, den scharfen Ton zu mildern, schien ihm nicht in den Sinn zu kommen. Genau umgekehrt war die Geschäftsbehandlung in Berlin. Hier beherrschten die überlegene Einsicht und der starke Wille des Chefs Inhalt und Form der ausgehenden amtlichen Schriftstücke bis in alle Einzelheiten. Die Korrespondenz mit unseren Agenten bei den Großmächten hatte Abeken zu bearbeiten. Der Minister eröffnete ihm mündlich für jede Depesche den Gedankengang. Abeken verfügte über eine durch reiche Bildung entwickelte, fast dichterische Produktionsfähigkeit und war ein vielgewandter Sprachkünstler. Zu ebener Erde in einem schmalen Kämmerchen, welches den Durchgang zwischen dem Empfangszimmer des Unterstaatssekretärs und andern Arbeitsräumen bildete, und während lauter Gespräche, welche jeden andern gestört haben würden, zauberte Abeken mit fliegender Feder Entwürfe auf das Papier, welche die vom Minister angegebenen Gedanken in vielseitiger Ausführung darstellten. Nach wenigen halben oder ganzen Stunden trug dann der Kanzleidiener die Mappe mit den fertigen Schriftstücken die Treppe hinauf in das Arbeitszimmer des Ministers. Dieser pflegte abends die im Laufe des Tages vorgelegten Entwürfe so gründlich 140

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VII. Allmähliche Lockerung des österreich. Bündnisses … August 1864 bis August 1865.

durchzuarbeiten, daß jede Redewendung den Stempel seines Geistes erhielt. In den an diplomatischen Korrespondenzen überreichen Jahren 1862  bis 1870 wurden fast allen bedeutenderen Schriftstücken Abekens Entwürfe zu Grunde gelegt, die Bismarck besonders gern bearbeitete, weil sie nicht nur seine Gedanken treu widerspiegelten, sondern ihm auch mitunter neue Anregungen brachten. Die oben erwähnten drei Wiener Depeschen vom 12. November wurden am 13. Dezember ausführlich beantwortet26. Bismarck erklärte, „nicht zu verstehen“, weshalb Oesterreich von seiner früheren Auffassung, die ­Mittelstaaten als gemeinsame Gegner zu betrachten, zurückgekommen sei. Die Führer derselben am Bundestage hätten versucht, außerhalb ihrer Befugnisse 1863 in die europäische Politik einzugreifen, die beiden Großmächte zum Bruch des Londoner Vertrages zu drängen, die schwebende Erbfolgefrage ohne einen Schatten von Kompetenz zu lösen und die ­verfälschte Exekution in Holstein als Okkupation widerrechtlich fortdauern zu lassen. Preußen könne und werde seine Politik nicht von Beschlüssen kleinstaatlicher und von kleinstaatlichen Landtagen abhängiger Regierungen bestimmen lassen und lege Wert darauf, schon jetzt zu erklären, daß etwaigen rechtswidrigen Beschlüssen des Bundes gewaltsamer Widerstand entgegentreten würde. In Bezug auf Schleswig-Holstein wolle man keinen der ­Prätendenten ausschließen; doch würde Augustenburg uns Oldenburg, Hannover und Rußland entfremden. Jedenfalls sei gründliche Prüfung aller Erbansprüche, auch der jetzt anzumeldenden brandenburgischen, ­erforderlich. Daß ­Preußen die Annexion der Herzogtümer nicht ohne die Zustimmung Oesterreichs ausführen könne, werde wiederholt anerkannt. Die Einsetzung eines Herzogs aber könne nur genehmigt werden unter ­gewissen, im Sicherheitsinteresse Deutschlands notwendigen Bedingungen, mit deren Formulierung zurzeit die Fachminister beschäftigt seien. Die österreichische Regierung erklärte sich hierauf unter dem 21. Dezember bereit, die Frage durch Verständigung mit Preußen abzuschließen, betonte aber wiederholt die Zuständigkeit des Deutschen Bundes, darüber zu wachen, daß in den Verein der Souveräne Deutschlands kein unselbständiges Mitglied eingeführt werde27. 26 Die Angabe Friedjungs (I, S. 113), Bismarck habe erst im Januar geantwortet, wird durch die vom 21. Dezember datierte österreichische Entgegnung auf die diesseitige Depesche vom 13. widerlegt. 27 Die von Kohl (Reg. I, S. 247) übernommene Angabe Sybels (IV, S. 51), diese Depesche (vom 21. Dezember 1869) habe darauf hingewiesen, daß, wenn Preußen nicht auf das österreichische Programm eingehe, der Bruch der Allianz bevorstehe, ist unbegründet. Eine Analyse dieses ­Dokuments enthält die dem Abgeordnetenhause mitgeteilte Denkschrift vom 8. Mai 1865. (­Drucksachen No. 179.)

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In Wien wünschte man die leidige schleswig-holsteinische Sache möglichst schnell aus der Welt zu schaffen. Wiederholte Mahnungen zu schleuniger Kundgebung unseres Programms lehnte jedoch Bismarck als unberechtigt ab, da Ueberstürzung nur Schaden bringen könne. Von der französischen Regierung wurde die wachsende Spannung zwischen den beiden Verbündeten aufmerksam beobachtet. In Paris wie in ­Berlin fehlte es nicht an vertraulichen Mitteilungen darüber, daß der Kaiser Napoleon unsere Schritte mit besonderem Wohlwollen würdigte. Im ­Februar 1865 lehnte jedoch Bismarck bestimmt ab, auf die von unserm Botschafter in Frage gestellten Verhandlungen zur Vorbereitung eines französischen Bündnisses einzugehen. Er betonte, es würde auch schon eine vorläufige Besprechung darüber, solange das Bündnis mit Oesterreich vom 16. Januar 1864 bestehe, dem Vorwurfe der Perfidie ausgesetzt sein und überall in Deutschland gemißbilligt werden; auch an sich sei zu empfehlen, in den obwaltenden unsichern Verhältnissen sich nach keiner Seite hin zu binden. In diesen Tagen (am 20. Februar) äußerte er bei Tische in meiner Gegenwart: „Wenn es einmal Sturm gibt, wird sich zeigen, daß wir auf hohen Wellen besser schwimmen können als andere Leute.“ Inzwischen hatten die Fachminister die Bedingungen formuliert, unter welchen unsererseits die Einsetzung eines Herzogs in Schleswig-Holstein zugegeben werden könnte. Man ging davon aus, daß unsere militärische Lage nach dem dänischen Kriege nicht schlechter werden dürfe, als sie vorher gewesen war. Während früher ein Angriff des befreundeten Dänemark auf Deutschlands Nordwestgrenze ausgeschlossen schien, mußte jetzt als wahrscheinlich gelten, daß in der nächsten europäischen Krise das Königreich versuchen würde, die Herzogtümer zurückzuerobern, und daß diese aus eigener Kraft so wenig wie 1850 erfolgreichen Widerstand leisten könnten. Vor allem schien daher notwendig: Verschmelzung der Wehrkraft des Landes mit der preußischen Land- und Seemacht. Die Forderungen der Aushebung der Rekruten durch preußische Beamte und der Leistung des Fahneneides für unsern König gehörten nach meinem Eindruck zu den Formen, die man im Laufe der Verhandlungen wahrscheinlich fallen gelassen hätte; in der Sache aber nachzugeben, war durch die Sorge für Verteidigung der Nordwestgrenze ausgeschlossen. Außerdem wurden verlangt: der Kieler Hafen, die Festungen Rendsburg und Sonderburg-Düppel, Befugnis zum Bau eines Nord-Ostsee-Kanals, Anschluß an das preußische Zollsystem, Verfügung über Post und Telegraphie. Diese am 22. Februar 1865 nach Wien mitgeteilten, unter dem Namen der „Februarbedingungen“ bald bekannt gewordenen Forderungen bezeichnete 142

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VII. Allmähliche Lockerung des österreich. Bündnisses … August 1864 bis August 1865.

Bismarck als „Konzessionen“ gegenüber dem natürlichen Verlangen der Einverleibung des Landes, welches bei uns in immer weiteren Kreisen laut geworden sei. In Wien aber erklärte man, daß die geforderte Abtretung der Mili­ tärhoheit  eine geeignete Grundlage zur Verständigung nicht darbiete und  daher diese  Phase der Verhandlungen für abgeschlossen gehalten werde. Die A ­ ntwort erfolgte mündlich schon am 27. Februar; an demselben Tage erging an Moltke die Aufforderung zu genauen Angaben darüber, welche Truppenmacht Oesterreich uns in Böhmen gegenüberzustellen vermöchte. Inzwischen hatte der bayerische Ministerpräsident Freiherr von der Pfordten einen Antrag für den Bundestag in Wien zur Prüfung vorgelegt, wonach der Bund die „vertrauungsvolle Erwartung“ aussprechen sollte, die beiden Großmächte würden „nunmehr“ den Erbprinzen von Augustenburg als Herzog einsetzen. Graf Mensdorff machte von dieser seit dem Januar schwebenden Angelegenheit die erste Mitteilung nach Berlin am 19. März mit dem Hinzufügen, er wünsche, daß dieser Antrag nicht in einem A ­ usschuß begraben, sondern binnen 8 Tagen zur Abstimmung gebracht werde. In dem Aussprechen einer von der preußischen abweichenden Ansicht am Bundestage ohne irgendwelche thatsächliche Vorkehrungen würde eine Verletzung des Allianzvertrages vom 16. Januar 1864 nicht zu finden sein. In Berlin aber meinte man, daß die wochenlangen geheimen Verhand­ lungen mit den gegnerischen Mittelstaaten und die angekündigte Zustim­ mung zu deren Antrage am Bunde mit den jedem der beiden Verbündeten vertragsmäßig obliegenden Pflichten nicht vereinbar schiene. Bismarck sagte dem Grafen Karolyi mündlich: „Wir sind leider an einen Scheideweg gelangt. Unsre Fahrbillets lauten auf divergierende Linien; und ich wünsche nur, daß wir nicht zu weit auseinanderkommen.“ Dieser unfreundliche Schachzug des Verbündeten sollte nicht nur mit Worten in Frankfurt bekämpft werden, sondern eine That sollte aller Welt zu erkennen geben, daß wir uns aus Holstein verdrängen zu lassen nicht g­ esonnen seien. Der König befahl am 24. März die Verlegung der ­Marinestation von Danzig nach Kiel.

* * * Die Zustände in den Herzogtümern hatten auch nach dem Abzuge der Bundestruppen und nach der Ersetzung der Bundeskommissare durch Vertreter Preußens und Oesterreichs (Zedlitz und Halbhuber) sich in 143

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e­ ntschieden partikularistischer Richtung fortentwickelt. Der Erbprinz behielt seinen Aufenthalt in einem Vororte Kiels, umgeben von den als seine Minister geltenden Vertrauenspersonen. Diese hatten Anfang 1864  dafür gesorgt, daß zu Mitgliedern der sogenannten Landesregierung fast nur augustenburgisch gesinnte Beamte ernannt wurden, und vermochten auch zu erreichen, daß die bei Uebernahme der Verwaltung von Schleswig erforderliche Verstärkung dieser Behörde in gleichartiger Weise erfolgte. In der Bevölkerung wurde mündlich die Mahnung verbreitet, gegen Verfügungen der Landesregierung niemals Beschwerde zu erheben, damit die Kommissare der Großmächte keine Gelegenheit erhielten, einzugreifen. Ein Netz von Vereinen, welche den Erbprinzen als Landesherren anerkannten, hatte das Land überzogen und die Presse nannte ihn täglich Herzog Friedrich VIII. Dagegen einzuschreiten, war Zedlitz machtlos, weil Baron Halb­ huber seinen Instruktionen gemäß jedem bezüglichen Versuche entgegentrat. General Herwarth hatte zwar den Oberbefehl über 16.000 Preußen und die österreichische Brigade Kalik (4800  Mann), war aber nicht imstande, Demonstrationen für den Erbprinzen zu verhindern, weil Graf Mensdorff Eingriffe der bewaffneten Macht in die Civilverwaltung nicht wünschte. Die ehrenfeste Bevölkerung fühlte sich gefesselt an den Fürsten, dem sie vor Jahr und Tag als der Verkörperung des Gedankens „Los von Dänemark“ gehuldigt hatte. Diese Gesinnung wurde durch starke Gründe unterstützt in den Städten, welche fast steuerfrei waren und den Druck einer Militärlast, bei der Leichtigkeit Stellvertreter zu mieten, kaum kennengelernt hatten. Den Städtern graute vor dem preußischen Steuersystem und der allgemeinen Wehrpflicht. Das platte Land hatte von der Annexion in materieller Beziehung wenig zu befürchten; der Großgrundbesitz aber wünschte sie, denn er war mit hohen Grundsteuern eingeschätzt und mußte, wenn dem Lande die Uebernahme der Kriegskosten und anderer Schulden mit rund 80 Millionen Thalern zugemutet würde, auf Heranziehung zu fast unerschwinglichen Leistungen gefaßt sein. Baron Scheel-Plessen konnte daher seine Standesgenossen leicht, außer ihnen aber kaum 200 Personen für eine Adresse zu Gunsten der Annexion gewinnen, während für Adressen zu Gunsten Augustenburgs rund 50.000 Unterschriften zusammengebracht wurden. Trotz dieser durch Oesterreichs Haltung genährten feindseligen Stimmungen in den Herzogtümern wurde Bismarck nicht einen Augenblick schwankend in dem Vorsatze, zu erringen, was er dort für unsre Sicherheit notwendig hielt, sei es durch Erfüllung der Februarbedingungen, „wenn die Leute sich durchaus einen Herzog für 80 Millionen Thaler kaufen wollten“, oder durch die Annexion. 144

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Die Bearbeitung der schleswig-holsteinischen Verwaltungssachen war mir übertragen. Es wäre auf diesem Arbeitsfelde in Berlin wenig zu thun gewesen, wenn nicht vier landeskundige Personen sich als Agenten zur Verfügung gestellt und fortlaufend an mich berichtet hätten. Gleich nach der Einnahme von Düppel kam zu mir der in Schleswig wohnende Graf Adalbert Baudissin, ein Mann von sehr einnehmendem Wesen. Er bekannte die Ueberzeugung, daß sein Vaterland des engsten Anschlusses an Preußen bedürfe, und erbot sich, dafür zu wirken. Der Minister hat ihn nur einmal gesehen und mir den weiteren mündlichen und schriftlichen Verkehr mit ihm überlassen. Nach einiger Zeit erhielt er von Zedlitz eine Anstellung beim Deichbau auf den Nordseeinseln, welche ihm erlaubte, öfters umherzureisen und in politischer Berichterstattung fortzufahren. Sodann meldete sich ein junger Balte, Baron Ungern-Sternberg, welcher sich in Flensburg niedergelassen hatte, um in gleichem Sinn zu wirken. Seine Berichte enthielten brauchbare sachliche Mitteilungen. Anscheinend war seinen Anregungen zu danken, daß in Flensburg Ende Februar 1865 etwa zwanzig unabhängige Männer sich als „Nationalpartei“ konstituierten, mit dem Programm des engsten Anschlusses an Preußen. Diese kleine Partei verfügte über drei Lokalblätter, doch waren die Zeitumstände für ihre Ausbreitung nicht günstig. Zwei andere Männer mit unbekannten Namen lieferten mehr mündliche als schriftliche Berichte. Dem Minister waren alle solche Quellen vielseitiger, wenn auch mit Vorsicht aufzunehmender Nachrichten willkommen und mein Verkehr mit jenen freiwilligen Staatsdienern wurde daher ein ziemlich reger.

* * * Am 16. November 1864 reiste Bismarck nach Stettin, um seine aus Reinfeld ankommende Gemahlin nach Berlin zu begleiten. Sie hatte eine schwere Krankheit überstanden und durfte in den beiden folgenden Monaten noch nicht abends ausgehen, sah aber in ihrem Empfangssaal gern die Hausfreunde. Außer den bereits genannten erschienen jetzt häufig: Postrat von Obernitz, ein feinsinniger Literaturkenner, und Gustav von Loeper, der schon einmal erwähnte Goethe-Herausgeber, dessen gelegentliche literarische Mitteilungen der sehr belesenen Hausfrau stets willkommen waren. Der Minister aber ließ sich mitunter gern von seinen Studien über den Faust erzählen. Der schon erwähnte Herr von Dewitz-Milzow kam einige Mal in Begleitung seiner beiden anmutigen Töchter. Nicht selten wurden auch z­ ufällig 145

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anwesende befreundete Familien aus Pommern, Ostpreußen, Kurland oder Schlesien für einen Abend eingeladen, was jedoch weder die äußeren Einrichtungen noch den Ton des Gesellschaftssaales im Mindesten zu beeinflussen pflegte. Der Minister schien weniger von Geschäften überlastet als in dem Winter des dänischen Krieges, in welchem er nur zweimal an Hofjagden teilgenommen hatte. Jetzt konnte er nicht weniger als dreizehn Tage der Jagd widmen, meistens im Gefolge des Königs. Diners außer dem Hause suchte er möglichst zu vermeiden, abends aber ging er nicht selten auf eine Stunde in Gesellschaft. Als ich Anfang Januar in dem nahe dem Auswärtigen Amt gelegenen Hotel Royal für zufällig anwesende Verwandte und den Freundeskreis des Hauses Bismarck einen kleinen Ball gab, erschien zu aller Ueberraschung um Mitternacht der Minister. Am 1. Februar besuchte er mit Gemahlin und Tochter einen Hofball im „weißen Saale“. Zwischen solchen Wochen, in denen er rüstige Vollkraft zu besitzen schien, gab es auch Tage, an denen er sich recht unwohl fühlte und über Schmerzen im Gehirn, im Gesicht oder im linken Bein klagte. Wegen seiner Gesundheit war ich nie ohne Sorge. An meinen Bruder schrieb ich im Februar: „Wenn Bismarck nur noch zwei Jahre lebt, bekommen wir hoffentlich Schleswig-Holstein.“ Daß Bismarck schlechthin unersetzlich war, daß niemand außer ihm in den dunkeln Labyrinthen der damaligen auswärtigen und innern Politik die gangbaren Pfade zu finden vermocht hätte, davon waren alle überzeugt, die ihm näherstanden. Zu diesen Personen gehörte schon damals Herr Gerson Bleichröder, Chef des Bankhauses S. Bleichröder, ein Mann von ungewöhnlichen Fähigkeiten. Sein Verstand war so lebendig wie durchdringend, sein Gedächtnis zuverlässig, sein Herz fest und treu. Das bei ihm deponierte Kapitalvermögen des Ministers gab ihm fast nichts zu thun, weil Spekulationen irgendwelcher Art mit dessen Werten verboten waren; aber seine Stellung zu dem Pariser Hause Rothschild führte ihm mitunter einen politischen Auftrag zu. Die Frankfurter Familie Rothschild ist bekanntlich in Wien, Paris und London verzweigt; ihr Vertreter in Berlin aber war Bleichröder. Nun hatte der damalige Chef des Pariser Hauses, Baron James Rothschild, jederzeit freien Zutritt zum Kaiser Napoleon, der ihm nicht nur über Finanzfragen, sondern auch über Politik ein freies Wort zu gestatten pflegte. Dies bot die Möglichkeit, durch Bleichröder und Rothschild an den Kaiser Mitteilungen gelangen zu lassen, für welche der amtliche Weg nicht geeignet schien. In jenen Jahren hielt Bismarck für geboten, die Beziehungen zu dem mächtigen Mo­nar­ chen mit allen verfügbaren Mitteln sorgfältig zu pflegen, und legte daher 146

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VII. Allmähliche Lockerung des österreich. Bündnisses … August 1864 bis August 1865.

Wert darauf, auch diesen Weg vertraulicher Mitteilungen mitunter benutzen zu können. Durch mich sind derartige Aufträge nie vermittelt worden; doch erhielt ich die Anweisung, Herrn Bleichröder über die Lage der auswärtigen Politik, soweit sie nicht geheim zu halten war, auf Befragen fortlaufend zu unterrichten, damit er Eröffnungen der bezeichneten Art, die der Minister sich selbst vorbehielt, schnell und richtig auffassen könnte. Herr Bleichröder pflegte daher mehrmals in der Woche am frühen Morgen zu mir zu kommen und einige Minuten zu verweilen, an warmen Tagen im Garten, sonst in meinem Wohnzimmer. Ich lernte ihn auf diese Weise genau kennen und aufrichtig schätzen. Die gelegentlichen Aufträge des Ministers an Bleichröder hatten zur Folge, daß dieser sich als Hilfsarbeiter des Auswärtigen Amtes fühlte und demnach, wenn er von Bismarck sprach, ihn „unsern hochverehrten Chef “ zu nennen pflegte. Weiteren Kreisen durfte der politische Grund seiner öfteren Besuche im Auswärtigen Amte natürlich nicht bekannt werden. Es erhob sich daher manchmal das Gerücht, daß Bismarck durch Bleichröder für sich Börsengeschäfte machen ließe, was thatsächlich niemals geschehen ist. Er hat oft genug ausgesprochen, es sei völlig unerlaubt, seine Kenntnis der politischen Lage zu Spekulationen zu benutzen; ein Minister, der sich damit befasse, müsse in Versuchung kommen, seine politischen Entschlüsse durch Rücksichten auf persönliche Vorteile oder Nachteile beeinflussen zu lassen, und könne daher keine gute Politik machen.

* * * Als im Frühjahr 1865 die Möglichkeit eines Waffenganges gegen Oesterreich ins Auge gefaßt werden mußte, hielt Bismarck für dringend wünschenswert, mit dem Landtage Frieden zu schließen auf der Grundlage einer Konzession im Militäretat. Roon war mit ihm darüber einig, daß bei der Infanterie das dritte Dienstjahr ohne erhebliche Nachteile entbehrt werden könnte, w e n n bei jedem Bataillon ein starker Stamm von altgedienten Leuten, sogenannten Kapitulanten, geschaffen würde. Diese wären natürlich höher zu besolden; und um die dazu nötigen Mittel zu gewinnen, müßte man zu dem System der Stellvertretungsgelder nach dem Muster der damals in Frankreich bestehenden Einrichtungen übergehen. Dort pflegten die Wohlhabenden sich vom persönlichen Dienst loszukaufen. So wenig dieses Beispiel anmutete,  so trat doch das ganze Staatsministerium diesen Vorschlägen bei, welche dann von Bismarck und Roon an maßgebender Stelle vorgetragen wurden. 147

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Der König wollte zwar eine Ausgleichung des Verlustes des dritten Dienstjahres durch bedeutende Vermehrung der Kapitulanten als möglich, wenn auch ungewiß gelten lassen, entschied aber, daß Einführung der Stellvertretungsgelder mit dem Grundsatze der allgemeinen Wehrpflicht unvereinbar sei. Eine andere Finanzquelle stand nicht zu Gebote; der beabsichtigte Aussöhnungsversuch mußte daher aufgegeben werden. Diesen Vorgang, von dem ich im Jahre 1865 nichts erfuhr, hat mir vier Jahre später der Minister des Innern, Graf Eulenburg, auf einem Spaziergange in Varzin ausführlich erzählt. Er knüpfte daran die Bemerkung, daß die vom Könige gegen die Wünsche des Ministeriums getroffene Entscheidung für das Land segensreich gewesen sei. Im Jahre 1866 habe man den unschätzbaren praktischen Wert der allgemeinen Dienstpflicht erkannt; nicht nur im Felde, wo die höher gebildeten Gemeinen durch ihre Begeisterung die mitunter stumpfen Kameraden fortrissen, sondern auch in der Heimat. Der Kleinbauer, der einen Sohn verlor, habe einen gewissen Trost empfunden, wenn sein reich begüterter Nachbar von gleichem Unglück betroffen wurde. Im Mai 1865 erhielt Bismarck von unserem früheren Gesandten in Konstantinopel, General von Wildenbruch, dem Vater des Dichters, einen vertraulichen Brief, welcher genau dieselben Vorschläge zur Verständigung mit dem Landtage enthielt. Er gab mir das Blatt mit den Worten: „Ich habe von Wildenbruch bisher nur wenig gewußt; jetzt sehe ich, daß er ein grundgescheiter Mann ist.“ Obwohl die erwähnte Erzählung Eulenburgs für mich keiner Beglaubigung bedarf, so gewährt es mir doch eine gewisse Befriedigung, von Bismarck selbst diese indirekte Bestätigung derselben erhalten zu haben28. Der Versuch Bismarcks, eine Grundlage zur Verständigung mit dem Abgeordnetenhause zu finden, mißlang also; die Kluft erweiterte sich immer mehr, der Ton der Volksvertreter gegen die Minister, namentlich gegen den Kriegsminister, wurde immer feindlicher. Das verbitterte Haus ließ sich 28 Als bei der Militärvorlage von 1892 es sich um die Beseitigung des dritten Dienstjahres bei der Infanterie gegen gewisse Kompensationen handelte, schickte ich dem damaligen Reichskanzler den Entwurf eines Zeitungsartikels, welcher die von Eulenburg erzählten Thatsachen ohne Nennung der Quelle enthielt. General von Caprivi ließ diesen „Ein Rückblick“ überschriebenen Artikel in der „Post“ vom 31. Dezember 1892 abdrucken, hielt den Inhalt desselben also für richtig. Daß 1865 in dieser Angelegenheit ein schriftlicher Immediatbericht erstattet worden sei, glaube ich nicht. Denn in so hochwichtigen Fragen pflegte schriftlich nur berichtet zu werden, nachdem der König dem Antrage bei mündlichem Immediatvortrag zugestimmt hatte. Es wird daher vielleicht nie eine urkundliche Bestätigung der erwähnten Mitteilungen des Grafen Eulenburg aufgefunden werden.

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weder durch die glänzenden Thaten des Heeres noch durch die Befreiung der Elbherzogtümer vom dänischen Joch zu irgendeinem thatsächlichen Entgegenkommen bewegen. Der Militäretat wurde wieder um die Kosten der neuen Regimenter gekürzt, der ganze Etat wieder vom Herrenhause verworfen. Die ausführlich motivierten Forderungen für Erweiterung der Marine wie für Deckung der Kosten des dänischen Krieges wurden rund abgelehnt. Bei den Verhandlungen über Vorlagen wegen der Marine und der Kriegskosten hielt Bismarck merkwürdige Reden, aus welchen ich hier einige Auszüge gebe. Am 1. Juni führte er aus, die in den letzten zwanzig Jahren oft und lebhaft hervorgetretenen Sympathien für die Marine würden jetzt verleugnet; der maritime Ehrgeiz der preußischen liberalen Partei schiene einigermaßen ­reduziert zu sein. Man wolle so lange, bis es nicht gelungen wäre, andere deutsche Staaten in Mitleidenschaft zu ziehen, nicht nur deren Handel, sondern auch den preußischen Handel in der verhältnismäßigen Schutzlosigkeit belassen, in der er sich jetzt befinde. Der Heranziehung anderer Staaten zu schweren Lasten stehe aber entgegen, daß im Allgemeinen in Deutschland partikulare Interessen stärker sind als der Gemeinsinn. Die Existenz auf der Basis der Phäaken sei bequemer als auf der Basis der Spartaner. Man lasse sich gern schützen, aber man zahle nicht gern und am allerwenigsten gäbe man das geringfügigste Hoheitsrecht zum Besten der allgemeinen Interessen auf. Er (der Minister) sei nicht darauf gefaßt gewesen, in dem Kommissionsberichte eine indirekte Apologie Hannibal Fischers zu finden, der die deutsche Flotte unter den Hammer brachte. Auch jene deutsche Flotte sei daran gescheitert, daß in den deutschen Gebieten, ebenso in den höheren regierenden Kreisen wie in den niederen, die Parteileidenschaft mächtiger war wie der Gemeinsinn. Dann fuhr er fort: „Sie zweifeln, ob es mir gelingen wird, Kiel zu erwerben. „Wir besitzen in den Herzogtümern mehr als Kiel; wir besitzen die volle Souveränetät in den Herzogtümern in Gemeinschaft mit Oesterreich … Unser Besitz ist ein gemeinsamer – das ist wahr – mit Oesterreich. Nichtsdestoweniger ist er ein Besitz, für dessen Aufgebung wir berechtigt sein würden, unsere Bedingungen zu stellen. Eine dieser Bedingungen, und zwar eine der ganz unerläßlichen … ist das künftige alleinige Eigentum des Kieler Hafens für Preußen … „Wir fordern nichts als die Möglichkeit, Deutschland zur See wehrhaft zu machen in dem Umfange, in dem uns dies mit den Mitteln der H ­ erzog­tümer 149

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erlaubt sein wird, und gegen die Wahrscheinlichkeit, Düppel in nicht gar zu  langer Zeit noch einmal belagern und stürmen zu müssen, diejenige ­Garantie zu gewinnen, die die Hilfsquellen der Herzogtümer geben können … „Zweifeln Sie dennoch an der Möglichkeit, unsere Absichten zu verwirklichen, so habe ich schon in der Kommission ein Auskunftsmittel empfohlen: Limitieren Sie die Anleihe dahin, daß die erforderlichen Beträge nur dann zahlbar sind, wenn wir wirklich Kiel besitzen, und sagen Sie: kein Kiel, kein Geld  … Die Fälle, wo Sie glauben, diplomatische Erfolge gewonnen zu haben, und auf welche Sie sich an einer anderen Stelle des Berichtes berufen, passen nicht. „Sie schreiben es der liberalen Strömung, dem Einfluß dieses Hauses zu, daß der Zollverein rechtzeitig wiederhergestellt sei. Ich erinnere Sie an die Thatsache, daß der erste Staat, der aus der Koalition unserer Gegner ausschied, der die Bresche legte, vermöge deren die Stellung der übrigen unhaltbar wurde, der beide Landesteile Preußens verbindet, so daß er eine Barriere zwischen den Nordseestaaten und den Binnenstaaten schafft, daß dies Kurhessen war. Nun glaube ich wohl, meine Herren, daß Sie einen großen Einfluß auf manche Regierungen Deutschlands ausüben mögen, aber auf Kurhessen nicht. „Ich komme dabei zurück darauf, daß der Herr Vorredner29 uns empfahl, wir hätten die Zollvereinskrisis stärker ausnützen sollen, um politische Vorteile zu Gunsten einer bundesstaatlichen Vereinigung daraus zu gewinnen, wenn auch nur die Anfänge davon. Ich habe dieselbe Idee gehabt bei der vorigen Zollvereinskrisis vor zwölf Jahren. Ich war damals noch neu in den Geschäften. Wenn man längere Zeit darin gewesen ist, dann überzeugt man sich, daß das Bedürfnis der Rekonstituierung des Zollvereins nicht stark genug ist, um dafür eine Souveränitätsverminderung den Fürsten annehmbar zu machen … „Ein anderer politischer Erfolg dieses Hauses, den der Kommissionsbericht demselben zuspricht, hat mich noch mehr überrascht. Sie sind der Meinung, ‚auch in der schleswigschen Frage habe die Regierung, was sie erreicht, nur der Richtung des öffentlichen Geistes und der Zustimmung des Landtages für die Loslösung der Herzogtümer zu danken‘. Ich konstatiere, daß Sie uns damit die Tendenz, die Herzogtümer loszulösen, zuerkennen; von Ihrer Zustimmung zu etwas, was die Regierung gethan hätte, ist mir nichts erinnerlich. Haben Sie mit der Verweigerung der Anleihe, die wir da29 Der Abgeordnete Loewe.

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mals von Ihnen verlangten, Düppel erobert und Alsen? Dann, meine Herren, habe ich auch die Hoffnung, daß aus Ihrer Verweigerung der jetzigen Anleihe auch eine preußische Flotte hervorgehen werde … „Das, was früher Ihr Ideal war, ist jetzt für die preußische Regierung das Minimum des Erreichbaren. Wir können das, was Sie vor 1 ½ Jahren als Höchstes erstrebten, in jeder Viertelstunde ins Werk setzen: einen unabhängigen schleswig-holsteinschen Staat, sogar mit einigen mäßigen, uns aber nicht genügenden Vorteilen für Preußen – es bedarf nur einer in einer Viertelstunde aufzusetzenden Erklärung der königlichen Regierung, und der Staat wäre geschaffen.“ … Nach einer Darlegung der Verfassungsänderungen, welche erforderlich sein würden, um die Ansprüche des Hauses zu befriedigen, sagte der Minister: „Sie versuchen, diese Aenderungen dadurch zu erzwingen, daß Sie zu Zwecken, deren Nützlichkeit Sie an und für sich nicht bestreiten können, Ihre Mitwirkung versagen, die Staatsmaschine, so viel an Ihnen liegt, zum Stillstand bringen, ja in Sachen der auswärtigen Politik – ich kann nicht umhin, es zu sagen – das Gemeinwesen schädigen, soweit Sie es innerhalb Ihrer Befugnisse vermögen, durch Verweigerung Ihrer Mitwirkung. „Das alles, um eine Pression auf die Krone auszuüben, daß sie ihre Minister entlasse, daß sie Ihre Auffassung des Budgetrechts annehme. Meine Herren, Sie kommen dadurch genau in die Lage der falschen Mutter im Urteil Salomonis, die lieber will, daß das Kind zu Grunde gehe, als daß damit anders als nach ihrem Willen geschehe … „Ich kann nicht leugnen, daß es mir einen peinlichen Eindruck macht, wenn ich sehe, daß angesichts einer großen nationalen Frage, die seit zwanzig Jahren die öffentliche Meinung beschäftigt hat, diejenige Versammlung, die in Europa für die Konzentration der Intelligenz und des Patriotismus in Preußen gilt, zu keiner anderen Haltung als zu der einer impotenten Negation sich erheben kann. „Es ist dies, meine Herren, nicht die Waffe, mit der Sie dem Königtum das Scepter aus der Hand winden werden. Es ist auch nicht das Mittel, durch das es Ihnen gelingen wird, unseren konstitutionellen Einrichtungen diejenige Festigkeit und weitere Ausbildung zu geben, deren sie bedürfen.“ Am folgenden Tage sagte Virchow als Berichterstatter, daß, wenn es dem Ministerpräsidenten gelungen sei, durch eine große Krisis hindurch, trotz mancher Sprünge seiner Politik ein gewiß großes und anerkennenswertes Resultat zu erreichen, dies nicht als sein Verdienst anzuerkennen, sondern für einen Zufall zu halten sei … 151

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Man habe nicht bloß allgemeines Mißtrauen gegen dieses budgetlose ­Ministerium, sondern man halte diese Personen nach ihren Leistungen nicht für berechtigt, Vertrauen in Anspruch zu nehmen. Hierauf erwiderte Bismarck u. a. Folgendes: „Ich bin der Anerkennung in sehr geringem Maße bedürftig und gegen Kritik ziemlich unempfindlich. Nehmen Sie immerhin an, daß alles, was geschehen ist, rein zufällig geschah, daß die preußische Regierung daran vollständig unschuldig ist, daß wir der Spielball fremder Intrigen und äußerer Einflüsse gewesen sind, deren Wellenschlag uns zu unserer eigenen Ueberraschung an der Küste von Kiel ans Land geworfen hat. Nehmen Sie das immerhin an, mir genügt es, daß wir da sind.“ An diese Verhandlung knüpfte sich eine Duellforderung, welche damals Sensation erregte und noch kürzlich in ungenauer Weise öffentlich besprochen worden ist. Virchow hatte mit Bezug auf die oben mitgeteilte Aeußerung Bismarcks, daß in dem Kommissionsberichte eine indirekte Apologie Hannibal Fischers zu finden sei, geäußert, wenn der Ministerpräsident den Bericht wirklich gelesen, so wisse er, Virchow, nicht, „was er von der Wahrhaftigkeit desselben denken solle“. Mit Bezug hierauf sagte Bismarck: „Der Herr Referent hat lange genug in der Welt gelebt, um zu wissen, daß er sich damit der technischen und spezialen Wendung gegen mich bedient hat, vermöge deren man einen Streit auf das rein persönliche Gebiet zu werfen pflegt, um denjenigen, gegen den man den Zweifel an seiner Wahrheitsliebe gerichtet hat, zu zwingen, daß er sich persönlich Genugthuung fordert. Ich frage Sie, meine Herren, wohin soll man mit diesem Tone kommen? Wollen Sie den politischen Streit zwischen uns auf dem Wege der Horatier und Kuratier erledigen? „Es ließe sich davon reden, wenn es Ihnen erwünscht ist. „Wenn das aber nicht, meine Herren, was bleibt mir dann anderes übrig, als gegen einen solchen starken Ausdruck meinerseits einen noch stärkeren wieder zu gebrauchen? Es ist dies, da wir Sie nicht verklagen können, der einzige Weg, auf dem wir uns Genugthuung verschaffen können, ich wünschte aber nicht, daß Sie uns in die Notwendigkeit versetzen, ihn zu betreten. Und wie weist der Herr Berichterstatter mir den Mangel an Wahrheit nach? Wenn ich mich noch der langen Rede recht erinnere, so warf er mir als nicht übereinstimmend mit dem Berichte diejenige meiner Aeußerungen vor, durch die ich die liberale Partei beschuldigte, ihre Sympathien für die Flotte hätten sich vermindert. Um zu beweisen, daß dies unrichtig war, 152

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liest er mir all die schönen Worte vor, die die Kommission in dem Berichte für die Flotte gemacht hat, während doch der Schluß lautet, Geld geben wir nicht. Ja, meine Herren, wenn Worte Geld wären, dann hätten wir der Freigebigkeit, mit der Sie die Regierung behandeln, nur unsere dankbare Bewunderung zu zollen.“ Diese Verhandlung fand am 2. Juni statt. Am 3.  früh ließ der Minister durch einen Vetter seiner Gemahlin, Hauptmann von Puttkamer, Herrn Virchow auffordern, jene Beleidigung zurückzunehmen oder durch einen Zweikampf Genugthuung zu geben. Virchow mußte gerade an den Rhein verreisen und gab keine bestimmte Erklärung. An demselben Tage erzählte Bismarck auf Befragen eines Diplomaten, daß er Virchow gefordert habe. Am 6. erschien eine bezügliche Nachricht in der Kölnischen Zeitung; ob dieselbe von einem Freunde des Herrn Virchow oder aus diplomatischer Quelle kam, ist nicht festgestellt worden. Von da ab wurde jede Bewegung der Beteiligten polizeilich beobachtet. Zwischen dem Abgeordneten von Hennig und mir fand am 6. eine Verhandlung statt, welche ergebnislos blieb, weil Hennig an der für mich unannehmbaren Ansicht festhielt, der eigentlich Beleidigende sei der Ministerpräsident gewesen durch die Nebeneinanderstellung Virchows und Hannibal Fischers. Im Abgeordnetenhause erklärte am 8. Forckenbeck, Virchow würde seine Pflicht gegen das Land verletzen, wenn er wegen einer von ihm als Abgeordneten gethanen Aeußerung eine Duellforderung annehme. Der Präsident Grabow stimmte ihm lebhaft zu; ebenso die Abgeordneten Twesten, Waldeck und Gneist. Man betonte auch, daß die angeblich beleidigende Aeußerung Birchows vom ­Präsidenten nicht gerügt worden war. Dagegen aber wurde geltend gemacht, wenn jemand sich durch ein im Hause gefallenes Wort in seiner Ehre gekränkt fühle, so sei er allein Richter darüber, was zur Herstellung seiner Ehre geschehen müsse; und weder die Meinung einer Majorität des Hauses noch die des Präsidenten allein könne ihm die als notwendig empfundene ­Genugthuung gewähren. Dieser von drei Konservativen vertretenen Ansicht traten auch einzelne Mitglieder des linken Centrums bei wie Stavenhagen und Bockum-Dolffs. Es wurde nicht abgestimmt, aber man war darüber einverstanden, daß die Majorität aufseiten des Präsidenten stand, welcher am Schluß nochmals die „dringende Erwartung“ aussprach, daß Virchow – der nicht anwesend war – sich der Meinung des Hauses unterwerfen werde. Am 8.  abends teilte der Abgeordnete von Hennig schriftlich mit, daß ­Virchow die Duellforderung ablehnte. Wenn dieser Abschluß der Sache mich auch nicht ganz befriedigte, so war ich doch froh über die Beseitigung eines Streitfalles, in dessen Behandlung 153

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vonseiten meines Chefs ich seine sonst immer von mir bewunderte überlegene Weisheit vermißt hatte. Virchows unziemlicher Angriff schien mir durch die oben mitgeteilte öffentliche Belehrung siegreich abgewiesen, die Duellforderung daher ein anfechtbarer Luxus. Nachdem sie aber einmal erfolgt war, hätte es doch wohl der Geheimhaltung bedurft, um mit Sicherheit dem Gegner die Verantwortung eines etwaigen Bekanntwerdens zuschieben zu können, welches notwendigerweise augenfällige polizeiliche Vorkehrungen hervorrufen mußte, die den Ernst der Sache schädigten. Natürlich war ich vom ersten Augenblick an entschlossen gewesen, das Duell mit erlaubten oder unerlaubten Mitteln zu verhindern. Es wäre nach meinem Gefühle Landesverrat gewesen, den unersetzlichen Mann einer Bleikugel oder dem Strafrichter entgegengehen zu lassen. Bei der am 13. Juni stattfindenden Beratung der Kriegskostenvorlage ­erinnerte Bismarck daran, welche Befürchtungen das Haus im Dezember 1863  durch Annahme der Resolution Schulze-Delitzsch zu erkennen gegeben  hatte. Darin sei gesagt worden, „daß dieser Gang in der preußisch-österreichischen Politik kein anderes Ergebnis haben kann, als das: die Herzogtümer zum zweiten Mal an Dänemark zu überliefern; daß die königliche Staatsregierung, indem sie diese rein deutsche Sache als ­europäische behandelt, die Einmischung des Auslandes herbeizieht; daß die  angedrohte Vergewaltigung den berechtigten Widerstand der übrigen deutschen Staaten und damit den Bürgerkrieg in Deutschland herausfordert“. Alle diese Befürchtungen seien nicht eingetroffen. Auch die von dem Hause damals positiv bezeichneten Wünsche seien erfüllt oder, soweit die Erfüllung in Betreff der Einsetzung des Herzogs rückständig, liege sie, wie früher erwähnt, ganz in unserer Hand und könne erfolgen, sobald wir die Sicherheit hätten, daß die im Interesse Preußens und des gesamten Deutschlands an die Herzogtümer zu stellenden Forderungen durch den Herzog erfüllt werden würden. Man werfe der Regierung vor, daß der von ihr eingeschlagene Weg uns in Schleswig-Holstein einen Mitbesitzer gegeben habe; der von dem Hause empfohlene Weg aber würde uns 32 Mitbesitzer gegeben haben und an deren Spitze den jetzigen, und zwar nicht mit derselben Gleichberechtigung, sondern mit der Ueberlegenheit der Präsidialmacht und als Führer der Bundesmajorität gegen Preußen. Ferner habe ein Redner getadelt, daß wir eine Gelegenheit versäumt hätten, uns an die Spitze der mittleren und kleineren Staaten Deutschlands 154

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zu stellen. Wenn der Herr eine Zeit lang Bundestagsgesandter in Frankfurt gewesen wäre, so würde er sich überzeugt haben, daß die Majorität der Mittel- und Kleinstaaten sich nicht freiwillig einer preußischen Aktion unterzuordnen bereit gewesen wäre, ohne Preußen in der Ziehung der Konsequenzen aus dieser Aktion zu hemmen. Dann fuhr der Minister fort: „Die Frage, über die ich hier einen Ausspruch des Hauses noch mehr als über die finanzielle erwartet hätte, ist die politische, die Frage der Gegenwart und Zukunft. Diese Frage nun, die seit 20 Jahren in dem Vordergrunde des deutschen politischen Interesses gestanden hat, diese Frage harrt gegenwärtig der Lösung. Sie, meine Herren, sind durch die Vorlage der Regierung in die Lage gesetzt, sich zu äußern. Sie haben die Gelegenheit zu sprechen – ich möchte sagen, Sie sind en demeure gesetzt, zu reden. Das Land hat ein Recht, zu erfahren, was die Meinung seiner Landesvertretung über die Sache sei …“ „Ich halte es für die Herzogtümer allerdings außerordentlich viel vorteilhafter, Mitglied der großen preußischen Genossenschaft zu werden, als einen neuen Kleinstaat mit fast unerschwinglichen Lasten zu errichten. Aber wenn dieses Programm verwirklicht werden sollte, so würden eben auch diese selben Lasten auf den preußischen Staat übernommen werden müssen. Wir würden nicht die Herzogtümer in den preußischen Staatsverband unter irgendeiner Form aufnehmen können und ihnen dennoch die preußischen Kriegskosten abverlangen oder sie die österreichischen Kriegskosten bezahlen lassen oder sie auch nur in der Ungleichheit der Schulden bestehen lassen, welche doppelt so viel auf einen Kopf in Schleswig-Holstein austragen wie in Preußen. Wir würden sie mit allen preußischen Staatsbürgern gleichstellen müssen.“ Dann führte der Minister aus, der Gedanke der Annexion habe, auch wenn er nicht zur Ausführung käme, jedenfalls Gutes gewirkt. Das Erbteil kleinstaatlicher Verhältnisse, die Abneigung gegen die Uebernahme von Pflichten der Bürger eines großen Staates, die Abneigung zur Bewilligung solcher Bedingungen, die der Bevölkerung Lasten, namentlich in der Heeresfolge, auferlegen, diese Abneigung habe sich vermindert in demselben Maße, in dem die Idee der Annexion Boden gewann. Unter dem Drucke dieser Idee habe man sich unseren Wünschen genähert, aber noch nicht so weit, daß wir darauf abschließen könnten. Bei den nun folgenden Abstimmungen konnte das Haus sich über irgendeine Ansicht in der schleswig-holsteinschen Sache nicht einigen; sämtliche Anträge blieben in der Minorität. 155

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Die Session wurde am 17. Juni auf Befehl des Königs durch eine Rede des Ministerpräsidenten geschlossen, welche die überwiegend negativen Resultate der Session aufzählte, dann aber folgende Worte brachte: „Die Regierung Seiner Majestät … wird unbeirrt durch feindseligen und maßlosen Widerstand in Rede und Schrift, stark im Bewußtsein ihres guten Rechts und guten Willens, den geordneten Gang der öffentlichen Angelegenheiten aufrechterhalten und die Interessen des Landes nach außen wie nach innen kräftigst vertreten. Sie lebt der Zuversicht, daß der Weg, den sie bisher innegehalten, ein gerechter und heilsamer gewesen ist, und daß der Tag nicht mehr fern sein kann, an welchem die Nation, wie bereits durch Tausende aus freier Bewegung kundgewordener Stimmen geschehen, so auch durch den Mund ihrer geordneten Vertreter ihrem königlichen Herrn Dank und Anerkennung aussprechen werde.“

* * * Im Bunde stimmte Oesterreich für den bereits erwähnten bayerischen ­Antrag wegen Einsetzung Augustenburgs, welcher mit 9  gegen 6  Stimmen zum Beschluß erhoben wurde. Preußen erklärte sofort, die „vertrauensvolle Erwartung“ des Bundes werde sich nicht erfüllen, und kündigte an, daß alte brandenburgische Ansprüche auf die Herzogtümer nachzuweisen seien. Die Einrichtung der preußischen Marinestation im Kieler Hafen rief einen österreichischen Protest hervor, der von Preußen „mit Befremden“ zurückgewiesen wurde, da jedem der Miteigentümer die Benutzung der Häfen und Buchten des Landes freistehe und längst bekannt sei, daß Preußen keiner Entscheidung über die Zukunft der Herzogtümer zustimmen werde, welche den Kieler Hafen nicht in seinen Händen ließe. So schärften sich die Gegensätze. Der König berief am 29. Mai einen Ministerrat. Nur Bodelschwingh wünschte, einen Bruch mit Oesterreich jedenfalls zu vermeiden; von den übrigen Ministern rieten einige sogleich, die Annexion zu fordern, also den Krieg herbeizuführen, andere bei den Februarbedingungen als erster Etappe zur Annexion stehen zu bleiben. Bismarck meinte, da in Wien die Tendenz der Niederhaltung Preußens wieder zur Herrschaft gelangt sei, werde es wohl früher oder später zum Kriege kommen; er könne aber den Rat dazu nicht geben. Ein solcher Entschluß dürfe nur aus freier Ueberzeugung Seiner Majestät hervorgehen. Der König behielt sich die Entscheidung vor; es blieb daher bei dem Programm der Februarbedingungen. 156

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Im Juni lud Bismarck Herrn Paul Mendelssohn-Bartholdy zu einer Besprechung ein, um dessen Ansicht darüber zu hören, wie die kaufmännische Welt einen Krieg mit Oesterreich auffassen würde. Er überraschte Herrn Mendelssohn – wie dieser mir bald darauf erzählt hat – durch die Darlegung seiner Ueberzeugung, daß der Krieg, wenn er wirklich ausbräche, binnen vier Wochen beendigt sein würde, da unsere Armee der österreichischen durch Zahl und Ausbildung der Truppen sowie durch schnellere Mobilmachungsfähigkeit weit überlegen sei. Trotz dieser Ueberzeugung, welche er sonst meines Wissens niemals in so bestimmter Weise ausgesprochen hat, blieb sein eifriges Bestreben, Wege zu friedlicher Verständigung mit dem Bundesgenossen zu finden; viele ­Depeschen wurden gewechselt wegen der Modalitäten einer Einberufung des schleswig-holsteinischen Landtages, welche Bismarck trotz der notorischen Stimmungen der dortigen Bevölkerung für zweckmäßig hielt. Es kam aber nicht dazu, weil Graf Mensdorff schließlich seine entschiedene Abneigung dagegen zu erkennen gab und mit versöhnlichen Vorschlägen hervortrat; vielleicht infolge innerer Schwierigkeiten des Donaureiches. Im Juni knüpfte man die im März abgebrochenen Verhandlungen über die Februarbedingungen wieder an. Graf Mensdorff meinte, der Kieler Hafen und Rendsburg könnten zugestanden werden, wegen der Militärhoheit jedoch sei die Entscheidung dem Bunde vorzubehalten; über andere Punkte wie die Marine, den Nord-Ostsee-Kanal, die Verkehrsverhältnisse möge Preußen sich mit dem künftigen Souverän direkt verständigen, dessen baldige Einsetzung daher dringend zu wünschen sei. Bismarck acceptierte vollständig dieses ganze Programm in der Hoffnung, daß beim Bunde das sachliche Bedürfnis einer Militärkonvention Anerkennung finden würde, und fügte hinzu, Preußen wäre auch zu sofortiger Einsetzung eines Herzogs bereit, wenn Oesterreich statt des Erbprinzen den Großherzog von Oldenburg annehme. Erst neuerlich habe das kaiserliche Kabinett die früher von ihm abgelehnte Kandidatur Augustenburgs bevorzugt, welche jedoch wegen fortgesetzt ungehörigen Verhaltens desselben für Preußen nicht annehmbar sei. Auch nach dem Einzuge der preußischen Truppen in Holstein hatte der Prinz nämlich nicht aufgehört, sich als dem Landesherrn huldigen zu lassen. Solche Thatsachen empfand der König als Verletzungen seines Hoheitsrechtes. Er gab in einem eigenhändigen Schreiben dem Wunsche Ausdruck, der Erbprinz möchte die Herzogtümer verlassen, um die Schwierigkeiten der Lage zu vermindern. Derselbe hatte früher einige Jahre in Potsdam beim ersten Garderegiment gestanden und war als Besitzer einer Herrschaft in 157

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Schlesien preußischer Unterthan. Der König war daher unangenehm überrascht, als eine bestimmt ablehnende Antwort einging. Am 6. Juli wurde der Geburtstag des Erbprinzen in mehreren Städten der Herzogtümer, namentlich in Kiel, durch öffentliche Veranstaltungen gefeiert; auch empfing er verschiedene huldigende Deputationen. Fast gleichzeitig erhielt der König in Karlsbad ein Rechtsgutachten der Kronjuristen, welches den Anspruch des Hauses Augustenburg auf die Thronfolge in den Herzogtümern verneinte. Das Kronsyndikat, welches im Dezember 1864  aufgefordert war, die augustenburgischen, oldenburgischen und brandenburgischen Ansprüche zu prüfen, bestand damals aus 18 Juristen, von denen sich 14 in absolut unabhängigen Stellungen befanden. Ihr Beruf30 war nicht etwa, Rechte der Krone  zu vertreten, sondern, dem König auf Befragen über zweifelhafte Rechtsverhältnisse Auskunft zu geben. Diese Männer, unter welchen sich die ersten juristischen Autoritäten des Landes befanden, hatten nach gründlicher Prüfung des ganzen urkundlichen Materials durch Majoritätsbeschluß festgestellt, daß die augustenburgischen Ansprüche infolge des Verzichts des Herzogs Christian erloschen seien und daß kein anderes Hoheitsrecht in den Herzogtümern bestehe als das von Preußen und Oesterreich durch den Wiener Frieden erworbene. Durch dieses Gutachten fühlte der König sich von den Gewissensbedenken erlöst, welche ihn 1864 in Schönbrunn und später verhindert hatten, für die Annexion einzutreten.

* * * Am 26. Juni schlossen sich Bismarck und Abeken dem Gefolge des Königs in Karlsbad an, ich konnte mich erst einige Tage später dort melden. Wir wohnten diesmal in der hoch über dem Sprudel inmitten eines schattigen Gartens einsam gelegenen Villa „Helenenhof “. Einige Wochen vorher hatte ein Hofbeamter mir diese Wohnung für den Minister telegraphisch angeboten, und in Abwesenheit desselben hatte ich sie gemietet, ohne zu bedenken, daß das täglich mehrmalige Ersteigen von vielleicht hundert Treppenstufen ihm lästig sein würde. Beim Ankommen sagte er zu Abeken: „Die Aussicht ist ja hier recht schön; aber die Wohnung paßt doch mehr für einen Dichter als für einen Geschäftsmann.“ Er soll in 30 Kabinettsordres vom 12. Oktober und 27. November 1854, s. Bauer, Neuere ständische Gesetzgebung S. 447.

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den ersten Tagen über das viele Steigen geklagt haben; empfänglich aber war er für die reine Luft auf der kleinen Höhe. Auch daß unmittelbar unter seinem Schlafzimmer ein Paar Kühe standen und sich mitunter hörbar machten, war ihm angenehm. Alles, was an das Landleben erinnerte, pflegte ihn anzuheimeln. Als ich ankam, verlor er kein Wort über die Wohnung. Abeken, auf dessen Leistungsfähigkeit gerade in diesen Wochen viel ankam, wurde durch den Aufenthalt in diesen idyllischen Umgebungen sichtlich erfrischt und gestärkt. Unsere kameradschaftliche Freundschaft ­befestigte sich und ist niemals auch nur für einen Augenblick durch irgendeine Mißempfindung getrübt worden. Die Geschäftsverteilung zwischen uns war dieselbe wie im Jahre vorher; Abeken bearbeitete die ganze politische Korrespondenz, welche damals Wien gegenüber ernste Töne anzuschlagen hatte. Man war über die Behandlung der Februarbedingungen einig geworden, aber die Anwesenheit des Erbprinzen in Holstein erwies sich als ein unübersteigliches Hindernis der Verständigung. Wir bezeichneten die fortgesetzten öffentlichen Demonstrationen für einen willkürlich aufgestellten Landesherrn als unverträglich mit dem unanfechtbaren Hoheitsrechte des Königs. Man erwog alle für den Fall der Selbsthilfe erforderlichen Vorkehrungen und faßte die Möglichkeit des Krieges mit Oesterreich scharf ins Auge. Zum 21. Juli berief der König alle Minister sowie Goltz und Werther nach Regensburg. Dort wurde die letzte nach Wien zu richtende Depesche festgestellt, welche darauf hinausging, daß, wenn Oesterreich der Herstellung der Ordnung in den Herzogtümern zuzustimmen beharrlich ablehne, Preußen einseitig das Erforderliche vorkehren werde. Bezügliche Befehle sollten jedoch während der beabsichtigten Anwesenheit des Königs in Gastein noch nicht erlassen werden; man hatte schon in Karlsbad das Anerbieten des Grafen Mensdorff, einen Vertrauensmann zur Besprechung der Lage zu senden, bereitwillig angenommen. Auf der Reise von Regensburg nach Gastein gab es einen Ruhetag in Salzburg. Dorthin kam Pfordten, welcher, obwohl ein Führer der Mittelstaaten, doch in manchen Beziehungen unseren Anschauungen weniger fernstand als Beust. Bismarck legte ihm mit rückhaltloser Offenheit die Schwierigkeiten der Lage dar, worauf Pfordten die relative Berechtigung unserer Auffassung anerkannte und sowohl auf Graf Mensdorff wie auf den Erbprinzen vermittelnd einwirken zu wollen erklärte. Zwei Tage später wurde in Altona der Redakteur der Schleswig-Holsteinischen Zeitung, ein preußischer Unterthan Namens May, wegen der strafbaren Angriffe seiner Zeitung auf den König von einer preußischen 159

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­ atrouille gefangen genommen und nach der Festung Rendsburg abgeführt. P Gegen dieses Verfahren protestierten die Kieler Landesregierung und Baron Halbhuber. Briefe, welche den Letzteren kompromittierten, wurden unter Mays Papieren gefunden. In Wien war inzwischen eine seit längerer Zeit vorbereitete vollständige Wandlung der inneren Politik durch einen Ministerwechsel zum Ausdruck gekommen. Nur Graf Mensdorff, der Kriegsminister und Graf Moritz ­Esterhazy blieben davon unberührt; aber Herr von Schmerling, der Leiter der liberalen inneren Politik, und seine gleichgesinnten Kollegen wurden entlassen. Schmerling hatte zwar einige Jahre hindurch das Parlament mit ungewöhnlichem Geschick geleitet, vermochte aber zuletzt weder das stetig wachsende Deficit im Staatshaushalt zu beseitigen noch wiederholte Abstriche unerläßlicher Forderungen im Militäretat zu verhindern. Auch sein Verhalten gegen die grollenden Ungarn führte nicht zu annehmbaren Ergebnissen; seine Stellung wurde unhaltbar. Schmerling war in Uebereinstimmung mit Biegeleben und mit der ­großen  Mehrzahl seiner Landsleute von dem Gedanken Schwarzenbergs erfüllt, daß zum Gedeihen des Reiches die Niederhaltung Preußens notwendig sei. Diese Denkweise war ein natürliches Ergebnis der Vorgänge von 1849 und 1850. Das Frankfurter Parlament hatte die durch Jahrhunderte von den Beherrschern Oesterreichs getragene deutsche Kaiserkrone dem König von Preußen angeboten und dieser hatte daraus ein Anrecht auf die „Unionspolitik“ hergeleitet. Die Erhaltung der Präsidialstellung Oesterreichs im Deutschen Bunde, des letzten Restes des ehemaligen Kaisertums, lag jedem Deutsch-Oesterreicher am Herzen. Man hatte 1850  den Nebenbuhler gedemütigt und man durfte ihn doch nicht mächtig genug werden lassen, um wieder eine Unionspolitik einzuleiten. Die Mittelstaaten hatten sich im Jahre 1850  als die natürlichen Bundesgenossen erwiesen, in Frankfurt die Präsidialmacht bis 1863  konsequent unterstützt und durch ihre Bestrebungen für Augustenburg die öffentliche Meinung in Oesterreich derselben Richtung zugeführt. Es ist erstaunlich, daß inmitten dieser Strömungen der ihn umgebenden politischen Welt Graf Rechberg vermocht hat, eine Zeit lang die preußische Politik zu fördern. Von allen Seiten gedrängt, mußte er jedoch schon im Mai 1864 wieder in mittelstaatliche Bahnen einlenken. Nach seinem Sturze dominierte Schmerlings und Biegelebens Einfluß. Als nun Schmerling fiel, wurde mit dessen innerer Politik von dem Ministerium des Grafen Belcredi vollständig gebrochen, nach kurzer Zeit sogar 160

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die Verfassung suspendiert. Rückwirkungen dieses Bruches traten auch in der Gestaltung des Verhältnisses zu Preußen hervor. Der eigentliche Leiter des neuen Ministeriums, Graf Moritz Esterhazy, stand in enger Fühlung mit den ungarischen Magnaten, haßte die liberalen Deutsch-Oesterreicher wie die liberalen Regierungen und Landtage der Mittelstaaten und hielt für ratsam, mit dem konservativen Preußen eine Verständigung zu suchen. Die öffentliche Meinung verlangte zwar den Krieg, da der preußische Uebermut unerträglich wäre; Esterhazy aber erkannte klar, daß augenblicklich aus militärischen und finanziellen Gründen ein großer Krieg mit Aussicht auf Erfolg nicht unternommen werden konnte. Er begrüßte daher als willkommenes Auskunftsmittel den von dem Gesandten in München, Grafen Blome, ihm nahegelegten Gedanken, die gemeinschaftliche Verwaltung in Schleswig-Holstein zu teilen. Graf Blome, ein geborener Holsteiner, war wie fast alle holsteinischen Edelleute ein Gegner Angustenburgs und der mittelstaatlichen Politik. Er wurde als der verheißene Vertrauensmann nach Gastein geschickt. Nach längeren, durch eine Reise nach Wien unterbrochenen und vor Biegeleben sorgfältig geheim gehaltenen Verhandlungen kam am 14. August der vielgeschmähte Gasteiner Vertrag zustande. „Unbeschadet der Fortdauer der durch den Artikel III des Wiener Friedenstraktats vom 30. Oktober 1864 gemeinsam erworbenen Rechte beider Mächte an der Gesamtheit der Herzogtümer“, sollte die Ausübung derselben in Schleswig Preußen, in Holstein Oesterreich zustehen, in Rendsburg alternierende Besatzung stattfinden, der Kieler Hafen an Preußen allein überlassen, die Anlegung eines Nord-Ostsee-Kanals durch Holstein gestattet und endlich das Herzogtum Lauenburg dem Könige von Preußen für 2 Millionen dänischer Thaler verkauft werden. Bismarck hatte sich zu diesen Abmachungen nicht gerade gern entschlossen, wenn es ihm auch gelungen war, den Entwurf Blomes im Einzelnen günstiger für uns zu gestalten. Aber eine für den Kriegsfall erwartete Hilfe blieb aus und eine unerwartete Gefahr zeigte sich. Früher hatte Nigra, damals italienischer Gesandter in Paris, mehrfach ausgesprochen, ein preußisch-österreichischer Krieg würde unfehlbar von einem italienischen Angriff auf Venetien begleitet werden; dieselbe Ansicht hatte auch Usedom vertreten, jetzt aber wollte der mißtrauische Ministerpräsident La Marmora keinerlei Zusage geben. Und in Paris hatte Goltz trotz mancher früheren Sympathieäußerungen eine Zusicherung eventueller Neutralität nicht zu erlangen vermocht; man mußte daher auf eine französische Intervention gefaßt sein. Diese in Gastein ankommenden Nachrichten trugen dazu bei, daß Bismarck sich entschloß, dem Könige die Annahme des Vertrages a­ nzuraten, welcher, wie der M ­ inister sich 161

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ausdrückte, „die Risse im Bau noch einmal verkleben“ konnte und jedenfalls den Vorteil darbot, daß Oesterreich sich darin wieder auf die Grundlage des Wiener Friedens stellte. Die wiederholte Betonung der erworbenen Souveränitätsrechte beider Verbündeten schloß Anerkennung von Ansprüchen anderer Prätendenten aus und bedeutete demnach Aufgeben der im letzten Jahre in Gemeinschaft mit den Mittelstaaten befolgten Politik. Erwünscht schien auch, daß der Verkauf des Anrechtes an Lauenburg hoffen ließ, Oesterreich würde in Zukunft dem Verkaufe seiner Rechte an Holstein sich weniger abgeneigt zeigen als bisher. Zufällig kam am Tage der Unterzeichnung des Vertrages Beust nach ­Gastein, der leidenschaftlichste Führer mittelstaatlicher Politik. Am 17. August diktierte Bismarck in übermütiger Laune für das Auswärtige Amt folgende Mitteilung, welche einer zum Eingehen auf diesen Scherz bereiten Zeitung zugehen sollte: „Herr von Beust ist am 14. August in Gastein angekommen, kurz vor der auf den 15. angesetzten Abreise des Grafen Blome. Dem Vernehmen nach war es wesentlich der versöhnlichen Einwirkung des sächsischen Ministers zu danken, daß die bereits gescheiterten Verhandlungen zwischen Bismarck und Blome in der letzten Stunde wieder ausgenommen und befriedigend abgeschlossen wurden. Man hat in Preußen Herrn von Beust doch wohl unterschätzt und für zu leidenschaftlich und einseitig angustenburgisch gehalten; bei dieser Gelegenheit hat er sich als ein weitblickender, vorurteilsfreier Politiker bewährt.“ Beim Bekanntwerden des Gasteiner Vertrages wurde fast überall, in Deutschland wie in Oesterreich, die Meinung laut, daß Preußen gesiegt und Oesterreich durch den augenscheinlichen Abfall von den Mittelstaaten wie auch durch den Verkauf von Lauenburg Demütigungen erlitten habe. Bayern und Sachsen hatten aus Rücksicht für Oesterreich gezögert, dem Zollvereinsvertrage mit Italien beizutreten und das junge Königreich anzuerkennen; beide Staaten aber trafen nun sofort die hierzu erforderlichen Einleitungen. Der Gasteiner Vertrag bewirkte, daß Italien vor dem Jahresschluß von allen deutschen Staaten anerkannt wurde mit Ausnahme von zweien, denen nur noch eine kurze Lebensdauer bestimmt war, nämlich Hannover und Nassau. Als am 18. August Bismarck mit Abeken und mir im offenen Wagen auf dem Wege nach Salzburg durch das grüne Thal von Hofgastein fuhr, sagte er: „Wenn ich es noch erlebe, daß in Kiel ein preußischer Oberpräsident sitzt, will ich mich auch nie mehr über den Dienst ärgern.“ Ich sprach die Hoffnung aus, später einmal an diese Worte erinnern zu dürfen. 162

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VII. Allmähliche Lockerung des österreich. Bündnisses … August 1864 bis August 1865.

Nach einiger Zeit sagte er: „Faust klagt über die zwei Seelen in seiner Brust; ich beherberge aber eine ganze Menge, die sich zanken. Es geht da zu wie in einer Republik … „Das meiste, was sie sagen, teile ich mit. Es sind da aber auch ganze Provinzen, in die ich nie einen andern Menschen werde hineinsehen lassen.“ … In Salzburg begegneten sich die Monarchen. Dort wurde bestimmt, daß der dem Kaiser besonders sympathische General Manteuffel in Schleswig und der vom Könige hochgeschätzte General Gablenz in Holstein die Verwaltung leiten sollten. Am 21. fuhr der König, von Bismarck gefolgt, nach Ischl, um der Kaiserin einen Besuch abzustatten; Abeken und ich blieben in Salzburg. Dann reiste Bismarck mit mir über München, wo er mit Pfordten, und Stuttgart, wo er mit Varnbüler konferierte, nach Homburg. Dort hielt sich Frau von Bismarck einer Kur wegen auf, begleitet von ihrer Tochter und Gräfin Fanny Keyserling31. Nach kurzem Verweilen trafen wir dann in Baden wieder mit Abeken zusammen, der inzwischen eine kleine Erholungsreise gemacht hatte. Wie im Jahre vorher war unser Quartier in dem auch von dem Gesandten Grafen Flemming bewohnten Landhause. Dort gaben wir nach Anweisung des Ministers einem französischen Schriftsteller das Material zu einer Broschüre über die Gasteiner Konvention, welche dann bei Dentu in Paris erschien. Die französischen Zeitungen hatten die Gasteiner Abmachungen für eine Definitive gehalten und giftige Angriffe dagegen gerichtet; eine Aufklärung der öffentlichen Meinung in Frankreich schien dem Minister erwünscht. Graf Goltz hatte zwar amtlich erklärt, der ganze Lärm sei gegenstandslos, da es sich nur um ein vielleicht kurzes Provisorium handele; der Minister Drouyn de Lhuys that aber nichts, um die Schreier zu beruhigen. Im Gegenteil richtete er (am 29. August) an die französischen Agenten im Auslande ein Cirkular, welches unsere Politik in unhöflichster Form verdammte. Dasselbe kam erst später, als wir schon wieder in Berlin waren, durch die belgische Presse zu unserer Kenntnis. In Baden hatte Bismarck eines Abends große Freude an Joachims Geige, welche in Flemmings Wohnzimmer ein treffliches Streichquartett anführte.

31 Jetzt Frau von Batocki-Bledau; eine intime Freundin des Hauses.

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VIII. Merseburg. Lauenburg. Biarrits. Ende des österreichischen, Abschluß des italienischen Bündnisses. Antrag auf deutsches Parlament. Mobilmachungen. September 1865 bis Juni 1866. Am 6. September ging’s wieder fort über Homburg nach Berlin, wo die Verwaltung von Schleswig manches zu thun gab. Im Mai schon war von der Kölnischen Zeitung behauptet worden, daß die Organe der Kieler Landesregierung in Nord-Schleswig die dänisch redende Bevölkerung mit ähnlichen Bedrückungen quälten, wie sie früher die Deutschen von den Dänen erfahren hatten. Eine auf Bismarcks Anregung durch Zedlitz veranlaßte Untersuchung ergab die Richtigkeit dieser Behauptungen; der Einspruch Halbhubers aber verhinderte gründliche Remedur. Die Thatsache der stattgehabten Untersuchung belebte die Hoffnungen der dänisch redenden Schleswiger, und Anfang September folgten sie in Masse einer Einladung nach Kopenhagen, wo man wissen wollte, daß der mächtige Kaiser der Franzosen die Rückgabe Nord-Schleswigs an Dänemark bewirken würde. General Manteuffel, der nunmehrige Gouverneur von Schleswig, trat diesem Irrtum öffentlich entgegen, faßte aber fast gleichzeitig die Anstellung von ehemals dänischen Beamten ins Auge. Er war mit Zedlitz darin einverstanden, daß in Schleswig ein Regierungskollegium wie das Kieler nicht zu bilden, sondern daß die Verwaltung von dem Präsidenten allein mit Hilfe vortragender Räte zu führen sei. Für solche aber fehlte es an geeigneten Personen, wenn man nicht augustenburgisch gesinnte anstellen wollte. Daher wurde beabsichtigt, einige der gut qualificierten, ehemals dänischen Beamten zu wählen. Bismarck trat dieser Absicht entschieden entgegen und betonte, es komme darauf an, daß wir uns als „Freunde unserer Freunde“ bewährten; er empfahl demnach, Leute aus der in Flensburg gebildeten Nationalpartei zu bevorzugen, auch wenn ihre Vorbildung nicht ganz genügend scheine. 164

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VIII. Merseburg. Lauenburg. Biarrits … September 1865 bis Juni 1866.

Am 16. September wurde dem Ministerpräsidenten die Grafenwürde verliehen. Er hatte so wenig wie seine soeben aus Homburg eingetroffene Gemahlin Freude an diesem Gnadenbeweise. Beide legten einen gewissen Wert darauf, Geschlechtern des altmärkischen und pommerschen „Uradels“ anzugehören; den Zwang aber, dem alten Namen ein neues Prädikat beizufügen, bezeichneten beide vertraulich als eine nicht leicht zu überwindende Unannehmlichkeit. Indes wußte Bismarck, wie lebhafte Genugthuung es seinem königlichen Herrn gewährte, ihn in dieser Weise auszeichnen zu können, und die Möglichkeit einer Ablehnung kam ihm daher nicht in den Sinn. Am 17. ging im Gefolge des Königs der Minister, nur von mir begleitet, nach Merseburg, wo eine Feier der 50-jährigen Zugehörigkeit der Provinz Sachsen, verbunden mit einem großen Korpsmanöver, fünftägigen Aufenthalt verursachte. Wir waren sehr angenehm einquartiert bei Herrn Regierungsrat Gaede, einem berühmten Bienenzüchter, welcher außerdem die Pflege feiner Bordeauxweine als Liebhaberei betrieb. Er hielt für nötig, dieselben mittelst einer kleinen Maschine einzuschenken, um jede mögliche Erschütterung der Flasche durch eine menschliche Hand auszuschließen. Der Minister hörte mit demselben Vergnügen sachkundige Mitteilungen über Bienenzucht, mit dem er beim Frühstück die feinen Weine probierte. Er ritt auch gern zum Manöver hinaus und hielt mitunter zu Pferde Imme­ diatvortrag. Am 21. kam er erhitzt und bestaubt vom Manöver zurück und fragte in meinem Zimmer nach den neuen Sachen. Ich legte ihm ein durch die Presse bekannt gewordenes englisches Cirkular vor, welches wie das oben erwähnte französische die Gasteiner Abmachungen in unhöflichen Ausdrücken tadelte. Der Minister ging, nachdem er gelesen, im Zimmer auf und ab und diktierte so schnell, daß ich kaum nachschreiben konnte, folgende in der Presse zu verwertende Betrachtungen. „Bei Meinungsverschiedenheiten der Deutschen unter sich sucht jeder seiner Sache dadurch ein Relief zu geben, daß er sagt: Hier bei mir ist Deutschland; ich vertrete die Macht, die Ehre, die nationalen Interessen der Gesamtheit. Bei der jetzt vorliegenden Divergenz zwischen den beiden Großmächten und der Würzburger Politik wird die Frage, wo das Interesse Deutschlands liegt, durch eine Probe aufs Exempel in schlagender Weise entschieden. „Das Prinzip, für welches Frankreich und England im Namen der deutschen Nationalität leidenschaftlich Partei ergreifen, ist ganz gewiß kein deutsches, ist ganz sicher nicht der Weg, auf welchem Deutschland zur Entwickelung seiner nationalen Kräfte gelangt. Durch die Protektion des 165

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Auslandes wird diejenige Partei, der sie zuteilwird, als die antideutsche gebrandmarkt. Wer die Lächerlichkeit nicht fühlt eines Deutschen Bundes unter französisch-englischer Protektion, einer schleswig-holsteinischen Nationalität unter französisch-englischem Protektorat, der deutschen Freiheit geschützt durch Frankreich, der ist sicher entschlossen, mit Hilfe des Auslandes Partikularzwecke zu verfolgen und deutsche Phrasen dazu als Maske zu gebrauchen. „England hat uns vom Siebenjährigen Krieg bis zum Wiener Frieden ausgebeutet und beeinträchtigt, und über Frankreichs teutonische Begeisterung und Frankreichs Schutz deutscher Freiheit, deutscher möglichst kleiner Nationalitäten, braucht man kein Wort zu verlieren. Frankreich hat offenbar gerechnet auf einen inneren Krieg Deutschlands. Das Mißvergnügen darüber, daß dieser innere Krieg, wenn nicht ganz beseitigt, so doch ins Unbestimmte vertagt ist, tritt zu plötzlich und zu leidenschaftlich in die Oeffentlichkeit, als daß nicht jeder Deutsche über die wiedergefundene Einigkeit der beiden großen Militärmächte sich beglückwünschen sollte. Die Leidenschaftlichkeit, mit der das französische Cirkular die Gasteiner Konvention verdammt, ins Deutsche übersetzt heißt: Ich hätte die Rheingrenze gewinnen können, ohne einer Koalition gegenüberzustehen, wenn die deutschen Großmächte nicht die Unwürdigkeit begangen hätten, sich einstweilen wieder zu verständigen. Wenn es irgendeine Form ernster und durchsichtiger Mahnung an die Deutschen gab, einig zu sein, so liegt sie in diesen fast identischen Cirkulardepeschen Englands und Frankreichs, deren Sprache zu stark ist, um sie einer Regierung, die sich selbst achtet, mitteilen zu können, und die man deshalb in die Form der Korrespondenz mit den eigenen Behörden einkleidet, denen gegenüber man seine Ausdrücke nicht zu mäßigen braucht, die man aber durch absichtliche Indiskretion in die Oeffentlichkeit wirft. „Die französische Regierung hätte den deutschen Regierungen kaum einen größeren Dienst erweisen können als durch diese drohende Sprache; sie braucht sie nur fortzusetzen, um sehr schnell alle Regierungen und alle Parteien in Deutschland zu einigen, die preußische Regierung nach Umständen fortschrittlich, die süddeutschen absolutistisch zu machen, falls es zur Verteidigung des gemeinsamen Vaterlandes gegen die Rheingelüste notwendig ist. Wenn irgendetwas die Deutschen in ihrer Gesamtheit einigen kann, so sind es französisch-englische Drohungen; und wir werden Mühe haben, alle Parteien in Deutschland zu überzeugen, daß diese westmächtliche Arbeit nicht eine von den deutschen Großmächten bestellte sei, so nützlich wirkt sie im deutsch-nationalen Interesse.“ 166

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VIII. Merseburg. Lauenburg. Biarrits … September 1865 bis Juni 1866.

Nach diesem Diktat setzte er sich ans Fenster und sagte halblaut: „Solange der Erbprinz in Kiel bleibt, hat man keine Sicherheit, daß wir mit der österreichischen Verwaltung gut auskommen werden; Edwin32 meint, in drei Monaten würden wir klar erkennen, wie es in Wien steht. Wenn Mensdorff wieder in Würzburger Politik verfällt, können wir ihm etwas SchwarzRot-Gold33 unter die Rase reiben. Die schleswig-holsteinische und die große deutsche Frage hängen so eng zusammen, daß wir, wenn es zum Bruch kommt, beide zusammen lösen müssen. Ein deutsches Parlament würde die Sonderinteressen der Mittel- und Kleinstaaten in gehörige Schranken weisen.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Und wenn unter den mittelstaatlichen Ministern sich ein Ephialtes fände, die große deutsche Nationalbewegung würde ihn und seinen Herrn erdrücken.“ Dann stand er schnell auf und verließ das Zimmer. Im Gefolge des Königs reisten wir am 23. nach Berlin, am 25. nach dem Herzogtum Lauenburg, in dessen Hauptstadt Ratzeburg die Huldigung der Stände für den neuen Landesherrn stattfinden sollte. Gegen Abend kamen wir in das freundliche Städtchen, welches an der Ostseite eines großen, von Buchenwäldern eingefaßten Sees liegt. Bismarck war zum Minister von Lauenburg ernannt worden und hatte als solcher die erforderlichen Anordnungen zu treffen. Bald nach dem Bekanntwerden der Gasteiner Konvention hatte ein Vertreter des ansässigen Adels den Wunsch ausgesprochen, der König möchte die Aufrechterhaltung gewisser alter Privilegien zusagen. Das war nicht geschehen, der Minister daher zweifelhaft, ob die Stände die ihnen in der Kirche vorzulesende Eidesformel beschwören würden. Für den Fall irgendeiner Zögerung war Bismarck entschlossen, das gesamte in der Kirche anwesende Volk schwören zu lassen. Eine zu diesem Zweck vorbereitete andere Eidesformel nahm er mit in die Kirche34. Die Huldigung der Stände erfolgte aber 32 General von Manteuffel. 33 Die nach 1815 von den deutschen Burschenschaften als Panier des Deutschen Reichs angenommene und 1848  als solches ziemlich allgemein anerkannte schwarz-rot-goldene Fahne (s. a.  oben S. 23) wurde 1867 durch die schwarz-weiß-rote ersetzt. 34 Moritz Busch erzählt (Unser Reichskanzler, Bd. I, S. 200), Bismarck habe am Abend des 25. dem Erblandmarschall von Bülow-Gudow bei einer Fahrt auf dem See mitgeteilt, was geschehen würde, wenn die Huldigung nicht ohne jede Störung erfolgte. Ich kann diese Angabe weder bestreiten noch bestätigen. Obwohl in demselben Hause wie der Minister einquartiert, habe ich von dessen Wasserfahrt nichts erfahren. Gewiß ist, daß er am Morgen des 26. auch die zweite Eidesformel mit nach der Kirche genommen hat.

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ohne Unterbrechung mit der wünschenswerten Feierlichkeit. Die so imponierenden wie gewinnenden Erscheinungen Sr. Majestät des Königs und Sr. Königlichen Hoheit des Kronprinzen machten sichtlich großen Eindruck auf die Anwesenden.

* * * Am 27.  von Lauenburg zurückgekehrt, rüstete der Minister sich, mit Gemahlin und Tochter auf einige Wochen nach Biarrits zu reisen. Er suchte wie in den Vorjahren die stärkenden Bäder, hatte diesmal aber auch besondere Gründe, einen persönlichen Meinungsaustausch mit dem Kaiser Napoleon zu wünschen. Derselbe hatte dem Grafen Goltz gelegentlich gesagt, er bedaure, daß Drouyn de Lhuys jenes Cirkular in seiner Abwesenheit und ohne sein Wissen abgesandt habe. Bismarck aber hörte in Paris von Rouher, einem Vertrauten des Kaisers, daß der Wortlaut des Schriftstückes durch diesen selbst vor der Absendung gebilligt worden sei. Von Drouyn de Lhuys mit ausgesuchter Höflichkeit empfangen, gab Bismarck diesem über unsere Politik ähnliche Aufschlüsse wie später dem Kaiser. In Biarrits, wohin von der Kaiserin Eugenie Graf Goltz und der Botschaftssekretär von Radowitz als einzige Fremde zu einem längeren Aufenthalt eingeladen waren, hatte unser Minister mehrmals Gelegenheit zu eingehenden Unterredungen mit dem mächtigen Herrscher, der ihn auch Anfang November noch einmal in St. Cloud empfing. Der Hauptinhalt der über diese verschiedenen Gespräche an den König erstatteten Berichte war Folgender: Der Minister entwickelte vor dem Kaiser die Ansicht, es sei ratsam, die Ereignisse nicht willkürlich schaffen zu wollen, sondern ihre natürliche Entwicklung abzuwarten und nur in geeigneten Momenten einzugreifen. Schleswig-Holstein betreffend, werde Oesterreich hoffentlich zur Abtretung seines Anrechtes gegen eine Geldsumme sich bereitfinden lassen. Die beabsichtigte Erwerbung der Herzogtümer sei jedoch als eine unmittelbare Verstärkung der preußischen Macht nicht anzusehen. Im Gegenteil müßte sie unsere Kräfte nach mehr als einer Richtung, behufs Entwicklung unserer Marine und unserer nördlichen Defensivstellung, in einem Maße festlegen, welches durch den Zuwachs von einer Million Einwohner nicht ausgewogen würde. Durch diese Erwerbung sei aber die historische Aufgabe Preußens nicht erfüllt, sondern mit deren Erfüllung erst ein Anfang gemacht. Preußen sei berufen, durch engere Verbindung mit einigen anderen Staaten in 168

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VIII. Merseburg. Lauenburg. Biarrits … September 1865 bis Juni 1866.

­ orddeutschland eine Macht zu schaffen, die stark genug wäre, um selbN ständige Politik zu treiben und nicht zur Anlehnung an die Ostmächte wie in den Jahrzehnten nach 1815 gezwungen zu sein. Im Interesse Frankreichs scheine zu liegen, eine solche Entwicklung mit Wohlwollen zu begleiten; denn würde sie durch Frankreich gehemmt, so wäre Preußen wieder darauf hingewiesen, in einer Koalition mit den Ostmächten Schutz zu suchen; während ein aufstrebendes Preußen immer einen hohen Wert auf die Freundschaft des westlichen Nachbars legen müßte. Der Kaiser bezeichnete die Anschauungsweise als ihm „vollkommen einleuchtend und sympathisch“. Um über die Zukunft der gegenseitigen Beziehungen sich zu verständigen, sei es nicht nötig, die Entwickelung der Dinge zu überstürzen, sondern ratsam, dieselbe abzuwarten und die Entschließungen der Lage anzupassen. Die Erwerbung von Schleswig-Holstein würde er empfehlen, durch irgendein Organ der Bevölkerung nachträglich sanktionieren zu lassen. Im Falle eines Konflikts in Deutschland sei ein Bündnis mit Oesterreich für ihn eine Unmöglichkeit. Einen Versuch dazu, den Metternich bei ihm kurz vor der Gasteiner Konvention machte, habe er abgelehnt. Nach alledem glaubte Bismarck im Kriegsfalle eine wohlwollende Neu­tra­ lität Frankreichs für wahrscheinlich halten zu dürfen. Ueber die Erlebnisse seiner Reise und des Aufenthalts in Biarrits schrieb die Gräfin: Biarrits, 8. Oktober 1865. ­… Die Verstimmung über die hetzjagende Abreise überwand ich bald, als wir still im Coupee saßen und weiter und weiter durch die eisige Nacht hinflogen. Es war so kalt, daß wir alles, was von Decken und Mänteln vorhanden, in Bewegung brachten. Die Morgensonne beschien vor Düsseldorf und weiter hin schneeweiß bereifte Ebenen und der Wind wehte so kalt ins Coupee hinein, daß wir sehnend an Pelze dachten und sehr glücklich über den aufmerksamen Bahndirektor in Köln waren, der uns mit geheiztem Zimmer und Frühstück empfing. Ich ging mit Marie wieder einmal durch den Dom mit immer neuem Entzücken. Bald nach 9 Uhr sausten wir weiter und freuten uns fortwährend über den sehr warmen Tag und die sehr hübschen Gegenden, durch die wir flogen  – mit denen ich die gleiche Ueberraschung erlebte wie in Schlesien, dem ich solche Schönheit gar nicht zugetraut. So wunderhübsch wie dort ist’s freilich nicht, aber doch sehr freundlich, voll Abwechselung und recht merkwürdiger Felspartien. Sie kennen es ja alles längst,

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also sage ich nur, daß ich viel mit Vergnügen hinausgeschaut und Witiko35 wenig las, den ich mir zu Bismarcks hoher Belustigung mitgenommen. Um 9 Uhr fuhren wir glücklich in Paris ein, wurden auf dem Bahnhof von Solms und Lynar empfangen, zum Hotel geleitet und nachher noch bis 11 Uhr spazieren geführt, die Boulevards entlang bis zur Place de la Concorde, Seinebrücke, Tuilleriengarten, Vendomesäule, Notre-Dame, Madeleine und Gott weiß welchen Herrlichkeiten.  – Dann soupierten wir mit ihnen in irgendeinem Café und schließlich fanden wir die Ruhe um 1 Uhr. Aber welch ein Unterschied in der Temperatur! Wie kühl und frisch den Abend vorher in Berlin und wie sommerlich warm Abend und Nacht in Paris! Andern Tages sehr heiß; wir fuhren unter Lynars Schutz durch viele Straßen und durchforschten alle möglichen Läden, die wir aber sämtlich so theuer fanden, daß Berlin sehr hoch in unsrer Achtung stieg. Wir gingen und fuhren bis halb sechs Uhr und jagten um 8 Uhr weiter nach Süden im wundervollen Mondschein, waren aber so müde, daß wir uns nicht viel um mögliche schöne Gegenden kümmerten, sondern sehr bald einschliefen; und ich glaube wir verloren nicht viel, denn gegen Morgen sah es überall recht langweilig aus, so nach Jüterbog, Luckenwalde und dergleichen Sand- und Kiefernsteppen, was bis Bordeaux und drüber hinaus, fast bis Bayonne fortdauert, wobei ich den halben Witiko ausgelesen – recht weitläufig, der echte Ur-Stifter, aber doch nicht uninteressant. Hinter Dax bekommt Frankreich eine anziehendere Physionomie, sehr grün und freundlich, mit den Pyrenäen und dem Meer am Horizont, und bleibt so bis Biarrits. Zuerst war ich hier etwas enttäuscht über die Schattenlosigkeit und die kahlen Felsen all überall, da ich mir fest eingebildet hatte, Kastanienwälder, Feigengärten und allerlei wunderbare breitblättrige südliche Bäume und Pflanzen zu finden. Die Gegend ist durchaus nicht überwältigend schön – fällt ihr gar nicht ein –, aber das Meer und der Himmel unvergleichlich und die Luft so bezaubernd weich, so wunderbar belebend wie nichts wieder, und fortwährend so warm wie die herrlichsten Julitage in Homburg. Morgen, Mittag, Abend, Nacht – immer gleich köstlich –, man hat durchaus keine Idee von solcher Luft bei uns. Bismarck und Marie baden mit Leidenschaft und sind sehr wohl, gottlob – ich werde es vielleicht noch, so Gott will, augenblicklich ist’s nicht besonders. Anfangs war es sogar recht schlimm, nun geht es wieder so mittelmäßig schwächlich weiter. Von Goltz sehen wir wenig, da er fast immer zu Kaisers eingeladen ist. Der Kaiserin sind wir vorgestellt und damit ist’s nun gut. Sie reist bald ab und Goltz wohl auch. 35 Roman von Adalbert Stifter.

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VIII. Merseburg. Lauenburg. Biarrits … September 1865 bis Juni 1866.

Ich hoffe, wir werden dann Savignys viel sehn, die gestern eingetroffen und recht angenehm sind. Wenn ich nur wieder erst ein bisschen mehr Athem habe, so wollen wir zusammen verschiedene Partien machen, wozu ich mich recht freue. Jetzt kann ich nur bis an den Strand hinunter oder mühsam einen kleinen Felsenhügel hinauf, um mich von der Seeluft durchwehen und stärken zu lassen – Gott gebe doch mit Erfolg! – Ich war in den ersten Tagen hier schrecklich verzagt, weil ich mich unbeschreiblich elend fühlte und mir einige Vorwürfe machte, dem armen Bismarck so viel zu kosten ohne jegliche Hoffnung auf Hilfe. Er ist heute zum Frühstück bei Ihro Majestät – schon seit drei Stunden dort. Ich finde höchst liebenswürdig und rücksichtsvoll, daß sie uns beide nicht befohlen; hoffe sie wirds auch nie thun. Die kaiserliche Villa liegt unserer höchst reizenden Wohnung gegenüber, hart am Strande, und wer gute Augen hätte, könnte die Frühstücksgesellschaft im Pavillon unaufhörlich beobachten … Grüßen Sie alles Liebe, was Ihnen in den Weg kommt, vor allen natürlich Lulu36 sehr … Marie und Bismarck grüßen viel und Letzterer läßt Ihnen sagen, er schwelgte in dem ungewohnten Genuß, keine Briefe zu bekommen. Biarrits, den 14. Oktober. ­­ … Jetzt ist der Hof abgereist, Goltz natürlich hinterher, auch Radowitz, der bei näherer Bekanntschaft recht gewinnt. So sind wir nun jeglicher gêne los und leben wie daheim, nur mit Savignys, sonst mit keinem. Mariechen hat sich noch eine russische Freundschaft besorgt, siebzehnjährig und ganz niedlich. Uns fehlt also gottlob nichts wie schönes Wetter, aber da das in Biarrits maßgebender ist wie sonst irgendwo, so fangen wir an, etwas katzenjämmerlich die Häupter hängen zu lassen über den dritten Regentag. Kalt ist es zwar immer noch nicht, im Gegentheil weht ein Zephir wie laues Wässerlein, aber der Regen ist zu schlimm hier und verstimmt uns ziemlich. Bismarck ist sehr einverstanden mit Ihrer Reise nach Schleswig – nur möchten Sie vorsichtig zu Werke gehn, bittet er, damit der Friedländer37 nicht gereizt werde, wozu er ja, wie Sie wissen, große Anlage hat, und ihn deßhalb auf Ihre Hinkunft in 36 Die Gemahlin des Obersten von Schenck geb. von Luck. 37 General Manteuffel citierte mitunter den Wallenstein, den er fast ganz auswendig wußte, und ist hier mit der Bezeichnung „Der Friedländer“ gemeint. Ich hatte mich erboten, wenn er es wünschte, ganz Schleswig zu bereisen, um mit allen Beamten zu sprechen und ihm für alle in nächster Zeit wahrscheinlich bevorstehenden Anstellungen Vorschläge zu machen, welche dann in Berlin genehmigt werden würden. Zedlitz schrieb mir sehr erfreut über diesen Gedanken, Manteuffel aber besorgte, daß eine solche Reise seinem Ansehen im Lande Eintrag thun könnte; und deshalb unterblieb sie.

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geeigneter Weise vorbereiten, ihm die Sache plausibel zu machen, so nett wie möglich. – Die Jagd bei dem Lauenburger Bernstorff Güldensteen tentiert Bismarck sehr und er hofft sicher, der liebenswürdigen Einladung im November folgen zu können, was Sie dem freundlichen Granden wohl gütig gelegentlich sagen, mündlich oder schriftlich. Von Reinfeld habe ich gute Nachricht – gottlob –, aber es friert gründlich dort und man heizt alle Zimmer … Ich möchte den einsamen Jungen gern einige Weintrauben zukommen lassen. Vielleicht ahnt der staatsministerielle Gärtner eine Traubenquelle in Potsdam, aus der man einen kleinen Kanal nach Reinfeld abzweigen könnte – wöchentlich für 1 Thaler; wenn Sie die große Güte hätten, dies zu besorgen, lieber Herr von Keudell, so würden Sie mir eine große Freude machen. ­… Bismarck hat 10-mal gebadet und es geht ihm gottlob sehr wohl. Ich könnte sehr viel besser sein und es scheint mir fast, als sei ich in Homburg viel wohler gewesen. Aber die Vergangenheit ist ja immer rosig freundlich – so mag ich mich ja wohl täuschen … Grüßen Sie alle Freundschaft die Ihnen vielleicht begegnet … Biarrits, 24. Oktober. ­  Leider bleibt Biarrits nicht ohne Wolkenschatten – sowohl äußere als in… nere. Wir haben wunderschöne Tage gehabt und bei 21 Grad Wärme im Schatten eine Partie nach St. Jean de Luce gemacht – reizende Fahrt zwischen dem Meer und den Pyrenäen. Auch sonst hatten wir wohl schöne Tage und Stunden, aber doch viel Regen dazwischen, fast täglich. Und wenn der Himmel grau darein scheint, so macht das den Menschen melancholisch, mich wenigstens, die ich von je her ziemlich wetterlaunisch war. Wenn nun noch dazu der Athem fehlt und man bei jedem kleinen Hügel in keuchenden Zustand geräth, so kann man hier nicht sehr glücklich sein und sehnt sich zurück ins eigene Nest. Das sollte man eigentlich gar nicht verlassen, wenn man sich elend fühlt. Meine Hauptfreude sind die guten Briefe von Reinfeld und Bismarcks Wohlbefinden; gottlob er ist wieder recht gestärkt und erfrischt durch Bäder und Luft … Sehnsucht nach Menschenamüsement hatten wir nicht, da unsre Zeit ganz ausgefüllt war, im Zimmer mit Schreiben und Lesen, draußen – was wir doch so viel wie möglich genossen – mit Anschauen des Meeres und des köstlichen Gebirges, welches ja immer neu ist und immer lieber wird, je öfter man es betrachtet mit seiner wechselnden Farbenpracht. ­… Savignys waren vierzehn Tage hier, sehr angenehm, wie immer; seit vorgestern sind sie fort. Orloffs sind nicht gekommen, weil sie aus Angst vor der Cholera Frankreich meiden und an englischer Küste baden wollten. Wir haben das etwas übelgenommen und mucken jetzt mit ihnen …

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VIII. Merseburg. Lauenburg. Biarrits … September 1865 bis Juni 1866.

Ueber Friedland38 hat Bismarck viel an Thile geschrieben, der Ihnen wohl weitere Mittheilung machen wird. Bismarck gab mir den Brief von Thile zu lesen, der mir so sehr gefiel in seinem urgemüthvollen Ton, daß ich ihn noch um 20 Grad wärmer liebe wie schon bisher. Was ist’s doch für eine Freude, wenn man unter der Masse gleichgültiger, langweiliger, falscher Kreaturen einem solchen Menschen begegnet mit so kerngesundem Herzen und so aufrichtig treuer Gesinnung. Bitte, grüßen Sie sehr herzlich ihn, auch Lulu, ­Loeper und Wolff39, wenn Sie sie sehen … Biarrits, 29. Oktober 65. Nun heißt’s „Biarrits ade!“ und Mariechen fügt in großen Mollakkorden hinzu „Scheiden thut weh“. Sie wäre so maßlos glücklich hier, daß sie Homburgs nie mehr gedachte, und hätte ich einen Funken Lust empfunden, den Winter hier zu bleiben, sie wäre mit Wonne dazu bereit gewesen. Ich aber bin glücklich bei dem Gedanken an die Heimkehr und segelte am liebsten ohne Aufenthalt fort und fort, um so bald wie möglich zu Hause zu sein … Gestern und vorgestern hat’s noch gewaltig gestürmt, so daß die Fenster klirrten und man oft fürchten konnte, mit dem ganzen Hause ins Meer gestürzt zu werden. Und am Morgen war dies aufgeregte Meer, so weit man sehen konnte, wie eine weiße Schneefläche  – und wenn der Schaum haushoch (nicht Redensart, sondern Wahrheit) aufspritzte, so schillerte er im hellen Sonnenschein in vielen Regenbogenfarben, und wenn er niederfiel, so jagte ihn der Sturm in großen Flocken wie weiße Tauben weit ins Land hinein. Sie können sich keine Vorstellung machen von dieser Pracht, von der man ganz überwältigt wurde. Und von dem Anblick konnte man sich gar nicht trennen, obgleich man so zerweht und zerzaust wurde, daß man zuletzt frappante Aehnlichkeit mit den Blocksbergbewohnern hatte. ­… Uebermorgen nehmen wir nun Abschied von diesem Wunderland, wie Moritz40 es nennt, und gehen mit kleinem Umweg über Pau nach Paris … Bismarck grüßt und wird von Paris über die Zeit der Ankunft in Berlin telegraphieren lassen.“

* * *

38 General Manteuffel. 39 Arthur von Wolff, damals Rat im Ministerium des Innern, später Oberpräsident von Sachsen, z­ uletzt Präsident der Oberrechnungskammer. 40 Blanckenburg.

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Auf holsteinischem Boden sollten nun zum zweiten Mal scheinbar unbe­ deutende Vorgänge den verhängnisvollen Konflikt vorbereiten. In Salzburg hatte Graf Moritz Esterhazy geäußert, nach der Gasteiner Konvention könne der Erbprinz von Augustenburg natürlich nur als Privatmann sich in Schleswig-Holstein aufhalten. Manteuffel konnte daher berichten, daß der Gouverneur, Feldmarschallleutnant Freiherr von Gablenz, demselben in Kiel eine entsprechende mündliche Mitteilung gemacht und ihm die königliche Loge im Theater entzogen habe, um sie sich als dem Vertreter des Landesherrn vorzubehalten. Er verbot auch den Zeitungen, ihn als Herzog Friedrich VIII. zu bezeichnen, mahnte sie zur Mäßigung bei Besprechungen der preußischen Politik und warnte gelegentlich vor irgendwelchen öffentlichen Demonstrationen gegen die bestehende Landeshoheit der verbündeten Monarchen. Die sogenannte „herzogliche Landesregierung“ aber, das Kollegium augustenburgischer Beamten, ließ er bestehen und in der bisherigen Weise verwalten, so daß die Zustände im Wesentlichen unverändert blieben. Die Bevölkerung erholte sich bald von dem Schrecken der Gasteiner Konvention und fuhr fort, auf dereinstige Einsetzung des Herzogs durch Oesterreich und den Bund zu hoffen. Mit Manteuffel trat Gablenz in kameradschaftlichen Verkehr. Meh­ rere Wochen blieben sie in leidlichem Einvernehmen. Dann aber wurden bei Gelegenheit einer Reise der Frau Erbprinzessin von Altona nach Kiel auf  allen Bahnhöfen öffentliche Demonstrationen veranstaltet, welche sie als Gemahlin des Landesherrn ehren sollten, ohne daß dagegen etwas geschah. Manteuffel speiste bald darauf in Kiel bei Gablenz und hatte eingehende Unterredungen mit ihm wie mit seinem Civilbegleiter, Baron Hofmann. Nach beider vertraulichen Mitteilungen hatte man in Wien die von Preußen für Erwerbung der Herzogtümer angebotene Geldabfindung definitiv abgelehnt. Man glaubte dort auch zu wissen, daß Preußen noch weitere Pläne habe und die volle Herrschaft in Deutschland auf Kosten Oesterreichs anstrebe. Die augustenburgische Gesinnung der Bevölkerung sei daher zu pflegen, damit man den Pfandbesitz an Holstein zu geeigneter Zeit verwerten und unter Umständen den Erbprinzen als Herzog einsetzen könne. Die Stimmung in Wien sei gereizter gegen Preußen als v o r Gastein; man scheue einen Krieg nicht mehr, da es sich um Behauptung der deutschen Stellung des Reiches handele. Als ich den bezüglichen Bericht Manteuffels las, mußte ich denken, daß die in Wien eingetretene Wandelung wohl durch Mitteilungen des österreichisch gesinnten Ministers Drouyn de Lhuys hervorgerufen worden war. 174

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In Frankreich mußte Bismarck seine Zukunftspläne andeuten, um einer plötzlichen Störung ihrer Ausführung nach Möglichkeit vorzubeugen; in Oesterreich aber hatte er nie darüber gesprochen. Es war daher natürlich, daß die Nachricht, er beabsichtige, die preußische Politik von 1849 wieder aufzunehmen, die österreichischen Minister in heftige Erregung versetzte41. Ob die Thatsache einer bezüglichen Mitteilung von Drouyn de Lhuys an Metternich dereinst durch ein Aktenstück des Wiener Staatsarchivs bestätigt werden wird, bleibt abzuwarten. Nach der erwähnten Unterredung mit Gablenz beantragte Manteuffel, früher der wärmste Anhänger der österreichischen Allianz, in mehreren Berichten, von der österreichischen Regierung die Entfernung des Erbprinzen zu verlangen und die Frage zu stellen, ob man mit Augustenburg oder mit Preußen brechen wolle. Der König billigte diese Auffassung und gewöhnte sich mit blutendem Herzen allmählich an den Gedanken eines Bruchs. Ein neues Aergernis brachte der 23. Januar 1866. In Altona versammelten sich etwa 4000  Männer aus den Herzogtümern und einige süddeutsche Demokraten unter freiem Himmel, beschimpften vielfach die preußische Regierung, verlangten die Einberufung der holsteinischen Stände und brachten ein donnerndes Hoch „dem geliebten Landesherrn Friedrich VIII.“ Dergleichen war selbst von dem gut augustenburgisch gesinnten Baron Halb­ huber nicht geduldet worden. Am 26. Januar sandte Bismarck an Werther einen ausführlichen Erlaß, in welchem die in den letzten Wochen schon mehrmals eingehend begründeten Beschwerden zusammengefaßt wurden. In Gastein sei man übereingekommen, revolutionäre, beide Kronen bedrohende Tendenzen zu bekämpfen. Demnach hätten vor wenigen Monaten beide Mächte den Frankfurter Senat wegen Duldung einer revolutionären Versammlung verwarnt. Nun aber habe unter dem Schutze des österreichischen Doppeladlers in Altona eine gleichartige Volksversammlung getagt. Preußen könne nicht dulden, daß Holstein zum Herde revolutionärer Bestrebungen gemacht und dadurch das im Gasteiner Vertrage Oesterreich anvertraute Pfand deterioriert werde. Solche Eindrücke müßten dahin führen, das von Seiner Majestät dem Könige lange und liebevoll gehegte Gefühl der Zusammengehörigkeit der beiden deutschen Großmächte zu erschüttern. Wir bäten, 41 Sybel (IV S. 247; 251) meint, die Erbitterung gegen Bismarck sei in Wien durch die völlig unbegründeten Gerüchte hervorgerufen worden, daß er in Biarrits ein Bündnis gesucht und in Paris den Abschluß einer österreichischen Anleihe zu hindern sich bemüht habe, welche später unter geheimer Billigung des Kaisers zustande kam. Ich zweifle, ob diese Gerüchte für sich allein die entscheidende Wendung der kaiserlichen Politik hätten bewirken können.

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im beiderseitigen Interesse den Schädigungen, welche das monarchische Prinzip, der Sinn für öffentliche Ordnung und die Einigkeit beider Mächte durch das jetzt in Holstein gehandhabte System erlitten, ein Ziel zu setzen. Es sei ein unabweisliches Bedürfnis für uns, Klarheit in unsere gegenseitigen Verhältnisse zu bringen; habe die kaiserliche Regierung nicht den Willen, auf die Dauer gemeinsame Wege mit uns zu gehen, so müßten wir für unsere g a n z e P o l i t i k volle Freiheit gewinnen. Die österreichische Antwort (vom 7. Februar) brachte eine in Biegelebens hochmütigem Tone verfaßte kühle Ablehnung. Die Agitation in Holstein habe keinen revolutionären Charakter. Die Verpflichtung Oesterreichs, das anvertraute Pfand unverletzt zu bewahren, könne sich nur auf die ungeschmälerte Erhaltung der Substanz beziehen. Die Verwaltung von Holstein unterliege ausschließlich der Kompetenz der kaiserlichen Regierung; das Verlangen, über einen Akt dieser Verwaltung Rechenschaft zu erhalten, müßte entschieden zurückgewiesen werden. Nach Empfang dieser Depesche erklärte Bismarck dem Grafen Karolyi in ruhigem Tone, Preußens Beziehungen zu Oesterreich hätten nunmehr den intimen Charakter der letzten Jahre verloren und seien auf denselben Stand zurückgekommen, auf dem sie vor dem dänischen Kriege waren; nicht besser, aber auch nicht schlechter als zu jeder andern Macht. Eine schriftliche Erwiderung der österreichischen Depesche unterblieb.

* * * Nachdem im Juni 1865  das Abgeordnetenhaus sich unfähig gezeigt hatte, über Schleswig-Holstein irgendeine Ansicht durch Majoritätsbeschluß zum Ausdruck zu bringen, traten vereinzelte Symptome eines beginnenden Umschwungs der öffentlichen Meinung hervor. Zu dem Abgeordnetentage, welchen der Frankfurter Ausschuß auf den 1. Oktober einberufen hatte, um den Gasteiner Vertrag für nichtig zu erklären, erschienen unter 272  Abgeordneten nur ein Oesterreicher und 8 Preußen, von denen 6 sich der Abstimmungen enthielten. Bekannte Parlamentarier wie Twesten und Mommsen hatten ihr Erscheinen mit der Begründung abgelehnt, daß sie an Beschlüssen nicht teilnehmen wollten, deren Spitze gegen die Machtentfaltung Preußens gerichtet sein würde. In der badischen Kammer sagte der liberale Parteiführer Mathy gelegentlich, Bismarck „gefalle ihm mit jedem Tage besser“. In weiten Kreisen des preußischen Volks schien man der fruchtlosen Redeübungen und Resolutionen überdrüssig und begann man einzusehen, 176

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daß der vielgeschmähte „Junker“ nach außen bedeutende Erfolge zu erringen und im Innern sparsam zu wirtschaften vermochte. Das Abgeordnetenhaus aber zeigte beim Wiederzusammentreten am 15. Januar 1866 ein unverändert böses Gesicht. Der Präsident Grabow gab beim Beginn der Sitzungen der feindseligen Stimmung des Hauses wieder durch heftige Vorwürfe gegen die Staatsregierung Ausdruck. Auf Anregung Virchows empfahl eine Kommission, zu erklären, daß die Vereinigung des Herzogtums Lauenburg mit der Krone Preußen rechtsungültig sei, solange nicht die verfassungsmäßige Zustimmung beider Häuser des Landtags erfolgt wäre. Man bezog sich dabei auf Artikel 48 der Verfassung, wonach Verträge des Königs mit fremden Regierungen, „wenn dadurch dem Staate Lasten auferlegt werden“, zu ihrer Gültigkeit der Zustimmung der Kammern bedürfen; sowie auf Artikel 55, welcher lautet: „Ohne Einwilligung beider Kammern kann der König nicht zugleich Herrscher fremder Reiche sein.“ Bismarck wies (am 4. Februar) in längeren Ausführungen nach, daß der Ankauf von Lauenburg aus Privatmitteln Seiner Majestät des Königs dem Lande keinerlei Lasten auferlegt habe und daß ein deutsches Ländchen von dem Umfange Lauenburgs nicht als ein „fremdes Reich“ bezeichnet werden könne, ohne sich an der deutschen Sprache und Nationalität zu versündigen. Dann fuhr er fort: „Daß die Personalunion dem Preußischen Staate Nachteil bringe, habe ich nicht behaupten hören; ich glaube im Gegenteil, sie bringt ihm mehr Vorteile, als ihm die Anwendung des Programms der Februarbedingungen, beispielsweise in Lauenburg, gebracht haben würde, und ich glaube, Sie zollten diesem Programme teilweise Ihre Anerkennung. „Wäre es nicht, wenn es gelänge, Schleswig-Holstein zu einer Personalunion mit Preußen zu bringen, ein sehr viel erheblicherer Vorteil, als wenn wir bloß die Februarbedingungen dort durchführten? Wäre es nicht ein Vorteil, der bedeutender Opfer, der einiger Staatslasten sogar wert wäre? „Wenn Ihnen aber, meine Herren, das System der Personalunion nicht gefällt, warum haben Sie es nicht früher gesagt? Ich habe ja im vorigen Jahre von dieser Stelle die dringendste Frage, ich kann wohl sagen die Bitte, an Sie gerichtet: Äußern Sie doch Ihre Ansicht über die Zukunft der Herzogtümer! Ich habe Sie gefragt: Sind Sie mit dem Programm der Februarbedingungen einverstanden? Wünschen Sie, daß es abgeändert, daß etwas hinzugesetzt werde, streben Sie z. B. nach der Personalunion? Ihre Antwort war ein Schweigen, welches ich kaum beredt nennen kann. Sie konnten sich nicht einmal entschließen, darauf zu sagen: wir beharren bei unserem ­Ausspruch 177

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von vor zwei Jahren, wir wünschen noch heute, daß der Prinz von Augustenburg in die Souveränität von Schleswig-Holstein eingesetzt wird. „Meine Herren! Ich wiederhole diese Frage heute und in diesem Jahre an Sie. Noch ist es Zeit, zwar nicht über Lauenburg, da ist es zu spät, wohl aber in Betreff Schleswig-Holsteins, da sind Sie heut noch in der Lage, Ihrer Meinung und der des Volkes, welches Sie vertreten, Geltung zu verschaffen: so sprechen Sie doch im Namen des Volkes, was Ihre Ansicht über Schleswig-Holsteins Zukunft ist!“ „Interessiert Sie diese Frage gar nicht? Sie interpellieren uns darüber, Sie legen uns bei jeder Gelegenheit, bei jedem Schritte, den wir thun, Schwierigkeiten in den Weg; aber Sie verheimlichen Ihre eigene Meinung über die Frage sorgfältig. „Nun, meine Herren, wenn Sie auch in diesem Jahre darüber schweigen, dann beklagen Sie sich auch nachher nicht, wenn wir auf die von Ihnen verschwiegene Meinung keine Rücksicht nehmen können.“ Diese Aufforderung hatte keinen Erfolg; der Kommissionsantrag aber wurde mit 251 gegen 44 Stimmen angenommen. Ebenso später zwei Resolutionen, betreffend eine Entscheidung des Obertribunals und einen polizeilichen Vorgang. Diese drei Resolutionen wurden durch den Präsidenten dem Staatsministerium übersandt, von diesem aber wegen der darin enthaltenen Ueberschreitungen der Kompetenz des Hauses wieder zurückgeschickt. Von ferneren Beratungen der Abgeordneten war nach diesen Vorgängen Ersprießliches nicht zu erwarten; der Landtag wurde daher am 22. Februar geschlossen. Bald darauf (am 28.) trat in Gegenwart des Königs und des Kronprinzen ein Ministerrat zusammen, welchem auch Graf Goltz sowie die Generale Moltke, Manteuffel und Gustav Alvensleben beiwohnten. Nur der Kronprinz und Bodelschwingh empfahlen wie im vorigen Jahre, Verständigung mit Oesterreich zu suchen. Alle anderen Anwesenden stimmten darin überein, daß in Schleswig-Holstein nicht nachzugeben und eine kriegerische Lösung als wahrscheinlich ins Auge zu fassen sei. Moltke entwickelte dabei die Ansicht, daß auf einen günstigen Erfolg mit einiger Sicherheit nur dann zu rechnen wäre, wenn Italien in den Krieg einträte. In diesem Falle würde Oesterreich nicht mehr als 240.000  Mann in Böhmen aufzustellen vermögen.

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Schon im Januar hatte Bismarck an Usedom geschrieben, daß der Zeitpunkt der Krise voraussichtlich näher heranrücke; der Grad der Sicherheit und der Umfang dessen, was wir von Italien zu erwarten hätten, würde von wesentlichem Einfluß auf unsere Entschließungen sein, ob wir nämlich es zur Krise kommen ließen oder uns mit geringeren Vorteilen begnügten. Die deutsche Frage ruhe einstweilen; bei weiterer Entwickelung der Beziehungen Oesterreichs zu den Mittelstaaten mit aggressiver Tendenz gegen Preußen könne jedoch leicht eine Wendung eintreten, welche den Bestand des Bundes in Frage stellte. Wenn z. B. die holsteinischen Stände gegen unseren Willen zu antipreußischen Zwecken zusammenberufen werden sollten, so würden wir auf diese Regungen des Partikularismus mit Anrufung der nationalen Gesamtinteressen antworten und die Basen wieder betreten, welche s. Zt. dem Frankfurter Fürstentage entgegengesetzt wurden. Wir hätten keinen Grund, anzunehmen, daß bei Regelung der deutschen Angelegenheiten die Haltung Frankreichs uns feindselig sein würde; sollte sie aber auch bedenklich werden, so wäre das nur ein Anlaß mehr, uns auf die tiefere nationale Basis zurückzuziehen und die dort vorhandenen Kräfte uns zu verbünden. Nach längerem Schwanken La Marmoras konnte Usedom am 24. Februar telegraphieren, König Victor Emanuel sei zum Kriege gegen Oesterreich bereit, wenn man sich vorher über die Ziele des Krieges verständigt haben würde. Es kam nun hierbei wesentlich auf die Haltung des Kaisers Napoleon an. Auf Befehl des Königs entwickelte Goltz vor demselben Anfang März das Programm einer engeren Verbindung der norddeutschen Staaten, betonte, daß die Führung der Südstaaten Bayern zu überlassen sei, und versuchte, den Kaiser zu einer Aeußerung darüber zu bewegen, welche Schritte er zu thun gedächte, um das französische Nationalgefühl mit einer wesentlichen Verstärkung der preußischen Machtstellung auszusöhnen. Der Kaiser gab seiner vollen Sympathie mit diesem nationalen Programm Ausdruck, lehnte jedoch ab, jetzt schon ein Kompensationsobjekt zu b ­ ezeichnen. In Belgien herrsche vollkommene Ruhe; die Schweiz anzugreifen, sei schwierig, in den deutschen Grenzlanden sollten mit Ausnahme Rheinbayerns keine französischen Sympathien vorhanden sein. Marschall Niel wünsche die Grenzen von 1814  (Landau und Saarbrücken); aber die Abneigung des Königs gegen Abtretung deutschen Gebiets erschwere die Wahl. Goltz schloß den bezüglichen Bericht mit der Vermutung, der Kaiser werde für Erwerbung der Herzogtümer keine Kompensation, bei größerem Machtzuwachs Preußens aber die Grenzen von 1814 verlangen. 179

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Umgehend antwortete Bismarck, der Kaiser sei falsch berichtet, wenn er an französische Sympathien in Rheinbayern glaube; von Abtretung deutschen Landes könne unter keinen Umständen die Rede sein. Goltz möge die Frage ruhen lassen, bei Anregung von französischer Seite aber entschieden alles ablehnen, was das deutsche Nationalgefühl verletzen könnte. Die erwähnte Audienz des Grafen Goltz bei Napoleon hatte jedoch die Folge, daß der Kaiser dem italienischen Ministerpräsidenten empfahl, ein Schutz- und Trutzbündnis mit Preußen zu schließen. Zu diesem Zwecke traf General Govone am 14. März in Berlin ein mit der Instruktion, das Bündnis so zu gestalten, daß Preußen im Falle eines italienischen Angriffs auf Venetien zu sofortiger Kriegserklärung verpflichtet wäre. Aber weder Bismarck noch der König waren gesonnen, die Entscheidung über den Kriegsfall aus der Hand zu geben. Die Verhandlung stockte, da La Marmora argwöhnte, Bismarck wolle einen Vertrag mit Italien nur zu dem Zwecke schließen, um von Oesterreich neue Konzessionen zu erpressen. Ein Scherz Bismarcks mit einer liebenswürdigen Dame hatte aber so ernste Folgen, daß Govone seinen Minister um neue Instruktionen bat. Nach dem erwähnten Ministerrat vom 28. Februar hatten Unberufene erzählt, es sei in demselben baldiger Angriff auf Sachsen und Oesterreich beschlossen worden. Die Gemahlin des sächsischen Gesandten, Gräfin Hohen­thal, richtete nun an Bismarck die Frage, ob es denn wahr sei, daß er so böse Absichten hege. „Natürlich,“ sagte er, „seit dem ersten Tage meines Ministeriums habe ich keinen andern Gedanken gehabt; Sie werden bald sehen, daß wir besser schießen als unsre Gegner.“ Da erbat die Gräfin einen freundschaftlichen Rat, wohin sie flüchten solle, auf ihre Besitzung in Böhmen oder auf ihr Gut bei Leipzig. „Ich kann nur empfehlen,“ sagte Bismarck, „nicht nach Böhmen zu gehen, denn gerade in der Nähe Ihres dortigen Besitzes werden wir die Oesterreicher schlagen; und da wird es mehr Verwundete geben, als Ihre Leute pflegen können. Aber auf Ihrem sächsischen Schlosse werden Sie nicht einmal durch Einquartierung belästigt werden, da Knautheim nicht an einer Etappenstraße liegt.“ Am folgenden Tage erwiderte Bismarck auf Anfragen einiger Diplomaten, die Verspottung einer naiven Frage dürfe man doch nicht ernst nehmen. Beust aber, dem Hohenthal das Tischgespräch berichtet hatte, rief Oester­ reichs Schutz an und versicherte, daß alle Mittelstaaten zu ihm stehen würden. In Wien war gerade ein Marschallsrat (vom 7. bis 13. März) versammelt, um über die Opportunität des Beginnes von Rüstungen zu entscheiden. Mensdorff und Esterhazy sprachen dagegen; die Depesche Beusts aber ver180

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schaffte den Generalen das Uebergewicht, und man beschloß, die Garnisonen in Böhmen bis auf ungefähr 80.000 Mann zu verstärken. Am 16. März stellte Graf Karolyi amtlich an Bismarck die Frage, ob Preußen beabsichtige, die Gasteiner Konvention zu brechen und den Bundesfrieden zu stören. Bismarck antwortete: „Nein! Wir wünschen im Gegenteil, daß Oesterreich die Verträge von Wien und Gastein genauer beobachte.“ Auf Erkundigung über unsere Rüstungen erhielt Karolyi die sachgemäße Antwort, daß dazu in keiner Weise irgendein Anfang gemacht worden sei. Der Gesandte versicherte darauf, daß, wenn, was er nicht wisse, in Oesterreich einige Rüstungen stattfänden, sie nur defensiven Zweck haben könnten, da man nicht im Entferntesten daran denke, Preußen anzugreifen. „Solche defensive Vorbereitungen,“ sagte Bismarck, „sind für uns immer eine Gefahr; hat Oesterreich einmal 150.000 Mann an den Grenzen zusammen, so ist ein Grund zum Bruche leicht gefunden. Das haben wir 1850 erlebt.“ Ohne Karolyis Bericht über diese Unterredung abzuwarten, hatte Mensdorff am 16. März ein Rundschreiben an die deutschen Regierungen abgesandt, worin er ankündigte, was geschehen werde, wenn Bismarck auf die zu stellende Frage ungenügende Antwort gäbe. Dann wolle Oesterreich beim Bunde beantragen, über Schleswig-Holstein zu entscheiden, und, falls Preußen sich dieser Entscheidung widersetze, das Bundesheer mobilzumachen. Dieser Operationsplan wurde uns natürlich bald bekannt. Bismarck gab darauf den Gesandten an den deutschen Höfen genaue Nachrichten über die Verstärkungen und die Verschiebungen österreichischer Truppenteile nach Norden, erklärte, daß solcher Bedrohung gegenüber wir Deckungsmaßregeln würden ergreifen müssen, und fragte, ob, im Falle sich hieraus ein österreichischer Angriff entwickele, wir auf die Hilfe der Bundesgenossen zählen dürften. Endlich am 27. März, in der dritten Woche nach dem Beginne der österreichischen Rüstungen, beschloß ein Ministerrat unter Vorsitz des Königs: Armierung der schlesischen Festungen, Ankauf von Artilleriepferden und Verstärkung einiger Truppenteile um im Ganzen 11.000 Mann, jedoch keinerlei Vorschiebungen von Truppen nach der Grenze hin. Alle diese Vorgänge verringerten das natürliche Mißtrauen des Generals Govone und des italienischen Gesandten Grafen Barral. Die italienischen Wünsche in Betreff der zum deutschen Bundesgebiete gehörigen Bezirke von Trient und Triest lehnte Bismarck zwar entschieden ab, stellte aber die Erwerbung Veneziens in sichere Aussicht. Zugleich betonte er wiederholt, 181

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daß es lediglich von Italiens Entschließung in Betreff des Vertrages abhänge, ob es zum Kriege komme oder nicht, da der Weg zur Verständigung noch immer offen sei. Nachdem nun auch der Kaiser Napoleon dem italienischen Minister dringend empfohlen hatte, den Vertrag abzuschließen, kam es endlich am 8. April zu einem Bündnis auf drei Monate, während welcher Italien in den Krieg eintreten sollte, falls in dieser Frist Preußen eine Kriegserklärung gegen Oesterreich verkündete.

* * * Am Tage nach der Unterzeichnung des italienischen Bündnisses erhielt Savigny telegraphische Weisung, den seit längerer Zeit vorbereiteten Antrag auf Einberufung eines aus direkter Volkswahl hervorgehenden Parlamentes in der Bundesversammlung einzubringen. Wie erwähnt, hatte Bismarck schon im März 1862 (in Petersburg) von der Nützlichkeit eines deutschen Parlamentes gesprochen, und im September 1863 hatte auf Antrag des Staatsministeriums der König den Bundesfürsten erklärt, daß ein Parlament zu den Vorbedingungen gedeihlicher Bundesreform gehöre. Ein fester Plan über die Gestaltung der Reichsverfassung war jedoch bei Einbringung des bezüglichen Antrags an den Bundestag noch nicht gefaßt. Friedjung meint (I, S. 161), daß Bismarck „mit Lothar Bucher42 den Plan zu einer deutschen Reichsverfassung unter thätiger Mitwirkung der Nation“ entworfen habe. Diese Vermutung bedarf der Widerlegung, weil sie ein unrichtiges Bild von Bismarcks Schaffen geben kann. Nur beiläufig sei erwähnt, daß Bucher damals ausschließlich mit der Verwaltung von Lauenburg beschäftigt war und erst im Dezember 1866 zur Ausarbeitung der ­Verfassung des Norddeutschen Bundes herangezogen worden ist; wichtig aber scheint 42 In Bezug auf Bucher spricht Friedjung (S. 181) auch die Vermutung aus, daß dieser auf die Entscheidung Bismarcks für das allgemeine Wahlrecht eingewirkt habe. Das Staatsministerium hatte sich aber schon im September 1863 dafür ausgesprochen, während Bucher erst im November 1864 eintrat. Ueberhaupt hat er meines Wissens niemals einen Versuch gemacht, gesprächsweise dem Chef eine Ansicht nahezubringen. In späteren Jahren pflegte er, wenn nach seiner Meinung der Reichskanzler sich in einem faktischen oder juristischen Irrtum befand, eine kurze Denkschrift einzureichen. Des Sprechens war er wenig gewöhnt. Am 19. April 1866 schrieb er mir, der täglich durch sein Arbeitszimmer kam, ich möchte doch dem Chef für die künftige Reichsverfassung eine gewisse Bestimmung vorschlagen, die vielleicht den Ring der Opposition brechen könnte. Er war, bei eminenten Fähigkeiten und Kenntnissen, wortkarg und verschlossen; aber, soviel ich aus vereinzelten Aeußerungen entnehmen konnte, stand er in den letzten Jahrzehnten seines Lebens demokratischen Anschauungen sehr fern und suchte das Heil des Gemeinwesens in möglichster Stärkung der Autoritäten.

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mir, festzustellen, daß Bismarck, soweit meine Wahrnehmungen reichen, n i e m a l s irgendeinen Plan in Gemeinschaft mit einem seiner Räte erwogen oder entworfen hat. „Zu erfinden, zu beschließen, Bleibe, Künstler, oft allein.“ Bismarcks Künstlernatur forderte einsames Schaffen. Sein überreicher Geist bot ihm für jedes Problem verschiedene Wege der Erfindung und des Rats. In der heißen Glut seiner Vaterlandsliebe schmolzen auch spröde Stoffe, so daß er sie kneten und formen konnte. Bei dieser rastlosen inneren Arbeit war ihm der Rat anderer Menschen unwillkommene Störung. Immer bestrebt, zu lernen, nahm er thatsächliche Mitteilungen gern entgegen, ließ auch die täglich durch Menschenverkehr, Geschäfte und Presse herantretenden Eindrücke unbefangen auf sich wirken, verhielt sich aber kritisch oder ablehnend, wenn irgendjemand Rat zu geben versuchte. In Kleinigkeiten konnte er auch fremde Gedanken gelegentlich benutzen; so ließ er in Abekens Entwürfen manche nicht von ihm angegebene Nebengedanken desselben gelten; in den wesentlichen Zügen aber wie in allen wichtigen Fragen kam das fast niemals vor. Nur eines solchen Falles kann ich mich erinnern. Im Jahre 1871 bei Vorbereitung der preußischen Kreisordnung geschah es, daß er einige Vorschläge, die Gneist ihm abends in seinem Kabinett unterbreitete, guthieß und in amtliche Behandlung nahm. Seine Ziele waren, wie bekannt, anfangs die Sicherung und Erhöhung der preußischen Macht, dann die Gründung eines norddeutschen Bundesstaates. Für jede der tausendfachen Aufgaben, die auf den Wegen dahin herantraten, fand er mehrere Lösungen. Hatte er darunter gewählt, was oft in wenigen Minuten, manchmal aber erst nach jahrelanger Ueberlegung geschah, so mußte er in den meisten Fällen seine Ansicht dem Könige annehmbar zu machen versuchen, in anderen, weniger häufigen seine Kollegen, die Staatsminister, von der Richtigkeit seiner Auffassung überzeugen. Die in jenen Jahren tägliche Wiederkehr der mündlichen Vorträge beim Könige erleichterte sehr, daß etwa hervortretende Gegensätze der Anschauungen sich ausglichen. Gewöhnlich war ihm die Stunde von 4 bis 5  Uhr, in der er dem schwärmerisch verehrten Herrn vorzutragen pflegte, die erfreulichste des Geschäftstages. Dennoch kam es, wie bekannt, mitunter zu ernsten Friktionen. In seltenen Fällen lehnte der König seine Anträge völlig ab wie in der erwähnten Frage der Ablösung persönlichen Militärdienstes durch Stellvertretungsgelder. Häufig aber kam es vor, daß der König seinem Antrag eine etwas veränderte Richtung gab. Bismarck brauchte m ­ itunter das 183

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Bild, es sei durch die Einwirkung des königlichen Willens auf den seinigen wie im Parallelogramme der Kräfte die praktisch richtige Diagonale gefunden worden. Wäre es möglich, derartige Thatsachen nachträglich festzustellen, so würde vermutlich meine Meinung sich als richtig erweisen, daß der Einfluß Seiner Majestät auf Bismarcks politische Entschlüsse ein viel bedeutenderer gewesen ist, als von vielen angenommen wird. Widerspruch seiner Kollegen im Staatsministerium war ihm äußerst unerfreulich. Vielerfahrene Sachverständige zu überzeugen ist schwierig; darüber hat er oft geklagt. Die kollegialische Verfassung des preußischen Staatsministeriums, in welchem Stimmenmehrheit entschied, war ihm ein Gräuel. Er hätte in allen Staatsgeschäften zu seiner Hilfe nur Sekretäre gewünscht, wie es seine vortragenden Räte thatsächlich waren. Die Opposition des Landtages war ihm natürlich auch unangenehm, verstimmte ihn aber, wie mir schien, lange nicht so sehr wie die der Minister.

* * * Als am 9. April 1866 in Frankfurt der Antrag auf ein deutsches Parlament eingebracht wurde, lag noch kein Bundesverfassungsentwurf vor. Bismarck sah voraus, daß Verhandlungen über einen solchen am Bundestage nie zu Ende kommen würden, und machte deshalb zuerst nur den Vorschlag, sogleich einen festen Termin für die Einberufung des Parlaments zu beschließen. Erst auf Bitten vonseiten befreundeter Höfe ermächtigte er Savigny, in der Bundesversammlung am 11. Mai mündlich einige Grundzüge der künftigen Bundesverfassung mitzuteilen. Die Mäßigung in diesen Andeutungen ging so weit, daß eines künftigen Bundesoberhauptes gar keine Erwähnung geschah. Savignys Mitteilungen machten einen so günstigen Eindruck, daß man trotz des Widerspruches von Oesterreich und Darmstadt beschloß, neue Instruktionen einzuholen. Im April wurde der preußische Antrag auf Einberufung eines deutschen Parlamentes fast überall mit Mißtrauen und Hohn begrüßt. Nur die zweite Kammer Badens erklärte sich einverstanden. Aber beispielsweise die in Neumünster versammelten Ausschüsse schleswig-holsteinischer Vereine weissagten wörtlich: „Es steht fest, daß ein Gewährenlassen der verabscheuungswürdigen Politik des preußischen Kabinetts Deutschland unrettbar dem tiefsten Verfall preisgeben würde.“ An der Pariser Börse gab es Panik und starke Verluste einflußreicher Leute. Allgemein wurde nicht Oesterreich, welches die Rüstungen begonnen hatte, sondern Preußen, welches den Status quo verändern wollte, als der 184

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Störenfried angeklagt, und wohl mit Grund. Als Goltz wegen einer möglichen Aenderung unserer Politik anfragte, antwortete Bismarck, es wäre höchst bedenklich, Systeme und Ziele willkürlich zu wechseln, besonders aber, Entschließungen, deren Durchführung mit Gefahren verknüpft sei, bei Annäherung der Gefahr wieder aufzugeben. Nach dem ersten bescheidenen Anfang unserer am 27. März beschlossenen Rüstungsmaßregeln wurde von Oesterreich eine Korrespondenz wegen beiderseitiger Abrüstung eingeleitet. Eine der bezüglichen Depeschen (vom 7. April) war inhaltlich so wenig begründet und in der Form so hochfahrend, daß der russische Gesandte, Baron Oubril, welcher für den Frieden zu wirken angewiesen war, seinen Wiener Kollegen ersuchte, bei Mensdorff die Zurückziehung dieses Schriftstückes anzuregen. Das gelang natürlich nicht; Bismarck aber antwortete in höflichem Tone, unsere Abrüstung würde Zug um Zug der österreichischen folgen. Da wurde in Wien plötzlich die Mobilmachung der ganzen Südarmee beschlossen. Es waren merkwürdigerweise wieder ungenaue Nachrichten gewesen, welche diesen entscheidenden Schritt veranlaßten. Der englische Gesandte in Wien, Lord Bloomfield, meldete nämlich, daß nach Mitteilung seines Florentiner Kollegen, Sir Henry Elliot, eine Verstärkung der italienischen Armee um etwa 100.000 Mann im Gange wäre, während nichts anderes vor sich ging als die gewöhnliche Rekrutenaushebung von jährlich 80.000 Mann. Aus Venedig aber kam die Nachricht, Garibaldi sei mit Freischaren in die Provinz Novigo eingebrochen. Beide Meldungen wurden nach wenigen Tagen widerrufen; aber die Mobilmachungsbefehle waren infolge jener Gerüchte bereits am 21. April abgegangen43. Nun konnte auch bei uns von Abrüstung nicht mehr die Rede sein. Am 26. folgten in Oesterreich die Befehle zur Mobilmachung der Nordarmee. La Marmora ließ an demselben Tage anfragen, was wir zu thun gedächten, wenn Oesterreich Italien angriffe, und erhielt von Bismarck die Zusage, daß wir in diesem Falle in den Krieg eintreten würden, obgleich der Vertrag uns hierzu nicht verpflichte. Darauf wurde am 27. die Mobilmachung der italienischen Armee befohlen.

43 Friedjung (I S. 215  bis 222) weist aus dem italienischen Generalstabswerk über den Krieg von 1866 nach, daß die italienische Armee im April nicht nur durch die gewöhnliche Rekrutenaushebung, sondern auch durch andere Maßregeln, namentlich durch Einbehaltung der höchsten Altersklasse, verstärkt worden sei, was der österreichische Generalstab in Rechnung gestellt habe (S. 216). Dennoch ist auch nach seiner Meinung der Beschluß, die österreichische Südarmee ­mobilzumachen, eine verhängnisvolle Uebereilung gewesen. Graf Mensdorff hat dagegengestimmt (S. 221, 222).

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Am 28. April übergab Graf Karolyi eine Depesche, welche nochmals die Einsetzung des Erbprinzen von Augustenburg als Herzog von Schleswig-­ Holstein unter den im vorigen Jahre zugestandenen Bedingungen anbot, für den Fall der Ablehnung aber Abgabe der Streitfrage an den Bund und Einberufung der holsteinischen Landstände in Aussicht stellte. Diese Aufkündigung des Gasteiner Vertrages blieb unbeantwortet; vom 3. Mai ab wurden jedoch endlich auch bei uns die einzelnen Armeekorps nach und nach mobilgemacht.

* * * Während im Kabinett des Ministers rastlos für den Krieg gearbeitet wurde, herrschte am Kaminfeuer des großen Wohnzimmers die friedliche und heitere Stimmung der früheren Jahre – der Kreis der häufig erscheinenden Abendgäste hatte sich nicht wesentlich vergrößert. Die Gräfin war im Herbste mehrfach leidend gewesen, empfand aber im Winter günstige Nachwirkungen von Homburg und Biarrits. Sie konnte mitunter in Konzerte gehen, deren damals frühe Stunden es ihr möglich machten, bald nach 9 Uhr am Theetisch zu walten. Oper und Schauspiel blieben jedoch der unvermeidlichen Verspätung wegen ausgeschlossen. Am Geburtstage der Gräfin (dem 11. April) ließ ich immer im Kuppelsaale des Ministeriums Orchestermusik machen. Im Jahre 1866 wurde u. a. Beethovens C-Moll-Symphonie ausgeführt, deren heroischer letzter Satz auf den Minister großen Eindruck machte. Doch war die in einem vielgelesenen Romane vorkommende Erzählung, er sei durch ein Musikstück zur Entscheidung für den Krieg bestimmt worden, natürlich Dichtung und zwar eine mit seinen Eigenschaften unvereinbare. Die Entscheidung politischer Fragen ist von ihm immer durch kühle Berechnung gefunden, niemals durch augenblickliche Gemütsstimmung beeinflußt worden. Daneben ist gewiß, daß, als der seit 14 Jahren vorausgesehene Entscheidungskampf herannahte, seine Seele in leidenschaftlicher Erregung glühte, deren notwendige Beherrschung mitunter seine Gesundheit angriff. Seit dem Januar hatte er die gewohnte Stärkung durch Jagden entbehren müssen und war dadurch anfälliger geworden. Als am 23. März gegenüber den österreichischen Rüstungen unsererseits noch nichts geschehen war, erkrankte er, gesundete aber, sobald am 27. die erwähnten ersten Rüstungsbefehle ergingen. Ebenso kränkelte er um Mitte April, während über die beiderseitige Abrüstung viel geschrieben werden mußte, erholte sich aber bald nach Eingang der Meldung von der Mobilmachung der österreichischen Südarmee. 186

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Wenn er am späten Abend die Thüre seines Arbeitszimmers öffnete und durch das kleine, offene Kabinett in das Wohnzimmer trat, war er immer heiter und guter Dinge. Gewöhnlich führte er die Unterhaltung, sprach aber nicht über Tagesfragen. Die Gräfin war natürlich mit seinen Bestrebungen vertraut, doch suchte er ihr Kenntnis der täglichen, oft unerfreulichen Zwischenfälle zu ersparen. Im Familienkreise kein Wort von Politik zu hören und von harmlosen Dingen zu sprechen, war ihm Erquickung. Am 7. Mai kam er wie gewöhnlich nach 5 Uhr aus dem königlichen Palais zurück, hielt sich aber länger als sonst in seinem Kabinett auf, um einen kurzen Bericht an Seine Majestät zu schreiben, und trat dann mit einer Entschuldigung seiner Verspätung in den Salon. Ehe man sich zu Tische setzte, küßte er seine Gemahlin auf die Stirn und sagte: „Erschrick nicht, mein Herz, es hat jemand auf mich geschossen, ich bin aber durch Gottes Gnade unverletzt geblieben.“ So erzählte mir bald nachher einer der Tischgenossen. Vor Abend kamen der König, die königlichen Prinzen und viele Würdenträger, um den wunderbar Erretteten zu begrüßen. Abends erzählte er in kleinem Kreise den Hergang ungefähr mit diesen Worten: „Ich ging unter den Linden auf dem Fußweg zwischen den Bäumen vom Palais nach Hause. Als ich in der Nähe der russischen Gesandtschaft gekommen war, hörte ich dicht hinter mir zwei Pistolenschüsse. Ohne zu denken, daß mich das anginge, drehte ich mich unwillkürlich rasch um und sah etwa zwei Schritte vor mir einen kleinen Menschen, der mit einem Revolver auf mich zielte. Ich griff nach seiner rechten Hand, während der dritte Schuß losging und packte ihn zugleich am Kragen. Er faßte aber schnell den Revolver mit der linken, drückte ihn gegen meinen Ueberzieher und schoß noch zweimal. Ein unbekannter Civilist half mir ihn festhalten. Es eilten auch sogleich Schutzleute herbei, die ihn abführten, zusammen mit einer Patrouille vom zweiten Garderegiment, die zufällig des Weges kam. „Als Jäger sagte ich mir: Die letzten beiden Kugeln müssen gesessen haben, ich bin ein toter Mann. Eine Rippe that zwar etwas weh, ich konnte aber zu meiner Verwunderung bequem nach Hause gehen. Hier untersuchte ich die Sache. Ich fand Löcher im Ueberzieher, im Rock, Weste und Hemde; an der seidenen Unterjacke aber waren die Kugeln abgeglitten, ohne die Haut zu verletzen. Die Rippe schmerzte etwas wie von einem Stoß, das ging aber bald über. Es kommt bei Rotwild vor, daß eine Rippe elastisch federt, wenn die Kugel aufschlägt. Man kann nachher erkennen, wo sie abgeglitten ist, weil da einige Haare fehlen. So mag auch meine Rippe gefedert haben. Oder 187

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v­ ielleicht ist die Kraft der Schüsse nicht voll entwickelt worden, weil die Mündung des Revolvers unmittelbar auf meinen Rock drückte.“ Alle Anwesenden waren in feierlicher Stimmung, als hätten sie Ueber­ natürliches erlebt. Bismarck aber zergliederte den Fall mit einer Ruhe, als handelte es sich um ein gleichgültiges Vorkommnis. Am folgenden Tage wurde bekannt, daß der Verbrecher namens Cohen-­ Blind, der von London gekommen war, um Bismarck zu erschießen, im Gefängnisse sich durch Oeffnen einer Pulsader getötet hatte. Als abends der kleine Kreis der Hausfreunde wieder versammelt war, meldete ein Diener, daß vor dem Hause große Menschenmassen sich bewegten. Man ging in den chinesischen Saal und öffnete die Fenster nach der Straße. Ueber die Stimmung des Berliner Volkes war früher Erfreuliches nicht ­bekannt geworden; jetzt aber ertönte unaufhörlich der Ruf: „Bismarck hoch!“ Er sprach aus dem Fenster mit erhobener Stimme ungefähr folgende Worte: „Meine Herren und Landsleute, herzlichen Dank für diesen Beweis Ihrer Teilnahme. Für unsern König und das Vaterland das Leben zu lassen, ob auf dem Schlachtfelde oder auf dem Straßenpflaster, halte ich für ein hohes Glück und erflehe von Gott, daß mir ein solcher Tod vergönnt sei. Für jetzt hat Er es anders gewollt; Gott hat gewollt, daß ich noch lebendig meinen Dienst thun soll. Sie teilen das patriotische Gefühl mit mir und Sie werden gern mit mir rufen: Seine Majestät, unser König und Herr, er lebe hoch!“ Die Folge des Attentats war eine gehobene Stimmung Bismarcks. Mehrmals hatte ich den Eindruck, daß er sich jetzt als Gottes „auserwähltes Rüstzeug“ fühlte, um seinem Vaterlande Segen zu bringen. Ausgesprochen aber hat er das nicht. In den nächsten Tagen, während die Mobilmachungen überall ausgeführt wurden, kam unter andern Fürsprechern des Friedens Herr Abraham Oppenheim als Vertreter von 17 rheinischen Handelskammern nach Berlin. Er wurde von Bismarck empfangen und trug die Bitte vor, wenn der Krieg unvermeidlich wäre, möchte vorher mit dem Landtag Frieden gemacht werden. Der Minister erwiderte inhaltlich Folgendes: „Ich hege den Wunsch nach Aussöhnung mit dem Landtage, ehe vielleicht ein großer Konflikt unvermeidlich wird, so lebhaft wie irgendjemand. Meine verhaßte Person würde aber ein Hindernis der Verständigung sein; ich habe deshalb vor einiger Zeit den König gebeten, statt meiner den Fürsten von Hohenzollern zum Ministerpräsidenten zu ernennen und mir den Posten eines Unterstaatssekretärs im auswärtigen Ministerium zu geben. In dieser Stellung würde ich meine Erfahrungen im auswärtigen Dienst ebenso 188

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verwerten können wie als Minister, und der Fürst würde mir wohl freie Hand lassen. Der König hat aber auf diesen Gedanken nicht eingehen wollen. Er hat dagegen Neuwahlen zum Abgeordnetenhause anzuordnen befohlen, und wir müssen zunächst diese abwarten.“ Auflösung des Hauses und Vorbereitung von Neuwahlen waren am 9. Mai verfügt worden. Herr Oppenheim erzählte diese Unterredung an demselben Abend in Ausdrücken höchster Bewunderung seinem Freunde Bleichröder, welcher mir am anderen Morgen darüber berichtete. Eine Bestätigung der Thatsache, daß Bismarck dem Könige jenen Vorschlag unterbreitet hat, ist mir nicht zuteilgeworden44. Doch hielt ich die Angaben Oppenheims wie den Bericht Bleichröders für zweifellos glaubwürdig und freute mich ebenso sehr, daß Bismarck den selbstlosen Antrag gestellt wie daß der König ihn abgelehnt hatte. Damals gingen Strömungen weichlicher, ganz unpreußischer Gefühle durch das Land. Hervorragende Mitglieder der konservativen Partei setzten alle erlaubten Mittel in Bewegung, um den Krieg zu verhindern. Nicht nur 17  rheinische Handelskammern und eine Kölner Volksversammlung petitionierten um Erhaltung des Friedens, sondern auch 4 Wahlbezirke Berlins und die Stadtbehörden von Stettin, Köslin und Königsberg. Der Abgeordnetentag in Frankfurt und der Ausschuß des Nationalvereins erklärten übereinstimmend, die einzige zur Lösung der obwaltenden Schwierigkeiten berufene Behörde sei ein deutsches Parlament; sie verdammten aber ­gleichzeitig den Minister, der ein solches amtlich beantragt hatte, und den Krieg, welcher der Durchführung dieses Antrages unerläßlich vorhergehen mußte. Nur zwei verständige Kundgebungen wurden in jener Zeit bekannt: eine Adresse der Altliberalen in Halle und die bereits früher erwähnte der Stadtbehörden von Breslau. Schlesien war die der Gefahr eines feindlichen Ueberfalles am meisten ausgesetzte Provinz. Dennoch schrieben die Breslauer am 15. Mai. an Seine Majestät den König, man wolle lieber alle Lasten und Leiden eines Krieges auf sich nehmen als erleben, daß die Lösung der historischen Aufgabe Preußens, die Einigung Deutschlands, noch einmal – wie es 1850 geschehen – auf lange Jahre hinausgeschoben würde. Es fehle zwar, da der innere Konflikt 44 Bernhardt (Aus meinem Leben, Bd. VI, S. 318) erwähnt eine Aeußerung Max Dunckers, der damals vortragender Rat beim Kronprinzen war, an Bennigsen, Bismarck habe dem Könige vorgeschlagen, ein „liberales Ministerium“ zu berufen. Diese vermutlich auf denselben Vorgang zu beziehende unbestimmte Angabe scheint mir weniger glaubhaft als Oppenheims genaue Erzählung dessen, was ihm der Minister selbst gesagt hatte.

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nicht gelöst sei, an der allgemeinen Begeisterung, wie sie 1813 herrschte; dennoch aber würden die schlesischen Männer mit derselben Opferwilligkeit wie damals den Gefahren und Nöten des Krieges entgegengehen. Der König gab in einem huldvollen Erlaß vom 19. Mai der Freude über das Wiedererwachen des schlesischen Geistes von 1813  ernsten Ausdruck und bezeichnete als das Ziel seiner Wünsche eine Verständigung zwischen der Regierung und dem neu zu wählenden Abgeordnetenhause. Im Monat Mai schwebte noch eine geheime Verhandlung zwischen den Höfen von Berlin und Wien, welche während einiger Tage Frieden zu verheißen schien. Baron Anton Gablenz, ein in Preußen angesessener Bruder des Generals, hatte einen Vertragsentwurf auf folgenden Grundlagen ausgearbeitet: In Schleswig-Holstein wäre Prinz Albrecht von Preußen als Herzog einzusetzen, der Oberbefehl des Bundesheeres zwischen Preußen (für die nördlichen) und Oesterreich (für die südlichen Armeekorps) zu teilen, diese Reform aber dem Bunde aufzudrängen. Die besonders für Oesterreich nützlichen Spezialbedingungen lasse ich unerwähnt. Gablenz wurde durch seinen Bruder bei Graf Mensdorff eingeführt, der ihn freundlich anhörte, und kam dann nach Berlin. Daß Bismarck die schließliche Annahme dieser Lösung in Wien für wahrscheinlich gehalten hat, glaube ich nicht; er sprach sich darüber nicht aus, behandelte aber die Sache geschäftlich mit ernster Gründlichkeit und brachte verschiedene Verbesserungen in den Entwurf. Gablenz reiste hin und her und wurde von beiden Monarchen mit Wohlwollen empfangen, erhielt aber schließlich in Wien den Bescheid, er komme mit seinen Vorschlägen um acht Wochen zu spät. Man hatte sich den hilfsbereiten Mittelstaaten gegenüber schon zu fest engagiert, um sie plötzlich wie Gegner behandeln zu können; auch war die Preußen zugedachte Machtsphäre offenbar viel bedeutender als die südliche. Schon vor dem Beginn der Besprechungen mit Gablenz hatte Mensdorff dem Kaiser Napoleon angeboten, Venetien abzutreten, sobald Schlesien erobert sein werde; später ließ er diese Vorbedingung fallen und verhieß Venetien schon vor Beginn des Krieges, wenn nur die Neutralität Italiens gesichert werden könnte. Napoleon empfahl diese Lösung; aber Visconti Venosta erklärte sofort einen solchen Vorschlag für unannehmbar und hielt fest am preußischen Bündnis. Der Kaiser nahm nun seinen mehrmals geäußerten Lieblingsgedanken wieder auf, durch einen europäischen Kongreß die schwebenden Fragen zu lösen: die venetianische, die schleswig-holsteinische und die deutsche Bundesreform. Bismarck hielt diesen Plan zwar für aussichtslos, aber nicht für geraten, Besprechungen darüber abzulehnen. 190

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Inzwischen erfuhren wir, daß die französischen Gesandten in den Mittelstaaten und in Frankfurt eine gegen uns entschieden feindliche Sprache führten sowie daß Napoleon eine vorläufige Verständigung über den Kongreß nicht mit uns, sondern mit London und Petersburg suchte. Graf Harry Arnim meldete aus Rom, Kardinal Antonelli wisse von geheimen, zwischen Wien und Paris schwebenden, wichtigen Verhandlungen. Aus allem ging hervor, daß Napoleon infolge unserer beharrlichen Weigerung, deutsches Gebiet abzutreten, seine Gunst uns entzogen und dem zu manchen Versprechungen geneigten Oesterreich zugewandt hatte. Die formelle Einladung zum Kongresse wurde jedoch Ende Mai und Anfang Juni von allen Beteiligten außer Oesterreich acceptiert, welches die Annahme an Bedingungen knüpfte, die eine Ablehnung in sich schlossen. Napoleon sagte darauf am 3. Juni zu Goltz, Oesterreich allein trage die Verantwortung für den Krieg; daraus folge seine für uns wohlwollende Neutralität. Diese Worte konnten jedoch nicht ernst gemeint sein, denn die geheimen Verhandlungen mit Oesterreich gingen ununterbrochen weiter. Der sonderbare Vertrag, der am 10. Juni zustande kam, blieb uns zwar unbekannt; aber ein Manifest des Kaisers vom 11., welches in Form eines Briefes an Drouyn de Lhuys dem Senate mitgeteilt wurde, enthielt eine deutliche Absage an Preußen.

* * * Als gegen Ende Mai der Krieg unvermeidlich zu werden schien, trat der Finanzminister von Bodelschwingh zurück, der schon früher bei jeder Gelegenheit eine friedliche Lösung befürwortet hatte. Die Verlegenheit war augenblicklich groß. Da wandte sich Bismarck an den Freiherrn von der Heydt, der früher lange Jahre Handelsminister, im Sommer 1862  Finanzminister gewesen und im September wegen Gewissensbedenken gegen eine budgetlose Verwaltung zurückgetreten war. Jetzt aber, da er das Vaterland in Gefahr sah, war er sofort bereit, die schwerste Verantwortung zu übernehmen und den Kredit, den er als Chef eines großen Bankhauses in Finanzkreisen genoß, zur Geltung zu bringen. Der Opfermut dieser Entschließung in einem Moment, wo an der Börse bereits Kriegskurse herrschten, ist, wie mir scheint, weder damals noch später voll gewürdigt worden; vielleicht weil die folgende Zeit so viel Kriegsruhm brachte, daß man darüber des wohlthätigen Zauberers vergaß, der seine ganze Habe einsetzte, um die versiegenden Quellen der Rüstungsmittel plötzlich wieder aufzuschließen. Es darf erwähnt werden, daß von der Heydt in der entscheidenden Unterredung, welche am 1. Juni abends stattfand, den Wunsch aussprach, nach 191

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Beendigung des Krieges möchte wegen der Finanzverwaltung seit 1862 vom Abgeordnetenhause I n d e m n i t ä t nachgesucht werden, und daß Bismarck diesen Wunsch beim Könige zu befürworten zusagte. Die Thatsache dieser Zusage hat, wie ich glaube, damals niemand erfahren45, weder die andern Minister noch die Finanzmänner, welche Herrn von der Heydt reichliche Mittel zur Verfügung stellten. Der unter diesen an erster Stelle thätige Leiter der Diskontogesellschaft, Herr von Hansemann, sowie der Sohn des Ministers, Freiherr Karl von der Heydt, haben von der erwähnten Zusage Bismarcks nichts gewußt. Der große Name des neuen Leiters der preußischen Finanzverwaltung genügte, um alles Nötige zu beschaffen. Vielleicht kam auch bei maßgebenden Persönlichkeiten der Glaube an die Ueberlegenheit unserer Waffen hinzu, ein Glaube, der jedoch in Berlin keineswegs verbreitet war. Im Gegenteil glaubten die meisten, daß die verbündeten österreichischen und mittelstaatlichen Streitkräfte den unsrigen überlegen seien. Die allgemeine Stimmung war gedrückt. Den zum Krieg führenden Schritt that Graf Mensdorff am 1. Juni, indem er die Entscheidung über Schleswig-Holstein in die Hand des Bundes legte und demselben die bevorstehende Einberufung der holsteinischen Stände anzeigte. Moltke wünschte natürlich baldige Kriegserklärung, um den Gegnern nicht die Zeit zur Vollendung ihrer Rüstungen zu lassen. Der König aber befahl, den Verlauf der Sache am Bundestage abzuwarten. Bismarck protestierte gegen den österreichischen Antrag durch einen Erlaß an Werther (vom 3. Juni), worin er ausführte, Oesterreich habe durch Uebertragung der Entscheidung wegen Schleswig-Holsteins an den Bund den Gasteiner Vertrag zerrissen; für den dortigen Rechtszustand sei daher fortan nur der Wiener Friede von 1864 maßgebend. Demnach dürften beide Mächte beide Herzogtümer militärisch besetzen, die Stände aber nur durch gemeinsamen Beschluß beider Regierungen einberufen werden. In einem Rundschreiben an unsere Vertreter in Deutschland und im Auslande legte er dar, daß Oesterreich planmäßig den Krieg herbeiführen wolle. Der am 1. Juni beim Bundestage eingebrachte Antrag sei beleidigend in der Form, vertragswidrig im Inhalt. Der König habe noch im Mai einen von unparteiischer Seite gemachten Vorschlag zu direkter Verständigung bereitwillig entgegengenommen, der Vorschlag sei aber in Wien gescheitert; und 45 Mir wurde das am 1.  Juni wegen der Indemnitätsnachsuchung getroffene Uebereinkommen am 13. Juli (im Hauptquartier Czernahora) zufällig bekannt durch einen mir zum Entwurf der Antwort übergebenen Brief des Finanzministers an den Chef.

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aus authentischer Quelle seien dem König Auslastungen kaiserlicher Minister mitgeteilt worden, wonach dieselben den Krieg um jeden Preis begehrten, teils in der Hoffnung auf Erfolge im Felde, teils um über innere Schwierigkeiten hinwegzukommen, ja selbst mit der ausgesprochenen Absicht, den österreichischen Finanzen durch preußische Kontributionen oder durch einen ehrenvollen Bankerott zu Hilfe zu kommen. Am 5. Juni brachte der Staatsanzeiger den Artikel des Vertrages vom 16. Januar 1864, in welchem die beiden Mächte sich zugesagt hatten, über Schleswig-Holsteins Zukunft nur in gemeinsamem Einverständnisse zu bestimmen. Am Bundestage folgte unsererseits eine ausführliche Entgegnung auf den österreichischen Antrag. Allen deutschen Regierungen übersandte Bismarck am 10. Juni den Entwurf eines Umrisses der künftigen Bundesverfassung. Der Hauptinhalt war: Ausschluß Oesterreichs, Teilung des Oberbefehls über das Bundesheer zwischen Preußen und Bayern, Bundesmarine, Parlament aus Volkswahlen nach allgemeinem Stimmrecht, Vertrag zwischen Deutschland und Oesterreich. Dem Herzog von Koburg schrieb Bismarck bei Uebersendung dieses Schriftstückes: ­… „Die in dem Entwurfe enthaltenen Vorschläge sind nach keiner Seite hin erschöpfend, sondern das Resultat der Rücksicht auf die verschiedenen Einflüsse, mit denen kompromittiert werden muß intra muros et extra. Können wir sie aber zur Wirklichkeit bringen, so ist damit immer ein gutes Stück der Aufgabe, das historische Grenznetz, welches Deutschland durchzieht, unschädlich zu machen, erreicht, und es ist unbillig, zu verlangen, daß eine Generation oder sogar ein Mann, sei es auch mein allergnädigster Herr, an einem Tage gutmachen soll, was Generationen unserer Vorfahren Jahrhunderte hindurch verpfuscht haben. Erreichen wir jetzt, was in der Anlage feststeht, oder Besseres, so mögen unsere Kinder und Enkel den Block handlicher ausdrechseln und polieren. „Ich habe die Skizze zunächst Baron Pfordten mitgeteilt; er scheint mit allem Wesentlichen einverstanden, nur nicht mit Artikel I, weil er meint, daß Bayerns Interesse Oesterreichs Verbleiben auch im engeren Bunde fordere. Ich habe ihm mit der Frage geantwortet, ob und wie er glaubt, daß die übrigen Artikel oder irgendetwas Aehnliches auf einen Bund anwendbar seien, welcher Oesterreich zum Mitgliede hat … „Daß der vorliegende Entwurf den Beifall der öffentlichen Meinung haben werde, glaube ich nicht; denn für den deutschen Landsmann genügt im 193

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­ llgemeinen die Thatsache, daß jemand eine Meinung ausspreche, um sich A der entgegengesetzten mit Leidenschaft hinzugeben; ich begnüge mich mit dem Worte qui trop embrasse, mal étreint“…

In einigen Teilen Deutschlands gaben jetzt die Volksvertretungen Mißbilligung der partikularistischen Politik ihrer Regierungen zu erkennen; so in Darmstadt, Nassau, Kassel, Hannover; aber in Sachsen, Bayern und Württemberg schien leidenschaftlicher Haß gegen Preußen vorherrschend.

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IX. Ende des Deutschen Bundes. Krieg und Frieden. Juni bis September 1866. General Gablenz berief, erhaltener Weisung gemäß, die holsteinischen Stände auf den 11. nach Itzehoe. Am 6. erhielt er ein Schreiben ­Manteuffels, worin dieser unsere Rechtsauffassung darlegte und anzeigte, daß am 7. preußische Truppen in garnisonfreie holsteinische Ortschaften einrücken würden. Ein Gleiches in Schleswig zu thun, stehe den Oesterreichern frei. Die ohne Zustimmung des Königs erfolgte Einberufung der Stände aber sei vertragswidrig; Gablenz möge dieselbe einstweilen zurücknehmen, dann würde die Civilregierung des Landes nicht gestört werden. Hierauf befahl Gablenz unverzüglich, daß seine Brigade (Kalik) nach ­Altona marschieren und ebenso die Landesregierung von Kiel dorthin übersiedeln sollte. Der Erbprinz folgte derselben. Es sei mir erlaubt, eine Betrachtung an die Thatsache zu knüpfen, daß der Erbprinz von Augustenburg durch seine den eigenen Interessen nachteilige Haltung den Ausbruch des Krieges verursacht hat. Im Januar 1864 riet ihm der General (der nachmalige Feldmarschall) von Blumenthal, wie er mir 1870 in Versailles erzählt hat, in die aktive Armee einzutreten, um den Feldzug gegen Dänemark mitzumachen. Wäre er diesem Rate gefolgt, so hätte er das Herz des Königs gewonnen. Seine Majestät würde ihn dann vermutlich, ohne die Kronjuristen zu befragen, unter den etwas gemilderten Februarbedingungen als Herzog eingesetzt haben. Die Lösung der „deutschen Frage“ wäre infolgedessen auf unbestimmte Zeit, wahrscheinlich bis lange nach Rückkehr der französischen Truppen aus M ­ exiko, verschoben und dadurch wesentlich erschwert worden. Der Herzog von Koburg aber und wohlmeinende Juristen unterstützten die Ueberzeugung des Erbprinzen, daß es Gewissenspflicht sei, das ihm Zustehende unentwegt zu behaupten. Später trugen die Bitten der ihm treu gesinnten B ­ evölkerung dazu bei, daß er auch im Widerspruch mit dem ausgesprochenen Wunsche des Königs in der eingenommenen Stellung ausharrte. Der König aber fühlte dadurch sein von den 195

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berufenen Autoritäten anerkanntes ­Hoheitsrecht v­ erletzt und hielt für unabweisbare Herrscherpflicht, dasselbe zu wahren. So hat der Erbprinz durch treues Festhalten an seinem politischen Glauben den Zauber gebrochen, der die preußische Macht gefesselt hielt und die Bahn frei gemacht für die Entwicklung des neuen Reiches. Gablenz protestierte gegen Manteuffels Eigenmächtigkeiten und erklärte, daß es bei der Einberufung der Stände verbleiben müsse. Manteuffel nahm darauf am 10. die Civilverwaltung auch in Holstein in die Hand, verfügte die Auflösung aller politischen Vereine und übertrug die Geschäfte der vormaligen Landesregierung dem Freiherrn von Scheel-Plessen. Das Land blieb vollkommen ruhig, so daß er seine 16.000  Mann nach Süden marschieren lassen konnte. Einige Tausend Mann Landwehr rückten als Polizeitruppe in die Herzogtümer. Gablenz führte seine Brigade durch Hannover und Süddeutschland nach Böhmen. Am 11. Juni beantragte nun Oesterreich in Frankfurt die Mobilmachung der nichtpreußischen Bundesarmeekorps unter dem Namen einer Bundesexekution gegen Preußen. Die bundesgesetzlichen Vorbedingungen für ein solches Verfahren fehlten und von Einhaltung der dafür vorgeschriebenen langwierigen Formen und Fristen sollte natürlich nicht die Rede sein. Preußen erklärte, jedes Votum für den österreichischen Antrag als eine Kriegserklärung betrachten zu müssen. Dafür aber wurden 9, dagegen nur 6 Stimmen am 14. abgegeben. Hierauf erhob sich Savigny, zeigte mit kurzer, aber gründlicher Motivierung an, daß infolge dieser Kriegserklärung der Bundesvertrag erloschen sei, und überreichte die Grundzüge zu einem neuen, zeitgemäßen Vertrage, auf deren Basis der König mit den dazu geneigten Fürsten eine Verständigung zu suchen bereit sein werde. Auf Savignys telegraphischen Bericht über diesen Vorgang gab der König sofort den Befehl, die Feindseligkeiten unter der Voraussetzung zu eröffnen, daß die an Sachsen, Hannover und Kurhessen von unserem Gesandten am 15. zu überreichende Sommation nicht befriedigend beantwortet werden würde. Am Morgen des 14. hatte Bismarck, der das Ergebnis der Abstimmung mit Sicherheit voraussah, Momente schweren Zweifels über den Ausgang des von ihm ersehnten Entscheidungskampfes. Er schlug die Bibel auf; sein erster Blick fiel auf die Worte des 9. Psalmes (Vers 3‒5): „Ich freue mich und bin fröhlich in dir, und lobe deinen Namen, du Allerhöchster, daß du meine Feinde hinter sich getrieben hast; sie sind gefallen und umgekommen vor dir. Denn du führest mein Recht und Sache aus; du sitzest auf dem Stuhl, ein rechter Richter.“ 196

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IX. Ende des Deutschen Bundes. Krieg und Frieden. Juni bis September 1866.

Er fühlte sich dadurch getröstet und mit neuer Hoffnung erfüllt. So erzählte mir die Gräfin. Am Abend des 14. gegen 10 Uhr schickte der Minister mich zum General von Moltke. Es war nämlich in Aussicht genommen, den benachbarten mittelstaatlichen Regierungen 48 Stunden Ueberlegungsfrist zu gewähren und die Truppen erst am 17. einrücken zu lassen. Am 14. nachmittags aber äußerte der kurhessische Thronfolger mündlich zu Bismarck, er glaube, daß die hessische Dynastie „unter dem Schutz von 800.000 österreichischen Bajonetten“ wohl sicherer geborgen sein werde als durch Anlehnung an Preußen. Diese überraschende Ziffer war vermutlich dem Könige von Hannover durch einen fürstlichen Besuch aus Oesterreich, von dem man kürzlich gehört hatte, mitgeteilt worden und dadurch auch in Kassel bekannt geworden. Eine Sinnesänderung beider Höfe hielt der Minister daher für unwahrscheinlich. Gegenüber dem vollständig gerüsteten Königreich Sachsen aber erschien die lange Ueberlegungsfrist vollends als eine Verschwendung kostbarer Zeit. Ich wurde demnach beauftragt, anzufragen, ob es nach der Stellung unserer Truppen möglich wäre, die Einmärsche schon am 16. früh statt am 17. beginnen zu lassen. Der General hatte frühe Gewohnheiten und war schon fast entkleidet, als ich kam, empfing mich aber sofort, bejahte die gestellte Frage, legte schnell die Uniform an und fuhr mit mir zum Minister, um das Nähere zu besprechen. Sogleich fand Vortrag beim Könige statt und noch in der Nacht gingen die entsprechend modifizierten Weisungen ab, sowohl an die Gesandten wie an die Generale. Während der letzten Wochen des Juni versammelten sich in den frühen Abendstunden im Auswärtigen Amte häufig die Generale Roon, Moltke, Gustav Alvensleben und Tresckow, mitunter auch die Minister. Nie hat so vollkommene Harmonie zwischen Bismarck und seinen Kollegen sowie mit den Generalen geherrscht als in diesen Tagen der Siegeshoffnungen. Die militärischen Mißverständnisse und Kümmernisse, welche der Kapitulation der hannöverschen Armee bei Langensalza vorhergingen, wurden gemeinschaftlich überwunden und die ersten Siegesnachrichten aus Böhmen besprach man ohne Ueberhebung. Von drei Seiten waren unsere Heere in Böhmen eingerückt: aus der Oberlausitz die erste Armee unter dem Prinzen Friedrich Karl, aus Schlesien die zweite unter dem Kronprinzen und aus Sachsen die kleine Elbarmee unter General von Herwarth.

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Jedes der drei Heere hatte schwere Gefechte zu bestehen, welche mit einer einzigen Ausnahme sich zu Siegen gestalteten46. Die drei uns benachbarten Mittelstaaten kamen schnell in unseren militärischen Besitz. Mit Leitung der Civilverwaltungen wurden beauftragt: für Kurhessen der Regierungspräsident von Möller, für Hannover der Landrat Freiherr von Hardenberg, für Sachsen der Landrat von Wurmb. Bismarck hatte im Allgemeinen mehr Vertrauen zu der Umsicht und Findigkeit tüchtiger Landräte, die fortwährend in lebendigem Verkehr mit der Bevölkerung blieben, als zu höheren Beamten, welche der Regel nach seit langen Jahren vom „grünen Tische“ aus zu verwalten gewohnt waren. Er schien auch ein gewisses Vergnügen in der Vorstellung zu finden, daß mittelstaatliche Minister preußischen Landräten unterstellt werden konnten. Diese Experimente sind meines Wissens gut abgelaufen und Störungen der herkömmlichen Landesverwaltungen nicht eingetreten. Für mich dauerte der Dienst fast in jeder Nacht bis gegen 4 Uhr. Einige Beamte des Chiffrierbureaus hatten regelmäßigen Nachtdienst; von den Räten aber war nach 10 Uhr abends außer mir niemand anwesend. Den dienstfreien Teil der Nachtstunden durfte ich im Wohnzimmer zubringen, wo die Gräfin mit wenigen befreundeten Personen die Nacht hindurch auszuharren pflegte, bis ihr Gemahl zu ruhen für gut fand. Der Rittmeister Graf Karl Bismarck-Bohlen, welchem der Minister im Jahre 1863 versprochen hatte, ihn im Fall eines Krieges wieder zu verwenden, beschäftigte sich damit, für die „Mobilmachung des Auswärtigen Amtes“ drei zweispännige offene Wagen anzuschaffen, in welchen der Minister, Abeken, er selbst, ich und zwei Chiffrierbeamte Platz finden sollten. Die Sorge für Reitpferde blieb den Reitern überlassen. Endlich wurde der Aufbruch des großen Hauptquartiers zum 30. Juni befohlen. Am Abend vorher brachten dicht gedrängte Menschenmassen vor dem königlichen Palais Ovationen dar, und zu ähnlichen Kundgebungen zog dann die Menge vor das Auswärtige Amt. Wir traten an die Fenster des chinesischen Saals und des Speisesaals. Bismarck sprach aus dem Fenster47 ungefähr folgende Worte: „Gott hat uns gestern und vorgestern Siege geschenkt. Nächst Gott verdanken wir diese Siege aber unserem Allerhöchsten Kriegsherrn, dem 46 Siegreiche Gefechte wurden gemeldet aus Turnau und Hühnerwasser (d. 26.), Nachod (d. 27.), Skalitz und Münchengrätz (d. 28.), Schweinschädel und Gitschin (d. 29.). 47 Ein Berichterstatter (erwähnt bei Kohl, Regesten I, S. 291) läßt ihn „vom Balkon seiner Wohnung aus“ sprechen. Ein solcher war nicht vorhanden.

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­ önige. Er hat von Jugend auf sich bemüht, uns eine kriegstüchtige Armee K zu schaffen; als er sie hatte, hat es ihm viele Mühe und Kämpfe gekostet, sie zu erhalten; jetzt sehen Sie, daß er recht gehabt hat. Ohne des Königs Pläne wäre es nicht gelungen, solche Siege zu erstreiten. Darum danken wir Gott, und lassen Sie uns den König, den Schöpfer dieses Kriegsheeres, loben – der Himmel gebe seinen Segen dazu.“ Nach dem Hoch auf den König und die Armee fuhr er fort: „Meine Herren, gedenken wir auch in Liebe der Verwundeten und der Zurückgebliebenen, der Witwen und Waisen! Mancher Soldat ist Familienvater und kehrt nicht zu den Seinen zurück. Oeffnen wir darum den Verwundeten, den Witwen und Waisen unser Herz und unsern Beutel. Berlin war stets groß in Mildthätigkeit; mag es auch jetzt diese Tugend üben! Darum bitte ich Sie.“ Es erschien natürlich, daß der König mit dem Gefolge (das sogenannte große Hauptquartier) die Richtung einschlug, in welcher die I. Armee zwischen den beiden anderen vorgegangen war. Am 30. Juni kamen wir vor Sonnenuntergang nach der böhmischen Fabrikstadt Reichenberg, wohin am 29.  die etwa 300  Reiter der Stabswache sowie sämtliche Pferde und Wagen des Hauptquartiers vorausgegangen waren. Die Stadt war schon fast ganz von preußischen Truppen entblößt. Bismarck wurde von der Sorge gequält, Baron Edelsheim, der berühmte österreichische Reiterführer, wäre von der Reise des Königs benachrichtigt und würde einen nächtlichen Ueberfall des Hauptquartiers versuchen. Moltke teilte diese Besorgnis zwar nicht, da die österreichischen Corps zu weit entfernt und zu hart bedrängt seien, als daß eine solche Unternehmung geplant werden könnte; Bismarck erwirkte jedoch den Befehl, daß alle Pferde die Nacht über gesattelt blieben und berittene Wachtposten weit ins Land vorgeschoben würden. Am 1. Juli bestieg der Minister mit Abeken den Reisewagen, Karl Bismarck und ich marschierten zu Pferde nach Schloß Sichrow, wo wir am frühen Nachmittag ankamen. Dort saß man lange in einer überwölbten, aber nach der Seite offenen Halle. Einige Offiziere vom Stabe des verwundeten General von Tümpling kamen nach Meldung bei Seiner Majestät zu uns, und während anhaltender Regen den Ausblick ins Freie hemmte, erzählten sie anschaulich von merkwürdigen Erlebnissen der am 29. geschlagenen Schlacht bei Gitschin. Am folgenden Tage, dem 2. Juli, ging der Marsch nach Gitschin dicht bei dem Schlachtfelde vorbei, auf dem viele tote Pferde und auch noch manche unbeerdigte Soldatenleichen lagen. 199

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Gegen Abend kamen wir ins Quartier. Von dem ungewohnten Marschieren zu Pferde ermüdet, schlief ich einige Stunden recht gut in einer Bodenkammer auf den Dielen des Fußbodens. Um 1 Uhr trat der Hofmarschall Graf Perponcher mit einer Blendlaterne an mich heran und sagte wörtlich: „Heute früh soll bei Horsitz, etwa zwei Meilen von hier, ein Gefecht sein. Der König fährt mit ganz kleinem Gefolge um 5 Uhr dahin ab, die Pferde gehen um 4 Uhr voraus. Ich überlasse Ihnen ganz, ob Sie das dem Minister melden wollen oder nicht.“ Ich ging zwei Treppen hinunter nach dem Zimmer hin, wo Bismarck mit seinem Vetter Karl zusammen übernachtete. Die Thüre war verschlossen. Nach meinem Klopfen hörte ich, daß Karl in übermäßiger Vorsicht den Hahn seiner Pistole knacken ließ, ehe er öffnete. Ich trat an das Bett des Chefs und meldete das Gehörte. Er sagte: „Das ist nun der unglückselige Biereifer48 der Herren Generale; da wollen sie dem König ein Arriere-Garde-Gefecht vormachen, und deswegen muß ich meine Nachtruhe verlieren, die ich so nötig brauche. Aber was hilft’s, wenn der König geht, muß ich mit. Bestellen Sie die Pferde.“ In den Ställen wurde es sogleich lebendig; die Reitpferde gingen, gut gefüttert, um 4 Uhr ab. Eine Stunde später folgte im Anschluß an die offenen Landauer der Generale ein Halbwagen, in welchem Bismarck mit seinem Vetter saß und ich auf dem Bocke neben dem Kutscher Platz fand. Freund Abeken, der damals nicht beritten war, sollte, wenn nötig, das Bureau nach Horsitz schaffen. Der ganze Himmel war von grauen Wolken bedeckt; hin und wieder fiel etwas Regen. Auf der breiten Heerstraße, die von Horsitz über Sadowa nach Königgrätz führt, bewegten sich im Schritt lange Geschützreihen, neben welchen unsere Wagen vorbeifuhren. Zu beiden Seiten marschierte Infanterie durch die triefenden Kornfelder. Nirgends war der gewohnte Helm sichtbar. Offiziere und Mannschaften trugen Mützen, auf Befehl des Prinzen Friedrich Karl. Die Masse der langsam vorrückenden Truppen zeigte an, daß es sich wohl um mehr handelte, als um ein Gefecht mit der österreichischen Nachhut. Gegen 8 Uhr kamen wir nach dem hinter Horsitz gelegenen Dorfe Dub, bestiegen die Pferde und ritten einen sanft ansteigenden Hügel hinan, welcher zu der langen Kette niedriger Anhöhen gehört, die auf der Westseite das breite Wiesenthal des Flüßchens Bistritz begleiten. Gegenüber, auf der Ostseite, liegt näher am Wasser ein Laubwäldchen, der Holawald, und dahinter 48 Studentischer Ausdruck für übermäßigen Eifer.

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erhebt sich die kahle Hochebene von Lipa, nach Süden zu ausgebreitet; hinter Lipa die dominierende Höhe von Chlum. Nebel lagen über dem Flußthal, dem Wald und den unteren Höhen; aber durch den Nebel leuchteten Feuerblitze einer langen Reihe von Geschützen, die auf den Höhen postiert sein mußten. Bismarck ritt an Moltke heran und fragte: „Wissen Sie, wie lang das Handtuch ist, dessen Zipfel wir hier gefaßt haben?“ „Nein,“ sagte Moltke, „genau wissen wir es nicht; nur, daß es wenigstens drei Corps sind, vielleicht ist es die ganze österreichische Armee.“ In dem Augenblicke flog eine Granate heran und fiel etwa fünfundzwanzig Schritte vor dem Könige nieder, ohne zu platzen. Vielleicht gaben die etwa dreihundert Pferde der den König begleitenden Stabswache ein bequemes Ziel. Es wurde sogleich befohlen, daß das Hauptquartier sich im Gelände verteilen sollte. Der König, die Generale und Bismarck ritten nach Nordosten, hinunter in die Ebene. Ich sah, daß Karl Bismarck dem Minister folgte und blieb der Aussicht wegen noch fast zwei Stunden auf dem Hügel. Neben mir hielt Oberst von Albedyll, damals nach General von Tresckow der erste Offizier des Militärkabinetts. Das vordere Gelände war durch die von Horsitz in östlicher Richtung nach Sadowa führende, von Pappeln eingefaßte Heerstraße in zwei fast gleiche Flächen geteilt. Jenseits des Flusses erhob sich im Norden der Straße eine dunkelgrüne Hügelreihe, der Swiepwald. Zwischen diesem und dem Holawalde lag ein breites, sanft ansteigendes Thal, in welches man meilenweit hineinsehen konnte. Der Swiepwald ragte hoch über die Nebelmassen empor, welche damals noch den Holawald verhüllten. Was in der Flußniederung vorging, war für uns nicht sichtbar; aber um einige Dörfer mußte hart gekämpft werden, denn an mehreren Punkten vor dem Holawalde und in dem Thale zwischen beiden Wäldern stiegen Feuersäulen auf, über welchen sich dunkelgraue Rauchwolken zusammenballten. „Was meinen Sie, Keudell,“ sagte Albedyll, „das ist doch wohl kein bloßes Gefecht mehr, das ist eine richtige Schlacht.“ Also nicht einmal im Militärkabinett war man in die Sachlage eingeweiht. Es kam der Befehl, alle Offiziere des Hauptquartiers sollten auf der linken Seite der Heerstraße sich zerstreuen. Dort hörte ich von einem Flügeladjutanten über die Vorgänge des letzten Abends Folgendes: Am 2. Juli hatte der Major von Unger von Horsitz aus einen kühnen Ritt durch die feindlichen Linien bis an die Elbe und im weiten Bogen zurück gemacht, ohne von Kugeln getroffen oder von verfolgenden Ulanen ­gefan­gen 201

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zu werden. Er meldete mit Bestimmtheit, daß er Truppen von drei verschiedenen Armeecorps diesseits der Elbe gesehen hätte. Prinz Friedrich Karl traf vorläufige Anordnungen und ersuchte schriftlich den Kronprinzen, ihm am 3. früh die Garde zu Hilfe zu schicken. Dann ritt der Generalstabschef Oberst von Voigts-Rhetz nach Gitschin, um die Befehle des Königs einzuholen. Moltke war schon zur Ruhe gegangen, als der Oberst um 11 Uhr gemeldet wurde. Er ließ diesen sofort eintreten und hörte die Meldung, daß drei feindliche Corps diesseits der Elbe ständen. Sogleich sprang er aus dem Bette und rief, die Rechte ausstreckend: „Da schlagen wir sie.“ Er hatte gefürchtet, der Feind würde sich hinter die Elbe zurückziehen. Der König entschied auf Moltkes Vortrag, dem nur Roon, Alvensleben und Voigts-Rhetz beiwohnten, daß die erste Armee am frühen Morgen angreifen, der Kronprinz nicht nur mit der Garde, sondern mit der ganzen zweiten Armee so schnell als möglich heranrücken, die Elbarmee aber auf die vermutlich südlichste Stellung des Feindes bei Nechanitz losgehen sollte. Der für den Kronprinzen bestimmte Befehl wurde dem Flügeladjutanten Oberstleutnant Grafen Finckenstein übergeben, zwei Abschriften davon den als vorzügliche Reiter bekannten Rittmeistern von Kahlden-Iden und von Borcke mit dem Auftrage ausgehändigt, auf verschiedenen Wegen nach dem etwa fünf deutsche Meilen weit entfernten Hauptquartier des Kronprinzen zu eilen. Mit Hilfe von guten Karten und Laternen haben alle drei Herren vor Tagesanbruch das Ziel erreicht, was man jedoch am Morgen im großen Hauptquartier noch nicht wissen konnte. Prinz Friedrich Karl beabsichtigte anfänglich, die Bistritz nicht zu überschreiten, sondern bis zur Ankunft des Kronprinzen nur ein Artilleriegefecht zu führen; Moltke aber, so wurde erzählt, besorgte, der Feind würde, durch die mächtige Artillerieaufstellung gedeckt, nach Süden über die Elbe abmarschieren. Der König befahl daher sofortigen Angriff der Infanterie. Der Fluß wurde überschritten, die Dörfer Sadowa und Dohalitz wurden genommen und der Holawald besetzt. Die kahlen Höhen aber hinter dem Walde, wo vermutlich Infanterie massiert war, sollten erst nach wirksamem Eingreifen des Kronprinzen gestürmt werden. Ich darf hier in Kürze einschalten, was uns am folgenden Tage, teilweise durch gefangene Offiziere, über den sehr ungewöhnlichen Verlauf der Schlacht bekannt wurde. Unsere siebente Division (Fransecki) besetzte die nördlich Sadowa gelegenen Swiepwaldberge und eroberte das davor im Thale liegende, vom Feinde verteidigte Dorf Cistowes. Nun hatten zwar zwei ganze A ­ rmeecorps 202

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von Benedek den Befehl erhalten, die Stellung von Chlum gegen den von Norden her zu erwartenden Angriff des Kronprinzen zu verteidigen; es schien jedoch den Befehlshabern dieser Corps eine lockende Aufgabe, unsere kleine Division aus dem Dorfe wie aus dem Walde zu werfen und dann unsre erste Armee von Norden her in der Flanke aufzurollen, ehe die zweite herankommen könnte. Beide Corps verließen daher, eines nach dem andern, die ihnen bei und vor Chlum angewiesenen Stellungen und führten wiederholten Befehlen Benedeks entgegen mehrstündige Waldgefechte gegen Fransecki mit wechselndem Glücke. Dadurch wurde östlich vom Swiepwalde ein Gelände frei, in welchem unsre Garde vordringen und Chlum, den Schlüssel der feindlichen Position, überraschend schnell erstürmen konnte. Das geschah aber erst am Nachmittage. In den Morgenstunden war, wie erwähnt, das Gefolge des Königs links von der Heerstraße Horsitz-Sadowa in weit auseinanderstehende Gruppen verteilt. Unweit des Kriegsherrn, welchen Moltke, Roon und Alvensleben umgaben, hielt Bismarck auf einem riesengroßen Fuchs. Wie er im grauen Mantel hoch aufgerichtet dasaß und die großen Augen unter dem Stahlhelm glänzten, gab er ein wunderbares Bild, das mich an kindliche Vorstellungen von Riesen aus der nordischen Urzeit erinnerte49. Ein Infanterieregiment kam in Zugskolonnen durch hohes Korn und defi­ lierte mit lautem Hurra vor dem Könige. Währenddessen erhielt Bismarck eine Zifferndepesche und gab sie mir zur Entzifferung. Ich mußte nach Horsitz reiten und konnte erst nach etwa zwei Stunden zurückkehren. Da standen der König und das Gefolge zu Fuß auf dem Roskoshügel, links vom Wege, die Pferde auf der Westseite dahinter; im Nordwesten eine Division Kavallerie in Reserve. Ich machte meine Meldung an den Minister, der nahe dem König in der ersten Reihe stand, und trat dann in die hinterste Reihe zurück. Die Nebel waren verschwunden. Man gewahrte rechts vom Swiepwalde öfters Massen schwarzer Punkte in Bewegung; was aber eigentlich vorging, konnte ich auch durch Gläser nicht erkennen. Niemand sprach, die Stimmung schien gedrückt. Leise wurde mir erzählt, daß einige Compagnien des Regiments, welches vor zwei Stunden nach dem Holawald marschiert war, die meisten Leute mit verbundenen Köpfen, in einiger Unordnung auf der Heerstraße 49 Das ungewöhnlich große Pferd ist bald darauf in Nikolsburg gefallen; es wurde dadurch unmöglich, das merkwürdige Reiterbild photographisch festzuhalten.

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­herankamen. Der König wäre dem Zuge entgegengeritten und hätte gerufen: „Ich bin nicht gewohnt, meine Bataillone so schlapp aus dem Feuer kommen zu sehen!“ – worauf sich alle schnell ordneten. Man hielt dieses harte Eingreifen für richtig, nicht nur an sich, sondern auch wegen des voraussichtlichen Eindrucks dieses Rückmarsches auf die weiter zurückstehenden Reserven. Der Vorgang bekundete aber doch, daß es im Holawalde nicht vorwärtsging; wirklich mußten dort brandenburgische, pommersche und thüringische Regimenter die schwerste Probe der Tapferkeit bestehen; sie mußten fünf lange Stunden unter einem unaufhörlichen Hagel von Geschossen im Walde aushalten. Die Stellung unserer viel weniger zahlreichen Batterien im Bistritzthal war den feindlichen gegenüber sehr im Nachteil. Ein älterer Artillerieoffizier kam von der Westseite her an den Roskoshügel heran und sagte halblaut, aber doch so, daß wir Hintensteheuden es hören konnten: „Es steht schlecht. Unser Pulver ist beinah verschossen.“ Völlig sorglos aber schien Moltke. Nach Vortrag beim Könige sandte er um 1 ¾ Uhr einen Befehl an die Elbarmee, von dessen Inhalt ich nur zufällig etwas erfuhr. General Herwarth sollte möglichst weit vorrücken, um zusammen mit dem voraussichtlich bald von Osten herankommenden VI. Corps dem Feinde den Rückzug auf Königgrätz abzuschneiden. Moltke glaubte also fest, daß es dazu kommen würde; uns Laien dagegen schien es, als ob der Feind in der Lage wäre, auf die erste Armee einen wirklich gefährlichen Vorstoß zu machen. Freilich wäre er dann vom Massenfeuer der Infanterie empfangen worden. Träger des Befehls an die Elbarmee war der Flügeladjutant vom Dienst Graf Lehndorff, der Liebling des Königs und des ganzen Hauptquartiers. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er, mit der Adjutantenschärpe geschmückt, im Trabe abritt auf einer großen, schwarzbraunen Vollblutstute und dann in gestrecktem Galopp am Rande des Flusses nach Süden sprengte. Auf der ersten Hälfte des Weges umsausten ihn unzählige Geschosse; er erreichte aber glücklich sein Ziel. Nach seinem Abreiten wandten sich alle Blicke wieder nach Osten in das Thal zwischen den Waldhügeln. Bismarck war dank einem guten Fernglase der Erste, der melden konnte, er sähe in weiter Ferne schwarze Linien sich bewegen in der Richtung auf Chlum. Das wurde dann von andern bestätigt. Auch wollte man bemerken, daß Blitze von Chlumer Geschützen jetzt nach Norden zuckten statt wie bisher nach Westen. Ein unbeschreibliches Gefühl der Befreiung von schwerem Druck beglückte mich und meine Nachbarn. „Gott sei Dank“, sagte mancher leise vor sich hin. Der Geschützdonner auf den Lipahöhen dauerte noch einige 204

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Zeit; dann aber, gegen 3 Uhr, verstummte er auf der ganzen Linie. Nach etwa einer halben Stunde befahl der König die allgemeine Verfolgung des feindlichen Rückzuges. Jenseits der Brücke von Sadowa formierte sich schnell die Kavalleriebrigade des Herzogs von Mecklenburg. Der König, auf einem herrlichen Rappen50 heransprengend, setzte sich an die Spitze, ein begeisternder Anblick. Er führte die Reiterscharen durch das breite Thal eine weite Strecke; dann schwenkte er rechts ab und ließ das Gefolge wieder herankommen. Wir waren an dem nördlichen Saume des Holawaldes die sanft ansteigende Höhe von Lipa hinangeritten. Der König befand sich bald nach 4 Uhr auf der Heerstraße zwischen Lipa und dem Walde. Da kam ein versprengter Trupp von etwa 100 österreichischen Ulanen gerade auf den König zu. Die Stabswache formierte sich sofort zum Angriffe; in demselben Augenblicke aber bekamen die Ulanen so starkes Infanteriefeuer, daß die Uebrigbleibenden eiligst nach Süden fortsprengten. Bald darauf traten zum ersten Mal in dem jetzt hell strahlenden Sonnenlicht die Helmspitzen der zweiten Armee in unser Gesichtsfeld. Es war die Reserve der zweiten Gardedivision unter Generalmajor Freiherrn von Loën. Er führte die Leute im Laufschritt heran. Das unerwartete Erscheinen des angebeteten Kriegsherrn erregte unbeschreiblichen Jubel. Erschütternde Hurrarufe erdröhnten, während die Vordersten dem Könige Hände und Füße zu küssen suchten. Er sprach kurze Zeit leutselig mit Offizieren und Mannschaften und ritt dann weiter nach Südosten, mitunter die Richtung wechselnd, um möglichst viele der siegreichen Regimenter zu begrüßen. Auf diesem Ritte hat der König an jeden Einzelnen des Gefolges ein gnädiges Wort gerichtet. Alle anwesenden Offiziere hatten höheren Rang als ich, denn ich trug Leutnantsuniform. Aber auch mir winkte Seine Majestät bei einer Biegung des Weges, reichte mir die Hand und sagte: „Ein herrlicher Tag, den wir heute zusammen erleben.“ Immer weiter ging es nach Südosten in der Richtung des feindlichen Rückzuges. Da kamen wir plötzlich in Granatfeuer. Quer vor dem Walde von Charbusitz (Britzer Wald genannt), in der Richtung von Westen nach Osten, ritt der König mit Gefolge im Trabe über ein blühendes Kleefeld. Südlich vom Walde mußte sich eine feindliche Batterie postiert haben, um den Rückzug zu decken, denn es kamen Granaten über die Tannenwipfel und fielen im Felde nieder. Bismarck ersuchte Roon und 50 Es war die Trakehner Stute Veranda, später Sadowa genannt.

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Alvensleben, dem Könige die große Gefahr vorzustellen. Beide lehnten das ab mit den Worten: „Der König kann reiten, wo er will.“ Da galoppierte Bismarck schnell heran und sagte: „Wenn Eure Majestät hier einen Schuß erhielten, wäre ja die ganze Siegesfreude dahin; bitte inständig dieses Feld zu verlassen.“ Der König wendete schnell nach links in einen Hohlweg, welcher hinter eine Hügelreihe führte. Nach wenigen Galoppsprüngen war man außer Gefahr. Ich hatte fünf Granaten zwischen Pferden der Stabswache in den Klee niederfallen gesehen und zwei vor dem Kopfe meines Pferdes vorbeizischen gehört. Es schien wie ein Wunder, daß keines der Geschosse geplatzt und niemand verletzt worden war. Nach einigen Minuten kamen wir an eine Stelle, wo grausig entstellte ­Leichen lagen. Bismarck sagte, zu mir gewendet: „Wenn ich daran denke, daß künftig einmal Herbert auch so daliegen könnte, da wird mir doch schlecht.“ In welchen: Zustande die feindliche Armee sich befand, war nicht sicher bekannt. Nach der Einnahme von Chlum mochte Benedek das Gefecht abgebrochen und einen geordneten Rückzug befohlen haben, früher als die Elbarmee und die Spitzen unsres VI. Corps sich die Hand reichen konnten. Es kam auch in Betracht, daß die Truppen seit 2 oder 4 Uhr morgens in Bewegung, viele seit 8 Uhr in schweren Gefechten gewesen waren. Es wurde daher gegen 6 ½ Uhr ein Ruhetag befohlen und dadurch die Verfolgung sistiert. Bald darauf kam die Meldung, der Kronprinz sei endlich gefunden worden, ganz in der Nähe auf einer Wiese bei Problus. In langem Galopp ritten Vater und Sohn sich entgegen und umarmten sich zu Pferde sitzend. Die Gefolge schloffen einen weiten Kreis, entfernt genug, um von der vertraulichen Unterredung nichts zu hören. Ich sah viele Freudenthränen fließen. Der nachmalige Botschafter Heinrich VII. Prinz Reuß hat als Augenzeuge diese Scene durch eine sehr gelungene Zeichnung dargestellt, welche in Lithographie an Freunde verteilt worden ist und hoffentlich einmal der Oeffentlichkeit übergeben werden wird. Der König ritt mit Gefolge bei sinkender Sonne nach Horsitz zurück, um dort zu übernachten. Der Flügeladjutant Freiherr von Steinäcker sagte beim Nachhausereiten zu Bismarck: „Excellenz, jetzt sind Sie ein großer Mann. Wenn der Kronprinz zu spät kam, waren Sie der größte Bösewicht.“ Bismarck lachte herzlich. Doch hat er später manchmal ernsthaft geäußert, bei unglücklichem Ausgang der Schlacht würde er sich einer Kavallerieattacke angeschlossen und den Tod gesucht haben. 206

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Gegen 10 Uhr kamen wir in Horsitz an. Die meisten Zimmer waren durch Verwundete besetzt. Bismarck legte sich zuerst auf das Straßenpflaster, ein Wagenkissen unter dem Kopfe, wurde aber bald von dem Großherzog von Mecklenburg in das für diesen reservierte Zimmer eingeladen. Ich schlief im Wagen wie die meisten Offiziere des Hauptquartiers. Am Vierten erfuhr man erst nach und nach, was am Dritten vorgegangen war; das weitgedehnte hügelige Schlachtfeld hatte keiner unserer Generale übersehen können. Einig waren aber die Sachverständigen darin, dem General von Fransecki das höchste Verdienst um den Ausgang des Tages zuzusprechen. Er hatte im Swiepwalde mit 14 Bataillonen und 24 Geschützen von 8 Uhr morgens an gekämpft gegen feindliche Massen, die sich nach und nach auf 59 Bataillone und mehr als 100 Geschütze beziffern ließen; und dadurch war der Zugang nach Chlum frei geworden. Das mörderische Waldgefecht mußte oft von getrennten kleinen Abteilungen geführt werden. Dabei zeigte sich, daß unsere Leute auch in geringster Zahl immer nach dem nächsten erreichbaren Ziele zusammenwirkten. „Und wenn nur drei Gemeine zusammenstanden, nahm einer das Kommando und die beiden andern gehorchten.“ So erzählte ein gefangener österreichischer Offizier. Ein schlagender Beweis für die richtige Durchbildung unserer Mannschaften infolge der Heeresreform. Fransecki hatte zwar schon vor 11 Uhr Nachricht erhalten, daß die Garde herankommen würde, aber die Schwierigkeiten des Marsches in den aufgeweichten Wegen und Feldern waren ungewöhnlich groß. Gegen 1 Uhr wurde er bis zur nördlichen Felsbastion des Waldes zurückgedrängt. Da rief er laut: „Kinder, hier müssen wir stehen oder sterben.“ „Jawohl, Excellenz,“ antworteten die Leute, „wir stehen oder sterben.“ Es waren Altmärker und Magdeburger. Zwischen 1  und 2 Uhr begann der Feind wohl infolge von Nachrichten über die Annäherung des Kronprinzen langsam zurückzugehen; das Gefecht dauerte aber noch bis 2 ½ Uhr. Ueber die Leistungen der zur Verfolgung bestimmten Truppen wurde im Allgemeinen ungünstig geurteilt. Nach einigen Wochen sagte einmal bei Tische Bismarck: „Vor Königgrätz habe ich bedauert, nicht Soldat geworden zu sein; denn hätte ich dort eine Kavalleriedivision kommandiert, so würde die Verfolgung wohl mehr geleistet haben.“ Ich erwiderte: „Wenn Sie Soldat geworden wären, so würden wir wohl gar nicht nach Böhmen hineingekommen sein.“ Er lachte und widersprach nicht.

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Am zweiten Tage nach der Schlacht kam nach Horsitz ein Telegramm des Kaisers Napoleon an den König. Oesterreich hatte ihm Venetien abgetreten und seine Vermittelung für Waffenstillstand und Frieden mit uns und Italien angerufen; dazu erklärte er sich bereit. Der König erwiderte, daß er die angebotene Vermittelung annähme, aber auf Waffenstillstand weder ohne Zustimmung Italiens noch ohne ein festes Friedensprogramm, eingehen könne. Bismarck erblickte in der plötzlichen Abtretung Venetiens ein Ergebnis der in den letzten Wochen zwischen Oesterreich und Frankreich gepflogenen geheimen Verhandlungen und erkannte die Absicht Napoleons, die österreichische Südarmee für die Verteidigung von Wien verfügbar zu machen. Er äußerte zu Abeken und mir in ernstem Tone: „Nach einigen Jahren wird Louis voraussichtlich diese Parteinahme gegen uns bedauern; sie kann ihm teuer zu stehen kommen.“ Die unvermeidliche Vermittelung Frankreichs sollte nun nach Möglichkeit zu unseren Gunsten gewendet werden. Prinz Reuß, welcher in den Tuilerien während mehrerer Jahre eine bevorzugte Stellung gehabt hatte, ging mit einem eigenhändigen Briefe des Königs nach Paris, um auch mündlich darzulegen, weshalb ein Waffenstillstand ohne feste Friedensbasis für uns nicht annehmbar sei. Am 5. Juli hatte der Moniteur der Welt verkündet, daß Oesterreich ­Venetien abgetreten und Frankreich die Friedensvermittelung übernommen sowie die zur Herbeiführung eines Waffenstillstandes erforderlichen S­ chritte gethan habe. Diese Schritte blieben nun auch bei Italien erfolglos. Napoleon dachte, die Italiener durch Hinweisung darauf, daß Venetien ihnen als Geschenk zugedacht sei, vorläufig aber als französisches Gebiet nicht betreten werden dürfe, zur Waffenruhe zwingen zu können. Das italienische Nationalgefühl jedoch empörte sich gegen diese Zumutung. Auf Befehl König Victor Emanuels überschritt General Cialdini mit acht ­Divisionen den unteren Po und richtete seine Heersäulen auf Rovigo und Padua. Napoleons Verlegenheit war groß. Die Kaiserin und der Minister Drouyn de Lhuys drängten zu sofortigem Kriege, Prinz Napoleon aber, Rouher und Marquis Lavalette meinten, daß der Kaiser seine Vergangenheit nicht verleugnen, Italiens Einheit nicht gefährden und Norddeutschlands nationale Entwicklung nicht hemmen dürfe. Sie betonten auch, daß Frankreich zurzeit für einen großen Krieg in keiner Weise vorbereitet sei. Diese Vorstellungen machten Eindruck. Goltz wurde mehrfach ­empfangen und mit Wohlwollen angehört. Der Kaiser beehrte ihn sogar merkwürdigerweise mit dem Auftrage, die französischen Friedensvorschläge, welche sich 208

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im Wesentlichen mit den von Bismarck verlangten Bedingungen decken sollten, zu formulieren. Sein Entwurf wurde vom Kaiser genehmigt, dem Könige mitgeteilt und nach wenigen Tagen auf Bismarcks Antrag noch etwas erweitert. Inzwischen war im Hauptquartier französischer Besuch eingetroffen. Am 11. abends elf Uhr erschien der französische Botschafter Benedetti in Zwittau. Für ihn konnte noch Quartier beschafft werden, der Botschaftssekretär Lefebvre de Behaine aber mußte sich begnügen, mein Lager zu teilen. Bismarck empfing den unwillkommenen Gast in höflicher Weise, doch verursachte der Aerger über diesen Besuch ihm Schmerzen im linken Fuße, welche längere Zeit anhielten. Benedetti drängte zunächst auf Waffenstillstand; Lefebvre reiste mit einem Vorschlag dreitägiger Waffenruhe nach Wien, welcher jedoch dort abgelehnt wurde. Als dann die Pariser Friedensvorschläge eingingen, reiste Benedetti selbst nach Wien und kehrte am 19. zurück mit der Versicherung, daß sie von Graf Mensdorff angenommen seien. Es wurde fünftägige Waffenruhe (vom 22. mittags ab) vereinbart und die österreichischen Bevollmächtigten, vom Grafen Karolyi geführt, trafen in Nikolsburg ein. Dieses mährische Schloß der Gräfin Mensdorff bot gastliche Räume für unser ganzes Hauptquartier wie für die österreichischen, französischen und italienischen Gäste. Der Friede konnte nach Benedettis erwähnter Meldung gesichert scheinen; doch wurde dem Abschluß von vielen Seiten und namentlich durch einflußreiche Generale entgegengewirkt. Schon während das Hauptquartier in Brünn lag, waren Meinungsverschie­ denheiten hervorgetreten. Bei einem in Gegenwart des Königs gehaltenen militärischen Vortrage wurde lebhaft befürwortet, erst in Wien Frieden zu schließen. Bismarck sagte darauf: „Wenn die feindliche Armee Wien preisgibt und sich nach Ungarn zurückzieht, müssen wir ihr doch folgen. Ueberschreiten wir einmal die Donau, so wird es sich empfehlen, ganz auf dem rechten Ufer zusammenzubleiben; denn die Donau ist ein so gewaltiges Defilee, daß man nicht à cheval derselben marschieren kann. Sind wir aber ganz drüben, so verlieren wir die Verbindungen nach rückwärts; es würde dann das Geratenste sein, auf Konstantinopel zu marschieren, ein neues Byzantinisches Reich zu gründen und Preußen seinem Schicksal zu überlassen.“ Durch diesen Scherz war damals, wie der Minister erzählte, die Frage für den Augenblick erledigt worden. Später aber trat das Verlangen nach einem triumphalen Einzug in Wien noch stärker hervor; und Bismarck mußte es oft genug bekämpfen, nicht nur um die Möglichkeit künftiger Freundschaft mit Oesterreich offenzuhalten, sondern um überhaupt nach Erreichung des Kriegszweckes weiteres Blutvergießen zu verhüten. 209

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Schwieriger noch war der Kampf gegen die bei mehreren einflußreichen Personen hervortretende Begehrlichkeit nach Landerwerb in Sachsen, Böhmen und Bayern. In den meisten aus Berlin im Hauptquartier eingehenden Briefen wurde die Erwerbung Sachsens sowie des nördlichen Böhmen als selbstverständlich behandelt. Andeutungen weitgehender Wünsche finden sich auch in den folgenden, an mich gerichteten Mitteilungen der Gräfin Bismarck aus Berlin vom 17. Juli: ­… „Hier sorgen alle Konservativen sehr, daß wir zu mild sein könnten gegen das feindliche Volk überall, und bestürmen mich mit Bitten, zur Wut anzureizen. Daß wir nicht in Wien einziehen sollen, grämt mich übrigens auch sehr … Die Jungen zittern und beben, daß Papachen zu sänftiglich verfahren möchte … Uebrigens ist mir alles eins – wenn ich nur endlich wüßte, daß Bismarck wieder ganz wohl ist. Ach – wie können sich nervöse Fußleiden bessern, wenn man so entsetzlich angespannt ist! … Hier lebt für mich niemand, der nicht zu mir kommt, da ich so schrecklich viel mit den guten Landwehrfrauen zu thun habe. Alle Damen der noch anwesenden Gesellschaft sind in Lazarethen beschäftigt, den ganzen lieben langen Tag, und haben für nichts weiter Sinn, wenn sie mich freundlichst besuchen.“ Es ist meines Wissens der Gräfin nie in den Sinn gekommen, ihren Gemahl durch Aussprechen politischer Wünsche zu beunruhigen. Selbst in diesem Ausnahmefalle wollte sie es anscheinend meinem Ermessen überlassen, ihre Andeutungen vorzulesen oder nicht. Ich unterließ es aber, davon zu sprechen, um dem Chef eine unausbleibliche Mißempfindung zu sparen, und weil ich selbst überzeugt war, wir dürften nicht auf Wien marschieren und müßten im Frieden österreichisches wie sächsisches Gebiet unberührt lassen. Es schien dem Minister angenehm, dies gelegentlich von mir laut aussprechen zu hören, während Abeken und Graf Karl sich in Schweigen hüllten. Der Kriegsherr war nach den Siegen ohnegleichen natürlich für die Meinungen der Generale empfänglich. Es ist bekannt, daß Bismarck mit seinem Friedensprogramm nur bei dem Kronprinzen volle Zustimmung und Unterstützung fand. Er konnte aber geltend machen, daß dieses Programm alles enthielt, was vor Ausbruch des Krieges begehrt worden war und noch sehr viel mehr. Allerdings hatte Napoleon darauf gedrungen, den Bundesstaat auf Norddeutschland zu beschränken und den süddeutschen Staaten die Möglichkeit engerer Vereinigung unter sich offenzuhalten; das u ­ nvermeidliche Entgegenkommen in dieser Beziehung war aber kaum als ein Opfer zu betrachten, da vermutet werden mußte, daß Bayern und ­Württemberg in naher Zeit nicht bereit sein würden, das Berliner Bundesreformprojekt anzunehmen. 210

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Gesichert war nun Folgendes: Verzicht Oester­reichs auf Beteiligung an der Neugestaltung Deutschlands; Gründung eines norddeutschen Bundesstaates; Erwerbung für Preußen von Schleswig-Holstein, Hannover, Kurhessen und Nassau, also Unmöglichkeit künftiger Feindseligkeiten vonseiten der zwischen unseren Provinzen liegenden Länder. Wenn aber diese von Oesterreich und Frankreich errungenen gewaltigen Zugeständnisse nicht schnell vertragsmäßig festgelegt wurden, so drohte die große Gefahr, daß Frankreich, von Rußland sekundiert, alle Früchte unserer Siege in Frage stellen würde, nachdem unser herrliches Heer voraussichtlich in dem verderblichen Augustklima Ungarns durch Seuchen erheblich geschwächt worden wäre. Auch hielt Bismarck schon damals, wie bekannt, das Ziel künftiger aufrichtiger Freundschaft mit Oesterreich fest im Auge. Im Laufe der Unterhandlungen verlangte nach einem Wunsche Frankreichs Graf Karolyi, daß Sachsen nicht in den Norddeutschen Bund ausgenommen würde, sondern den süddeutschen Staaten hinzutreten dürfe. „Dann,“ erklärte Bismarck, „muß am 27. der Krieg wieder beginnen.“ Damit war der Zwischenfall erledigt, und am 26. kam der Präliminar-Friedensvertrag zustande. Der italienische Gesandte hatte nicht unterzeichnen können, weil er dazu nicht bevollmächtigt war. Bismarck übernahm, die Zustimmung Italiens zu erwirken. Bayern hatte vor dem Kriege abgelehnt, seine Armee in Böhmen koope­ rieren zu lassen; infolgedessen trat Oesterreich nicht für die bayrischen wie für die sächsischen Interessen ein. Pfordten kam nach Nikolsburg, wurde aber auf Verhandlungen in Berlin verwiesen. Auch die anderen süddeutschen Staaten sollten wegen des Friedens Bevollmächtigte nach Berlin schicken. Die sogenannte Mainarmee, bestehend aus drei preußischen Divisionen, hatte sich gegen die Heere der vier Südstaaten vielfach in Vorteil gesetzt und die Mainlinie gehalten oder überschritten. Niemand wünschte Fortsetzung des Krieges. In Nikolsburg aber trat noch die Gefahr russischer Intervention hervor. Schon am 24.  war aus Petersburg die Meldung gekommen, Rußland wünsche einen Kongreß, da die schwebenden Fragen nicht ohne ­Europas Zustimmung erledigt werden könnten. Bald darauf gab der russische ­ ­Gesandte in Berlin diesem Wunsche amtlichen Ausdruck. Gleichzeitig meldete Graf Goltz, der Kaiser Napoleon wünsche Landau und Luxemburg. Der König ermächtigte vor seiner Abreise nach Prag den Minister, nach beiden Seiten hin entschieden abzulehnen. 211

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Am 30. Juli telegraphierte der Militärbevollmächtigte in Petersburg, Oberst von Schweinitz, welcher bei Königgrätz im Gefolge des Königs gewesen war und vom Kaiser Alexander oft gesehen wurde, daß Rußland auf den Kongreß bestehe. Bismarck erwiderte unverzüglich: Der König sei abwesend, er aber werde dazu raten, wenn das Ausland wirklich versuchen sollte, die Früchte unserer mit Gefahr der Existenz erkämpften Siege zu verkümmern – was unfehlbar revolutionäre Bewegungen bei uns hervorrufen würde –, dann die volle nationale Kraft Deutschlands „und angrenzender Länder“ dagegen zu entfesseln. Inzwischen war dem Kaiser Alexander direkte Verständigung mit dem Könige, vor weiteren Schritten zum Kongreß, nahegelegt worden, und er äußerte zu Schweinitz, es würde ihm sehr willkommen sein, über die intimen Intentionen des Königs durch eine Vertrauensperson Mitteilungen zu erhalten. Infolgedessen wurde General Manteuffel vom Kommando der Mainarmee  – deren Aufgabe erfüllt war  – abberufen und von Berlin aus mit einem eigenhändigen Schreiben des Königs nach Petersburg gesandt. Er fand den Kaiser in bedenklicher Stimmung wegen der beabsichtigten Entthronung von drei legitimen Dynastien. Auf den telegraphischen Bericht Manteuffels erwiderte Bismarck: Es sei unmöglich, auf die Früchte unserer Siege zu verzichten; Pression des Auslandes würde uns zur Proklamierung der Reichsverfassung von 1849 und zu wirklich revolutionären Maßregeln treiben. Solle Revolution sein, so wollten wir sie lieber machen als erleiden. Kaiser Alexander schrieb dann dem König, wenn auch sein Rat nicht durchdringe, so könne er doch nie Preußens Gegner werden. Die Gefahr einer russischen Einmischung war sonach glücklich abgewendet worden.

* * * Schon in Böhmen und Mähren, bald nach der Schlacht, war Bismarcks Fürsorge auch auf die Verständigung mit dem Landtage gerichtet. Bei den Neuwahlen des 3. Juli hatten die Konservativen mehr als hundert Sitze erstritten, aber ihre und die wenigen altliberalen Stimmen erreichten zusammen kaum ein Drittel der Gesamtzahl. Es kam daher an auf Gewinnung des starken linken Centrums. Der Finanzminister Freiherr von der Heydt befürwortete lebhaft, schon in der Thronrede eine Indemnitätsvorlage zu verheißen. Bismarck hatte diesem Gedanken, wie oben erwähnt, schon am 1. Juni zugestimmt. Ein entsprechender Entwurf der Thronrede ging nach Berlin, fand aber im 212

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Staatsministerium heftigen Widerspruch. Man wollte in dem Ersuchen um Indemnität ein Schuldbekenntnis finden, welches der pflichtbewußten Regierung nicht geziemen und einen vollständigen Sieg der bisherigen Gegner bedeuten würde. In demselben Sinne schrieben manche konservative Freunde. Bismarck aber hielt an der Auffassung fest, Erteilung der Indemnität vonseiten des Landtages würde im Gegenteil das Anerkenntnis enthalten, daß die Regierung richtig und pflichtmäßig gehandelt habe, als sie fünf Jahre lang ohne gesetzlich festgestelltes Budget die Verwaltung führte; ein solches Anerkenntnis aber zu verlangen, sei so schicklich wie ratsam. Gelegentliche Besprechung eines Vertrauensmannes mit norddeutschen Parlamentariern, welche nicht dem preußischen Landtage angehörten, wie Oetker, Bennigsen und Miquel ließ erkennen, daß es keinen andern Weg gebe, das Vertrauen der großen gemäßigt-liberalen Partei in Deutschland zu gewinnen. Bismarck hielt das für notwendig wegen der drohenden Gefahr eines früher oder später wahrscheinlichen französischen Krieges. Der König entschied für diese Auffassung und genehmigte am 3. August in Prag auf einen mündlichen Vortrag, den ich zu halten beauftragt war, die Fassung der Thronrede. Bald darauf hat Seine Majestät derselben noch zwei Schlußsätze eigenhändig hinzugefügt. Am 4.  erfolgte die Rückreise nach Berlin; schon am 5. sollte der Landtag im „Weißen Saale“ des Königlichen Schlosses zusammentreten, um die Thronrede zu vernehmen. Im Lande harrte man mit banger Spannung der ersten Kundgebung der Regierung über die innere Politik. Viele Juristen waren der Meinung, der König sei durch die bevorstehenden bedeutenden Veränderungen des preußischen Staatsgebietes formell berechtigt, die bestehende Staatsverfassung zu suspendieren und mit Vertretern der neuen Gesamtheit eine neue Verfassung zu vereinbaren. Daß die Macht zur Durchführung solcher Pläne vorhanden sei, bezweifelte niemand. Als aber der sieggekrönte Herrscher vor dem versammelten Landtage in weihevollen Worten die Versöhnung kündete, da durchschauerte die Herzen ein wonniges Gefühl der Erlösung von schwerer Sorge. In den folgenden Wochen gab es zwar im Abgeordnetenhause noch viel unerfreuliches Gezänk; es gelang jedoch dem greifen General Stavenhagen – dem Rufer im Streit gegen die Militärvorlage von 1860 –, das Haus dahin zu einigen, daß eine schickliche Dankadresse an die Krone mit allen gegen 5 Stimmen beschlossen wurde.

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Gleich nach seiner Ankunft in Berlin erhielt Bismarck ein Schreiben des französischen Botschafters, welches überraschende Forderungen brachte. Napoleon war von seinen Getreuen bestürmt worden, aus der erfolgreichen Friedensvermittlung einen greifbaren Gewinn zu erzielen, um die Pariser politische Welt mit der gewaltigen Machtentfaltung Preußens zu versöhnen. Er weigerte sich und reiste, um Heilung qualvoller Leiden zu suchen, nach dem Bade Vicchy. Dorthin ging Herr Drouyn de Lhuys und schlug vor, außer Landau und Saarlouis auch Luxemburg, die bayrische Rheinpfalz und das linksrheinische Hessen mit Mainz zu fordern. Napoleon soll, von Schmerzen gepeinigt, ausgerufen haben: „Macht, was Ihr wollt, aber laßt mich in Ruhe.“ Dadurch hielt der Minister sich ermächtigt, den Botschafter mit jenen dreisten Forderungen zu beauftragen. Benedetti hatte nun über die Wünsche seiner Regierung zwei Unterredungen mit Bismarck, welcher in ruhigem Tone u. a. Folgendes sagte: „Ihr wißt ja, daß wir deutsches Gebiet nicht abtreten können. Ihr wollt also den Krieg: Ihr sollt ihn haben. Wir werden die ganze deutsche Nation gegen euch aufrufen; ja, wir werden sofort um jeden Preis mit Oesterreich Frieden schließen, uns, wenn nötig, den alten Bundestag wieder gefallen lassen und dann, mit Oesterreich vereint, über euch herfallen, 800.000 Mann stark. Wir sind gerüstet, ihr seid es nicht. Wir werden euch Elsaß abnehmen. Alles das wird geschehen, wenn ihr bei eurer Forderung beharrt.“ Benedetti bemerkte, er werde den Kaiser bald sehen und ihm raten, an seinen Forderungen festzuhalten, weil sonst seine Dynastie in Gefahr sei. „Fügen Sie hinzu,“ sagte Bismarck, „daß es auch während unseres großen Krieges revolutionäre Stöße geben kann und daß die kaiserliche Dynastie dagegen weniger gesichert sein würde als die deutschen Throne.“ Vom Könige erhielt der Botschafter persönlich denselben schroff ablehnenden Bescheid. Nach vier Tagen konnte Graf Goltz melden, die Kriegsgefahr sei beseitigt; der Kaiser bedauere das während seiner schweren Krankheit entstandene Mißverständnis. Drouyn de Lhuys trat ins Privatleben zurück; Benedetti mußte uns dann anzeigen, daß in Paris seine letzte Mitteilung als nicht geschehen angesehen würde. Trotz dieser für Frankreich unerfreulichen Vorgänge kam der Botschafter schon am 20. August wieder in die Lage, französische Annexionswünsche anzumelden. Es handelte sich um Landau, Saarlouis, Luxemburg und Belgien. In Betreff der deutschen Städte konnte nur früher Gesagtes wiederholt werden; die Frage wegen Belgiens aber hielt Bismarck für geraten dilatorisch zu behandeln, nicht nur wegen vieler noch schwebender Friedens214

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verhandlungen, sondern auch in der Absicht, einen Konflikt mit Frankreich hinauszuschieben, womöglich für immer, wenigstens aber so lange, bis unsere Heereseinrichtungen auch in den neuen Provinzen und in den Bundesstaaten Früchte gezeitigt haben würden. Im Laufe des August kamen zustande die Friedensschlüsse mit Württemberg, Baden und Bayern; gleichzeitig geheime Schutz- und Trutzbündnisse für den Kriegsfall mit den drei Staaten. Bei dem Hessen-Darmstädtischen Friedensvertrage war ein militärisches Bündnis entbehrlich, weil die nördlich des Mains belegene Provinz Oberhessen in den Norddeutschen Bund eintreten sollte. Die Verhandlungen mit Sachsen brachte erst im Oktober ­Savigny zum Abschluß, während Bismarck nervenkrank in Putbus verweilte. Mit Oesterreich wurde in Prag verhandelt und am 23. August auf Grundlage des Nikolsburger Vertrages abgeschlossen. Bald darauf kam nach Wien General Menabrea, um Italiens Interessen wahrzunehmen. Oesterreich verlangte, daß für Venetien außer den alten venetianischen Schulden auch ein Teil der österreichischen Staatsschuld mit 75  Millionen Gulden übernommen werden sollte; Menabrea aber wollte nur 26  Millionen zugestehen. Bismarck befürwortete die italienische Berechnung, verschob die Abrüstung unserer Heere bis nach Erledigung dieser Frage und erreichte, daß man sich bald auf 35 Millionen einigte. Am 3. Oktober wurde endlich auch der Friedensvertrag zwischen Italien und Oesterreich unterzeichnet.

* * * Im Landtag berichtete über die Indemnitätsvorlage namens der Kommission der dem linken Centrum angehörige, als ausgezeichneter Jurist und Redner bekannte Abgeordnete Twesten. Er mahnte dringend zur Versöhnung. Im Plenum sagte Bismarck u. a. Folgendes: „Wir haben in den letzten Jahren unsern Standpunkt von beiden Seiten mit mehr oder weniger Bitterkeit oder Wohlwollen vertreten, keiner hat vermocht, den andern zu überzeugen. Jeder hat geglaubt, recht zu handeln, wenn er so handelte, wie er that. Auch in auswärtigen Verhältnissen würde ein Friedensschluß schwerlich zustande kommen; wenn man verlangte, daß ihm von einem von beiden Teilen das Bekenntnis vorangehen sollte: ‚Ich sehe es jetzt ein, ich habe unrecht gehandelt‘. „Wir wünschen den Frieden, nicht weil wir kampfunfähig sind, im Gegenteil, die Flut ginge mehr zu unseren Gunsten als vor Jahren, auch nicht, um einer künftigen Anklage zu entgehen; denn ich glaube nicht, daß man uns 215

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anklagen wird, ich glaube nicht, daß, wenn dies geschieht, man uns verurteilen wird. Man hat dem Ministerium viele Vorwürfe gemacht, aber der der Furchtsamkeit wäre neu. „Wir wünschen den Frieden, weil das Vaterland ihn in diesem Augenblick mehr bedarf als früher, weil wir hoffen, ihn jetzt zu finden; wir hätten ihn früher gesucht, wenn wir gehofft hätten, ihn früher finden zu können.“ Dann führte er aus, man könne die großen Aufgaben der nächsten Zukunft nur gemeinsam lösen, indem erkannt werde, daß man auf beiden Seiten demselben Vaterlande mit demselben guten Willen diene. Die Aufgaben der auswärtigen Politik seien noch ungelöst. In Wien herrsche, wie die Presse beweise, fortwährend eine feindliche Stimmung; von bayerischen Truppen sei aus Eisenbahnwagen meuchlings auf preußische Offiziere geschossen worden; das Verhalten der einzelnen deutschen Regierungen gegenüber den gemeinsam zu schaffenden Einrichtungen sei bei einigen befriedigend, bei anderen aber widerstrebend; in Europa sei kaum eine Macht zu finden, welche die Konstituierung des neuen deutschen Gesamtlebens in wohlwollender Weise förderte, welche nicht ein Bedürfnis fühlte, sich in ihrer Weise an dieser Konstituierung zu beteiligen. Notwendig sei daher die Einigkeit des gesamten Landes, der That nach und dem Eindruck auf das Ausland nach. Das Haus beschloß hierauf Erteilung der Indemnität mit 230  gegen 75 Stimmen. Die Konservativen konnten nicht wohl dagegenstimmen, obgleich nach ihrer Meinung die Regierung der bisherigen Opposition etwas zu weit entgegengekommen war. Im Herrenhause gab Kleist-Retzow dem Bedauern über die schädliche Nachgiebigkeit der Regierung Ausdruck; die Vorlage wurde dann aber einstimmig angenommen. Es handelte sich ferner um den Gesetzentwurf wegen Verfügung über Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt sowie um den erst nach dem Prager Frieden eingebrachten wegen Schleswig-Holstein. Der Ministerpräsident ging in jenen Wochen häufig in die Kommissionen des Abgeordnetenhauses. Graf Eulenburg, der immer zugegen war, sagte mir gelegentlich: „Bismarck ist jetzt gar nicht wiederzuerkennen. Die dümmsten Fragen und Einwendungen beantwortet er mit unermüdlicher Geduld und mit – ich kann nur sagen – kindlicher Liebenswürdigkeit. Er ist ein zu merkwürdiger Mensch.“ In Bezug auf die eroberten Länder hatte die Regierung für eine Ueber­ gangszeit nur Personalunion mit Preußen vorgeschlagen. Die Kommission ging aber weiter und empfahl sofortige Einverleibung mit der Maßgabe, daß 216

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das Verfassungsgesetz erst am 2. Oktober 1867 dort Geltung erhalten sollte. So wurde auch vom Plenum beschlossen. Infolgedessen konnten unsere Heereseinrichtungen in den neuen Provinzen ohne Verzug eingeführt werden. Im September klagte Bismarck häufig, seine Kräfte seien gänzlich erschöpft. Ich darf einschalten, daß nach dem Kriege Graf Karl Bismarck und ich eingeladen wurden, täglich am Mittagstisch zu erscheinen. Bei der Nachmittagscigarre aber äußerte sich der Minister häufig über Politik, was abends am Theetisch nicht zu geschehen pflegte. Er klagte also wiederholt über gänzliche Erschöpfung und Altersschwäche. „Das Beste für mich“, sagte er, „wäre, wenn ich jetzt meinen Abschied nähme. Ich könnte es in dem Bewußtsein thun, dem Lande etwas genützt zu haben und diesen Eindruck zu hinterlassen. Ob ich noch schaffen kann, was zu thun übrig bleibt, weiß ich nicht.“ Ich meinte, daß er sich ganz zurückzöge, schiene mir unmöglich; ratsam aber, daß er für den Winter in den Süden, etwa an die Riviera, ginge, um dann im Frühjahr für die Errichtung des Norddeutschen Bundes zu wirken. Er entgegnete: „Das ist gut gemeint, aber unpraktisch. Man muß das Eisen schmieden, solange es glüht. Es ist nicht wahrscheinlich, daß im Frühjahr noch dieselbe patriotisch gehobene Stimmung vorhanden sein würde wie jetzt, wenn sie nicht bald stoffliche Nahrung erhält, wenn die aufgeregten Leute nicht bald recht viel zu thun bekommen. In Pommern sagen die Frauen, wenn die Stunde der Entbindung naht: Jetzt muß ich meiner Gefahr stehen. Das ist gegenwärtig mein Fall. Wenn ich nicht ganz abgehe und ein anderer die Sache macht – ich weiß dazu allerdings niemanden vorzuschlagen –, dann muß ich es darauf ankommen lassen, ob ich zu Grunde gehe oder nicht; dann kann ich nicht ein halbes Jahr spazieren gehen, sondern ich muß an die Ramme, sobald meine ruinierten Nerven einigermaßen wieder zusammengeflickt sind. Ich will deshalb auf einige Wochen an die Ostsee gehen.“ Am 20. September war Berlin festlich geschmückt zu Ehren der siegreich zurückkehrenden Truppen. Bismarck ritt als Generalmajor neben Moltke und Roon unmittelbar vor dem Könige. Im Abgeordnetenhause war noch eine wichtige Vorlage zu erledigen. Die Regierung hatte einen außerordentlichen Kredit von 60 Millionen Thalern zu Landesverteidigungszwecken gefordert, die Kommission aber nach langer Beratung diesen Kredit verweigert. Der Abgeordnete Michaelis stellte einen der Regierungsvorlage günstigen Antrag, der Ausgang war aber zweifelhaft. Da sagte ein Führer des linken Centrums, Herr von Bockum-­Dolffs, zu dem konservativen Abgeordneten Wagener, welcher damals im Staats217

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ministerium angestellt war, er möge den Ministerpräsidenten bitten, daß er am 24. zur Verhandlung der Sache in das Haus komme, ihm p e r s ö n l i c h werde man den Kredit bewilligen51. Bismarck erschien und sprach die Bitte aus, man möge die Vorlage weniger vom rechnungsmäßigen als vom politischen Standpunkte auffassen. Dann sagte er: „Mit dieser Vorlage richtet die königliche Regierung in der Hauptsache die Frage an Sie, ob Sie Vertrauen zu der bisherigen Führung der auswärtigen Politik haben, ob Sie Zeugnis ablegen wollen für den festen Entschluß des preußischen Volkes, die Errungenschaften des letzten Krieges festzuhalten und zu verteidigen, wenn es notwendig sein wird. Ich hoffe, daß die letzte Notwendigkeit nicht eintreten wird; ich hoffe, daß wir in den nächsten Jahren dasjenige, was wir uns in diesem Herbste vorgesetzt haben, zum Heile Deutschlands friedlich werden entwickeln können; die Gewißheit davon aber haben wir nicht  … Ich verspreche im Namen der Regierung, daß zu anderen Zwecken als zu denen der Landesverteidigung keine Verwendungen aus diesem Kredit gemacht werden sollen. In diesem Sinne, meine Herren, bitte ich Sie, bethätigen Sie durch ihre Bewilligung, daß die Versöhnung der Geister, daß die Absicht, gemeinschaftlich das Wohl des Landes, des engeren und des weiteren Vaterlandes, zu fördern eine aufrichtige und tiefgreifende ist.“ … Hierauf erklärte Graf Schwerin, er bekenne „mit Freuden“, daß seine frühere Beurteilung der Regierungspolitik eine irrige gewesen sei und daß er jetzt dem Ministerpräsidenten volles Vertrauen schenke. Dann wurde der Kredit mit 230 gegen 75 Stimmen bewilligt. Am 26. reiste Bismarck mit seiner Familie nach Pommern ab; am 27. wurde der Landtag auf sechs Wochen vertagt.

51 Diesen Vorgang bestätigt Bernhardt, Aus meinem Leben, Bd. VII, S. 304.

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X. Putbus. Gründung des Norddeutschen Bundes. Luxemburger Frage. Reform des Zollvereins. Varzin. Eröffnung des Bundesrats. Herbstsitzung des Reichstags. September 1866 bis Oktober 1867. Im Kreise Greifswald liegt das Schloß Carlsburg inmitten eines schönen Parks, dessen Wiesen und Gewässer von alten Bäumen eingefaßt sind. Der damalige Besitzer, General Graf Friedrich von Bismarck-Bohlen, war ein älterer Bruder des Grafen Karl, welcher während des Krieges dem Hauptquartier angehört und sich dann seinen Vetter wieder dauernd zur Verfügung gestellt hatte. Dorthin reiste der Ministerpräsident am 26. September. Drei Tage später, beim Beginn der Schulferien, folgte ihm die Gräfin mit den Kindern. Unterwegs erhielt sie durch den Grafen Friedrich die Mitteilung, er sei erkrankt und habe sich zu Bett legen wollen. Am 30. schrieb sie: ­… „Je näher wir Carlsburg kamen, je mehr ängstigte ich mich, es könne recht schlecht gehen und war überselig, als ich ihn außer dem Bett und lange nicht so schlimm fand, wie man nach Fritz’ Jammergesicht vermuthen mußte. Er ist sehr matt, angegriffen, appetitlos, aber sonst nicht viel anders wie in voriger Woche. Politik erregt ihm gleich Wehmuths- oder Aergergefühle. Wenn er aber ganz still sitzt, in blauen Himmel und grüne Wiesen sieht und Bilderbücher blättert, geht’s leidlich gut. Carlsburg ist entzückend hübsch und die Liebenswürdigkeit der Bewohner ohne Grenzen. Ach, wie froh und dankbar bin ich, hier zu sein, – wäre er nur erst so weit, daß er viel draußen sein könnte, würde er sich gewiß bald erholen. Nach Struck sehne ich mich sehr, er auch … „Bismarck hat in Zeitungen gelesen, daß Edwin52 sich wieder über Nordschleswig losläßt, was s e h r u n a n g e n e h m . Herr von Thile möchte den König bitten, Edwin zu veranlassen, sich das Reden überhaupt zu verkneifen. … Bitte, schaffen Sie uns nur Struck, wenn irgend möglich.“53 … 52 General von Manteuffel. 53 Sanitätsrat Dr. Struck reiste am 2. Oktober nach Carlsburg.

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In einem späteren Briefe hieß es: ­… „Morgen wollen wir mit den Kindern nach Rügen, dann nach Kröchlendorf. Sonntag den 14. Jungens nach Hause zur Schule – wir –, Gott weiß wann, ich glaube aber, sehr bald.“ … Putbus, Dienstagabend (den 9. Oktober). ­  „Sie wähnen uns gewiß in großem Vergnügen von Ort zu Ort auf Rügen … herumwandelnd und freuen sich der schönen Erfrischung, die die herrliche Seeluft uns bringen wird. So dachten wir auch, als wir Sonnabendmorgen von Carlsburg abfuhren, dachten’s den ganzen Tag, als Bismarck sich sehr wohl fühlte und auf alles freute, was er uns zeigen wollte. So gingen wir auch fröhlich zu Bett, wurden aber nach zwei Stunden schon aufgeweckt von den furchtbarsten Qualen, die mein armer, geliebter Bismarck in dem allerschrecklichsten Magenkrampf litt,  – den er ganz plötzlich bekommen, ich weiß durchaus nicht wovon. Alle Mittel, die der schnell herbeigerufene Arzt anwandte und die ich ihm vorher schon gegeben, blieben ganz wirkungslos. Opiumeinspritzung brachte zuletzt ein wenig Linderung – aber die Angst, die wir ausstanden, und die Pein, die er litt, waren ohne Grenzen. Dazu der scheußliche Gasthof mit ewigem Lärm – im tollsten Kriegsgewühl kann kein ärgerer Skandal sein –, Wagengerassel ohne Ende, klapprige Fenster, undichte Thüren, es war gräßlich. Ich segne Fürst Putbus tausendmal, der unsere Not erfahren, schleunig herüberkam und darauf bestand, daß wir in ein allerliebstes Gartenhaus übersiedeln mußten, wo er mit seiner Familie gewohnt, nachdem das Schloß abgebrannt war, und wo wir nun sitzen oder liegen in tiefer Abgeschiedenheit zwischen grünen Hecken, Weinranken und herbstlichen Rosen mit dem Blick ins Meer hinein – aufs Beste verpflegt von Koch, Diener und Mädchen, die der Fürst für uns geschickt. Wenn wir gesund wären, könnte es ein paradiesisches Dasein geben, ganz wie wir es uns geträumt; aber in dieser Sorge, in dieser Herzensangst, im Anschauen des geliebten Bismarck, der so blaß, so matt, so traurig daliegt, für den man alles thun möchte, um ihm zu helfen, und der doch trotz allem Pflegen und Sorgen und Beten so jämmerlich aussieht wie seit 1859 nicht; ach, das ist so traurig, daß man stundenlang weinen möchte. Wenn man’s nur könnte, würde es einem vielleicht leichter ums Herz. ­… „In Carlsburg ist Bismarck keinen Tag so gut gewesen, wie er schon wieder in Berlin war, und hat fast keine Nacht gut geschlafen, sah immer elend aus und fühlte sich angegriffen … Mir scheint es, als könnten wir frühestens in 14 Tagen an die Rückkehr denken. „Die Jungen sind auf Stubbenkammer gewesen und zweimal im Jagdschloß,

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X. Putbus. Gründung des Norddeutschen Bundes … September 1866 bis Oktober 1867.

ganz entzückt von allen Herrlichkeiten, und es freut mich, daß die alten Bengelchen doch etwas davon haben. Putbus sind ohne Gleichen lieb und herzensgut für uns – Gott möge es ihnen hundertfach vergelten dereinst in himmlischen Freuden –, irdische haben sie mehr und so reizende wie irgend­ ein Mensch in der Welt. Die Jungen sind in steter Extase über die lieben Menschen … „Grüßen und lieben Sie in Berlin alle sehr innig von mir, auch Obernitz, und erzählen Sie ihnen und bitten sie in meinem Namen, sie möchten alle unserer gedenken vor Gott dem Herrn, daß er uns helfe und bald wieder fröhliche Herzen gebe.“ … Putbus, 11. Oktober. ­  „Der Arzt meint, es gehe besser, aber es geht so furchtbar langsam, und … er sieht so entsetzlich elend aus, daß ich mich doch fortwährend grenzenlos um ihn ängstige. … Die Jungen müssen Sonntag fort, um Montag wieder in der Klasse zu sein, was mir recht schwer wird, weil sie, namentlich Bill in seiner unverwüstlichen guten Laune, der einzige Erquickungs- und Stärkungsschluck in dieser Sorgenzeit für mich sind. Unsere Rückkehr wird Sie, fürchte ich, jetzt noch nicht so bald überraschen, lieber H. v. K., da mir eine Abreise von Putbus vor 8‒10 Tagen undenkbar scheint; und dann muß wohl noch ein kleiner Haltepunkt in Carlsburg sein, weil die Tour auf einmal zu lang ist – kurz, vor 14 Tagen wohl sicher noch keine Rückkehr. Also kann der gute Tape­zierer unbeirrt kleben, streichen, klopfen und machen, was er sonst lustig ist. Vor allen Dingen soll er aber die grünen Streifen in Bismarcks Arbeitskabinett abreißen und graue ankleben – ich glaube, im Schlafzimmer sind auch welche –, wer weiß, ob die Giftfarbe meinen armen Kranken nicht noch kränker gemacht hat … Ob die besprochene Veränderung in Verwendung der Wohn- und Schlafzimmer auszuführen, wird sich finden, wenn er wieder in Berlin ist – jetzt, glaube ich, wäre ihm jeder Gedanke an Wechsel scheußlich. Aber das hindert nicht, daß alles reinlich und ordentlich gemacht wird, was ja höchst nothwendig … „Mit mir heißt’s immer „Nacht muß es sein“ u. s. w. Ich wundere mich über meine Kräfte und bitte Gott, daß es so bleibe.“ … Putbus, 13. Oktober 1866. ­… „Die Jungen gehen morgen zurück und werden Ihnen erzählen, was Sie zu wissen begehren; sie haben ganz viel Vergnügen in Rügen erlebt, viermal Jagdschloß, Stubbenkammer, Spaziergänge, und sind gottlob immer gesund gewesen. Wir anderen sind nicht aus Putbus weggekommen und dabei

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f­ ortwährend in großen Sorgen! Gestern war kein guter Tag, große Mattigkeit und Niedergedrücktheit, schrecklich elendes Aussehen; heute, Gott sei gelobt, war eine bessere Nacht und alles sieht sich freundlicher an. Möchte Gott helfen, daß es täglich so fortschreitet, dann könnte man wohl wieder Muth fassen … Eben fragt Bismarck, an wen ich schreibe? Und gibt mir dann herzlichen Gruß für Sie – auch einen Auftrag. Ueber die Zeitung hinweg, die er gerade liest, diktiert er: ‚Bei einer Wahlversammlung ist die Frage aufgeworfen, ob Bennigsen in Hannover und Braun in Nassau zur Kammer wählbar sind. Man hat dies verneint. Ich halte diese Auffassung für falsch und jene Leute, da sie jetzt Preußen sind, für wählbar. Ermitteln Sie die Ansicht des Justizministeriums und lassen Sie eventuell die Wählbarkeit dieser neuen Preußen in der Presse vertreten.‘ … „Daß Oesterreich auf den Beust gekommen (siehe Kladderadatsch), erhöht nicht gerade sein Vertrauen zu unseren künftigen Freunden … „Die Jungen werden uns schrecklich fehlen – und sie werden sich nach dem Jagdschloß weit mehr bangen wie nach uns, weil Putbus sie dort mit engelhafter Liebenswürdigkeit aufgenommen und sie sich wohl dort gefühlt wie ganz zu Hause. „Bitte, lieber Herr von Keudell, möchten Sie mir wohl ein Opfer bringen? Furchtbar groß ist es nicht, und es wäre mir eine gewaltige Beruhigung. Könnten Sie wohl, wenn Sie nicht eingeladen sind, immer um 6 Uhr in 76 speisen54? Sie wären solche herrliche Respektsperson für die Jungen, die mit Jenny55 natürlich machen, was sie wollen, wenn sie sich nicht gar mit ihr zanken. Sie brauchen ja kein Wort zu sprechen, wenn Sie nicht Lust haben, aber schon Ihr Dasein würde die Jungen im Zaume halten. Bismarck bittet Sie auch sehr um diese Freundlichkeit … „Einliegend eine große Menge Briefe, darunter recht taktlose und zudringliche; Sie möchten alle zur Erledigung vertheilen, wohin sie gehören, meistens wohl an Wagener und Zitelmann. Außer solchen Bittschriften gehen täglich mehrere Magenmittel ein, Recepte, Tropfen und gute Rathschläge, mit denen man gar nichts zu machen weiß. „Savigny danken Sie, bitte, sehr für seinen freundlichen Brief und sagen Sie ihm, Bismarck hätte sich recht gefreut über seine Nachrichten und gemeint, Savigny ist jetzt ein wahrer Schatz für mich.“ …

54 Wilhelmstraße 76, das Auswärtige Amt, damals wie heute. 55 Jenny Fatio, eine französische Schweizerin, war als Bonne ins Haus gekommen, führte aber damals die Hauswirtschaft.

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X. Putbus. Gründung des Norddeutschen Bundes … September 1866 bis Oktober 1867.

Putbus, 15. Oktober.

„Er diktiert: ‚In der Norddeutschen findet sich eine sehr ungeschickte Correspondenz über Kurhessen aus Marburg vom 10. Oktober. Darin heißt es, der Kurfürst habe seine Unterthanen zu vier Thalern pro Kopf verkauft. Dergleichen wird natürlich bei König Georg benutzt werden, um ihn von jedem Arrangement abzuhalten. Ueberhaupt sei es nicht unsere Aufgabe, in offiziösen Blättern den Widerwillen gegen die Annexion in den neuen Ländern auszuposaunen. Wenn Braß56 keine klügeren Correspondenten hätte, so solle er lieber Auszüge aus dem Kinderfreund abdrucken lassen, um sein Papier zu füllen.‘ „Auf einen Tag werden wir doch wohl noch in Carlsburg ansprechen, weil die Tour nach Berlin für Bismarck zu lang würde. Unmöglich ist’s auch nicht, daß wir sogar noch in Kröchlendorf hängen bleiben – er sprach heute davon –, aber vor allen Dingen muß er erst reisefähig sein, und daran ist noch nicht zu denken. Ich werde immer Nachricht geben und gebe Gott, daß sie täglich besser werde. Mir scheint es jetzt eben rein undenkbar, daß Bismarck früher als nach vielen Wochen mit Parlament u. s. w. zu thun haben könnte.“ Putbus, 17. Oktober 1866. ­… „Herbert schrieb mir eben, daß Sie schon die Güte gehabt, mit meinen Jungen zu speisen, wofür ich Ihnen gleich herzlich danken will und gleichfalls für Ihren Brief wie für alle gütigen Neuerungen im Hause. Der Kamin im Schlafzimmer macht meinem Armchen so viel Freude, daß er schon mehrmals ganz vergnügt seiner erwähnte. Ach, Gott gebe, daß er sich seiner bald in voller Gesundheit freuen könne und gar keiner Kur mehr bedürfe. Hier ist er eigentlich sehr gut aufgehoben, sowohl was Comfort als Speise als Stille als Lust betrifft. Täglich einmal der Anblick der reizenden Fürstin, sonst außer uns stillen Kreaturen gar keine Menschen, nur das gemüthliche Doktorchen, der ganz klug und gut ist. Norddeutsche Zeitung, mitunter auch Kreuzzeitung, sonst nur Bücher vom Jagdschloß oder aus dem Pädagogium, höchst unaufregender Natur; eine Stunde Spaziergang in der Herbstsonne, in Park, Fasanerie oder Küchengarten, je nachdem Kräfte und stille oder bewegte Luft vorhanden. Es wäre alles ganz schön, Jungen werden es Ihnen genauer schildern, wenn man nur ein Oefchen in den Salon zaubern könnte. Die Abwesenheit dieses nothwendigen Möbels wird uns aber wohl nächstens wegtreiben in heizbare Räume hin. Jetzt geht’s noch allenfalls, aber sobald der Thermometer noch einige Grade sinkt, fürchte ich, ist’s vorbei mit dem Gartenhäuschen.“ 56 Der damalige Redakteur der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung.

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Putbus, Dienstag, 21. Oktober.

­… „Bismarck diktiert: ‚Die Anordnung, daß in Schleswig-Holstein die Militärpflichtigen der letztvergangenen Jahre bis zum Alter von 24 nachträglich herangezogen werden sollen, hat gewiß militärisch viel für sich, politisch aber halte ich sie für nicht zeitgemäß. Es wird als Unbilligkeit empfunden werden, daß die Leute, die zur rechten Zeit ohne eigenes Verschulden nicht eintreten konnten, jetzt, wo sie zum großen Theil geschäftlich schon etabliert, vielleicht verheirathet sind, aus ihren Verhältnissen gerissen werden sollen. Namentlich fürchte ich, daß dies auf die Stimmung und etwaige Abstimmung in Nordschleswig nachtheilig einwirken wird.‘ … „Es ist gestern und heute ein Sturm gewesen zum Häuserumpusten, gestern ohne, heute mit Sonne  – und Putbüsse scheinen zu fürchten, daß er uns schleunig wegwehen möchte – deshalb haben sie heute früh, als wir noch schliefen, eilends ein eisernes Oefchen im Salon setzen lassen; und wenn das seine Schuldigkeit thut, bleiben wir vielleicht noch etwas länger, weil Bismarck die Abgeschiedenheit sehr behagt und das kleine Doktorchen mit seinen vorsichtigen Mitteln ihm wohlzuthun scheint. Gott sei Dank! „Eben diktiert er wieder: ‚Die Beeilung der Rückkehr der französischen Truppen aus Mexiko ist nicht ohne Bedeutung für uns und von Wichtigkeit für die Regelung unserer Beziehungen zu Frankreich. Ich möchte, daß S. M. besonders hierauf aufmerksam gemacht würde.‘“ … Putbus, Freitagabend (24. Oktober).

­… „Er diktiert mir eben: ‚Die heutige Zeitung bringt den Text des Vertrages mit Sachsen. Ich vermisse in demselben die beiden Bestimmungen, 1) daß der Präsenzstand der s­ ächsischen Truppen von unserem Könige jederzeit abhängt, 2) daß wir jederzeit in Sachsen einrücken und Besatzung halten können. Beides, sagte mir Fabrice57 vor der Abreise, würde leicht bewilligt werden. Nöthig sind die Bestimmungen, und wir werden sie nun in der Bundesverfassung als allgemeine durchsetzen müssen. Das wäre leichter gewesen, wenn es mit ­Sachsen ausdrücklich stipuliert worden wäre. Sagen Sie Savigny nichts ­hierüber, da es nicht mehr zu ändern. Wenn Sie aber etwas wissen, was zu meiner B ­ eruhigung über diese Punkte dienen kann, so schreiben Sie es uns.‘ 57 General von Fabrice, Kgl. sächsischer Kriegsminister.

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X. Putbus. Gründung des Norddeutschen Bundes … September 1866 bis Oktober 1867.

­  „Bismarck sagt, diese Truppenangelegenheit sei eigentlich die Hauptsache … und schon alles mündlich fest beredet gewesen, unbegreiflich also, warum nun die Abschwächung … Seine Freude gestern über Savignys Meldung vom Abschluß des Vertrages war mir eine wahre Herzstärkung und die Niedergeschlagenheit heute grämt mich sehr. „Sonst geht’s ihm, gottlob, ziemlich – ist wieder 2 Stunden promeniert, aber Rauchen und Weintrinken stets mangelhaft. Putbus schleppt alles herbei, was denkbar ist: leichten Mosel, leichten, schweren Rheinwein, allerbesten Bordeaux, Portwein, Xeres, Champagner – es will aber nichts passen bis jetzt. Nur ganz wenig Rothwein und Champagner i n Wa s s e r. Mich ängstigt dies, besonders auch, weil der Doktor es nicht zu erklären vermag, was mir bedenklich scheint.“ … Putbus, 25. 10. 66. ­  „Ueber’s Oefchen sind Sie jetzt wohl schon beruhigt. Ich wiederhole heute … sein Lob von wegen seiner Leistungsfähigkeit trotz der Miniaturverhältnisse. Wir hatten zwei richtige Wintertage mit Reif und durchdringendem Winde, und das Kleinchen schaffte uns dennoch 16 bis 18 Grad Wärme … Die Fürstin ist wirklich bezaubernd lieblich, täglich da, immer gleich herzlich, eigentlich je länger, je mehr … „Gestern waren wir wieder im Jagdschlößchen und, während Fürstin mit Lottum und Talleyrand58 ritt, Marie und ich mit Fürsten spazieren gingen, fuhr Bismarck, in hinreichende Pelze und Fußsäcke gewickelt, von einem Förster begleitet, in’s Dickicht des herrlichen Waldes und schoß einen Zehnender, was ihm wohl viel Vergnügen, ihn aber doch etwas müde machte, sodaß ich die Fortsetzung gern bis künftige Woche verschoben sähe. „Spazierengehen ruhig fort im Park kann er drei Stunden ohne Ermüdung, essen auch wieder ganz leidlich und schlafen doch schon besser wie in Carlsburg  – aber rauchen immer noch sehr wenig, nur 2  Cigarren täglich und Wein ist fast ganz unmöglich.“ Putbus, 26. 10. „Bismarck sagt: ‚Die braßschen Correspondenzen aus den neuen Provinzen gefallen mir noch immer nicht. Sie räumen viel zu sehr ein, daß Mißstimmung gegen uns herrscht. Das ist ohne Zweifel wahr, aber wir haben nicht den Beruf, es 58 Graf Lottum, Bruder des Fürsten Putbus; Graf Talleyrand, damals Leutnant im 2. Garde-­DragonerRgt.

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offiziös an die große Glocke zu hängen, sondern müssen es als junkerhaftes Idiotenthum einzelner abgelegter Hofschranzen behandeln. Was in den amtlichen Berichten darüber steht, muß in den Akten bleiben und nicht an Braß gegeben werden. Was wir offiziös als richtig zugeben im Gebiete der Unzufriedenheit, wird im Auslande doch nur als der zehnte Theil der wirklichen Wahrheit angesehen werden, da uns niemand eine so naive Wahrheitsliebe zutraut, wie Braß sie besitzt.‘ … „Ueber Luxemburg soll er keine teutonisierende Artikel bringen.“ … Putbus, 30. 10. 66. „Bismarck diktiert: ‚Braß muß sich auf solche theoretische Klopfflechtereien wie in Nr. 253 gegen den badischen Minister Freydorf nicht einlassen und den Kleinstaaten, die wir gewinnen wollen, nicht immer die Großmachtsfaust unter die Nase reiben. Man muß denjenigen Kleinen, welche wir brauchen, und ihren Ministern viel eher Schmeichelhaftes sagen als Zank über konstitutionelle Theorien bei den Haaren herbeiziehen. Je mehr wir fortiter in re handeln, desto mehr können wir suaviter in modo schreiben. Offiziöse Blätter müssen solchen zänkischen Ton überhaupt vermeiden. Auch für unsere inneren Sachen ist es durchaus schädlich, nackte Theorien aufzustellen und auf konstitutionelle Draperie zu verzichten. Toute vérité n’est pas bonne à dire. Braß soll doch den weisen Spruch von Hamlet lesen, in welchem er empfiehlt, die Thatsache, daß alte Leute in den Schenkeln schwach sind, zu glauben, aber nicht zu drucken, und befreundete kleinstaatliche Minister anständig behandeln, auch wenn sie ihrem Hausbedarf an spießbürgerlichen Phrasen vor ihren Landständen Rechnung tragen.‘

Vor Wiedergabe der jetzt folgenden Diktate darf ich einschalten, daß im August 1866  die von Preußen dazu eingeladenen norddeutschen Staaten sich vertragsmäßig verpflichtet hatten, auf Grundlage der ihnen im Juni mitgeteilten allgemeinen Bestimmungen in ein Bundesverhältnis zu treten. Darauf ersuchte der Ministerpräsident die preußischen Fachminister, in Bezug auf die nach den erwähnten Grundzügen in ihren Geschäftskreis fallenden Materien die in einer künftigen Verfassung des Norddeutschen Bundes wünschenswerten Bestimmungen auszuarbeiten. Die Normen für Gestaltung der Machtverhältnisse zwischen dem Präsidium und den Bundesgliedern zu entwerfen, wollte er sich selbst vorbehalten. Andeutungen darüber enthält das folgende Diktat vom 30. Oktober: 226

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X. Putbus. Gründung des Norddeutschen Bundes … September 1866 bis Oktober 1867.

‚Kennt Savigny die vorhandenen Entwürfe zur Norddeutschen Bundesverfassung? Sie stammen von Hepke59, Bucher, Duncker60. Er wird sich an denselben klarmachen können, was er daran auszusetzen findet. Sie sind zu centralistisch bundesstaatlich für den dereinstigen Beitritt der Süddeutschen. Man wird sich in der Form mehr an den Staatenbund halten müssen, diesem aber praktisch die Natur des Bundesstaates geben mit elastischen, unscheinbaren, aber weitgreifenden Ausdrücken. Als Centralbehörde wird daher nicht ein Ministerium, sondern ein Bundestag fungieren, bei dem wir, wie ich glaube, gute Geschäfte machen, wenn wir uns zunächst an das Curiensystem des alten Bundes anlehnen. ‚Den centralen Institutionen müssen wir schnell die Gegenstände ihrer Gesetzgebung zuschieben. An dem vor dem Kriege verkündeten Programm, daß Bundesgesetze durch Uebereinstimmung der Majorität des Bundestages mit der der Volksvertretung entstehen, halten wir fest. ‚Je mehr man an die früheren Formen anknüpft, umso leichter wird sich die Sache machen, während das Bestreben, eine vollendete Minerva aus dem Kopfe des Präsidiums entspringen zu lassen, die Sache in den Sand der Professorenstreitigkeiten führen würde. ‚Die Centralstellen für Handel, Zölle, Eisenbahnen u. s. w. werden meines Erachtens am besten durch Fachkommissionen von 3  oder 5  Mitgliedern, ernannt von den Regierungen, ausgefüllt werden. Diese Kommissionen redigieren das Material für die gesetzgeberische Bearbeitung und die Abstimmungen des Bundestages und des Reichstages. Letzteren aus zwei Kammern bestehen zu lassen, macht den Mechanismus zu schwerfällig, solange daneben noch ein Bundestag als votierende Versammlung besteht, von der Masse der Landtage nicht zu reden. ‚Ich würde viel eher dazu rathen, die Mitglieder einer alleinigen Versammlung aus verschiedenen Wahlprozessen hervorgehen zu lassen, etwa die Hälfte von den hundert Höchstbesteuerten der auf 200.000 Einwohner zu erweiternden Wahlbezirke wählen zu lassen und die andere Hälfte in direkten Urwahlen. Doch stelle ich diese Fragen ihrer Bedeutung nach nicht in die erste Linie. Die Hauptsache ist mir: keine Diäten, keine Wahlmänner, kein Census, es sei denn, daß Letzterer so weit greift, wie oben angedeutet.‘ „Dies werden Sie wohl gütigst an die Betreffenden weitergeben. Bismarck gerieth so ins Diktieren, daß es gar kein Ende nahm – wie er sich denn jetzt im Stillen sehr viel mit dem alten Parlament beschäftigt, was seinen Nerven 59 Geheimer Legationsrat Hepke, vortragender Rat in der politischen Abteilung. 60 Gemeint ist der Geschichtsschreiber Max Duncker, damals vortragender Rat beim Kronprinzen.

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gar nicht ersprießlich ist, die noch lange nicht in Ordnung sind. Dies Diktat machte ihn schon ganz nervös matt, so daß er sich eine Weile ruhen und dann frische Lust schöpfen mußte  – ein Zeichen, daß er noch keinen geschäftlichen Besuch, z. B. Savigny mit Vortrag, haben darf. Es geht ja besser, gottlob, wie in Berlin und wie in den ersten 14 Tagen hier, aber doch lange nicht gut genug, um sich stundenlang in Bundes- und Parlamentsangelegenheiten zu vertiefen, was jedenfalls geschehen würde, wenn Savigny käme. Deshalb konferierte ich mit unserem kleinen Doktorchen und der entschied: um die Welt noch keine Geschäfte. Deshalb habe ich Savigny abtelegraphiert, was aber nicht hindert, daß Sie, lieber Herr von Keudell, „aus Liebe“ mit allerlei erheiternden Geschichten unpolitischer Natur herkommen, wenn Sie Zeit und Lust haben. Carl wird dringend im Jagdschloß erwartet, könnten Sie sich ihm nicht anschließen? „Hier ist das Gesellschaftsstübchen sehr klein, weshalb der Gedanke, darin viele Stunden einen geschäftlichen Verkehr mit Savigny zu sehen, mir erschütternd ist. Thile, der hohe Anerkennung für Savignys Verdienste hat, meinte neulich doch: „Er redet mich todt“. Aber wollen Sie Savigny vielleicht sagen, damit er nicht übelnehmende Magenschmerzen bekommt, in Kröchlendorf, glaubte ich, würde Bismarck vortragsfähiger sein, wohin die Reise auch für ihn viel leichter und comfortabler wäre. Streicheln Sie Charles nur etwas von mir, damit er es nicht sehr übelnimmt; aber Bismarck ist wirklich noch nicht so weit; und ich muß mein Cerberusamt doch treu durchführen … „Loulou schreibt sehr nett und sehr befriedigt von Bonn61, was mich für sie innig freut. Aber ich beklage doch für uns ihr Fernsein, weil sie uns sehr fehlen wird; sie war ja die einzige Berliner Dame, die unsern Theetisch amüsant zu machen verstand … „Bismarcks Gehen und Essen ist schon wieder recht befriedigend, Schlafen ziemlich – Rauchen und Weintrinken höchst mangelhaft – fast gar nicht. „Marie hat mich in den letzten Tagen auch geängstigt mit allerlei Nervenzuständen, aber, gottlob, es geht schon wieder besser, und ich hoffe, die sanfte Arzenei unseres vorsichtigen guten Doktorchens bringt sie bald wieder in den alten Zug … „Danken Sie, bitte, Thile sehr für seinen netten Brief und grüßen Sie ihn viel von mir.“ …

61 Herr von Schenck war als Kommandeur der 7. Husaren nach Bonn versetzt.

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Putbus, 6. November. ­… „Vor allen Dingen wollte ich Ihnen sehr zureden, doch ja mit Karl herzukommen. Unser kleines Paradies müßte Ihnen sehr gefallen und ein Morgen auf dem Jagdschloß könnte Ihnen selige Gefühle erwecken … ­… „Wenn der geliebte Bismarck nur erst wieder rauchen und Wein trinken könnte! Essen geht schon ganz gut, gottlob, und Spazierengehen 3 Stunden in einem Ende – sagen Sie’s aber nicht weiter, sonst hat man sich in Berlin –, ich schreibe es nur Ihnen zum Freuen. Schlafen ist immer noch nicht, wie es sollte, aber es geht doch leidlich. Eben hat er sämtliche Briefe durchblättert, die ich mir zur Ergründung und Fortschickung hingelegt, und hat mit Bleistift die verschiedenen Namen angedeutet, an die sie gehen müssen und mich beauftragt, alles an Sie zum Vertheilen und Beantworten zu schicken.“ … Putbus, 8. November. ­  „Bismarck diktiert: … ‚Braß gibt im Leitartikel vom 6.  (Nr.  260) ziemlich unumwunden zu, daß die Erwerbung Hannovers etc. nicht rechtlich und nicht moralisch sei. Dies ist sehr thöricht. Eroberung in einem gerechten Kriege ist ein ebenso gerechter als moralischer Erwerbstitel. Wodurch sind denn die bestehenden Staaten entstanden? Doch nicht durch Erbschaft, Schenkung oder Kauf? Wie ist Hannover selbst zu Verden, Hildesheim, Osnabrück, Ostfriesland, Goslar und anderen Landestheilen gekommen als durch die Gewalt oder das Ansehen der Waffen. Die ganze Souveränität der deutschen Fürsten ist weder rechtlich noch moralisch, sondern durch Eroberung gegen Kaiser und Reich entstanden. Dem klaren Rechte der ehrlichen Eroberung in einem uns aufgedrungenen Kriege schadet die Norddeutsche durch solche unklare Spitzfindigkeiten, wie sie der Artikel vom 6. bringt. ‚Die Renommage in der Vossischen Zeitung über unser Uebergewicht von 400 Geschützen gegen Frankreich ist ungeschickt und ihre Reproduktion in unserer offiziösen Zeitung eine Albernheit.‘ „Dies Diktat geschah beim Lesen der Norddeutschen, über deren Verfasser Bismarck sich stets ärgert, nicht zum Krankwerden, aber immer zu passagerer Verstimmung, weil Braß zu taktlos ist und bleibt, bei aller Klugheit. – Dann, nachdem er sein Herz durch diese gelinde Schimpfung erleichtert, ist er nach dem Jagdschloß gefahren. „Seit vorgestern hat der November plötzlich sein unfreundlichstes Kleid angezogen. Hubertustag war entzückend, Sonntag auch noch warm und still bis gegen Abend, wo sich’s in Regen und Stürme begeben. Das dauert immer noch fort, so daß Bismarck nun wohl bald entfliehen wird, besonders auch,

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weil die Insulaner rappeltoll nach seinem Anblick sind und Putbus halb todt um Diners mit Bismarck quälen, wovon heute eines losgeschossen wird. Es ist doch gräßlich, daß der Arme „nirgend sei Ruh“ hat. Ich ängstige mich halbtodt, daß er um den 15. nach Berlin zurückwill, gleich in die Arbeit hinein, und doch noch gar nicht Kraft genug dazu hat. Und wenn wir ’mal hier fort sind, kehren wir natürlich nicht wieder zurück. Carlsburg ist um diese Zeit nicht zu gebrauchen, mit vielen riesenlangen Fensterreihen und unheizbaren Galerien, also, wenn Kröchlendorf nicht mehr bewohnt, bleibt nur Berlin … Es ist zu schade, daß Sie uns wegen Zeitmangel hier nicht besuchen wollen, lieber Herr von Keudell. In voriger Woche, Freitag und Sonnabend, war solch paradiesisches Wetter und solche wunderhübsche Beleuchtung auf Meer, Hügeln und herbstlich gefärbten Wäldern, daß es mir wahrhafte Freude gemacht hätte, wenn Sie dies mit uns genossen. Jetzt ist’s unschön bei Sturm und Regen, aber der kann morgen aufhören. „Das hübsche Bilderbuch von der Insel Wight geben Sie, bitte, an Bucher mit Dank zurück. Die Ansichten sind reizend, und wenn man so schnell und leicht dort sein könnte wie in Putbus, so wäre es wohl sehr lockend gewesen, sich in dem Himmelsklima zu ergehen. Aber m i r lag Blind und Consorten zu sehr in den Gliedern und Bismarck hatte nicht ein bisschen Lust zu irgendwelcher Reise ins Ausland.“ …

Graf Karl Bismarck schrieb mir am 12. aus Putbus: ­… „Den Chef fand ich zu meiner großen Freude körperlich sehr erholt. Er macht große Promenaden und war heute mit uns auf einer Fasanen- und Hasenjagd, die 4–5 Stunden dauerte, ohne Stuhl, durch Stehen und Gehen nicht ermüdet. Von Rückkehr ist vorläufig nicht die Rede, d. h., sie ist wohl Ende des Monats zu erwarten. Von Politik spricht er wenig, aber mit mir ohne nervös zu werden; ich fange auch nicht davon an. Gestern kam folgendes Telegramm von S. M.: ‚Heute mit dem Friedensfeste62 schließt der große Wurf, den wir gethan! Ihnen bleibt der unvergängliche Ruhm, ihn durchgeführt zu haben, und so empfangen Sie nochmals Meinen königlichen Dank. Lassen Sie Mich wissen, wie es Ihnen geht. Wilhelm.‘ „Diese königliche Freundlichkeit hat den Chef natürlich sehr erfreut, und er dankte sofort telegraphisch. Zum Essen fuhr er auf ’s Jagdschloß.“

62 Am 11. November 1866 hat auf königliche Anordnung in den Kirchen Berlins ein Friedens-DankGottesdienst stattgefunden.

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X. Putbus. Gründung des Norddeutschen Bundes … September 1866 bis Oktober 1867.

Graf Karl schrieb am 13. November: „Der Chef wünscht, daß Sie in der Sache des Professors Pauli in Tübingen, der wegen Preußenfreundlichkeit mit Absetzung bedroht wird, einige Schritte thun, d. h. für den Fall, daß er wirklich abgesetzt wird, sich mit dem Kultministerium in Verbindung setzen, damit Pauli jedenfalls bei uns als Professor angestellt wird. „Ferner wünscht S. E., daß die Verwaltungschefs der neuen Provinzen, einschließlich Schleswig-Holsteins, von Seiten der Ministerien darauf aufmerksam gemacht werden, wie ihnen bis zum 1. Oktober 1867  die volle, durch keine Landesgesetze beschränkte Regierungsgewalt zusteht, deren Handhabung gegen widerstrebende und sich auflehnende Elemente nach dem Grundsatze zu erfolgen hat, daß, wo nicht Liebe sein will, Furcht sein muß. Namentlich in Bezug auf Austreten der Militärpflichtigen in Holstein dürfte es zweckmäßig sein, diese ihres Bürgerrechts verlustig zu erklären; sowie auch gegen die dänische Propaganda in Schleswig nöthigenfalls mit Ausweisungen vorzugehen. Auch das hannöversche Junkerthum wäre nach Umständen nicht mit Sammethandschuhen anzufassen.“ Derselbe schrieb am 14. November: „Was die Lebensweise des Chefs betrifft, so ist gerade das Gegentheil von dem der Fall, was ein Gast des Fürsten Putbus auf dem Berliner Casino erzählt haben soll. Er lebt sehr mäßig im Essen, genießt nur gesunde Sachen, trinkt sehr wenig Wein, meistens mit Wasser gemischt und raucht 2‒3 Cigarren den Tag. Menschen sehen und über Politik sprechen, greift ihn noch sehr leicht an; daher die möglichst lange Verzögerung der Rückkehr wünschenswerth. „Von der Liebenswürdigkeit von Putbus und der reizendsten Fürstin schreibe ich Ihnen nichts, da Sie alles durch Johanna wissen. Diese Zeilen schmiere ich an einem runden Tisch im Salon um 11 Uhr; rechts sitzt der Chef schmökernd, links die Chefesse, an Zitelmann schreibend.“ Gräfin Bismarck schrieb aus Putbus am 14. November: „Er diktiert: ‚In den Verfassungsentwurf sind Bestimmungen aufzunehmen, nach welchen der König als Bundesfeldherr die Berechtigung hat: 1.  Die präsente Kopfzahl zu bestimmen, soweit solches nicht allgemein gesetzlich festgestellt ist; also keine Augmentationen ohne Einverständniß des Bundesfeldherrn. 2. Das Recht, alle Bundestruppen, ohne Rücksicht auf die inneren Landesgrenzen, nach Bedürfniß zu dislocieren. 231

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3.  Beliebige Theile des Bundesgebiets bei äußerer oder innerer Gefahr in Kriegszustand zu erklären, womit dann alle Autorität auf die Militärbefehlshaber übergeht. 4. Gegen solche Bundesglieder, welche ihre militärischen Pflichten nicht vollständig und rechtzeitig erfüllen, die Exekution im Namen des Bundes sofort zu vollstrecken.‘“

Am 19. November schickte mir Graf Karl folgendes zur Mitteilung an Thile und Savigny bestimmtes Diktat des Chefs: „Die Zusammensetzung des Bundestages in der neuen deutschen Verfassung hängt wesentlich davon ab, ob dem Könige von Preußen eine Stellung als Oberhaupt des Reichs oder die eines primus inter pares den andern Mitgliedern des Bundes gegenüber zufällt. In ersterem Falle könnte man daran denken, aus dem Könige von Preußen einen selbständigen Faktor der Bundesgesetzgebung analog dem Monarchen eines constitutionellen Staates zu machen und einem ohne oder mit geringer Betheiligung Preußens zu bildenden Bundestage die Stellung einer ersten Kammer, eines Staatenhauses, beizulegen. Diese Herstellung eines monarchischen Bundesstaates oder deutschen Kaiserreichs würde formell mehr Schwierigkeiten haben als die Durchführung des zweiten Systems, welches sich den hergebrachten Bundesbegriffen anschließt und deshalb leichter bei den Betheiligten Eingang findet, auch wenn es Preußen dieselbe dominierende Stellung sichert. Letzteres würde annähernd erreicht, wenn man bei Vertheilung der Stimmen nicht an den engeren Rath, sondern an das Plenum der Bundesversammlung anknüpft. In Letzterem würde Preußen, wenn ihm die Stimmen der jetzt annektierten Staaten zugelegt werden, 17 Stimmen haben, die übrigen Staaten des Norddeutschen Bundes, wenn Darmstadt für Oberhessen eine von seinen ursprünglichen drei Plenarstimmen behält, würden zusammen 26 Stimmen zu führen haben; gesammte Stimmenzahl 43, absolute Majorität 22. Preußen würde also diese Majorität haben, sobald 5 der kleineren Stimmen ihm beitreten. Die Gefahr, daß die preußische Regierung in erheblichen Fragen sowohl im Reichstag als im Bundestage in die Minorität geriethe, ist bei der Ueberzahl preußischer Abgeordneter nicht wahrscheinlich; doch könnte man noch den Riegel vorschieben, daß in allen militärischen Fragen die Zustimmung des Bundesfeldherrn, und daß zu Verfassungsänderungen zwei Drittel der Stimmen erforderlich sind. Diese zwei Drittel sind nach Obigem ohne Preußen nicht herzustellen. Dieses Verhältnis müßte bei ­etwaigem ­Zutritt der Süddeutschen durch Erhöhung der preußischen Stimmenzahl auf 20 gewahrt werden. 232

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„Die Vorzüge dieses Systems bestehen in seiner Anlehnung an das Hergebrachte, dem sich die Regierungen als etwas Gewohntem und Selbstverständlichem leichter fügen werden als jeder neuen Kombination, die ebenso, wie es ursprünglich die Vertheilung der Plenarstimmen war, den Charakter der Willkürlichkeit tragen müßte, wenn man nicht etwa auf einem Bundestage die Stimmen nach der Bevölkerung vertheilen wollte, wodurch die übrigen Regierungen neben Preußen vollständig mundtodt gemacht werden würden. „Wenn man auf diese Weise ein Plenum von 43 Stimmen herstellt, so würde es den Regierungen überlassen bleiben, so viel Mitglieder der Versammlung zu ernennen, als sie Stimmen ausüben, ohne das Stimmrecht von der Anwesenheit der entsprechenden Anzahl Gesandter abhängig zu machen. Auf diese Weise würde Preußen 17 Vertreter ernennen können, aber, wenn auch nur einer derselben anwesend wäre, doch 17 Stimmen ausüben. Dadurch wäre die Gelegenheit gegeben, dem Bundestage neben den eigentlichen, diplomatischen Vertretern die Kapacitäten zuzuführen, deren er in jedem speciellen Ressort seiner Gesetzgebung bedarf. So denke ich mir beispielsweise neben unserem bisherigen Bundestagsgesandten, der das Präsidium führen und vielleicht Mitglied des Staatsministeriums sein würde, Leute von der Kategorie wie Voigts-Rhetz, Jachmann, Delbrück, Dechend, Günther, Camphausen, einen höheren Post- und Telegraphenbeamten, auch ein hervorragendes Mitglied der aristokratischen, industriellen und Handelskreise und andere als preußische Glieder des Bundestages, welcher auf einer 43 Plätze fassenden Ministerbank seine Phalanx dem Reichstage gegenüberstellen würde. Ich glaube, daß so die Schwierigkeiten, dem Reichstag ein Ministerium gegenüberzustellen, bei dessen Ernennung die Konkurrenz der uns verbündeten Regierungen nicht ausgeschlossen werden könnte, sich im Anschluß an die bestehenden Einrichtungen und die gewohnte Nomenklatur lösen lassen. „Die preußischen Vertreter würden unter sich natürlich in ihren Votis stets übereinzustimmen und die Ansichten der Regierung gemeinsam zu vertreten haben; es würde aber nicht ausgeschlossen sein, daß die Minorität des Bundestages ihre von den amtlichen Vorlagen der Majorität abweichende Ansicht auch vor dem Reichstage öffentlich plädierte. Es kann dies namentlich für Preußen unter Umständen Bedürfnis sein. Die ministerielle Solidarität kann natürlich für die Vertreter der verschiedenen Regierungen, deren jede den ihrigen nach Belieben abrufen kann, nicht bindend sein. „Das Zweikammersystem halte ich auf die Bundesverhältnisse nicht für anwendbar. Die Maschinerie wird zu schwerfällig, da abgesehen von der Masse der Landtage eine Vertretung der Souveraine in den Reichsangelegenheiten unumgänglich ist, das Reich also mit dem Zweikammersystem nothwen-

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dig drei per majora beschließende Körper und neben ihnen das Präsidium und Oberfeldherrnthum mit unabhängigen Attributen haben würde. Eine weitere Ausbildung des Bundestages im Sinne eines Oberhauses kann sich vielleicht in Zukunft historisch entwickeln; damit müßte aber die schärfere Ausprägung des Kaiserthums anstelle der Präsidial- und Feldherrn-Attributionen Hand in Hand gehen. „Einzelne Attributionen der Exekutivgewalt, die bisher von der Bundesversammlung geübt wurden, müßten allerdings schon jetzt auf unsern König als Oberfeldherrn- und Präsidial-Macht übergehen. So, abgesehen von den rein militärischen Attributen, wie sie in den ursprünglichen Grundzügen bereits angedeutet, das Recht über Krieg und Frieden, Mobilmachung, Anstellung der gemeinsamen Beamten in Zoll-, Steuer-, Post- und Telegraphen-Wesen, immerhin mit Konkurrenz der Territorial-Regierungen in Gestalt eines Vorschlagsrechts, aber doch mit Vereidigung auf den Bund und Disciplin in der Hand des Präsidiums.“

Die Gräfin schrieb am 19. November: „Carl fuhr eben nach dem Jagdschloß, als Ihr Brief heute eintraf, las ihn im Fluge und überließ ihn uns dann zum Trost für das furchtbare Wetter, welches das Häuschen zum Umblasen umstürmte. Wir waren höchst gerührt und amüsiert über Ihre nette Zeiteintheilung für Bismarck, die sich ganz praktisch anhört, aber schwerlich ausgeführt werden wird, wie ich fürchte. „Um Benedetti ängstigt er sich gar nicht; der habe längst sein Vertrauen verscherzt und es wäre ihm sehr „Wurscht“, was der thäte und dächte – würde sich nicht im Mindesten von ihm stören lassen. „Es geht Bismarck heute leider nicht besonders. Er hat sich vielleicht gestern beim Spaziergang ein bisschen erkältet und wagt sich deshalb heute nicht hinaus. Auch morgen will er sich drinnen ganz stille verhalten, damit er hoffentlich übermorgen, wenn gutes Wetter, hier in der Fasanerie viele Fasanen schießen kann.“ … Putbus, 21. November.

„Er diktiert: ‚In die Bundesverfassung ist eine Bestimmung aufzunehmen, durch welche ein allgemeines und gemeinsames Indigenat jedes Norddeutschen in jedem einzelnen Bundesstaate festgestellt wird; sodaß beispielsweise ein Sachse in preußischen Dienst treten kann, ohne besonders naturalisiert zu werden und ohne einer Erlaubniß der sächsischen Regierung zu bedürfen und umgekehrt

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und analog in Bezug auf Heimatsverhältnisse, Freizügigkeit und alles, was am gemeinsamen Indigenat hängt.‘ „Bismarck ist sehr verstimmt darüber, daß verschiedene Sachen, welche er von hier dringend empfohlen, nicht erledigt worden sind, und meint, das Erste, was er nach seiner Rückkehr thun würde, wäre Ergründung, woran und an wem es läge, daß man gethan, als hätte man nichts gehört. Bitte, können Sie’s wohl gütig vorher erforschen und herüber und hinüber Rüffel austheilen, damit bei unserer Rückkunft alles gefegt und klar ist. Er würde Ihnen sehr dankbar sein, lieber Herr von Keudell … Struck ist hier, spricht eben mit unserem Doktorchen, scheint ja nicht erschüttert von Bismarcks Zustand und findet Putbus so entzückend, sogar jetzt in tiefem Schnee, daß er in ganz poetische Stimmung gerieth und uns am liebsten für immer hier festnagelte, wofür ich aber doch danken müßte.“ … Putbus, 25. November. ­… „Bismarck war alle diese Tage trotz Jagdstrapazen und Kirchenerkältung recht munter, aß und schlief gut und sah so frisch aus, daß ich eine große Freude bei seinem Anblick empfand. Heute Nacht hat er wieder ’mal recht schlecht geschlafen, und ihm ist auch sonst nicht wohl zu Muthe; aber es schlägt ihn nicht nieder. Er hat mir eben 10 Seiten an Thile diktiert, die sehr eilig geschrieben und nicht mehr durchlesen worden, damit der Kanzleidiener sie schnell bekäme; weshalb Herr von Thile gütigst manche Undeutlichkeiten entschuldigen möge. Bismarck will eben spazieren gehen in den dicksten, kühlen Nebel hinein und hofft, sich dadurch wieder zu erfrischen. Er denkt gewiß diese Woche heimzukehren, wenn nicht Donnerstag, so bestimmt Sonnabend … „Gott helfe uns bald glücklich nach Berlin, welches mir so über alle Maßen reizend erscheint, daß gar kein anderer Gedanke dagegen aufkommt.“ Putbus, Mittwochabend (28. November). „Dies ist nun hoffentlich der letzte Brief, lieber Herr von Keudell, der wieder mit Aufträgen von Bismarck beginnt. ‚1. Die Deutschen in Hongkong haben 5000 Thaler für Invaliden eingeschickt. Ich glaube, daß es den Gebern eine Wohlthat sein würde, wenn die Liste ihrer Namen, falls sie bekannt ist, in deutschen Blättern veröffentlicht würde. ‚2. Das Ministerium des Innern wird zu ersuchen sein, daß es durch die Amtsblätter die ländliche Bevölkerung über den Artikel „Norddeutscher Bund und Parlament“ aufklärt, damit die Leute bei der Wahl einigermaßen wissen, um was es sich handelt.

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‚3. In die Verfassung des Norddeutschen Bundes wird eine Bestimmung aufzunehmen sein, nach welcher Vergehen gegen die Sicherheit und den Bestand des Bundes sowie Erregungen von Haß und Verachtung gegen die Einrichtungen desselben im ganzen Gebiete des Bundes ebenso bestraft werden wie die gleichen Vergehen gegen die unmittelbare Landesherrschaft und deren Interessen.‘ … „Möchten wir doch zu unserer Rückkehr und in Berlin besseres Wetter haben wie hier, wo’s jetzt ewig regnet und nebelt und gar nicht nett ist. Bismarck spaziert aber trotz allem Plantsch täglich mehrere Stunden und kennt die Gegend drei Meilen rundum besser wie seine Taschen, glaube ich. Er geht auch früher schlafen seit 8 Tagen und steht früher auf, um sich für Berlin in dies andere, gesundere Leben einzuüben … „Ihre Rede63 habe ich von Anfang bis zu Ende gewissenhaft studiert, und ich meine, wenn man auf diese klare Auseinandersetzung nicht alles bewilligt hätte, so wäre man doch zu stockfinster eigensinnig gewesen. Bismarck war voll Lobes für Sie und freute sich sehr über alles, was Sie durchgesetzt. Er grüßt Sie herzlich, vereint mit uns, und ich wünsche besonders, Sie vor Ihrer Abreise noch zu sehen, weil ich Ihnen gern recht gründlich danken möchte für alle Freundlichkeit, die Sie meinen Jungen erzeigt.“

* * * Als Bismarck am 1. Dezember abends die Geschäfte in Berlin wieder übernahm, war seine erste Sorge die Unterdrückung der offenkundigen welfischen Agitationen in Hannover. Am 3. erließ der König zu diesem Zwecke einen vom ganzen Staatsministerium befürworteten Befehl an den Generalgouverneur General von Voigts-Rhetz. Zum Bundesverfassungsentwurf hatten die Direktoren der Fachminis­ terien gründliche Vorarbeiten geliefert. Die Bestimmungen über Zölle, Han63 Es handelte sich um Bewilligung bedeutender Mehrforderungen im Etat des Auswärtigen Amtes. Durch die Annexionen war die Einwohnerzahl des Staates von rund 20 auf rund 25 Millionen gewachsen. Die Geschäfte des Ministeriums, mehrerer Gesandtschaften und aller Konsulate mußten dadurch mindestens im gleichen Verhältnisse vermehrt werden. Der Moment schien mir günstig, die drückendsten Mängel bei den Besoldungen vieler Beamten des auswärtigen Dienstes zu mildern und die Gehälter in einzelnen Fällen bis zur Grenze von 5/4 zu erhöhen. Der ganze Etat sollte dadurch mit Mehrausgaben in Summe von rund 10 % belastet werden. Der Herr Unterstaatssekretär genehmigte alles, was ich selbst vor dem Landtage vertreten wollte; den beurlaubten Chef durfte ich mit diesen Dingen nicht beunruhigen. In der Landtagssitzung vom 24. November begründete ich ausführlich die ungewöhnlichen Mehrforderungen; und dank der durch die Ereignisse des letzten Sommers gehobenen Stimmung des Hauses sowie infolge des entschiedenen Auftretens Georg Vinckes gegen einige Opponenten wurde alles bewilligt.

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del und Schifffahrt waren von Delbrück, über Eisenbahnwesen durch von der Reck64, über Post und Telegraphie von dem Generalpostdirektor Philippsborn entworfen; die Normen für Armee und Marine hatte natürlich Roon, für die Bundesfinanzen von der Heydt vorgeschlagen. So lagen etwa 3/   des Verfassungsentwurfs in reiflich durchdachter Formulierung bereit. 5 Ueber die weitere Entwickelung der Vorlage kann ich als Zeuge nicht berichten, da ich Anfang Dezember auf einige Wochen nach Mentone beurlaubt wurde. Bei meiner Rückkehr im Januar 1867 hörte ich von den Kollegen Folgendes: Die Bevollmächtigten der norddeutschen Staaten waren auf den 15. Dezember zur Beratung über den Verfassungsentwurf eingeladen. Am 13. früh aber gab es noch keinen solchen Entwurf. Mit der fürstlichen Gelassenheit, welche das Bewußtsein, über unbeschränkte Hilfsquellen zu verfügen, verleihen mag, begann Bismarck erst am 13. nachmittags die ersten, wichtigsten Abschnitte des Entwurfs, nämlich über den Bundesrat (nicht mehr Bundestag genannt), das Präsidium und den Reichstag, zu diktieren, angeblich teils im Wortlaute, teils in Anweisungen zur Ausarbeitung. Bucher, der das Diktat stenographiert hatte, brachte in der Nacht vom 13. zum 14. den Verfassungsentwurf, mit Einschaltung der erwähnten ministeriellen Vorarbeiten, zustande – eine bedeutende Leistung, welche Herr von Thile rühmend erwähnt hat. Am 14. nachmittags wurde die Vorlage in einem Kronrat genehmigt, in der Nacht gedruckt und am 15.  den Bevollmächtigten zugestellt. Der Ministerpräsident eröffnete die Sitzungen derselben. In seiner Ansprache hob er hervor, die Hauptmängel des ehemaligen deutschen Bundes, nämlich die fehlende Sicherheit nach außen und die Unfähigkeit zur Hebung der inneren Wohlfahrt durch gemeinnützige Einrichtungen, strebe der vorgelegte Entwurf zu beseitigen. Die Selbständigkeit der Bundesglieder solle nicht weiter beschränkt werden, als zur Erreichung dieser Ziele notwendig scheine. Die Bevollmächtigten reisten zum Weihnachtsfeste nach Hause und traten erst am 18. Januar 1867 unter Savignys Vorsitz wieder zusammen. Zahllose Einwendungen gegen den Entwurf wurden vorgebracht. Die preußische Regierung genehmigte 18 Abänderungsvorschläge, lehnte aber alle übrigen ab. Am 2. Februar wurde der ganze Entwurf als Vorlage für den Reichstag allseitig genehmigt.

64 Ministerialdirektor im Handelsministerium.

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Am 3. Januar schrieb die Gräfin Folgendes: ­… „Man dankt Gott, wenn der Tag beginnt, und schließt ohne erhebliche Sorgen und freut sich über jede Jagd, die das Haupt der Familie vom Schreibtisch reißt und den armseligen Nerven Erfrischungen bringt, z. B. heute wieder. Die Woche vor Weihnachten gab’s so viele norddeutsche Bundes- und Ministersessionen und Diners mit diesen wundervollen Gespielen bei König und Kronprinzen, daß der arme Bismarck wieder ganz matt von allen Anstrengungen und ich in großen Aengsten um ihn war. Dann fuhr er am 2. Feiertag zu Dietze65-Barby und von dort nach Meisdorf zu Asseburg 66und kehrte Sonntagabend so munter zurück, daß alle Sorge verweht war. Leider fand sich am Montag ein gründlicher justizministerieller Aerger wegen Hannover, der aber in einer noch spät abgeschmetterten strengen Weisung an Voigts-Rhetz – in der Tonart des 3. Dezember – und im Silvesterpunsch ertränkt wurde. Das ergebniß- und sorgenschwere Jahr 1866 ging fröhlich zu Ende und die erste Nacht des neuen wurde gut durchschlafen, sodaß ich voll Dank und guter Zuversicht in die Kirche gehen konnte … „Unsere Abende sind durchaus nicht aufregend; sie wechseln mit Arnims, Stolbergs, Obernitz und einigen Veilchen67. Gestern erschienen zum ersten Mal Savignys; so feierlich, förmlich, correct, daß wir sämmtlich kalte Hände bekamen von der regelrechten, eingerahmten, wohlerzogenen Unterhaltung, die man im Mittelsalon führte, während Bill im Nebenzimmer den lautesten, ausgelassensten Unsinn trieb und einer nach dem andern sich ab und zu dahin verzog zur Erwärmung des Herzens durch das kindliche Toben. ­… „Am 2. Festtag passierte ein schwäbischer Vetter Bismarck68 hier ein, der im Sommer als badischer Dragoner gegen uns gefochten, jetzt den badischen Rock mit der preußischen Husarenjacke vertauschen möchte, wozu er Bismarcks Vermittelung erbat. Nebenher gerieth er in dickste Freundschaft mit beiden Jungen, die gar nicht mehr ohne ihn sein können und sich sehr traurig gebärden, daß er heute wieder abreisen muß.“ … Am 24. Februar trat der mittels des allgemeinen Wahlrechtes zur Beratung der Verfassung gewählte Reichstag des Norddeutschen Bundes zusammen. Die Stärkeverhältnisse der meisten Fraktionen waren für die Regierung ein 65 Amtsrat Dietze in Barby. 66 Graf Asseburg, k. Oberjägermeister. 67 Die Legationssekretäre, welche aus dem Auslande zurückkehrten, um eine Zeit lang im Auswärtigen Amte zu arbeiten, wurden scherzweise Veilchen genannt, weil ihre dortige Thätigkeit gleichsam „im Verborgenen blühte“. 68 Graf August von Bismarck.

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wenig günstiger als im preußischen Abgeordnetenhause, aber nicht erheblich verändert, ausgenommen, daß die neu gebildete national-liberale Partei, durch Zuwachs aus Hannover und Nassau verstärkt, mit 79 Köpfen als die ausschlaggebende in den Vordergrund trat. Die Thronrede berührte die Ursachen des Scheiterns früherer Einigungsversuche und folgerte daraus die Notwendigkeit, „an der Hand der Thatsachen die Einigung zu suchen und nicht wieder das Erreichbare dem Wünschenswerten zu opfern.“ Bismarck sagte am 4. März bei Vorlegung des Verfassungsentwurfs an den Reichstag u. a. folgende, nie genug zu beherzigende Worte: „Es liegt ohne Zweifel, m. H., etwas in unserem Nationalcharakter, was der Vereinigung Deutschlands widerstrebt. Wir hätten die Einheit sonst nicht verloren oder hätten sie bald wiedergewonnen. Wenn wir in die Zeit der deutschen Größe, die erste Kaiserzeit, zurückblicken, so finden wir, daß kein anderes Land in Europa in dem Maße die Wahrscheinlichkeit für sich hatte, eine mächtige nationale Einheit sich zu erhalten, wie gerade Deutschland. Blicken Sie im Mittelalter von dem russischen Reiche der rurickschen Fürsten bis zu den westgotischen und arabischen Gebieten in Spanien, so werden Sie finden, daß Deutschland vor allen die größte Aussicht hatte, ein einiges Reich zu bleiben. Was ist der Grund, der uns die Einheit verlieren ließ und uns bis jetzt verhindert hat, sie wieder zu gewinnen? Wenn ich es mit einem kurzen Worte sagen soll, so ist es, wie mir scheint, ein gewisser Ueberschuß an dem Gefühle männlicher Selbständigkeit, welche in Deutschland den Einzelnen, die Gemeinde, den Stamm veranlaßt, sich mehr auf die eigenen Kräfte zu verlassen als auf die der Gesammtheit. Es ist der Mangel jener Gefügigkeit des Einzelnen und des Stammes zu Gunsten des Gemeinwesens, jener Gefügigkeit, welche unsere Nachbarvölker in den Stand gesetzt hat, die Wohlthaten, die wir erstreben, sich schon früher zu sichern. „Die Regierungen, m. H., haben Ihnen, glaube ich, im jetzigen Falle ein gutes Beispiel gegeben. Es war keine unter ihnen, die nicht erhebliche B ­ edenken, mehr oder weniger berechtigte Wünsche dem bisher erreichten Ziele hat opfern müssen. Liefern auch wir den Beweis, m. H., daß ­Deutschland in einer sechshundertjährigen Leidensgeschichte Erfahrungen gemacht hat, die es beherzigt; daß wir die Lehren zu Herzen genommen haben, die wir aus den verfehlten Versuchen von Frankfurt und Erfurt ziehen mußten.“ Im Laufe der Verhandlungen aber erklärten nicht nur fanatische Demokraten, sondern auch gemäßigte Liberale wie Twesten, daß, wenn nicht stärkere Garantien für das Budgetrecht des Reichstags gegeben würden, der 239

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preußische Landtag diese Verfassung verwerfen müßte, auf die Gefahr hin, daß wieder nichts zustande käme. Mit Bezug hierauf erwiderte Bismarck inmitten einer langen Rede über das Wesen der Bundesverfassung (am 11. März): „Die Herren, die so kurzweg hier das Wort aussprechen, daß der preußische Landtag das Produkt unserer Arbeiten in den und den Fällen verwerfen werde, möchte ich fragen: was würden Sie sagen, wenn heutzutage eine der verbündeten Regierungen schon von Hause aus erklärte: Wenn dies und das nicht in der Verfassung steht, so nehme ich sie nicht an. … Ich erinnere Sie daran, meine Herren, als die Versuche von Frankfurt und Erfurt mißlangen – der von Erfurt nicht so sehr, wie hier gemeint wurde, durch das Widerstreben der beteiligten Regierungen … er scheiterte m. E. daran, daß Hannover und Sachsen einfach auf die österreichische Armee, die hinter Olmütz stand, mehr Vertrauen hatten als auf den Dreikönigsbund –, das war wohl das Durchschlagende, wenn es auch eine Menge anderer Ursachen gegeben haben mag – ich erinnere Sie daran, daß man für uns, die wir damals unter dem Namen der preußischen Junkerpartei die Verantwortung für das Nichtzustandekommen vor der Oeffentlichkeit übernehmen mußten, kein Wort finden konnte in der öffentlichen Presse, was stark genug war, um diesen ‚unwürdigen Mangel an Vaterlandsliebe‘ zu brandmarken, der dahin führte, ‚aus Standesinteressen lieber einen Junkerstaat von der Größe der Mark Brandenburg zu gründen‘, und was dergleichen von Ihnen bereits vergessene Zeitungsartikel waren, die auf uns Schmach und Vorwurf häuften, weil wir das Werk gehindert hätten, das wir zustande zu bringen in der Lage nicht waren. Ich habe, als hier vorgestern dasselbe Recht für den preußischen Landtag in Anspruch genommen wurde, in der ganzen Versammlung keinen Ausruf des Erstaunens gehört außer dem, den ich in meinem Innern unterdrückte. „Ich glaube, meine Herren, diejenigen, die dieses Wort aussprachen, unterschätzen denn doch den Ernst der Situation, in der wir uns befinden. Glauben Sie wirklich, daß die großartige Bewegung, die im vorigen Jahre die Völker vom Belt bis an die Meere Siciliens, vom Rhein bis an den Pruth und den Dnjester zum Kampfe führte, zu dem eisernen Würfelspiel, in dem um Königs- und Kaiserkronen gespielt wurde, daß die Million deutscher Krieger, die gegeneinander gekämpft und geblutet haben auf den Schlachtfeldern vom Rhein bis zu den Karpathen, daß die Tausende und Abertausende von Gebliebenen und den Seuchen Erlegenen, die durch ihren Tod diese nationale Entscheidung besiegelt haben, mit einer Landtagsresolution ad acta geschrieben werden können; meine Herren, dann stehen Sie wirklich nicht auf 240

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der Höhe der Situation. … Ich habe die sichere Ueberzeugung, kein deutscher Landtag wird einen solchen Beschluß fassen, wenn wir uns hier einigen. „Ich möchte die Herren, die sich diese Möglichkeiten denken, wohl sehen, wie sie etwa einem Invaliden von Königgrätz antworten würden, wenn der nach dem Ergebnis dieser gewaltigen Anstrengung fragt. Sie würden ihm etwa sagen: Ja freilich, mit der deutschen Einheit ist es wiederum nichts geworden, die wird sich wohl bei Gelegenheit finden, sie ist ja leicht zu haben, eine Verständigung ist ja alle Tage wieder möglich; aber wir haben das Budgetrecht des Abgeordnetenhauses, des preußischen Landtages gerettet, das Recht, jedes Jahr die Existenz der preußischen Armee in Frage zu stellen, ein Recht, von dem wir als gute Patrioten niemals Gebrauch machen würden … Aber es ist doch unser Recht … „Ist denn eine Regierung auf die Dauer denkbar, namentlich eine solche, die sich zur Aufgabe gestellt hat, eine Einheit im Feuer oder gar in kaltem Metall, wenn das Feuer erkaltet sein wird, zu schmieden, eine Einigung, die nicht überall in Europa mit Wohlwollen gesehen wird, ist es denkbar, daß diese Regierung es sich gewissermaßen zur systematischen Aufgabe stellt, die Rechte der Bevölkerung auf die Teilnahme an ihren eigenen Geschäften zu unterdrücken, abzuschaffen? … „Wir wollen den Grad von Freiheitsentwicklung, der mit der Sicherheit des Ganzen nur irgend verträglich ist. Es kann sich nur handeln um die Grenze: Wie viel, was ist mit dieser Sicherheit a u f d i e D a u e r verträglich? Was ist jetzt mit ihr verträglich? Ist ein Uebergangsstadium nötig? Wie lange muß dies dauern? Es kann nicht in unserer Absicht liegen, das Militärbudget auch für den Zeitraum, wo es von Ihnen selbst als eisern ­behandelt werden sollte, und ein solcher Zeitraum ist m. E. unentbehrlich, Ihrer Kenntnis zu entziehen … „Ich halte es nicht für gut, daß man das Bedürfnis hat, den parlamentarischen Einfluß, den man erstrebt und den wir ja gerne den Parlamenten gönnen, vorzugsweise an der Armee zu üben, während mannigfache andere Felder bleiben, um ihn zu üben … „Wenn diese Einrichtung, die Bundesarmee, vorläufig diejenige Basis, die am vollständigsten ausgebildet ist, diejenige Basis, die wir am unentbehrlichsten brauchen, durch ein jährliches Votum in Frage gestellt werden sollte, meine Herren, es würde mir das … den Eindruck eines Deichverbandes machen, in dem jedes Jahr nach Kopfzahl, auch der Besitzlosen, darüber abgestimmt wird, ob die Deiche bei Hochwasser durchstochen werden sollen oder nicht … 241

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„Jedenfalls … brauchen wir in dieser Beziehung ein unantastbares Ueber­ gangsstadium, bis wir organisch in Fleisch und Blut miteinander verwachsen sind, und dieser Gedanke wird auch, wie ich glaube, von einem großen Teil der strengeren Konstitutionellen, die aber das Zustandekommen der Sache wollen, nicht angefochten.“ … In den folgenden Verhandlungen des Reichstags sind heute noch von besonderem Interesse die Beschlüsse über das allgemeine Wahlrecht. Bismarck hat dasselbe im Jahr 1849 (siehe oben S. 42 f.) als schädlich bezeichnet, später aber für annehmbar erachtet und schon 1863 in den gegen Oesterreichs Bundesreformprojekt gerichteten Vorschlägen des preußischen Staatsministeriums zur Geltung gebracht. In zwei Erlassen an Graf Bernstorff (vom 8. Oktober 1863 und 19. April 1866) verteidigte er gegenüber den Bedenken englischer Minister das allgemeine Stimmrecht. In dem letzteren Erlasse heißt es: „Ich darf es wohl als eine auf langer Erfahrung begründete Ueberzeugung aussprechen, daß das künstliche System indirekter und Klassenwahlen ein viel gefährlicheres ist, indem es die Berührung der höchsten Gewalt mit den gesunden Elementen, welche den Kern und die Masse des Volkes bilden, verhindert. In einem Lande mit monarchischen Traditionen und loyaler Gesinnung wird das allgemeine Stimmrecht, indem es die Einflüsse der liberalen Bourgoisieklassen beseitigt, auch zu monarchischen Wahlen führen, ebenso wie in Ländern, wo die Massen revolutionär fühlen, zu anarchischen. In Preußen aber sind 9/10 des Volkes dem Könige treu und nur durch den künstlichen Mechanismus der Wahl um den Ausdruck ihrer Meinung gebracht. Die Träger der Revolution sind die Wahlmänner-Kollegien, welche der Arbeit der Umsturzpartei ein über das Land verbreitetes und leicht zu handhabendes Netz gewähren, – wie es 1789 die Pariser électeurs gezeigt haben. Ich stehe nicht an, indirekte Wahlen für eins der wesentlichsten Hilfsmittel der Revolution zu erklären, und ich glaube, in diesen Dingen praktisch einige Erfahrungen gesammelt zu haben.“ Ohne Frage hat bei Bismarcks Entscheidung für das allgemeine W ­ ahlrecht der Gedanke mitgewirkt, daß die Aufbietung der g a n z e n Volkskraft gegen auswärtige Feinde nötig werden könnte69; aber auch ohne diesen gewichtigen Beweggrund würde er, wie ich glaube, damals indirekte oder nach Steuern klassifizierte Wahlen abgelehnt haben. Entschiedenen Widerwillen gegen das preußische Wahlgesetz, welches 1862 ungefähr 97 % Opponenten ­geliefert hatte, pflegte er in jenen Jahren bei sich darbietenden Anlässen auszusprechen. 69 Gedanken und Erinnerungen II. S. 58.

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Graf Eulenburg und andere Minister teilten seinen Glauben an die Ersprießlichkeit des allgemeinen Wahlrechts nicht; die Majorität des Staatsministeriums aber fügte sich seinem Wunsche, 1863 wie 1866. Bei den Ende März 1867  im Reichstage stattfindenden Verhandlungen gaben die meisten Redner, auch der liberalen Parteien, schweren Bedenken gegen das allgemeine Wahlrecht Ausdruck. Die durch den Antrag Fries hineingebrachte Geheimhaltung der Stimmabgabe wurde sogar von Windthorst bekämpft70. Bismarck hat die Heimlichkeit der Wahl damals nicht ausdrücklich abgelehnt, in späteren Jahren aber als undeutsch und verwerflich bezeichnet71. Schließlich wurde das allgemeine und geheime Wahlrecht mit großer Majorität angenommen. Mehrere Mitglieder haben jedoch später eingestanden, daß sie nur, um Bismarck entgegenzukommen und das ganze Verfassungswerk nicht zu gefährden, ihre Bedenken unterdrückt und dafür gestimmt haben; von einer großen Zahl anderer darf man, nach den Reden der Führer zu schließen, das Gleiche vermuten. Wegen der Heeresorganisation gab es in den ersten Wochen des April noch ein kleines Nachspiel zu den Kämpfen der Konfliktszeit. Da aber die im Westen grollenden Gewitterwolken bedenklich machten, an den bewährten Heereseinrichtungen zu rütteln, einigte man sich über den Antrag Forckenbeck, welcher die bestehende Organisation als rechtsbeständig bis zum Jahre 1871 anerkannte. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes erhielt am 17. April allseitige Zustimmung. Keiner der 22 deutschen Landtage hat gewagt, sie anzufechten; am 1. Juli erhielt sie Gesetzeskraft. Diese Verfassung – über dem Reichstag ein Bundesrat mit sowohl legislativen wie administrativen Befugnissen; statt mehrerer verantwortlicher Minister ein allein verantwortlicher Kanzler; und ein mit der Vertretung nach außen betrauter Kriegsherr  –, diese Verfassung wurde zwar vielseitig bemängelt, weil sie in keines der bekannten Systeme paßte; die Erfahrung hat aber in mehr als dreißig Jahren erwiesen, daß die von Bismarck ersonnenen Formen der Machtverteilung die Fürsten wie die Volksstämme des Bundes in fester Einigung zusammenzuhalten geeignet sind.

* * * 70 Stenogr. Berichte des Norddeutschen Reichstags, S. 425. 71 Gedanken und Erinnerungen II. S. 425.

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Während der Dauer der Reichstagssession schien das Schicksal von Luxemburg mehrmals den Frieden zu bedrohen. Seit 1815 gehörte dieses durch Personalunion mit den Niederlanden verbundene Ländchen zum Deutschen Bunde. Der König von Holland wurde daher Mitglied desselben, die Festung Luxemburg aber Bundesfestung. Durch einen von den Großmächten genehmigten Vertrag mit Holland übernahm Preußen, die Besatzung der Festung zu stellen. Nach Auflösung des Deutschen Bundes wurde nun der König der Niederlande nicht eingeladen, an der Gründung des Norddeutschen Bundes teilzunehmen. Die Festung Luxemburg blieb daher außerhalb desselben und verlor die Eigenschaft einer Bundesfestung. Damit fiel der Grund weg, welcher ehemals eine preußische Besatzung dorthin geführt hatte, doch blieb die von den Großmächten genehmigte Vertragspflicht Preußens bestehen. In Paris gedachte man nun, das nicht mehr zu Deutschland gehörige Ländchen zu erwerben, als erste Etappe zur Annexion Belgiens. Schon vor der Abreise Bismarcks nach Putbus sprach Benedetti von der Nützlichkeit eines französisch-norddeutschen Offensiv- und Defensivbündnisses, wobei Luxemburg als eine kleine Kompensation für die preußischen Annexionen, die französische Erwerbung Belgiens aber als Gegenwert für den Eintritt der Südstaaten in den Norddeutschen Bund zu gelten hätten. Preußen, meinte er, möge mit Holland wegen Abtretung Luxemburgs an Frankreich verhandeln. Bismarck glaubte diese überraschenden Vorschläge nicht sogleich schroff ablehnen zu dürfen. Er erwiderte jedoch, der König würde sich schwerlich zu einem Bündnis entschließen, welches von ganz Europa als eine Kriegsdrohung aufgefaßt werden dürfte. Eine Verhandlung mit Holland wegen Abtretung Luxemburgs an Frankreich zu beginnen, sei wegen der empfindlichen öffentlichen Meinung Deutschlands für Preußen unmöglich; doch könne man vielleicht geschehen lassen, was Frankreich direkt in Luxemburg und im Haag erreichen würde. Im Dezember kam Benedetti auf die erwähnten Vorschläge zurück. Im Januar teilte ihm Bismarck mit, daß der König einem Offensivbündnis abgeneigt sei und nur vielleicht zur Neutralität, im Falle Frankreich gegen Belgien vorginge, sich entschließen würde. Das Allianzprojekt trat daher in den Hintergrund, in Luxemburg aber begannen französische Agitationen, im Haag Verhandlungen. Am 18. März wurde bei der ersten Erwähnung der Lage Luxemburgs im Reichstage auf die Möglichkeit hingewiesen, daß süddeutsche Staaten sich mit Frankreich verbünden könnten. Dadurch fand Bismarck sich bewogen, die für den Kriegsfall mit den Süddeutschen geschlossenen Verträge sofort 244

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publicieren zu lassen. Von Benedetti hatte er kurz vorher erfahren, daß diese Verträge dem Kaiser Napoleon und einigen Vertrauten des Hofes bereits bekannt wären. Der unabhängigen politischen Welt von Paris aber bereitete ihre Publikation eine peinliche Ueberraschung. Die Presse ließ es nicht an Drohungen fehlen. Bismarck hielt bei seinen Besprechungen mit Benedetti über Luxemburg stets an dem Satze fest, „wir könnten vielleicht geschehen lassen, ohne einzugreifen, aber niemals ausdrücklich zustimmen“. Und nur, wenn Holland und die Großmächte – als deren Mandatar Preußen die Besatzungspflicht übernommen habe – ihr Einverständnis erklärten, würde der König die Zurückziehung der Besatzung befehlen. Diese Erklärungen fanden jedoch in Paris wenig Beachtung. Die Verhandlungen im Haag machten solche Fortschritte, daß der König der Niederlande, obwohl der Abtretung Luxemburgs abgeneigt, dem Kaiser Napoleon schriftlich mitteilte, er wolle das Land gegen angemessene Entschädigung an Frankreich überlassen, w e n n P r e u ß e n z u s t i m m e . Napoleon schickte hierauf nach dem Haag einen abschließenden Vertragsentwurf mit der Erklärung, für Preußens Zustimmung werde er sorgen. Die Unterzeichnung sollte am 31. März stattfinden, erlitt aber einen Aufschub dadurch, daß der luxemburgische Minister nicht anwesend war. Inzwischen hatte Bismarck darauf Bedacht genommen, durch Beant­ wortung einer mit Bennigsen verabredeten Interpellation im Reichstage die aufgeregten Gemüter zu beruhigen. Das sollte am 1. April geschehen. In dem Augenblicke, als er ausgehen wollte, erschien Benedetti, gratulierte zum Geburtstage und kündigte eine wichtige Mitteilung an. Bismarck erwiderte, er habe für neue Geschäfte jetzt keine Zeit, weil er im Reichstage eine Interpellation wegen Luxemburg beantworten müsse, und lud Benedetti ein, ihn dorthin zu begleiten. Sie gingen zusammen durch den Garten des Auswärtigen Amtes und um die Mauern der benachbarten Gärten herum nach dem Leipziger Platz, in dessen Nähe das damalige Reichstagsgebäude lag. Auf diesem kurzen Wege sagte Bismarck ungefähr Folgendes: „Bennigsens Interpellation lautet: Was ist der Regierung über die angebliche Abtretung Luxemburgs an Frankreich bekannt? Und ist sie fest entschlossen, auf jede Gefahr dieses deutsche Land bei Deutschland zu behalten? „Ich denke zu antworten, der Regierung sei allerdings bekannt, daß solche Verhandlungen im Haag schweben. Der König der Niederlande habe über unsere Auffassung der Sache angefragt. Unsere Antwort habe dahin gelautet, zunächst wären wohl die anderen Großmächte zu befragen; auch müßten wir auf die öffentliche Meinung in Deutschland Rücksicht nehmen. 245

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Ob nun im Haag ein Vertrag abgeschlossen worden oder nicht, sei uns unbekannt. Ich sei deshalb zurzeit nicht in der Lage, auf die zweite Frage mit Ja oder Nein zu antworten, glaube aber, daß keine fremde Macht zweifellose Rechte deutscher Staaten beeinträchtigen werde. „Auf diese Weise kann der Anlaß zu einem Bruch vermieden werden; wenn ich aber sagen müßte, ich wisse, daß ein Abtretungsvertrag geschlossen sei, dann wäre bei der hochgradigen Erregung der Gemüter im Reichstage eine Explosion zu erwarten, deren Folgen verhängnisvoll werden könnten.“ Bei diesen Worten waren sie an der Thüre des Reichstagsgebäudes angekommen. Auf Bismarcks Frage, „wollen Sie mir bei dieser Sachlage jetzt noch eine kurze Mitteilung machen“, antwortete Benedetti: „Nein“. So erzählte der Minister den Hergang im Laufe des 1. April. Bennigsens kernige und schwungvolle Rede wurde von stürmischem Beifall des ganzen Hauses begleitet. Bismarcks Antwort hielt sich in dem oben angedeuteten Rahmen und, obwohl er durchblicken ließ, daß ein unanfechtbares Recht Preußens auf militärische Besetzung von Luxemburg nicht existiere, wurden seine Erklärungen doch beifällig begrüßt. Eine Besprechung der Interpellation fand nicht statt. Im Haag machte nun ein Zeitungstelegramm über diese Reichstagssitzung den Eindruck, daß Preußen der Abtretung von Luxemburg keinesfalls zustimmen würde. Der König war froh, erklären zu können, daß er den Vertrag nicht genehmige, da die gestellte Bedingung nicht erfüllt sei. In Paris war man natürlich erbittert. Rüstungen wurden angeordnet. Bald darauf erschienen dort Agenten des Königs Georg mit dem Erbieten, im Kriegsfalle eine hannöversche Legion von 20.000  Mann zu bilden. Am 18. April befahl Marschall Niel die Einberufung aller beurlaubten Offiziere und Unteroffiziere sowie Musterung der Reservisten in ganz Frankreich. Auf Vorschlag Rußlands wurde jedoch eine Konferenz der Großmächte nach London berufen, welche am 11. Mai den Frieden sicherte durch Beschlüsse über Neutralisierung Luxemburgs, Abzug der preußischen Besatzung und Schleifung der Festung. In einer besonderen Klausel wurde das Recht L ­ uxemburgs zu selbständigem Abschluß von Zollverträgen anerkannt und dadurch das Verbleiben dieses Landes im Deutschen Zollverein gesichert. In den Tagen vom 18.‒24. April war Bismarck von Berlin abwesend wegen Besichtigung der in Hinterpommern belegenen Herrschaft Varzin, durch deren Ankauf er bald darauf das ihm vom Landtage zuerkannte Dotationskapital angelegt hat. 246

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Am Tage seiner Rückkehr fuhr ich ihm entgegen bis zu der ungefähr eine Eisenbahnstunde von Berlin entfernten Station Angermünde, um ihm über die neuesten Eingänge Vortrag zu halten. Als ich in seinen Wagen stieg, war er vertieft in Erinnerungen an das Städtchen Angermünde und dessen Umgegend. „Hier“, sagte er, „war vor vielen Jahren mein Schwager Arnim Landrat, noch als Junggeselle. Wir hatten zusammen Reisen gemacht und waren sehr gute Freunde. Von Angermünde aus fuhr ich mehrmals mit ihm über die Oder nach seinem schönen Wiesen- und Waldgute Raduhn, das er später an Neumann72 verkaufte, weil es von Kröchlendorff zu entfernt lag. Als er mich einmal auf dem Lande besuchte, lernte er meine Schwester kennen. … Er heiratete bald darauf und führte sie zunächst nach Angermünde. Ich fühlte mich tief unglücklich, als meine heißgeliebte Schwester mir entrissen wurde, obgleich Arnim doch mein bester Freund war und obgleich ich diese Heirat als ein großes Glück für beide Teile anerkennen mußte. Die Unvollkommenheiten der menschlichen Dinge, die engen Schranken alles menschlichen Glücks, kamen mir da zum ersten Mal recht lebhaft ins Bewußtsein.“ Nach einer Pause berichtete ich über die auffallenden französischen Rüstungen und erwähnte die – ihm natürlich bereits bekannten – Ansichten Moltkes, daß wir mit dem Zündnadelgewehr den französischen Vorderladern weit überlegen sein würden, daß Fortdauer unserer Besatzung von Luxemburg wünschenswert und daher Aufnahme der französischen Herausforderungen zu empfehlen sei. Der Minister unterbrach mich nicht und sagte dann kühl: „Nein. Luxemburg ist nicht mehr Bundesfestung, unser Besatzungsrecht daher anfechtbar. Wenn die Großmächte uns von der Garnisonspflicht entbinden und das Ländchen neutralisieren, kommen wir ohne Schaden an der Ehre aus der Sache heraus. Man darf nicht Krieg führen, wenn es mit Ehren zu vermeiden ist; die Chance günstigen Erfolges ist keine gerechte Ursache, einen großen Krieg anzufangen.“

* * * Im Laufe dieses Jahres entwickelte sich ein Zerwürfnis mit Savigny. Als er im Herbst 1866 nach Berlin kam, gefiel mir sein ebenso sicheres wie bescheidenes Auftreten. Einmal sagte er: „Mein Vater war ein sehr aus72 Herr von Neumann, Besitzer der Rittergüter Hanseberg und Raduhn im Kreise Königsberg-­ Neumark.

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gezeichneter Mann; d a s b i n i c h n i c h t ; aber ich gehe meinen geraden Weg und bemühe mich, die Kräfte, die Gott mir geschenkt hat, nützlich zu verwenden.“ Im Januar kam er in die Lage, bei Verhandlungen über den Bundesverfassungsentwurf Bismarck zu vertreten. Er dachte sich in die Stellung des künftigen Bundeskanzlers hinein und sagte mir einmal: „Ich glaube, es wäre nützlich, mich dereinst zum Bundeskanzler zu ernennen. Die tiefe Verstimmung vieler guten Katholiken über die Verdrängung ­Oesterreichs aus Deutschland und über die großen Annexionen würde gemildert w ­ erden durch Berufung eines Katholiken an die Spitze des neuen Bundes.“ Als ich dies dem Minister amtlich vortrug, bemerkte er: „Ich halte diese Gedanken nicht für richtig. Ich kenne Charles Savigny seit der Jugend als einen braven, ehrlichen Menschen, aber er hat das Unglück gehabt, sich immer in privilegierten Stellungen zu befinden und das Erwerbsleben, auf dessen Entwickelung es jetzt wesentlich ankommt, sehr wenig kennenzulernen. Sein Geist bewegt sich in gewissen formellen Geleisen. In der Ausführung genauer Instruktionen wird er immer korrekt verfahren, aber neu auftauchenden Fragen gegenüber wird er öfters versagen. Seine Vorarbeiten für die Bundesverfassung ließen viel zu wünschen übrig, und daß er der Leitung der Bundesgeschäfte auf die Dauer gewachsen sein würde, kann ich nicht glauben. Wenn er meint, daß Gegner wie Mallinckrodt und Windthorst durch sein Präsidieren des Bundesrats versöhnt werden könnten, so ist das eine Illusion. Ich sehe auch voraus, daß er als Bundeskanzler selbständigen Vortrag beim Könige beanspruchen würde; das ginge aber nicht neben mir, denn zwei Personen dürfen nicht in denselben Sachen ständigen Immediatvortrag halten.“ Ich fragte, ob es nicht ratsam sei, Savigny anzudeuten, daß sein Zukunftstraum sich nicht verwirklichen werde. Der Minister erwiderte: „Nein. Nach einer solchen Mitteilung würde ­Savigny beharrlich versuchen, mich von der Unrichtigkeit meiner Ansichten zu überzeugen. Personalfragen dieser Art sind nicht diskussionsfähig. Die Sache muß sich entwickeln, wie ihre Natur es mit sich bringt.“ Bald darauf äußerte Savigny zu mir: „Bismarck hüllt sich in Schweigen über meine künftige Stellung; wahrscheinlich will er selbst Bundeskanzler werden. Aber warum sagt er mir das nicht offen? Wir sind doch alte Freunde, und ich habe ihm manchen Dienst geleistet.“ Daß in der folgenden Zeit zwischen beiden eine Besprechung der Frage stattgefunden hat, kann ich nicht annehmen. Bismarck war viel abwesend, 248

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im April in Pommern, Anfang Juni in Paris, vom 22. Juni bis Anfang ­August in Pommern. Am 14. Juli unterzeichnete der König in Ems die Ernennung des Ministerpräsidenten zum Bundeskanzler. In der letzten Woche des Juli brachte eine Berliner Zeitung unfreundliche Bemerkungen über Savigny. Darauf erwähnte die Norddeutsche Allgemeine Zeitung, derselbe habe „zurzeit nur wegen s a c h l i c h e r Meinungsverschiedenheiten die ihm zugedachte Mitwirkung bei den Arbeiten des Bundesrates nicht übernehmen können“. Am 3. August aber brachte – ohne daß ich eine Ahnung davon hatte – der Staatsanzeiger die Erklärung, daß diese Mitteilung der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung „unrichtig“ sei. An demselben Tage reiste der Minister, von mir begleitet, nach Ems. Am 4. schrieb mir Herr von Thile dorthin, ein Freund Savignys melde, daß dieser sich tief verletzt fühle; das sei so natürlich als bedauerlich, auch wegen der Rückwirkung der ihm widerfahrenen Kränkung auf gutgesinnte katholische Kreise. Ein diplomatischer Posten, welcher Savigny eine seinen Gewohnheiten entsprechende Beschäftigung hätte geben können, war leider nicht verfügbar. In den nächstfolgenden Jahren soll er, seiner Herzensneigung folgend, sich ultramontanen Bestrebungen mehr und mehr genähert haben, bis er 1871 zur Bildung des Centrums mitzuwirken in die Lage kam.

* * * Nach Lösung der Luxemburger Verwickelung faßte Bismarck eine Neugestaltung des Zollvereins ins Auge. Die Zollverträge wurden gekündigt und Bevollmächtigte aller beteiligten Staaten, auch Luxemburgs, zu Beratungen über neue Verträge auf den 3. Juni nach Berlin eingeladen. Am 29. Mai ließ der Minister mich rufen und sagte: „Dem Bundeskanzler sind durch die Verfassung mannigfaltige Geschäfte der Bundesverwaltung zugewiesen, welche bald eine solche Ausdehnung erhalten werden, daß sie von den Arbeitskräften des Auswärtigen Amtes nicht bewältigt werden können. Es muß eine eigene Behörde dafür geschaffen werden, ein Bundeskanzleramt. Der Leiter dieser Behörde muß natürlich meinen Instruktionen folgen; er kann daher keine Ministerstellung erhalten und mag vielleicht Präsident genannt werden. Suchen Sie mir nur für diesen Posten einen Mann – womöglich von bürgerlicher Herkunft –, der in Zoll- und Handelssachen vorzugsweise erfahren ist.“ Ohne Zögern erwiderte ich: „Der Mann scheint mir gegeben: Delbrück. Mit ihm könnte in diesen Fächern schwerlich ein anderer konkurrieren.“ 249

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„Richtig,“ bemerkte der Minister, „ich werde an ihn denken.“ An demselben Tage wurde in der Kanzlei ein Versehen begangen, welches dem Minister einen heftigen, gesundheitsgefährlichen Aerger zuzog. Ich ­erlaubte mir, daran zu erinnern, daß er im Oktober 1865  im Hofgasteiner Thal gesagt hätte, wenn er einen preußischen Oberpräsidenten in Kiel erlebte, würde er sich nie mehr über den Dienst ärgern. „Das war allerdings eine sehr leichtsinnige Aeußerung,“ sagte er. „Uebrigens ist es für das ganze Räderwerk nützlich, wenn ich mich mitunter ärgere; das gibt stärkeren Dampf in die Maschine.“ Die preußischen Vorschläge brachten zunächst Beseitigung des liberum veto jedes einzelnen Staates, welches aus der alten Bundesverfassung in die Zollvereinsverträge übernommen worden war und jeden Fortschritt der Zollgesetzgebung innerhalb der langen Vertragsperioden verhindert hatte. Sodann sollte die Gesetzgebung in Zollsachen übertragen werden an den durch süddeutsche Mitglieder zu verstärkenden Bundesrat in Gemeinschaft mit einem Zollparlament; Letzteres würde bestehen aus dem Norddeutschen Reichstag nach Hinzutreten von Abgeordneten der süddeutschen Staaten, die nach demselben Wahlgesetz gewählt wären. Nach kurzer Beratung reisten die Bevollmächtigten nach Hause, um Instruktionen zu holen, kehrten aber vor Ende des Monats zurück und unterzeichneten am 8. Juli die neuen Zollvereinsverträge. Irgendeine Erweiterung der Kompetenz der Zollgesetzgebungsbehörden auf andere Gebiete des staatlichen Lebens war mit keinem Worte in Anregung gebracht worden.

* * * Zum Besuche der Pariser „Weltausstellung“ hatte der Kaiser Napoleon die anderen Souveräne eingeladen. Ende Mai kam Kaiser Alexander, vom Fürsten Gortschakoff begleitet, nach Potsdam und reiste dann weiter nach Paris. Am 6. Juni begab sich der König dorthin. In seinem Gefolge befanden sich der Ministerpräsident, Graf Karl Bismarck und ich. Politische Geschäfte waren in Paris nicht zu erledigen. Marquis ­Moustier schien verstimmt gegen Bismarck und gab ihm zu Unterhaltungen über die Verhältnisse beider Länder keine Gelegenheit. Nur mit Rouher besprach der Chef die Lage von Deutschland, entwickelte, wie der Abschluß neuer Zollvereinsverträge den Nachbarn keinen Anlaß darbieten könnte, sich verletzt zu fühlen, und wie die Stimmungen in den Südstaaten es uns leicht machten, die französische Empfindlichkeit nach Möglichkeit zu schonen. ­Gortschakoff vertrat Moustier gegenüber dieselben Ansichten. 250

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Bei verschiedenartigen glänzenden Festen empfingen der Kaiser Napoleon und die schöne Kaiserin ihre hohen Gäste mit wohlthuender Herzlichkeit. Der König und Bismarck wohnten in den Tuilerien, die Offiziere und Beamten des Gefolges waren in der Stadt angenehm einquartiert. Wir hatten aber an jedem Vormittag in den Tuilerien an der „Marschallstafel“ zum Frühstück zu erscheinen, an welcher auch die zum Ehrendienst bei Seiner Majestät kommandierten französischen Offiziere teilzunehmen pflegten. Mit diesen plauderte Bismarck in liebenswürdigster Weise und fand besonderes Wohlgefallen am täglichen Verkehr mit dem Marschall Vaillant. Derselbe sagte nach einigen Tagen zu ihm: „Savez-vous, Comte, que vous faites à nous autres une impression superbe? Tont le monde dit: vraiment, c’est un bon bougre.“ Bei Longchamps war eine große Parade über etwa 40.000 Mann, zu deren Abnahme der König die 1866 bewährte Rappstute Sadowa bestieg. Das Gefolge erhielt natürlich sehr gute Pferde aus dem kaiserlichen Marstall. Am folgenden Morgen gab beim Frühstück Bismarck seiner Bewunderung der schönen Truppen lebhaften Ausdruck. Darauf sagte der liebenswürdige Marschall: „Merci bien, Comte. Tont cela est bel et bon; mais vous autres, vous êtes devenus trop grands vis-à-vis de nous. Il faut qu’un jour nous croisions l’épée.“ Bismarck erwiderte lächelnd: „Eh bien, croisons!“ ‒ Die frohen Festtage rauschten schnell vorüber. Erst nach einer Woche (am 14.) kamen wir wieder in Berlin an. Die Gräfin Bismarck war vorher mit den Kindern auf einige Tage nach Kreppelhof in Schlesien gereist, dem Wohnsitze des Grafen Eberhard Stolberg. Von dort schrieb sie am zweiten Pfingsttage nach Paris. „Möge Ihnen beiden sehr viel Nettes beschert werden, lieber Herr von ­Keudell, Ihnen für den hübschen Brief, Carl für die 4 Depeschen, die meine begehrliche Seele wunderbar erquickt haben und sie auf ihre alten Tage in eine zarte Schwärmerei für den aufmerksamen Vetter zu begeistern drohen! Sein Lob erschallt täglich, weil die Telegrämmer mich so hübsch über Gesundheit und Glücklichfühlen meines nächsten großen Freundes au fait erhielten … „Wann Sie wieder in Berlin zu sein gedenken, verschweigen Sie, vielleicht wird der Aufenthalt in Paris verlängert  – welchem Beispiel wir hier leider nicht folgen können, da übermorgen früh um 8 der zur Demüthigung und Qual der Jungen erfundene Stall wieder eröffnet wird, in dem meine lieben ­Rangen nicht fehlen dürfen  … So müssen wir morgen Abend wieder von dannen ziehn, mit schwerem Herzen, weil’s hier über die Begriffe herrlich ist und so lieb, daß man niemals dies reizende Fleckchen Erde mit den allerbesten Menschen darauf verlassen möchte. Gestern sind wir in Fürstenstein 251

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gewesen – wirklich das „Großartigste, was man in dieser Richtung“73 sehen mag. Ich war ganz verzückt über den Blick vom Balkon des Schlosses und vom „Riesengrab“ in die tiefe, wilde Waldschlucht. Dies dunkle und helle Waldesgrün mit den bezaubernden blauen Berglinien am Horizont ist unbeschreiblich  … Aber wohnen möchte ich doch lieber in Kreppelhof, welches mir im Herzen wohlthut wie geliebte Heimathsluft.“…

* * * Am 22. Juni ging Bismarck auf Urlaub nach Pommern, zuerst zu seinem Bruder nach Külz, dann nach Varzin. Die Gräfin blieb mit den Kindern bis zum Beginn der Schulferien in Berlin. In diesen Wochen begannen Pariser Zeitungen die nordschleswigsche Frage im deutschfeindlichen Sinne zu behandeln. Die Bestimmung des Prager Friedens, daß in einigen Distrikten von Nordschleswig die Bevölkerungen befragt werden sollten, ob sie Rückabtretung an Dänemark begehrten, diese Bestimmung war allerdings von Napoleon gewünscht worden. Frankreich hatte aber den Vertrag nicht mit unterzeichnen wollen; auf Ausführung einzelner Bestimmungen desselben zu bestehen, war daher nur Oesterreich kompetent. In Nordschleswig hatte man sich nun überzeugen müssen, daß eine geographisch genaue Sprachgrenze nicht existierte und daß es unmöglich sein würde, dänisch redende Gemeinden abzutreten, ohne gleichzeitig deutsche Gemeinden oder Individuen zu verlieren. Unsererseits wurde daher angefragt, ob die dänische Regierung Bürgschaften dafür geben könne, daß die deutschen Einwohner etwa abzutretender Bezirke nicht ähnliche Bedrückungen erleiden würden wie in den Jahrzehnten vor dem Kriege von 1864. Die dänische Antwort lautete dahin, daß bei dem Wohlwollen der Regierung es besonderer Garantien nicht bedürfe. Unser Gesandter kam daher in Bismarcks Auftrage auf die Sache zurück und richtete durch eine ausführlich begründete Note vom 18. Juni an die dänische Regierung die Frage, ob sie sich imstande glaube, „Einrichtungen zu treffen und Maßregeln in Aussicht zu stellen, welche für den Schutz und die Sicherung der nationalen Eigentümlichkeit der in den etwa abgetretenen Gebietsteilen einzeln oder in Gemeinden wohnenden Deutschen bestimmte Bürgschaften geben würden.“ Von diesen Vorgängen erhielt man natürlich in Paris Kenntnis. Die dortige Presse erging sich in Anklagen gegen Preußens angeblichen ­Vertragsbruch. Auf derartige Zeitungsartikel bezieht sich der erste der folgenden Briefe 73 Eine von Herrn Bleichröder öfters gebrauchte Redewendung.

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des Ministerpräsidenten an mich aus Varzin74, wo ihm damals keine Schreibehilfe zu Gebote stand. ­… „Ich wollte Thile gestern noch schreiben und bitte ihm und Abeken zur Benutzung in Ems75 zu sagen, daß wir nach Frankreich zu aus unserem Walde mindestens ebenso scharf hinausschreien müssen, als man von dort zu uns hereinschreit. Goltz muß angewiesen werden, kühl und verstimmt auf alle danica zu antworten, und die Zeitungen müssen sich von den Französischen nichts bieten lassen, sondern kühl und kampfbereit antworten. Gegen Dänemark noch schärfer; und in Düppel und Marine ostensibel rüsten. Nur keine Schüchternheit  … Wenn die französischen Zeitungen uns angreifen, so muß man die D e f e n s i v e unsrerseits weniger accentuieren. Entweder ignoriren und lächerlich machen oder a n g r e i f e n . Letztres, indem man die ganze imperialistische Politik tadelt, Kladderadatsch hetzt, Polen, Italien, Mexiko gegen Dänemark ins Feld führt, Goltz vorher davon avertiert. Die Dänenartikel der französischen Blätter sind ganz ersichtlich inspirierte, und wir dürfen nicht mit Sammetfingern auf diese Stacheln antworten. Luxemburg war das Aeußerste unserer Friedfertigkeit, ist der Friede damit nicht gesichert, dann ist er nicht zu halten, und wir können auch in den deutschen Fragen das in Paris besprochene System des „schonenden“ Vorgehens nicht weiter innehalten. Es hilft uns dann nichts. Ich finde es hier reizend und komme nicht eher, als bis Se. Maj. es befiehlt. Haben wir hier Aussicht auf Ihren Besuch? Die in Cöslin nicht angelangten Möbel muß meine Frau sofort mit Laufzettel verfolgen und treiben. Der Ihrige v. B.“ Varzin, 10. Juli 67.

„Verehrter Freund! „Sollten Sie, Carl oder sonst wer mich hier noch besuchen wollen, so wäre es an der Zeit. Denn, wenn meine Frau, wie ich befürchte, nicht herkommt, so halte ich es bei diesem Wetter hier als Zuschauer des Regens und des Wachsthums der Bäume nicht sehr lange mehr aus. Der Ihrige v. B. Bitte Einlage an D.“ 74 Das Blatt, auf welchem das Datum gestanden haben mag, fehlt. Vermutlich war es der 6. oder 7. Juli. 75 Der König beabsichtigte, in der zweiten Woche des Juni zu einer längeren Brunnenkur in Ems einzutreffen, wohin Abeken als Vertreter des Auswärtigen Amtes für die ganze Zeit der Kur ­kommandiert wurde.

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Ich konnte melden, daß die Gräfin am 13. nach Varzin abreisen würde. Varzin 12. Jul. 1867. „Wie schon telegr.(aphiert), habe ich mit Kaiser Alexander kein Wort über Armee- oder sonstige innere russische Angelegenheiten gesprochen. Alles derart ist erfunden. A. 307476 erfolgt zurück. 40.000 Pferde ist sehr viel, und wunderbar, daß ihr Tr a n s p o r t gar nicht mehr Aufsehen und Eindruck auf Zeitungen gemacht haben sollte. Ihre Unterhaltung muß 12 bis 15 Millionen Franken jährlich kosten. Wenn sie bei den Bauern in Futter stehen, so ­werden es beim Einstellen keine fertige Gebrauchspferde sein. Die französische ­Regierung würde sich damit nur in denselben Etat einkaufen, in welchem wir uns befinden, d. h. die Disposition über40 000 im Lande arbeitende Pferde in demselben Maße haben, wie wir sie über den ganzen Pferdebestand des Landes üben, in Frankreich also gegen schon erfolgte Vorausbezahlung der 40.000, bei uns gegen Nachbezahlung der ausgehobnen. Nur rechtzeitig d e s i g n i e r e n muß man bei uns die Pferde, die man brauchen kann. 700.000 Mann disponible Truppen ist eine willkürliche Ziffer, wenn es wahr ist, daß Frankreich im September, wie Loë damals meldete, nur 230.000 hatte; wo sollen die 470.000 seitdem entstanden sein? Das Kriegsministerium muß nach den burgschen77 Berichten wissen, was es zu thun hat, um „Schritt“ zu halten. Mir aber machen die Berichte für jetzt einen alarmistischen Eindruck. Ihr v. B. „Der goltzsche Bericht vom 5.  ist conjekturierend im usedomschen Stile. Möglich ist alles. Unsere Hand hat zum Degen nicht weiter als die Frankreichs und die russische nicht weiter als die Oestreichs. Die Erhaltung des. östr. Staates liegt m. E. in unserem Interesse, wenn sie irgend mit unsrer Existenz verträglich bleibt.“

76 Ein Bericht von Goltz über französische Rüstungen. 77 Oberst von Burg war Militär-Attaché bei der Botschaft in Paris.

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Brief von Otto von Bismarck an Robert von Keudell aus Varzin vom 12. Juli 1867

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Die Richtigkeit des Eindrucks, daß die erwähnten Meldungen über französische Rüstungen auf Uebertreibungen beruhten, ist bald nachher bestätigt worden. Wahrscheinlich war Napoleon damals weit entfernt von der ­Absicht, ohne Bundesgenossen einen großen Krieg anzufangen. Infolge des tragischen Untergangs des durch seine Truppen in Mexiko eingesetzten Kaisers Maximilian (Erzherzogs von Oesterreich) machte er dem Kaiser Franz J­oseph einen Kondolenzbesuch in Salzburg (18. August). Fünf Tage verweilten dort die beiden mächtigen Monarchen; zu dem von französischer Seite vielleicht gewünschten Bündnis kam es jedoch schon deshalb nicht, weil Graf Beust das Friedensbedürfnis Oesterreichs betonte. Die Gräfin Bismarck schrieb mir aus Varzin am 15. Juli: ­… „Ihre Rosen blühten und dufteten herrlich auf dem ganzen trüben Regenwege und thun’s noch immer, denken Sie! Herzlichen Dank für die poetische Mitgabe auf den unglaublich prosaischen Weg, über dessen Scheußlichkeit ich jedes Mal von Neuem entsetzt bin. Es ist gar nicht auszusprechen, wie schauderhaft häßlich die ganze Tour sich ansieht; und wenn nun noch Regenund Nebel-Schleier drüber hängen, möchte man rein verzagen. Das arme Pommern! 1 ½ Stunden vor Varzin wird’s erträglich und Varzin selbst ist reizend, richtige Oase in der langweiligen Wüste … Das Haus ist ziemlich scheußlich, ein altes verwohntes Ungethüm mit 10.000 Kammern und Winkeln, schiefen Decken und Fußböden, sodaß man Versenkung und ­Einstürzung auf Schritt und Tritt befürchtet. Vier Zimmer oben und vier unten sind erträglich, alle anderen sind Scheusäler – aber der Park so wunderreizend, wie man selten findet. Solche dicke, kräftige, alte Buchen und Eichen habe ich weder im Harz noch Taunus noch Oden- noch Schwarzwald gesehen. Gott gebe, daß wir ungestört drei Wochen hierbleiben können (Louis wird doch vernünftig sein?) und Bismarck sich recht erholen und ausruhen kann in dieser wunderlieblichen grünen Stille! Donnerstag soll er auf dem Schlawer Kreistag als neuer Stand eingeführt werden und dazu plant man endlose dumme Festlichkeiten, worüber er so leidtragend ist, daß ich mich fortwährend in die allerseligste, ausgelassenste Laune hinaufschrauben muß, um ihm die Gedanken daran zu vertreiben und über diesen – scheinbar unübersteiglichen – Sorgen-Berg hinwegzuhelfen. Die Jungen sind voller Wonne von früh bis spät, das Wetter schön …. Sollte ein Veilchen oder G ­ ustavus dear78 Sehnsucht verspüren, hierherzukommen, so reden Sie nicht ab – einladen aber mag ich keinen, weil der Weg zu lang und scheußlich und der Aufenthalt hier doch wohl nicht so

78 Mit dieser scherzhaften Bezeichnung war Loeper gemeint.

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scherzhaft, wie man sich’s in der P ­ hantasie ausmalen mag. Alexandern79 aber schaffen Sie her und kommen Sie mit! – was macht einem baltischen Einwohner eine Fahrt von zwölf Stunden!“ … Varzin, 20/7. 67. ­… „Möchte der liebe Gott doch endlich die Regenschleusen verschließen und uns mit warmer Sonne und blauem Himmel erquicken, – dann ist es wirklich ganz reizend in Varzin. Aber diese unablässigen Regen-Ueberfluthungen mit ewig grauem Himmel machen alle melancholisch. Bismarck ist auch schon ganz wetterlaunisch, wie er meint, und ärgert sich so viel über Kälte und Nässe, daß er Chelidonium (gegen Galligkeit) nehmen muß. Den Kreistag hat er aber überwunden, mit endlosen Ehrenbezeugungen und einem Diner von 1‒7 Uhr – hinter jedem Gericht ¾-stündige Pause – denken Sie, wie amüsant! – Der Kronprinz hat die liebenswürdige Rücksicht gehabt, ihn gar nicht weiter zu beanspruchen, wie durch einen Brief, der ihm nur Freude machte. Er (Bismarck) billigt Ihre Vice-Kanzler-Ansicht vollkommen und sprach mir schon früher von Delbrück mit viel Vertrauen. Ich bin vor allen Dingen froh, daß es mit Savigny nichts geworden ist, weil ich in seinem Dasein eine unerschöpfliche Quelle von Aerger und Mißhelligkeiten aller Art sah. Sein sehr empfindlicher Brief ist mir gewaltig „Wurscht“ und nur insofern unangenehm, weil er Bismarck eben etwas präoccupiert, der doch hundertmal gutmüthiger ist wie ich. Aber er wird’s wohl überwinden, und wenn wir nur endlich schönes Wetter haben, wird er’s vergessen, hoffe ich.“ … Varzin, 23. „Sie glauben nicht, wie entrüstet Bismarck ist über die babyartige Aengstlichkeit, mit der die Berliner Herren gar keine Verantwortung übernehmen zu können glauben und alles, jeden Quark, herschicken zum Begutachten oder Entscheiden.  … Man liebt doch Bismarck und gönnt ihm Ruhe; die aber kann er hier bei täglicher Depeschenüberschwemmung durchaus nicht haben. – Bitte, helfen Sie, daß diese letzten Tage ohne Aerger hingehen, und steuern Sie alles ab, was kitzlich und ärgerlich ist – wie z. B. der Zank zwischen Roon und Heydt  – und allerlei anderes. Sie kennen ja unseren großen Staats-Schiffer hinlänglich und wissen, was ihn peinigt und was ihm „Wurscht“ ist. … Heute und gestern hat Bismarck sich so viel über die Berliner Sendungen geärgert, daß ich recht in Sorge gewesen und himmelhoch bitte: stop it! – Ueberhaupt hat Varzin trotz aller Schönheit gar nicht so ge79 Graf Keyserling.

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holfen, wie ich gehofft – mir und den Kindern gewaltig, wir sind sehr wohl und frisch geworden –, aber was liegt an uns, er ist doch die Hauptsache.“ …

Angesichts dieses Briefes bestieg ich den nächsten Eisenbahnzug nach Cöslin, wo sich damals eine Fahrt mit Postpferden anschließen mußte. Es schien mir praktischer, in Varzin auf der Post alle dienstlichen Eingänge in Empfang zu nehmen und ohne Störung des Chefs zu erledigen, als verschiedene hochgestellte Absender – vielleicht vergeblich – durch Warnungen zu langweilen. Um Mitternacht kam ich in Varzin an, ließ den Postillon nicht blasen, und schlief einige Stunden im Stall, um die Ruhe des Hauses nicht zu stören. Bei herrlichem Sonnenaufgang genoß ich dann einsam die eigentümlichen Schönheiten des im Tau funkelnden Parkes, welcher die vom Wohnhause aus nach zwei Seiten sanft ansteigenden Hügel und deren Hinterland bedeckt. Es ist ein von verschlungenen Wegen durchzogener, an kleinen Wiesenflecken reicher, alter Hochwald, der auf einer unübersehbar großen Fläche prachtvolle Buchen auch in bunter Abwechselung mancherlei andere Hölzer enthält, und von Getreidefeldern eingefaßt wird. Beim Frühstück erschien ich mit mehreren verschlossenen Geschäftsbriefen, welche der Chef mir nach Ermessen zu erledigen erlaubte. Bald darauf wurden die Reitpferde gesattelt. Es machte dem Gutsherrn sichtlich Vergnügen, mir die verschiedenartigen Bestände der ausgedehnten Waldungen zu zeigen, die in weitem Bogen von der Wipper durchströmt werden, einem der vielen kurzen und schnellen Flüßchen, welche der Abdachung des hinterpommerschen Landes von Südost nach Nordwest folgen. Die Ackerwirtschaften waren verpachtet, die Wälder aber nicht. Der verwaltende Oberförster mußte fast an jedem Abend erscheinen, um die sachkundigen Instruktionen des Kanzlers zu empfangen. Das nach der Gewohnheit früherer Jahrhunderte nicht auf einem Aussichtspunkte, sondern an windgeschützter Stelle erbaute Wohnhaus erschien mir behaglicher, als ich es nach der Schilderung der Gräfin vermutet hatte. Namentlich gefiel mir der Gartensaal, in welchem ein Billard und ein Flügel stand. Dort pflegte der Chef abends zu rauchen, den Oberförster abzufertigen und Zeitungen zu lesen. Wenige Tage nach meiner Ankunft hatte ich ein Schreiben des Herrn Handelsministers zu eröffnen, welchem eine kurze Denkschrift des Ministerialdirektors Delbrück über die Gestaltung des künftigen B ­ undeskanzleramtes beilag. Der Kanzler hatte sich nach seiner – Mitte Juli erfolgten – Ernennung, um Delbrück zu gewinnen, zunächst an dessen Vorgesetzten gewandt und erhielt nun Auskunft darüber, wie der künftige Präsident die Aufgaben der 261

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neu zu bildenden Behörde auffaßte. In derselben mußten nach der Bundesverfassung heterogene Dinge zusammengebracht werden, nämlich: 1. wirkliche Verwaltung der Post und Telegraphie, der Konsulate und des Bundeskassen- und Rechnungswesens, 2. fortlaufende organisierte Kontrolle über die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsabgaben, 3. Ueberwachung der Ausführung aller auf andere Materien bezüglichen Bundesgesetze80. Bismarck äußerte, schon allein diese kurze und klare Denkschrift erwiese, daß der richtige Mann für die Organisierung und Belebung der buntscheckigen Behörde gefunden sei. Am 2. August reiste der Kanzler nach Berlin zurück und am 3. abends zum König nach Ems. Dorthin nahm er mich mit. Während der 6 Tage seines Aufenthalts in Ems handelte es sich außer den Bundesangelegenheiten hauptsächlich um Milderung einiger in den neuen Provinzen von den Fachministern verfügten korrekten, aber harten Maßregeln. Der König hatte in diesem Sinne wegen des kurhessischen Staatsschatzes schon persönlich eingegriffen, und der Kanzler unterstützte die huldreichen Intensionen Seiner Majestät auch in Bezug auf hannöversche und Frankfurter Fragen. Der Stadt Frankfurt ersetzte der Monarch aus seiner Schatulle ein bedeutendes Kapital, das der Finanzminister ihr entziehen zu müssen geglaubt hatte. Dadurch gelang es, den hochgeschätzten Freiherrn von der Heydt, welcher zurückzutreten beabsichtigte, im Amte zu erhalten. Auf der Rückfahrt von Ems hatte ich das Unglück, dem Kanzler eine schmerzhafte Verletzung an der rechten Hand zuzufügen. Da kürzlich ein welfischer Drohbrief eingegangen war, beobachtete ich auf jedem Bahnhof mit gespannter Aufmerksamkeit die dem Salonwagen nahetretenden Menschen. An der hinteren Schmalseite des Wagens kam man durch die nach außen zu öffnende Thür auf eine bedeckte, aber an den Seiten offene Platte hinaus, von welcher, dicht an der Thür, drei Stufen zum Bahnsteig hinunterführten. Beim Aussteigen in Erfurt faßte der Kanzler, während er auf die erste Treppenstufe trat, mit der rechten Hand die Einfassung der Thür nahe dem Schloß. Das bemerkte ich nicht, als ich dicht hinter ihm ging und in die vor dem Wagen versammelte Menge starrte. Unwillkürlich warf ich hinter mir die Thüre zu, welche mit einiger Wucht auf den Nagel des Mittelfingers 80 So gestalteten sich anfänglich die Geschäftskreise der heute als Reichsamt des Innern fortbestehenden Behörde, welcher im Laufe der Jahre bedeutende Verwaltungen abgenommen, viel zahlreichere neu gebildete aber unterstellt worden sind.

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der eingeklemmten Hand fiel. Es wurde sofort das Nötige beschafft, um die Hand zu kühlen, aber der Schmerz mußte heftig sein, denn der Nagel war mit Blut unterlaufen und wurde allmählich schwarz. Bemerkenswert ist, daß der Kanzler weder im ersten Augenblick des Schmerzes noch auf der langen Rückfahrt noch am folgenden Tage, als der Nagel immer noch schmerzte, auch nur e i n unfreundliches Wort zu mir gesprochen hat. Das Bundeskanzleramt wurde in den verfügbaren Räumen des Staatsministeriums eingerichtet und am 12. August der Ministerialdirektor Delbrück zum Präsidenten desselben ernannt. Am 15. eröffnete der Kanzler die erste Sitzung des Bundesrats in einem Saale des Herrenhauses. Am 16. wurden die Ausschüsse gebildet und dann die Wahlen zum ersten ordentlichen Reichstage auf den 31. August anberaumt. Der König, in seiner Eigenschaft als „Präsidium“ des Norddeutschen Bundes, eröffnete den Reichstag am 10. September. Die Verhältnisse der Fraktionsstärken hatten sich nicht wesentlich geändert. Die beiden konservativen Fraktionen und die Nationalliberalen bildeten zusammen die Mehrheit. Bismarck fand Anlaß zu der Erklärung, daß er als Bundeskanzler die Verantwortlichkeit für alle Anordnungen des Präsidiums nicht nur in Bezug auf alle im Bundeskanzleramte zusammengefaßten Geschäfte übernehme, sondern auch im ganzen Umfange des Auswärtigen Amtes, der Heeres- und der Marineverwaltung. Zu glücklichem Abschluß kam jetzt endlich das im preußischen Landtage viel umstrittene Gesetz über die Verpflichtung zum Kriegsdienste. Auch genehmigte der Reichstag fast einstimmig die neuen Zollverträge und beschloß, infolge gewisser Unsicherheiten in der Haltung des Südens unter Zustimmung Bismarcks nach dem Antrage Braun (mit 177 gegen 26 Stimmen), daß die Zolleinigung nur denjenigen süddeutschen Staaten zu gewähren sei, welche die Rechtsverbindlichkeit der mit Preußen geschlossenen Schutz- und Trutzbündnisse nicht in Frage stellen würden. Das ist jedoch von keinem Staate versucht worden. Auch im Süden gelangten trotz mancher Hindernisse die Zollverträge schließlich zu allseitiger Genehmigung. Die ergebnisreiche erste Session des Reichstages wurde am 28. Oktober geschlossen. Der Norddeutsche Bund war geschaffen und dessen künftige Erweiterung für Zwecke der Zollgesetzgebung gesichert. Am 1. Oktober 1867  kündete die schwarz-weiß-rote Flagge den seefahrenden Völkern die Gründung eines neuen Reiches.

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XI. Parlamentarische Schwierigkeiten mit allen Parteien. Wiederholte Krankheitsanfälle. Stellungnahme zur spanischen Königswahlfrage. Französische Kriegserklärung. Oktober 1867 bis Juli 1870. In einer die Provinz Hannover betreffenden Frage sollte Bismarck erleben, daß die konservative Partei von ihm abfiel. Im Königreich Hannover hatten bei den verhältnismäßig geringen Kosten des Heerwesens aus den reichen Einkünften des Landes Kapitalbestände von rund 34 Millionen Thaler (102 Millionen Mark) erspart werden können, welche für gemeinnützige Zwecke zur Verfügung standen. Dieses Staatsvermögen fiel dem Eroberer zu. Das Land wurde aber durch Einführung der preußischen Militär- und Steuergesetze erheblich stärker belastet als früher. Es war daher natürlich, daß der hannöversche Provinziallandtag den Wunsch aussprach, jene Kapitalbestände für Zwecke der Provinzialverwaltung zurückzuerhalten, und dabei auf eine dem kurhessischen Lande widerfahrene gleichartige Gunst hinwies. Auf persönliche Anregung Seiner Majestät des Königs gab die Staatsregierung die Zusage, einen Teil dieser Mittel für die Selbstverwaltung der Provinz Hannover zu bestimmen. Diese Verheißung wurde im September 1867 öffentlich bekannt und bei den bald darauf folgenden Vorbereitungen zu den preußischen Landtagswahlen von keiner Seite angefochten. Man brachte nun in den Landtag eine hierauf bezügliche Vorlage und verhieß gleichzeitig, daß auch den anderen Provinzen erhebliche Mittel zu Zwecken der Selbstverwaltung würden überwiesen werden. Es handelte sich nach dem von der Regierung genehmigten Antrage Kardorff um Bewilligung von jährlich 500.000 Thalern (1.500.000 Mark) für die Provinz Hannover, also eine Verzinsung der ehemals hannöverschen Kapitalien mit ungefähr 1 ½ %. Nach alledem durfte die Regierung die Genehmigung dieser niedrig gegriffenen Abfindung erwarten. 264

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XI. Parlamentarische Schwierigkeiten mit allen Parteien … Oktober 1867 bis Juli 1870.

Im Abgeordnetenhause wurde jedoch drei Tage lang (vom 4.  bis 6. Februar) heiß darüber gestritten. Man wollte „die alten Provinzen nicht als Stiefkinder behandeln lassen“. Nicht nur die Radikalen, sondern auch viele Altliberale und Konservative opponierten. Bismarck wies in mehreren merkwürdigen Reden darauf hin, daß es den Konservativen nicht wohl anstehe, die Regierung an Erfüllung einer gegebenen Zusage hindern zu wollen, dieselbe Regierung, welche, aus der Partei hervorgegangen, in den Konfliktsjahren das Königtum gestützt und die Partei wesentlich gestärkt habe. Die von der Staatsregierung verheißene, durch kein konservatives Prinzip anfechtbare Zuwendung sei unerläßlich, um der Provinz Hannover den Uebergang aus den gewohnten in die neuen Zustände zu erleichtern, und werde von allen unsern dortigen Freunden dringend befürwortet. Das Staatsministerium sei auch einig darüber, daß dieser Gewährung gleichartige Zuwendungen an die alten Provinzen folgen müßten. Aus der Kette der Regierungspolitik der Versöhnung dürfe dieses Glied nicht herausgerissen werden. Die Partei möge den Ueberschlag ihrer Rechnung etwa dahin ziehen: „Wir gehen im Großen und Ganzen mit der Regierung; wir finden zwar, daß sie ab und zu eine Thorheit begeht, aber doch immer noch weniger Thorheiten als annehmbare Maßregeln bringt; deshalb wollen wir ihr die Einzelheiten zugutehalten.“ Wenn die Regierung in Fragen von nicht prinzipieller Bedeutung auf ­loyale Unterstützung der Partei nicht zählen könne, so würde das Staatsschiff in bedauerliche und gerade den konservativen Grundsätzen nachteilige Schwankungen geraten. Die alten Führer der Partei schwiegen, Blanckenburg war leider auf dem Lande; nur zwei selten gehörte Redner äußerten sich, ohne gründlich auf die Sache einzugehen oder Verständnis für die Gesamtlage zu zeigen. Es ist schwer, zu verstehen, weshalb die Partei den Mahnungen ihres ruhmgekrönten ehemaligen Führers unzugänglich blieb. Allerdings waren in derselben häufig Zweifel laut geworden, ob sie nach der Indemnitätsvorlage und nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts im Norddeutschen Bunde Bismarck noch zu den ihrigen zählen dürfe; und solche Zweifel hatten dadurch Nahrung erhalten, daß er mitunter den erst zu gewinnenden nationalliberalen Führern eingehendere Mitteilungen über seine Absichten machte als den alten Freunden. Es wird aber heute schwerlich bestritten werden, daß es gerade für die konservative Partei ratsam gewesen wäre, ihre Verstimmung auf andere Weise zum Ausdruck zu bringen als durch Opposition gegen die bekannte königliche Zusage an die Provinz Hannover. 265

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Bismarck siegte nur mit der kleinen Majorität von fünf Stimmen dank der Unterstützung der Nationalliberalen und Freikonservativen. Er wurde durch diese Erfahrung tief erschüttert. Fußleiden, Gallenergüsse und Neuralgien im Gesicht traten sofort ein. Er erhielt vom Könige Urlaub auf unbestimmte Zeit und machte davon dem Landtage wie dem diplomatischen Corps Mitteilung, blieb aber in Berlin. Er dachte ernstlich daran, zurückzutreten, „da mit solchen Freunden nicht zu regieren“ sei und da seine Gesundheit derartige Stöße nicht mehr vertrage. Doch hielt ihn die Hingebung für den König im Dienst zurück, daneben der Gedanke, es sei seine Schuldigkeit, für die Fortentwicklung des eben erst geschaffenen Norddeutschen Bundes zu wirken. Das Herrenhaus genehmigte dank freundlichen Einwirkungen des Grafen Eberhard Stolberg mit großer Majorität das Gesetz über den hannöverschen Provinzialfonds und die konservativen Abgeordneten beschlossen bald darauf, von weiterer Opposition abzustehen; aber die Thatsache der Abstimmung des 6. Februar und deren Nachwirkungen waren nicht ungeschehen zu machen.

* * * In diesen geschäftlich weniger belasteten Wochen hörte Bismarck öfters mit Vergnügen einen begnadeten Sänger, den Major von Fabeck, welcher von Breslau nach Berlin versetzt worden war. Ich hatte mit demselben schon in Potsdam, dann in Breslau jahrelang in musikalischem Verkehr gestanden und wir verfügten zuletzt über nicht weniger als 96 Gesangsstücke (Lieder, Balladen und Arien), zu deren Vortrag wir keines Notenblatts bedurften. Fabeck hatte eine volle, biegsame und sorgfältig ausgebildete Baßstimme und sang mit überzeugender Einfachheit. Bismarck hatte Freude an dieser schlichten Kunst und pflegte, wenn er am Arbeitstische die sonore Stimme Fabecks vernahm, in das Musikzimmer zu kommen. Die Berliner Gesellschaft war damals ziemlich reich an guten Dilettanten. Aus Anlaß eines ostpreußischen Notstandes konnte ich im März 1868 ein Konzert veranstalten, in welchem unter anderen mitwirkten: Baronin S­ chleinitz, Gemahlin des damaligen Hausministers, Gräfin Albert Pourtales, Oberhofmeisterin am kronprinzlichen Hofe, Graf Flemming, Gesandter in Karlsruhe, Major von Fabeck und Referendar von Saldern, ein ausgezeichneter Geiger. Das Konzert wurde durch die Gegenwart des königlichen Hofes ausge­ zeichnet; der Saal der Singakademie war überfüllt trotz eines für Berlin unerhört hohen Eintrittspreises. 266

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Vor dem Schluß erschien zu allgemeinem Erstaunen der noch nie in einem Konzert gesehene Bundeskanzler in der wohlbekannten Kürassieruniform, setzte sich zu seinen Damen und hörte einer von Fabeck vorgetragenen löweschen Ballade aufmerksam zu. Er trug seit seiner im Herbst 1866  erfolgten Ernennung zum Generalmajor in Berlin immer die Uniform der 7.  (sog. gelben) Kürassiere infolge der Erfahrung, daß die über der Brust geschlossene Uniform besseren Schutz gegen kleine Erkältungen gewährt als die bürgerliche Tracht mit ausgeschnittener Weste.

* * * Anfang März eröffnete der Kanzler die erste Sitzung des durch süddeutsche Delegierte erweiterten Bundesrats und hatte die Genugthuung, daß die ­Vorlagen für das Zollparlament in befriedigender Weise zum Abschluß kamen. Im Reichstage des Norddeutschen Bundes aber, welcher demnächst zusammentrat, sollte sich zeigen, daß auch mit der nationalliberalen Partei „kein ewiger Bund zu flechten“ war. Im Herbst 1867 hatte man für die Bundesmarine eine Anleihe von zehn Millionen Thalern bewilligt, die Aufnahme derselben jedoch abhängig gemacht von dem Zustandekommen eines Gesetzes über die Bundesschuldenverwaltung. Das Letztere war damals gescheitert, weil die Majorität einen nationalliberalen Antrag genehmigt hatte, wonach die Beamten dieser Verwaltungen wegen etwaiger Unregelmäßigkeiten einer von Reichstagskommissarien zu beantragenden gerichtlichen Verfolgung ausgesetzt werden sollten. Diesen Beschluß erklärte der Bundesrat für unannehmbar. Trotzdem wurde derselbe Antrag von nationalliberaler Seite wieder eingebracht und lebhaft befürwortet. Ein Redner sagte offen, die Regierung brauche das Geld für die Marine notwendig, die Gelegenheit sei also günstig, eine Erweiterung der Macht des Reichstages zu erringen. Bismarck wies nach, daß hierin die Zumutung liege, die Regierung solle das Recht zur Organisierung der Landesverteidigung erkaufen durch eine Konzession zur Erweiterung der parlamentarischen Macht. Solchem Ansinnen müsse sich jede Regierung widersetzen. Der Antrag sei auch an sich verkehrt, denn keine geordnete Verwaltung könne bestehen, wenn die Beamten mehr den Reichstag und den Richter zu fürchten hätten als ihre Vorgesetzten. Eher könne man zugeben, daß der Bundeskanzler selbst unter den Stadtrichter gestellt würde, den er dann 267

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„­gewissermaßen als konstitutionellen Hausarzt heranziehen“ müsse, um sich vor unrichtigen Auslegungen der Verfassung zu schützen. Aber wenn man 1866 so gehandelt hätte, dann stände man heute „unter den Befehlen des alten Frankfurter Bundestages, vielleicht gemindert um Teile des preußischen Staates“. Das Haus beschloß jedoch (mit 131 gegen 114 Stimmen) die Annahme des nationalliberalen Antrages; worauf der Bundeskanzler den Gesetzentwurf sofort zurückzog und veranlaßte, daß alle nicht absolut dringlichen Arbeiten für die Marine eingestellt wurden. Das geschah am 21. April; im Juni aber fand man einen Ausweg aus dieser von allen Patrioten bedauerten Situation: Die Aufnahme der für die Marine bewilligten Anleihe wurde dadurch möglich gemacht, daß man unter Zustimmung des Landtages deren Kontrolle der preußischen Staatsschuldenverwaltung übertrug.

* * * In der Zwischenzeit fand die erste Session des Zollparlaments statt, welches vom 27. April bis zum 23. Mai tagte. Aus dem Süden waren neben 35 Nationalgesinnten nicht weniger als 50 entschiedene Partikularisten gekommen, bei deren Wahlen leidenschaftlicher Preußenhaß zu Tage getreten war. Trotz dieser wenig erfreulichen Aussichten blieb Bismarck entschlossen, durch freundliches Verhalten den Widerwillen der Gegner womöglich zu mildern. Zwei wichtige Handelsverträge wurden genehmigt; im Übrigen verlief die Session ziemlich ergebnislos. Die vom Bundesrat gewünschten neuen Zölle auf Tabak und Petroleum wurden nicht nur von den Süddeutschen, sondern auch von der freihändlerischen Majorität des Nordens abgelehnt. Gelegentlich fand ein württembergischer Abgeordneter Anlaß, darauf hinzudeuten, daß durch engeren politischen Anschluß des Südens an den Nordbund ein furchtbarer Krieg mit Frankreich herbeigeführt werden würde. Bismarck erwiderte, man denke nicht im Entferntesten daran, das Zollparlament mit Politik beschäftigen zu wollen, und man wünsche durchaus nicht, daß der Süden b a l d dem Bunde beitrete. Vielleicht würden später einmal alle Südstaaten darin ihren Vorteil erkennen. Jedenfalls aber gebe er „zu bedenken, daß ein Appell an die Furcht in deutschen Herzen niemals ein Echo findet“. Anfang Mai sagte mir der bayerische Abgeordnete Graf Luxburg, er habe aus München eine stattliche Sendung Bockbier erhalten und würde gern ­einigen Würdenträgern und Kollegen einen Frühschoppen anbieten, wenn er ein dazu geeignetes Lokal wüßte. Ich konnte ihm helfen. Als Bewohner 268

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einiger Zimmer in dem Hause des Grafen Voß stand mir die Mitbenutzung des Hofes und des unabsehbar großen Gartens frei, auf dessen Gelände später die Paläste der Voßstraße erbaut worden sind. In dem geräumigen, von alten Linden beschatteten Hofe stand Donnerstag, den 13. Mai, eine lange Frühstückstafel, welcher der Bundeskanzler präsidierte. Mehr als 60 Gäste, darunter viele Süddeutsche, sprachen dem Bockbier fleißig zu und ergingen sich dann bei hellem Sonnenlicht in dem großen, baumreichen Garten. In der folgenden Woche gab die Stadt Berlin dem Zollparlament ein glänzendes Festmahl, bei welchem Bismarck die Süddeutschen mit folgenden Worten begrüßte: „Die kurze Zeit unseres Beisammenseins ist schnell vergangen wie ein Frühlingstag; möge denn die Nachwirkung sein wie die des Frühlings auf die künftige Zeit! Ich glaube, daß Sie nach der Gemeinsamkeit der Arbeit für die deutschen Interessen die Ueberzeugung mit nach Hause nehmen werden, daß Sie hier Bruderherzen und Bruderhände finden werden für jegliche Lage des Lebens und daß jedes erneute Beisammensein dies Verhältnis stärken wird und muß! Lassen Sie uns dies Verhältnis festhalten, lassen Sie uns dies Familienleben pflegen. In diesem Sinne rufe ich den süddeutschen Brüdern ein herzliches: Auf Wiedersehen! zu.“ Der Schluß der Session war auf Sonnabend, den 23. Mai, anberaumt. Für Sonntag den 24. abends waren die Mitglieder des Zollbundesrates und des Zollparlaments zu einer Festfahrt nach Kiel eingeladen, um dort am Montag die Flotte zu besichtigen. Am Freitagabend gegen Mitternacht ließ der Kanzler mich rufen und sagte, viele süddeutsche Abgeordnete wollten s­ pätestens am Montag nach Hause fahren; er lege aber Wert darauf, daß gerade die Süddeutschen nach Kiel gehen könnten, die Abfahrt müsse daher schon Sonnabendabend stattfinden. Ich solle das mit Dechend in Ordnung bringen. Der damalige Bankpräsident von Dechend hatte nämlich die Vorbereitungen für das Kieler Fest geleitet. Als ich ihn am Sonnabend früh begrüßte, schien es ihm anfangs unmöglich, alle getroffenen Einrichtungen um 24 Stunden zu verfrühen; doch ließ er sich überzeugen, daß der Kanzler diese Unmöglichkeit nicht zugeben, sondern seinen Willen durchsetzen würde. So ging also der Extrazug mit mehr als hundert Gästen am Sonnabendabend ab. Der Kanzler hatte mich beauftragt, mitzufahren und den Gästen zu sagen, wie sehr er bedaure, daß sein Gesundheitszustand ihm die Teilnahme an diesem Feste verbiete. In Kiel wurde eine stattliche F ­ regatte bestiegen, welche bis zur offnen See hinausdampfte. Der Anblick der Schiffe sowohl als der jungen Schiffsleute mit ihren gebräunten Gesichtern wirkte erfrischend auf die Gäste, von denen viele das Meer noch nicht gesehen hatten. 269

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Der Kanzler fühlte sich fortwährend unwohl und nahm keinen Teil an den Verhandlungen des wiedereröffneten norddeutschen Reichstages. Am 29. Mai erkrankte er ohne erkennbare Veranlassung an rheumatischer ­Affektion des Rippenfells; am 16. Juni, vor dem Schluß des Reichstages, ging er mit unbegrenztem Urlaub nach Varzin, von der Gräfin begleitet. Diese erlitt am 21. durch unglückliches Fallen einen Rippenbruch und mußte einige Wochen das Bett hüten. Hierauf beziehen sich die letzten Worte des ersten der folgenden Briefe an mich: „V., 1/7. 68. Daß Carl mir hier in Delbrücks Auftrag „nicht aufregende“ Vorträge halten will, ist wider die Abrede. Was „aufregend“, ist gar nicht vorher zu ermessen. Ich kann mir denken, um was es sich handelt. Empfehlen Sie Delponte, de prendre conseil de ses propres inspirations et de me laisser tranquille; de me f – la paix, möchte ich sagen; für das Votum über schwebende Fragen im Bundesrathe ist bezüglich wichtiger Fragen das Staatsministerium, nöthigenfalls S. M. zu consultieren; wenn ich hier erst aber einmal hineingezogen werde, so ist das Ende davon nicht abzusehen. „Ich reite täglich 4–6 Stunden; meine Frau ist nach Umständen wohl, aber ohne Unterbrechung im Bett, hofft Ende der Woche aufstehen zu versuchen. Lieber später wie früher. Ihr v. B.“ „V. 8/7. 68. Bitte, lassen Sie doch in der Presse einfließen, daß ich hier in meiner Zurückgezogenheit täglich 6‒12  Briefe mit Privatanliegen aus allen Gegenden erhielte, deren eigenhändige Beantwortung oder Befürwortung von mir erwartet würde, daß ich keine Schreibehülfe hier habe und daher alle uneröffnet nach Berlin dirigierte. Vielleicht hilft das. Die meisten gehen in den Kamin, der brennt, wenn Regenwetter. Meiner Frau geht es nach Verhältniß wohl, doch kann sie die 6 Stufen aus dem Hause noch nicht hinabsteigen. Ein ganz vertrauter Besuch wie der Ihrige oder Carl wäre thunlich. Gegen die Nachbar-Visiten und Einladungen verschließen wir uns noch. Ihr v. B.“

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„V. 11. Jul. 68. Möchten Sie Roon gelegentlich für staatsministerielle Wirksamkeit von mir sagen, daß Graf Westarp, dem ich sonst alles Gute wünsche, nicht Landdrost werden sollte, ohne auch einen Hannoveraner zum Präsidenten in andern Provinzen zu machen. Nur nicht lauter „Berliner“ in die neuen und keine von dort zu uns, es ist das ein großer Fehler. „Das demonstrative Erscheinen der Galizier in Posen81 hätte man auch m. E. hindern sollen und konnte es leicht, da Ausländer keine Rechte bei uns haben. Hier alles gut. Ihr v. B.“

Die Gräfin schrieb aus Varzin am 1. August: ­… „Carl, der heute früh abgezogen, wird Ihnen verschiedene Bettelbriefe, auch die Struck-Angelegenheit, übergeben, mit den dazugehörigen Erläu­ terungen, und ich will meinen liebsten Jungen, die uns morgen früh leider verlassen, diesen Gruß mitgeben, der Ihnen herzlichen Dank für die gütige Bürstensendung bringen soll, welche Bismarck sehr erheitert hat. „Es wird hier nun furchtbar einsam werden, und wenn sich’s noch dazu ins Regnen gibt, wie’s heute den Anschein hat, so werden wir in recht trübselige Stimmung gerathen und uns halb todt bangen. Bism. wohl weniger, Marie und ich aber gründlich. Nachricht werden wir immer geben und hoffentlich auch erhalten.“ … Der Kanzler schrieb am 7. August Folgendes: „Ich finde in den Blättern keine Andeutungen, daß Herr v. N… in O… bei Dorpat wegen seiner Mißhandlung des Försters A82…. an den Pranger ­gestellt würde. Ich hatte über die Art, wie die Gefühle und Interessen seiner Standesgenossen gegen ihn in Wirksamkeit zu bringen wären, indem man die Werthlosigkeit von Einrichtungen darstellt, welche keinen Rechtsschutz gewähren, mit Ihnen ausführlich besprochen und bedauere, daß meine ­Anregungen bei der II. Abth. so wenig Effekt haben. Mich dünkt doch, daß ich die Herren nicht oft belästige, und einen kranken Menschen zu ­nöthigen, 3 Mal auf solche Sache zurückzukommen, grenzt wirklich an Geringschätzung. 81 Am 9. Juli 1868 kamen etwa 100 Galizier nach Posen zur Teilnahme an polnisch-nationalen Festlichkeiten, wurden demonstrativ empfangen und erschienen bei einem Bankett wie bei einer polnischen Vorstellung im Stadttheater. 82 A. war ein Reichsangehöriger.

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In der La-Marmora-Sache bin ich durch Thiles Schreiben auf den Verdacht ­gerathen, daß meine darüber dictierte Aeußerung nicht richtig abgesandt worden ist. Die usedomschen Rathschläge kamen ja ursprünglich von den italienischen Generälen (Govone) und waren Monate lang discutiert. … Sprechen Sie über Vorstehendes mit Thile und grüßen Sie von Ihrem v. B.“

Vom Chef gerufen, kam ich am 15. August nach Varzin und brachte einen trefflichen Kanzleibeamten des Chiffrierbüreaus mit, von dem ich hoffen konnte, daß man sich an seine dauernde Anwesenheit gewöhnen würde. Derselbe fand gastliche Aufnahme, doch sagte der Chef mir sogleich: „Ich fürchte, der Mann wird sich hier langweilen und wohl nicht lange hierbleiben.“ Ich sorgte dafür, daß der Beamte auf seinem Zimmer gespeist wurde, um jeder durch das Erscheinen eines Fremden im Familienkreise möglichen Mißempfindung vorzubeugen. Am folgenden Vormittag hatte ich Vortrag, für den Kanzlisten aber gab es zufällig noch nichts zu thun. Unglücklicherweise ließ er sich melden und fragte nach Arbeit. Als er hinausgegangen war, sagte der Chef: „Sehen Sie? Der Mann langweilt sich hier. Seine Anwesenheit drückt mir auf die Nerven. Lassen Sie ihn nur gleich wieder nach Berlin zurückfahren.“ So geschah es. Seitdem ist meines Wissens nie wieder ein Kanzleibeamter in Varzin gewesen; die mitunter umfangreichen Chiffrierarbeiten sowie die nur selten vorkommenden Reinschriften sind bis 1872  dort durch Bucher, Graf Karl Bismarck oder mich oder durch zwei von uns gemeinschaftlich erledigt worden. Körperlich schien mir der Chef ziemlich rüstig; er machte mit Gräfin Marie und mir weite Ritte über das hügelige, meist bewaldete Gelände; aber der Zustand seiner Nerven war besorgniserregend. Auf drei Tage kamen zum Besuch Graf Alexander Keyserling und seine schöne, hochgebildete Tochter, beide von zurückhaltendem Wesen und nur auf besondere Anregung ausgiebig. Am zweiten Tage sagte mir Bismarck: „Ich bin so elend, daß die Gegenwart meines liebsten Jugendfreundes mir auf die Nerven fällt, ja, daß ich mich im Stillen auf den Moment seiner Abreise freue.“ Nach einigen Tagen kam Blanckenburg und wurde herzlich willkommen geheißen. Am 22. August unternahm der Chef mit ihm und mir einen weiten Spazierritt. Sein Pferd war ein sehr starker, aber kleiner und kurzgebauter Fuchs. Beim schnellen Traben über eine Waldwiese trat der Fuchs mit dem 272

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rechten Vorderhuf in ein durch Rasen verstecktes tiefes Loch und überschlug sich mit Blitzesschnelle nach vorn. Der Reiter fiel auf die Hände, der Rücken und Sattel des Pferdes mit ganzer Wucht auf den Rücken des Reiters; im nächsten Augenblick wälzte sich das Pferd seitwärts ab. Bismarck stand nach wenigen Sekunden auf, konnte aber eine Minute lang nicht sprechen. Blanckenburg blieb bei ihm, während ich fortsprengte, um einen Wagen zu holen. Er konnte langsam gehen und nach Hause fahren, klagte auch nicht über starke Schmerzen. Der aus Schlawe herbeigerufene Arzt fand keine Knochenverletzung, stellte aber heftige Schmerzen der ganzen Muskulatur in Aussicht. Bismarck selbst meinte, daß drei Rippen gebrochen oder wenigstens eingedrückt seien. Die Muskelschmerzen waren am zweiten Tage noch stärker als am ersten und verloren sich erst nach Wochen; dann konnte er wieder zu Pferde steigen, aber nur Schritt reiten. Ende August wurde ich in Varzin von Graf Karl abgelöst. Die Gräfin schrieb am 26. September: „Bismarck und Marie haben heute zu Pferde fünf Stunden im Schritt den Wald durchstreift und wären vielleicht noch draußen, wenn sie nicht Rücksicht auf die Thiere genommen hätten, die allmählich sehr nach dem Stalle drängten … Daß wir Heinchen83 nicht mehr sehen, beklagen wir sehr, aber leider darf man ihn nicht bitten, weil’s doch möglich wäre, daß der pommersche frische Herbstwind seiner armen Lunge neuen Schaden brächte.  … Ueber unser Bleiben und Gehen ist noch gar nichts entschieden. Der Herbst läßt sich fast noch schöner an wie der Sommer – und so lange Bismarck irgend kann, sitzt er bestimmt in Varzin fest, welches er mit jedem Tage lieber gewinnt. Es ist ein Segen, daß es ihm so gut gefällt, und ich meine doch, der Aufenthalt habe ihm wohlgethan trotz mangelnden Schlafs, mit dem er stets brouilliert ist. Er hat den Sonntag mit zwölf Verwandten, worunter drei taube und viele sehr laut schreiende immer im Chor sprechende Stimmen, ganz gut überstanden. Dabei brillierte er in so großer Liebenswürdigkeit gegen jeden, daß alle halb ohnmächtig vor Entzücken erst abends um ½ 11 Uhr nach Hause strebten. Der Mond sollte eigentlich scheinen, verbarg sich aber hinter trübem Nachthimmel aus räthselhafter Tückschichkeit, nachdem den ganzen Tag der herrlichste Sonnenschein gewesen.“

83 Graf Heinrich Keyserling-Rautenburg, damals Generalkonsul in Bukarest.

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An den Vice-Präsidenten des Staatsministeriums, Freiherrn von der Heydt, welchem als dem älteren und hochverdienten Kollegen Bismarck stets mit besonderer Freundlichkeit entgegenkam, richtete er am 27. September folgenden Brief: „Verehrtester Freund und Kollege! Ich habe die dankende Antwort auf Ihren freundlichen Brief aufgeschoben in der Hoffnung, Ihnen über mein Befinden und meine Aussichten bessere Nachrichten geben zu können als damals. Dieses ist jetzt, Gott sei Dank, der Fall, ich bin seit einigen Tagen von Schmerzen fast frei und fange an, mich gesund zu fühlen. Noch einige Wochen Ruhe und ich hoffe, wieder ganz arbeitsfähig zu sein. Schon jetzt würde ich aus der Ferne mich an den Geschäften gern, soweit es Ihnen nöthig scheint, betheiligen. Wenn Sachen vorkommen, über welche Sie wünschen, daß ich mich äußere, so würde ich der Mittheilung derselben gern entgegensehen, und wenn Sie Zeit und Lust finden, mich mit Ihrem Besuche zu beehren, so würden meine Frau und ich uns herzlich freuen. „Ihre französischen Wahrnehmungen stimmen ganz mit dem, was ich durch meine Verbindungen über die dortigen Zustände und Stimmungen weiß; nur kenne ich Gutsbesitzer dort, die bis zu 40 – sage vierzig – Procent ihres wirklichen Pachtertrages an Staats- und Gemeindelasten zahlen. Ich habe den Krieg, bei aller Neigung mancher Fraktionen dafür, besonders der Ultramontanen, nicht für wahrscheinlich gehalten; die spanische Bewegung, wenn sie einige Consistenz entwickelt, wird ein wirksames Zugpflaster zu Gunsten des Friedens bilden. Ich hoffe, daß Gott die Friedensliebe, die wir vor 18 Monaten gezeigt haben, als wir augenscheinlich die Stärkeren waren, segnen wird; und fällt man uns doch an, so sind wir den Franzosen mit Gottes Hülfe noch heute überlegen und Oestreich halten die Russen im Zaume  … Ich hoffe, in spätestens vier Wochen wieder mit Ihnen in gewohnter Weise thätig sein zu können, und weiß bis dahin die Leitung der Geschäfte in guten Händen. Mit aufrichtiger Verehrung und Ergebenheit

der Ihrige v. Bismarck.“

In der letzten Woche des September äußerte der damals in Berlin wohnende Prinz Michael Gortschakoff, sein Vater, der Reichskanzler, wünsche auf der Rückreise von Baden nach Petersburg mit dem Grafen Bismarck zusammenzukommen. Ich erwiderte, eine Reise des Letzteren nach Ber274

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lin würde ­gegenwärtig vom Arzte nicht erlaubt werden. Wir erwogen dann die Möglichkeit einer Reise des Reichskanzlers nach Varzin, für welche ein ­Extrazug nach Cöslin gestellt werden würde, doch betonte Prinz Michael, daß er den Entschließungen seines Vaters in keiner Weise vorgreifen könne. Auf bezügliche Meldung erhielt ich vom Chef folgenden Brief: „Varzin, 29. September 1868. Den Chiffreur möchte ich morgen noch nicht, weil wir augenblicklich nicht Platz im Hause haben, vielleicht in zwei Tagen84. „Ein Extrazug nach Coeslin ist ein so ungewöhnliches Ereigniß, daß es nach dem Auslande telegraphiert werden würde, und diese ungewöhnliche Kraftanstrengung würde die Begegnung selbst und namentlich unsere Stellung zu derselben in falsches Licht setzen. Hiervon sprechen Sie aber nicht, sondern nur von meinem Rheumatismus, der zwar im Abmarsche ist, aber ebenso leicht rückläufig wird, und von Dyssenterie, die, wie ich glaube, sehr heilsam ist, aber das Reisen doch erschwert. Drücken Sie Michael und dem Vater, den ich Sie oder noch bester Thile bitte, in meinem Namen auf der Durchreise zu begrüßen, mein herzliches Bedauern aus, daß ich ihn nicht sehe. Ich würde, wenn ich schmerzfreie Rippen hätte, jedenfalls zur Durchreise des Kaisers und, um Gortschakoff zu sehen, nach Berlin gekommen sein, und wenn ich mich Freitag ärztlich reisefähig fände, würde ich nach Schneidemühl fahren und ihn von dort bis Dirschau begleiten; wenn ich aber nicht besser werde wie bisher, so könnte ich es nach Behauptung des Arztes nur mit Gefahr für weitere sechs Wochen thun, und das würde mir viel Vorwürfe zuziehen. Kurz, ‚nur Krankheit hindert mich‘, sonst würde ich – „Jedenfalls muß der alte Kanzler, seinem fürstlichen Stande entsprechend, durch Preußen befördert werden, Salon, Verpflegung, reservierte Zimmer, etwaiges Nachtquartier, und möchte ich, wenn er nicht ernstlich ablehnt, daß einer unserer jungen Herren ihm bis zur Grenze das Geleit gibt, ohne seine Häuslichkeit im coupé mehr als nöthig zu stören. Macht es Ihnen selbst Spaß – doch Sie werden wohl meinen, keine Zeit zu haben. Ist ein anderer geeigneter Cavalier zur Hand, und will Thile die Begrüßung bei der Durchreise übernehmen, so kommen Sie her, sobald es Ihnen genehm ist, für Sie ist natürlich Platz. „Heut’ kommen Eisendechers und Braune. Eulenburg scheint auszubleiben. Ich möchte allmählich mich den Geschäften nähern, und bitte als Intro­ duction um einige Depeschen-Lectüre. Eulenburg hat mir staatsministerielle 84 Er wurde auch später nicht gewünscht.

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Mittheilungen in Aussicht gestellt. Ich werde dann in den letzten Wochen meines Hierseins entweder Sie oder Carl oder sonst einen reiselustigen Generalstabs-Offizier meines Ressorts hier haben müssen. Die Hausgenossen sind wohl. Ihr v. B.“

Am 8. November trat ich in Varzin wieder in Dienst. Am 23. schrieb der Chef an den Freiherrn von der Heydt Folgendes: „Varzin, 23. November 1868.

Verehrtester! Herr College! Mit verbindlichstem Dank für das gefällige Schreiben vom 21. und mit meinem herzlichen Glückwunsche zu der heut telegraphierten Abstimmung über Dispositionsfonds und Extraordinarium, bitte ich Sie, sich bei den Amerikanern im Sinne des Wohlwollens, welches die Vereinigten Staaten von Amerika und von Norddeutschland für einander hegen, und der persönlichen Achtung, die Bancroft85 als Diplomat und als Gelehrter in Deutschland genießt, mit voller Herzlichkeit aussprechen zu wollen, mit Hoffnung auf immer lebhaftere Entwickelung von Verkehr und Sympathie. Krieg- und Friedensfragen werden sich aber natürlich der Besprechung bei dieser Gelegenheit entziehen. Ich bin überzeugt, daß wir vorkommenden Falles einigermaßen auf amerikanische Freundschaft rechnen können; aber die Erwähnung davon in ministeriellem Munde könnte der Sache schaden … „Mitte nächster Woche hoffe ich, bei Ihnen zu sein; die letzten Wochen haben mir sehr wohlgethan. Der Ihrige v. Bismarck.“

Bald darauf entwickelten sich erhebliche Meinungsverschiedenheiten über geschäftliche Fragen zwischen dem Ministerpräsidenten und dem Finanzminister; ihr persönliches Verhältnis wurde aber dadurch in keiner Weise getrübt. Als im Oktober 1869 Heydt sich ins Privatleben zurückziehen zu sollen glaubte, schrieb ihm Bismarck:

85 Bancroft war viele Jahre Gesandter der Vereinigten Staaten in Berlin.

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„Varzin, 30. Oktober 1869. Eurer Excellenz sage ich meinen aufrichtigen Dank für Ihr freundliches Schreiben vom 28. und bitte Sie versichert zu sein, daß ich stets ein dankbares Andenken an die Zeit unserer gemeinschaftlichen Thätigkeit bewahren werde. Ich beklage die einstweilige Lösung dieser Gemeinschaft und gebe mich der Hoffnung hin, daß die freundschaftlichen und vertraulichen Beziehungen, welche uns während derselben verbanden, auch unabhängig von allen amtlichen Verbindungen fortdauern werden. Eure Excellenz sind bei Ihrem Entschlusse, aus dem Amte zu scheiden, von denselben Beweggründen geleitet worden wie bei Ihrem Eintritte in dasselbe. Wie Sie im Jahre 1866  eine schwierige und gefahrvolle Aufgabe auf den Wunsch Sr. Majestät des Königs und im Interesse des Landes bereitwillig übernahmen und mit glänzendem Erfolge durchführten, so haben Sie auch jetzt in selbstloser Weise Sr. Majestät dem Könige freie Hand zu dem Versuche gegeben, ob ein Wechsel in der Person des Finanzministers die Schwierigkeiten der parlamentarischen Situation zu mindern vermag. Ihre treue Anhänglichkeit an den König und Ihr bewährter Patriotismus bürgen dafür, daß Sie auch unabhängig von jeder amtlichen Stellung Ihren bisherigen Kollegen mit Rath und That den Beistand leisten werden, den Ihre durch eine mehr als 20-jährige ministerielle Erfahrung vollendete Geschäftskunde jeder Regierung zu gewähren vermag. „Meine Frau, welche zur silbernen Hochzeit meiner Schwester gereist ist, wird sich freuen, Sie in Berlin wiederzusehen und Ihnen für Ihr freundliches Andenken zu danken, und ich bitte Sie, meiner freundschaftlichen Verehrung und meiner dankbaren Erinnerung an unser kollegiales Verhältniß während einer ereignißreichen Zeit stets versichert zu sein. Mit der ausgezeichnetsten Hochachtung bin ich Eurer Excellenz ergebenster v. Bismarck.“

* * * Im Herbst 1868 wurden wir von der Pariser wie von der Wiener Presse beschuldigt, durch Einwirkungen auf die rumänische Regierung eine Krise im Orient hervorrufen zu wollen. Um diesen Irrtum zu erklären, darf ich an einige Vorkommnisse der beiden vorhergegangenen Jahre erinnern. Infolge einer von Kaiser Napoleon gegebenen Anregung wurde im Frühjahr 1866  der ihm verwandte Prinz Karl von Hohenzollern zum Fürsten 277

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von Rumänien gewählt. König Wilhelm riet dem Prinzen, der als Dragoneroffizier in Berlin diente, die ihm angebotene Krone abzulehnen. Die Annahme derselben zu verbieten, war er nach den hohenzollernschen Hausgesetzen nicht in der Lage. Bismarck vermied, als Minister sich in irgendeiner Weise mit der Frage zu beschäftigen, gab aber außeramtlich dem Prinzen den Rat, das Wagnis zu unternehmen. Den jungen Helden lockte die hohe ihm gestellte Aufgabe. Er reiste uner­ kannt nach Rumänien und ergriff am 22. Mai in Bukarest die Zügel der Regierung. Ion Bratianu, der seine Wahl bewirkt hatte, behielt auch als sein Minister vorwiegenden Einfluß auf die Entwicklung der politischen Verhältnisse. Die preußische Regierung erklärte, daß der Prinz ganz selbständig gehandelt und eine Erlaubnis des Königs weder nachgesucht noch erhalten habe. Diese Erklärung fand jedoch nicht überall vollen Glauben und wurde noch stärker angezweifelt, als später zwei preußische Offiziere in Bukarest erschienen, um vorübergehend bei der Reorganisation der rumänischen Armee mitzuwirken. Schon im Jahre 1866 wünschte der Fürst auch 20.000 preußische Zündnadelgewehre für seine Armee zu kaufen; Roon hielt sich jedoch für verpflichtet, die Erfüllung dieses Wunsches aufzuschieben, bis der Bedarf in Deutschland vollständig gedeckt sein würde. Der höchst talentvolle, aber vielleicht mit allzu lebhafter Phantasie begabte Minister Ion Bratianu soll im Geheimen Pläne zur Vergrößerung seines Vaterlandes durch benachbarte Gebiete, in denen Rumänisch gesprochen wurde, verfolgt und die Bildung von Aktionskomitees zu diesem Zwecke begünstigt haben. Ihm wurde von der auswärtigen Presse die Schuld beigemessen, als im Sommer 1868 bewaffnete Banden in Bulgarien einfielen. Diese kleinen Scharen wurden zwar von türkischen Truppen geschlagen und zerstreut, gaben aber der Pforte Anlaß, bei den Mächten über die von Rumänien ausgehenden Agitationen Beschwerde zu führen. Rußland verhielt sich passiv, die Westmächte aber und Oesterreich-Ungarn fanden die Beschwerde begründet. Da kam im Herbst 1868 ein Teil der 1866 bestellten Zündnadelgewehre in Bukarest an, welche Roon durch russisches Gebiet hatte verschicken lassen. Ein neuer Einfall in Bulgarien folgte, und rumänische Wühlereien wurden aus Siebenbürgen gemeldet. Das Zusammentreffen dieser Thatsachen rief in Paris die Vermutung hervor, daß Preußen und Rußland das Treiben Bratianus begünstigten, um die 278

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Türkei und Oesterreich zu schädigen. Die andern Mächte begannen zu besorgen, daß eine große Krise im Orient bevorstehe. Sobald Bismarck in seiner ländlichen Einsamkeit von dieser Sachlage Kenntnis erhielt, griff er mit Entschlossenheit ein. Unser Vertreter in Bukarest, Graf Keyserling, erhielt den Auftrag, dem Fürsten die Entlassung Bratianus zu empfehlen und für den Fall, daß dieselbe nicht erfolgte, seinen Posten zu verlassen. Der Fürst erkannte die wohlwollende Absicht Bismarcks. Bratianu nahm am 28. seine Entlassung. Von rumänischen Agitationen in benachbarten Landstrichen war nicht mehr die Rede, und die Besorgnisse der Pforte und ihrer Freunde schwanden.

* * * Am 2. Dezember kehrte der Kanzler nach Berlin zurück. Bald darauf richtete er an unseren Gesandten in Florenz ein Schreiben, durch welches das (am 1. März 1869 erfolgte) Ausscheiden des Grafen Usedom aus dem Dienste des Auswärtigen Amtes veranlaßt wurde. Dasselbe lautete: „Berlin, den 10. December 1868. Eure Excellenz werden seit längerer Zeit ebenso wie ich den Eindruck haben, daß eine principiell verschiedene Auffassung der Pflichten und Grenzen des diplomatischen Berufs unser geschäftliches Zusammenwirken erschwert. „Schon meine ergebensten Mittheilungen vom  … und andere Erlasse enthalten Belege unserer Divergenzen in Bezug auf die Behandlung dienstlicher und politischer Fragen. Durch die Note aber, welche E. E. unterm 17. Juni 186686 an den General La Marmora gerichtet haben, ist die Ueberzeugung in mir begründet worden, daß ich die Verantwortung für die Art, wie E. E. die Stellung eines königlichen Gesandten auffassen und versehen, Sr. Majestät dem Könige und dem Lande gegenüber nicht zu tragen vermag, sondern die Verpflichtung fühle, E. E. Enthebung von Ihrem Posten bei Sr. Majestät dem Könige zu beantragen, falls Sie nicht selbst einen entsprechenden Schritt beabsichtigen sollten. „Schon im Jahre 1866 würde ich zu diesem Entschlusse gelangt sein, wenn der Inhalt der bezeichneten Note, deren Abschrift am Tage der Schlacht von Langensalza in Berlin eintraf, damals zu meiner Kenntniß gelangt wäre. Erst durch die Veröffentlichung derselben bin ich in die Lage versetzt wor86 Mehrfach abgedruckt, z. B. bei Hahn, „Fürst Bismarck“ I, Seite 468.

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den, wahrzunehmen, daß darin Gedanken Ausdruck gefunden haben, welche m. E. überhaupt zu Papier zu bringen in Ew. Excellenz Stellung bedenklich, einer diplomatischen Note aber einzuverleiben durchaus unzulässig war. „E. E. durften sich nicht verhehlen, daß die Verantwortlichkeit für den Inhalt dieses Aktenstückes, welches Sie durch dessen Ausantwortung an die Minister einer fremden Macht der Regierung Sr. Majestät des Königs auferlegten, für Letztere unannehmbar ist. „Es gilt dieses von mehreren Stellen der Note, aber in erster Linie von derjenigen, durch welche volle Berechtigung zu dem Verdachte gegeben wird, als hätten wir bereits lange vor Ausbruch des Krieges, also zu der Zeit als Oest­ reich im Bündniß mit uns gegen Dänemark stand, die ungarische Frage im Sinne der Erregung einer Aufwiegelung des Volkes gegen den Kaiser, unsern Bundesgenossen, in’s Auge gefaßt. „Es gehört nach meiner Auffassung zu den vornehmsten Aufgaben der Diplo­ matie, künftige politische Bedürfnisse des eignen Landes niemals aus dem Auge zu verlieren, künftige Bündnisse nicht als Unmöglichkeiten zu behan­ deln oder eigenmächtig zu solchen zu machen. „Ich habe nie bezweifelt, daß E. E. in der Ueberzeugung gehandelt haben, durch die Absendung der fraglichen Note dem Lande einen Dienst zu erweisen. Die Form aber und die Sprache, welche E. E. dazu gewählt haben, befestigt meine Ansicht, daß ich, soviel an mir liegt, zur Vorsorge verpflichtet bin, um zu verhindern, daß bei künftigen Verwicklungen der Politik Sr. M. des Königs durch ähnliche Vorkommnisse nicht ähnliche Verlegenheiten ­bereitet werden. „Unserer persönlichen Beziehungen eingedenk halte ich mich verbunden, E. E. diese Sachlage mit voller Offenheit darzustellen und Ihnen anheimzugeben, ob Sie selbst einen Schritt zur Lösung unserer geschäftlichen Gemeinschaft thun wollen. v. Bismarck.“

Am 11. abends fuhr der Kanzler, nur von mir begleitet, nach Dresden, um S. M. dem König Johann an dessen Geburtstage persönlich seine Huldigungen darzubringen. Wir wohnten bei dem Gesandten von Eichmann in einem geräumigen, nahe bei dem „großen Garten“ gelegenen Hause. Einem Galadiner bei dem Minister Freiherrn Friesen folgte ein glänzendes Abendfest beim Kriegsminister General von Fabrice. In dem großen und eleganten Festsaal kamen mehr als 500 Personen zusammen. In ­dieser mir fremden Versammlung versuchte ich nicht, Bekanntschaften 280

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zu machen, sondern nur zu beobachten. Die ganze Gesellschaft hatte das Gepräge einer auf Gewohnheiten alter Kultur beruhenden einfachen Vornehmheit. Die Absicht des Kanzlers, durch seinen Besuch manche Spuren alter Verstimmungen möglichst zu verwischen, schien vielseitiges und herzliches Entgegenkommen zu finden. Aehnliche Eindrücke hatte ich am folgenden Tage bei einem am königlichen Hofe stattfindenden Diner. Unmittelbar nach demselben fuhren wir nach Berlin zurück. Auch in Dresden hatte der Kanzler täglich mehrere Stunden der Erledigung laufender Geschäftssachen gewidmet. In den Monaten Dezember bis Februar erschien er ziemlich häufig in beiden Häusern des Landtags und sprach mehrmals in sehr eingehender und eindrucksvoller Weise, so namentlich über die unerläßlichen Vorkehrungen, um Erfolge feindseliger Bestrebungen der ehemaligen Landesherren von Hannover und Kurhessen zu verhindern. Neben angestrengter parlamentarischer Thätigkeit vermochte der Kanzler jedoch nicht weniger als zwölf verschiedene Tage der Jagd zu widmen. Sein Befinden war infolgedessen leidlich. Im März 1869  trat der Reichstag wieder zusammen. Ein von den Abgeordneten Graf Münster und Twesten eingebrachter Antrag wegen gesetzlicher Errichtung von fünf Bundesministerien erwies, daß selbst die Fraktionen der Freikonservativen und Nationalliberalen, welche sich vorzugsweise rühmten, Bismarcks nationale Politik zu unterstützen, damals von dem Verständnis der von ihnen durchberatenen Bundesverfassung ziemlich weit entfernt waren. Nach derselben hatten die Ausschüsse des Bundesrates zum Teil ministerielle Befugnisse auszuüben und neben dem Bundeskanzler ihre Verwaltungen vor dem Reichstage zu vertreten. Nur auf diesem Wege konnten die staatsmännischen Kapazitäten der anderen Staaten im Reiche zur Geltung gebracht werden. Das Projekt aber, die Verwaltungen der Ausschüsse, der konstitutionellen Doktrin gemäß unter verantwortliche Bundesminister zu stellen, war ein Versuch zur Herbeiführung des Einheitsstaates an Stelle des Bundes, zugleich ein Versuch, die von Preußen mit den Bundesstaaten geschlossenen Verträge zu brechen. Es lag darin auch ein deutliches Mißtrauensvotum gegen den Kanzler und alle außerhalb des Reichstages fungierenden Organe des Bundes. Als Bismarck diesen Antrag zu Gesicht bekam, wurde er von einem Magenkrampf befallen. Bald jedoch erholte er sich wieder und beleuchtete am 16. April die Unzulässigkeit des Antrags in einer mehrstündigen, bewunderungswürdigen Rede, aus welcher ich nur wenige gegen den Unitarismus gerichtete Worte mitzuteilen mir erlaube: 281

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„Die Zentralisation ist mehr oder weniger eine Gewaltthat und ist ohne einen wenigstens am Geiste der Verfassung sich versündigenden Bruch kaum durchzuführen; und ein solcher Bruch, mag er auch in der Form gedeckt oder gerechtfertigt erscheinen, hinterläßt Stellen, die innerlich bluten, und wie lange sie nachbluten, das weiß kein Mensch und kann keiner kontrollieren … Ich glaube, man soll sich in den germanischen Staaten nicht fragen, wenn man es der Bevölkerung recht machen will: Was kann gemeinsam sein? Wie weit kann der große Mund des Gemeinwesens hineinbeißen in den Apfel? – Sondern man muß sich fragen: Was muß absolut gemeinsam sein? Und dasjenige, was nicht gemeinsam zu sein braucht, das soll man der speziellen Entwickelung überlassen. Damit dient man der Freiheit, damit dient man der Wohlfahrt.“ … Blanckenburg, als Führer der Konservativen, unterstützte den Kanzler durch eine kernige Rede; vielleicht lag hierin der Grund davon, daß des Letzteren Gesundheit durch die mit 111 gegen 100 Stimmen erfolgende Annahme des verkehrten Antrages nicht geschädigt wurde. Er machte verschiedenen Abgeordneten Vorwürfe darüber, daß man diesen wichtigen Antrag nicht vor der Einbringung mit ihm besprochen hätte, und beschloß, zur Erleichterung des Meinungsaustausches alle Abgeordneten regelmäßig einmal in der Woche zu sich einzuladen. Sein Vorschlag, daß man im Ueberrock kommen möchte, wurde von dem Reichstagspräsidenten Dr. Simson abgelehnt, welcher mit Entschiedenheit geltend machte, daß zur Wahrung der Würde der Versammlung Frack und weißes Halstuch unerläßlich seien. Um auch die Herren, welche keine Karten abgegeben hatten, bei sich sehen zu können, wählte der Kanzler folgende ungewöhnliche Form für die zu lithographierenden Einladungsbriefe: „Graf Bismarck-Schönhausen würde es dankbar erkennen, wenn der Abgeordnete … ihn vom 24. April ab abends 9 Uhr jeden Sonnabend während der Dauer der Reichstagssession besuchen wollte.“

Der Zweck wurde erreicht; es erschienen zahlreiche Mitglieder aller Fraktionen außer der sozialdemokratischen. Der Kanzler reichte jedem Ankommenden die Hand; der Gräfin, welche neben ihm stand, wurde jeder Gast vorgestellt. Auf den meisten Gesichtern sah ich einen Ausdruck naiver Freude über die Gelegenheit, dem „großen Manne“ so nahe zu kommen. Der Strom der Gäste ging aus dem auf der Gartenseite des Hauses gelegenen ersten Zimmer, ohne die Familienwohnräume zu berühren, nach rechts in die Gesellschaftssäle, wo Maiwein und 282

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Bier herumgereicht wurden; im Tanzsaal standen viele kleine Tische vor einem mit kalten Speisen bedeckten Büffet. Der Kanzler schritt in den Gesellschaftsräumen von einer Gruppe zur andern, wußte überall etwas Lustiges zu sagen und ging gern ein auf die Vorstellungsweise der Fragenden. Zuletzt nahm er Platz an einem der kleinen Tische. Gegen 11 Uhr entfernten sich fast alle Gäste; nur wenige Hausfreunde verweilten dann noch ein Stündchen im Familienwohnzimmer. Im Frühjahr 1869 gab es sechs solcher parlamentarischen Abende; die beiden letzten waren auch von süddeutschen Mitgliedern des Zollparlaments besucht87. Diese ungewöhnlich angenehmen und anregenden Gesellschaften hatten jedoch einen erkennbaren Einfluß auf die Abstimmungen weder im Reichstag noch im Zollparlament. Die wirtschaftlichen Verhältnisse waren bedenklich in Preußen wie im Bunde. Auf Gewerbe, Industrie und Handel lastete seit 1866 ein schwerer Druck, weil man nach allen Nachrichten über die andauernd feindselige Stimmung der Pariser politischen Welt mit der Möglichkeit eines plötzlich ausbrechenden Krieges rechnen zu müssen glaubte. Infolgedessen waren in Preußen die Staatseinnahmen hinter den Voranschlägen zurückgeblieben; einige vom Landtage genehmigte Verkehrserleichterungen hatten vorübergehende Mindereinnahmen, einzelne Notstände Mehrausgaben verursacht. Beim Abschluß des Rechnungsjahres 1868  ergab sich ein unerwartet bedeutender Fehlbetrag. Ueberdies waren von dem veranschlagten hohen Defizit des Norddeutschen Bundes, dem es an ausgiebigen eigenen Einnahmen fehlte, etwa 4/5 durch Preußen zu decken. Dem Reichstage wurde daher zugemutet, verschiedene indirekte Steuern zur Erhöhung der Bundeseinnahmen zu genehmigen. Dagegen aber erhob sich vielseitiger Widerspruch. Nicht nur die Radikalen, sondern (außer ­Bennigsen) auch die nationalliberalen Redner betonten, das einzige vernünftige Mittel, aus der Finanznot herauszukommen, sei Herabsetzung des Militäretats; und wenn die Regierung denselben für unveränderlich festgelegt bis zum Jahre 1871  erachte, so wolle man jetzt nicht die Mittel bewilligen, um spätere Aufrechterhaltung dieses Etats in der gleichen Höhe zu erleichtern. Bismarck sprach fünfmal eindringlich für Bewilligung der verlangten Steuern. Das Land der Abgeordneten sei kein anderes als das der Regierung; 87 Hans Blums ausführliche Berichte über zwei dieser parlamentarischen Abende sind abgedruckt in Poschinger: Fürst Bismarck und die Parlamentarier, S. 22 ff.

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nicht für sich verlange sie das Geld, sondern für die Wohlfahrt der Wähler. Die Armee schütze die ganze Produktion des Landes, wie ein Dach vor dem Wetter, ein Deich vor Ueberschwemmung schützt; durch Beredsamkeit könne man den Feind an der Grenze nicht aufhalten. Es sei unbillig, zu verlangen, daß er die Geschäfte fortführe, wenn man ihm die dazu nötigen Mittel versage und nicht einmal auf einen Kompromiß darüber eingehen wolle. Alle Mahnungen blieben jedoch erfolglos. Mit zwei geringfügigen Ausnahmen wurden die verlangten Steuern und Zölle im Reichstage wie im Zollparlament abgelehnt. Am 13. Juni reiste der König nach der Provinz Hannover, nach Bremen und nach Oldenburg. In seinem Gefolge befanden sich der Kanzler, Abeken und ich. Am 17. wurde der im Jadebusen in den letzten 13 Jahren geschaffene Kriegshafen besichtigt und als Wilhelmshafen eingeweiht. Dann besuchte der König Aurich, Emden und Osnabrück. Ueberall war die Haltung der Bevölkerungen so loyal, wie es nur gewünscht werden konnte; auch der Kanzler erhielt oft genug Beweise sympathischer Verehrung. Am 25. Juni ging er auf einen Tag nach Schönhausen und nahm mich mit. Ich freute mich über das pietätvolle, aber einfache Wesen der dortigen Beamten und Arbeiter, die ihn seit Jahren nicht gesehen hatten. Am 1. Juli reiste er mit Gemahlin und Tochter zu mehrmonatlichem Aufenthalt nach Varzin. Die dort nötige Arbeitshilfe leistete Bucher. Die beiden Söhne hatten bald nach Ostern die Universität Bonn bezogen.

* * * Im August verweilte ich einige Wochen in dem Nordseebad Norderney. Dorthin schrieb die Gräfin am 7.: „Wenn die Sonne eben bei Ihnen so warm scheint und kein Blatt sich rührt wie hier, dann werden Sie mit großer Freude am Nordseestrande wandeln, lieber H. v. Keudell. Hoffentlich kehren Sie nach 4 Wochen mit taudicken Nerven an den Wilhelmsplatz zurück … „Unsere Rosen blühen hier noch immer sehr schön, nur nicht sehr reichlich, weshalb man zu geizig, sie abzuschneiden. Gestern jedoch riß ich mir einige blutend vom Herzen zur Feier des Geburtstages der kleinen niedlichen Frau von Zitzewitz in Püstow, wo wir mit mehreren Nachbarn die schrecklich jungen 19 Jährchen verherrlichten. Bismarck, nach Tisch erscheinend, in ­Misdow reitend gewesen, nur eine Stunde bleibend, mit uns zurückfahrend – um den Leuten zu zeigen, daß e r n i e u n d w i r a l s o u n g e r n ausessen. Sonst geht alles seinen stillen Gang weiter – Pächter und Gutsherren, auch 284

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Frauen und Töchter sind sämmtlich besucht, summa summarum 11 Häupter, und werden zur Gegenvisite erwartet, drei waren bereits hier. Wer kommt aber Montag? Denken Sie: Löper, der mir heute eine Expedition nach Papen­ zin annoncierte und anfragte, ob bei der Gelegenheit vielleicht ein Abstecher angebracht sei, worauf ich natürlich gleich „sehr gern“ telegraphierte. Ich freue mich herzlich, ihn zu sehen. … „Mittwoch oder Donnerstag hoffe ich auf meine Jungen und bin dann Lust für alles andere, wie Sie denken können … „Marie ist glücklich, jetzt wieder reiten zu können – abwechselnd Röschen und Axel –, aber leider immer nur Schritt, weil der arme Bismarck mit seinem Muskelwesen noch immer nicht in Ordnung kommen kann; ob’s neuer Rheumatismus oder stets die Sturz-Erinnrung – er hat bei allen stärkeren Bewegungen immer noch recht empfindliche Schmerzen, was doch eigentlich recht schlimm ist. ­… „Bucher immer gleich angenehm“ …

Der Unterstaatssekretär von Thile schrieb mir aus Berlin am 13. August: ­… „Die hiesige Tretmühle war in letzter Zeit ziemlich unerfreulich; nur armseliges Zeug, mit dem zwischen Varzin, Berlin und Ems Federball gespielt wurde. Dabei wenig Hülfe; und der Chef more solito eigensinnig, quänglig, bald in minima ohne Aktenkenntniß hineintapsend, bald auf erhebliche Dinge jedes Eingehen störrisch abweisend. Aber was thut’s? Wenn seine Gesundheit gehörig wiederhergestellt wird, dann können wir dreist fragen „Was kostet Europa?“ … Die Gräfin schrieb mir aus Varzin nach Berlin am 10. September: ­… „Vorgestern kam Annchen Böhn88 zu meiner großen Freude  … Mit ihr waren es reizende Stunden im schönsten Sommerwetter von morgens früh bis abends spät immer draußen; und ihr kindliches Entzücken über unser hübsches Varzin zu sehen, war wirklich erquickend. Sie hat kein bisschen von ihrer lieblichen Anmuth des Geistes und poetischen Jugendfrische des Herzens eingebüßt; das macht ihr keine nach. Ich habe große Freude an ihrem geliebten Dasein gehabt, nur leider war es viel zu kurz. Auch andere Besuche gab es mancherlei. ­… „Bismarck emancipiert sich in diesem Jahre gottlob mehr, so daß er keine Unbequemlichkeit von besuchenden Leuten hat, die wir zu beschäftigen

88 Frau Anna von Böhn-Sagerke geb. Blumenthal, erwähnt oben S. 29.

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bemüht sind, was uns ja auch ganz gut gelingt. Von Nachbarn sahen wir fast nichts – sie sind sehr bescheiden – und die mehrtägigen Freunde genierten Bismarck bis jetzt nicht, weil er auf unsere Bitten seine eigenen Wege ging und nur so viel von ihnen hatte, wie es ihm Spaß machte. ­… „Sehr viel Vergnügen hatten meine Kinder an dem Besuch von Dönhoff und Wendt89, mit denen sie 7 Tage in großer Einigkeit und Innigkeit lebten – so daß sie nachher alle drei den gründlichsten moralischen Kater hatten und sich sehr getröstet fühlten, als sie durch Briefe von Dönhoff später erfuhren, daß ihre Gefühle auf Gegenseitigkeit beruhten, was immer angenehm zu hören, wie es kränkend zu glauben, daß man mit dergleichen Bangnissen allein steht. ­… „Mit Bismarck geht’s so leidlich, aber von großer Erholung ist leider noch gar nichts zu merken. Er entschloß sich vorgestern ganz plötzlich zu der Pansiner Expedition, von der er morgen zurückkommen will, hoffentlich nicht zu angegriffen von Reise und Menschen. Ich predige ihm täglich Biarrits vor, und es ist gar nicht unmöglich, daß er ebenso plötzlich dahin aufbricht wie gestern nach Pansin90, lange vorher entschließen ist bei uns nicht, wie Sie wissen, ebenso wenig bereden, weshalb man keine Stunde vorausbestimmen kann, was sein soll oder sein wird. Maries Glückseligkeit über das Dasein der geliebten Brüder kennt keine Grenzen und ich freue mich täglich von ganzer Seele mit ihr an meinen liebsten Jungen! – Mit Büchlein91 leben wir fortdauernd sehr einig und er scheint sich ja auch zufrieden zu fühlen und keine Veränderung seiner Lage zu wünschen.“… „Varzin 22. 9. 69. ­… Der Herbst ist in so kalter stürmischer Weise eingezogen, daß man täglich auf Schneefall gefaßt sein kann und sich gar nicht vorstellen mag, wie herrlich die Plätze auf der Veranda, unter den Buchen und in der Halle noch vor acht Tagen gewesen. Die geliebten Jungen sollen morgen von Jagden in Schlesien zurückkommen und müssen leider am 29. wieder nach Bonn. Dann werde ich mich wohl einige Tage ganz unsichtbar machen, weil ich in dem bangenden Zustande zu unleidlich für jedermann bin. Den 26. ­wollen

89 Graf August Dönhoff-Friedrichstein und Graf Wendt Eulenburg, der früh verstorbene jüngste Bruder des Staatsministers Grafen Botho. 90 Der Chef telegraphierte am 8. nach Berlin, daß er zum Vortrag bei Sr. Majestät nach Schloß Pansin bei Stargard reise, wo der König wegen des Manövers verweilte. Ich fuhr daher in Militäruniform, aber nicht ohne ein Chiffrebuch, sogleich dorthin und kehrte am 11. nach Berlin zurück. 91 Bucher.

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Sie also kommen, lieber H. v. Keudell, wozu wir uns herzlich freuen, und wenn Sie nicht die freundliche Absicht bereits ausgesprochen, so hätten Sie ­wahrscheinlich Exekution erhalten, da Bismarck Sie gern sprechen wollte wegen Stellenbesetzungen u. s. w. Moritz Blanckenburg habe ich für die Tage auch hercitieren müssen zur Landtagsbesprechung – und Eisendechers also gebeten, ihren lieben Besuch etwas zu verschieben, weil kein Raum mehr in der Herberge! Ebenso muß Karl Bismarck gütigst auch noch warten, was Sie ihm wohl freundlichst sagen, weil für’s Erste wirklich jedes Plätzchen genommen ist.“

In den ersten Tagen des Oktober kam der Minister Graf Eulenburg nach Varzin. Er sprach auf einem Morgenspaziergange ausführlich darüber, daß, wie früher erwähnt, i. J. 1865  das Ministerium die Einführung der zwei­jährigen Dienstzeit unter gewissen Voraussetzungen befürwortet hat (S. o. S. 147). Um dieselbe Zeit schrieb mir Herr Delbrück, der Khedive wolle aus Anlaß der bevorstehenden Eröffnung des Suezkanals einen „Handelskongreß“ nach Cairo einladen, und fragte, ob ich bereit sein würde, als Vertreter des Norddeutschen Bundes mit Vertretern unserer Handelskammern dorthin zu gehen Der Chef gab ohne Zögern seine Erlaubniß dazu und ich kehrte wegen geschäftlicher Vorbereitungen bald nach Berlin zurück. Am 18. Oktober hatte ich das Glück, mich zu verloben mit Fräulein Hedwig von Patow, der einzigen Tochter des früheren Ministers Freiherrn Patow. Auf meinen brieflichen Bericht über dieses Ereignis telegraphierte Gräfin Bismarck folgende Worte: „Himmelhohe Ueberraschung, grenzenlose Freude und Glückwünsche von ganzem Herzen.“

Zur Reise nach Aegypten fanden sich die eingeladenen Mitglieder des Handelskongresses in Marseille alle auf einem großen Dampfer zusammen. Ich erwähne das nur, weil die fünftägige Ueberfahrt nach Alexandrien mir Gelegenheit gab, mit den französischen Kollegen lange Gespräche zu führen, deren Inhalt für Bismarck von Interesse gewesen ist. Jeder einzelne dieser sehr liebenswürdigen Herren sprach unter vier Augen die Meinung aus, daß ein Krieg zwischen Frankreich und Preußen unvermeidlich sei; das französische Volk könne uns weder Sadowa noch den Norddeutschen Bund verzeihen; es fühle sich von der ersten Stelle in Europa verdrängt; 287

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die ganze Geschäftswelt sei von dem Gedanken beherrscht, daß Vertrauen in die Zukunft nicht eher eintreten könne, als bis die Waffen entschieden haben würden. Als ich Anfang Dezember dem Chef hierüber mündlich berichtete, sagte er, leider sei die Rückwirkung dieser französischen Auffassung auch in unserer Geschäftswelt zu spüren. Selbst Bleichröder habe ihn neulich gebeten, er möge einen Krieg herbeizuführen suchen, um die Lage zu klären. Diese Ansicht sei jedoch verwerflich. Man müsse fortfahren, die Ursachen eines möglichen Kriegsfalles wegzuräumen und der beruhigenden Wirkung der Zeit vertrauen. Niemand könne die Verantwortung für den Ausbruch eines Kampfes übernehmen, der vielleicht nur der erste einer Reihe von Rassenkriegen sein würde. Lange Erhaltung des Friedens scheine umso eher möglich, da Kaiser Napoleon durch schwere Krankheit immer mehr geschwächt werde und mit dem Ministerium Ollivier liberale Reformen im Innern einzuführen begonnen habe. Die Gräfin befand sich im Dezember in Bonn, um ihren ältesten Sohn zu pflegen, der im Duell eine schwere Kopfwunde erhalten hatte. Zum Weihnachtsfeste fuhr auch der Kanzler dorthin. Am 30. Dezember erhielt ich von ihm folgenden Brief: 29./12. 69. „Ich komme Silvesterabend. Hier Gott sei Dank fortschreitende langsame Besserung, aber große Schwäche. Nach Meinung der Aerzte in 14 Tagen vielleicht Möglichkeit, das Zimmer zu verlassen. Pyämie seit Jahren die Regel für jede leichte Verwundung; die Klinik bestreitet die Kontagion auf gewöhnlichem Wege und opfert der Ehre der Wissenschaft … Ihr v. B.“

* * * Inzwischen war das Defizit im preußischen Staatshaushalt verschwunden wie durch ein Wunder. Die Summe nämlich, welche nach dem Gesetz jährlich zur Tilgung der Staatsschulden verwendet werden mußte, überstieg um einige Millionen die Ziffer des Defizits. Otto Camphausen, der Nachfolger von der Heydts, kam nun auf den glücklichen Gedanken, daß die Regierung durch Gesetz ermächtigt werden könne, zeitweise die Schuldentilgung zu beschränken, um das Gleichgewicht im Budget herzustellen. Dieser Weg wurde mit Erfolg beschritten und an neue Steuern brauchte nicht mehr 288

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gedacht zu werden. Der Mitte Februar 1870 zusammentretende Reichstag konnte daher, ohne durch ungewöhnliche Geldforderungen beunruhigt zu werden, wichtige Gesetzentwürfe erledigen. Von den süddeutschen Staaten war es nur Baden, bei dessen Regierung und Volksvertretung damals schon der Wunsch obwaltete, in den Norddeutschen Bund einzutreten. Bismarck aber hielt für geboten, diesem Wunsche nicht entgegenzukommen, weil Badens Haltung die Bestrebungen unserer Freunde in den anderen Südstaaten förderte, während seine vorzeitige vereinzelte Aufnahme den Schein einer den anderen Staaten gegenüber beabsichtigten Pression hervorrufen und dadurch die natürliche Entwickelung des Nationalgefühls hemmen würde. Am 24. Februar erhielt er durch einen taktlosen Antrag Gelegenheit, diese Ueberzeugung in zwei denkwürdigen Reden ausführlich zu begründen. Die wichtigste Vorlage der Session, das neue Strafgesetzbuch, war in Gefahr, zu scheitern an den Bestimmungen über die Todesstrafe, welche der Bundesrat beibehalten, die Majorität des Reichstages aber abschaffen wollte. Bismarck führte am 1. März aus, die gegnerische Auffassung werde „von einer gewissen krankhaften Neigung geleitet, den Verbrecher mit mehr Sorgfalt zu schonen und vor Unrecht zu schützen als seine Opfer“. Der Obrigkeit werde das Recht nicht gestritten, zum Schutze des Eigentums zu töten; wenn Arbeiter in einem Aufstande ein Comptoir oder einen Bäckerladen stürmen, so dürfe auf sie geschossen werden, ohne daß man wissen könne, ob die Kugel einen Schuldigen treffe; einen Raubmörder aber, der sich beim friedlichen Bürger einschleicht und die ganze Familie umbringt, den solle man nicht töten dürfen. Jemand, der verdächtig sei, das Kontagium der Rinderseuche weiterzutragen, werde von dem wachthabenden Posten, wenn er dem Zuruf nicht gehorcht, niedergeschossen, um das liebe Vieh nicht in Lebensgefahr zu bringen; das Menschenleben aber gegen den Verbrecher zu schützen, halte man für weniger wichtig. Die Bewegung gegen die Todesstrafe gehe von den Juristen aus. Eine weit verbreitete Krankheit unserer Zeit sei die Furcht vor Verantwortlichkeit, namentlich vor der Verantwortung, ein Todesurteil auszusprechen. Die Majorität des Reichstages blieb jedoch unerschütterlich. Am 12. und 19. März fanden wieder wie im Jahre vorher parlamentarische Abende statt; später nicht mehr, weil Bismarcks Gesundheit zu schwanken begann, so daß er sich im April nach Varzin zurückzog. Während seiner Abwesenheit wurde der Bundesrat schlüssig, dem Reichstage so weit entgegenzukommen, daß die Todesstrafe nur beibehalten würde für Mord und Mordversuch gegen das Bundesoberhaupt oder gegen einen 289

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Landesfürsten. Als der Kanzler am 21. Mai zurückkehrte, stand man vor der dritten Lesung des Strafgesetzbuchs. Am 23. Mai wurde beantragt, die Todesstrafe in Sachsen und Oldenburg, wo sie bereits abgeschafft sei, keinesfalls wieder einzuführen. Sofort erhob sich Bismarck und erklärte, die Bundesregierungen hätten dem Zwecke der deutschen Rechtseinheit große Opfer gebracht, um das Strafgesetzbuch zustande zu bringen; unmöglich aber sei es, das Prinzip der nationalen Einheit selbst zu opfern. Der Bund dürfe nicht „zweierlei Klassen von Norddeutschen schaffen – eine Selekta, die vermöge ihrer Erziehung so weit geschritten ist, daß selbst ihre üblen Subjekte des Korrektivs des Richtbeils nicht mehr bedürfen, und dann das profanum vulgus von 27 Millionen, welches diesen sächsisch-oldenburgischen Kulturgrad noch nicht erreicht hat, dem das Richtbeil im Nacken sitzen muß, um es in Ordnung zu halten.“ … „Wir sind,“ sagte er, „gegen Sonderrechte, gegen Sondereinrichtungen, gegen die Vorurteile einzelner Regierungen und einzelner Stämme, ja selbst gegen die Rechte einzelner Regierungen und einzelner Volksstämme, mitunter, weil wir uns der Größe unserer Ziele bewußt waren, mit Härte verfahren; ich darf wohl sagen mit Härte, wenigstens mit Strenge. Wir haben unverrückt unser nationales Ziel im Auge behalten; wir haben nicht links, nicht rechts gesehen, ob wir jemandem wehe thäten in seiner innersten Ueberzeugung. Meine Herren, aus diesem Geiste haben wir unsere Kraft, unsern Mut, unsere Macht geschöpft, zu handeln, wie wir gethan. Sobald uns dieser Geist verläßt, sobald wir diesem Geiste entsagen, sobald wir ihn vor dem deutschen Volke und seinen Nachbarn aufgeben, so legen wir damit Zeugnis ab, daß die Spannkraft, mit der wir vor 3 ½ Jahren an dieser Stelle unsern Ausgang nahmen, in dem Sande des Partikularismus, des Partikularismus der Staaten, des Partikularismus der Parteien, erlahmt ist. Wir werden die Quelle, aus der wir die Berechtigung schöpften, hart zu sein und mit eisernem Schritt zu zermalmen, was der Herstellung der deutschen Nation in ihrer Herrlichkeit und Macht entgegenstand“ (lebhafter Beifall, „Oho!“ von den Sozialdemokraten), „meine Herren, ich freue mich des Zeugnisses, was mir durch die Mißbilligung der Gegner deutscher Einheit und deutscher Größe gegeben wird … „Im Begriffe, diesen Reichstag seinem Schlusse entgegenzuführen, möchte ich Sie bitten: durchdringen Sie sich vollständig mit dem Geiste, der die Bundesverfassung geschaffen hat, hinterlassen Sie ihn ungeschwächt Ihren Nachfolgern, geben Sie durch Ihr letztes wichtiges Votum dem d ­ eutschen Volke ein verheißungsvolles Pfand seiner Zukunft, beweisen Sie ihm durch 290

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Ihre Abstimmung, daß da, wo es auf die geheiligte Sache unserer nationalen Einheit ankommt, der Deutsche seinen alten Nationalfehlern zu entsagen weiß, beweisen Sie es, indem Sie den Platz vergessen, den Sie in der Hitze des Kampfes als Partei, als Einzelner, eingenommen haben, indem Sie über ihre augenblicklichen Gegner hinweg Ihren Blick auf das große Ganze erheben und diesem großen Ganzen einen Dienst erweisen, welcher für die deutsche Zukunft das Pfand bilden wird, daß die Neubildung unserer Verfassung frei sein werde von einem großen Teil der Schlacken, welche den alten Guß spröde, brüchig gemacht und zerrissen haben.“ Nachdem am folgenden Tage der Kanzler noch die Notwendigkeit, auch den Mordv e r s u c h gegen Landesfürsten mit dem Tode zu bestrafen, ausführlich begründet hatte, wurde die Vorlage des Bundesrates mit 128 gegen 107 Stimmen und am 25. das ganze Gesetz mit großer Mehrheit angenommen. Am 26.  bewirkte Bismarck trotz der Einwendungen eines nationalliberalen Abgeordneten eine bedeutende Subvention für die Gotthardbahn durch Betonung des dringenden Interesses, eine fast direkte Verbindung mit dem befreundeten und, wie er glaube, „auf die Dauer befreundeten Lande“ zu haben. An demselben Tage wurde die erste ordentliche Legislaturperiode des Reichstages durch den König geschlossen. In der Thronrede hieß es: „Die großen Erfolge, welche im Wege freier Verständigung der Regierungen und der Volksvertreter, unter sich und miteinander, in verhältnismäßig kurzer Zeit gewonnen wurden … gewonnen durch treue und angestrengte Arbeit auf dem Gebiete der Wohlfahrt, der Bildung, der Freiheit und der Ordnung im eigenen Lande, gewähren auch dem Auslande die Gewißheit, daß der Norddeutsche Bund in der Entwicklung seiner inneren Einrichtungen und in seiner vertragsmäßigen nationalen Verbindung mit Süddeutschland, die deutsche Volkskraft nicht zur Gefährdung, sondern zu einer s t a r k e n S t ü t z e d e s a l l g e m e i n e n F r i e d e n s ausbildet …“ Auch das Zollparlament, welches in den Tagen vom 21. April bis 6. Mai versammelt gewesen war, hatte endlich eine annehmbare Reform des Zolltarifs zustande gebracht. Bismarck äußerte sich gelegentlich erfreut darüber, daß diese in den beiden ersten Jahren ziemlich unfruchtbare Versammlung jetzt mit einem verhältnismäßig befriedigenden Ergebnis abgeschlossen hatte.

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Im April mußte ich eines Halsleidens wegen eine Kur in Wiesbaden gebrauchen. Dort erfuhr ich, daß der Kanzler in Varzin nicht unbedenklich erkrankt sei und stellte sofort mich und meine in Krankenpflege geübte junge Frau der Gräfin zur Verfügung. Ihre Antwort lautete: „Varzin, 11./5. 70. Lieber Herr von Keudell! Sie haben mich in tiefster Seele gerührt durch Ihr überaus freundliches Anerbieten, mit Ihrer liebenswürdigen Hedwig zu meinem Trost und Beistand herkommen. Ich danke Ihnen dieses treue Freundschafts-Gedenken sehr herzlich und hätte es schon viel eher gethan, wenn ich nicht fortwährend so schrecklich besorgt und betrübt um meinen armen lieben Bismarck gewesen, daß ich sowohl Schreiben wie Sprechen ganz verlernte. „So sehr lieb und gut Ihre Theilnahme war und so gewiß ich weiß, daß es keine Redensart, sondern wirklicher Ernst gewesen, daß Sie g e r n alles stehen und liegen ließen, wenn Sie glaubten, mir helfen zu können, so hätte ich doch nie dieses liebenswürdige Opfer j e t z t angenommen, wo Sie eben im reizenden Wiesbaden die Kur begonnen, die Ihnen so nothwendig und die Sie hier nie mit dem guten Erfolg fortsetzen könnten wie dort in der viel milderen Luft. Und dann waren die Zustände hier auch so sehr traurig, und ich die wenigen Minuten, die ich sichtbar sein konnte, eine so kümmerliche elende Gesellschaft, mit der ich jeden, den ich lieb hatte, gern verschonte – weshalb ich sogar meine eigne Tochter nicht kommen ließ, da ich voraussah, daß sie hier tief melancholisch werden müßte, während sie bei aller Herzenssehnsucht nach mir in Berlin und bei ihren Brüdern doch tausendmal besser daran und besser aufgehoben war als im leeren öden Varziner Hause und im kahlen, todten, grauen Park. „Am 18. April kam Struck, der schon telegraphisch Pulver, Umschläge und  Bäder verordnet hatte, beobachtete mehrere Tage und meinte am 23., die Gefahr sei vorüber, seine Anwesenheit überflüssig, weshalb er dann abreiste. „Ich war immer und immer, Tag und Nacht bei Bismarck und – mit Ausnahme der Frühstücks- und Mittagsminuten – g a n z s t i l l , lesend oder arbeitend oder ihm dies und das besorgend – ihn griff jedes selbst gesprochene oder gehörte Wort an und ich ängstigte mich dauernd halb todt  – weil er seit Hohendorf92 noch nie s o krank gewesen und ich gar nicht absehen mochte, was ­daraus werden sollte. Nachher, als er so viel Kraft gewonnen, um das 92 Gemeint ist die Erkrankung im Januar 1860, s. o. S. 73.

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Zimmer zu verlassen, bin ich stets mit ihm gegangen und gefahren und so sehen Sie, lieber Herr von Keudell, daß ich niemanden einladen konnte, den scheußlichen Weg hierher zu unternehmen, weil man nichts von mir und ich nichts von den lieben Menschen gehabt hätte und es am besten, j a n u r ­m ö g l i c h w a r, wenn ich ganz allein mit ihm blieb; denn das ­Dasein der guten ­schweigsamen Adelheid93 im Nebenzimmer rechne ich nicht, weil Bismarck deren Anwesenheit kaum gemerkt hat. Aber Ihre gütige ausgesprochne Absicht hat mir schon sehr wohlgethan und ich danke Ihnen noch einmal von ganzem Herzen dafür. – Bis zum Mondwechsel vor einigen Tagen haben wir immer eiskaltes unheimliches Wetter gehabt und die Erholung meines armen Bismarck ging so langsam, daß ich fast verzagte und er mit, aber endlich wurde es nach einem gründlichen Regen (ganz ohne waren wir nie) warm, sogar ein bisschen schimmernd grün – und seitdem geht es dem lieben Bismarck, Gott sei gelobt, so viel besser, daß er nun schon von Rückkehr spricht, die vielleicht in künftiger Woche erfolgen könnte. Sie begreifen w i e mir dabei zu Muth, nach vierwöchentlicher oder längerer Trennung von meinen geliebten Dreien – aber Sie verstehen auch wohl, wie ich gar nicht den Muth habe, mich der grenzenlosen Freude hinzugeben – nicht eher als vielleicht hinter Biesenthal, vielleicht auch erst, wenn wir die Luisenstraße hinabrollen! … „Wiesbaden muß jetzt bezaubernd sein, denke ich mir; das Nerothal, der Kurgarten, der Weg nach Biebrich und der Garten dort mit der Unmasse von reizendem Flieder und den blühenden Obstbäumen – wie erinnere ich alle diese Herrlichkeiten und kenne jeden Weg und jeden Baum mit zärtlicher Liebe. Ach es war doch die allerschönste Zeit meines langen Lebens – die 8 Frankfurther Jahre, und wenn ich sie mir vergegenwärtige, kehrt noch immer ein kleiner Jugendfunken in mein altes Herz zurück. Sahen Sie Botho94 oft und seine liebenswürdige Mutter? Und sind Ihnen Beckers, Meisters und Lucius ’mal begegnet? Wenn Sie jemand von diesen allen (Beckers und Eulenburgs) noch erleben, so grüßen Sie freundlichst von mir, vor allen aber Ihre Hedwig viel tausendmal ‒“ …

Am 21. Mai kam der Kanzler, wie erwähnt, nach Berlin, ging aber schon am 8. Juni wieder nach Varzin, um dort in möglichster Ruhe Karlsbader Wasser zu trinken. Bucher wurde auf einige Monate dorthin kommandiert. 93 Das Wirtschaftsfräulein aus Reinfeld. 94 Graf Botho Eulenburg, damals Regierungspräsident in Wiesbaden.

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Am 6. Juli fuhr auch ich nach Varzin, da der Chef einige Personalfragen mit mir besprechen wollte. Am 8. früh kamen die Zeitungen an, welche die am 6. in der Pariser Kammer vom Herzog von Gramont über die mögliche spanische Königswahl gehaltene Rede brachten. Als der Kanzler beim Frühstück dieses Telegramm las, sagte er sogleich im Tone des Erstaunens: „Das sieht ja aus wie der Krieg. Diese rücksichtslose Sprache könnte Gramont nicht führen, wenn der Krieg nicht beschlossene Sache wäre. Man sollte jetzt sofort die ganze Armee mobilmachen und über die Franzosen herfallen; das wäre der Sieg. Leider geht das aber nicht aus verschiedenen Gründen.“ ‒

* * * Die Krone Spaniens ist auf Betreiben des Staatsrats Don Eusebio Salazar y Mazzaredo und durch ihn persönlich dem Erbprinzen Leopold von Hohenzollern in den Jahren 1869 und 1870 viermal angeboten worden. Das erste Anerbieten wurde einfach abgelehnt. Nach dem zweiten Antrage äußerte (im September 1869) der Fürst Anton, daß die Frage erst in nähere Erwägung gezogen werden könne, wenn die spanische Regierung die Gewißheit habe, daß sowohl Kaiser Napoleon als König Wilhelm mit der Wahl des Erbprinzen einverstanden sein würden. Von der bezüglichen Besprechung gab der Fürst dem Kaiser Napoleon Kenntnis; dieser fand jedoch keinen Anlaß zu einer bezüglichen Rückäußerung. Bei seiner dritten Reise nach Deutschland kam Salazar vor Ende Februar 1870 nach Berlin und übergab dem Kanzler ein vertrauliches Schreiben des damaligen Leiters der spanischen Politik Marschall Prim. An demselben Tage ließ ich mich zufällig zum Vortrag melden. Als ich geendet hatte, sagte der Kanzler: „Bitte, bestellen Sie draußen, daß jetzt niemand mehr hereingelassen wird. Ich habe eben einen Brief vom Marschall Prim bekommen wegen der spanischen Königswahl. Ich muß etwas Ruhe haben, um die ganze Sache durchzudenken.“ Am folgenden Tage diktierte er mir folgende Sätze, welche in einem an den König zu erstattenden außeramtlichen Berichte verarbeitet werden sollten: I. „Vorteile der Annahme der spanischen Königskrone durch den Erbprinzen Leopold von Hohenzollern für Preußen und Deutschland. Die Sympathie zwischen zwei Nationen, deren Interessen an keinem Punkte im Widerstreit stehen und deren freundschaftliche Beziehungen einer bedeutenden Entwickelung fähig sind, würde wesentlich gestärkt 294

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werden. In den Spaniern könnte sich ein Gefühl der Dankbarkeit gegen Deutschland regen, wenn man sie aus den anarchischen Zuständen reißt, denen sie entgegenzugehen fürchten. Für die Beziehungen zu Frankreich würde es von Nutzen sein, jenseits Frankreich ein Land zu haben, auf dessen Sympathien wir rechnen ­könnten und mit dessen Empfindungen Frankreich zu rechnen genötigt wäre. Wenn in einem Kriege zwischen Deutschland und Frankreich in Spanien Verhältnisse bestehen wie unter Isabella der Katholischen und wenn auf der andern Seite dort ein mit Deutschland sympathisierendes Regiment existiert, so wird der Unterschied zwischen diesen beiden Situationen sich für uns aus ein bis zwei Armeecorps beziffern. In dem einen Fall würden nämlich französische Truppen durch spanische Ablösung verfügbar gemacht, im anderen Fall wäre Belassung eines Armeecorps an der Grenze nötig. Die Friedensliebe Frankreichs gegen Deutschland wird immer im Verhältnis zu den Gefahren des Krieges wachsen oder abnehmen. Wir haben dort nicht dauernd auf Wohlwollen, sondern mehr auf Abwägung der für den Ausgang des Krieges wichtigen Thatsachen zu rechnen. Handelspolitik: Da schon in Rumänien die deutsche Dynastie die Handelsbeziehungen zwischen diesem küstenlosen Lande und Deutschland gefördert hat, so würde die Herrschaft eines Fürsten deutscher Abstammung auf der Iberischen Halbinsel den alten blühenden Handel zwischen Deutschland und Spanien wiederbeleben, der bekanntlich durch die politische Haltung Preußens gegenüber verschiedenen spanischen Vorgängen gelitten hat. Weiterer Nutzen: Das Ansehen der Dynastie der Hohenzollern, der gerechte Stolz, mit dem nicht nur Preußen auf sein Königshaus blickt, sondern auch Deutschland sich mehr und mehr gewöhnt, diesen Namen als ein nationales Eigentum zu nennen, dieses Element nationalen Selbstgefühls, das im bewußten Ansehen der Dynastie liegt, dient wesentlich zur Hebung des monarchischen Sinnes, wenn das Herrscherhaus sich in einer europäischen Position befindet, die nur in den Habsburgischen Antecedentien eine Analogie hat. Dieses Element des Stolzes auf die Dynastie ist ein in unsern deutschen Verhältnissen keineswegs gering anzuschlagendes Gewicht für Zufriedenheit und Konsolidation. Es stärkt die moralische Kraft, von der die materiellen Kräfte abhängen. II. Eine Ablehnung würde mehrfach unerwünschte Folgen haben: 295

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Es würde die Spanier in hohem Grade verletzen, daß man eine Krone, die in der Geschichte mit Recht einen hohen Rang einnimmt, und eine N ­ ation wie die spanische, die um Rettung aus der Anarchie bittet, in die sie sich versinken fühlt, zurückstößt und ihr den König versagt, der ihr der geeignetste scheint (ganz außerhalb der spanischen Parteikämpfe stehend), und es würde als eine Härte erscheinen, einer Nation von 16 Millionen Einwohnern, die sich in dieser Not befindet, die Rettung durch Ablehnung aus persönlichen Gründen zu versagen. Die Chancen der Republik in Spanien würden dann erheblich steigen, was auch auf Frankreich zurückwirken könnte. Ob die für Frankreich vermehrten Gefahren der Republik Frankreich zum Friedensbruch drängen würden, ist eine Frage, die nicht mit Bestimmtheit verneint werden kann. Für alle Verstimmungen in Spanien, für alle Gefahren vonseiten Frankreichs würde die öffentliche Meinung in Deutschland diejenigen verantwortlich machen, von denen die Ablehnung ausgegangen wäre. III. Ich hielte deshalb die Annahme im Interesse des Friedens und der Zufriedenheit bei uns im Lande für nützlich und für die ungefährlichste Entwickelung der spanischen Frage. Daß die orleanistische wie die republikanische abgeschnitten wird, ist für Frankreich von wesentlichem Wert. „Nach den mitgeteilten Daten ist die Wahl durch mehr als ¾ der berechtigten Wahlstimmen gesichert. Daß eine so große Nation wie die ­spanische mit solcher an Einstimmigkeit grenzender Majorität ihren Willen kundgibt, muß schwer in die Waagschale fallen. Es erinnert an gleichartige Vorgänge in England bei der Wahl des jetzt regierenden Hauses an Stelle der vertriebenen Stuarts und in Rußland bei Erhebung der Dynastie R ­ omanoff. Die Legitimität des Rechtes, kraft dessen die Dynastien in England und Rußland regieren, ist ohne Zweifel weniger anfechtbar als die Gewaltthat Ludwigs XIV., vermöge deren die Habsburger aus Spanien zugunsten der Bourbons verdrängt wurden, oder die Revolution unter Ferdinand VII., vermöge deren die Succession auf Isabella überging. Ein Wiedererscheinen der Königin Isabella auf dem Thron schiene mir für die monarchischen I­ nteressen in Europa sehr nachteilig. Eine Lebensweise wie die dieser Fürstin würde man in England nicht ein Jahr ertragen haben. Es spricht für den monarchischen Charakter der Spanier, daß sie nach allen Erschütterungen seit 1808  und nach allen Mißregierungen seit hundert Jahren die Herrschaft der Königinnen Christine und Isabella 36 Jahre lang ertragen haben. Auf diesen monarchischen Sinn kann der künftige König zählen.“

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Ohne Verzug legte ich den Entwurf eines Immediatberichts vor, in welchem nur die Form etwas verändert, der Inhalt des Diktats aber wiedergegeben war. In den Lebenserinnerungen des Königs Karl von Rumänien95 wird eine dem König Wilhelm von Bismarck vorgelegte Denkschrift erwähnt, deren kurze Inhaltsangabe auf die Identität derselben mit meiner Ausarbeitung schließen läßt. Durch dasselbe Werk sind folgende Thatsachen bekannt geworden. Am 15. März 1870 fand unter dem Vorsitz des Königs eine Beratung statt, an welcher außer dem Kronprinzen, dem Fürsten Karl Anton und dem Erbprinzen von Hohenzollern teilnahmen: Bismarck, Roon, Moltke, Thile, Delbrück und Schweinitz. Im Laufe der Besprechung äußerte der Fürst Karl Anton, es scheine ratsam, sich der Zustimmung des Kaisers Napoleon zu versichern; dagegen aber wurde geltend gemacht, daß der Marschall Prim den höchsten Wert auf Geheimhaltung der ganzen Unterhandlung lege. Der einstimmige Beschluß der Ratgeber lautete auf Annahme des Anerbietens, da dieselbe als „eine patriotische Pflichterfüllung“ erscheine. Der Erbprinz vermochte jedoch nicht, sich über manche Bedenken, namentlich nicht über die Rücksicht auf die Ansprüche von Mitgliedern der entthronten Königsfamilien, hinwegzusetzen und lehnte Anfang April definitiv ab. Da schickte Bismarck Lothar Bucher und den Major von Versen nach Spanien, um die dortige Lage und die Aussichten der Königswahl zu studieren. Die Berichte von beiden lauteten so günstig, daß der König meinte, sie möchten vielleicht infolge der den Verfassern in Spanien erwiesenen Aufmerksamkeiten etwas zu rosig gefärbt sein. Der Erbprinz aber, wie auch sein jüngerer Bruder Prinz Friedrich, verblieb in ablehnender Haltung. Fürst Karl Anton schreibt am 26. Mai, Bismarck sei sehr unzufrieden mit dem Fehlschlagen der spanischen Kombination; er habe nicht unrecht, doch sei die Sache noch nicht vollständig aufgegeben. Allmählich entwickelt sich eine Sinnesänderung des Erbprinzen, welcher die schwierige Lage zu würdigen beginnt, in die das spanische Volk durch sein Beharren bei der Ablehnung versetzt werden würde. Hierüber 95 „Aus dem Leben König Karls von Rumänien. Aufzeichnungen eines Augenzeugen.“ Stuttgart, Cotta, 1894, II. S. 67. Für das Folgende vergl. S. 70, 72, 90, 93, 96, 98. In dem Briefe des Fürsten Karl Anton vom 20.  März (S. 72) wird als bei der Beratung des 15, März anwesend Schleinitz genannt statt Schweinitz; vielleicht ein Druckfehler. Die Teilnahme des Hausministers von Schleinitz an dieser Verhandlung würde Bismarck nicht gewünscht haben; der damalige Gesandte in Wien aber, General von Schweinitz, war zufällig in Berlin und wurde, da er Spanien bereist hatte, zugezogen. Die Namen der Teilnehmer sind mir damals bekannt geworden. Ueber den Fortgang der Sache kann ich jedoch ein eigenes Zeugnis nicht darbieten, da ich von Anfang April bis Mitte Juni beurlaubt war.

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berichtet Fürst Karl Anton dem Kronprinzen, und dieser benachrichtigt den ­Kanzler96. Infolgedessen rät Bismarck dem Fürsten Karl Anton, dahin zu wirken, daß der Erbprinz im Interesse Deutschlands sich für die Annahme entscheide. Dieser Entschluß wird gefaßt, weil dem Erbprinzen „von berufenster Seite vorgestellt“ worden, daß er seinem Vaterlande dadurch einen großen Dienst erweise. Prim ist inzwischen verständigt worden, er dürfe von deutschen Behörden keinen Beistand erwarten; nur direkte Verhandlung mit dem Fürsten sei in Erwägung zu ziehen. Salazar wird zum vierten Mal nach Deutschland geschickt und kann am 23. Juni die Rückreise antreten, um die Zusage des Erbprinzen zu melden. Bismarck erhält in Varzin von dieser Thatsache Kenntnis durch eine bei der Verhandlung beteiligt gewesene Privatperson97. In Madrid kommt jedoch die wichtige Nachricht zu spät an, um zu verhindern, daß die Cortes sich vom 24. Juni bis 31. Oktober vertagen. Es wird beschlossen, sie zur Königsmahl außerordentlich einzuberufen; nach diesem Beschlusse aber scheint es unmöglich, das Geheimnis zu bewahren. Prim macht daher am 2. Juli abends dem französischen Botschafter, Baron Mercier, eine Mitteilung über die Sachlage. Dieser telegraphiert am 3.  an Gramont. Gleichzeitig bringt die Pariser Telegraphenagentur Havas die Nachricht, eine Deputation der Cortes werde dem Prinzen Leopold von Hohenzollern die Krone Spaniens anbieten. Am 4. erhält der französische Geschäftsträger in Berlin vom Unterstaatssekretär von Thile auf Befragen die Antwort, die spanische Thronfrage existiere für die preußische Regierung nicht; man könne daher über etwaige Verhandlungen der spanischen Regierung mit dem Prinzen Leopold keine Auskunft geben. Am 4.  und 5.  bringen Pariser Zeitungen aufreizende Artikel und am 6. erfolgt die erwähnte Kundgebung des Herzogs von Gramont im gesetzgebenden Körper. Aus der vorstehenden Darstellung ergibt sich, daß Bismarck die Anfang April gegen sein Votum erledigte spanische Thronfrage wiederaufgenommen und durch fortgesetzte indirekte Einwirkungen den Erbprinzen schließlich zu einer Erklärung bewogen hat, ohne welche der Krieg im Juli 1870 nicht ausgebrochen sein würde. Er hat in diesem Falle wie in vielen anderen für seine Schuldigkeit gehalten, ein als gut erkanntes Ziel nicht aufzugeben, wenn sich Hindernisse entgegenstellten, sondern unentwegt d ­ anach zu streben. 96 Diese Thatsache ist auf S. 93 nicht ausdrücklich ausgesprochen, aber aus dem Zusammenhangs der Sätze mit Sicherheit zu schließen. 97 Rundschreiben vom 18. Juli 1870; s. Hahn II, S. 47.

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Es ist ihm aber, und nicht bloß im Auslande, sondern oft auch bei uns, die Absicht unterstellt worden, durch Betreiben der spanisch-hohenzollernschen Angelegenheit den französischen Krieg und das deutsche Kaisertum herbeizuführen; daß diese Vermutung unbegründet ist, will ich nachzuweisen versuchen. Bismarcks Gegner behaupten, er habe sich schon im Jahre 1869 bemüht, auf die spanischen Gewalthaber Einfluß zu gewinnen, um die Königswahl auf einen hohenzollernschen Prinzen zu lenken98. Für diese aus dem Auslande importierte Behauptung wird sich nie ein Beweis erbringen lassen. Ich erinnere mich zwar, daß unser Gesandter in München, Freiherr von Werthern, der früher als Gesandter in Madrid mit Salazar bekannt geworden war, im Frühjahr 1869 vertraulich berichtete, er habe diesen Träger des Anerbietens der spanischen Krone auf der Weinburg (dem Lieblingsaufenthalte des Fürsten Karl Anton) vorgestellt. Es ist ihm jedoch hierauf irgendein Interesse des Chefs für diese Angelegenheit nicht zu erkennen gegeben worden. Nach meinen bei täglichem Verkehr gemachten Wahrnehmungen hat Bismarck die Sache im Jahre 1869 noch nicht ernst genommen. Am 11. Mai beantwortete er eine Anfrage Benedettis dahin, daß wegen der völligen Unsicherheit der spanischen Verhältnisse und bei der ihm bekannten Auffassung des Fürsten Karl Anton die spanische Krone voraussichtlich würde abgelehnt werden, wenn die Cortes sie wirklich anbieten sollten. Prim strebe aber vielleicht selbst nach der höchsten Gewalt. Erst Ende Februar 1870 wurde Bismarck anderen Sinnes, als Prim seine Hilfe zur Errettung Spaniens aus der Gefahr der Anarchie anrief und die Wahl des Erbprinzen durch wenigstens drei Viertel der Cortes zusagte. Da stellten sich ihm die Lichtseiten des Projektes dar, und er fixierte seine Gedanken durch das oben mitgeteilte Diktat. Beim Lesen desselben kann es auffallen, daß Bismarck darlegt, wie durch die Herrschaft eines Hohenzollern in Spanien die Kriegsstärke Frankreichs Deutschland gegenüber um wenigstens ein Armeecorps verringert werden würde, daß er aber daran nicht die naheliegende Vermutung knüpft, man würde Krieg führen, um solchen Nachteil abzuwenden, sondern im Gegenteil annimmt, diese voraussichtliche 98 So meint Justus von Gruner (Rückblick auf mein Leben, Deutsche Revue vom September 1901, S. 311), Bucher sei zu diesem Zweck nach Spanien gesandt worden und habe die Sache so weit gefördert, daß sie im März 1870 in einer kleinen Versammlung von Staatsmännern und Generalen ernstlich beraten werden konnte. Bucher aber ist während des ganzen Jahres 1869 und bis zum April 1870 täglich mit mir zusammen oder in Varzin gewesen; er hätte nicht nach Spanien reisen können, ohne daß ich es erfuhr. Erst nach der dritten Ablehnung des spanischen Anerbietens, im April 1870, erhielt er den oben erwähnten Auftrag.

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Wirkung der hohenzollernschen Herrschaft in Spanien würde dem Frieden dienen. Anscheinend hat er gedacht, daß der Kaiser Napoleon, dessen seit 1865 mit jedem Jahre verschlimmerte physische Leiden seine Willenskraft geschwächt hatten, zu einem raschen Entschluß für den Krieg in der Erhebung eines ihm verwandten Herrschers auf den spanischen Thron keinen Anlaß finden würde. Diese Annahme mochte noch mehr Wahrscheinlichkeit gewinnen, als durch das Plebiszit vom 8. Mai 1870 Napoleons ­Dynastie neu befestigt zu sein schien. Nie ist dem Kanzler der Gedanke nahegebracht worden, daß aus den spanischen Wirren eine Kriegsgefahr für uns erwachsen könnte. Im Mai 1869 hat zwar der Kaiser Napoleon zu Benedetti99 gesagt, die Erhebung Montpensiers wäre antidynastisch und nur gegen ihn gerichtet, er könne sie also zulassen; die Kandidatur Hohenzollern aber wäre wesentlich antinational; das Land würde sie nicht ertragen, man müsse sie daher verhindern. Benedetti jedoch, der zu besonders vorsichtigem Auftreten in dieser Angelegenheit angewiesen war, hat die Meinungsäußerung des Kaisers Bismarck gegenüber nicht erwähnt; und auf die im Herbst 1869  durch den Fürsten Karl Anton gemachte vertrauliche Mitteilung von Salazars zweitem Anerbieten hat der Kaiser geschwiegen. Bismarck konnte daher im Frühjahr 1870  in gutem Glauben annehmen, daß es für Napoleon von besonderem Wert sei, wenn – wie es in dem Diktat heißt – eine orleanistische oder republikanische Entwicklung der spanischen Frage vermieden würde100. Nun wird freilich mitunter gesagt, Bismarck müsse gewußt haben, daß das französische Nationalgefühl in Bezug auf alles, was mit der Erhaltung des in Madrid vorwiegenden französischen Einflusses zusammenhing, im höchsten Grade empfindlich war, und daß deshalb die Wahl eines hohenzollernschen Prinzen voraussichtlich einen kriegerischen Ausbruch herbeiführen würde101. 99 Benedetti „Ma mission en Prasse“ p. 307. 100 Denselben Gedanken äußerte der Kanzler in der Bundesratssitzung vom 16.  Juli 1870  (Hahn II S. 54) mit den Worten: „Das Bundespräsidium konnte nicht darauf gefaßt sein, zu erfahren, daß die französische Regierung, deren Interesse an der spanischen Frage ihm auf die Verhütung einer republikanischen oder orleanistischen Entwicklung sich zu begrenzen schien, in der Annahme der Thronkandidatur durch den Prinzen von Hohenzollern eine ihr zugefügte Kränkung erblicke.“ 101 Der damalige deutsche Konsul in Paris, Dr. Felix Bamberg, ein auf der Pariser Universität ausgebildeter Mann, der sich durch verschiedene historische Arbeiten bekannt gemacht hat, äußerte im März 1871, man sei in Frankreich seit mehr als 100 Jahren gewöhnt gewesen, den spanischen Thron gleichsam als eine französische Sekundogenitur zu betrachten, und würde nie ertragen haben, daß ein deutscher Fürst denselben einnehme; der Kanzler habe daher die Kandidatur des Erbprinzen von Hohenzollern wahrscheinlich in kriegerischer Absicht befürwortet. Bamberg ließ sich jedoch belehren, daß diese Vermutung unbegründet war.

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Darauf kann ich nur erwidern: Nein! Das hat er nicht gewußt. Nach meinen am 8. Juli erhaltenen Eindrücken ist er durch das Auftauchen der französischen Kriegsgefahr vollständig überrascht worden. Es ist merkwürdig, daß unter den erlauchten und den viel erfahrenen Herren, welche am 15. März um den König versammelt waren, sich niemand befand, der auch nur die Möglichkeit angedeutet hätte, aus der Annahme der spanischen Krone könne für uns ein Krieg entstehen. Keiner dieser Herren hatte lange genug in Frankreich gelebt, um jene überaus empfindliche Stelle des Nationalgefühls kennenzulernen. Auch in den erwähnten Mitteilungen aus dem Leben des Königs Karl von Rumänien findet sich keine Spur einer Besorgnis, daß in der spanisch-hohenzollernschen Frage der Keim eines Krieges liegen könnte. Bei Bismarcks Denkweise war es absolut ausgeschlossen, einen großen Krieg – und zwar nach seiner damaligen Auffassung den ersten einer Reihe von Rassenkriegen – herbeiführen zu wollen, um vielleicht einige Jahre früher die Frucht des Eintritts der Süddeutschen in den Nordbund zu pflücken, eine Frucht, deren natürliches Heranreifen geduldig und gern abwarten zu wollen, er oft genug erklärt hat. Einen solchen willkürlichen Eingriff in die Geschicke zweier großen Völker würde er für ein vor Gott nicht zu verantwortendes Verbrechen gehalten haben. Es kommt vor, daß das Unwahrscheinliche die wirkliche Wahrheit ist; so verhielt es sich in diesem Falle.

* * * In Varzin waren am 8. Juli die Postpferde zu meiner Rückreise schon bestellt; aber nach der Ueberraschung durch die gramontsche Rede sagte der Chef: „Nun bleiben Sie wohl hier, bis man absehen kann, was aus der Sache wird.“ Das Erscheinen Benedettis in Ems beunruhigte ihn so sehr, daß, obwohl die Karlsbader Brunnenkur noch nicht beendigt war, er dem König telegraphisch anzeigte, sein Gesundheitszustand erlaube ihm, zu reisen, er stehe zur Verfügung. Am 11. abends erfuhr er den Wunsch des Königs, ihn zu sehen; am 12. früh saß er im offnen Reisewagen. Mir war der Platz zu seiner Linken angewiesen. Er war ungewöhnlich schweigsam, sah aber heiter aus. Die Instruktionen, die in den letzten Tagen an unsere Agenten ergangen waren, lauteten dahin, wir würden wegen der französischen Drohungen keine Händel suchen, aber uns zu wehren wissen, wenn man uns angreifen wollte. Am Abend fand er in Berlin die Nachricht, daß der Fürst von Hohenzollern im Namen seines Sohnes entsagt hatte. 301

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Er meldete dem König, daß, da er unwohl sei, der Minister Graf Eulenburg statt seiner in Ems erscheinen werde. Er hatte eine schlaflose Nacht; am 13. aber wurden zwei neue französische Forderungen bekannt. Es ging ein Bericht unseres Pariser Botschafters, Baron Werther, vom 12. ein, wonach die Minister Gramont und Ollivier wünschten, der König möge an den Kaiser Napoleon einen für die Oeffentlichkeit geeigneten Entschuldigungsbrief richten, in welchem jedoch die verwandtschaftlichen Beziehungen des Fürsten von Hohenzollern zum Kaiser nicht zu erwähnen wären. Dieser Bericht hatte keine anderen Folgen, als daß der Botschafter unter strengem Tadel seiner Bereitwilligkeit, sich zum Träger einer so beleidigenden Zumutung zu machen, sofort beurlaubt wurde. Von französischer Seite ist man auf diesen Gegenstand uns gegenüber nicht zurückgekommen. Die zweite Forderung war das von dem Grafen Benedetti auf der Brunnenpromenade in Ems – wo keiner unserer Minister gegenwärtig war – an den König gestellte Ansinnen eines Versprechens, niemals in Zukunft der Erhebung eines hohenzollernschen Prinzen auf den spanischen Thron zuzustimmen. Die Ablehnung dieser Zumutung durch den König ist in der am 19. Juli in Berlin übergebenen französischen Kriegserklärung als die Ursache des Krieges bezeichnet worden. Beide Forderungen konnten nur aufgefaßt werden als Beweise eines leidenschaftlichen Verlangens, uns zu demütigen, und mußten zum Kriege führen, da verschiedene Kundgebungen von Führern der französischen Abgeordneten erkennen ließen, daß die die Minister beherrschende Leidenschaft auch die Majorität des gesetzgebenden Körpers erfaßt hatte. Dadurch war jede Aussicht auf Erhaltung des Friedens geschwunden. Es kam also darauf an, den diplomatischen Bruch so zu beschleunigen, daß wir den Vorsprung der französischen Rüstungen einholen konnten; bei uns war noch kein Reservist einberufen, kein Pferd gekauft worden. Diesem Zweck diente das viel besprochene kurze Telegramm über die Emser Vorgänge, welches Bismarck am Abend des 13. an die Zeitungen und an unsere Gesandten abgehen ließ; an die Gesandten zu ihrer Information, nicht aber – wie von französischer Seite irrtümlich behauptet worden ist – zur Mitteilung an fremde Regierungen. Anscheinend hat dieses Telegramm, dessen Wirkung durch unrichtige Meldungen darüber verstärkt wurde, verursacht, daß am 15. die französi­schen 302

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XI. Parlamentarische Schwierigkeiten mit allen Parteien … Oktober 1867 bis Juli 1870.

Minister in den Kammern erklärten, wegen des von Preußen gewollten Krieges müßten jetzt alle Reserven einberufen werden. An demselben Tage kehrte der König von Ems nach Berlin zurück, auf allen Stationen der Eisenbahn wie in Berlin von jubelnden Huldigungen begrüßt. Auf die Meldung von den Pariser Vorgängen befahl er am Abend die Mobilmachung der ganzen Armee. Für Deutschland war es eine Gunst des Geschicks, daß der edle Fürst von Hohenzollern entsagt hatte; denn nicht nur in England und Oesterreich, sondern in vielen Kreisen auch bei uns war man der Meinung, daß französische Interessen durch die Erhebung eines deutschen Prinzen zum König Spaniens beeinträchtigt werden könnten und daß daher Frankreichs Einspruch sachlich einige Berechtigung gehabt hätte, wenn auch die Form der ministeriellen Aeußerungen zu mißbilligen gewesen sei. Ein Krieg wegen des spanischen Thronkandidaten wäre äußerst unpopulär gewesen. Als aber bekannt wurde, daß Frankreich, nicht befriedigt durch das Opfer wertvoller fürstlicher Anrechte, neue, nur auf unsere Demütigung berechnete Forderungen gestellt hatte, da brauste der furor teutonicus wie ein Sturm durch das ganze Land von den Alpen bis zu den Meeren. Glücklich, wer jene Wochen freudigen Opfermutes und begeisterter Siegeshoffnung erlebt hat. In der von Miquel entworfenen Adresse des Reichstages an den König hieß es: „Wir vertrauen auf den unerschütterlichen Entschluß des deutschen Volkes, alle Güter dieser Erde daranzusetzen und nicht zu dulden, daß der Fremde dem deutschen Mann den Nacken beuge.“ Auf der Straße, „Unter den Linden“, begegnete mir Graf Eberhard Stolberg und rief: „Hoch in der Luft schwebt eine Kaiserkrone! Will’s Gott, so wird sie sich herniedersenken auf das geheiligte Haupt unseres Kriegsherrn.“

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XII. In Frankreich. Deutsches Kaisertum. Frieden. Reichstag. Varzin, Gastein und Salzburg. Schultz. August 1870 bis Oktober 1872. Am sonnigen Nachmittage des 31. Juli ging von Berlin der lange Extrazug ab, der den König und sein Gefolge nach dem Rhein führte. An allen Haltestellen standen dicht gedrängte Menschenmassen, die Seine Majestät mit Hurra begrüßten und dann das Lied „Die Wacht am Rhein“ anstimmten. Dieses bis dahin unbekannte Marschlied war wunderbar schnell in der Armee und im Lande verbreitet worden, da es der in allen Geistern lebendigen frohen Zuversicht siegreicher Verteidigung des Rheinlandes kräftigen und schönen Ausdruck gab. Der Aufmarsch der deutschen Heere am Rhein vollendete sich so schnell, daß der noch um Mitte Juli vermutete französische Vorstoß auf Baden zu Ende des Monats unmöglich war und unser Einrücken in Frankreich bevorstand. Der Kanzler hatte zu seiner Begleitung außer Abeken, Graf Karl Bismarck-Bohlen und mir auch den Grafen Hatzfeldt bestimmt, welcher im Auswärtigen Amte als der beste Kenner der französischen Sprache anerkannt und als höchst liebenswürdiger Kamerad bekannt war. Dieser und Abeken trugen nicht Militäruniform, sondern eine bei dieser Gelegenheit für die Räte des Auswärtigen Amtes geschaffene schwarze Felduniform. Beide hatten auch für Reitpferde gesorgt. Wir waren in Mainz einquartiert bei Herrn Kupferberg, dem damaligen Chef der bekannten Firma. Am zweiten Abend saßen wir mit ihm zusammen in seinem Garten bei einem Glase Bier. Er meinte, die Strenge des preußischen Dienstes würde im Kriege wohl etwas gemildert werden. „Im Gegenteil,“ sagte der Kanzler, „im Kriege ist dienstliche Strenge noch nötiger als im Frieden; aber sie wird gemildert bei uns durch die christliche Nächstenliebe der Offiziere zu ihren Leuten. Ich habe Vertrauen zu unsern Waffen, weil der Offizier den gemeinen Mann wirklich liebt und ihm in der 304

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XII. In Frankreich. Deutsches Kaisertum. Frieden … August 1870 bis Oktober 1872.

Not beisteht wie seinem Bruder.“ Herr Kupferberg flüsterte mir zu: „Das ist ja herrlich! Das habe ich mir nicht gedacht!“ Am 9. August kamen wir nach Saarbrücken. Drei Tage vorher waren von dort aus die nahe gelegenen Höhen von Spicheren erstürmt worden. Man ritt nach dem Schlachtfelde. Oberst Albedyll sagte zu mir: „Die Armee ist ja noch viel besser, als ich dachte. Die Siege bei Weißenburg und Wörth waren natürlich, da wir die große Ueberzahl hatten. Aber General Kameke hat hier, als er angriff, nur eine Division gehabt. Ich wundere mich, daß er es gewagt hat; aber da es geglückt ist, war es richtig, dank den Eigenschaften unserer Leute; die folgen blind dem Offizier und, wenn der gefallen ist, dem Unteroffizier oder Gefreiten. Eine Truppe, die diese steilen Höhen unter feindlichem Feuer erstürmt, ist doch über jedes Lob erhaben.“ Unser liebenswürdiger Wirt in Saarbrücken, Herr Haldy, erzählte mit Genugthuung, die ganze Schuljugend habe während der Schlacht unsern Leuten Wasser und Wein zugetragen; die Besitzer aus der ganzen Umgegend aber seien bis 14  Stunden weit hergekommen, um sich Verwundete zur Pflege zu holen. Auf seinem Grundstück lagen deren 15. Bismarck wurde, wo er sich auf der Straße sehen ließ, mit Hurra begrüßt. Am 11. August überschritten wir die Grenze. Der Chef hatte wie gewöhnlich Abeken in seinen Wagen genommen; auch die Chiffrierbeamten und der für Information der Presse ins Hauptquartier berufene Dr. Moritz Busch fuhren immer in den für das Auswärtige Amt beschafften Wagen; Hatzfeldt aber, Karl Bismarck und ich zogen gewöhnlich vor, die Tagesmärsche zu Pferde zurückzulegen. In dem ersten französischen Quartier, dem Städtchen St. Avold, fanden wir den Oberstleutnant von L’Estocq, welcher bei Spicheren am Abend mit einem Bataillon des Leibregiments und den dritten Jägern erfolgreich eingegriffen hatte. Dabei waren ihm drei Pferde unter dem Leibe erschossen worden. Auf Befragen des Kanzlers erzählte er in bescheidenem Tone von der auch bei den stärksten Verlusten unbegrenzten Hingebung der Leute und sagte, es scheine ihm ein Wunder, daß er selbst durch Gottes Gnade ­unverletzt blieb. Bismarck bemerkte darauf: „Die opferwillige Tapferkeit ­erwächst aus derselben Wurzel wie die Demut, aus der Gottesfurcht.“ Am 14. nachmittags hörten wir aus unserem Quartier in dem Dorfe Herny Kanonendonner in der Richtung von Metz. Am 15. stieg auch der Kanzler zu Pferde, um im Gefolge des Königs die beiden Armeecorps zu besuchen, welche am Tage vorher bei Courcelles im Feuer gewesen waren. Wir anderen blieben in einiger Entfernung zurück, da der König nur kleines Gefolge befohlen hatte, und kamen nicht bis an das Schlachtfeld. Doch r­ itten wir nahe 305

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genug an das Moselthal, um auf den jenseitigen Höhen die gelblichen Türme und Mauern des Forts St. Quentin über Metz leuchten zu sehen, während Morgennebel noch die in der Tiefe liegende Stadt ­bedeckten. Dort war jedoch keinerlei Bewegung sichtbar; es fiel kein Schuß. Am 16. nachmittags erreichten wir das etwa 25 km südlich von Metz auf dem linken Moselufer gelegene Städtchen Pont-a-Mousson. Dorthin gelangten häufige Meldungen über den Gang der blutigen Schlacht, die bis in die Nacht hinein bei Mars-la-Tour gekämpft wurde. Man vermutete, daß die Schlacht am 17. wieder beginnen könnte; der König und die Generale fuhren daher schon früh um 3 ½ Uhr hinaus. In später Abendstunde des 16. befand sich der Kanzler noch beim Könige zusammen mit Moltke. Da tritt ein Ordonnanzoffizier ein und macht in leisem Tone dem General eine Meldung, die ihn zu erschrecken scheint. Bismarck versteht seinen Blick und fragt: „Geht es mich an?“ Darauf meldet der Offizier laut: „Bei der letzten Attacke des 1. Garde-Dragoner-Regiments ist Graf Herbert Bismarck gefallen, Graf Bill tödlich verwundet worden.“ Und auf Befragen gibt er an, die Nachricht komme von dem kommandierenden General des X. Corps von Voigts-Rhetz, dessen augenblicklicher Aufenthalt nicht bekannt sei, da der General umherreite, um alle Lazarette zu besichtigen. Bismarck läßt sofort satteln; und ohne ein Wort zu sagen, reitet er in die Nacht hinaus. Kein Reitknecht darf ihm folgen. Beim ersten Morgengrauen kommt er in das Dorf Tronville und trifft auf der Straße den ihm aus dem Reichstage bekannten Professor Aegidi, welcher als Krankenpfleger thätig ist und melden kann, daß der General von Voigts-Rhetz soeben vorbeigeritten sei nach dem Johanniter-Hospital am andern Ende des Dorfes. Dort findet ihn der Kanzler und erhält Geleit nach einem Gehöfte in Mariaville, wo mehrere Verwundete liegen. Beim Eintreten in das Haus kommt ihm sein jüngster Sohn unverletzt entgegen, Herbert aber liegt verwundet auf einem Strohlager. Er war von einer Kugel an der Brust gestreift worden, eine zweite hatte seine Uhr zerschmettert, die dritte aber war in das Fleisch des Oberschenkels eingedrungen. Graf Bill war bei der Attacke in der Dunkelheit über ein totes Pferd gestürzt, hatte aber sein Pferd festhalten und, nachdem er einen Verwundeten in den Sattel gehoben, zurückführen können. In dem improvisierten Feldlazarett fehlte es an Wasser; der Kanzler ließ es von einem entfernten Brunnen in Fässern heranschaffen. Im Hofe liefen viele Hühner und Puten herum; er veranlaßte den dirigierenden Arzt, darüber für die Kranken zu verfügen, was dieser nicht gewagt hatte. Nach 306

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XII. In Frankreich. Deutsches Kaisertum. Frieden … August 1870 bis Oktober 1872.

mehrstündigem Aufenthalte bei seinen Söhnen ritt er auf das Schlachtfeld vom 16. und schloß sich dem Gefolge des Königs an102. Einige Tage später wurde Graf Herbert in unser Quartier und von Ponta-Mousson über Frankfurt nach Nauheim transportiert, wo er längere Zeit unter mütterlicher Pflege verblieb. Am Morgen des 17. hörten wir nur, daß der Chef nicht mehr im Schlafzimmer sei, und vermuteten, er wäre mit dem König weggefahren. Da im Bureau augenblicklich nichts zu thun war, ritten wir alle in früher Stunde nach der Richtung von Mars-la-Tour etwa 20 km weit und fanden den Chef bei den Offizieren des königlichen Gefolges. Auf dem Rückwege konnte ich in dem Städtchen Gorze meinen Vetter Zieten begrüßen, welcher an der Spitze des Zieten-Husaren-Regiments eine tödliche Wunde erhalten hatte. Es war befohlen, den Angriff auf die französischen Stellungen westlich von Metz erst am 19. zu beginnen, da das sächsische Armeecorps nicht vor dem 18.  abends die ihm angewiesene Stellung erreichen konnte. Ein Angriff von französischer Seite aber war zu jeder Zeit möglich. Der König fuhr daher am 18. früh um 4 Uhr ab nach Gorze und stieg dort zu Pferde. Der Kanzler und sein Vetter Karl schlossen sich dem Gefolge an; Abeken aber, Hatzfeldt und ich blieben zurück, um zu arbeiten. Im Laufe des Tages hieß es, daß eine große Schlacht geschlagen würde; abends, daß der König und der Kanzler auf dem Schlachtfelde übernachten würden. Am 19. früh fuhren wir daher hinaus, mit Nahrungsmitteln reichlich versehen, und fanden den Kanzler in der Nähe des Dorfes Rezonville. Er war bereits vollkommen gesättigt durch die von einem Stabsoffizier gespendete Erbswurstsuppe. Am Tage vorher hatte er nur Kommißbrod gehabt und einige Eier, die er am Degengriff zerschlug. Er meinte aber, sich nie wohler wie jetzt gefühlt und selten so gut geschlafen zu haben wie in ­Rezonville; der Krieg sei doch vielleicht der dem Menschen natürliche und gesunde Zustand. Mit dem amerikanischen General Sheridan, einem sehr angenehmen Manne, ritten wir so nahe als thunlich an die Forts von Metz heran, ­erreichten 102 Daß er am 16. morgens bei den Söhnen gewesen und was er im Feldlazarett angeordnet, erzählte der Kanzler uns am Abend beim Essen; von seinem nächtlichen Ritt aber hat er damals nicht gesprochen. Ich erfuhr diesen Vorgang erst in Berlin durch Professor Aegidi, welchem er im Sommer 1871 bei Erwähnung des Zusammentreffens in Tronville die oben erzählte Mitteilung gemacht hat. Abeken sagt in einem Briefe vom 18. August, der Chef habe am Morgen des 17. vom Schlachtfelde aus mit seinem Vetter Bohlen die Söhne besucht. Das war also der zweite Besuch. Karl hat dabei vermutlich vom ersten gehört, uns andern aber nichts darüber mitgeteilt. (S. H. Abeken, Ein schlichtes Leben. Berlin 1898 S. 397.)

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aber keinen Punkt, von welchem die Stadt sichtbar gewesen wäre. Wir traten in verschiedene Feldlazarete ein; überall große Not. Bismarck verteilte die für ihn und für uns mitgebrachten Nahrungsmittel an die Verwundeten und gab eigenhändig allen zu trinken. Der König unterließ den anfänglich beabsichtigten Ritt zu den verschiedenen siegreichen Corps. Es hieß, er sei zu tief erschüttert durch die eingegangenen Meldungen über unsere ungeheuren Verluste. Das Gardecorps allein sollte etwa 8000 Mann verloren haben. Die drei folgenden Tage brachten in Pont-a-Mousson viele Arbeit und manchen Kummer. Trotz des großen Erfolges  – der Einschließung der Armee Bazaines durch einen eisernen Ring – konnte Bismarck über die nach seiner Meinung am 18. gemachten Fehler sich nicht beruhigen. Er schalt bitter auf den Mißbrauch der ungeheuren Bravour der Leute durch den General Steinmetz, welcher gegen des Königs Befehl die Schlacht einleiten zu sollen gemeint hatte, weil „das Vorpostengefecht so gut gegangen“ wäre. Und dann, daß der Generalstab des Gardecorps, ohne die Sachsen abzuwarten, die Sache allein hatte abmachen wollen und daß er gegen die Schützengräben von St. Privat die auserlesensten Truppen, die Garde-Schützen und -Jäger, nicht etwa ausgeschwärmt, sondern in Colonnen vorgeschickt hatte, das verdammte er als verbrecherisch. Moltke jedoch war mit dem erreichten großen Ergebnis zufrieden und meinte, daß dagegen die gemachten Fehler völlig zurückträten; es könne im „großen Kriege“ sogar vorkommen, daß ein ganzes Armeecorps völlig aufgerieben würde, und auch das müßte man dann verschmerzen, wenn der erhoffte Zweck erreicht wäre. Steinmetz freilich dürfe wegen Ungehorsams sein Kommando nicht behalten; beim Gardecorps aber halte er irgendeine Personalveränderung nicht für angezeigt, da zur Entschuldigung der begangenen Fehler manches gesagt werden könne. Diese Verschiedenheit der Auffassungen war, wie mir schien, die erste Ursache einer gewissen Verstimmung Bismarcks gegen Moltke und andere Generale, einer Verstimmung, welche, bald durch andere. Umstände vertieft, während des ganzen Feldzuges bis zur Uebergabe von Paris fortgedauert hat und nur in dem gemeinsamen Handeln bei der Kapitulation von Sedan augenblicklich zurücktrat. Bekanntlich erhielt Prinz Friedrich Karl die Aufgabe, die Armee Bazaines im Metz festzuhalten, während der Kronprinz mit seiner Armee gegen Paris marschierte. Nicht früher als am 24. August – im Hauptquartier Bar le Duc – erhielt das Militärkabinett vollständige Berichte über die Verluste vom 18. Da erst 308

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XII. In Frankreich. Deutsches Kaisertum. Frieden … August 1870 bis Oktober 1872.

erfuhr ich, daß unter den etwa 500 gefallenen Offizieren sich auch mein geliebter – und als Sänger berühmter – Freund Fabeck befand, welcher vor St. Privat die Gardeschützen kommandiert hatte. Auch Bismarck schien von dieser Nachricht schmerzlich ergriffen. Man durfte aber nicht rückwärts sehen. Unsere Ulanen hatten als sicher gemeldet, daß Mac Mahon, statt die Richtung auf Paris einzuhalten, nach Norden abgeschwenkt war, offenbar um nach Metz zu streben. Es galt also, ihn vorher zu fassen. Der Marsch der ganzen Armee des Kronprinzen wurde sofort nach Norden gerichtet. Am 30. August ritt man von dem Schlosse Busancy nach einem bei dem Dorfe Sommauthe gelegenen Hügel, von dessen Gipfel das breite, teilweise bewaldete Thal der Maas und die dort angeblich zu erwartende Schlacht gut zu übersehen war. Bismarck äußerte zu mir: „Als Bundeskanzler bin ich eigentlich für die Kosten eines jeden Schusses, der abgefeuert wird, verantwortlich; aber von dem, was heute vorgehen soll, weiß ich nicht mehr als jeder Reitknecht.“ Bald darauf kam die Meldung, daß der Regierungspräsident Graf Villers in Busancy angekommen sei, welcher designiert war, die Aufsicht über die deutschen Verwaltungen mehrerer Präfecturen zu übernehmen. Da die Einrichtung und Leitung dieser Verwaltungen zu meinem Geschäftsbereich gehörte, mußte ich sofort nach Busancy zurückreiten. Erst am Abend erfuhr ich den glücklichen Ausgang der Schlacht bei Beaumont. Eine Hauptursache, weswegen der Kanzler von den Verfügungen der Armeeleitung nicht regelmäßig Kenntnis erhielt, lag wohl in seiner damaligen Zeiteinteilung. In dem kurzen böhmischen Feldzuge hatte er den Vorträgen der Generale, welche vor dem Könige an Ruhetagen der Regel nach um 10 Uhr stattfanden, fast immer beigewohnt; in den folgenden Jahren verschlimmerte sich sein Leiden häufiger Schlaflosigkeit. Er pflegte nach der ersten Stunde des Nachtschlafs zu erwachen und dann bis gegen Morgen durch Nachdenken über verantwortungsvolle Entscheidungen wachgehalten zu werden. Gewöhnlich fand er erst bei Tagesanbruch den Schlummer wieder, von dem er dann selten vor zehn oder elf Uhr erwachte. Dieser Morgenschlaf schien ihm unentbehrlich und niemand wagte, ihn zu wecken. Wenn außergewöhnliche Ereignisse vorherzusehen waren, verzichtete er auf diese Erquickung; der Regel nach aber war er vormittags nicht sichtbar. Von seiner Teilnahme an den morgens stattfindenden Militärvorträgen konnte daher nicht die Rede sein. Es wurde stillschweigend vorausgesetzt, daß er alles Wichtige erführe, und keine Einrichtung getroffen, ihn von den ergangenen Befehlen fortlaufend zu unterrichten. Niemand mochte diese Frage anrühren. Oberst Albedyll, mit dem ich darüber sprach, sagte, es 309

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sei da nach seiner Meinung nichts zu ändern. Die Militärvorträge auf den Nachmittag zu verlegen, sei aus verschiedenen Gründen unmöglich. Wahrscheinlich sei es auch den Herren Generalen ganz bequem, daß der Kanzler ihren Vorträgen nicht beiwohne und über alles mitspreche. Auf jede Frage aber würde er natürlich vollständige Auskunft erhalten. Ich bemühte mich nun während des ganzen Feldzuges, mit den Adju­ tanten und Abteilungschefs der Armeeleitung Fühlung zu halten, und fand bei all diesen Herren jederzeit kameradschaftliches und offenherziges Entgegenkommen; es gelang mir aber nicht, durch gelegentliche Meldung über militärische Verfügungen die Verstimmung des Kanzlers wegen des Mangels regelmäßiger dienstlicher Informationen zu mildern. Am 1. September waren Abeken und ich im Hauptquartier Vendresse den ganzen Tag an den Schreibtisch gefesselt; nur Hatzfeldt und Graf Karl hatten das Glück, den Chef zu begleiten und vom Gipfel eines breiten Hügels die Entwickelung der Katastrophe von Sedan zu beobachten. Abends wurden wir vom Chef nach dem Städtchen Donchery gerufen. Am 2. ritten wir alle nach dem Schloß Fresnois, wo der König mit dem Kaiser Napoleon eine Unterredung ohne Zeugen hatte. Ueber den Inhalt dieses Gespräches erzählte der Kanzler vertraulich folgende Einzelheiten. Der Kaiser Napoleon äußerte, die deutschen Heere seien immer von so dichten Netzen der Kavallerie umgeben gewesen, daß man sichere Nachrichten über ihre Bewegungen nicht erhalten konnte. Doch habe er gehört, daß Prinz Friedrich Karl die vor Sedan stehende Armee kommandiere. „Das ist ein Mißverständnis,“ entgegnete der König, „hier steht die Armee meines Sohnes; mein Neffe Friedrich Karl hält mit seinen Corps den Marschall Bazaine in Metz eingeschlossen.“ Da ließ Napoleon beide Arme sinken und sagte: „Dann ist in der That alles verloren!“ Nachmittags gegen 2 ½ Uhr begann der König mit großem Gefolge über das weit ausgedehnte, hügelige Schlachtfeld zu reiten, um möglichst viele Regimenter zu begrüßen. Ich trennte mich einige Zeit vom Gefolge, um nach einem am Tage vorher im Garde-Dragonerregiment gefallenen Neffen zu fragen. Dadurch kam ich in die Lage, den Offizieren der Gardes du Corps und der Garde-Kürassiere das Ergebnis der Schlacht mitzuteilen, für dessen Bekanntmachung an die von Sedan entfernt stehenden Truppen binnen 24  Stunden nichts geschehen war. Dem Kanzler schien die Anstrengung dieses achtstündigen Rittes gut zu bekommen, da er sich in erhöhter Stimmung befand, wenngleich die an den Sedantag geknüpfte Friedenshoffnung getäuscht hatte. 310

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Am 5. September erreichten wir Reims. Am 6. abends 10 Uhr wollte der Chef auf die Straße gehen, um Luft zu schöpfen, und nahm mich mit. Er fragte nach meiner Kindheit, ließ sich manches Erfreuliche davon erzählen und sagte dann: „Meine Kindheit hat man mir in bester Absicht verdorben. Die damals berühmte Plamannsche Anstalt, in der ich sechs Jahre aushalten mußte, war eine Art Zuchthaus.“ Und nach einer kurzen Pause: „Wir werden nun bald daran denken müssen, die Mächte darauf vorzubereiten, daß wir ohne Straßburg und Metz nicht Frieden machen können. Nicht, um Elsaß und Lothringen wieder an Deutschland zu bringen, sondern nur, um den Franzosen einen neuen Angriffskrieg zu erschweren, müssen wir die beiden Festungen besitzen. Man hat uns schon Sadowa nicht verziehen und wird unsere jetzigen Siege noch weniger verzeihen, mögen wir beim Frieden noch so großmütig sein. Es ist ja schon in Pont-a-Mousson davon mehrmals die Rede gewesen. Der König hat auch schon vor der Schlacht von Beaumont aus Busancy in diesem Sinne an den Kaiser Alexander geschrieben, um ihn vertraulich vorzubereiten; wir werden aber bald auch amtlich an Rußland und die anderen Mächte herangehen müssen. Mir ist zwar die Erwerbung von Lothringen politisch unerwünscht; aber die Generale halten Metz für unerläßlich, da es den Wert von wenigstens 120.000 Mann repräsentiert.“ Während der zehn Tage des Aufenthalts in Reims gab es so viel zu thun, daß Abeken und ich nicht einen Moment aus der Stadt ins Freie gelangen konnten. Dort, und dann im Hauptquartier Meaux, wurden über die unerläßlichen Basen des Friedens zwei ausführliche Rundschreiben von Abeken entworfen und vom Chef mit Bleistift vielfach umgeändert. Beide gingen zu mechanischer Vervielfältigung nach Berlin. Die Vorschrift, daß Bleistiftzüge des Chefs in der Kanzlei mit Tinte nachgezogen werden sollen, war in diesen Fällen beim Vorhandensein metallographischer Exemplare nicht ausgeführt worden. Im Hauptquartier Ferneres aber bemerkte der Kanzler diesen Mangel in den Akten, ließ Abeken und mich rufen und sagte zu uns beiden: „Sie halten das Bureau nicht in Ordnung. Wir machen keine Vergnügungsreise. Wenn Sie mich alle im Stich lassen und krank ärgern, so ist der Moment schlecht gewählt, da ich jetzt sehr schwer zu ersetzen bin.“ Derartige Aeußerungen tiefer Verstimmung sind im Laufe der folgenden Monate mehrmals vorgekommen. Wir waren alle der Meinung, jeden auch scheinbar unbegründeten Tadel schweigend anhören zu sollen, um nicht durch irgendeine Entgegnung die Schmerzen des nervenleidenden Chefs zu steigern. In Ferrieres erkrankte am 27. September Abeken in bedenklicher Weise, nach Ansicht des Generalarztes Dr. von Lauer infolge von U ­ eberanstrengung. 311

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Einige Symptome ließen auf eine Störung der Centralorgane, eine leichte Schlagberührung, schließen. Der Chef verfügte sofort Buchers Einberufung zu geschäftlicher Aushilfe. Abeken erholte sich nach mehreren Tagen wieder, übernahm seine früheren Arbeiten und zeigte sich allen Anforderungen gewachsen; aber sein sonst kindlich frohes Wesen hatte öfters einen elegischen Zug, welcher mich um ihn besorgt machte.

* * * Am 5. Oktober wurde das Hauptquartier nach Versailles verlegt. Ein weiter Ring um Paris war von unseren Truppen am 19. September geschlossen worden. Nur 163.000 Mann standen auf der ungefähr 140 km langen Umfassungslinie verteilt. Die Zahl konnte später etwas erhöht werden, soll aber nie mehr als 200.000 Mann betragen haben. Es war vorgesorgt, daß, sobald Vorbereitungen zu einem Ausfall aus Paris erkennbar wurden, an jedem bedrohten Punkte starke Truppenmassen zusammenströmen konnten. Moltke äußerte damals gelegentlich, daß wohl sechs Wochen der Einschließung genügen würden, um die Uebergabe durch Hunger zu erzwingen; Bismarck hatte von den wirtschaftlichen Hilfsmitteln der Millionenstadt eine weniger ungenaue Vorstellung und meinte, daß baldige Beschießung durch schwere Geschütze notwendig sein würde, wenn man nicht einige Monate vor Paris verlieren wollte. Er machte sich von Hause aus auf einen längeren Aufenthalt in Versailles gefaßt, wenn er auch dessen fünfmonatliche Dauer nicht voraussah. Sein Quartier waren zwei Zimmer im ersten Stock eines netten Häuschens, dessen Fenster nach drei Seiten auf einen ziemlich großen, hübschen Garten hinausgingen. Im Erdgeschoß war ein längliches Speisezimmer und ein geräumiger Salon auf der Gartenseite; nach der Straße zu lag ein großes Billardzimmer, in dem die Kanzlei eingerichtet wurde. Dort pflegten Hatzfeldt, Bucher und ich sowie die Chiffrierbeamten den ganzen Tag über und abends oft bis gegen Mitternacht zu arbeiten. Im ersten und zweiten Stock wohnten Abeken, Graf Karl, Dr. Busch103 und der Vorsteher der Kanzlei, Hofrat Wollmann. Die anderen Räte und fünf Chiffrierbeamte waren in der Nachbarschaft untergebracht. Zu den Hauptmahlzeiten aber – dem 103 Abeken erwähnt (a. a. O. S. 432) in einem Briefe vom 5.  Oktober, auch ich sei dort einquartiert ­gewesen. Ich trat aber das mir zugedachte Zimmer an Dr. Busch ab, da derselbe häufiger als ich zum Chef gerufen zu werden pflegte, um an deutsche und englische Zeitungen zu telegraphieren.

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­ armen Frühstück um Mittag und dem Abendessen um 6 Uhr – pflegten w sich alle zusammenzufinden. Zum Frühstück kam der Chef sehr selten herunter, abends aber fast immer, wenn er nicht unwohl war. Die Einladungen zur königlichen Tafel ergingen an ihn wie auch an die Räte, immer unter der ausdrücklichen Bedingung, daß eilige Geschäfte dadurch nicht gestört würden, und wurden vom Chef der Regel nach abgelehnt. Die schmalen Seiten des langen Eßtisches waren abgerundet; an der einen pflegte der Chef in der Mitte zu sitzen, rechts und links neben ihm fast täglich einige Gäste, dann an beiden Langseiten die Räte und nach ihnen die Kanzleibeamten. Die Tafel war durch Karls Fürsorge immer reichlich ausgestattet. Das Tischgerät war aus Zinn. Zur Beleuchtung dienten Kerzen, welche in Flaschenhälse gesteckt waren. Außer den bereits genannten Beamten war in Versailles mehrmals auf Tage oder Wochen Herr Delbrück anwesend und vom Dezember ab dauernd der erste Rat des Staatministeriums, Wagener; im Januar kamen dazu der Legationssekretär von Holstein und auf kurze Zeit der Attaché Graf Wartensleben. Nach dem Essen pflegten die Kanzleibeamten zu verschwinden, die anderen aber in den Salon zu gehen und etwas zu rauchen. Am 16. Oktober ließ ich dort ein Möbel aufstellen, das im Hause gefehlt hatte, ein Pianino. „Selten“, sagte der Chef, „hat das Auswärtige Amt einen so guten Gedanken gehabt.“ Fast an jedem Abend ließ er sich rauchend etwas vorspielen, wenn nicht gerade politische Beratungen drängten. Am Weihnachtsabend wurden auch die Chiffrierbeamten in den Salon eingeladen. Ich hatte einen Baum mit Lichtern beschafft, und für alle Anwesenden waren Cigarren, Pfefferkuchen, und wertlose kleine Geschenke von Hause eingegangen. Der Chef schien ein kindliches Vergnügen an diesen Veranstaltungen zu haben und dankte herzlich dafür. Selten nur nahm er sich die Zeit, einen Spazierritt zu unternehmen; seine einzige Erholung bestand, wenn die Füße nicht schmerzten, in einsamen nächtlichen Spaziergängen durch den Garten, der von hohen Mauern umgeben war. Abeken mußte gewöhnlich statt seiner in den Morgenstunden, öfters auch am Abend, die Vorträge beim König halten, dessen Residenz in der Präfektur vom Auswärtigen Amte ziemlich weit entfernt lag. Nur ausnahmsweise hielt der Kanzler selbst den Immediatvortrag; oft war er durch Unwohlsein daran verhindert, oft auch durch ein Uebermaß eiliger Geschäfte. Man wußte, daß unseren vor Paris stehenden Truppen schwere Kämpfe bevorstanden gegen die von Gambetta mit staunenswerter Energie im 313

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­ orden, im Westen und im Süden geschaffenen Massen gut bewaffneter N Streiter; und der vom Mont Valerien nach Versailles herüberdröhnende Geschützdonner mahnte täglich an die von der Einschließungsarmee zu bestehenden Gefechte. In so schwüler Gewitterluft verhandelte Bismarck über den Ausbau der Verfassung, welche die deutschen Stämme vereinigen sollte. Nachdem er laut genug erklärt hatte, daß für uns ein Frieden ohne die Abtretung von Straßburg und Metz nicht annehmbar sein würde, machte sich in Süddeutschland die Erkenntnis geltend, daß ein Reich geschaffen werden müsse, welches diese Schutzwehren des Südens in Besitz nehmen könnte. Im Laufe des September schon brachte die bayerische Regierung den  Wunsch einer Annäherung der süddeutschen Staaten an den Norddeutschen Bund amtlich zum Ausdruck. Der Staatsminister Delbrück wurde beauftragt, in München die Vorschläge Bayerns anzuhören, dabei aber nichts zu äußern, was auch nur den Schein eines beabsichtigten Druckes auf die freien Entschließungen der treuen Verbündeten hervorrufen könnte. An diesen Besprechungen nahm in München auch ein Vertreter Württembergs teil. Dann wurde von Stuttgart aus der Wunsch kundgegeben, die eingeleiteten Verhandlungen in Versailles fortzusetzen. Gleichzeitig ersuchte Baden und bald darauf auch Südhessen um Aufnahme in den Norddeutschen Bund. Vor Ende Oktober kamen Bevollmächtigte aller süddeutschen Staaten nach Versailles und verhandelten mit Bismarck, D ­ elbrück und teilweise mit Roon. Die bayerischen Minister traten einstweilen zurück, um die Verhandlungen mit Baden und Hessen nicht zu erschweren, welche auch Mitte November zum Abschlusse kamen. Dann erst begannen die entscheidenden Besprechungen mit den Vertretern Bayerns. Sie kosteten den Kanzler drei fast schlaflose Nächte, wurden aber am 23. durch Unterzeichnung des Vertrages abgeschlossen. Bald darauf, am späten Abend, kam er noch in das Eßzimmer, in welchem zufällig Hatzfeldt und Karl beim Thee saßen. Letzterer erzählte mir noch in der Nacht, der Chef sei sehr heiter gewesen und habe mit sichtlicher Befriedigung von der nunmehrigen Vollendung der Einigung Deutschlands gesprochen. Er habe bemerkt, es wäre vielleicht nicht notwendig gewesen, den Bayern so viel wie geschehen zu konzedieren; er hätte aber gewünscht, daß sie den Vertrag g e r n unterschrieben. Unter Verbündeten erzwungene Verträge hätten auf die Dauer wenig Wert. Unmittelbar darauf wurde auch mit Württemberg in Berlin abgeschlossen. Alle mit den süddeutschen Staaten getroffenen Vereinbarungen ­schlossen sich an die Verfassung des Norddeutschen Bundes an, ließen jedoch durch 314

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gewisse Reservatrechte zweier Staaten den föderativen Charakter dieser Verfassung noch stärker hervortreten. Eine gemeinsame staatsrechtliche Urkunde war hergestellt, es fehlten aber noch die dem politischen Bedürfnis entsprechenden Benennungen für den Bund und für dessen Oberhaupt. Auch dazu kam die erste leise Anregung wie später der entscheidende Antrag von bayerischer Seite. Prinz Luitpold von Bayern, der jetzige Prinzregent, hatte sich dem großen Hauptquartier angeschlossen. Sein Adjutant, der Hauptmann Graf Berchem104, besuchte mich am 13. Oktober und legte mir vertraulich die Frage vor, ob es nach meiner Auffassung der Lage opportun sein würde, wenn eine Anregung dazu käme, daß das Bundespräsidium den Schmuck der Kaiserkrone erhielte. Ich erwiderte, der Kanzler habe sich über eine solche Möglichkeit meines Wissens nie geäußert, doch sei ich fest überzeugt, daß eine bezügliche Anregung ihm höchst willkommen sein würde. Der Chef billigte die von mir gegebene Antwort. Es vergingen nun mehrere Wochen, ohne daß der Gegenstand berührt wurde. Bei den Besprechungen mit den bayerischen Bevollmächtigten aber machte der Kanzler geltend, daß es für ihren König leichter sein müsse, gewisse Rechte dem Deutschen Kaiser einzuräumen als dem benachbarten Könige von Preußen. Bindende Instruktionen waren über diesen Punkt noch nicht ergangen, und so blieb im Vertrage das Wort Bundespräsidium stehen. Bekannt ist, wie dann Prinz Luitpold in die Lage kam, am 4. Dezember in Versailles dem Bundesfeldherrn einen Brief zu überreichen, in welchem König Ludwig dem Wunsche nach „Wiederherstellung eines Deutschen Reiches und der Deutschen Kaiserwürde“ Ausdruck gab; bekannt auch, daß König Ludwig dazu die Mitwirkung aller Bundesmitglieder nachsuchte und erhielt. Dem Reichstage des Norddeutschen Bundes, welcher zu einer außerordentlichen Sitzung auf den 24. November einberufen war, wurden die vier Verfassungsverträge und bald darauf ein Antrag des Bundesrates vorgelegt, nach welchem im Eingange der Verfassung an Stelle der Worte D e u t s c h e r B u n d die Worte D e u t s c h e s R e i c h zu setzen wären und folgende Bestimmung Aufnahme finden sollte:

104 Graf Berchem, ein als Verwaltungsbeamter durchgebildeter Großgrundbesitzer, trat später in den auswärtigen Dienst des Reiches, bekleidete einige Jahre die Stellung des Unterstaatssekretärs im Auswärtigen Amte, zog sich aber nach dem Rücktritte des Fürsten Bismarck leider in das Privatleben zurück.

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„Das Präsidium des Bundes steht dem Könige von Preußen zu, welcher den Namen D e u t s c h e r K a i s e r führt.“ Dieser Antrag wurde ebenso wie die Verträge, welche am 1. Januar 1871 in Kraft treten sollten, mit allen gegen die 6 sozialdemokratischen Stimmen genehmigt, welchen nur beim bayerischen Vertrage noch 26 ablehnende Stimmen hinzutraten. Dann wurde eine Adresse beschlossen, um dem Wunsche Ausdruck zu geben, der König möge das Einigungswerk weihen durch Annahme der deutschen Kaiserkrone. Diese Adresse überreichte am 18. Dezember in Versailles der Präsident Simson an der Spitze einer Reichstagsdeputation. Der König erwiderte dankend, er könne eine endgültige Erklärung nicht eher geben, als bis die Zustimmung aller Bundesglieder amtlich mitgeteilt sein würde. Abends waren die Vertreter des Reichstags zur königlichen Tafel geladen. Als der Kanzler von dort zurückkehrte, traf er mich zufällig allein im Salon und sagte, indem er rauchend auf und ab ging: „Der Verkehr mit Simson hat mir wirklich Vergnügen gemacht. Er war ja schon 1849 Präsident der Frankfurter Nationalversammlung und brachte als solcher das Anerbieten der Kaiserkrone nach Berlin; damals kannte ich ihn noch nicht. 1850 präsidierte er wieder im Erfurter Parlament, und ich war unter ihm Schriftführer. Er zeigte großes Geschick in der Leitung der Geschäfte, hatte aber in seinem Wesen etwas Feierliches, was meine Kritik reizte. In der Konfliktszeit hat er mich einmal in unschöner Weise angegriffen. Als Präsident des Norddeutschen Reichstages aber war er sehr achtbar und förderte rasche Abwickelung der Geschäfte. Es ist ein „reizendes Spiel des Geschickes“, daß derselbe Mann ausersehen war, 1849 die Kaiserkrone namens der Nationalversammlung anzubieten und jetzt die Annahme der von den Fürsten dargebotenen Krone zu erbitten. Simson ist ein recht geistvoller Mann. Als er mich hier besuchte, war er wirklich unterhaltend, was ich von den meisten Leuten, die zu mir kommen, nicht behaupten kann.“ Die Verfassung des Deutschen Reiches trat am 1. Januar 1871 in Kraft; der König aber hatte die ihm von allen Seiten angetragene Kaiserwürde noch nicht übernommen. Es fehlte nicht an Stimmen, welche den Aufschub dieser feierlichen Handlung bis nach dem Frieden befürworteten. So hörte ich Moltke einmal sagen, wir müßten doch Elsaß und Lothringen erst sicher haben, damit der König bei Uebernahme der Kaiserwürde diese Provinzen dem Reiche „als Morgengabe“ darbringen könne. Aber es überwogen die Gründe für baldige Erfüllung der einmütigen Wünsche aller Verbündeten und der Volksvertreter. Der preußische Festtag des 18. Januar wurde zu der 316

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feierlichen Kundgebung gewählt, obwohl der militärische Horizont noch nicht völlig geklärt schien. Nach Norden, Westen und Süden waren zwar unsere Truppen siegreich vorgedrungen, aber im Südosten, bei Belfort, war die Entscheidung noch nicht gefallen. Auch konnte ein Ausfall aus Paris, wie er am 19. Januar stattgefunden hat, die Feier des 18. stören. Indes die sichere Ueberlegenheit unserer technisch durchgebildeten Truppen über viel zahlreichere Massen tapferer und gut bewaffneter, aber ungeübter Streiter hatte sich seit Monaten in solchem Maße bewährt, daß man die Lage vollkommen zu beherrschen glaubte. Es konnten daher in der ersten Kundgebung Seiner Majestät des Kaisers – der Proklamation vom 18. – dem deutschen Volke Grenzen verheißen werden, „welche die seit Jahrhunderten entbehrte Sicherung gegen erneute Angriffe gewähren würden“. Im Spiegelsaale des Versailler Schlosses verlief die erhebende Feier, wie bekannt, in würdigster Weise. Betrübend war mir nur das ungewöhnlich bleiche Aussehen des Kanzlers, der sich offenbar in leidendem Zustande befand und dabei für die nächsten Wochen den schwierigsten Aufgaben entgegensehen mußte.

* * * Zum Frieden zu gelangen, war schwer, weil im feindlichen Lande eine anerkannte Regierung fehlte und die augenblicklichen Machthaber annehmbare Bedingungen nicht gewähren wollten. Im September zeigten die ersten Besprechungen mit Jules Favre, daß man jede Landabtretung grundsätzlich ausschloß. Anfangs November verhandelte Herr Thiers in Versailles wegen eines mehrwöchentlichen Waffenstillstandes, den wir auf der für uns offenbar nachteiligen Basis des militärischen Status quo zu gewähren bereit waren, um Wahlen zu einer Nationalvertretung zu erleichtern, ohne deren Bestätigung die Autorität der gegenwärtigen Regierung zweifelhaft blieb. Solche Wahlen schienen aber in Paris nicht gewünscht zu werden, da man den Waffenstillstand an die unannehmbare Bedingung knüpfte, daß die Zufuhr von Lebensmitteln nach Paris während desselben gestattet sein müsse. Auch diese Verhandlung blieb daher ergebnislos. Am 9. Oktober schiffte Herr Gambetta durch die Luft von Paris nach Tours und entfaltete dann zur Organisierung der Landesverteidigung eine Thätigkeit, welcher unsere Generalstabsoffiziere aufrichtige Bewunderung zollten. Dank der vollendeten Maschinerie der Präfekturverwaltungen wurden mit unerhörter Schnelligkeit bedeutende Streitkräfte zusammengebracht, welche von verschiedenen Seiten in der Richtung auf Paris marschieren sollten, um die Einschließungslinie zu durchbrechen. 317

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Bismarck hatte schon in Ferrieres die Ansicht vertreten, daß Paris bombardiert werden müsse, um die Uebergabe der Stadt zu beschleunigen; seine Ungeduld wurde durch die Meldungen über neue französische Rüstungen natürlich gesteigert. Moltke aber sowie der Generalstabschef der Belagerungsarmee, General (nachmals Feldmarschall) von Blumenthal, hielten die Bombardierung der Stadt vor Einnahme einiger Forts für wirkungslos. Am 12. Oktober war ich im Hauptquartiere des Kronprinzen zur Tafel geladen. Blumenthal hatte mich als Kind in Pommern gesehen und mir ein freundliches Wohlwollen bewahrt. Er nahm mich beiseite und sagte vertraulich: „In den nächsten Wochen wird es viel Streit geben über Schießen oder Nichtschießen. Ich habe in dieser Beziehung einige Erfahrung und behaupte, es wäre eine ganz erfolglose Kraftverschwendung, wenn man eine so ungeheuer ausgedehnte Stadt wie Paris beschießen wollte. Ohne einige Forts zu haben, könnten wir mit den weittragendsten Geschützen nur einige Häuser in den Vorstädten beschädigen; die Forts zu nehmen, aber würde ungeheure Opfer kosten, auch wenn sie vorher mit schweren Geschützen bearbeitet wären. Die Franzosen haben aus den Hafenstädten unglaublich viele Marinegeschütze in die Forts und in die Wälle der Stadt gebracht, für uns aber ist es nicht möglich, einige hundert Geschütze und die nötige Munition schnell heranzuschaffen. Die einzige verfügbare Eisenbahnlinie endigt in Nanteuil, etwa hundert Kilometer von hier. Die Landwege sind schlecht, und eine ausreichende Zahl geeigneter Transportwagen ist jetzt in diesen Gegenden nicht aufzutreiben.“ Was ich im Großen Generalstabe erfuhr, lautete ähnlich: Die Beschießung der Stadt würde unwirksam sein, wenn nicht zunächst gegen die Forts mehrere hundert Geschütze gerichtet werden könnten; solche aber heranzuschaffen, sei zurzeit unmöglich. Am 18. Oktober kamen Roon und Moltke zum Kanzler. Bald nach der Konferenz stellte sich bei diesem ein mehrtägiges Fußleiden ein. Ich schloß daraus, daß der Widerstand Moltkes gegen baldige Beschießung nicht zu überwinden gewesen war, obwohl notorisch auch Roon solche wünschte. Es wurden nun zwar, wie ich hörte, einige Gespanne von Munitionskolonnen der Belagerungsarmee dazu verwendet, schwere Geschütze von Nanteuil nach Villacoublay heranzuschaffen, wo der Geschützpark zusammengestellt werden sollte; das mußte aber aufhören, als im November die Möglichkeit in Erwägung kam, daß neu formierte französische Streitkräfte früher als die infolge der Kapitulation von Metz verfügbar gewordene 318

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Armee des Prinzen Friedrich Karl herankommen und die Belagerungsarmee angreifen könnten. Bismarck verlor auch in diesen kritischen Tagen keinen Augenblick seinen unbeugsamen Mut. Er sagte mehrmals: „Wenn wir wirklich etwas zurückgehen müßten, was ich noch nicht glaube, so würden wir nachher desto nachdrücklicher wieder vorgehen.“ In der letzten Woche des November berichtete er schriftlich an den König über die Eindrücke, welche die fortgesetzte Unterlassung des Bombardements in Deutschland und in England gemacht habe und wie dadurch die Neigung der Neutralen zur Intervention gefördert werden müsse. Moltke, vom Könige schriftlich befragt, äußerte sich im Einverständnis mit Blumenthal anfangs Dezember dahin, daß die Heranschaffung schwerer Geschütze in hinreichender Zahl mit den verfügbaren Transportmitteln bisher nicht möglich gewesen sei. Wenn aber der Kriegsminister durch Requisition geeigneter Fahrzeuge in Deutschland für Vervollständigung des Geschützparkes und der Munition sorgen wolle, so würden einige Forts anzugreifen sein. Roon bewirkte nun auf Befehl des Königs den Transport der Angriffsmittel durch Requisition von ungefähr tausend deutschen Fahrzeugen. Es vergingen aber noch drei Wochen, ehe alles Nötige zur Stelle war. Das im Osten vorgeschobene Fort des Mont Avron wurde am 28. Dezember angegriffen und am 29. mit unerwartet geringen Verlusten genommen. Die Beschießung der Südforts konnte am 5. Januar beginnen, und die schweren Batterien kamen allmählich der Stadt etwas näher, so daß manche Bomben bis über die Seine flogen. Es wurde auch im Norden ein Angriff auf St. Denis vorbereitet, um dann von dort aus zu bombardieren. Aber ehe diese Absichten zur Ausführung kommen konnten, zwang der Hunger die Belagerten, zu kapitulieren. Wer die Schilderung liest, die Jules Favre in seinem Rundschreiben vom 12. Januar105 von den Wirkungen der erst kürzlich begonnenen Beschießung gegeben hat, wird den Gedanken nicht abweisen können, daß, wenn veranstaltet worden wäre, den Angriff mit denselben Mitteln früher auszuführen und von Norden her zu verstärken, daß dann wahrscheinlich eine frühere Uebergabe der Stadt erfolgt sein würde106.

105 Hahn, Fürst Bismarck, II S. 212. 106 Diese Vermutung wird unterstützt durch die Autorität des General von Blume (Die Beschießung von Paris 1870/71 und die Ursachen ihrer Verzögerung; Berlin, Mittler, 1899, S. 87).

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Am 23. Januar kam der französische Minister nach Versailles. Die vorher mit ihm geführte Korrespondenz ist zwar mehrfach abgedruckt; ich erlaube mir jedoch, deren Hauptinhalt hier zu wiederholen, um eine Aeußerung Bismarcks über Favres Charakter daran zu knüpfen. Im November 1870  war eine Erklärung Rußlands erschienen, wonach es die seine Aktionsfreiheit im Schwarzen Meere beschränkenden Bestimmungen des Pariser Friedens von 1856  nicht mehr als bindend anerkennen wollte. Darüber erregte sich die öffentliche Meinung in England. Sir Odo Russel kam nach Versailles, um deshalb zu verhandeln, und acceptierte Bismarcks Vorschlag, die Frage durch eine Konferenz der Mächte in London regeln zu lassen. Auch die faktische Regierung Frankreichs in Tours wurde von englischer Seite dazu eingeladen und beauftragte Herrn Jules Favre mit der Vertretung Frankreichs in der Konferenz. Am 12. Januar erließ derselbe ein Rundschreiben, worin er ankündigte, vor den Repräsentanten Europas seine Stimme erheben zu wollen, „um die Prinzipien zu verteidigen, welche die Unabhängigkeit und Würde Frankreichs sicherstellen“. Dieses Dokument wurde am 15. in Versailles bekannt. Am 13. richtete Herr Jules Favre an den Kanzler das Ersuchen um einen Geleitschein, welcher für den Bevollmächtigten Frankreichs zur Londoner Konferenz nötig sei, um die preußischen Linien zu passieren. Bismarck antwortete am 16., daß das Kommando der Belagerungsarmee auf Ersuchen einen Geleitschein vermutlich würde erteilt haben; er selbst aber dürfe nicht amtlich dazu mitwirken, daß eine Regierung, welche noch nicht von der französischen Nation anerkannt sei, von den europäischen Mächten zur völkerrechtlichen Vertretung Frankreichs zugelassen würde. Ueberdies erlaube er sich die Frage, ob es für den Minister ratsam sei, im gegenwärtigen Augenblicke Paris zu verlassen, um an Beratungen über das Schwarze Meer teilzunehmen. Der Schluß des Briefes lautete: „Ich kann daher kaum annehmen, daß Eure Excellenz in der kritischen Lage, an deren Herbeiführung Sie einen so wesentlichen Anteil hatten, sich der Möglichkeit werden berauben wollen, zu einer Lösung mitzuwirken, deren Verantwortlichkeit zum Theil auf Ihnen ruht.“ Vor Abgang dieses Schriftstückes, bei dessen Abfassung ich nicht beteiligt gewesen war, fand ich zufällig Gelegenheit, den Kanzler zu fragen, ob es nicht nachteilige Folgen haben könne, bei Ablehnung des Gesuches dem fremden Minister eine Belehrung zu erteilen. Der Kanzler erwiderte: „Nein; ich halte Jules Favre für eine grundehrliche, liebenswürdige Natur. Ich glaube, er wird selbst finden, daß es für ihn nicht schicklich wäre, Paris jetzt zu verlassen, und er wird meine Andeutung nicht übelnehmen.“ 320

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Diese Voraussicht hat sich als richtig erwiesen. Als Herr Jules Favre nach Versailles kam, um über die Lage von Paris zu verhandeln, dankte er dem Kanzler in loyalster Weise für jene Hinweisung auf seine Pflicht. Wegen Formulierung der militärischen Bedingungen der Kapitulation befragte der Kanzler die gerade in Versailles anwesenden Generale von ­Kameke und von Stosch; später konferierte er darüber mit Moltke und dann erst kam der Entwurf zum Vortrag bei Seiner Majestät. Die Kapitulation wurde unterzeichnet am 28. Januar. Am folgenden Tage rückten unsere Truppen in sämtliche Forts ein, und die Ablieferung der Waffen der kriegsgefangenen Besatzung von Paris begann. Nur die Nationalgarde und 12.000 Mann Linientruppen blieben bewaffnet zur Verwendung im inneren Dienst. Die Zufuhr von Lebensmitteln nach der Stadt wurde freigegeben. Nach dem 26. Januar schwieg die seit vier Monaten bei Tag und Nacht gehörte Stimme des Herrn Baldrian – so wurde der Mont Valerien von unseren Leuten genannt. Diese Stille war den Nerven des Chefs zwar zuträglich, doch blieb sein Gesundheitszustand ein unbefriedigender. Während des Waffenstillstandes hatten die Wahlen zu einer Nationalversammlung stattzufinden, welche in Bordeaux über Annahme drückender Friedensbedingungen oder Fortsetzung des Krieges entscheiden sollte. Gambetta verfügte die Ausschließung aller früheren Anhänger des ­Kaiserreiches von der Wahl. Dagegen protestierte Bismarck; auch die Pariser Regierung verbot jede Beschränkung der Wahlfreiheit. Gambetta demissionierte und Thiers trat an die Spitze der Regierung Frankreichs. Er kam am 22. Februar nach Versailles. Die viertägigen Verhandlungen mit ihm waren für den Kanzler, der fortwährend über Unwohlsein klagte, sehr anstrengend und ermüdend. Anfangs drohte Thiers mit Europa, das gegen so harte Bedingungen intervenieren würde; Bismarck aber stellte bei fortgesetztem Widerstande gegen seine Forderungen die Rückkehr Napoleons in Aussicht, dessen Herrschaft doch erst im Mai 1870 durch ein Plebiszit des ganzen Landes neu befestigt worden war und der auf die Anhänglichkeit der Garden unbedingt rechnen sowie aus den übrigen gefangenen Truppen eine ihm ergebene Armee zusammenstellen konnte. Am 23. genehmigte Thiers die Abtretung von Straßburg und Metz. Als die Forderung einer Kriegskostenentschädigung von 5 Milliarden Francs zur Sprache kam, rief er aus: „mais c’est une indignité.“ Da fing Bismarck an, Deutsch zu sprechen und stellte die Zuziehung eines Dolmetschers anheim, da er ermüdet sei. Nach einer Pause sagte er, seine Kenntnis der französischen Sprache habe nicht ausgereicht, um die letzten Worte des Herrn Thiers zu verstehen. Dieser wiederholte sie nicht, und die Verhandlung wurde fortgesetzt. 321

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Etwa 8 Tage vorher hatte der Kanzler den mit großen Pariser Bankhäusern bekannten Grafen Guido Henckel von Donnersmark, welcher die Präfektur von Metz verwaltete, sowie Herrn Bleichröder nach Versailles berufen, um einige Spitzen der Finanzwelt auf die Forderung der 5  Milliarden vorzubereiten. Beide waren der Meinung, daß diese Summe in einigen Jahren aufzubringen sehr wohl möglich sein würde. Endlich kam der Präliminarfrieden in der gewollten Weise zustande. Am Abend des 25. stenographierte Bucher den Vertrag, welchen der Chef diktierte; Hatzfeld übersetzte ihn sofort ins Französische. Am 26. früh wurde die Urkunde vom König genehmigt und nachmittags gegen 5 Uhr von Thiers und Favre unterzeichnet, deutscherseits auch von den Ministern Bayerns, Württembergs und Badens. Abeken fuhr sofort zum König, dann zum Kronprinzen, um die Unterzeichnung zu melden; ich hatte die Freude, alle bezüglichen Telegramme des Chefs auszufertigen. Zum Abendessen kamen der bayerische Minister Graf Bray, Graf Henckel und Herr Bleichröder. Als nach Tisch die Gäste sich entfernt hatten (um 8 ½ Uhr), ließ der Chef mich zuerst den Hohenfriedberger Marsch107 spielen und dann vieles andere. Um zu gratulieren, kamen die Flügeladjutanten Graf Lehndorff und Fürst Radziwill; später auch Moltke, mit dem der Chef seit der Kapitulation von Paris über alle schwebenden Fragen einig gewesen war. Die Bestätigung des Friedensvertrages durch die Nationalversammlung in Bordeaux erfolgte unerwartet schnell, schon am 1. März. An demselben Tage gab der Chef den Ministern der süddeutschen Staaten ein Diner in St. Germain auf der Terrasse, von welcher man das schöne Thal der unteren Seine übersieht. Auf der Hin- und Rückfahrt saß ich neben ihm; er war sehr heiter gestimmt und schien durch das Gelingen des Friedenswerkes von den Neuralgien befreit zu sein, an denen er während der mehrtägigen Verhandlungen mit Thiers und Favre schwer gelitten hatte. Es war mir immer merkwürdig, daß weder sein Urteil noch seine Willenskraft jemals von körperlichen Schmerzen beeinflußt worden ist. Am 9. März traf er wieder in Berlin ein, mit ihm alle Räte des Auswärtigen Amtes mit Ausnahme von Abeken, welcher im Gefolge des Königs erst am 17. zurückkehrte.

* * * 107 Diesen Marsch schenkte König Friedrich dem Regiment Bayreuth-Dragoner in Anerkennung der ungewöhnlichen Leistungen des Regiments bei Hohenfriedberg. Erbe desselben wurde das Pommersche Kürassier-Regiment Nr. 2, welches noch heute allein berechtigt ist, diesen Marsch blasen zu lassen.

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Auf der Heimreise erhielt ich die telegraphische Nachricht, daß ich zum Abgeordneten für den Reichstag im Kreise Königsberg Neumark gewählt sei. Dort besaß meine Frau ein Landgut, dessen Verwaltung mein Schwiegervater Patow leitete. Derselbe hatte dadurch Einfluß gewonnen auf einige Wahlmänner, welche zu den Altliberalen gehörten, aber bei der Landtagswahl von 1867 aus persönlichen Gründen gegen den konservativen Kandidaten gestimmt und dadurch die Wahl eines Führers der Fortschrittspartei verursacht hatten. Man vermutete, daß diese Wahlmänner gegen mich nicht stimmen würden, und ersuchte mich, für die im November 1870 stattfindende Landtagswahl zu kandidieren. Ich reiste von Versailles aus auf einige Tage nach dem Kreise Königsberg Nm. und wurde von einer kleinen, aus Konservativen und Altliberalen gebildeten Majorität in den Landtag gewählt. Die Folge davon war, daß man mich anfangs März auch für den Reichstag wählte. Der Kanzler hatte meine Wahl gewünscht. Als ich sie ihm meldete, sagte er: „Zu welcher Fraktion Sie gehen, ist mir gleichgültig: ich weiß, daß Sie, wenn Sie können, für mich stimmen werden.“ Ich schloß mich den Freikonservativen an. Der erste Deutsche Reichstag wurde am 21. März eröffnet. Ergreifend war der Eindruck der von Seiner Majestät dem Kaiser verlesenen Thronrede. Am Tage der Reichstagseröffnung erhob der Kaiser den Grafen Bismarck in den Fürstenstand; etwa drei Monate später schenkte er demselben eine in dem lauenburgischen Amt Schwarzenbeck belegene herzogliche Domäne, welche unter dem Namen Friedrichsruh bekannt geworden ist. In den ersten Wochen der Reichstagssession war der Kanzler hauptsächlich durch die Regelung der deutsch-französischen Beziehungen in Anspruch genommen, die der am 18. März ausgebrochene Aufstand der Pari­ ser Kommune nicht wenig erschwerte. Als er endlich nach Abschluß des definitiven Friedensvertrages, aus Frankfurt zurückgekehrt, am 12. Mai im Reichstage erschien, erhob sich unwillkürlich das ganze Haus, wie um zur glücklichen Vollendung des großen Werkes zu gratulieren. In den Osterferien des Reichstages ließ er mich einmal rufen und sagte: „Busch ist ein guter Kerl, aber was er schreibt, ist zu „hausbacken“ für die Vertretung des neuen Reiches in der Presse. Er weiß auch lange nicht genug. Schaffen Sie mir jemand, der im Staats- und Kirchenrecht bewandert ist und mit der Tagespresse einige Fühlung hat.“ Darauf ich: „Nur einen Menschen kenne ich, der diese Anforderungen erfüllt, das ist mein Schulkamerad Aegidi, jetzt ordentlicher Professor in Bonn; Sie haben ihn vielleicht als Abgeordneten im Norddeutschen Reichstage bemerkt.“ 323

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„Jawohl,“ sagte der Fürst, „ich habe ihn auch in Frankreich gesehen. Fragen Sie ihn, ob er zu haben ist.“ Als ich nach einigen Tagen diese Frage bejahen konnte, bat ich den Fürsten, zunächst in Varzin meinen Schulfreund unter die Lupe zu nehmen, ehe er einberufen würde. So geschah es. Im Juni war Aegidi einige Tage in Varzin und trat bald darauf als erster Preßreferent in den Dienst des Auswärtigen Amtes108. Während der ersten Session des Reichstages, welche am 12. Juni geschlossen wurde, führten fünf parlamentarische Abende in der früher dargestellten Weise die Abgeordneten in die gastlichen Räume des Auswärtigen Amtes. Im Mai schrieb der Fürst an Oscar von Redwitz, welcher sein „Lied vom Neuen Deutschen Reich“ eingesandt hatte, folgende Worte, welche zwar bereits veröffentlicht sind, aber auch hier Platz finden mögen: ­„… Ich reiche Ihnen freudig die Hand als einem Mitarbeiter an dem Aufbaue des Reiches. Sie sind das schon länger gewesen: denn jedes echte Dichterwort, in Nord und Süd gleich erklingend, fördert das Gemeingefühl des Deutschen Volkes. Jetzt aber klingt aus dem Liede, das der süddeutsche Sänger dem alten norddeutschen Freiheitskämpfer in den Mund legt, die Stimme der ganzen Nation voll und kräftig mir entgegen; und, wie es des Dichters doppelte Aufgabe ist, der Mund seines Volkes zu sein und seine eigene Begeisterung ihm zu leihen, so sehe ich in dem „Liede vom Neuen Deutschen Reich“ nicht nur ein schönes Zeugnis von der in Nord und Süd gleich tief empfundenen Einheit dieses Reiches, sondern zugleich eine frische und kräftige Geistesthat, um die lebendige Einheit in der reichen Mannigfaltigkeit des deutschen Geisteslebens verwirklichen zu helfen. Die Nation wird die Worte des Dichters, der ihren Schmerzen wie ihrer Begeisterung, und vor allem ihrer deutschen Pietät für Kaiser und Reich so lebenswahren Ausdruck leiht, freudig vernehmen

108 Herrn Dr. Busch wurde freigestellt, als zweiter Preßreferent im Auswärtigen Amte zu verbleiben oder mit der ihm im Februar 1870 zugesicherten Pension, welche 3/5 seines Gehalts betrug, eine andere Stellung zu suchen. Er zog Ersteres vor und blieb noch etwa zwei Jahre im Auswärtigen Amt. In seinen nach dem Ableben des Fürsten erschienenen Tagebuchblättern hat er gegen mich als den vermeintlichen Urheber seiner Zurücksetzung gegen Aegidi einige sonderbare Verleumdungen, meistens unter Bezugnahme auf angebliche Aeußerungen des damals schon verstorbenen Bucher, zu Markte gebracht. Ich habe von diesen Dingen erst nach seinem Tode Kenntnis erhalten und ihn daher nicht zur Rechenschaft ziehen können. Seine Behauptungen zu widerlegen, ist hier nicht der Ort; ich würde sie ganz unerwähnt gelassen haben, wenn daran nicht die Bemerkung zu knüpfen wäre, daß die erstaunliche Frivolität seiner mich betreffenden Angaben auch die Glaubwürdigkeit seiner Mitteilungen über den Fürsten Bismarck in meinen Augen erheblich vermindert.

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XII. In Frankreich. Deutsches Kaisertum. Frieden … August 1870 bis Oktober 1872.

und sich daran erbauen; und sie wird das, was in Ihrem Liede noch prophetisch ist, zur Erfüllung bringen. Daran lassen Sie uns, jeder an seiner Stelle, mitarbeiten und nicht müde werden im Dienste des Vaterlandes.“

* * * Anfangs August wurde ich aus geschäftlichem Anlaß nach Varzin gerufen und verlebte dort eine politisch ruhige Woche. Der Fürst, obwohl durch eine Karlsbader Kur in Anspruch genommen, befand sich verhältnismäßig wohl. Er sprach öfters von seiner großen Freude am Park und an den Forsten. In dem einige hundert Morgen bedeckenden Parke hatte er Wege angelegt, welche an den bestentwickelten alten Bäumen und an versteckten kleinen Wiesen vorbeiführten; auch hatte er einen Pfad, welcher den Park mit dem nahen Walde verband, mit mehreren Reihen von Tannen umpflanzen lassen, welche Windschutz gewährten. Beim Vorbeireiten an einer neu angelegten Schonung sagte er: „Wenn meine politischen Thaten längst vergessen sind, wird diese Pflanzung beweisen, daß ich gelebt habe.“ Ich meinte, das Gegenteil werde eintreten. „In hundert Jahren,“ sagte ich, „wenn diese Bäume nicht mehr stehen, wird Ihr politisches Wirken den Menschen größer erscheinen als heute.“ Es fiel mir wieder einmal auf, wie konsequent er verschmähte, sich in der Weise der Stadtbewohner gegen die Nässe zu schützen. Einen Regenschirm aufzuspannen oder Ueberschuhe anzulegen, ist ihm meines Wissens nie in den Sinn gekommen. Auch fuhr er nie in anderen als offenen Wagen. Musik mochte er damals nicht mehr hören, weil dann nachklingende ­Melodien seinen Schlaf störten. In die Varziner Idylle fiel störend ein Bericht des inzwischen als F ­ eldherr berühmt gewordenen Generals von Manteuffel, welcher meldete, daß er mit dem französischen Finanzminister Pouyer-Quertier ein Abkommen von erheblicher Tragweite geschlossen habe. Darin erkannte der Kanzler eine Kompetenzüberschreitung des Generals. Er hielt für nötig, möglichst bald dem Kaiser, welcher sich zur Kur in Gastein befand, darüber Vortrag zu ­halten, auch für ratsam, den Pariser Botschafterposten zu besetzen. Die Fürstin hatte die Absicht, mit Gräfin Marie eine Kur in Reichenhall zu g­ ebrauchen, und so kam es am 12. August zu einer gemeinschaftlichen A ­ breise nach Berlin. Am 13.  hatten meine Frau und ich die Freude, den Kanzler und die Damen zum Mittagessen bei uns zu sehen; am 14. abends war die Abfahrt nach München. Die fürstliche Familie benützte den Salonwagen, welchen der „Deutsche Eisenbahnverein“ kürzlich dem 325

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Kanzler verehrt hatte; ich setzte mich in den nächsten Wagen, ebenso ein Chiffrierbeamter. Um Mitternacht wurde auf dem Bahnhof in Leipzig dem Reichskanzler eine Ovation dargebracht. Er dankte dem Sprecher, erwähnte, daß auch in seinen Adern ein Tropfen Leipziger Professorenblut109 fließe, und brachte ein Hoch aus auf den König von Sachsen. Als am folgenden Nachmittag der Zug in München einfuhr, war der dem Fürsten aus Versailles wohlbekannte Oberstallmeister Graf Holnstein auf dem Bahnhofe und bot uns einige Hofwagen an, um nach dem Hotel „Zu den vier Jahreszeiten“ zu fahren. Auf dem Platze vor dem Bahnhof standen zufällig viele Menschen, die, sowie sie den Fürsten erkannten, Hochrufe erhoben. Zu dem bei Graf Holnstein stattfindenden Diner erschienen die Minister von Pfretschner und von Lutz sowie der Staatsrat von Daxenberger. Abends erhielt ich geschäftliche Aufträge. Am andern Morgen, vor der Abreise, frage ich nach der Rechnung; da kommt der Besitzer des Gasthofs in Frack und weißem Halstuch und sagt, „bei den ungeheuren Verdiensten des Fürsten um Deutschland und namentlich um Süddeutschland“ sei es unmöglich, von ihm und seiner Begleitung irgendeine Bezahlung anzunehmen; nur eigenhändiges Einschreiben in das Fremdenbuch werde erbeten. Dieser Wunsch war leicht zu erfüllen. Im ­Auftrage des Fürsten übergab ich dann dem liebenswürdigen Wirte 25 Thaler zur Verteilung an seine Leute. Zur Abfahrt standen drei Salonwagen bereit; dem Salonwagen des Fürsten waren zu seiner Verfügung zwei andere angeschlossen, durch deren Glaswände man die herrlichen Landschaften zwischen München und Salzburg gut überschauen konnte. Auf allen bayerischen Stationen war das Hochrufen ein so herzliches, und die Leute sahen so froh und freundlich dabei aus, daß der Fürst wirkliche Freude daran hatte. Im Salzburger Gasthofe „Zum Erzherzog Karl“ gab man uns – zu seiner Zufriedenheit – dieselben Zimmer, in denen wir 1864 und 65 mehrmals gewohnt hatten. Am 17. fuhren die Damen nach Reichenhall, der Chef mit mir nach Gastein, wo wieder „im Straubinger“ Quartier bestellt war. Abends um neun kamen wir an, der Kanzler meldete sich sogleich beim Kaiser. Am anderen Morgen kam Freund Abeken, der zum Gefolge des Kaisers gehörte, um mich zu gewohntem frühem Spaziergehen abzuholen.

109 Professor Friedrich Otto Mencke war der Großvater seiner Mutter.

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Der österreichische Reichskanzler Graf Beust brauchte eine Badekur, welche nach wenigen Tagen enden sollte. Der Chef verständigte sich schnell und vollständig mit ihm über die politische Lage. Der 18. August war der Geburtstag des Landesherrn; es erschienen daher an der kaiserlichen Tafel (im sogenannten Badeschloß) Graf Beust und Baron Hofmann. Der erwähnte Vertrag Manteuffels mit Pouyer-Quertier wurde vom Kaiser nicht bestätigt; Graf Harry Arnim aber kam auf zwei Tage nach Gastein, um für den Pariser Botschafterposten instruiert zu werden. Das Gefolge des Kaisers bestand nur aus Personen, welche schon im Kriege dazugehört hatten und von denen die meisten auch schon in den Jahren 1864 und 65 die Gasteiner Wochen miterlebt hatten. Ich nenne die Generale von Podbielski und von Tresckow, Oberst von Albedyll, die Flügeladjutanten Graf Lehndorff und von Alten, den Kabinettsrat von Wilmowski und den Leibarzt Dr. von Lauer. Alle diese Herren waren, jeder in seiner Weise, durch Liebenswürdigkeit des Charakters ausgezeichnet. Der Chef brauchte die warmen Bäder und befand sich leidlich wohl. Fast täglich erschien er an der kaiserlichen Mittagstafel. Er wurde wie auch ich als zum kaiserlichen Gefolge gehörig angesehen. Mehrmals bei schönem Wetter speiste der Kaiser im Freien, nahe bei dem Schweizerhäuschen, welches, über Hofgastein gelegen, einen weiten Ueberblick des grünen von der Ache durchströmten Thales gewährt. Die Ereignisse des letzten F ­ eldzuges wurden oft von Seiner Majestät und den Offizieren in einfacher, ja bescheidener Weise besprochen, wobei man der großen Bravour der minderzähligen und unglücklich geführten französischen Truppen, mitunter auch der staunenswerten Leistungen Gambettas und der Volksbewaffnung zu gedenken pflegte. Der Kanzler hörte gern zu und sprach wenig mit. Jeder der Anwesenden fühlte sich gehoben durch den Gedanken, zu dieser Tafelrunde zu gehören und den schlichten Worten des ohnegleichen siegreichen Herrschers lauschen zu können. Am 1. September fragte der Kaiser mich vor der Tafel: „Sind Sie eigentlich am Sedantage auch dabei gewesen?“ Ich berichtete, Abeken und ich hätten in Vendresse festgenagelt am Schreibtische gesessen und wären erst abends nach Donchery gekommen. Vor Ende der Tafel erhob sich der Kaiser mit einem vollen Glase und rief: „Auf das Wohl der Armee, die vor einem Jahre so großes geleistet, und aller, die dazu beigetragen haben mit dem Schwerte und mit der Feder!“ Von der Fürstin kamen aus Reichenhall öfters gute Nachrichten. Dort verkehrte sie täglich mit Graf Hermann Keyserling, dem aus der Studentenzeit 327

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der Name „Flesch“ anhaftete, und seiner Tochter. Darauf beziehen sich die folgenden Worte eines Briefes vom 28. August: „Die Herzinnigkeit mit Fleschs ist groß und jetzt noch verklärt durch Bills Dasein (seit vorgestern), welches wir wohl acht Tage genießen werden – in größter Glückseligkeit. Er ist zwar m e i n Junge – aber ich kann’s doch nicht unterdrücken: Er ist wirklich ein reizend liebenswürdiger Kerl.“ Am 6. September reiste der Kaiser, von uns allen gefolgt, nach Salzburg, wo Kaiser Franz Joseph ihn begrüßte. Abends Diner im Schlosse, wobei Graf Beust, Graf Andrassy, der Minister des Innern Graf Hohenwart, Baron Hofmann und unser Botschafter in Wien, General von Schweinitz, erschienen. Am folgenden Tage war das Diner schon um 4 ½ Uhr. Nach der Tafel wurde nach dem im Westen von Salzburg gelegenen erzherzoglichen Schlosse Klessheim gefahren. Bei eintretender Dämmerung sah man dort von einer breiten Terrasse Freudenfeuer auf den Bergen, im Westen wie im Osten, aufleuchten. Auf dem dominierenden Untersberg brannten bis zur höchsten Spitze hinauf etwa 30 Feuer; rechts davon trugen auch der Hohenstaufen und zwei andere Berge leuchtende Massen; auf dem Gaisberg (im Osten von Salzburg) waren besonders zahlreiche Feuer von der höchsten Spitze bis in die ganze Breite des Berges verteilt. Mächtige Holzstöße mußten überall brennen, sonst hätte das Licht auf meilenweite Entfernungen nicht so stark wirken können. Dieses überaus großartige Schauspiel, für das es mir an irgendeinem bekannten Maßstabe fehlte, genossen wir in der sternklaren Nacht während der ganzen Rückfahrt nach dem kaiserlichen Schlosse. Das weite Gelände der Thäler lag in tiefem Dunkel; die hoch darüber schwebenden Freudenfeuer kündeten großherziges Vergessen des seit mehr als hundert Jahren aus natürlichen Ursachen gehegten Grolls, sie kündeten frohe Willkommensgrüße des mächtigen Donaureiches. So begann die Verwirklichung der Zukunftsbilder, die in den schweren Nikolsburger Tagen Bismarcks Seherauge erschaut hatte: über den dunklen Wirren der Gegenwart in ferner Höhe lichten Glanz von Freundschaft und gesegneten Friedensjahren. Am 8. reiste Kaiser Wilhelm über Berlin nach Baden, in seinem Gefolge verblieb Abeken. Der Chef fuhr mit Beust im offenen Wagen nach Reichenhall; ich folgte auf der Eisenbahn. Vor dem Hotel Burkert, wo auch die Fürstin wohnte, wurde abends ein Orchestermusikständchen gebracht und ein guter Redner begrüßte den Fürsten in herzlicher Weise. In seiner Antwort erwähnte dieser, daß nach seinen in den letzten Wochen in Oesterreich gemachten Erfahrungen unsere Beziehungen zu dem Nachbarreiche künftig die allerbesten sein würden, und 328

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schloß mit einem Hoch auf den König von Bayern. Dann folgte ein Feuerwerk. Von den Gasteiner Bädern und von den Salzburger Festen fühlte der Chef sich so ermüdet, daß er während acht Tagen niemanden sehen wollte. Ich kam daher wieder einmal in die Lage, Personen, welche, um ihn zu sprechen, weite Reisen gemacht hatten, anzuhören und nach Möglichkeit zu beruhigen. Am 19. ging er nach Berlin zurück. Mit dieser Reise endete für mich die Möglichkeit, von ihm mehr zu erzählen, als jedem Zeitungsleser bekannt war. Denn mein Verkehr in seinem Hause hatte natürlich durch meine Verheiratung wesentliche Einschränkungen erlitten. Ich meinte, fortan auf einem auswärtigen Posten mehr nützen zu können als in Berlin. In diesem Gedanken wurde ich bestärkt, als der Kanzler mich am 10. Mai 1872  durch die Mitteilung überraschte, daß er beabsichtige, mich als Gesandten beim Heiligen Stuhle nach Rom zu schicken. Ich war natürlich gern bereit zu dem Versuche, die damals zwischen Berlin und Rom bestehende Spannung durch persönliche Einwirkungen womöglich zu mildern. Es traten jedoch politische Hindernisse ein; der Posten blieb etwa 10  Jahre unbesetzt. Am 18. Mai ging der Fürst wegen Unwohlseins nach Varzin und blieb dort den ganzen Sommer. Den Dienst bei ihm versahen Bucher und Graf Karl; ich hatte nur am 16. und 17. Juli in Varzin zu thun. Am 28. Juli feierte das fürstliche Ehepaar in aller Stille die silberne Hochzeit. Aus diesem Anlaß schickten meine Frau und ich einen Strauß von silbernen Myrten und Rosen nach Varzin. Die Fürstin dankte dafür in einem Briefe, welcher mit den Worten schloß: „Haben Sie nochmals den allerherzlichsten Dank für Rosen und Myrten und Briefe, grüßen Sie Ihre Hedwig viel tausend Mal und bleiben Sie uns immer, was Sie uns 25 Jahre lieb und treu gewesen. Gott befohlen!“ Am 8. August erlag Abeken einem wiederholten Anfall der Krankheit, die ihn schon im September 1870 infolge seiner unbegrenzten Hingebung an den Dienst heimgesucht hatte. Es wird unvergessen bleiben, daß während der Jahre, welche über Deutschlands Zukunft entscheiden sollten, Abeken die feinen Gewebe der damals zahllosen Depeschen und Erlasse nach den Anweisungen des Meisters musterhaft hergestellt und daß er in diesem Wirken den Soldatentod fürs Vaterland gefunden hat. Im September wurde ich auf Vorschlag des Kanzlers zum Gesandten in Konstantinopel ernannt. Nach Varzin gerufen, um für den Orient mündliche Instruktionen zu empfangen, verweilte ich dort vom 5. bis zum 7. Oktober. 329

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Es waren sonnige, warme Herbsttage; kein Fremder anwesend. In längeren Gesprächen wurde mancher mit mir gemeinsam durchlebter Zeiten gedacht. Thatsächlich hatte ich nur der Fürstin meine Einführung in das Haus und alles mir daraus erwachsene Lebensglück zu danken; man lehnte aber das Hervorheben dieser Erinnerung freundlichst ab, da, wie der Fürst sagte, einer so langjährigen und ereignisreichen „Freundschafts-Entwickelung“ gegenüber die zufälligen Umstände der ersten Bekanntschaft in den Hintergrund träten. Auf einer weiten Fahrt durch die Wälder berührte er alle Hauptabschnitte seiner politischen Erlebnisse: −− „Stockpreußentum“ vor 1851; −− Lehrjahre, in Frankfurt für die deutsche, in Petersburg und Paris für die europäische Politik; −− Kampf gegen den Landtag für das königliche Regiment; −− Entwickelung der schleswig-holsteinischen und zugleich der deutschen Frage; −− Krieg in Böhmen und Deutschland; −− Schnelle Friedensschlüsse in Nikolsburg und im Inneren – vielleicht seine verdienstlichsten Leistungen; −− Norddeutscher Bund, Zollparlament; −− Krieg in Frankreich; Vollendung der deutschen Einheit, Kaisertum, Gewinnung gesicherter Westgrenzen; −− hoffnungsreiche Freundschaft Oesterreich-Ungarns.“ Als wir in den Hof einfuhren, sagte er: „Nach Gottes Willen ist ja für Deutschland das Notwendige erreicht worden. Aber es treten immer neue Gefahren und Schäden hervor, Schäden, die zu heilen man versuchen muß, wenn man auch nicht wissen kann, ob die Heilung gelingen wird. Ich sehne mich oft nach Ruhe; aber für mich kann es keine Ruhe geben.“ Ich schied, erfüllt von unbegrenzter Dankbarkeit und Verehrung für den Wohlthäter des Vaterlandes.

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Brief von Johanna von Bismarck an Robert von Keudell aus Reichenhall vom 28. August 1871

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XII. In Frankreich. Deutsches Kaisertum. Frieden … August 1870 bis Oktober 1872.

Brief von Johanna von Bismarck an Robert von Keudell aus ­Varzin vom 26.  August 1872

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Namensregister

A

Abeken, Wirkl. Geheimer Legationsrat  11, 21, 107, 127 ff., 130, 132, 136, 140 f., 158 f., 162 f., 183, 198 ff., 208, 210, 253, 284, 304 f., 307, 310 ff., 313, 322, 326 ff., 329. Aegidi, Prof.  306 f., 323 f. Albedyll, Oberst v.  201, 305, 309, 327. Albrecht, Prinz von Preußen  190. Alexander, Kaiser  72, 78, 83, 101, 124, 212, 250, 254, 260, 311. Alten, v., Flügeladj.  327. Alvensleben, Gustav v., General  101, 178, 197, 202 f., 206. Andrassy, Graf  328. Antonelli, Kardinal  191. Arnim, Graf Harry v.  191, 327. −− Kröchlendorff, v.  100, 108, 113, 238, 247. −− Frau v.  100, 108, 238, 247. Asseburg-Meisdorf, Graf v., Oberjägermeister 238. Aßmann, Abgeordneter  117. Augustenburg, Christian, Herzog von Schleswig-Holstein-Sonderburg  137, 140, 149, 213. −− Erbprinz  110, 112 ff., 116, 119, 123 ff., 134, 138 f., 141, 143 f., 157 ff., 160, 174 f., 178, 186, 195 f. Auerswald, Rudolph v.  63, 77, 91.

B

Bach 66. Bamberg, Dr. Felix  300. Bancroft, Gesandter der Vereinigten Staaten in Berlin  276. Barral, Graf, ital. Gesandter  181. Baudissin, Graf Adalbert v.  145. Bazaine, Marschall  61, 308, 310. Becker, Professor  16, 18, 55, 58 ff., 64, 293. −− Frau  16, 18, 55, 58 ff., 64, 293. Beckerath, v., Abgeordneter  45, 47. Beethoven  28, 66 ff., 87, 186. Belcredi, Graf, österr. Min. des ­Innern  160. Below-Hohendorf, v., Mitglied des Herrenhauses 73. Benedek, Feldzeugmeister  203, 206. Benedetti, Graf, Kaiserlich franzö­ sischer Botschafter in Berlin  209, 214, 234, 244 ff., 299 ff., 302. Bennigsen, v., Abgeordneter  189, 213, 222, 245 f., 283. Berger, Ludwig  65. Berchem, Graf  315. Bernhardt, Schriftsteller  189, 218. Bernstorff, Graf v., Staatsminister  93, 103, 242. −− Gyldensteen, Graf  172. Bertheau, Frau  81, 85.

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Beust, Freiherr v., später Graf  139, 159, 162, 180, 222, 259, 327 f. Biegeleben, Freiherr v.  138, 140, 160 f., 176. Bismarck, Graf Herbert v.  14, 24, 48, 83, 126, 206, 223, 306 f. −− Graf Wilhelm v.  79, 83, 221, 238, 306, 328. −− Gräfin Marie v.  169 ff., 173, 225, 228, 271 ff., 285 f., 325. −− Graf August v.  238. −− Bohlen, Graf Carl v., ­Rittmeister a. D.  11, 21, 97, 105, 198 ff., 201, 210, 217, 219, 229 ff., 232, 250, 272 f., 287, 304 f., 307, 310, 312 ff., 329. −− Graf Friedrich v., General  219. Blanckenburg, Moritz v.  28, 33, 37 f., 80, 108, 173, 265, 272 f., 282, 287. −− Frau v.  29, 37. Bleichröder  146 f., 189, 252, 288, 322. Blome, Graf v.  161 f. Bloomfield, Lord  185. Blum, Hans, Abgeordneter  283. Blume, General v.  319. Blumenthal, General v.  195, 318 f. −− Anna v.  29, 285. Bockum-Dolffs, v., Abgeordneter  153, 217. Bodelschwingh, v., Staatsminister  156, 178, 191. Böhn, Frau v.  285. Bonin, General v.  90. Borcke, Rittmeister v.  202. Brahms 68. Brandenburg, Graf v., Staatsminister  34, 44 ff., 53. Braß, Zeitungsredakteur  223, 225 f., 229.

Bratianu, Ion, rumänischer Minister  278 f. Braun-Wiesbaden, Abgeordneter  222, 263. Braune, Predigtamtskandidat  83, 109, 275. Bray, Graf v., bayer. Minister  322. Brevern, v., russischer Staatsrat  84. Brünneck, Oberburggraf v.  42. Bucher, Lothar  21, 135 f., 182, 227, 230, 237, 272, 284 ff., 293, 297, 299, 312, 322, 324, 329. Bülow-Gudow, v.  167. Bülow-Kummerow, v.  33. Buol-Schauenstein, Graf v.  52. Burg, Oberst v.  254. Busch, Moritz, Dr.  21, 167, 305, 312, 323 f.

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Namensregister

C

Camphausen, Otto v., Finanzminister  233, 288. Caprivi, v., Reichskanzler  148. Chopin  66, 68. Christian IX., König von Dänemark  110, 123, 129, 138. Cialdini, General  208. Clam-Gallas, Graf, General  129. Cohen-Blind  188, 230.

D

Daxenberger, v., bayerischer Staatsrat 326. Dechend, v., Bank-Präsident  233, 269. Dehn, hessischer Minister  102. Delbrück, Staatsminister  11, 21, 133, 233, 237, 249, 260 f. 263, 270, 287, 297, 313 f. Dentu, Verleger  132, 163. Dewitz-Milzow, v.  108, 145. Diest, Gustav v.  60 f. Dietze-Barby, Amtsrat  238. Dirichlet, Professor  42. Dönhoff, Graf August v.  286. Dörnberg, Freiherr v.  52. Drouyn de Lhuys  163, 168, 174 f., 191, 208, 214. Duncker, Max  189, 227.

E

Edelsheim, Baron v., österreichischer General 199. Eichmann, v., Gesandter  280. Eisendecher, v., preußischer ­Gesandter in Karlsruhe  56, 108, 275, 287. −− Frau v.  55 f., 59, 275, 287. Elisabeth, Kaiserin von Oesterreich  163. Elliot, Sir Henry  185. Elwanger, Oberbürgermeister  100. Erckert, v., russischer Oberst  84. d’Ester, Abgeordneter  42. Esterhazy, Graf Moritz  160 f., 174, 180. L’Estocq, v., Oberstleutnant  305. Eugenie, Kaiserin der Franzosen  168, 170, 208, 251. Eulenburg, Graf Botho zu  293. −− Graf Friedrich zu  15, 18, 106, 108, 148, 216, 243, 275, 287, 293, 302. −− Graf Wendt zu  286.

F

Fabeck, v., Major  266 f., 309. Fabrice, v., sächsischer Kriegsminister  224, 280. Fatio, Jenny  222. Favre, Jules  317, 319 ff., 322. Finckenstein, Graf v., Oberstleutnant, Flügeladjutant 202. Fischer, Hannibal  149, 152 f. Flemming, Graf v.  132, 163, 266. Flottwell, v., Staatsminister  44, 105. Forckenbeck, v., Abgeordneter  153, 243.

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Fürst und Fürstin Bismarck

Fransecki, v., Generalleutnant  202 f., 207. Franz Joseph, Kaiser  126, 131, 138, 140, 163, 259, 328. Freydorf, v., badischer Minister  226. Friedjung, Schriftsteller  125, 132, 141, 182, 185. Friedrich VII., König von Dänemark  110. Friedrich Karl, Prinz von Preußen  197, 200, 202, 308, 310, 319. Friedrich Wilhelm, Kronprinz  22, 115, 168, 178, 189, 197, 202 f., 206 f., 210, 227, 238, 260, 297 f., 308 f., 318, 322. Friedrich Wilhelm I., König  120 f. −− III., König  31. −− IV.,  31, 49, 61, 63, 92. Fries, Abgeordneter  243. Friesen, Freiherr v.  280. Fürstenberg, Graf v.  57.

G

Gablenz, Freiherr v., Feldmarschallleutnant  163, 174 f., 195 f. −− Freiherr Anton v.  190. Gaede, Regierungsrat  165. Gagern, Freiherr Max v.  138. Gambetta  313, 317, 321, 327. Garibaldi  77, 185. Georg, König von Hannover  197, 223, 246. Gerlach, v., Generaladjutant  45, 61. Glücksburg, Prinz von  112, 114. Gneist  61, 153, 183. Goltz, Graf v. d., Botschafter in Paris  159, 161, 163, 168, 170, 171, 178 ff., 185, 191, 208, 211, 214, 253 f.

Gortschakoff, Fürst  76, 83 f., 250, 274 f. −− Prinz Michael  274 f. Govone, italienischer General  180 f., 272. Grabow, Bürgermeister, Präsident des Abgeordnetenhauses  153, 177. Gramont, Herzog v.  132, 294, 298, 301 f. Gruner, Justus v.  299. Günther, 1866 Direktor im Finanzministerium 233.

H

Halbhuber, Freiherr v.  143 f., 160, 164, 175. Haldy, Grundbesitzer in Saarbrücken  305. Hansemann, v., Vorsitzender der ­Diskontogesellschaft  192. Hansemann, Finanzminister  39. Hardenberg, Freiherr v.  198. Hassenpflug, v.  49. Hatzfeldt, Graf  11, 304 f., 307, 310, 312, 314. Hegel, Vortragender Rat  105. Helene, russische Großfürstin  79, 84 f., 128. Henckel von Donnersmarck, Graf Guido  322. Hennig, v., Abgeordneter  153. Hensel, Frau Fanny, geb. Mendelssohn 66. Henselt, Adolph v.  84. Hepke, Geh. Legationsrat  227. Herwarth von Bittenfeld, General  144, 197, 204. Hessen, Kurfürst von  102.

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Namensregister

Heydt, Freiherr von der, Finanzminister  93 f., 191 f., 212, 237, 260, 262, 274, 276, 288. −− Karl von der  192. Hobrecht, Oberbürgermeister  101 f., 106. Hofmann, Baron v., österreichischer Civilkommissar in Holstein  174, 327 f. Hohenthal, Graf v., sächsischer ­Gesandter in Berlin  180. −− Gräfin von  180. Hohenwart, Graf, österreichischer ­Minister des Innern  328. Hohenzollern, Fürst Karl Anton  63, 188, 297ff., 300 ff., 303. −− Erbprinz Leopold  294, 297 ff., 300. −− Prinz Friedrich  279. Holnstein, Graf v., bayerischer Oberstallmeister 326. Holstein, v., Legationssekretär  14, 21, 84, 123, 313. Hoverbeck, Freiherr v., Abgeordneter  92.

I

Jachmann, Admiral  233. Joachim, Professor  14, 163. Johann, König von Sachsen  280.

K

Kahlden-Iden, v., Rittmeister  202. Kameke, v., General  305, 321. Kardorff, v., Abgeordneter  264. Karolyi, Graf  103, 138, 143, 176, 181, 186, 209, 211. Katte-Roskow, v., Rittergutsbesitzer 104. Keyserling, Graf Alexander  28, 66, 79, 84 f., 260, 272. −− Graf Heinrich  123, 273, 279. −− Graf Hermann  55, 327. −− Gräfin Fanny  163. Kisting, Pianofortefabrikant  28, 30, 40. Kleist-Retzow, v.  39 f., 216. Klincke, Pionier  122. Koburg, Ernst, Herzog von  125, 193, 195. Kohl, Horst  115, 132, 141, 198. Konstantine, russische Großfürstin 85. Kupferberg  304 f.

L

Lassalle, Ferdinand  136 f. Lauer, Dr. v., Generalarzt  311, 327. Lavalette, Marquis  208. Lefebvre de Behaine  209. Lehndorff, Graf v., Flügeladjutant  204, 322, 327. Limburg-Stirum, Graf v., Groß-Peterwitz (Vater) 104. −− Graf v., Legationssekretär  123. Loë, Freiherr v., Flügeladjutant  254. Loën, Freiherr v., General  205. Loeper, Gustav v.  104, 145, 173, 259, 285. Loewe, Dr., Abgeordneter  150.

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Fürst und Fürstin Bismarck

Lottum, Graf v.  225. Lucius, Fabrikbesitzer  293. Ludwig, Prinz von Bayern  315. Luitpold, Prinz von Bayern  315. Lutz, v., bayerischer Minister  326. Luxburg, Graf  268. Lynar, Fürst, Legationssekretär  170.

M

Mac Mahon  309. Mallinckrodt, v., Abgeordneter  248. Manteuffel, Otto, Freiherr v., Staatsminister  33 f., 45, 49, 53, 61. −− Edwin, Freiherr v., General  90, 121, 163 f., 167, 171, 173 ff., 178, 195 f., 212, 219, 325, 327. Marie, russische Großfürstin  85. La Marmora, General  161, 179 f., 185, 272, 279. Marwitz-Rützenow, v., Landrat  34 ff., 37. Mathy, badischer Abgeordneter 176. Maximilian, Kaiser von Mexiko  259. May, Zeitungsredakteur  159 f. Mazzini 97. Mecklenburg, Großherzog von  207. −− Herzog von  205. Meister, Fabrikbesitzer  55, 293. −− Frau Marie  55, 293. Menabrea, General  215. Mencke, Professor  326. Mendelssohn-Bartholdy, Felix  17, 51, 55, 59, 66, 79, 87. −− Paul 157. Mensdorff-Pouilly, Graf v.  138 ff., 143 f., 157, 159 f., 167, 180 f., 185, 190, 192, 209. Mercier, Baron v.  298.

Metternich, Fürst v.  53, 169, 175. Meysenbug, Freiherr v.  138. Michaelis, Abgeordneter  217. Miquel, Abgeordneter  213, 303. Mittelstädt, v.  29. Möller, v., Regierungs-Präsident, Civilkommissar in Kurhessen  198. Moltke, General v.  143, 178, 192, 197, 199, 201 ff., 204, 217, 247, 297, 306, 308, 312, 316, 318 f., 321 f. Mommsen, Theodor  17, 176. Montebello, Graf v.  77. Montpensier, Herzog von  300. Moustier, Marquis  250. Mozart 66. Müller, Gebrüder  51. Münster, Graf, Abgeordneter  281.

N

Napoleon, Kaiser der Franzosen  58 ff., 61, 77, 95 f., 121, 134, 142, 146, 168, 179 f., 182, 190 f., 208, 210 f., 214, 245, 250 ff., 259, 277, 288, 294, 297, 300, 302, 310, 321. −− Prinz 208. Nesselrode, Graf v., russischer Altreichs­kanzler  76. Neumann, v., Rittergutsbesitzer  247. Neumann, Professor  103. Niederlande, König der  244 f. Niel, französischer Marschall  179, 246. Nigra 161. Nikolaus, Kaiser  42, 49 f.

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Namensregister

O

Obernitz, v., Postrat  145, 221, 238. Obolenski, Fürst  76. Oetker, hessischer Abgeordneter  213. Oldenburg, Großherzog von  123 ff., 157. Ollivier, französischer Minister  288, 302. Oppenheim, Abraham  188 f. Orloff, Fürst  172. −− Fürstin Kathy  87, 172. Osten-Sacken, Baron v.  82. Oubril, Baron v.  185.

P

Patow, Freiherr v., Staatsminister  13, 90 f., 287, 323. −− Frl. Hedwig v.  13, 287. Pauly, Professor  231. Perponcher, Graf v., Hofmarschall 200. Pfordten, Frhr. v. d., bayerischer Ministerpräsident  143, 159, 163, 193, 211. Pfretschner, v., bayerischer Minister 326. Philippsborn, Generalpostdirektor  237. Podbielski, v., General  327. Pourtales, Graf Albert  76. −− Gräfin 266. Pouyer-Quertier, französischer Finanzminister  325, 327. Prim, spanischer Marschall  294, 297 ff. Prinz von Preußen  63, 88, 125. Prinzregent  72, 77f., 88 f., 92. Prokesch-Osten, Freiherr v.  52.

Putbus, Fürst  220 ff., 224 f., 230 f., 235. −− Fürstin  221 f., 224, 231, 235. Puttkamer, v., Hauptmann  153. Puttkamer-Reinfeld, Fräulein Johanna v.  28 ff., 37. −− Frau v.  48, 52.

R

Radowitz, v., General  44 ff., 47 ff., 50. −− v., Legationssekretär  168, 171. Radziwill, Fürst, Flügeladjutant  322. Rahden, Frl. v., Hofdame  84. Rechberg, Graf v.  114, 116, 124 ff., 127, 129, 131 ff., 134, 138 f., 160. Reck, v. d., Ministerialdirektor  237. Redwitz, Oskar v.  324. Reichensperger, Abgeordneter  46, 98. Rekow, Frl. v.  54. Reuß, Prinz Heinrich VII. 206, 208. Roon, Graf v., Kriegsminister  77, 89 f., 92 ff., 108, 134, 147, 197, 202 f., 205, 217, 237, 260, 271, 278, 297, 314, 318 f. Rothschild, Baron James  146. Rouher, französischer Staatsmann  168, 208, 250. Rubinstein  14, 79. Rumänien, Karl, König von  278, 397, 301. Russel, Sir Odo  320.

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Fürst und Fürstin Bismarck

S

Salazar, spanischer Staatsrat  294, 298 ff. Saldern, v., Referendar  266. Saucken-Tarputschen, v., ­Abgeordneter  31  f. Savigny, v., Bundestagsgesandter  139, 171 f., 182, 184, 196, 214, 222, 224 f., 227 f., 232, 237 f., 247 ff., 260. Scheel-Plessen, Freiherr v., Oberpräsi­dent in Schleswig-­ Holstein  144, 196. Schenck, Frau v., geb. v. Luck  171, 173, 228. Schleinitz, Freiherr v., Minister der auswärtigen Angelegenheiten  103, 115, 297. −− Baronin v.  266. Schlözer, v., Legationsrat  84. Schmerling, v., österreichischer Minister des Innern  160. Schmidt, Julian, Schriftsteller  96 f. Schramm, Rudolf  135. Schrenck, Freiherr v., bayerischer ­Minister  132. −− Frau v.  81, 85. Schubert, Franz  51, 67 f., 87. Schulz, Rechtsanwalt  122. Schulze-Delitzsch, Abgeordneter  92, 120, 137, 154. Schumann, Robert  12, 66, 68. Schwarzenberg, Fürst v.  49, 96, 138, 160. Schweinitz, v., Militär-Bevollmächtigter in Petersburg  212, 297, 328. Schwerin, Graf v., Staatsminister  77, 91, 101 f., 117, 218.

Sheridan, amerikanischer General  307. Simson, Dr. Eduard, Abgeordneter  99, 282, 316. Solms-Sonnewalde, Graf v., Botschaftsrat 170. Stavenhagen, Abgeordneter  77, 89, 153, 213. Steinäcker, Freiherr v., Flügeladjutant  206. Steinmetz, v., General  308. Stieglitz, Baron v.  81. Stifter, Adalbert, Schriftsteller  170. Stolberg, Graf Eberhard  108, 251, 266, 303. −− Gräfin  108, 251. −− Graf Theodor  54. Stöphasius, Hauptmann  122. Stosch, v., General  321. Struck, Dr., Sanitätsrat  63, 72, 219, 235, 271, 292. Sybel, Heinrich v.  96, 99, 113, 141, 175.

T

Talleyrand, Graf v., Leutnant  225. Thadden-Trieglaff, v.  37 ff. Thiers  317, 321 f. Thile, v., Unterstaatssekretär  107, 136, 173, 219, 228, 232, 235, 237, 249, 253, 272, 275, 285, 297 f. Tresckow, v., General  197, 201, 327. Tümpling, v., General  199. Twesten, Abgeordneter  153, 176, 215, 239, 281.

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Namensregister

U

Unger, v., Major  201. Ungern-Sternberg, Baron v., Schriftsteller 145. Usedom, Graf v.  51, 54, 70, 161, 179, 254, 272, 279.

V

Vaillant, französischer Marschall  251. Varnbüler, Freiherr v., württembergischer Minister  163. Versen, v., Major  297. Victor Emanuel, König  179, 208. Villers, Graf, Reg.-Präsident  309. Vincke, Frhr. Georg v., Abgeordneter  43, 49, 77, 89, 91, 93 f., 236. Virchow, Abgeordneter  117, 151 ff., 154, 177. Visconti Venosta  190. Voigts-Rhetz, v, Oberst, dann General  202, 233, 236, 238, 306. Vrints, Baronin v.  52, 59.

W

Wagener, Hermann, Abgeordneter und vortragender Rat im Staatsministerium  137, 217, 222, 313. Wagner, Richard  69. Waldeck, Abgeordneter  42, 92, 153. Wangemann, Pfarrer  29. Wartensleben, Graf, Attaché  21, 313. Werther, Baron v.  129, 140, 159, 175, 192, 302. Werthern, Freih. v., Gesandter  299. Wesdehlen, Graf  123. Westarp, Graf v.  271. Wieniawski 79.

Wildenbruch, General v., ­Gesandter a.  D.  148. Wilhelm, König  78, 92, 95, 101, 103, 105, 113, 115 f., 118 f., 121 f., 126 ff., 130 ff., 133 f., 137 ff., 142 f., 146, 148, 156 ff., 159 ff., 163, 165, 167 f., 175, 177 ff., 180 ff., 183, 187 ff., 190, 192 f., 195 ff., 199 ff., 202 ff., 205 f., 208 f., 211 ff., 214, 217, 219, 224, 230 ff., 234, 236, 238, 242, 244 ff., 248 ff., 251, 253, 262 ff., 266, 277 ff., 280, 284, 286, 291, 294, 296 f., 301 ff., 304 ff., 307 ff., 310 f., 313, 315 f. Wilhelm, Kaiser und König  319, 322 ff., 325 ff., 328 f. Wilmowski, v., Kabinettsrat  327. Windthorst, Abgeordneter  16, 243, 248. Wydenbruck, v.  125. Wolff, v.  173. Wollmann, Hofrat  312. Wurmb, v., Landrat  198.

Z

Zabel, Dr., Zeitungsredakteur  96 f. Zedlitz-Neukirch, Freiherr v., Regierungspräsident  128, 143 ff., 164, 171. Zieten, v., Oberst  307. Zitelmann, Reg.-Rat  105, 222, 231. Zitzewitz, Frau v.  284.

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Abbildungsnachweis S. 7 akg-images; S. 11 akg-images; S. 21 Deutsches Bundesarchiv/­wikimedia commons; S. 26 bpk/L.Haase Co.; S. 255–258 Robert von Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck. Erinnerungen aus den Jahren 1846 bis 1872, Verlag von W. Spemann, Berlin und Stuttgart 1901; S. 331–332 Robert von ­Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck. Erinnerungen aus den Jahren 1846 bis 1872, Verlag von W. Spemann, Berlin und Stuttgart 1901; S. 333–340 Robert von Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck. Erinnerungen aus den Jahren 1846 bis 1872, Verlag von W. Spemann, Berlin und Stuttgart 1901

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Fürst und Fürstin Bismarck

INTIME EINBLICKE IN LEBEN UND POLITIK BISMARCKS Als enger Vertrauter Johanna und Otto von Bismarcks zeichnet Robert von Keudell in seinen Erinnerungen ein sehr persönliches und einzigartiges Bild des »Eisernen Kanzlers«. Diese bunte und stellenweise emotionale Collage umfasst eine für die deutsche Geschichte bedeutende Zeitspanne, die ihren Höhepunkt in der Reichsgründung 1871 fand. Mit einer Einführung von Oliver F.R. Haardt macht diese Neuausgabe den Originaltext knapp 120 Jahre nach Erstveröffentlichung wieder zugänglich.

wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4209-6

CMYK

Die erstmals 1920 herausgegebenen Tagebücher Robert Lucius von Ballhausens wurden zu einer der wichtigsten Quellen der Bismarck-Forschung. Während seiner Zeit als Abgeordneter und Minister führte Ballhausen akribisch Tagebuch über die fast täglichen Treffen mit Bismarck und ermöglicht so einen Blick hinter die Kulissen des Berliner Politikbetriebs zu Zeiten des »Eisernen Kanzlers«. Mit einem Nachwort von Christopher M. Clark macht diese Neuausgabe den Originaltext 100 Jahre nach Erstveröffentlichung wieder zugänglich.

BISMARCK-ERINNERUNGEN

Christopher M. Clark lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine’s College in Cambridge. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Preußens. Für sein Buch »Preußen« erhielt er den Wolfson History Prize sowie den Preis des His­torischen Kollegs.

STAATSMANN BISMARCK

ROBERT LUCIUS VON BALLHAUSEN

ROBERT LUCIUS VON BALLHAUSEN

Robert Lucius von Ballhausen (1835– 1914) war Arzt, Offizier, Abgeordneter und Minister. Er nahm an allen drei deutschen Einigungskriegen teil, war einer der engsten Freunde Bismarcks und galt als Sprachrohr des Reichs­ kanzlers.

BISMARCKERINNERUNGEN 1871–1890

Otto von Bismarck (1815–1898) gehört zu den bedeutendsten Personen der deutschen Geschichte und ist zugleich höchst umstritten. Die Erinnerungen von zwei seiner engsten Mitarbeiter und Vertrauten decken gemeinsam fast 50 Jahre ab und helfen, den Menschen hinter dem Mythos Bismarck kennenzulernen. In diesem Band der »Begegnungen mit Bismarck« werden die erstmals 1920 erschienenen »Bismarck-Erinnerungen des Staatsministers Freiherrn Robert Lucius von Ballhausen« abgedruckt. Diese erschienen posthum und waren bisher nur in Frakturschrift zugänglich.

Umschlagabbildung: Otto von Bismarck in Friedrichsruh, 1884. © akg-images/Historisches Auge. Umschlaggestaltung: Harald Braun, Helmstedt.

wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4209-6

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Bismarck-Erinnerungen

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Begegnungen mit Bismarck Band 1: Robert von Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck. Erinnerungen aus den Jahren 1846–1872 Band 2: Robert Lucius von Ballhausen, Bismarck-Erinnerungen des Staatsministers Freiherrn Robert Lucius von Ballhausen. 1871–1890

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Robert Lucius von Ballhausen

Bismarck-Erinnerungen des Staatsministers Freiherrn Robert Lucius von Ballhausen 1871–1890

Mit einem Nachwort von Christopher M. Clark

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Bei dem Einzelband „Bismarck-Erinnerungen des Staatsministers Freiherrn Robert Lucius von Ballhausen. 1871–1890“ handelt es sich um eine Neuedition der 1920 im Verlag J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger erschienenen „Bismarck-Erinnerungen des Staatsministers Freiherrn Robert Lucius von Ballhausen“. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg THEISS ist ein Imprint der wbg. © 2020 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz: Arnold & Domnick GbR, Leipzig Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4209-6 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4267-6 eBook (epub): ISBN 978-3-8062-4268-3

Robert Lucius von Ballhausen um 1880

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Vorwort Die Erinnerungen des am 10. September 1914 verstorbenen Verfassers wurden von ihm nach den mit größter Gewissenhaftigkeit schon von Jugend auf geführten Tagebüchern in der vorliegenden Form abgeschlossen mit der Bestimmung, daß seine Erinnerungen erst nach seinem Tode zu veröffentlichen wären. Er hat, nachdem der Druck schon einige Jahre vor seinem Tode fertiggestellt war, nachträglich keinerlei Änderungen an seinen Aufzeichnungen mehr vorgenommen wissen wollen, damit sie seine unmittelbaren Eindrücke von den Ereignissen so wiedergäben, wie er sie ihrerzeit mit seinem klaren, durch keinerlei Voreingenommenheit beirrten Urteil sah. Der nachmalige Staatsminister Robert Frhr. Lucius v. ­B allhau­s en wurde am 20. Dezember 1835 in Erfurt in dem noch am Anger stehenden, aus dem 17. Jahrhundert stammenden Hause der Familie geboren, absolvierte mit siebzehn Jahren das dortige Gymnasium und studierte dann in Heidelberg, Breslau und Berlin Medizin. Im Jahre 1860 machte er, bei dem die Reiselust schon früh entwickelt war, den spanischen Feldzug gegen Marokko mit und schloß sich dann der von dem Grafen Eulenburg geleiteten Ostasiatischen Expedition von 1860 bis 1862 an. Nach Deutschland zurückgekehrt, widmete er sich der Bewirtschaftung der von seinem Vater ihm vererbten Güter Klein-Ballhausen und Stoedten bei Erfurt und nahm als Reserveoffizier des Brandenburgischen Kürassierregiments Nr. 6 an den Feldzügen 1864, 1866 und 1870 teil. Seit 1870 vertrat er den Wahlkreis Erfurt‒ Schleusingen‒Ziegenrück, zuerst im Norddeutschen, dann im Deutschen Reichstag und wurde einer der Gründer und Führer der Freikonservativen Partei. Im Jahre 1879 wurde er Vizepräsident des Reichstages. Bismarck, dessen Bekanntschaft er im Jahre 1866 aus dem Schlachtfelde von Königgrätz gemacht hatte und mit dem er, wie der große Kanzler in dem schönen, im Anhang faksimilierten Briefe selbst sagt, „nicht nur politisch, sondern auch persönlich treu befreundet“ gewesen ist, bot ihm 1879 das Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten an, das er bis zum November 1890 leitete. Ein gütiges Geschick hat ihn, der drei siegreiche Feldzüge mitgemacht, davor bewahrt, das Ende des großen Krieges, dessen Ausbruch ihn trotz des siegreichen Anfangs mit größter Sorge erfüllte, zu erleben. Hellmuth Lucius von Stoedten 7

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Inhaltsübersicht 1870‒1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15‒26 Erste Begegnungen mit Bismarck. Der Verfasser im Norddeutschen, später im Deutschen Reichstag ‒ Erstes Gespräch mit dem Kanzler ‒ Abend­gesellschaften bei Bismarck

1872

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1873

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27‒33

Bismarck über Erinnerungen an Petersburg, Konflikte in den Sechzigerjahren u. s. w. ‒ Politische Verstimmung

34‒45

Bismarck über Napoleon III. und Thiers ‒ Parlamentarisches Diner, Gespräche über innere und höfische Konflikte, Presse etc. ‒ Bismarcks Konflikt mit dem bayerischen Gesandten Pergler v. Perglas ‒ Klagen über Kaiserin Augusta. Schah von Persien in Berlin – Bismarck über die Reichsgründung und die französischen Monarchisten

1874 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46‒68 Bismarck über Italien. Ablehnung eines kostbaren Geschenks des Königs Viktor Emanuel – Zwanglose Tischgespräche – Klagen über parlamentarische Schwierigkeiten – Kaiser Wilhelm I. über Konflikte wegen der Armeereorganisation – Entwicklung und Lösung des Militärkonflikts – Begeisterung der Prinzessin Karl, Schwester der Kaiserin Augusta, für Bismarck – Anspruchslosigkeit der Fürstin Bismarck – Bismarck über das blindsche Attentat – Fall Arnim

1875 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69‒83 Wiederum Fall Arnim – Bismarck über gelegentliche Schwierigkeiten mit dem Kaiser – Graf Schuwalow – Der „Krieg in Sicht“-Artikel – Erzählungen über die Geburt Wilhelms II. – Der Verfasser in Varzin

1876 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84‒97 Bismarck gereizt über die neue Orthographie – Bismarck über Vergeben und Vergessen – Wieder in Varzin. Klagen Bismarcks über Ministerkollegen und Schwierigkeiten mit dem Kaiser

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Inhaltsübersicht

1877

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98‒120

Mit Moltke und Roon bei Bismarck, Gespräch über die Emser Depesche – Mit General Ignatieff bei Bismarck – Leipzig als Sitz des Reichsgerichtes – In Friedrichsruh. Klagen über Kaiserin Augusta – Berufung Bennigsens in das Ministerium erwogen – Bismarck über die Nikols­burger Verhandlungen – Die Prinzen und die Dotationen 1871

1878 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121‒142 Mißverständnis zwischen dem Kaiser und Bismarck wegen des Planes, Bennigsen ins Ministerium berufen zu lassen – Rede Bismarcks über die Orientfragen – Tod Pius IX., Leo XIII. (Kardinal Pecci), sein Nachfolger – Rache- und Haßgefühle Bismarcks – Zwistigkeiten Bismarcks mit dem Finanzminister Camphausen – Schwierigkeit, einen Finanzminister als Nachfolger Camphausens zu finden – Graf Otto Stolberg wird Vizepräsident des Staatsministeriums – Moltke über die Unmöglichkeit, aus einem Kriege mit Rußland Nutzen zu ziehen – Hödels Attentat auf den Kaiser – Nobilings Attentat und seine Folgen – Bismarck über Eindrücke vom Berliner Kongreß – Der Kronprinz als Regent – Das Sozialistengesetz – Der Verfasser als Vertrauensmann Bismarcks bei Verhandlungen mit dem Kronprinzen – Charakteristik des Ministers v. Puttkamer

1879 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143‒171 Bismarcks wirtschaftliche Pläne – Windthorst über Unterordnung der kirchlichen unter die politischen Fragen – Bismarck skeptisch über Windthorst – Der Verfasser wird zweiter Vizepräsident des Reichstages – Bismarck über Vernichtungskampf gegen die Sozialdemokraten, über Unterschied zwischen geborenen und ernannten Fürsten und über Weichheit des Kaisers – Skeptische Äußerung des Kaisers über die Zukunft der deutschen Flotte – Der Kronprinz über die Prinzen Waldemar und Heinrich – Zwist Bismarcks mit dem Präsidenten von Forckenbeck – Entschiedenheit des Kaisers – Die franckensteinsche Klausel – Rücktritt der Minister Falk, Friedenthal u. s. w. Der Verfasser wird Landwirtschaftsminister, Bitter Finanzminister, v. Puttkamer Kultusminister – Vorstellung der neuen Minister beim Kaiser – Die Begründung des deutsch-österreichischen Bündnisses infolge der Verstimmung Rußlands durch den Berliner Kongreß – Bismarck über Kaiser Franz Josef – Schwierigkeiten mit Kaiser Wilhelm I. wegen des Bündnisses – Bedeutsame Äußerungen Bismarcks im Staatsministerium über die Bündnisfrage mit scharfen Ausfällen gegen Rußland – Der Verfasser in Varzin; Klagen Bismarcks über den Kaiser

1880 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172‒181 König Albert von Sachsen über Bismarck – Der Verfasser in Friedrichsruh – Bismarck über Diplomatie – Minister Hofmann wird Staatssekretär für Elsaß-­Lothringen, v. Boetticher Staatssekretär des Innern

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Bismarck-Erinnerungen

1881 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182‒205 Schwierigkeiten wegen Bismarcks Reizbarkeit – Bismarcks Konflikt mit dem Minister des Innern Grafen Botho Eulenburg; der Fall Rommel Kultusminister v. Puttkamer wird Eulenburgs Nachfolger – Konflikt zwischen Bismarck und dem Finanzminister v. Bitter in Sachen des Hamburger Zollanschlusses – Alexander III. Tunis. Italiens Schwankungen – Rücktrittsgesuch des Vizepräsidenten des Staatsministeriums Grafen Stolberg – Klagen Bismarcks über Schwierigkeiten und Intrigen, Einfluß der Kaiserin Augusta, Konflikt mit Stosch – v. Goßler Kultusminister – Große Pläne Bismarcks – Prinz Wilhelm – Kirchenpolitisches – Bismarck für den Sonntag als Wahltag. Kaiser Wilhelm über die Flucht von 1806 – Reichstagswahlen – Bismarck über das Ergebnis der Reichstagswahlen, bezeichnet die Klerikalen Franckenstein und Moufang als Kanzlerkandidaten. Der Name Mommsen dem Kaiser gänzlich unbekannt – Kaiserliche Botschaft über Sozialpolitik – Bismarck über Hundesperre und Reichstagswahlen

1882 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206‒227 Neujahrsempfang beim Kaiser – Eine inhaltreiche Staatsministerialsitzung – ­Geburtstagsempfang beim Kaiser – Tabaksmonopol – Parlamentarische Verwicklungen – Empfang beim Kronprinzen, beim Prinzen Wilhelm und beim Kaiser anläßlich der Geburt des nachmaligen Kronprinzen – Bismarck über Kulturkampf und Kurie – Bischöfe Kopp und Korum – Bismarcks Reden zum Tabakmonopol – Abschiedsgesuch des Finanzministers v. Bitter – Bismarck über die Radziwills – Scholz Finanzminister – Kulturkampf-Stimmung – Empfang des Verfassers vor Abreise nach Rußland beim Kaiser; dessen Erinnerungen an frühere russische Reisen – Der Verfasser in Varzin. Bismarck über Feinde im eigenen Lager, über wirtschaftlichen Unitarismus u. s. w. – Graf Hatzfeldt Staatssekretär des Äußern – Der Kronprinz über 48er-Erinnerungen – Wohlwollen des Kaisers für den Verfasser – Prinz Wilhelm über England – Abendgesellschaft bei der Kaiserin in der „Bonbonniere“

1883

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

228‒254

Der Kaiser und Bismarck über Gambettas Tod – Differenzen Bismarcks mit den Ministern. Gegen die Doppelmandate der Parlamentarier – Rücktritt des Kriegsministers v. Kameke – General v. Bronsart Kriegsminister. Das Militärkabinett wird unabhängig vom Kriegsministerium – Rücktritt des Generals v. Stosch von der Leitung der Admiralität, General v. Caprivi sein Nachfolger – Der Kaiser über Kommandogewalt, adlige Offiziere u. s. w. Ausführliche Äußerungen über den Rücktritt Stoschs und Kamekes – Der Kaiser über den Prinzen Wilhelm (nachmaligem Kaiser Wilhelm II.) – Bismarck über Abbau des Kulturkampfes – Dr. Schweninger wird Bismarcks Arzt – Gesandter v. Schlözer und der Vatikan – General v. Caprivi über Gefahr und Nützlichkeit eines Krieges mit Rußland – Bedeutsame Äußerungen des französischen Botschafters Waddington in London über Bismarcks Schiedsrichterstellung in

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Inhaltsübersicht

Europa und Verdienste um Erhaltung des Friedens – Niederwald-Feier – La Société de Berlin – Klagen Bismarcks über Indolenz und politische Verständnislosigkeit des Kronprinzen – Der Kronprinz über spanische und römische Reiseeindrücke

1884 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255‒281 Herzliche Neujahrsansprache des Kaisers an die Minister – Tod Laskers – Anerkennende Äußerung des Kaisers über den Verfasser – Reibungen mit dem Papst – Bedeutsame Erklärungen Bismarcks im Ministerrat über Absicht, aus den preußischen Ämtern auszuscheiden – Interessanter Geburtstagsempfang beim Kaiser. Kaiser Franz Josef über Zentrum und Sozialistengesetz – Wiedereinsetzung des Staatsrats geplant – Randbemerkungen des nachmaligen Kaisers Wilhelm II. – Bismarck über erstes Auftauchen des Battenberger Heiratsplanes, Nord-Ostsee-Kanal, Erwerbung von Helgoland – Hoffestlichkeit, unter den Gästen der Burenpräsident Krüger, mit dem Bismarck plattdeutsch spricht – Bedeutsame Äußerungen Bismarcks über Kolonialpolitik, Verhältnis zu England, Unfähigkeit der Konservativen, den Battenberger Heiratsplan, höfische Intrigen, Frankreichs innere Lage u. s. w. – Bismarck wünscht einen akademischen Lehrstuhl für Schweninger an der Berliner Universität – Vatikanisches – Tod des welfischen Herzogs von Braunschweig – Eröffnung des Staatsrats – Bismarck über parlamentarisches System und Säbelherrschaft – Der Afrikaforscher Stanley in Berlin vom Kaiser und von Bismarck mit Auszeichnung behandelt – Bismarck äußert sich scharf über das Reichstagswahlrecht – Herzensgüte des Kaisers dem Verfasser gegenüber

1885

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

282‒297

Die Bismarck-Spende zum 70. Geburtstag – Die Feier von Bismarcks 70. Geburtstag – Ratschläge Bismarcks an den Verfasser für eine Reise nach Ungarn – Bismarck über den englisch-russischen Konflikt in Afgha­nistan und englische Unfreundlichkeit gegen Deutschland – Jesuitenintrigen, Karolinenfrage – Vorübergehende Kandidatur des Prinzen Heinrich für die braunschweigische Regentschaft – Wegwerfende Bemer­kungen Bismarcks über den Reichstag

1886 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298‒326 25-jähriges Regierungsjubiläum des Kaisers – Bismarck und der Papst – ­Erregte Ansprache Bismarcks im Staatsministerium – Bismarck stellt dem Kronprinzen auf dessen Anfrage seine Bedingungen für das Verbleiben im Amte bei einem etwaigen Thronwechsel – Sehr scharfe Äußerungen Bismarcks für rigorose Behandlung politischer Gegner – Der Kaiser über das Sozialistengesetz – Bismarck und die päpstliche Kurie. Bismarck will die Grenze der Konzessionen an Rom durch Nationalliberale und Freikonservative bestimmen lassen, nicht mit Konservativen und Zentrum regieren – Die große Arbeitsleistung des alten Kaisers – Prinz Ludwig von Bayern (der nachmalige König Ludwig III.) zum ersten Male am Berliner Hofe – Bismarck über

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Bismarck-Erinnerungen

englisch-französische Spannung, bei der man England nicht völlig unterliegen lassen dürfe – Bismarck über Gemeinde und Priestertum bei Katholiken und Protestanten – Bismarck über „Reichstagsschwindler“, Rußland, den Battenberger, den Kronprinzen, Österreich u. s. w. bei einem Besuch des Verfassers in Friedrichsruh

1887 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327‒371 Ansprache des Kaisers bei seinem 80-jährigen Militärjubiläum – Im Staatsminis­ terium bedeutsame Abstimmung über neue kirchenpolitische Zugeständnisse – Die Septennatheeresvorlage im Staatsministerium. Einwirkung des Papstes auf das Zentrum. Bismarck über Schuwalows Besuch und die Beziehungen zu Rußland – Bismarck über Boulanger und Kriegsgefahr – Plan einer 300-Millionen-Kriegsanleihe, Kriegspanik, Wahlbewegung – Anfänge der Krankheit des Kronprinzen – Im Staatsministerium scharfe Äußerungen Bismarcks über Frankreich und Elsaß-Lothringen. Darlegung der Weltlage – Bismarcks „schwarze Liste“ für Hoffeste – Bismarck entschieden gegen evangelisch-lutherische Selbständigkeitsbewegung. Erörterung über reichsländische Frage – Bittere Ä ­ ußerungen Bismarcks über Hof und höfische Politik, wichtige Mitteilungen über das Verhältnis zu Rußland. Rückversicherungsvertrag – Bismarck über Berichte der Militärattachés – Lobende Äußerungen des Kaisers über seine Minister – Kirchenpolitisches – Der Fall Schnäbele. Kundgebung Kaiser Wilhelms gegen den Battenberger Heiratsplan – Schlimme Wendung des Halsleidens des Kronprinzen. Dr. Mackenzie – Sorgen Professor v. Bergmanns wegen der Krankheit des Kronprinzen, ruhige Haltung der Kronprinzessin – Bismarck über die Kronprinzessin und über die Zukunft der Monarchie – Bescheidenheit des alten Kaisers – Ungünstige Wendung im Befinden des Kronprinzen. Prinz Wilhelm in San Remo – Optimismus der Kronprinzessin. Prinz Wilhelm mit Vertretung des Kaisers betraut – Besuch des Zaren Alexander III. in Berlin. Unterredung mit Bismarck über die gefälschten Briefe – Der Kronprinz verstimmt über die Stellvertretungsorder – Mißhelligkeiten in San Remo – Prinz Wilhelm über den Einfluß der Orthodoxie, gegen die Juden in der Presse. Klagen Bismarcks über mangelhafte politische Bildung des Prinzen – Äußerung des Prinzen Wilhelm über eventuelle Entbehrlichkeit Bismarcks

1888 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372‒433 Politische Neujahrsansprache des Kaisers – Bismarck ventiliert die Möglichkeit eines selbständigen Polens unter einem Erzherzog – Schwierigkeiten in San Remo. Operation des Kronprinzen – Bismarck über die glänzende Aufnahme seiner berühmten Rede vom 6. Februar bei den Höfen und Kabinetten – Mangelnde Reise des Prinzen Wilhelm – Schlimme Zustände in San Remo; schwierige Verfassungsfragen – Letzte Krankheit und Tod des alten Kaisers – Ungünstige Charakteristik der Kronprinzessin – Am Totenbette des Kaisers – Letzte Äußerungen des alten Kaisers – Bismarck über den Tod des Kaisers und die Thronbesteigung Kaiser Friedrichs III. – Begegnung

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Inhaltsübersicht

der Minister mit dem heimkehrenden Kaiser Friedrich in Leipzig – Bismarck über seine Eindrücke vom neuen Kaiser – Leichenbegängnis Kaiser Wilhelms – Erste politische Schwierigkeiten Bismarcks mit Kaiser Friedrich – Stellvertretungsorder für den Kronprinzen Wilhelm – Erster Kronrat bei Kaiser Friedrich; großartiger Vortrag Bismarcks über die deutsche Politik und die Lage Europas – Der Fall Stöcker – Die Battenberg-Krisis – Schwerer Krankheitsanfall Kaiser Friedrichs – Erhebung des Verfassers in den Freiherrnstand – Königin Viktoria von England in Berlin – Der Verfasser am Krankenbett des Kaisers – Bismarck über die Eventualität eines Krieges mit Frankreich – Die Puttkamer-Krise – Ungünstiges Urteil der Militärs über Kaiser Wilhelm II. unmittelbar vor seiner Thronbesteigung – Tod Kaiser Friedrichs. Bericht Bismarcks über die letzten Stunden und über programmatische Erklä­rungen des neuen Kaisers Wilhelm II. – Am Totenbette Kaiser Friedrichs. Die Sektion und Feststellung des Krebsleidens – Leichenfeier. Erste politische Maßnahmen Wilhelms II. – Eröffnung des Reichstags unter Teilnahme der Bundesfürsten – Personaländerungen. Berufung Harnacks an die Berliner Universität im Staatsministerium eingehend erörtert – Der Kaiser beim Vortrag des Verfassers gegen Unionklub und Luxus der Offiziere – Deponierung persönlicher Akten der königlichen Familie in England – Der Kaiser wünscht die Ernennung v. Bennigsens zum Oberpräsidenten von Hannover in Übereinstimmung mit Bismarck – Zur Charakteristik Wilhelms II. – Das Tagebuch Kaiser Friedrichs und die Bundesfürsten – Graf Herbert Bismarcks Bericht im Staatsministerium über die Lage in Österreich-Ungarn und Italien – Erhöhung der Zivilliste – Äußerungen des Kaisers zum Verfasser über Sozialpolitik – Radolin über Bismarck und die Battenberg-Krisis

1889 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434‒450 Der Fall Geffcken – Brüske Entlassung des Ministers v. Friedberg – Der junge Kaiser über die Vermählung des Battenbergers mit einer Schauspielerin – Beschwerden des Kaisers über die Presse – Der Kaiser gegen Stöcker. Rücktritt des Kriegsministers v. Bronsart; v. Verdy sein Nachfolger – Gereizte Äußerungen Bismarcks über Jagdschutz, neue Hoftracht, höfische Gönnerschaft für die demokratische Volkszeitung – Scharfe Äußerungen des Kaisers über Arbeitgeber. Ablehnung militärischen Schutzes für sie. Widerspruch Bismarcks – König Humbert von Italien mit dem Kronprinzen Viktor Emanuel und Crispi in Berlin – Bismarck über Berliner Besuch des Kaisers Franz Josef und die politische Lage, besonders über das Verhältnis zu England; Samoa; Konsul Knappe – Bismarck gegen ein Kaiser-Friedrich-Denkmal – Berliner Besuch des Kaisers Alexander III. von Rußland

1890

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

451‒467

Im Ministerrat scharfer Zusammenstoß zwischen dem Kaiser und Bismarck in den Fragen des Arbeiterschutzes und des Sozialistengesetzes – Die Verlängerung des Sozialistengesetzes im Reichstag abgelehnt – Zornige Äußerungen des Kaisers

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über Bismarck – Versöhnliche Äußerungen Bismarcks im Staatsministerium; der Kaiser beim Geburtstagsempfang – Wiederbeginn des Konflikts – Caprivis Kanzlerkandidatur – Bismarcks Besprechungen mit Windthorst – Der Bruch zwischen dem Kaiser und Bismarck. Dessen Rücktritt. Mitteilungen Bismarcks im Staatsministerium über die entscheidenden Vorgänge – Bismarck und Caprivi. Die Abreise aus Berlin unter begeisterten Kundgebungen der Bevölkerung

Anlagen

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469‒536

Promemoria des Verfassers zur Militärvorlage – Eine Abstimmung des Reichstags 1874 – Der „Krieg in Sicht“-Artikel 1874 – Antrag Lucius betreffend Reichstagsgebäude – Thronrede 1876 – Ein Memoire über die Regentschaftsfrage von 1857 – Briefe und Belege (Korrespondenz zwischen dem Verfasser und dem Fürsten Bismarck sowie dem Grafen Herbert Bismarck)

Nachwort von Christopher M. Clark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537‒542 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544

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Klein-Ballhausen, 8. Juni 1899. ­as Ableben des großen Kanzlers legt den Gedanken nahe, die persönlichen Erinnerungen, welche ich in einer langen Reihe von Jahren im Verkehr mit ihm gesammelt habe, an der Hand von Tagebuchnotizen und Briefen zusammenzufassen. Solche Notizen haben nur Wert, wenn sie auf Aufzeichnungen beruhen, welche damals in der Gegenwart gemacht wurden, weil solche, welche aus der Erinnerung nach langen Jahren gemacht, notwendig beeinflußt sein müssen durch die seitdem erlebten Tatsachen. Allerdings muß man dann auch die Selbstverleugnung üben, zur Zeit gefällte irrige Urteile nicht zu modifizieren, sondern sie in ihrer Schiefheit bestehen zu lassen. Die eigenhändigen oder in seinem Auftrag geschriebenen Briefe werde ich unverkürzt und unverändert beifügen, da ich nicht daran denke, sie zu meinen Lebzeiten zu publizieren. Zum ersten Male gesehen und sprechen hören habe ich Herrn von Bismarck in der Sitzung des Abgeordnetenhauses am 27. Januar 1863, wo der Ministerpräsident in der fünften Sitzung der neuen Session erschien. Die Kabinettsorder vom 23. September 1862 übertrug Bismarck den interimistischen Vorsitz des Staatsministeriums. 8. Oktober 1862 erfolgte die Ernennung Bismarcks zum Ministerpräsidenten und Minister der auswärtigen Angelegenheiten. Ich war damals von der Ostasiatischen Expedition, welche ich als Gesandtschaftsarzt mit dem Grafen Fritz Eulenburg mitgemacht hatte, eben zurückgekehrt und diente mein Jahr als Einjährig-Freiwilliger im Gardekürassierregiment ab und besuchte, da ich viel freie Zeit hatte, oft und mit größtem Interesse die Sitzungen, welche mir die Abgeordneten Lampugnani und die Gebrüder Pieschel zugänglich machten. Man befand sich damals auf der Höhe des Konflikts wegen der Militärorganisation, und Herr von Bismarck war an die Spitze des Ministeriums berufen erklärtermaßen, um sie durchzufechten. Er trug damals noch Zivil, der starke Schnurrbart war noch rotblond wie auch das Haupthaar, das zwar schon gelichtet, aber doch noch vorhanden war. Seine hohe breitschultrige Figur erschien an dem Ministertisch mächtig und imponierend, während eine gewisse Nonchalance in Haltung, Bewegung und Sprechweise etwas Provokantes hatte. Er hielt die rechte Hand in der Tasche seines hellen Beinkleides und erinnerte mich lebhaft an die „krähenden Sekundanten“ bei den Heidelberger Mensuren. Die Art, wie er in zögernden Sätzen die Motte zu suchen schien

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und stets das Bezeichnendste fand, schnelle, schlagende Erwiderungen gab, hatte er schon damals. Mir machte er einen junkerhaften, aber höchst „forschen“ Eindruck des alten Korpsstudenten, besonders die Art, wie er scheinbar gutlaunig den erregten Gegnern Malicen einpumpte. Es war die sehr erregte Sitzung vom 27. Januar 1863, in welcher er den Gedanken entwickelte, daß der Staat auch ohne Budget leben werde und könne, weil er leben müsse. Das Wort erregte den höchsten Unwillen der Versammlung, und Graf Schwerin-Putzar, der damalige Führer der Opposition, eine vierschrötige, bäurische Gestalt, welche den Eindruck des Biedermanns machte, erwiderte in heftigem Ton und warf Bismarck vor, er habe den Grundsatz entwickelt: „Macht geht vor Recht“. Seitdem habe ich noch häufig Sitzungen beigewohnt, aber keiner, von der ich einen so dauernden Eindruck behalten habe. Eine politische Parteistellung hatte ich damals überhaupt nicht, da ich unmittelbar nach erledigtem Universitätsstudium und Staatsexamen vom März 1859 bis Herbst 1862 im Auslande gewesen war, meine Sympathien mögen aber aufseiten der Volksvertretung gewesen sein. Meine geselligen Beziehungen dagegen waren meist konservativ-militärisch, wie es durch Dienstzeit und die Expeditionsbeziehungen gegeben war. Die erste persönliche Begegnung mit dem Grafen Bismarck hatte ich am Abend der Schlacht von Königgrätz, am 3. Juli 1866, welche ich als Reserveoffizier im Brandenburgischen Kürassierregiment mitmachte. Der König war beim Vorgehen unseres Regiments gegen eine feindliche Batterie in gleicher Höhe mitgeritten, es war der Moment, wo er ins Granatfeuer kam und von seiner Umgebung nur mühsam zum Halten bestimmt worden war. Wir hatten einigen Verlust ohne sonstigen Erfolg und ritten am Abend in Zugkolonne dem uns angewiesenen Biwak zu, jeder Leutnant vor seinem Zug, als ich den Grafen von Kanitz bemerkte, einen Kriegsgefährten aus dem marokkanischen Feldzuge. Als ich auf diesen zuritt, streckte mir ein daneben haltender Offizier in der Uniform der 7. Kürassiere die Hand entgegen, welche ich natürlich kräftig schüttelte, obschon ich erst dann sah, daß es Bismarck war, welcher mich für einen Bekannten gehalten hatte. Graf Kanitz erzählte im Fluge, es sei ein großer, entscheidender Sieg und die Schlacht werde die Schlacht von Königgrätz heißen. Wir waren nach dem Mißerfolg, welcher das Regiment nahe an die Wälle von Königgrätz gebracht hatte, unter dem Eindruck, der Feind mache einen geordneten Rückzug, und übersahen, wie es dem Subalternoffizier bei der Truppe wohl meist geht, nicht entfernt die Tragweite des errungenen Erfolgs. Bismarck hatte in den vier Jahren vom September 1862 bis September 16

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1866 alle Stadien der größten Unpopularität und des grimmigsten Hasses, welcher im Mai 1866 im blindschen Attentat gipfelte, bis zur größten Popularität durchgemacht. Es waren sicher seine größten, mühevollsten Jahre, gegen die gesamte Volksvertretung, gegen die Meinung der meisten seiner diplomatischen Untergebenen und Mitarbeiter, gegen die höfischen Einflüsse die Politik zu machen, wie sie in dem höchst denkwürdigen Briefe vom 24. Dezember 1863 an den Gesandten Grafen Goltz in Paris programmmäßig entwickelt ist. Mit dem Siege von Königgrätz war seine Position gewonnen und bei seinem königlichen Herrn, wie alle späteren Ereignisse beweisen, unanfechtbar gesichert. Ich war im April 1870 für Erfurt‒Schleusingen‒Ziegenrück in den Norddeutschen Reichstag gewählt worden und hatte mich der freikonservativen Fraktion angeschlossen. Die wesentlichste Vorlage war damals das Strafgesetzbuch, bei welchem die Abschaffung des Preußischen Staatsgerichtshofs und der Todesstrafe die kritische Rolle spielten. Graf Bismarck griff verschiedentlich in die Diskussion ein, ohne daß ich besondere Notizen darüber gemacht hätte. Die Zeit war sehr besetzt und die Tagebuchnotizen sind sehr dürftig. Ähnlich ging es beim Ausbruch des französischen Krieges. Ich erhielt damals im Juli gleichzeitig die Einberufung zum Reichstag für den 19. Juli und die Order, mich als Adjutant des Etappenkommandos Nr. 2 in Magdeburg zu melden. In Berlin war alles in gehobener Stimmung. Ich ging an den Ministertisch und fragte den Kriegsminister von Roon, neben welchem Graf Moltke stand, was wichtiger für mich sei, hier den Reichstagsverhandlungen beizuwohnen oder nach Magdeburg zu gehen, worauf Roon lachend antwortete: „Bleiben Sie ruhig hier, Sie haben reichlich Zeit, die Etappen werden erst in Feindesland gebildet und wir haben acht bis zehn Tage Vorsprung vor den Franzosen.“ Moltke stimmte dem freundlich zu, beide mit dem Ausdruck größter Ruhe und Zuversicht. Gewiß geschah das nicht ohne die Absicht, zu beruhigen, da zahlreiche andere Abgeordnete dabei herumstanden, es hatte aber auch diesen Effekt in hohem Maße. Man hatte den Eindruck des Zielbewußten und überlegener Ruhe ohne Besorgnis und ohne Überhebung. Die Stimmung unter den Abgeordneten war erregt, aber gehoben. Man hatte das Gefühl, einer sehr ernsten Zeit entgegenzugehen, aber auch die Überzeugung, schließlich erfolgreich zu sein. Lebhaft erinnerlich ist mir das Auftreten Bismarcks am 20. Juli in dem Norddeutschen Reichstag, welcher damals in dem provisorischen, aber vortrefflichen Gebäude neben dem Herrenhause und Kriegsministerium tagte. Der geforderte Kredit von 120 Millionen Taler für Bestreitung der ersten 17

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Kriegskosten war ohne Widerspruch und ohne Diskussion im Plenum in erster und zweiter Lesung genehmigt und die Sitzung eben von Präsident Simson geschlossen worden, als Bismarck (welcher schon von 1866 ab stets Kürassieruniform trug) eintrat und das Wort verlangte. Er sah erhitzt und erregt vom schnellen Gehen aus. Simson eröffnete sofort wieder die Sitzung und erteilte ihm das Wort. Er entschuldigte sein verspätetes Erscheinen durch den Drang der Geschäfte, hielt sich aber verpflichtet, die ersten amtlichen Kundgebungen, welche ihm überhaupt über die Lage seitens der französischen Regierung zugegangen seien, mitzuteilen. Er rekapitulierte kurz den Gang der Ereignisse seit der entscheidenden Emser Begegnung am 13. Juli und fuhr fort: Soeben sei ihm seitens des französischen Geschäftsträgers Lesourd die offizielle Kriegserklärung überreicht worden. Die Versammlung, welche meist stehend die Mitteilungen angehört hatte, brach in lautes, vielstimmiges Hurra aus und begleitete fast jeden seiner Sätze, welche er gutlaunig und pointiert äußerte, mit lautem Bravo. Volksvertretung und Regierung, hier in Bismarck verkörpert, fühlten sich eins in jenen Momenten und hatten das sichere Gefühl, daß sie sich auf­ einander verlassen könnten. Es ging ein mächtiger Zug der Eintracht und patriotischer Erhebung durch das Ganze. Während des Krieges habe ich Bismarck nur einmal gesehen, als das königliche Hauptquartier in einer langen Wagenkolonne unsere marschierende 8. Division passierte. Es war am 26. August, als wir von Laheycourt aus die berühmte Kehrtschwenkung machten, welche mit der Einschließung der französischen Armee bei Sedan endete. Ich war zum Befehlsempfang beim Generalkommando des IV. Korps gewesen und fragte den Oberstleutnant von Thile (Generalstabschef), was diese Rückwärtsbewegung bedeute, worauf er mit voller Überlegenheit des Generalstäblers die Sache erklärte und mit der Bemerkung endete: „Es wird wohl ein Luftstoß des alten Moltke sein!“ Wir marschierten in der Richtung aus Verdun von Laheycourt über Triau­ court, als uns eine lange Reihe von Wagen überholte, in welchen wir den König, Bismarck, Moltke erkannten, welche mit jubelndem Hurra begrüßt wurden. Das Wetter war trübe und regnerisch, aber alles gut aufgelegt und kampfbegierig. Während des Krieges, November 1870, wurde ich in Schleusingen einstimmig in das Abgeordnetenhaus gewählt und reiste, vom Bundeskanzler aus Versailles zum Reichstag, welcher am 24. November in Berlin zusammentreten sollte, eingeladen, am 19. November dahin ab. Die Versailler Verträge mit Bayern, Württemberg, Baden etc. gelangten damals trotz einiger 18

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Opposition zur Annahme, ohne daß Bismarck, welcher noch in Versailles war, sich dabei beteiligte. Ich war in dieser Zeit einige Mal bei der Gräfin Bismarck, bei welcher ich durch meine Frankfurter Verwandten eingeführt worden war. Bismarcks hatten während der Bundestagszeit viel mit der Familie des Malers Jakob Becker verkehrt und hatten besonders für die Töchter Marie, später Frau Meister, und Max, später Frau Eugen Lucius, eine sehr große treue Anhäng­ lichkeit bewahrt.

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1871 Am 3. März 1871 fanden die Neuwahlen zum Reichstage statt, bei welchen ich in Erfurt wiedergewählt wurde. Am 21. trat der Reichstag zusammen nach feierlichem Gottesdienst mit prachtvoller Musik in der Schloßkapelle. Der alte Thron Kaiser Heinrichs III. ‒ aus Goslar herbeigeschafft ‒, ein Marmorsitz, auf eisernen Füßen mit Kugeln ruhend, mit Bronzelehne stand unter dem Thronhimmel, in seiner altertümlichen, schmucklosen, fast rohen Form ernst kontrastierend mit der glänzenden modernen Umgebung. Der Kaiser ‒ zum ersten Male als solcher den Reichstag eröffnend ‒ in seiner ehrwürdigen, hohen, sympathischen Erscheinung war umgeben von den Prinzen und siegreichen Generalen. Darunter der Kronprinz mit sehr ernstem Ausdruck, aber in der Fülle seiner edlen, männlichen Erscheinung, wohl einer der schönsten Männer, welche man sehen konnte. Der alte Feldmarschall Wrangel trug das Reichspanier, Moltke mit unbeweglichem, ernstem Gesicht das entblößte Reichsschwert in beiden Händen, Spitze nach oben, Roon das Zepter, Graf Redern die Krone. Bismarck bewegte sich sehr elastisch, vergnügt aussehend, nach allen Seiten händeschüttelnd vor und nach der Zeremonie der Verlesung der Thronrede unter den Abgeordneten. Der Kaiser verlas die Thronrede anfangs mit bewegter, später mit fester, vernehmlicher Stimme. Die friedlichen Wünsche für die Zukunft wurden fest betont und von der Versammlung mit lebhaftem Beifall begrüßt. Die Kaiserin, die Kronprinzeß, zahlreiche Fürsten wohnten der Eröffnung bei; einigen fiel die kühle Art, mit welcher die Kaiserin den tiefen Gruß Bismarcks erwiderte, auf. Am 15. April fand die erste, zahlreich besuchte Bismarcksoiree statt, wo alle Parteien außer dem Zentrum zahlreich vertreten waren. Bismarck bewegte sich lebhaft unter der Gesellschaft und klagte nur über Schlaflosigkeit. Am 18. April begründete ich im Reichstag eine Interpellation betreffs der Beförderung von Postpaketen an die in Frankreich stehenden Truppen. So ausgezeichnet während des Krieges die Briefbeförderung gewesen war, so mißlich war die Beförderung von Paketen, was ja allerdings durch die große Menge der im Felde stehenden Truppen bedingt war. Da man aber Uniform20

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und Ausrüstungsgegenstände nur von zu Hause bekommen konnte, hatte ich selbst darunter gelitten und mir vorgenommen, soweit tunlich, dem abzuhelfen. Natürlich begründete ich, da es sich immerhin um eine heikle Angelegenheit handelte, die Sache in maßvollster Weise. Minister Delbrück antwortete in kühl ausweichender Weise, und damit war die Sache erledigt, da sich keine Diskussion daran knüpfte. Wenige Minuten später erschien Bismarck und ließ mich in das Ministerzimmer rufen, welches sich im Anschluß an den Ministertisch im Abgeordnetenhause befand, wo der Reichstag damals tagte. Er bedauerte, sich verspätet zu haben, um die Interpellation selbst zu beantworten, deren volle Berechtigung er anerkenne. Delbrück leide an der Verschlossenheit der höheren Ministerialbeamten, welche es vermeiden, Aufschluß zu geben über die Friktionen zwischen den verschiedenen Ministerien. Zur Einführung der Paketbeförderung bedürfe es der Mitwirkung des Kriegs- und des Handelsministeriums. „Ich habe,“ sagte er wörtlich, „eine bezügliche Anre­ gung schon vor zehn Tagen gegeben, Ersteres aber leugnet den Notstand, Letzteres gibt an, daß es an den zur Beförderung nötigen Wagen mangle.“ Man bedürfe hierzu der Mitwirkung der Privatbahnen, welche schon während des Krieges im höchsten Maße in Anspruch genommen seien. Er begrüße jede derartige Anregung und wünsche nur, daß man spezialisierend Material beschaffe, um den nötigen Druck auf die anderen Ministerien zu üben. Um Pfennige zu sparen, habe man auch das Belagerungsmaterial schneller wieder nach Hause geschafft, als ihm lieb sei. Ebenso habe man die Verwaltungsbranchen vorzeitig demobilisiert. Die militärischen Behör­ den seien wenig geneigt, diplomatischen Rat zu hören, und handelten nach eigenem Ermessen. Gründliche und schnelle Aktion in dieser Richtung sei erwünscht. Die in der Verpflegung stattfindende Not sei auch ihm durch Privatbriefe bekannt, dergleichen müsse man sammeln. ‒ Er sprach noch lange und so rückhaltlos in diesem Sinne mir, dem ihm doch ziemlich Fremden, gegenüber, daß ich ganz überrascht war. Es war das erste Mal, daß ich ihn unter vier Augen sprach, und er machte in seiner lebhaften und zugleich vertraulichen Weise, mit welcher er einen wie einen alten Bekannten behandelte, einen merkwürdig gewinnenden, faszinierenden Eindruck. In der Fraktion, wo ich dieser Unterredung zufolge die Absicht aussprach, einen entsprechenden Antrag einzubringen, begegnete ich lebhaften Bedenken, eine die Armee so nahe berührende Frage, welche agitatorisch ausgenützt werden könnte, anzuregen. Erst die Versicherung, damit nicht den Intentionen des Kanzlers entgegenzuhandeln, und der Vorbehalt, daß der Kanzler auch den Wortlaut des Antrags gutheißen müsse, beruhigten die 21

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ängstlichen Gemüter. In der erneuten Unterredung bestätigte Bismarck die früher ausgesprochenen Ansichten und wünschte den Antrag besonders auch auf die für Offiziere bestimmten Pakete ausgedehnt. „Jede Anregung, welche mir Wind in die Segel gibt, ist willkommen. Sie glauben nicht, wie hartherzig man in gewissen hohen Regionen ist.“ Bei der späteren Beratung des Antrags wurde die Sache damit erledigt, daß der Generalpostmeister Stephan erklärte, die Paketbeförderung werde demnächst im gewünschten Sinn ins Werk gesetzt werden. Es sollte ein Gewicht von fünf Pfund und große Portoermäßigung stattfinden. Am Abend des 24. April war ich bei Bismarck, welcher viel über die zaudernde, zweideutige Politik Jules Favres redete und seinem guten Willen zum definitiven Friedensabschluß nicht zu trauen schien. Man müsse aber sehr vorsichtig sein, sich in die inneren Verhältnisse Frankreichs einzumischen, sonst würden die Streitenden vielleicht plötzlich einig und fielen gemeinsam über den Fremden her. Er habe eine schriftliche Aufforderung zur Intervention verlangt, sonst werde er sich hüten, einzugreifen, „pas si bête“. Dieselben Erklärungen wiederholte Bismarck am 24. April in dem Plenum des Reichstags, wo sie großen und tiefen Eindruck machten. Am Abend wieder bei Bismarck, erzählte er: Antonelli sei ganz unglücklich über das Vorgehen der Ultramontanen bei der Adreßdebatte und der Dotationsfrage gewesen. Savigny sei wesentlich daran schuld und verderbe durch seine Verbitterung alles. Er habe sich Hoffnung auf den Kanzlerposten gemacht, halte sich für düpiert und schneide ihn. Der Kanzlerposten sei ursprünglich gedacht gewesen wie die Stellung des Präsidialgesandten beim Bundestag in Frankfurt, welcher seine Instruktion vom Minister des Auswärtigen empfing. Durch die Beschlüsse des Reichstags habe sich das aber geändert, Kanzler und preußischer Premierminister müssen jetzt ein und dieselbe Person sein, und ebenso müsse er mit Delbrück, dem Präsidenten des Reichskanzleramts, gewissermaßen in einer Haut stecken. Die Schwierigkeiten für ihn wüchsen täglich. Der König verfüge fortwährend direkt, ohne genügende Kenntnis der Akten, und er wisse gar nicht, was er alles verspreche und wem er Versprechungen mache. Bischof Manning habe durch Ledochowski seine Intervention zu Gunsten des von den Kommunards gefangenen Erzbischofs von Paris, Darboy, angerufen, und er habe an General Fabrice in diesem Sinne telegraphiert, Weiteres müsse man abwarten. Am 6. Mai reiste Bismarck nach Frankfurt, so daß die schon angesagte Soiree bei ihm ausfiel. Am 10. wurde der Friede dort gezeichnet. Am 13. fand ein Rout bei Bismarck statt, der zahlreich besucht war und in sehr animier22

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ter Stimmung verlief. Es sammelte sich gewöhnlich ein großer Kreis um ihn, und er trug meist die Kosten der Unterhaltung, selbst redend, während die Nächstsitzenden den Faden gewissermaßen weiterspannen durch Zwischenbemerkungen. Ihm selbst schien diese Art der Konversation eher Vergnügen zu machen und man merkte ihm selten Spuren von Ermüdung an. Er aß und trank reichlich dazu und sah, zumal wenn er sich eine lange Pfeife bringen ließ, wie ein Patriarch unter seinen Jüngern aus. Es waren oft merkwürdig interessante Gruppen um ihn versammelt. Er behandelte jeden seiner Gäste mit der gleichen wahrhaft herzlichen Freundlichkeit und Rücksicht. Man gruppierte sich ganz nach Belieben und Laune. Es herrschte eine vollständige soziale Gleichheit in Behandlung der Gäste und eine splendide Gastlichkeit, ohne die geringste Affektation oder Prätention. In den vielen Jahren, die ich nachher noch in seinem Hause intim verkehrt habe, konnte ich nie eine Verschiedenheit in seinem Benehmen wahrnehmen. Er war stets gleichmäßig höflich und rücksichtsvoll gegen jeden seiner Gäste. Er rangierte sie im Zweifelsfall lediglich nach dem Lebensalter. Die Fürstin, obschon damals schon asthmatisch, leidend und körperlich hinfällig, unterstützte ihn in Ausübung der Gastlichkeit in unermüdlicher Weise. Sie war die Freundin seiner Freunde und die Feindin seiner Feinde, gleich lebhaft in ihrer Liebe wie im Haß. Sie äußerte ihre Gefühle unumwunden und war für ihren Gemahl eine wahrhaft ideale Hausfrau, Genossin und Pflegerin in den häufigen Krankheitsfällen. Ihr „Ottochen“ war ihr alles und, wer ihn kränkte oder ärgerte, war für sie ein „Scheusal“! Sie teilte unbedingt seine Zuneigungen und Abneigungen; wenn man etwas an ihrem Wesen tadeln wollte, so war es vielleicht ihre Neigung, eher Konflikte und Friktionen zu steigern, als sie zu applanieren und zu besänftigen. Vielleicht aber hätte sie ihn durch solche Versuche eher irritiert als wie besänftigt. Jedenfalls war sie alles für ihn und ihren Verlust hat er später nie verwunden. Die am 13. stattgehabte Soiree war besonders zahlreich besucht, und Fürst Bismarck nahm die Glückwünsche über den am 10. Mai in Frankfurt erfolgten definitiven Friedensschluß in guter Stimmung und Gesundheit entgegen. „In Frankfurt habe man ihn durch die allgemeinen Ovationen fast belästigt. Jedermann hätte ihn begrüßt mit Ausnahme der sonnemannschen Arbeiter und eines Teils der höchsten Frankfurter Gesellschaft. Besonders die Droschkenkutscher hätten ihn als alten Freund vertraulich gegrüßt; es sei doch ein ganz besonderes Band, mit jemand zusammen einen Hasen geschossen zu haben.“ In Bezug auf die eben stattgehabten Verhandlungen über den Gesetzentwurf betreffend die künftige Stellung von Elsaß-Lothringen meinte er: Er 23

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sei sehr kühn in der Beziehung, fast so kühn wie der Reichstag. Je älter er werde, je länger er in der großen Politik arbeite, umso kürzer stecke er sich seine Ziele. Wer weiß, ob wir in zwei Jahren noch leben, ob die Welt noch steht? Eigentlich hätten wir gar kein Gesetz über Elsaß-Lothringen zu bringen brauchen, allein wir seien eben zu konstitutionell. In Bezug auf die noch schwebenden Kommunekämpfe in Paris meinte er: „Die Franzosen sind in ihrer blinden Leidenschaft und Wut wie Raubtiere, wie ein Fuchs, den man, längst totgeschossen, von Hunden zerbissen, die Hessen durchschnitten als tot fortträgt, den Treiber noch in den Hintern beißt.“ Unsere Truppen konzentrierten sich jetzt etwas, um der Nationalversammlung die Lust zu benehmen, die Ratifikation des Friedens zu versagen. Auf der Durchreise habe er in Erfurt den besten Kaffee seit langer Zeit getrunken, seine einzige Verzweiflung sei nur gewesen, daß die Dame, welche ihn kredenzt habe, Fräulein Anna Bogt (meine Nichte!), das Brett habe so lange halten müssen, weil er so heiß gewesen sei. 23. Mai abends bei Bismarck. Der Fürst war sehr unzufrieden über die Anträge Lasker-Stauffenberg und den von bunsenschen zum Gesetzentwurf über die Stellung von Elsaß-Lothringen zum Reich. Es liege im letzteren Antrage ein unkonstitutionelles Eindringen zwischen den Kaiser und seine Armee. Sei auch praktisch nicht durchführbar und erbittere die Bayern, welche meinten, wir wollten uns auf ihre Kosten bereichern. Der Reichstag beobachte die Regierung wie ein knurrender Hund mit äußerstem Mißtrauen. Er beklage den Gang der Verhandlungen und Beschlüsse aufs Äußerste. Wenn die Verwaltung nicht mehr zwei Postsekretäre versetzen könne, so höre alles auf, so seien wir schon jetzt auf dem Wege zur Kommune. Solange er lebe, werde es ja wohl noch halten. Paris sei von den Versailler Truppen genommen, nachdem er wiederholt mit Interventionen gedroht habe. Die Versailler hätten den 23. immer als den Tag bezeichnet, wo spätestens die Besetzung von Paris stattfinden werde. Sie hätten aber keinen besonderen Blutdurst gezeigt. Wie es mit dem Erzbischof geworden sei, wisse er noch nicht, General Fabrice habe gefürchtet, daß neue Interventionsversuche ein entgegengesetztes Resultat, die sofortige Hinrichtung, herbeiführen könnten. Der Krieg mit Österreich sei schon im November 1865 nötig gewesen, nachdem es sich geweigert habe, gemeinsamen Krieg gegen die Revolution zu machen. In Wien und Gastein sei alles befriedigend verabredet gewesen, und der Kaiser von Österreich habe sich als ein sehr verständiger Herr gezeigt. Unser König habe aber die Regelung erschwert, weil er gemeint habe, kein Recht auf Schleswig-Holstein zu haben. 24

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Zur Ausfüllung der Stellung und Geschäfte, welche er habe, seien eigentlich drei Männer erforderlich. Einer für Behandlung des Hofes, denn jetzt noch, nach zwanzigjährigem Verkehr, falle es ihm schwer, mit dem alten Herrn fertig zu werden. Er würde immer schwieriger, wolle alles wissen und selbst machen und wundere sich, wenn er eine Sache nicht wisse. Der Kronprinz mische sich auch ein und hätte Bunsens Antrag inspiriert. Ein zweiter sei nötig für den Reichstag, ein dritter für die auswärtigen Geschäfte. Nachdem in der Sitzung vom 25. Bismarck in peinlich schroffer Weise die Beschlüsse der zweiten Lesung als ein Mißtrauensvotum bezeichnet hatte, fand abends eine Kommissionssitzung statt, in welcher eine Einigung erfolgte. Bismarck äußerte sich hier wie damals im Privatgespräch in seinem Hause: „Man treffe gegen ihn Vorsichtsmaßregeln wie gegen die Rinderpest. Er wolle unter diesen Umständen mit der Verwaltung von Elsaß-Lothringen lieber überhaupt nichts mehr zu tun haben. Er sei nicht regierungsbedürftig, man möge sich nach einem anderen umsehen, obschon es nicht leicht sei, eine solche Stellung in Europa zu gewinnen, wie er sie sich erworben habe.“ In Summa hatte man in parlamentarischen wohlgesinnten Kreisen den Eindruck, daß er ohne Not und über Gebühr gereizt sei und verstimmt über Dinge, welche zum Teile außerhalb des Parlaments lagen. Vielleicht auch durch unrichtige Berichterstattung. Es handelte sich bei den damaligen Verhandlungen über die künftige Verwaltung und die staatsrechtliche Stellung von Elsaß-Lothringen um außerordentlich schwierige Fragen, welche alle kontrovers waren und wobei vor allem die Wahl der Persönlichkeiten die größten Schwierigkeiten in sich trug. Schon die Wahl geeigneter Beamten aus den verschiedenen Bundesstaaten erschwerte die Sache. Die Neigung der Einzelstaaten, nicht die bestqualifizierten Persönlichkeiten, sondern solche, welche man loswerden wollte, für Verwendung im Elsaß zu präsentieren, die Bestrebungen, Protektionen zu üben, dazu die konfessionellen Schwierigkeiten, boten eine Häufung von höchst delikaten Fragen. Ende Oktober 1871 trat der Reichstag wieder zusammen und war ich häufig abends im bismarckschen Hause, wo sich nach 10 Uhr ein kleiner Kreis näherer Bekannter im Salon der Fürstin versammelte. Man erschien unangemeldet im Gesellschaftsanzug oder Überrock. Einige Damen waren meist zugegen, der Fürst kam gewöhnlich später, und der kleine Kreis gruppierte sich zwanglos um ihn, während er kaltes Fleisch zu sich nahm, Bier trank und schließlich rauchte. 11 ½ Uhr, spätestens 12 Uhr, zog man sich zurück. Bismarck ließ sich bei diesen Unterhaltungen scheinbar völlig gehen und tat über die intimsten Verhältnisse und höchsten Persönlichkeiten die zwanglosesten Äußerungen, wie mir schien. Auf eine Andeutung, ob es nicht 25

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bedenklich sei, sich in Gegenwart der und jener Persönlichkeit über gewisse Verhältnisse so rückhaltlos zu äußern, meinte er einmal: „Ich nehme von jedem Gentleman, welcher in meinem Hause verkehrt, an, daß er wissen wird, wovon des Gehörten er Gebrauch machen kann, wovon nicht.“ Gewiß eine großartige und sehr bezeichnende Auffassung. Bismarck klagte damals häufig über Überlastung mit Geschäften, es sei niederschlagend, wenn man nicht einmal mehr alles lesen könne, was man eigentlich lesen müsse. Von Natur sei er sehr faul und wünsche einmal ein ganzes Jahr aus allen Geschäften herauszukommen. Dann lese man aber Zeitungen und hielte es doch nicht aus. Er müsse in der Gestalt, in welcher er früher auf Erden gewandelt sei, schwer gesündigt haben, daß er mit einem solchen Übermaß an Arbeit gestraft werde. Die Ärzte seien noch so dumm wie in Galenus’ Zeiten, dumm wie Galen, sage man im Münsterland. Den Chirurgen traue er allenfalls. Die neue Session verlief zu Anfang sehr glatt und die gut vorbereiteten Vorlagen, das Rayongesetz, Militärpauschquantum wurden schnell, ohne lange Diskussionen, erledigt. Mehr Schwierigkeiten und Diskussionen machte das Münzgesetz. Wir saßen damals in dem neuen provisorischen Reichstagshaus, welches auf Bismarcks Betrieb in drei bis vier Monaten fix und fertig gestellt war und allen Ansprüchen vortrefflich genügte. Die neuen Räumlichkeiten begünstigten den Verkehr unter den Abgeordneten, welcher damals auch unter den politisch sich ferner stehenden Parteien ein lebhafter und ziemlich intimer war. Bismarck war damals öfters unwohl, und da der über achtzigjährige Vater der Frau von Bismarck kürzlich gestorben war, so beschränkte sich der Verkehr in seinem Hause mehr. Er erzählte von den Ereignissen des Jahres 1866. Damals seien bei der Rückkehr nach Berlin seine Kollegen und seine parlamentarischen Freunde gegen jede Nachgiebigkeit in politischen Dingen gewesen. Er habe für seine Idee, die Indemnitätsbill einzubringen und ein liberaleres Regiment zu beginnen, nur einen Bundesgenossen im Hauptquartier gehabt (den Kronprinzen) und der habe beharrlich geschwiegen. Wenn man damals auf dem Konfliktwege beharrt hätte, so wäre alles auseinandergefallen. Die aufregendsten Debatten der Session waren die über § 130a des Strafgesetzbuchs, den sogenannten Kanzelparagraphen, welchen der bayrische Minister von Lutz hauptsächlich vertrat, und über das Militärgesetz, welches ein dreijähriges Pauschquantum vorschlug. Letzteres Gesetz wurde mit 152 gegen 128 Stimmen angenommen. Die Nationalliberalen stimmten geteilt, in ihrer Mehrheit mit Forckenbeck dafür. 26

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1872 28. Februar. Mein Frankfurter Bruder Eugen kam nach Berlin, was Anlaß zu einer Einladung zu Tisch gab. Bismarck dinierte damals um 5 Uhr, was in Berlin als späteste Stunde galt. Er ging nur ganz ausnahmsweise zu Tisch aus. Dagegen hatte er gewöhnlich zwei bis drei Gäste, welche bei ihm im engsten Familienkreis im Überrock erschienen. Bismarck kam etwas später aus dem noch schneebedeckten Garten mit einem kleinen blühenden Zweig als Frühlingsboten. „Jede Luft bekommt mir besser, nur nicht die Hofluft. Die Zeit in Rußland war sehr angenehm. Das Volk ist liebenswürdig und gut geartet. Ich war auf der Bärenjagd allein unter Hunderten von Bauern, welche ich gelegentlich ausschalt. Sie blieben aber immer höflich, ehrerbietig und sind gar nicht raufsüchtig. Bären habe ich mehrere, einen im Sprung gegen mich, geschossen, Elche neun Stück. Der Zar Alexander II. ist ausgesucht freundlich und menschlich, seine Position ist auch eine so unbestritten hohe, daß eine besondere Etikette gar nicht erforderlich. Beim Fürsten Bentheim war mehr steifes Zeremoniell wie am russischen Hof. Dort saßen die Fürstlichkeiten auf der einen, die übrigen Gäste auf der anderen Seite; in Rußland habe ich zwischen Kaiser und Kaiserin gesessen, oft auch allein mit ihm rauchend. Einmal zwischen der Kaiserin und der Großfürstin Olga sitzend, zog Erstere lebhaft über die deutsche Kleinstaaterei los und appellierte an mich, um mich in Verlegenheit zu setzen: ‚Hier lass ich Sie nicht heraus, was meinen Sie dazu?‘, worauf ich erwiderte: ‚Ich bin meines Königs Gesandter an Ihrem Hof, also immer e i n e r Meinung mit Eurer Majestät.‘ Ich habe dort viel mehr Gefühl von Treu und Glauben, von menschlicher Dankbarkeit, viel weniger Neid und Eifersucht gefunden wie anderwärts. Napoleon III. war ähnlich, und wenn er keine Freunde hatte, so lag das mehr im französischen Naturell wie in seinem Wesen begründet. Mein hoher Herr will sein eigener Minister des Auswärtigen und des Krieges sein und bringt mich dadurch gelegentlich in die peinlichste Verlegenheit. Er unterschreibt dann nicht und die Sachen, welche pressieren, bleiben liegen. Welche Schwierigkeiten habe ich gehabt, unfähige Leute wie Bodelschwingh, Usedom und andere loszuwerden! Schon ein Landrat braucht einen guten, zuverlässigen Kreissekretär, um einen Kreis von vierzigtausend Seelen zu regieren, das 27

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bedenkt Seine Majestät nicht. Bodelschwingh mit seiner Verlogenheit sagte 1866 vor Ausbruch des Krieges: ‚Auf acht Tage haben wir noch Sold für die Leute, dann hört’s auf.‘ Ich fuhr aus dem Conseil (Kronrat), das hier im Hause stattfand, zu von der Heydt und sagte ihm: ‚Ich weiß, daß Geld vorhanden ist. Sie sind im Unfrieden aus dem Ministerium geschieden, wollen Sie das Geld schaffen? Wollen Sie nicht, so nehme ich die Berliner Bankiers zusammen und nehme den zum Finanzminister, welcher schaffen will, was ich brauche‘. Von der Heydt schlug ein. „Wenn ich jetzt nach zehnjährigem Dienst noch so viel Schwierigkeiten an höchster Stelle finde, wie soll man da durchkommen! Die Franzosen wollten jetzt die fälligen 650 Millionen in Wechseln zahlen, ich weiß, sie haben das Geld jetzt liegen, ob sie es in sechs Monaten noch haben, weiß man bei den vielen möglichen Zwischenfällen nicht. Camphausen und Delbrück halten die Offerte für akzeptabel, sie bringt voraussichtlich gar keinen Verlust und setzt uns unmittelbar in den Besitz des Geldes. Während früher Seine Majestät für Erlasse, Amnestie, schnellere Räumung des französischen Gebiets war, ist er jetzt entgegengesetzter Ansicht, und so unterliegen wir stets Wechselfällen. Der Kampf bei Verteilung der Dotationen war auch äußerst schwierig. Seine Majestät wollte jedem zwanzigtausend Taler geben, und ich habe es mit Mühe durchgesetzt, daß es nicht unter hunderttausend wurden. Ich hatte in den Kommissionsverhandlungen versprochen, daß nicht Verdienste, welche stattgehabt haben könnten, belohnt werden sollten, sondern nur wirkliche geleistete. Seine Majestät meinte, die vier Millionen Taler seien lediglich zu seiner steten Disposition gestellt, nachher merkte er aber, daß ohne meine Unterschrift nicht gezahlt wurde. Ich habe geraten, einen Marschallsrat zu berufen und entscheiden zu lassen. Das hat stattgefunden, ohne daß ich zugezogen worden wäre. Die Herren suchten zu erfahren, was Seine Majestät wünsche, und das haben sie dann vorgeschlagen und beschlossen. Ich muß doch ein ehrlicher Mann bleiben gegenüber derjenigen, welchen ich Versprechungen gemacht habe, und muß die Verteilung vertreten können.“ Auf meine Bemerkung, daß, was bis jetzt über die Verteilung der Dotationen bekannt geworden sei, nirgends Anstoß erregt habe, meinte er: „Ihre Ansicht beruhigt mich sehr, ich wünsche nur, sie wird von den anderen Parlamentariern geteilt. Sondieren Sie!“ Nach Abschluß eines Staatsvertrags kam der betreffende Souverän zu mir und sagte: ‚Geben Sie Ihr Ehrenwort, daß das geschieht, was wir vereinbart haben?‘ Ich erwiderte: ‚Wie kann ich mehr versprechen, als wie es der geschriebene Vertrag verbürgt! Ich würde kein persönliches Wort geben kön28

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nen, weil es ohne Wert neben dem Vertrag ist, trotzdem will ich es Ihnen geben. Alors je pars demain.‘ Bismarck war besonders gut aufgelegt und rauchte einige Pfeifen. Zigarren nur eine am Tag. Er war voll Konversation und es tat ihm offenbar gut, sich zwanglos aussprechen zu können. Die Fürstin sah recht elend aus, war aber elastisch und lebhaft in der Unterhaltung und in Bewegungen. Wir blieben bis nach 3 Uhr, und er hat nachher, wie wir später hörten, gesagt, er wolle mich öfters sehen und alle Woche zu Tisch laden. Am folgenden Tage traf ich Bennigsen, alten Heidelberger Vandalen, also Korpsbruder, und sprach mit ihm über die gestrige Unterhaltung mit Bismarck. Herr von Bennigsen war Referent der Dotationskommission gewe­ sen, also genau orientiert. Er meinte: „Die Lage Bismarcks sei allerdings sehr schwierig, wenn er nicht die wesentlichen Teile seiner persönlichen Zusicherungen in der Kommission betreffs der Verteilung der Dotation durchsetzen könne. Immerhin werde ihm aus Initiative derjenigen, welche damals dem Dotationsgesetz zugestimmt hätten, schwerlich ein Vorwurf gemacht werden. Bismarck müsse das freilich gewärtigen und sich herausziehen, so gut wie möglich. Falle die Verteilung nicht nach den Wünschen des Landes aus, so werde schwerlich Ähnliches im späteren Fall geschehen; aber das seien ja fernliegende Eventualitäten.“ Bennigsen hat sich in allen persönlichen und parlamentarischen Transaktionen als loyaler Gentleman benommen und bei Bismarck stets eine Vertrauensstellung gehabt. Dr. Friedenthal, mit dem ich über den gleichen Gegenstand sprach, meinte, „wenn nur keine völlige Zersplitterung der Mittel stattfinde, so ließe sich alles vertreten“. 3. März abends bei Bismarck. Anwesend Fürst Pleß und Graf Bninsky, beide für die Sitzung des Herrenhauses hier. Bismarck beklagte sich, daß heute an diesem herrlichen Tag eine Ministersitzung stattgefunden habe wegen der Kreisordnung. Der Vortragende habe eine Stunde sehr instruktiv gesprochen, allein was bedeute ein Übereinkommen zwischen Regierung und Kommission! Die Regierung werde in der Kommission an die Wand gedrückt und zu den äußersten Konzessionen gezwungen. Sie könne davon nichts zurücknehmen, während sich das Plenum des Hauses keineswegs immer mit der Kommission identifiziere und deren Erklärungen vertrete. Darum seien alle Ministerialbeschlüsse überflüssig, die Sache werde hin und her gehen zwischen Herrenhaus und Abgeordnetenhaus, und ohne weitere Änderungen gehe es doch schließlich nicht ab, also wozu die Ministerialsitzung? Es sei überhaupt ein Unding, uniforme Bestimmungen für die 29

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ganze Monarchie finden zu wollen. Jeder werde die Normalbestimmung für seinen Kreis berechnen und danach die Gesamtvorlage amendieren. Nachher kam die Rede auf die Jagd, welcher Bismarck früher mit großer Passion obgelegen hat. Die Jagd in dem ihm jetzt gehörigen Sachsenwald sei von früher her noch auf neun Jahre an Hamburger Kaufleute, welche sie sehr pfleglich behandelten, für 2400 Taler verpachtet. Er könne zwar den Kontrakt auflösen, finde es aber zweckmäßiger, es dabei zu lassen. Seitdem er im Besitz von Gnadengeschenken und Staatsdotationen sei, seien seine Verhältnisse derangiert. Das Erste nach der Verleihung des Sachsenwaldes sei die Notwendigkeit gewesen, einen in der Mitte seiner neuen Besitzung gelegenen Gasthof für 80.000 Taler zu erwerben; beim ersten Besuch dort hatte Bismarck in vierzehn Tagen eine Rechnung von 700 Talern gehabt. Die Fürstin wünsche von der Herrschaft Varzin zwei Güter zu verkaufen und die drei größeren zu behalten. Damals gingen Gerüchte, Graf Bodo Eulenburg gehe als Oberpräsident nach Hannover, das Graf Stolberg verlassen wolle wegen Rangstreitigkeiten mit der Frau des kommandierenden Generals von Voigts-Rhetz. ‒ Bismarck habe im Herrenhause den Handel gemacht, die Kreisordnung fallen zu lassen, wenn das Schulaufsichtsgesetz da angenommen würde. Forckenbeck als Präsident des Abgeordnetenhauses verlangte bestimmt, zu wissen, ob man dem Abgeordnetenhause Zeit lassen werde, die Kreisordnung durchzuberaten, wenn nicht, wolle es in die Beratung gar nicht erst eintreten. Graf Fritz Eulenburg, der damalige Minister des Innern, der frühere Chef der Ostasiatischen Expedition, hatte ‒ ob absichtlich oder aus Unvorsichtigkeit, schien unsicher ‒ die camphausensche Steuervorlage zu Fall gebracht und das Schulgesetz gefährdet. Bismarck war an seiner alten Neuralgie erkrankt und hielt sich von den Geschäften zurück. Es zog sich aber noch alles wieder zurecht. 2. April abends bei Bismarck, welcher von einem Diner beim französischen Botschafter Gontaut kam. „Die Töchter seien an Paris gewöhnt und hier mißvergnügt.“ Bismarck klagte über die Schwierigkeiten bei Hofe. Die ewigen Zuträgereien, Einmischungen, Mitteilungen durch Briefe und Zeitungsausschnitte, welche ohne sein Wissen Seiner Majestät übermittelt würden. Thiers sei in Frankreich der einzige anständige Patriot, alle anderen seien Parteimenschen, welche eher an ihre eigenen und ihre Parteiinteressen dächten als ans Vaterland. Jules Favre habe als Burgunder noch einige bessere Tropfen deutschen Blutes in sich, sei aber ein Phantast. Solange man noch einen Redner nicht anders anhöre als wie eine Sängerin, sei es mit der 30

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politischen Reife nichts, aber in Frankreich ließen sich die Leute noch durch Reden bestimmen. Die Tätigkeit im Bundesrat sei auch nicht ganz einfach, sie erfordere doch, sich einzuarbeiten in rein technischen Dingen. Falk sei ihm hier unschätzbar als Jurist gewesen, ob er als Kultusminister von gleichem Wert sei, sei zweifelhaft. Er sei mehr elastisch als zäh, fühle sich mehr als Kommissar wie als Minister, und er selbst könne nicht für alle Ressorts eintreten. Er werde nun aber für die Dauer des Reichs- und Landtags hierbleiben, da seine Abwesenheit als eine Demonstration gegen die Kreisordnung aufgefaßt werden könne. Er reise jetzt teurer als früher, ehe er den eigenen Salonwagen gehabt habe. Er müsse alle Reparaturen bezahlen und einen eigenen Mann dafür halten, welcher fürstlich belohnt werden müsse, da man mal das Malheur habe, Fürst zu sein. 14. April abends bei Bismarck. Salon gefüllt mit Buketts vom 11. her, dem Geburtstage der Fürstin. Bismarck erzählte viel vom Jahre 1848. Er habe zwar damals keine amtliche Stellung gehabt, indes seit dem Vereinigten Landtag, wo sein Auftreten dem König. Friedrich Wilhelm IV. zwar zu reaktionär, aber doch sympathisch gewesen, sei er häufig zu Rate gezogen worden. Friedrich Wilhelm IV. sei ein ganz schwankender Charakter gewesen, man konnte ihn nicht bei einer Sache festhalten; wenn man fest zugriff, blieb nur eine Handvoll Schleim. Auf einen Vorschlag, mich ins Ministerium zu berufen, hat er an den Rand geschrieben: „Nur zu brauchen, wo das Bajonett schrankenlos waltet.“ „Ich habe damals 1848 und besonders bei Auflösung der Nationalversammlung alle Verhandlungen zwischen König und Ministern sowie denen, welche es werden sollten, geführt. Mit Harkort, damals in der Mauerstraße wohnend, habe ich wegen Übernahme des Handelsministeriums verhandelt. Harkort wollte aber erst ein rein bureaukratisches Ministerium, welches die Verhältnisse wieder in Ordnung bringen sollte, danach sei er zur Übernahme bereit. Ehe Manteuffel sich entschloß, das Ministerium zu übernehmen, verlangte er alle möglichen Sicherheitsmaßregeln für seine Person. Frau und Kind schickte er nach Potsdam. Ich sorgte, daß Jäger und Abteilungen vom 35. Regiment die Seehandlung, die Hannoversche Gesandtschaft und das Schauspielhaus besetzten. Neben dem Sitzungssaal selbst waren zwanzig der besten Schützen postiert, welche auf einen Klingelzug in den Saal treten sollten, um nötigenfalls Manteuffel persönlich zu verteidigen. Wenn dann bei der Auflösung des Abgeordnetenhauses selbst, wo Wrangel endlos höflich parlamentierte, ein Schuß gefallen wäre, so hätte der weitere Verlauf der 31

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Verfassungsgeschichte eine ganz andere und eine günstigere Wendung nehmen können.“ „Mit Delbrück verhandelte ich 1862 wegen Übernahme des Handelsministeriums, er weigerte sich aber, es anzunehmen. Er ziehe seine Stellung als vortragender Rat vor und habe keine anderen Passionen in der Welt als diese Tätigkeit. Er würde sich hängen, wenn er auf diese Tätigkeit verzichten müsse, und einmal Minister gewesen, könne er nicht dazu zurückkehren. Natürlich habe Delbrück wohl damals nicht an einen längeren Bestand des Ministeriums geglaubt. Mit seiner jetzigen Stellung sei er ganz zufrieden und nehme sie sicher mit sich.“ 5. Mai. Bismarcks Soiree mäßig besucht, zehn bis zwölf Parlamentsdamen anwesend. Meine Frau, welche vor vierzehn Tagen da gewesen war, nicht mit. Bismarck habe ich nie so ernst und verstimmt gesehen wie gestern. Er sprach erst privatim und dann vor allen seine Verstimmung aus: „Mein Öl ist verbraucht, ich kann nicht mehr. Es ist zu viel, allein mit solchen Kollegen und gegen den Einfluß der Königin zu arbeiten. Man hat in zehn Jahren gezeigt, was Deutschland sein könnte, und nun dieses Auftreten des Parlaments in der Salzsteuer, in dem Militärstrafgesetzbuch, dieses Verkennen der Verhältnisse! In ein paar Jahren schießen die Soldaten nicht mehr. Wir machen jetzt in Europa die Ereignisse, und tun wir nichts, so geschieht nichts. Ein anderer bekommt vielleicht ebenso schnellen Einfluß nach außen. Den Reichstag auflösen, wozu?“ ‒ Ich hatte den Eindruck, daß er nie ernstlicher mit Abschiedsgedanken umgegangen ist wie damals. Die Verhandlungen in der Kommission für das Militärstrafgesetzbuch, in welcher Graf Moltke, Prinz Wilhelm von Baden als Mitglieder saßen, gingen nur mühsam vorwärts, und besonders war die Frage des strengen Arrests, der Latten etc. ein Stein des Anstoßes. Bismarck hatte den Militärs, Kriegsminister von Kameke, von Lettow, der Hauptvertreter in der Kommission war, geraten, die Punkte, in welchen sie glaubten nachgeben zu können, gleich zuzugeben. Diese aber hatten gemeint, gewissermaßen vorschlagen zu müssen, da ihnen doch noch manches würde abgehandelt werden. Daraus entstanden Weiterungen und Mißhelligkeiten. Der Coup, den Kardinal Hohenlohe zum Botschafter in Rom zu ernennen, endete damals mit der Ablehnung seitens des Papstes. Bismarck würde vielleicht die Situation ähnlich wie die Benedettiszene in Ems ausgenutzt haben, und die gerade zur Diskussion stehende Jesuitenpetition hätte vielleicht eine geeignete Handhabe geboten, wenn eben nicht der unüberwindliche Widerstand der Kaiserin dagegen gearbeitet hätte. ‒ Bismarck machte den Eindruck des gefesselten Prometheus. „Mein Schlaf ist keine Erholung, 32

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ich träume weiter, was ich wachend denke, wenn ich überhaupt einschlafe. Neulich sah ich die Karte von Deutschland vor mir, darin tauchte ein fauler Fleck nach dem anderen auf und blätterte sich ab. Warum ist Ihre Frau nicht mit? Sie sagt auch wohl: einmal und nicht wieder?“ Am 11. Mai waren wir dann beide zu Bismarcks Soiree, wobei er besserer Laune war als acht Tage vorher. Daß schon zum Herbst Elsässer Rekruten in die Armee eingestellt werden sollten, billige er nicht; als diese Frage entschieden worden sei, sei er nicht wohl gewesen und mit anderen Geschäften überhäuft, so habe er seine Ansicht nicht durchsetzen können. Man hätte vorläufig fünf bis sechs Jahre die Sache ruhen lassen sollen wie gärenden Wein; nur Freiwillige und Kapitulanten annehmen. Jetzt werde es viel Erregung geben. Die Elsässer haben den Stolz eines reich galonierten Bedienten für die Würde ihres Herrn. Paris sei i h r e Stadt gewesen und auf die benachbarten Kleinstaaten hätten sie herabgeblickt. Neid sei überhaupt der Grundzug der Deutschen, man sehe naserümpfend auf den Landsmann und bewundere alles Fremde. Der deutsche Adel sei zu Hause verhaßt, und komme ein englischer Schuster, so beuge man sich vor ihm. Löwe-Calbe, welcher dabeistand, meinte, dem liege doch der deutsche ideale Zug des „nil admirari“ zu Grunde. Inzwischen waren die Verhandlungen über die Jesuitenpetitionen in der Kommission befriedigend verlaufen und hatten mit der Annahme des Antrags Gneist geendet, welcher einem Verbot des Ordens sehr nahekam, indem er Jesuitenniederlassungen von einer ausdrücklichen staatlichen Genehmigung abhängig machte.

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1873 Am 3. Januar 1873 war ich bei Bismarck, als die Nachricht von Napoleons Tod eingetroffen war. „Thiers wird heute einige Gläser Wasser mehr trinken und berauscht in Versailles umhergehen. Hätte Napoleon nach Sedan gewollt, so hätten wir ihn auf dem Thron halten können. Ich sagte damals Thiers: ‚Was würden Sie sagen, wenn wir Ihnen diesen Panther mit 160.000 Mann der Armee Bazaines auf den Nacken setzten?‘“ Thiers: „Quelle manière cruelle de plaisanter!“ Bismarck: „Je ne plaisante pas si gros.“ Den Hergang seiner Niederlegung des Ministerpräsidii erzählte er so, wie er später im Beiblatt der Kölner Zeitung dargestellt wurde. Er habe die Kreisordnungsfrage für zu geringfügig erachtet, um daran einen Pairsschub zu knüpfen. Roon habe diese Ansicht geteilt und auch eine Reform des Herrenhauses für nötiger befunden. In Berlin sei man aber im Kampf so verbissen gewesen, daß der Pairsschub stattgefunden habe. Bismarck trat vom preußischen Ministerpräsidium zurück, Roon als Nachfolger dem König empfehlend, als seinen ältesten und zuverlässigsten Freund. Am 25. Januar parlamentarisches Diner bei Bismarck. Alle Parteien außer dem Zentrum vertreten, Hagen, Miquel, Löwe, Bamberger, Hammacher, Denzin, Bockum-Dolffs, Overweg etc., etwa dreißig Personen. Da gleichzeitig bei Itzenplitz und Camphausen parlamentarische Diners stattfanden, so fehlte das Präsidium; ich führte die Komtesse Bismarck und saß links vom Fürsten, von diesem durch Miquel getrennt, rechts von ihm Bamberger. Während der Tafel fand keine allgemeine Unterhaltung statt. Übrigens war alles recht animiert. Bismarck hatte morgens bei Beratung des auswärtigen Etats zwei große Reden gehalten über die Vorgänge im Kabinett, voll interessanter, aber etwas peinlicher Aufklärungen. „Überlastung mit Geschäften und gänzlicher Mangel an Einfluß veranlaßten mich zur Niederlegung des Präsidiums. Ich gab auf, was mir am meisten Arbeit brachte und den wenigsten Einfluß raubte.“ Die Rede war gewürzt mit starken Seitenhieben auf faule und widerstrebende Kollegen. Graf Fritz Eulenburg saß daneben an dem Ministertisch, öfters den Ausdruck wechselnd. Das allgemeine Gefühl war: Persönlich gerechtfertigt mag der Schritt sein, allein es ist eine traurige 34

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Anomalie der Verhältnisse, daß er notwendig war. Daß Bismarck selbst die Verhältnisse verwünschte, welche ihn so zu handeln zwangen, war evident. Nach dem Diner gruppierte man sich um Bismarck, und er hielt eine förmliche Ansprache. Rechtfertigte, daß man den Reichstag zum 10. März einberufe, unter vier Wochen Arbeit vor Ostern könne man den Süddeutschen nicht zumuten, zu kommen. Man sei in ihn gedrungen, den Reichstag schon vor Weihnachten zu berufen, um den Schlüssel zur Kasse zu erhalten. Der Zinsverlust sei zu enorm, wenn man die Kriegsentschädigungsgelder noch lange liegen lasse. Außerdem schade es nichts, zu akzentuieren, daß die Reichs- den Landtagsgeschäften vorgingen, selbst Preußen nicht ausgenommen. Er beneide fast die Wichtigkeit, welche jetzt die Landtagssachen gewonnen hätten. Es sei aber mit dem Reich nicht wie mit dem Ruf einer Frau, welcher der beste sei, wenn man gar nicht von ihr spreche. Übrigens schade es nichts, wenn beide Körperschaften gleichzeitig säßen; jede brauche nur zwei bis drei Plenarsitzungen in der Woche zu halten. Es sei schade, daß sich das Institut der Abendsitzungen bei uns nicht einbürgere, man sei abends ein viel besserer Mensch, man rede besser, sei versöhnlicher und nachgiebiger, morgens sei jeder in der Stimmung, nur auf eine Behauptung zu warten, um das Gegenteil zu sagen. Die englischen parlamentarischen Gewohnheiten verdanke man den Abendsitzungen. Über seinen Rücktritt wiederholte und umschrieb er seine Erklärungen vom Morgen in plastischer Weise. „Er habe nicht die Anmaßung, von Varzin aus das Ganze kommandieren zu wollen; so sei gegen seine und Roons Meinung der Pairsschub ad hoc gemacht worden. Er begriffe nicht, wie man bei jedem einzelnen Anlaß dem einen oder dem anderen mißliebigen Hause die Beine zerschlagen könne. Man sei nach dem preußischen Generalstabsrezept verfahren, die Leute die Wände hinaufzuschicken und fallen zu lassen, was wolle. Nachher sei man freilich über die Menge der Leichen erschrocken gewesen. Die Verbissenheit des Kampfes sei ihm umso unerklärlicher gewesen, als ja Herrenhaus und Ministerium ganz einig über die Hauptfragen gewesen seien und nur über Kleinigkeiten differiert hätten. Betreffs Abschaffung der Virilstimmen, der gutsherrlichen Polizeiverwaltung sei man ja einig gewesen und alles Übrige sei des Lärms nicht wert. Von Varzin gekommen, sei er wie der Böttcher ums Faß herumgelaufen, um das auseinanderfallende Ministerium zusammenzuhalten. Ein Rücktritt hätte von jedem Einzelnen eine Mißbilligung der eben erst getroffenen Maßregeln bedeutet. So seien Roon und er geblieben. Er habe 1865 versucht, auf den schwerinschen Entwurf zurückgehend eine Kreisordnungsvorlage zustande zu bringen. Eulenburg aber habe 35

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nichts getan. Er sei dann, als Eulenburg krank wurde, zu dessen Referenten Geheimrat von Wolff gegangen, um ihn anzubetteln, seine Arbeit zu beschleunigen. Der habe ihm aber geantwortet: Das gehe seinen Chef an, welchem er zurzeit keinen Vortrag halten könne. Nun sei Wolff in ein schönes Regierungspräsidium nach Trier hinweggelobt. Der Ministerpräsident habe auf seine Kollegen keinen Einfluß und diese wieder ständen ratlos ihren Räten gegenüber, wenn diese nicht wollten. Die Räte leisteten passiven Widerstand und ließen den Minister versuchen, etwas ohne sie fertigzubringen. In allen Ministerien, selbst früher im Auswärtigen, sei es üblich gewesen, morgens Plenarsitzungen zu halten, alles vortragen zu lassen und abzustimmen. Dann sei ein bestimmter Beschluß eines Ministeriums da, an welchen sich der Chef selbst gebunden fühle, von welchem er sich nicht losmachen könne. Im Auswärtigen Amt habe er das abgeschafft, und alles sei über seine Tyrannei außer sich gewesen. Es mache sich aber hier allerdings leichter, weil es sich hier um eine Branche handle, welche nur der Chef übersehen könne und müsse. Das sei in anderen Ministerien nicht möglich, folglich hänge der Minister von seinen Dezernenten ab, könne sich von ihnen nicht emanzipieren, ohne von ihnen im Stich gelassen zu werden. Dieser Kampf, erst mit dem Minister und dann wieder mit den einzelnen vortragenden Räten verhandeln zu müssen, das sei ihm zu viel geworden. Die Reform des Herrenhauses wolle er, da wir eine geborene einflußreiche, großgrundbesitzende Aristokratie im englischen Sinne, wo der König der erste Pair sei, nicht hätten, im Sinne einer Wahlkammer, welche auflösbar sei. Er habe damals Friedrich Wilhelm IV. das Unrichtige der Bildung des Herrenhauses vergeblich nachzuweisen versucht. Niemand kenne in der Provinz einen Herrn als solchen. Die Grafen und Familienverbände seien abgelöste Beziehungen, welche die Wahl wie eine gleichgültige Formalität behandelten, während der Gewählte kaum seinen Sitz einnehme. Die Frage, ob ein geborener Herr außerdem ein Wahlrecht ausüben solle, habe damals den König sehr beschäftigt, und seine Einwürfe seien ärgerlich als überwundener Standpunkt abgewiesen worden. Seines Trachtens müßten die Bürgermeister der großen Städte eo ipso Mitglieder sein. Hier dürfe keine Wahl stattfinden, sonst verführen die Magistrate wie die Regierung mit der Verleihung eines Ordens. Man finde jemand damit ab. Ein Mann, welcher eine große Verwaltung führe, sei konservativ und wisse, worauf es bei der Gesetzgebung ankomme. Ebenso müßten die sämtlichen Regierungspräsidenten Mitglieder sein aus demselben Grunde und, weil sich dann die Kapazitäten hervortun könnten. Es gebe Leute, welche nicht reden könnten, aber doch ein sehr gesundes gutes Urteil hätten. Jetzt kenne er, wenn es 36

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sich um Besetzungen von Oberpräsidien handle, keinen Beamten, sondern nur andere Leute, welche die Qualifikation hätten, aber eben nicht in der Beam­tenkarriere seien. Dagegen erhebe sich dann Widerspruch aus den Beamtenkreisen. Das Zerreißen der bürgerlichen und adligen Ritterschaft für die Herrenhausbildung in verschiedene Wahlkurien sei ein großer Mißgriff gewesen. Die Bürgerlichen hätten sich sehr gut angelassen, Landjunker zu werden, das heißt ihre Söhne dem Staatsdienst oder dem Militär zu widmen, um ihnen später die Gutsverwaltung zu übertragen. Die Männer vertrügen sich ganz gut im Kreis, aber schwieriger seien die Frauen. Die adligen seien impertinent, die bürgerlichen argwöhnisch. Durch jene Scheidung für das Herrenhaus sei diese Trennung begünstigt und dem Herrenhaus ein wertvolles Element entzogen. Eine Wahlkurie der Millionäre sei auch zu bilden, das ist der Höchstbesteuerten. Wer große Interessen zu verwalten hat, habe auch als Gesetzgeber ein Urteil über die Dinge. Seine erste Kammer werde der früheren ähnlich werden.“ Über die Presse redend, meinte er, so grobe, unflätige Journalisten wie wir hätte keine Nation. Selbst die freundlich Gesinnten machten enorme Prätensionen, sie verlangten über die intimsten, noch in der Entwicklung begriffenen Dinge Aufklärung und schimpften grob, wenn man sie nicht gebe. So sei die Nationalzeitung ausgesucht grob ‒ wer wohl die betreffenden Autoren seien? Es wurden Boretius und Mathäi genannt als vermutlich in Frage kommend. „Die seien dann recht geeignet zu Geheimräten.“ Mit Michaelis (einem früheren Journalisten) habe man übrigens einen guten Griff getan. Eugen Richter wurde dann genannt als Geheimratskandidat, worauf Bismarck mit der Bemerkung einging: „Gewiß, ein Mann von einem so schnellen und gründlichen Aktenstudium wäre höchst wertvoll.“ „Der Volkszeitung merke man immer noch etwas an von der angeborenen Höflichkeit Franz Dunckers.“ Löwe meinte: „Wir haben uns seit zwanzig Jahren bestrebt, einen feineren Ton in die Volkszeitung zu bringen, beim jetzigen Redaktionswechsel geht die Mühe von Neuem an.“ Ich ging mit Löwe und Bamberger weg, und Löwe meinte: „Ob Bismarck nicht wieder nächstens einen Versuch mit der Konservativen Partei machen wird? Ich schließe e contrario, warum hätte sonst Eulenburg sich gestern so liberal geäußert ‒ bei der Beantwortung der Interpellation Gottbergs über die Auswanderung?“ Bismarck hatte am Morgen betont, die Regierung müsse eine königliche sein, als die einzige, welche objektiv sei und über den Parteien stehe. Eine parlamentarische Majorität könne nur regieren, wo nur zwei Parteien vorhanden seien und somit eine Majorität vorhanden sei. Die Konservative 37

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Partei komme ans Ruder, um liberale Reformen zu machen bis zu einer gewissen Grenze und umgekehrt. Bei uns seien vier bis fünf Parteien vorhanden, mit welchen man rechnen müsse. „Die Franzosen seien die Chinesen Europas, über ihre Ziele und künftigen Schritte brauchen wir nicht zu spekulieren, sie werden über uns herfallen, sobald sie sich stark genug dazu glauben.“ „Die Russen bilden sich vielfach ein, wir intendierten die Eroberung von Livland und Esthland, während nur ein Tor eine solche Politik machen könnte. Wir könnten höchstens noch mehr Polen bekommen und haben noch nicht die verdaut, welche wir besitzen.“ 30. Januar. Zu Tisch im kleinen Kreis bei Bismarck. „Seine Majestät begriffe nicht, daß er keine Hoffeste mehr mitmache. Der Verkehr mit Seiner Majestät sei schwierig, ja wenn er Witwer wäre, aber wenn man am Abend einig über eine Sache geworden sei, so werde ihm am anderen Morgen beim Kaffee das Gegenteil beigebracht.“ Der Abgeordnete Präsident Ludwig von Gerlach sei stets nur negativ kritisch gewesen. Friedrich II. fand er nicht groß und seine Regierung nur eine Reihe von Mißgriffen und Ungeschicklichkeiten, nur 1806 habe er bewundert, weil es sonst niemand tut. 4. Februar. Abends bei Bismarck, wo Graf Styrum, Graf Maltzan etc. Bismarck kam spät und verstimmt über eine von Eulenburg, Königsmarck, Camphausen bereits gezeichnete Jagdgesetzvorlage, in welcher die Vertilgung des Schwarzwildes vorgesehen war. Solche Dummköpfe zu Kollegen zu haben, sei zum Verzweifeln. Nur zufällig habe er Montag, wo keine Zeitungen kämen, von der Vorlage überhaupt Kenntnis erhalten. Sie enthielt die gröbsten Eingriffe in Privatrechte und öffne der Wilddieberei Tor und Tür. Er habe die Vorlage kassiert. Solche Dummheiten geschehen alle Tage mit der größten Gemütsruhe! Was lithographiert sei, betrachte man mit dem größten Respekt und kümmere sich nicht um das Weitere. Sein schlimmster Kollege sei der Finanzminister von Bodelschwingh gewesen. 1866 habe er die Kassen schließen und mitten im Kriege erklären wollen, es sei kein Geld mehr vorhanden. In jedem anderen Lande würde er infolgedessen vor Gericht gestellt worden sein. Bismarck ist leider oft krankhaft reizbar, und wenn er auch sicher oft durch Trägheit und Unzulänglichkeit seiner Kollegen sowie durch Hofintrigen zu leiden hat ‒ so ist doch auch das Zusammenarbeiten mit ihm schwierig genug. Wie viel segensreicher würde er wirken können bei weniger Reizbarkeit. Es ist aber sein Naturell, unter welchem er selbst und andere leiden. 38

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7. Februar hielt Lasker eine große dreistündige Rede kontra Itzenplitz-Wagener über Mißstände im Eisenbahnwesen, welche große Sensation machte und vom Ministerpräsidenten Grafen Roon nur eine schwache Erwiderung fand. Bismarck äußerte abends, er fände die Rede zu wenig sachlich und zu aggressiv persönlich. Es sei nicht loyal und unerlaubt, eine solche Anklagerede zu halten über Privatpersonen und Verhältnisse, wo eine Entgegnung und Verteidigung nicht möglich sei. Gegen Itzenplitz wegen Unfähigkeit, gegen Weißhaupt wegen anderer Dinge möge ein Angriff gerechtfertigt sein. Oberpräsident von Horn war anwesend und unterhielt sich mit Freiherrn von Spitzemberg so ungeschickt herablassend, daß Bismarck nachher meinte: „Das sei eine Art hoher preußischer Beamter, welche das Talent hätten, uns im Auslande und bei Fremden mißliebig zu machen.“ 21. April. Kurze Sitzung im Reichstage. Verhandlung über Münzgesetz vertagt. Abends bei Bismarck, welcher aus der Galaoper kam, welche dem Prinzen Albrecht zu Ehren stattgehabt hatte. Bismarck begleitet Seine Majestät nach Petersburg, weil da Intrigen im Gange und alle bösen Weiber Europas versammelt seien. Er stelle jetzt jeden Dienstag die Kabinettsfrage, sonst bringe er weder Delbrück noch den Bundesrat zum Arbeiten. Alles sei jetzt träge und interesselos, es werde aber schon noch einmal eine nationale Glühhitze eintreten, welche die spröden Metalle zum Schmelzen bringe. Es sei merkwürdig, welche Angst alle Welt vor der Königin habe, selbst der alte Prinz Karl und Friedrich Karl. Se. Majestät werde die kirchenpolitischen Gesetze vollziehen, so wie sie beschlossen seien, aber das Herrenhaus und selbst Graf Stolberg wollten nicht recht heran. Ein Beweis, daß die Herrenhausreform wichtiger gewesen sei wie die Kreisordnung. Er wünsche die Einsetzung eines Reichseisenbahnamtes und arbeite daran seit sechs Jahren, er werde es zur Kabinettsfrage machen, wenn er nicht vorwärts damit komme. Er brauche nur einen Paragraphen, nicht das Konzessionswesen, sondern nur die Kontrolle. Aber weder das preußische Ministerium noch der Bundesrat wolle. Strousberg sei keineswegs der größte Schuldige, das gehe in sehr hohe Kreise, das Gründerwesen. Der bayrische Gesandte von Perglas sei bei der letzten Defiliercour nicht mit ihm, dem Kanzler und Bundesrat, sondern mit dem diplomatischen Korps gegangen. Folgedessen habe er ihn immer französisch angeredet, was nicht seine starke Seite sei, und ihn Monsieur de Verglas (Glatteis) angeredet. Perglas habe sich entschuldigt, es sei ihm jener Platz angewiesen worden, worauf er ihn getröstet und, auf den bayrischen Militärbevollmächtigten 39

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General Xylander ‒ welcher in seiner Suite gegangen sei ‒ hinweisend, gesagt habe: „Der bessere Teil Bayerns ist mit uns gegangen.“ 26. Mai. Nachricht, daß Thiers die französische Präsidentschaft niedergelegt habe und Mac Mahon sein Nachfolger geworden sei. Wir deliberierten im Reichstag gerade die Frage der Vertagung bis zum Herbst oder der weiteren sofortigen Erledigung der zahlreichen noch rückständigen Vorlagen. Unter dem Eindruck der Nachricht, welche weitere Krisen befürchten ließ, entschieden wir uns für Weitertagen. Am Abend bei Bismarck. Es sei merkwürdig, welchen verschiedenartigen Eindruck die Nachricht mache. Se. Majestät fände es beruhigend, daß nun wieder eine militärische Hand Ruhe in Frankreich herstelle. Er aber habe gar kein Interesse daran, daß eine starke militärische Regierung in Frankreich bestände, welche nur umso eher an Revanche denken könne. Eine schwache Regierung wie die von Thiers sei für uns eine bessere Friedensgarantie. Er könne doch nicht dauernd mehr im preußischen Ministerium bleiben, es sei zu viel und er verliere die Fühlung mit Reichstag und Bundesrat. Delbrück erledige ja die Sachen, aber ob immer richtig, sei doch zweifelhaft. Camphausen müsse Ministerpräsident werden, was freilich Sr. Majestät nicht in den Kopf wolle, Camphausen die Stellung eines Feldmarschalls zu geben. Die tüchtigste Arbeitskraft ‒ Wagener ‒ habe man ihm genommen. Se. Majestät behandle ihn, wenn er Widerspruch leiste, wie einen aufrührerischen Vasallen; von Camphausen, welchen er als einen konstitutionellen Minister betrachte, lasse er sich mehr gefallen. Er freue sich, daß Falk so gut ausgehalten habe, ihn habe er in seinen kirchenpolitischen Gesetzen unterstützen müssen ‒ als Einziger im Ministerium. Eulenburg sei zu bequem, zu wenig arbeitslustig; dagegen sei Camphausen zum Präsidenten des Staatsministeriums ganz geeignet. Er (Bismarck) selbst trenne sich doch lieber vom Staatsminister als von seinem Körper. Daß der Reichstag durchsitzen wolle, billigte er sehr und schien in allem Gesagten ernst. Seine Gesundheit läßt jedenfalls viel zu wünschen und insbesondere scheint das Venenleiden schmerzhaft und unter Umständen auch gefährlich. Graf Eulenburg war eben bei ihm gewesen und hatte schon in Rücksicht auf die bevorstehenden Wahlen von einem teilweisen Rücktritt des Fürsten von seinen Ämtern abgeraten. Bismarck spricht immer gern über politisch indifferente Dinge in solchen Situationen, über Aufforstungen, landwirtschaftliche Meliorationen ‒ als Ableitung von anderen Gedanken. Seinem Ingrimm gegen die Kaiserin gibt er häufigen und kräftigen Ausdruck, ganz ungeniert, wer sonst anwesend ist, und unbesorgt, daß solche Äußerungen weitergetragen werden könn40

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ten. „Wie 1871 die siegreich heimkehrenden Truppen um Berlin hätten liegen bleiben müssen, um Ihrer Majestät Heimkehr aus Baden abzuwarten, so verlange sie jetzt, den Schah von Persien aufzuhalten, daß er nicht vor dem 5. Juni nach Berlin käme.“ Über Achenbachs eben erfolgte Ernennung zum Handelsminister (als Nachfolger Itzenplitz’) sprechend, meinte er, ihm sei die Persönlichkeit und das jugendliche Alter ganz sympathisch, bei Sr. Majestät sei es nützlich, daß Achenbach eine Brille trüge, weil es ihn älter aussehend mache. Wäre Achenbach ein stramm aussehender, schnurrbärtiger Mann, so rangiere ihn Se. Majestät höchstens als Major und das tue seiner Autorität Eintrag. Die Fürstin hustete viel und sah marode und elend aus, dabei blieb sie stets gleich elastisch, munter und freundlich gegen jedermann. Am 5. Juni war der Schah von Persien eingetroffen und fanden ihm zu Ehren alle möglichen Festlichkeiten statt. Er ist ein schwarzbärtiger, energisch aussehender Mann von straffen, schnellen Bewegungen. Er erschien in der Galaoper neben der Kaiserin, packte sie am Arm, ging sehr ungeniert aus und ein und warf sich in seinen Sessel, ohne von anderen viel Notiz zu nehmen. Beim Herausgehen lud mich die Fürstin ein, mit ihr zu fahren, was ich annahm. Der Schah hatte sie mit dem Namen „Bismarck“ förmlich angeschrien und war in seiner Art besonders aufmerksam gegen sie gewesen. Dem Fürsten hatte er sein Bildnis, in Brillanten gefaßt, verliehen, wovon einer schon verloren gegangen war. Bismarck war sehr wütend über den Grafen Nesselrode, den Oberhofmeister der Kaiserin. Obschon er allein mit Graf Pückler im Treppenhaus beim Aufgang zur Galatafel erschienen sei, habe ihn Nesselrode völlig igno­riert und nicht gegrüßt. Darauf habe er (Bismarck) ihm eine tiefe Verbeugung gemacht, was ihn offenbar dekontenanziert habe. Darauf habe er Pückler laut auseinandergesetzt: Er könne sich als Reichskanzler und Ministerpräsident eine derartige Behandlung und Begegnung vom Hauspersonal der Kaiserin nicht bieten lassen. Wenn es ihr beliebe, einen Bauerntölpel zum Hofmeister zu nehmen, so sei das ihre Sache, er werde aber ihr Haus nicht mehr betreten können. Er hätte absichtlich so laut gesprochen, daß die Umstehenden es hören und weitertragen konnten. Er werde die Sache auch noch weiter schriftlich verfolgen. Die Kaiserin sei außer sich gewesen, daß Gontauts (der französische Botschafter) nicht gehörig bei den Hofeinladungen berücksichtigt seien, er solle sorgen, daß sie zu dem morgigen Feste nach Potsdam ins Neue Palais geladen würden. Bismarck hat das abgelehnt als nicht seines Amtes, sie möge ihre Damen damit beauftragen. Übrigens seien Gontauts in der Botschafterloge 41

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gewesen und er habe sich lange mit den Damen unterhalten. Gontauts seien erschienen, nachdem er sich über den freundlichen Empfang seitens Bismarcks beruhigt habe. Bismarck schien die Gelegenheit benutzt zu haben, möglichst viele Pfeile gegen die Königin abzuschießen. Der Kaiser, welcher etwas unwohl und abgespannt ist, sei beunruhigt worden durch unrichtige Betrachtungen über die Bedeutung der kirchenpolitischen Gesetze und neuerlich durch die Schwierigkeiten, welche aus Anlaß des Empfangs des Schahs gemacht worden seien. So habe man dessen Ankunft verzögert, worauf Se. Majestät gesagt habe: Majestät habe schon so ihre Kur in Baden verkürzt, um hier anwesend zu sein. Sie habe mehrmals auflodern wollen, sich aber immer wieder beherrscht. Der Kronprinz habe es seiner (Bismarcks) Entscheidung überlassen, ob Gontauts nach Potsdam einzuladen seien, und so sei es schließlich geschehen. Der Schah will Bismarck besuchen, was seine Umgebung fürchtet, weil Bismarck ihm Betrachtungen machen könne über den Abschluß der Telegraphen- und Eisenbahnverträge mit der Compagnie Reuter, durch welche er fast seine Souveränität verscherzt habe. Die Umgebung des Schahs sei vermutlich bestochen worden, um ihn gefügig zu machen. Der Schah habe die Geschichte Peters des Großen studiert und wolle dessen Rolle für sein Reich spielen. Er ist auch in der Tat ein kluger und energischer Mann, er duldet keinen Widerspruch und kennt nur blinden Gehorsam. Seine europäische Umgebung ist verwundert, wie fügsam er schon auf seiner europäischen Reise geworden sei. Seine eigenen Damen hat er fortgeschickt, dagegen macht er überall inkognito Expeditionen mit großer Ungeniertheit. Bismarcks Vorgehen gegen Nesselrode wurde viel besprochen, die Friktion mit Gontaut schien im Zusammenhang zu stehen mit dem Rücktritt Thiers’ und mit legitimistischen oder orleanistischen Umtrieben, welche auch klerikale Kreise in Mitleidenschaft gezogen hatten. Das am 6. Juni im Neuen Palais stattgefundene Gartenfest war prachtvoll und vom herrlichsten Wetter begünstigt. Es fand eine großartige Illumination der Gärten statt, eine glänzende Gesellschaft flutete aus den Prachtsälen in den Park. Die längs der Säle laufenden breiten Terrassen sind für solche Feste im Freien geschaffen und bilden einen Rahmen, wie er glänzender zumal in einer schönen Mondnacht nicht sein kann. Das Erscheinen des stattlichen kronprinzlichen Paares mit ihren fünf heranwachsenden Kindern bot ein besonders anziehendes Bild. Die Frau 42

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Kronprinzessin führte einen kleinen dicken Jungen ‒ Prinz Waldemar ‒ an der Hand, und niedliche Prinzessinnen mit langem blondem Haar folgten, dann die zwei ältesten Prinzen in Offiziersuniform. Der Thronfolger hat sich sehr gestreckt und ist seiner Mama schon über den Kopf gewachsen, ähnelt aber in Wuchs und Gesicht jetzt mehr seinem Vater. Der Kaiser erschien nicht, er soll kürzlich einen Ohnmachtsanfall gehabt haben, welcher natürlich die Umgebung sehr erschreckte, allein es soll ihm jetzt besser gehen. Der Schah erschien wie gewöhnlich eine Stunde später als erwartet. Bismarck war mit seinen Damen anwesend. Der Kronprinz war sehr aufmerksam, besonders gegen die Damen. 8. Juni. Parlamentarisches Diner bei Bismarck: Präsidium, Stumm, Hammacher, Bamberger, Völk, Kopp, Achenbach etc. Bismarck toastete auf Achenbach, was dieser nett erwiderte. Die Stimmung war anfangs etwas matt, die Leute schienen von der langen Sitzung ermüdet, welche mit Beschlußunfähigkeit geendet hatte. Nach Tisch erzählte Bismarck viel von den Versailler Verhandlungen, von dem Streit mit dem König, ob es Deutscher Kaiser oder Kaiser von Deutschland heißen sollte. Se. Majestät nahm ihm seine Opposition gegen letzteren Titel so übel, daß er ihn am Tag der Proklamation vollständig schnitt. Die Frage, ob die bayrischen Kadettenhäuser selbständig bleiben oder mit den anderen deutschen zu vereinigen sein sollten, hätte damals die Verhandlungen beinahe scheitern lassen. Roon bestand durch seinen Vertreter Oberst Hartrott auf der letzteren Alternative. Bismarck sah sich im Großen Hauptquartier wieder isoliert und der Gefahr ausgesetzt, an einer Nebenfrage die größten politischen Ziele gefährdet zu sehen. Er machte eine seiner großen Anstrengungen mit dem Erfolg, seine Sache durchzusetzen, aber sich zugleich mit allen Leuten ‒ auch den politisch Nächststehenden ‒ zu überwerfen. „Darum verstehe ich nicht, daß Sie Kadettenhausfragen so leichtnehmen.“ Es war an dem Morgen der Bau der Lichterfelder Anstalt beanstandet worden. Der König von Bayern habe sich durch seine damalige Haltung unvergängliche Verdienste erworben, er sei seinem Parlament gegenüber entgegen dem Strom geschwommen. Er (Bismarck) fühle sich allen kleinen Souveränen gegenüber von damals verpflichtet, seinerseits zu weiteren Konzessionen nicht zu drängen, sondern nur anzunehmen, was man freiwillig biete. Eine freiwillig gebotene Hand meuchlings festzuhalten und die Knochen zu zerbrechen, sei ein Schurkenstreich, welcher nicht leicht vergessen werde. Man habe sich 1866 gewundert, daß er nicht Bayern und andere 43

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Mittelstaaten in den Bund gezwungen habe, sondern sich mit einem Schutzbündnis begnügt. Es wäre aber ein Fehler gewesen, das Volk und die süddeutschen Armeen mit der Erinnerung an ihre Niederlagen in den Bund zu zwingen, nun sei es eine gesündere Einigung geworden. Bayern habe sich nicht einem König von Preußen, wohl aber dem Deutschen Kaiser unterordnen können und wollen. Baden damals seinem eigenen Wunsch gemäß aufzunehmen, hätte geheißen, den Rahm abzuschöpfen und das Übrige sauer werden zu lassen. Minister von Varnbüler habe damals den ersten Friedensvertrag und das erste Schutz- und Trutzbündnis abgeschlossen. Bei der letzten Umwälzung in Frankreich seien die Orleanisten offenbar zu kurz gekommen, die Legitimisten hätten durch ihre lange Entfernung aus hohen Ämtern und teilweise aus dem Lande keine geschulten Geschäftsleute mehr und die Routine verloren, die Gunst der Lage der Umstände zu benutzen. So sei den Bonapartisten der Hauptgewinn zugefallen. Freilich sei Eugenie ein beschränktes und leidenschaftliches Weib. Der Papst sei jetzt als Bettler viel gefährlicher, wie er als kleiner Souverän gewesen, wo er noch etwas zu verlieren hatte. Ein rücksichtsloser Papst an der Spitze von 200 Millionen Katholiken, dem jede Allianz mit Sozialisten und Kommunisten recht sei, sei gefährlicher als ein kleiner Souverän. In Paris habe die Wahl Blancs und Barodets die Bourgeoisie so ins Bockshorn gejagt, daß sie bereit sei, sich alles gefallen zu lassen, wir hier seien Bebel und Liebknecht gegenüber harmloser. Bamberger erinnerte an seine auf einer Eisenbahnfahrt am 7. August 1870 mit Bismarck gehabte Konversation, deren drei Hauptpunkte seitdem wörtlich eingetroffen und erfüllt seien. 1. Man dürfe die deutschen Bundesgenossen nicht drängen und von ihnen nicht mehr Opfer fordern, als sie selbst böten. 2. Die Hauptverlegenheit in Frankreich werde sein, mit wem man Frieden schließen könne. 3. Metz und Straßburg müßte man behalten. Bismarck bestätigte das und meinte, sein stetes Streben sei gewesen, mit Napoleon Frieden zu schließen und ihn auf dem Thron zu halten. Napoleon habe aber nicht gewollt, sondern lieber in Ruhe Gefangener bleiben wollen. Bismarck war sehr anziehend und liebenswürdig in seiner Unterhaltung. 25. Juni. Abends bei Bismarck, welcher eben von Babelsberg zurückgekommen war, wo er sich beim Kaiser beurlaubt hatte. Es sei dort alles behaglich still gewesen, eine gewisse „beate“ Stimmung. Se. Majestät erhole sich wieder, sei aber spitz im Gesicht, seinem Bruder Albrecht ähnlich geworden. Er höre auch weniger angenehme Dinge freundlich und ruhig an. 44

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Für das neu zu bildende Reichseisenbahnamt kämen Maybach, Scheele und Varnbüler in Frage. Er wäre für Letzteren. Er (Bismarck) sei jetzt ganz energie- und willenslos geworden und müßte nach Varzin gehen, wo er vierzehn Tage lang keinen Menschen zu sehen und zu sprechen brauche. Die Fürstin und Komtesse scheinen mit weniger Gusto dieser Zeit entgegenzugehen. Bismarck will ganz aus dem preußischen Ministerium ausscheiden und niemand kann sich recht einen Vers machen, wie das gehen soll, wie sich die Dinge gestalten werden in einer Zeit, wo so viel bestimmten Zielen mit rastloser Kraft entgegengearbeitet werden muß. ‒ Der Reichstag war heute ohne Sang und Klang ruhig geschäftsmäßig geschlossen worden. Am 4. November waren die Neuwahlen zum Abgeordnetenhaus, bei welchen ich in Schleusingen fast einstimmig gewählt wurde. Am 10. Januar 1874 wurde ich in Erfurt mit 8094 Stimmen gegen den Sozialisten York mit 1480 und Ultramontanen Mallinckrodt mit 698 Stimmen wieder in den Reichs­tag gewählt.

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1874 16. Januar. Nach einer durch Bismarcks Reden interessanten, teilweise gereizten Diskussion im Landtag den Abend dort. Bucher anwesend. Bismarcks waren zum Diner bei Ihrer Majestät gewesen, Se. Majestät nicht bei der Tafel, obschon es ihm leidlich ging. Bismarck kam in guter Laune auf die heutige Diskussion zurück. La Marmora habe schon vor Ausbruch des 1866er-Krieges einen Vertrag mit Österreich und Frankreich geschlossen, wonach die Abtretung von Venedig gesichert war. Österreich habe aber verlangt, daß dieser Abtretung eine gewonnene Schlacht vorausgehe. Custozza sei aber von den Italienern unter Govones Führung gewonnen gewesen, trotzdem habe man in der Nacht das Schlachtfeld geräumt. Govone sei darüber verrückt geworden. Govone war vorher als Unterhändler in Berlin, habe aber nicht fertig Französisch gesprochen, und so seien durch seine Phantasie aus kurzen Unterredungen lange Berichte geworden, sein Achselzucken sei Gegenstand langer und tiefer Interpretationen geworden. Die Idee, ein kroatisches Regi­ ment zum Abfall zu verleiten, sei ein Unsinn, es sei wohl ein ungarisches gemeint gewesen. Der Kaiser von Österreich sei ihm auch nach 1866 stets freundlich begegnet und gesinnt geblieben. Er habe ihm unmittelbar vor dem Kriege die Proposition gemacht: Jetzt, wo Österreich und Preußen allein in Europa kriegsbereit seien, wollten sie sich verbünden, rechts- und linksum machen und Europa gemeinsam ihre Gesetze diktieren. Österreich habe einen so verwegenen Plan abgelehnt, aber der Kaiser habe es ihm nie vergessen und damals geäußert: „Ich wünschte halt, ich hätte den Bismarck in meinem Dienst.“ Der König von Italien Viktor Emanuel habe vorgehabt, bei seinem Besuche in Berlin ihm eine Dose zu schenken im Werte von 40.000 Franken. Das sei durch den Gesandten de Launay, welcher mit Perglas im selben Haus wohne, bekannt geworden und er habe andeuten lassen, er könne eine fungible Sache von dem Werte nicht annehmen, ohne eine Gegendedikation zu machen. Darauf sei es unterblieben und er habe dann ein einfaches Porträt des Königs erhalten mit der eigenhändigen Unterschrift: „A mi diletissímo cugino.“ Da der König mit der ausgesprochenen Absicht gekommen sei, ge46

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wisse Dinge zu erreichen (Allianz gegen Frankreich?), so sei er umso weniger in der Lage gewesen, wertvolle Geschenke anzunehmen. Er wolle dem Kaiser vorschlagen, einmal ein ultramontanes Ministerium zu machen, um dem Lande die Augen über diese Richtung zu öffnen. Ihm sei es ganz recht, so viele Ultramontane und Sozialdemokraten jetzt gewählt zu sehen, anders als durch Schaden lasse sich das Publikum nicht belehren. Beust habe noch jede Regierung, welcher er gedient habe, in Schwierigkeiten gebracht. In London wäre Österreich auch besser durch einen anderen vertreten. Dann kam unglücklicherweise das Gespräch auf den Parlamentsbau, für welchen Bismarck ein mehr negatives Interesse nahm. Es sei noch alles am alten Fleck, obschon ein Dutzend mögliche Plätze existierten, Universität, Kunstakademie, Herrenhaus, Raczinski, Kroll etc. Er würde es am liebsten in Potsdam gebaut sehen auf dem Pfingstberg. Für die Abgeordneten müßte dann eine Villenstadt entstehen, wo jeder seine Dienstwohnung habe. Ebenso die Minister, Geheimräte etc. Der Kaiser sei aber dieser Idee abgeneigt, weil es die Ruhe von Potsdam und Babelsberg, das mit enormen Kosten zu einem hübschen Landaufenthalt gemacht sei, zerstören würde. Bennigsen sei ein zu nachsichtiger Präsident, das stenographische Bureau sei nicht in Ordnung. Heute hätten die Journalisten das Stenogramm seiner Rede früher kopiert, als er sie korrigiert habe. Und doch sei hier, wo er auswärtige Beziehungen erwähnt habe, die Korrektur sehr wichtig, da die Stenogramme öfters unklar, unrichtig, unsinnig seien. Er habe nur gesprochen, weil es ihm die ministeriellen Mitglieder des Hauses als nötig bezeichnet hätten, künftig werde er den Kreis seiner Verachtung auf Zentrumsangriffe noch weiter ausdehnen und nicht mehr antworten. Es sei eine üble Zumutung, die Zeit von einigen Hundert Abgeordneten und Beamten in Anspruch zu nehmen. Im Ganzen war er sehr frisch und munter. Bei den letzten Reichstagswahlen hat er seinen persönlichen Einfluß eher zu Gunsten der Nationalliberalen als wie der Konservativen angewandt. So im eigenen Wahlkreis für Kieschke gegen von Puttkamer (Kolziegslow). Ich hatte gerade am Tage vorher Delbrück aufmerksam gemacht, daß bei einer engeren Wahl zwischen beiden Puttkamer sicher den Vorzug verdiene in Rücksicht auf die schwebenden militärischen Fragen. 27. abends, 28. zu Tisch bei Bismarck. „Graf Chambord ist ein bequemer Mann geworden, welcher in Erinnerung an das Schicksal seiner Vorgänger auf dem französischen Königsthron wohl kaum noch den ernsten Wunsch hat, König zu werden. Über die Bedeutung seines Briefes (worin er erklärte, an der weißen Lilienfahne festzuhalten) scheint er sich allerdings getäuscht 47

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zu haben. Er ist in Versailles und im Begriff gewesen, in die Versammlung zu gehen, um sich huldigen zu lassen, als ihm bedeutet wurde, er werde von Huissiers herausgewiesen werden. Selbst verfaßt hat er aber jene Schriftstücke schwerlich.“ Die Auflösung des englischen Parlaments soll veranlaßt sein durch die Notwendigkeit für Gladstone, sich einer Neuwahl zu unterziehen, weil er ein anderes Portefeuille übernommen hatte. Die Königin habe der Auflösung widerstrebt. Wenn eine Reichstagsmajorität die Regierung in ihrer Aktion brachlege, so solle man es mit einem Ministerium Windthorst versuchen. Die Stellung des Kanzlers sei die eines Exekutivbeamten. Dränge man die verbündeten Regierungen in die Stellung, das Reich als eine gegenseitige Assekuranz der Throne zu betrachten, so komme es zum Stillstand. Er sei reichsfreundlich, aber noch mehr Freund des Staates, der Monarchie. Er sei absoluter Monarchist und werde alles in Trümmer schlagen, wo es sich um Gegensätze gegen die Monarchie handle. Unverständige konservative Junker haben die erste französische Revolution heraufbeschworen. Er schätze den Wert der größten Öffentlichkeit der Diskussion und sei nicht der Mann, über die Zwirnsfäden der konservativen Opposition zu stolpern. Die Monarchie hat bei uns noch ihre feste Stütze in der Armee, auch der sonst etwas bequeme, apathische Kronprinz wünscht und strebt, in ihr beliebt zu sein, ja bemüht sich um jeden Unteroffizier. Es ist sehr falsch, wenn die Mittelstaaten durch ihre Landtage den Reichstag mediatisieren, wie es jetzt geschieht. In der Regel werden die Landtage ebenso liberal oder radikal sein wie der Reichstag. Am 16. Februar war die erste Beratung des Reichsmilitärgesetzes, bei welcher Moltke eine große eindrucksvolle Rede hielt und die Elsässer zum ersten Male erschienen. Am 18. Februar Antrag der Elsässer auf Herbeiführung eines Plebiszits, vom Abgeordneten Teutsch in fließendem Deutsch motiviert. Er trat so theatralisch auf, daß man über ihn lachte. Bischof Raeß erklärte: Er sei mit seinen Konfessionsgenossen bereit, den Frankfurter Frieden anzuerkennen, wenn man kirchliche Freiheit gewähre. Die Herren hatten vorher lange mit Präsident von Forckenbeck verhandelt, ob sie nicht Französisch reden dürften, was absolut versagt wurde. Sie versuchten es dann mit Bismarck, welcher aber auf eine französische Anrede erwiderte: Er spreche nicht Französisch. Auf den deutschen Einwand ‒ aber er verstehe doch Französisch, erwi­ derte Bismarck: „Nicht hier“ und wandte sich ab. 48

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Den damals ventilierten Eintritt der sächsischen Abgeordneten in die Reichspartei billigte er sehr; auch wenn man politisch leicht differiere, so gewöhne man sich doch aneinander, lebe sich ein, erziehe sich gegenseitig. Zu Nordeck von Rabenau ‒ welcher gestern die Elsässer zornig unterbrochen hatte bei ihren französischen Demonstrationen ‒ sagte er billigend: „Gott erhalte Ihnen Ihren kräftigen deutschen Zorn.“ Die Hessen seien eigentlich Thüringer, echte, unverdorbene Germanen: Sie seien auch tapfere Zecher, wie er sich von einem Besuch in Kurhessen entsinne. In Ostthüringen sei alles verhöfelt durch die Kleinstaaterei. Jeder habe einen Vetter am Hof bis zum Barbier. Das Zentrum wolle augenscheinlich beim Militärgesetz vom Staat Konzessionen verlangen, man werde sich aber hüten. Sie würden auch mit den Sozialdemokraten paktieren, um den deutschen Kadaver zu verzehren ‒ er hoffe aber, Deutschland werde vorher beide Tiger erschießen. Er werde vielleicht die Kommunisten mit etwas größerem Wohlwollen erschießen lassen wie Herr von Rabenau ‒ tot wären sie aber in beiden Fällen. Er habe das Bedürfnis, mit allen Menschen in höflichen Formen zu verkehren, immer gehabt, so auch bei seinem politischen Debüt 1848. Die Leute der gegnerischen Parteien hätten das auch anerkannt, so zum Beispiel d’Estre, welcher meist ein mit Bier und Fett beflecktes Flanellhemd getragen habe. Seine Anerkennung äußernd, habe er gesagt: „Wenn sie siegten, so würden sie ihn, Bismarck, schonen, zur Revanche möge er im Gegenfall einen von ihnen bezeichnen.“ Darauf habe er erwidert: „Wenn ihr siegt, wird es so scheußlich in der Welt werden, daß ich überhaupt nicht mehr leben mag und lieber mit den anderen sterbe. Wollt ihr aber etwas für mich tun, so hängt mich mit einer seidenen Krawatte, das ratscht besser. Aber höflich gegenseitig bis zur letzten Leitersprosse.“ Für die Großfürstin Helene habe er so viel menschliche Sympathie empfunden wie für keine andere Fürstin. Souveränin und außerdem schön, liebenswürdig, menschlich zu sein, das sei eine seltene Ausnahme. Sie habe ihn auch gern gemocht und ausgezeichnet und wirkliches Verständnis für allgemein Menschliches gehabt. Bei der Enthüllung der Siegessäule habe ihm der alte Kaiser mit einer Träne, welche auf den Sattelknopf gefallen sei, das Großkreuz des Hohenzollernordens in Brillanten überreicht: „Es sei die letzte Dekoration, welche er ihm bieten könne, und sie sei eigens für ihn erfunden.“ Ihm selbst (Bismarck) wäre aber ein Faß guten alten Rheinweins oder ein gutes Pferd viel lieber gewesen. Davon habe man doch wirklichen Genuß und Vergnügen. Es sei aber doch vom alten Herrn gut gemeint gewesen. Die Großfürstin 49

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Helene habe ihm einmal einen Korb vorzüglichen Old Sherry geschenkt, wovon wir dann eine Flasche sofort leerten. Komtesse Marie, welche zum ravenéschen Ball ging, zog sich zurück, um Toilette zu machen, und Herr von Woedtke brachte das Gespräch auf Heirat. Bismarck meinte, er sei ein gefährlicher Rivale für jeden Schwiegersohn, seine Tochter befinde sich sehr wohl zu Hause und denke nicht ernstlich ans Heiraten. Er gäbe sieben Silbergroschen, wenn er einen Enkel hätte. Dann vertiefte er sich in eine Auseinandersetzung darüber, daß der richtige Nordhäuser nicht mehr gebrannt würde. Es war eben ein Geschenk von zwölf Flaschen angekommen. „Das sei kein richtiger Kornbranntwein, sondern mit Wasser verdünnter Kartoffelspiritus. Früher habe man nur 50 Prozent Alkohol aus dem Korn gezogen, jetzt könne man gemäß den durch die Maischraumsteuer gebotenen Apparaten nicht anders als wie 90 Prozent und mehr Alkohol ziehen, um die höchste Ausbeute zu gewinnen. Das tauge nichts. Er werde in seiner alten Schönhauser Brennerei noch einmal echten Korn nach altem Rezept brennen lassen und fideikommissarisch sichern, daß seine Söhne das Faß durch Auffüllen mit echtem Stoff voll hielten, damit die echte Sorte erhalten bleibe. Freilich söffen das dann möglicherweise einmal die Proletarier aus.“ Der Xeres der Großfürstin war von 1808, der spiele also jetzt schon Sechsundsechzig. Es ist ein ganz wunderbarer Eindruck, mit welchem Behagen er sich im engsten Familienkreis gehen läßt und ausspricht. Er hat seine urwüchsigen Marotten und gerade das Behagen, womit er bei Zech- und Jagdgeschichten verweilt, als sei das sein eigentliches Feld der Tätigkeit, bringt ihn anderen menschlich so nahe. Man vergißt ganz neben dem Mann zu sitzen, der die Geschichte des Jahrhunderts gemacht hat. Er wiederholte immer wieder, wie wenig er noch tun und arbeiten könne und wie sehr die Leute seinen Einfluß überschätzten, welche ihn für alles Mögliche verantwortlich machten. Er könne kaum ein Zehntel von dem lesen, was er lesen müsse, das fühle er täglich; es sei ein Fehler der preußischen Minister, daß sie selbst Gendarm spielten, das ginge nicht, ohne die Leitung und den Überblick über das Ganze zu verlieren. Heute hatten Journalisten versucht, von der Tribüne mit Operngläsern die Papiere zu lesen, welche er am Regierungstisch im Reichstag zeichnete. Da die für ihn bestimmten Sachen in sehr großer leserlicher Schrift geschrieben werden, so scheint das nicht unmöglich. Die indiskreten Reporter wurden hinausgewiesen.“ 6. März. Es finden jetzt wenig Plenarsitzungen im Reichstag statt, um der Militärkommission Zeit zu geben für ihre Arbeiten. Es geht aber langsam vorwärts, man zweifelt vielfach am Erfolg. Die Abstimmung über §§ 1 und 2 50

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ist noch ausgesetzt, sie enthalten die wichtigsten Bestimmungen über die Präsenzziffer und die Zahl der Cadres. Lasker sprach in Privatunterhaltung die Meinung aus, daß der Regierung im Wege der einfachen Etatsberatung stets das Nötige bewilligt werden würde. Das für die Armee Erforderliche werde nie versagt werden. Die Regierung solle die Vorlage ohne die §§ 1 und 2 annehmen. Ähnlich äußerte sich auch Forckenbeck: „Das ganze Gesetz sei überflüssig, durch den spezialisierten Militäretat erhielte die Regierung alles, was sie brauche. Der frühere Konflikt sei ja auch nicht von der Geldfrage ausgegangen, sondern aus dem Versuch, die vermehrten Cadres zu legalisieren, entsprungen. Die Vermehrung der Armee von 130 auf 170 Bataillone sei nicht beanstandet worden, er sehe keinen befriedigenden Ausgang der Verhandlungen ab.“ In der am 3. März stattgehabten Sitzung, wo die Elsässer Verhältnisse besprochen wurden und Bismarck eine große Rede hielt, setzte er sich nachher neben mich und klagte über sein Befinden. „Er habe jede Nacht Durchfall, Gesichts- und Hüftschmerzen, dann habe er wieder starken Appetit, mache Diätfehler und verdürbe sich. Bei der neulichen Soiree im Palais habe es so stark gezogen, daß die Haare auf dem Kopf geflogen seien, der Kaiser habe sich dabei auch erkältet. Ihre Majestät habe ihn noch veranlaßt, den französischen Künstlern einige Artigkeiten zu sagen, was besser unterblieben wäre, man könne eben nie genug bekommen.“ 14. März. Bismarck ist seit zehn Tagen unwohl und für niemand sichtbar. In der Militärkommission sind alle für die Regierung annehmbaren Vorschläge gestern gefallen, und wir stehen einem Vakuum gegenüber. Die Nationalliberalen sind in der Hauptfrage völlig gespalten. Lasker mit achtzehn Mann steht zwar isoliert in seiner Fraktion, indes genügt diese Zahl, um eine Verständigung zu verhindern und das Gesetz zum Scheitern zu bringen. Eine Majorität und selbst die kleinste ist mit Sicherheit zurzeit nicht zu berechnen. Also ist es richtiger, das Gesetz bei § 1 scheitern zu lassen, als sich erst eine Menge Zugeständnisse abringen zu lassen und schließlich nichts zustande zu bringen. Der erste Fehler ist gemacht worden, indem man das dreijährige Pauschquantum annahm. 21. März. Gestern Abend bei der Fürstin. Dr. Struck kam vom Patienten und erklärte: „Die jetzige heftige Attacke habe sich unzweifelhaft als ein anormaler Gichtanfall dokumentiert. Anfangs Venenanschwellungen, Entzündungen, große Schmerzhaftigkeit, später enorme Ausscheidungen von Sedimenten, Harnsäure etc. Dabei kein Fieber, Puls nie über 64, Herzschlag und Herztöne seien stets schwach.“ Bismarck hatte vor etwa zwanzig Jahren im linken Bein eine Venenentzündung, es bildeten sich Gerinnsel und 51

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die Sache wurde damals in Rußland falsch behandelt mit Vesikatorien und Spanischer Fliege; später richtig in Frankfurt und Nauheim. Wenn das leidende Bein gehoben oder gesenkt wurde, füllte und entleerte es sich wie eine Flasche, der Thrombus war fühlbar. Das Baden in Nauheim und das Tragen eines Gummistrumpfs brachte damals völlige Heilung. Auf der Rückreise nach Rußland machte Bismarck in Ostpreußen eine Jagd mit, fiel hin und bekam eine Lungenentzündung durch Embolie im linken unteren Lungenlappen. Die jetzige Gicht habe wahrscheinlich Ablagerungen am Hüftknochen veranlaßt, welche auf die Nervengefäße drückten und die heftigen Schmerzen bewirkten. Die völlige Wiederherstellung bei regelmäßigem Kurgebrauch sei mit Sicherheit zu hoffen. Die Fürstin Bismarck tadelte die Fassung der ausgegebenen Bulletins: Man müsse betonen, daß der Schlaf nur nach Anwendung von Morphium eintrete, sonst glaube alle Welt, er sei kerngesund und affektiere nur Krankheit. Diese Gerüchte würden bei der Kaiserin ausgeheckt und von dort in Umlauf gesetzt. Dr. Struck versprach, demgemäß zu handeln. Schlaf nur nach Anwendung beruhigender Medikamente, um die medizinische Welt nicht durch die Nennung von Morphium bedenklich zu machen. Nach acht bis zehn Tagen Ruhe werde es vorüber sein; er gebe nur 1/12 Gran Morphium, hauptsächlich zur psychischen Beruhigung des Patienten. Tatsächlich reagiere der Organismus des Fürsten auf die kleinsten Dosen merkwürdig prompt. Ich übergab ein kurzes Promemoria über die parlamentarische Situation in der Militärfrage, welches eine zahlenmäßige Berechnung über die wahrscheinlichen Abstimmungsverhältnisse enthielt. (S. Anlagen, S. 469 ff.) 21. März. Während der durch eine langweilige Preßdebatte ausgefüllten Sitzung im Reichstag erhielt ich eine Karte der Fürstin, dort zu essen und den Fürsten nachher zu sprechen. Nach Tisch ‒ nur Obernitz war anwesend, die Sonne schien freundlich in den schönen Garten ‒ wurde ich zum Fürsten geführt, welcher in seinem hinter dem Arbeitskabinett nach der Wilhelmstraße zu gelegenen Schlafzimmer lag. Der eisgraue Bart war borstig gewachsen und die ungewohnte Situation, ihn im Bett liegend zu sehen, bewegte eigentümlich. Er machte einen recht kranken, weichen, geschäftsmüden Eindruck. Nach einigen Worten über sein Befinden, in welchen er über permanente Schmerzen und über die seit Jahren nie ruhenden Ansprüche an seine Kräfte klagte, sagte er: „Seit 1866 sei er so krank nicht gewesen, ewig kämen Störungen, nie eine Zeit wirklicher Ruhe und Erholung. Reisen, Monarchenzusammenkünfte nehmen ihn täglich in Anspruch.“ Dann kam er auf mein Memorandum: „Der § 1 gewähre nur eine Zahl, welche ohne die andere von 230 bis 260 Taler pro Kopf und Jahr auch noch 52

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nicht von allen Sorgen der Budgetberatung befreie. Es sei nicht zweckmäßig, wenn die Konservative Partei dem Gesetz den Fangschuß gebe, das müsse die Regierung selber tun, das werde im Lande eine andere Wirkung hervorrufen, als wenn das Gesetz durch Fraktionsstreitigkeiten zu Fall gebracht schiene. Ferner würde ein solches Vorgehen der Konservativen (Bismarck sprach von den beiden konservativen Parteien kollektiv als konservativen) den Beziehungen zu dem regierungsfähigen rechten Flügel der Nationalliberalen stören, und das sei doch qualitativ und quantitativ eine sehr wichtige Unterstützung der Regierung. Graf Bethusy und Kardorff seien eben nur parlamentarische Redner, die wenig zu verlieren hätten und nicht viel bedeuteten. In Bennigsen und Forckenbeck sei doch mehr Stoff, freilich sei denen das Budgetrecht ein noli me tangere. Wenn auch die Franzosen vor Berlin ständen ‒ wenn nur das Budgetrecht gerettet werde! Das Militärorganisationsgesetz habe hauptsächlich Bedeutung in dem Kampf zwischen Kriegsministerium und Militärkabinett, und dieser Kampf würde voraussichtlich, wenn erst einmal der Kronprinz am Ruder sei, leider nicht mehr kräftig geführt werden. Wie die Diätenlosigkeit trotz der Verfassungsartikel stets neue Kämpfe hervorrufe, so sei auch durch die feste Präsenzziffer im Organisationsgesetz noch kein dauernder Friede geschaffen.“ Ich verhielt mich natürlich mehr hörend als sprechend. Argumentieren wäre bei seinem leidenden Zustand sowieso nicht am Platz gewesen, und in seinen Worten lag ja eine sehr klare, auch richtige Direktive für mich. Der Andeutung, daß immerhin ein Organisationsgesetz für die Militärverwaltung eine bessere Basis sei wie ein Budgetgesetz, das alljährlichen Bewilligungen und Änderungen unterliege, sowie daß ein Organisationsgesetz ohne feste Zahlen bedeutungslos sei, stimmte er zu. So viel schien nach dem Gesagten klar, daß er nur einen bedingten Wert auf das Zustandekommen des ganzen Gesetzes legte. Den wahren Grund deutete er an in dem komplizierten Verhältnis zwischen Militärkabinett und Kriegsministerium. Er wünschte offenbar, Letzteres von Ersterem zu emanzipieren und es zugleich unter seinen ressortmäßigen Einfluß als Reichskanzler zu bringen. Im Reich war er ja auch tatsächlich als Kanzler der einzige verantwortliche Minister, während die einzelnen Ressortchefs ‒ Marine, Post, Schatzamt, Justiz ‒ nur seine Vertreter und eigentlich Abteilungsdirektoren waren. Die Richtschnur für die nächsten Schritte war damit gegeben, umso mehr, als wir bei der zweiten Lesung des Militärgesetzes noch keine definitiv bindenden Erklärungen abzugeben brauchten, sondern das für die dritte Lesung vorbehalten konnten. 53

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Die Entrevue stimmte traurig, weil er in der Tat einen recht matten, kranken Eindruck machte und die Genesung und die Wiederaufnahme geschäftlicher Tätigkeit noch recht fern zu liegen schienen, wenn sie überhaupt wieder eintraten. Er selbst glaubte, sich frühestens in drei bis vier Wochen wieder um die Geschäfte kümmern zu können. Die Fürstin war sehr betrübt und wenig überzeugt von der wirklich sehr allgemeinen Teilnahme. Die zu Kaisers Geburtstag eben anwesenden zahlreichen deutschen Potentaten, so der König von Sachsen, waren meist vorgefahren und hatten sich selbst vom Ergehen des Fürsten unterrichtet. Sie hielt es aber mehr für Neugier als für Teilnahme. 22. März. Fürst Hohenlohe-Langenburg, welchem ich eben begegnete, kam von dem Empfang der Generale aus dem Palais. Nachdem Feldmarschall Wrangel eine Gratulationsansprache verlesen hatte, erwiderte Se. Majestät deutlich und in entschiedenem Tone: Er habe, nachdem die Reorganisation der Armee sich in den siegreichen Kriegen 1866 und 1870 so glänzend bewährt habe, nicht geglaubt, daß neue Kämpfe um dieselbe bevorständen, er werde sie aber aufnehmen und durchfechten. Deutschland brauche die Armee, nicht zu neuen Eroberungen, sondern zur Bewahrung des Friedens und zur Sicherung der Grenzen. „Ich halte fest an der jetzigen Organisation.“ Zum Kriegsminister Kameke sagte er beim Herausgehen: „Merken Sie sich das.“ 27. März. Gestern Mittag ließ mich die Fürstin aus der Sitzung rufen. Der Fürst habe gestern eine Unterredung mit Delbrück gehabt, welche ihn so aufgeregt und verstimmt habe, daß er die ganze Nacht nicht schlief. Ich fand ihn noch im Bett, aber weit wohler und kräftiger als wie das letzte Mal. „Er liege hier und könne nichts tun und fühle, daß er weder im Ministerium noch im Bundesrat genügend vertreten werde. Man zerschlage ihm die Beine und verstümmle all seine Vorlagen; wie es komme, daß das Preßgesetz so schwach und ungenügend vertreten worden sei? Auf die Beschlagnahme lege er gar keinen besonderen Wert, wohl aber auf den § 20 (Haß- und Verachtungsparagraph). Wer der Abgeordnete Träger sei? Das Kirchendienergesetz sei ihm auch ganz verstümmelt worden. Delbrück spintisiere mit Fall und Leonhard und anderen Juristen, welche um die tribunische Fassade ihrer Justizgesetzgebung mehr besorgt seien, als sie sich um praktische Bedürfnisse des Regierens kümmerten. Er habe keine Vertretung im Bundesrat und keine Majorität im Reichstag, da sei er müde, noch mitzuspielen und seine historische Stellung zu verscherzen. Das Erste, was er tun werde, wenn er wieder schreiben könne, sei sein Entlassungsgesuch zu schreiben. Freilich werde der alte Herr ihn kaum gehen lassen wollen, er brauche feste Waffen, und da gebe man ihm eine Schrotflinte statt einer Büchse. Der Arzt wolle ihn nach Gastein schicken, aber vor Mitte Mai würde er nicht reisefähig sein.“ 54

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Nach einer siebenstündigen Sitzung, in welcher das Gesetz über die Zivilehe und das Militärpensionsgesetz in zweiter Lesung erledigt wurden, war ich wieder zu Tisch bei der Fürstin. Nachher führte sie mich zum Fürsten. Er hatte letzte Nacht Albdrücken gehabt, nachdem er wieder etwas Nahrung, aber wenig, zu sich genommen hatte. Er äußerte sich wieder im selben Sinne wie gestern. Er wünsche nur einmal nicht mehr Kanzler, sondern Abgeordneter zu sein; die Leute studierten und verständen die Verfassung nicht. Der Kanzler sei kein legislativer, sondern ein exekutiver Faktor, er sei nur verantwortlich für die Ausführung der Gesetze. In jeder Vorlage sei ein Beschluß des Bundesrats, welchem der König von Preußen als ein eben nur gleichberechtigter, aber allerdings mächtiger Faktor angehöre. Eine weitere Verantwortung sei nicht vorhanden. Eine solche Erklärung müsse vom Regierungstisch, nicht von einem einzelnen Abgeordneten gegeben werden. Zum Schluß teilte ich ihm eine von Nordhausen erfolgte Anfrage mit, wohin sie den eigens für ihn gebrannten echten alten Kornbranntwein diri­ gieren sollten? Er freute sich über die Aufmerksamkeit und Loyalität der Leute, welche trotzdem solche Demokraten in den Reichstag schickten, und ging mit Behagen auf die Disposition über diese neuen Schätze ein. Das Faß sollte nach Schönhausen gehen und dort stiftungsmäßig verwaltet werden. Er erging sich dann noch über die miserable Brennsteuergesetzgebung, mit welcher man jetzt Elsaß-Lothringen schikaniere. Die preußische Bureaukratie dehne sich aus wie das Grundwasser, überall dasselbe Niveau gewinnend. Forckenbeck und Lasker verschanzten sich hinter der Unmöglichkeit, frühere Äußerungen zurückzunehmen. Wenn er noch alles vertreten sollte, was er seit zwanzig Jahren gesagt habe! Warum gehe Forckenbeck nicht lebhafter auf die kirchenpolitischen Vorlagen ein? Wolle er nichts Weiteres werden, aspiriere er nicht auf ein Ministerium? Delbrück konferiere ewig mit Friedberg, Friedenthal, Lasker, Wolffson, Bamberger, immer mit Juden, das verschlechtere die gesetzgeberischen Arbeiten. 1. April. Die am 27. März mit Bismarck gehabte Unterhaltung, deren Inhalt ich weiter mitgeteilt hatte, durchlief alle Zeitungen und bildete den Mittelpunkt der politischen Osterunterhaltungen. Eine teilweise Richtigstellung, welche ich an Bismarck zur Korrektur vorlegte, revidierte er und gab sie an die Spenersche Zeitung zur Publikation. Er war also mit diesen Vorgängen einverstanden. Die Zeitungen waren sehr erfüllt von diesen Berichten und versicherten, daß ja alles nur Mißverständnis sei, und von einem Scheitern des Militärgesetzes könne gar nicht die Rede sein. Der Wirrwarr kommt besonders von der krankhaften Neigung Laskers her, stets liberal und einig mit der Fortschrittspartei zu scheinen, es darf eben niemand liberaler wie er sein. 55

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Während der Fortschritt seiner ganzen Tendenz und Haltung nach mit den Ultramontanen auf einer Stufe der Opposition steht und so zu behandeln wäre, streuen die Berliner Zeitungen dem Land Sand in die Augen und schildern die Fortschrittspartei als reichsfreundlich. Die Situation war etwas verwickelt und fand verschiedene Deutungen. Einige meinten, Bismarck lasse die Dinge treiben, wünschte, die liberalen Parteien machten Fiasko, um dann aufzulösen und eine konservativere Zusammensetzung des Reichstags zu erreichen. Andere meinten, er wolle das Militärgesetz zu Falle kommen lassen durch Nichtbeteiligung an der Beratung, weil seitens des Militärkabinetts und der Kaiserin intrigiert werde, um zu zeigen, daß es ohne ihn nicht gehe. Dort versuche man sich dem Zentrum zu nähern und mit dessen Unterstützung das Militärgesetz ohne Bismarck zu machen. Sicher war Bismarck verstimmt und machte daraus kein Hehl. In den Provinzen, so auch in meinem Wahlkreis Erfurt, nahm man allgemein lebhaft Partei für Bismarck und für die Militärvorlage. Am 9. April, nach Berlin zurückgekehrt, war ich den Abend zu Tisch bei Bismarck. Nach einigen Bemerkungen über seine Gesundheit, er könne noch nicht viel stehen und gehen, fühle Schmerzen in beiden Kniescheiben und habe die letzte Nacht infolge einer Konversation mit Miquel nicht geschlafen, sagte er: „Ich habe Sie gerufen, um die Militärfrage mit Ihnen zu besprechen. Miquel hat mich gestern versichert, daß an einer sicheren Majorität für die Bewilligung eines Definitivums acht bis neun Stimmen fehlen. Ich stehe sonach vor der Notwendigkeit der Auflösung des Reichstags oder des Rücktritts. Ich bin nicht stark genug, den ersten Weg einzuschlagen. Die Auflösung oder selbst die Bewilligung des Definitivums mit einer kleinen Mehrheit von fünf bis sechs Stimmen würde zu einer großen Verbitterung der Minorität und zu einer Spaltung der Majorität führen, welche ich für die Gesamtgesetzgebung brauche. Ich kann mich nicht allein auf die Konservativen stützen, ohne dem Zentrum Konzessionen zu machen; ich würde es doch tun, wenn das, was ich dafür gewönne, eine wirkliche Goldmünze wäre und nicht nur ein glänzender Zahlpfennig. Den Schwierigkeiten der Budgetberatung enthebt uns das Gesetz auch als Definitivum nicht. Für eine Bewilligung auf sieben Jahre wird mir eine sichere Mehrheit geboten, das ist schon eine Zeit, über die hinaus man überhaupt nicht sichere Pläne machen kann. Diese Periode deckt noch die nächsten zwei Wahlen. Heute Nachmittag war der Kaiser hier und ich sagte ihm: Weil man in Euer Majestät Umgebung an meinem guten Willen, das Militärgesetz zustande zu bringen, zweifelt, habe ich die Sache zur Kabinettsfrage gemacht. Ich kann diese Drohung nicht als eine Redensart behandeln, sondern muß ihr Folge geben und 56

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die letzten Konsequenzen ziehen, wenn ich in der Minorität bleibe. Es wäre dann nur die Alternative: Auflösung des Reichstags oder Bestimmung eines Nachfolgers für mich übrig.“ Se. Majestät habe schließlich erklärt: „Wenn man ihm die Präsenzziffer von 401.000 Mann unverkürzt gewähre, so würde er lieber ein siebenjähriges Provisorium annehmen als das Risiko einer Auflösung oder eines Konflikts. Der Rücktritt Bismarcks stehe für ihn außer Frage, die Ziffer sei ihm wichtiger als wie das Definitivum.“ So stehe nun die Angelegenheit zwischen dem Kaiser und ihm. Ob Se. Majestät dabei stehen bleibe, wisse er nicht, da morgen (als wie heute 11 ½ Uhr) ein Marschallsrat stattfinde, wo die endgültige Entscheidung getroffen werden soll. Die Rechte möge sich demgemäß nicht engagieren, gegen die Bewilligung eines Provisoriums zu stimmen. Auf die Bemerkung: wir hätten bisher uns absolut ablehnend verhalten gegen jedes Provisorium, und wenn ich auch Miquels Bemerkung bestätigen müsse, daß eine sichere Majorität niemand für das Definitivum versprechen könne, so werde es doch der Rechten leichter sein, dann wenigstens für ein längeres, also für ein zehn- bis zwölfjähriges Provisorium zu stimmen ‒ meinte er: das wäre mir schon recht, aber wie würde sich die Sache bei der Fragestellung gestalten. Könnte nicht dann schließlich alles verworfen werden? Würde es leichter sein, in der dritten Lesung anders wie in der zweiten zu stimmen? Delbrück werde bei Eintritt in die zweite Lesung erklären, daß ein längeres als ein fünfjähriges Provisorium der Regierung akzeptabel sei. Kriegsminister Kameke sei auch bei ihm gewesen und der wolle nach den Veränderungen, welche die Vorlage erfahren habe, welche er jetzt erst durch die Bemerkungen seiner vortragenden Räte anfange, zu übersetzen, jetzt überhaupt lieber gar nichts und steife sich nun auf das Definitivum. Er habe ihm eröffnet: Die Sache sei nun Kabinettfrage, und wenn die Mehrheit für die Regierung nicht stimme, müsse er seinen Abschied nehmen. Worauf Kameke erwiderte: das müsse er nun noch Sr. Majestät mitteilen. Danach schien Kameke für ihn (Bismarck) einen Nachfolger in petto zu haben und seinen Rücktritt nicht besonders bedenklich zu finden. Übrigens sei das Gesetz doch auch von allgemeinem Wert für den Staat, in welchem die Armee einen Staat für sich bilde und schwer zu behandeln sei für jeden Minister. Die Willkür, mit welcher gelegentlich das Militärkabinett gegen das Kriegsministerium verfahre, finde durch ein solches Gesetz auch gewisse Grenzen und das sei nicht unerwünscht. In Summa: Bismarck ist entschlossen, ein siebenjähriges Provisorium anzunehmen, und hatte die Bereitwilligkeit dazu gegen Miquel und Bennigsen ausgesprochen. Die Position ist also nicht mehr zu halten und bleibt uns nur 57

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die Wahl, mit den Nationalliberalen zu stimmen oder den Kanzler im Stich zu lassen, auf die Gefahr hin, alles durch unser Verhalten scheitern zu lassen. Das ist ausgeschlossen, weil wir sonst in die Lage der Altkonservativen beim Schulaufsichtsgesetz kämen. Das Odium, welches jetzt in der Volksstimmung auf den Gegnern des Militärgesetzes haftet, würde sich gegen uns kehren, im selben Moment, wo wir gegen den ausgesprochenen Willen des Kanzlers das Gesetz scheitern ließen. Ich teilte in Bismarcks ausdrücklichem Auftrag diese Sachlage an von Puttkamer-Lyck (nachmaligen Minister des Innern) mit und ebenso der eigenen Fraktion, hier herrschte zunächst eine gewisse peinliche Überraschung und Niedergeschlagenheit. Am 10. April war ich mit Puttkamer bei der Fürstin zu Tisch und Bismarck empfing ihn nach Tisch, ihm dieselben Eröffnungen machend. Im Weggehen begegneten wir Bennigsen, der zu Bismarck ging. Auf der Rechten herrschte lebhafte Verstimmung über die den Nationalliberalen gemachten Konzessionen, allerdings nahm man mit Recht an, daß dagegen die Nationalliberalen sich auch engagiert hätten zu einer kulanten Behandlung der Budgetfragen und zur Unterstützung in der Kirchenpolitik. Bismarck gab nach, weil er krank, sich nicht stark genug fühlte, neben dem Kirchenkonflikt auch noch einen militärischen durchzukämpfen, weil er überhaupt auf dauernde Gesetze weniger Wert legt wie auf die Befriedigung der unmittelbar akuten Bedürfnisse, weil er die Kriegs- und Marineverwaltung vom Kabinett emanzipieren, sie aber zugleich selbst in Kontrolle behalten will. Der spätere Verlauf der Dinge hat übrigens die Richtigkeit seines Vorgehens bestätigt. Das Septennat hat wesentlich die Etatsberatungen entlastet und zu einer befriedigenden Entwicklung der parlamentarischen Dinge beigetragen. Das Septennat wurde von 139 Nationalliberalen und 6 Fortschrittlern beantragt und am 14. April mit 224 gegen 146 Stimmen angenommen. 15. April bei Bismarck. Liegt noch auf dem Sofa, nimmt aber offenbar an Kraft zu, schläft wieder und hat Appetit. Er höre, einzelne Konservative seien verstimmt, nicht früher zu Rate und ins Vertrauen gezogen zu sein. Es sei doch viel verlangt, daß er mit jedem Einzelnen verhandeln solle, zumal da er krank gewesen sei. Die Osterferien seien auch dazwischengekommen und er habe mich ja sehr frühzeitig mit dem Gang der Dinge vertraut gemacht. Bennigsen habe schriftlich eine große Majorität versprochen für das Kompromiß. Der Kaiser selbst sei ganz erfreut über diese Lösung gewesen, wie von einem Gewicht befreit von ihm weggegangen. Er sei in ganz scherzhafter Laune zuletzt gewesen, wie es auch seine Umgebung bestätigt habe. Er sei an ihn gewöhnt und verstehe ihn, habe wohl erst aus seinem Vortrage die volle Tragweite der Sache erfaßt. Se. Majestät höre etwas schwer, und er spre58

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che langsam und deutlich mit ihm, kenne auch seinen Ideengang. Bennigsen habe wiederholt versichert, für das Definitivum sei keine oder nur eine sehr kleine Majorität zu finden gewesen. Die bayrischen Abgeordneten seien aus den Ferien ebenso vinkuliert zurückgekommen, wie sie gegangen seien. Er habe sich nicht in die Stellung gebracht, wie Eulenburg in der Kreisordnung seinen Persius, wo alles vorher arrangiert und das letzte Wort vorzeitig gesagt worden sei. Bei den Kommissionsverhandlungen müßte die Vorlage als Beschluß der verbündeten Regierungen aufrechterhalten werden, erst die Beschlüsse des Plenums hätten eine entscheidende Bedeutung, und zu ihnen erst könne man Stellung nehmen. Bennigsen habe um eine definitive Erklärung vor dem Eintritt in die Fraktionsberatung gebeten, weil er sonst nicht imstande sei, ein positives Ergebnis zu erzielen. Er habe nun, nachdem Se. Majestät sich mit dem Septennat einverstanden erklärt habe, den Bundesrat zusammentelegraphiert. Bennigsen habe in seiner gestrigen Rede wieder seine staatsmännische Begabung bewiesen, ihm gehe die Wohlfahrt des Landes über die Diktatur des Budgetrechts. 18. April zum Diner bei Bismarck; er erschien zum ersten Male wieder im Speisesaal. Am Arm seiner Frau gehend, in einem violettseidenen Schlafrock mit dem grauen Vollbart sah er wie ein gefangener Bischof aus. Er kam wieder auf das Kompromiß zu sprechen und versicherte wiederholt seine Zufriedenheit mit dem Verlauf. Es sei der freie, unbeeinflußte Entschluß des Kaisers gewesen. Er sei in gedrückter Stimmung zu ihm gekommen und in gehobener gegangen, wie einer, der sich „schön ’raus“ fühlt. Miquel habe ihm in jener Unterredung auf die unangenehmste Weise zugesetzt, ihn so aufgeregt, daß er bis zum anderen Morgen 7 Uhr nicht habe einschlafen können. Anstatt ihn ruhig anzuhören und seine Gründe zu hören, habe er zu disputieren angefangen und ihn zu überzeugen versucht. Er sei noch wütend auf Miquel. Dann sah er mit Behagen die Bilder des „Ulk“ Nr. 13 an, wo er mit verschiedenen Perücken abgebildet ist. Das letzte stellt ihn mit einem Lorbeerkranz dar, „wie die Nachwelt ihn sehen würde“. In einer kleinmütigen Anwandlung meinte er: „vielleicht auch nicht“; er glaubte oft sich nicht genügend anerkannt und von den Seinigen nicht geliebt! 17. Mai. Bismarck ist magerer geworden, sieht aber wohl aus. Klagte über Rheuma im Nacken infolge Anlegung dünner Unterkleider, nachdem er durch einen Ritt im Garten in Transpiration gekommen sei. Er ißt wieder mit starkem Appetit und auch schwer verdauliche Sachen, wie Wurst, Lachs, Spickaal und dergleichen. ‒ Er war verstimmt, weil Camphausen das jetzt zum Verkauf aufgestellte radziwillsche Grundstück, für welches der 59

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verhältnismäßig niedrige Preis von 2 Millionen Talern gefordert wird, für Reichs- oder Staatszwecke nicht ankaufen will. Wenn das eine Baugesellschaft kaufen würde, wie es mit dem voßschen Grundstück geschehen sei, so würde eine Häuserreihe hingebaut und sein jetziger Garten völlig entwertet. Er möchte dann gar nicht mehr nach Berlin kommen. Die Geschäfte hätten wieder angefangen, ihm Spaß zu machen, aber nun werde er nach Varzin gehen und so spät wie möglich wiederkommen. Camphausen sei nie glücklicher, als wenn er anderen ein Vergnügen verderben könne, bis an die Ellenbogen in Gold wühle und dabei vom ganzen Lande beobachtet werde. Der Ankauf des radziwillschen Grundstücks fand dann doch ohne weitere Schwierigkeit auf Initiative des Reichstags gegen Camphausens Weigerung statt. Camphausen war in der Tat trotz großer parlamentarischer Begabung ein Mann von engen fiskalischen Gesichtspunkten, absolut nicht schöpferisch in der Milliardenzeit. In der Art, wie er das Bank- und Münzgesetz einbrachte und vertrat, überwogen kleinliche Gesichtspunkte, und jene Gesetze fanden ihre spätere Gestalt erst durch die Beschlüsse des Reichstags, bei welchen Bamberger eine leitende Rolle spielte. Bismarck kam von einem langen Spaziergange im Garten, offenbar mit gutem Appetit. Er erkundigte sich, wo die vielen Möweneier, welche er aus Schlesien geschenkt erhalten hatte, geblieben seien. Sofort wurden welche bestellt, und nachdem er schon Suppe, eine große fette Forelle und Kalbsbraten verzehrt hatte, aß er noch drei oder vier von diesen großen, schweren Eiern. Dazu trank er verschiedene Burgunderproben, ohne daß sie ihm recht schmeckten. Dabei war er nach seiner Meinung noch auf Krankenkost gesetzt. „Dem Herzog von Gotha habe er den schönen Schmalkalder Forst geschenkt, aus Rücksicht für das kronprinzliche Paar und weil er zuerst von allen deutschen Fürsten 1866 in die preußische Allianz mit beiden Füßen gesprungen sei. Sonst habe er gerade keine Vorliebe für ihn.“ Er klagte jetzt, so schwach zu sein, daß er nicht ohne Hilfe neulich auf das Pferd gekommen sei. Sein Gewicht von 240 Pfund habe erheblich abgenommen. Jedenfalls wolle er nach Kissingen gehen und Graf Herbert werde ihm da Quartier machen, die Bäder müßten im Hause sein. Als wir bei Tisch noch bei Pfeife und Zigarren saßen, wurde plötzlich die alte Prinzeß Karl angemeldet. Die Fürstin eilte ihr entgegen, im selben Moment tönten aber ein paar heftige Schläge an die Tür, und die Prinzessin stürzte französisch parlierend herein. Wir zogen uns ins Vorzimmer zurück und ließen die Prinzeß mit dem Fürsten, welcher im ersten Moment per60

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plex war, allein. Wir saßen um einen kleinen runden Tisch mit der recht anmutigen Hofdame Gräfin Rose Schulenburg, welche erzählte, wie die Prinzeß ganz determiniert gewesen sei, vom Fürsten persönlich Abschied zu nehmen vor ihrer Abreise ins Bad. Die Dienerposten habe sie einfach durchbrochen und sei erst in das Eßzimmer geraten, dann in den gelben Salon, wo ihr die Fürstin entgegengekommen sei, und habe diese zur Seite geschoben mit einer Miene: „Was willst du, altes Weib, dich suche ich nicht ‒ ich will so zum Fürsten, wie er gerade ist,“ und sei so hineingeplatzt. Sie würde an sein Bett gegangen sein, wenn er gerade darin gelegen hätte. Sie blieb wohl eine halbe Stunde, ließ sich in sein Arbeitszimmer führen und nahm eine Feder von seinem Schreibtisch mit. Dann wandte sie sich an uns: „Ihr Kaffee ist kalt geworden“; dann zum Fürsten: „Tun Sie nur, was der Arzt Ihnen sagt.“ Dann rauschte sie fort, um noch ein Konzert in der Singakademie und einen Akt der Meininger „Cäsars Tod“ zu hören. Bismarck war gerührt über diese energische Aufmerksamkeit, welche umso höher anzuschlagen sei, als sie steif weimarsch erzogen sei. Sie sei ihm eine unerschütterliche Freundin von alter Zeit her und sie zeige das gerne, im Gegensatz zu ihrer Frau Schwester, der Kaiserin. Sie beherrsche auch den Prinzen mehr und mehr. Er kam dann auf die früheren Hofverhältnisse von 1848. Man sei damals außerordentlich steif und selbst grob gewesen, ein Leutnant, ein Privatmann sei gar nichts gewesen. Kamptz und Nagler seien noch die gastlichsten Häuser gewesen, zu Hof kam niemand außer bei den großen Routs. General von Manteuffel habe damals zu den Prinzessintänzern gehört, und ihm sei noch unbegreiflich, wie er es möglich gemacht habe, mit zehn Taler Zulage die Hofgesellschaften zu besuchen und mit reinen Stiefeln und Handschuhen zu erreichen. Auch sein Naugarder „mißratener“ Bruder sei damals ein Elegant gewesen und habe bei den Dragonern gestanden. Dem König Friedrich Wilhelm IV. sei er im Vereinigten Landtag 1847 schon aufgefallen, doch habe der ängstlich jede öffentliche persönliche Berührung vermieden, um sich nicht zu kompromittieren. Zum ersten Male habe er ihm seine Zuneigung sehr warm und offen gezeigt bei einer Begegnung in Venedig. Er sei damals allein mit seiner Frau, ohne Dienerschaft, mit einem Köfferchen gereist, einen Anzug auf dem Leib und einen im Koffer. Man habe ihn am Hotelfenster oder im Theater entdeckt und zur Tafel befohlen. Er habe keinen Frack erlangen können und sei somit in einen grünen Rock ‒ zum Reitfrack umgestaltet ‒ mit weißen Kommißhosen erschienen, welche ihm Major von Roon, damals Begleiter des Prinzen Friedrich Karl, geliehen habe. 61

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Inzwischen trat Dr. Struck ein, was die Unterhaltung wieder auf andere Dinge lenkte. Als Getränk wurde Whisky und Gin empfohlen, als diuretisch und als keine Säure bildend, sondern solche eher neutralisierend. „Er habe seine Kinder nur in den ersten drei bis vier Jahren erzogen und die Älteste Marie natürlich am strengsten. Sie habe mit einer Federpose Hiebe bekommen, nie mit der Hand, weil das der Erschütterung halber schädlich sei, auch die Wucht nicht zu berechnen.“ „Die Fürstin habe nie einen Hut getragen, welcher über zwölf Taler kostete, andere Minister- und Haute-finance-Damen trügen welche für vierzig und mehr.“ Er reiste dann nach Varzin ab, nachdem die Abreise noch öfters verschoben worden war ‒ wie es meist bei seinen Reisen der Fall war. 29. November 1874 wurde der Reichstag eröffnet. Die Thronrede akzentuiert die Friedlichkeit der Situation stark. Abends bei Bismarck, welcher sehr frisch und gesund von dem auf ihn in Kissingen verübten kullmannschen Attentat sprach (13. Juli 1874), auch über den Arnim-Konflikt, bezüglich des Bankgesetzes (ohne Etablierung der Reichsbank) erklärte er ganz ex nexu zu sein, es sei ein Werk Camphausens. Wenige Tage später reiste Bismarck nach Lauenburg, wo er zur Arrondierung des Sachsenwaldes die Güter Schönau und Sachsenwalde gekauft hatte. Bismarck war damals körperlich wohl und auch heiter. Er meinte: er sei eigentlich eine träumerische, sentimentale Natur. Die Leute, welche ihn malten, machten alle den Fehler, ihm einen gewaltsamen Ausdruck zu geben, es existiere gar kein gutes Bild von ihm. Stephan sei der Sohn eines Schneiders in Stolp, ein vorzüglich begabter, aber etwas taktloser Mann, welcher jedoch Rektifikationen willig hinnehme. Das Verhältnis zu Sr. Majestät war zurzeit offenbar sehr befriedigend. Se. Majestät hatte wegen der Arnimaffäre eine Art Beileidsschreiben an den Grafen Arnim-Boitzenburg gerichtet. Zugleich hatte er dem Grafen Arnim-Boitzenburg den Roten Adler dritter Klasse mit Schleife geschickt, sich quasi entschuldigend wegen der niedrigen Klasse. Wenn er aber die Schleife nicht gehabt hätte, könne er nicht das Eichenlaub zu den höheren Klassen erhalten. Graf Harry Arnim habe durch seinen Verteidiger, den übel beleumdeten Rechtsanwalt Munckel, offen einige der entwendeten Aktenstücke zurückgeschickt. Der Kaiser habe dabei bemerkt: „Die anderen sind wahrscheinlich noch nicht kopiert.“ „Woher kommt wohl der Ausdruck appellieren für speien? In Reichszeiten war in Speier das Appellgericht.“ 62

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Bismarck war verstimmt, daß das Gesetz über die Steuerfreiheit der Reichsverwaltung und der Post im Parlament angefochten wurde. Wie eine Versammlung von vernünftigen Menschen überhaupt über dergleichen zweifelhaft sein könne! Falk glaube, die Ultramontanen mit Samthandschuhen bekämpfen zu können, dazu gehörten aber eiserne Krallen. Die Bemerkung, daß Falk aber doch im hohen Maß seine Schuldigkeit tue und daß die ultramontane Bewegung vielleicht ihren Höhepunkt überschritten habe, frappierte ihn, wie er überhaupt ruhigen Widerspruch sehr wohl verträgt und auch sich zunutze macht. Daß der Streit in Düsseldorf mit der Bestätigung des Bürgermeisters Hammer geendet habe und Präsident von Ende beruhigt sei, bestritt Bismarck, „als Bischof müßte er das wissen“. Die Sache war aber während seiner Abwesenheit in Lauenburg beigelegt worden. Die offiziellen Diners und Empfangsabende nahmen nun wieder ihren Anfang, nachdem Bismarck sich bisher noch absoluter als je zuvor vor Besuchen abgeschlossen hatte. Die Haltung der Zeitung „Post“, welche damals in freikonservative Hände übergegangen war, billigte er, fand sie aber gelegentlich in ihrer Polemik zu zahm und schüchtern. Man müsse, wenn man etwas wolle, auch die Initiative ergreifen und scharf polemisieren. 25. November. Zu Tisch dort. Bismarck war behaglich und mitteilsam: Die Reichstagsopposition geniert mich nicht, den Gegendruck zu ertragen ist mir gesund, aber die Hofintrigen ‒ erst Goltz, dann Arnim, jetzt Stosch. Ich wollte Puttkamer (Lyck) zum landwirtschaftlichen Minister haben, Camp­ hausen aber Friedenthal. Ich beschließ die Sache und fand die Sache immer plausibler und jetzt bin ich mit der Wahl ganz zufrieden. Er ist ein gescheiter Mensch, großer Besitzer und Industrieller, weiß also, wo Geschäftsleute der Schuh drückt. Habe ihm einen Bericht über Eisenbahntariffragen in ihrer Beziehung zur Landwirtschaft abgefordert und binnen acht Tagen die sachgemäßeste Auskunft erhalten, mehr wie ich gefragt hatte. Das wäre von Selchow nie zu erhalten gewesen, der war immer bereit, den Kopf für seinen König auf den Block zu legen; das wird aber nicht gefordert. Selchow sollte früher Minister des Innern werden, das wäre aber sehr übel gewesen, weil er zu unfähig war. Eulenburg hat zwar meinen Erwartungen auch nicht entsprochen, aber er ist doch ein sehr fähiger Mann, welcher um sich haut, wenn er getreten wird. Er ist nur zu bequem und schwiemelt zu viel. Er läßt Subskribenda Vierteljahre liegen, während ich Dinge bei Tisch zeichne, welche nicht mehr zu lesen sind. Das sollte jeder tun. Heute kam im Staatsministerium ein längeres Promemoria zum Vortrag, was sehr rund in der Form, elegant klar im Gedanken anfing, dann immer 63

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spitzer und stachliger wurde. Ich sagte wiederholt: „Das geht ja nicht,“ da wandte sich Eulenburg an Falk und meinte: „Das müßten Sie vertreten.“ So stellte sich heraus, daß Eulenburg die erste, Falk die zweite Hälfte abgefaßt hatte. Falk ist ein spitzfindiger Jurist, geht nicht aufs Ganze, reißt dem schwarzen Pelz nur die einzelnen grauen Haare heraus. Man merkt die parlamentarischen Minister noch im Conseil: Während die alten ihr Votum in kurzen Worten abgeben, wissen Achenbach und Friedenthal die Schlußformel nicht zu finden. Friedenthal spricht langsam und weitschweifig ‒ dazu hat man keine Zeit. 28. November. Der Soiree wohnten alle Minister bei, auch Stosch. Als Neuigkeiten wurden erzählt, daß Frau Ravené mit einem Bankier Simon durchgegangen sei und sich Minister Delbrück mit Frau von Dycke, geborener von Pommer-Esche, verlobt habe. Das Gespräch kam auf einen Artikel in den Preußischen Jahrbüchern, über die 1866 gepflogenen Verhandlungen des Rücktritts des Königs Johann gegen 16 bis 20 Millionen Taler Entschädigung und Ersatz durch den Großherzog von Weimar. Bismarck sagte: „Ich habe den Artikel nicht gelesen, aber durch eine Note der sächsischen Regierung darüber gehört; die Verhandlungen führte damals Savigny, während ich todkrank, zeitweise bewußtlos in Putbus lag. Der Herzog von Gotha hatte es auf das Tapet gebracht, da kam aber gleich der Weimaraner und dann auch der Meininger als ältere Agnaten und Bewerber. Meiningen hatte vorsichtigerweise einen Vertreter in Österreich und einen im preußischen Lager. Es war auch damals die Rede davon, Bayern zu schwächen und den König von Sachsen nach Franken, Würzburg oder Bamberg zu setzen, einen Teil von Sachsen zu annektieren und den unter Karl V. gemachten Wechsel zu redressieren; allein ich war der Meinung, entweder den Gegner gänzlich zu vernichten oder ihn so leben zu lassen, daß er ein aufrichtiger Freund werden konnte. „Es haben keine eigentlichen Verhandlungen stattgefunden, wohl aber Pourparlers in der von dem Artikel bezeichneten Richtung. „Von den Marschällen sind Moltke und Manteuffel wirklich bedeutende Leute. Steinmetz war ein wüster Draufgänger, ein Menschenschlächter, Herwarth verdanke seine Karriere seiner Gardefigur. Manteuffel ist aus edlem Metalle, für ihn geht das Staatsinteresse weit über das persönliche, er würde sich immer unterordnen, wo Letzteres beginnt. Er hat mir jahrelang gegrollt, weil ein alter, würdiger Stabsoffizier nicht auf Vorschlag des Militärkabinetts, sondern durch mich eine Stellung erhielt und weil ich die Gouverneurstelle in Schleswig nicht für ihn erhielt. Ich habe ihm die Botschafter64

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stelle in Paris angeboten, die höchste nächst dem Kanzler. Er schlug sie aber aus mit den Worten: ‚Wenn es einmal gilt, eine Bundesexekution in Bayern zu vollstrecken oder in Preußen die Revolution niederzuschlagen ‒ das wäre mein Fall‘.“ Der Fürst sprach diese Worte teilweise englisch, unterbrach sich öfter und besann sich auf den Ausdruck. „Das Ereignis Ravené beraubt für mich Berlin einer Dekoration, solche Dinge kamen früher nur in der französischen Gesellschaft vor.“ Über die Opposition der Elsässer im Reichstag sprach er sehr wegwerfend. Herzog werde die Angriffe sachlich beantworten, von Gesetzen, welche Elsaß politische Selbständigkeit gewährleisten, könne nicht die Rede sein, besonders so lange nicht, als sie ihre Instruktion aus Frankreich und von den Ultramontanen bezögen. Die Reichstagssitzungen vom 4. und 5. Dezember waren die stürmischsten, welche ich miterlebt habe. Der Bayer Jörg hielt bei dem Etat des Auswärtigen Amtes eine Rede, welche, seit Monaten vorbereitet, ein Meisterstück von Niedertracht und Perfidie war. Er bezeichnete den in den Versailler Verträgen vorgesehenen Ausschuß für die auswärtigen Angelegenheiten als eine Friedensgarantie, während der einzelne Staatsmann Anfällen und Unfällen ausgesetzt sei. Er bezeichnete die deutsche Politik als aggressiv, berührte die spanischen Vorgänge und das Kissinger-Attentat witzelnd. Er berührte damit empfindliche Punkte und berechtigte den Kanzler zu einer niederschmetternden Rede, in welcher er die Intrigen des Zentrums bloßstellte und Kullmann als ihren Genossen, als Mitglied der Fraktion bezeichnete, sie mögen ihn abzuschütteln versuchen, er wird sich doch an ihren Rockschößen festhalten. Als im Zentrum bei dieser Wendung vom Grafen Ballestrem „Pfui“ gerufen wurde, antwortete Bismarck: „Pfui ist ein Ausdruck des Ekels und der Verachtung, glauben Sie nicht, daß diese Gefühle mir fremd sind, allein ich bin zu höflich, sie auszusprechen.“ Darauf minutenlanger Beifall und Gegenrufe, Gestikulationen mit der Faust, es sah fast aus, als käme es zu Tätlichkeiten; Forckenbeck ließ seinen Hut holen, der Sturm legte sich aber wieder. Am Abend danach war Bismarck besonders gut aufgelegt wie nach einer befriedigenden Aktion. Am 5. kam die Streichung des Gesandtenpostens beim Päpstlichen Stuhl zur Sprache. Windthorst, welcher einen sehr zahmen Angriff machte, wurde von Bismarck scharf abgekanzelt. „Der Krieg von 1870 sei durch die von den Jesuiten beherrschte Kurie geplant worden. Man habe darauf gerücksichtigt bei der Berufung des Konzils. Der Nuntius Meglia, damals in München, 65

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jetzt in Paris, habe gesagt: In Deutschland könne die Kirche nur durch die Revolution zu ihren Rechten kommen.“ Varnbüler, der frühere württembergische Ministerpräsident, bestätigte unter großer Spannung des Hauses diese Tatsache aus eigener Erfahrung. Ich protestierte gegen Windthorsts Prätension, als der Vertreter von 15 Millionen Katholiken zu sprechen, und beglückwünschte Bismarck, daß er, nicht mehr durch Konkordate und Verhandlungen gebunden, im Wege der Reichs- und Landesgesetzgebung die kirchlichen Beziehungen regeln wolle. Der Beifall des erregten Hauses war sehr stark. Abends war ich zu Tisch und der nachfolgenden Soiree dort. Fast alle Mitglieder des Reichstags exklusive Zentrum waren erschienen und vor seinem Arbeitstisch fand eine interessante Szene statt. Ich besah mit einigen Damen den auf dem Tisch liegenden blindschen Attentatrevolver, als er hinzutrat und demonstrierte, wie damals das Attentat stattgefunden habe. Man habe damals (Mai 1866), wenn er durch die Straßen gegangen sei, vor ihm ausgespien, mit Knallerbsen geworfen und er habe bemerkt, wie an der Kranzlerschen Ecke ein großer Kerl einen kleinen Menschen, in welchem er nachher Blind wiedererkannt habe, auf ihn aufmerksam gemacht habe. Er habe dabei gedacht, freundliche Absichten haben die nicht. Die beiden ersten Schüsse habe er von hinten an die Hüfte durch den Rock erhalten, ohne sie recht zu merken. Er habe sich schnell umgedreht und fünf Schritte von sich das lächelnde Gesicht des jungen Menschen gesehen, welcher eben durch die Pulverwolke wieder auf ihn gezielt und noch zwei Schüsse abgefeuert habe, ehe er ihn hätte erreichen können. Er habe ihn gefaßt und festgehalten. Einen Schuß habe er auf eine Rippe erhalten, welche gefedert habe, so daß er geglaubt habe, durch und durch geschossen zu sein. Die letzten Schüsse habe Blind im Ringen mit ihm abgegeben und seinen Rock verbrannt. Er hätte höhnisch dabei gelächelt, offenbar in der Meinung, ihn tödlich verwundet zu haben. Er selbst habe geglaubt, ohnmächtig zu werden; sie seien dabei von einem dichten Knäuel von Menschen umringt gewesen und er habe jeden Augenblick Messerstiche erwartet, als ein drohender Gewehrkolben über seiner Schulter erschienen sei, welchen ein weißer Offiziershandschuh beseitigt und ihn befreit habe. Es war eine Abteilung des 2. Garderegiments zu Fuß, welche gerade vorbeimarschierte und auch den Täter arretierte. Er habe immer geglaubt, es sei ihm wenig am Leben gelegen, er habe sich aber doch sehr erleichtert gefühlt, als er bemerkt habe, daß es mit dem Sterben für ihn noch nicht ernst sei. Die um den Schreibtisch stehende Gruppe wäre ein Bild gewesen, einige elegante Damen und darin dicht gedrängt eine Gruppe von Abgeordneten, 66

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alle mit dem Ausdruck der höchsten Spannung und Begeisterung auf den Helden sehend. Es waren besonders intensiv bewegte interessante Tage, wo man fühlte, wie Bismarck so ganz die Seele und bewegende Kraft der Zeit ist. 12. Dezember. Wieder eine zahlreiche animierte Soiree. Er erzählte vergnügt von einem Dankbrief, welchen der Kaiser ihm geschrieben habe für seine Reden bei Vertretung des Militäretats. Auch der König von Sachsen habe ihm freundlich telegraphiert. Die Fürstin meinte: das habe der Kaiser auch bei großen Erfolgen nur selten getan. Es waren zahlreiche Damen da; der Abgeordnete von Unruh-Bomst spielte mit dem blindschen Revolver, wobei ein Schuß losging, welcher glücklicherweise in dem dicht gefüllten Zimmer niemand verwundete. 13. Dezember. Zu Tisch dort mit Brüning und Obernitz. Bismarck war äußerst aufgebracht über den von allen Fraktionen unterzeichneten Antrag wegen des vorgestern behufs Strafvollstreckung verhafteten Abgeordneten Majunke. „Das Taktlose dieser Handlungsweise, einen solchen Antrag ohne Verständigung mit der Regierung einzubringen, bestätigt mich in der Ansicht, daß mit solchen parlamentarischen Körperschaften nicht zu regieren ist, und in dem Entschluß, mich mit dem sechzigsten Jahr von allen Geschäften zurückzuziehen. Jetzt, wo alles so gut ging, erklärt das ganze Haus der preußischen Regierung: Du hast unsere Privilegien verletzt. Im Gesetz liegt das nicht und Sie haben sich darüber zu verständigen, ob Sie Ihre Privi­ legien so weit ausdehnen wollen, daß Sie Räuber und Diebe in Ihrer Mitte dulden wollen. Und das dem Zentrum gegenüber! Lasker ist nicht wohl, wenn er nicht eine Freiheitskapriole gegen die Regierung machen kann.“ Ich versuchte vergeblich ihm auseinanderzusetzen, daß der Reichstag überhaupt noch gar kein Verdikt in der Sache gefällt, sondern nur die Geschäftsordnungskommission zu einer Äußerung über den Fall ersucht habe, ohne ihn zu präjudizieren und teilweise, um mißlichen Erörterungen aus dem Wege zu gehen. Ich sei überzeugt, das Haus werde das Verfahren des Gerichts gutheißen. Er ließ sich etwas begütigen, blieb aber dabei, es sei alles in gutem Gang gewesen, und da blase plötzlich aus einer Seitengasse ein scharfer Wind, welcher alles umwehe. Da sich später erwies, daß Majunke sich der Strafvollstreckung in den Parlamentspausen mit Raffinement entzogen hatte, so blieb es bei der Verhaftung, und das Verfahren wurde vom Reichstag gutgeheißen. Nachher sprach er über die Arnimaffäre: Wenn das gerichtliche Verfahren abgeschlossen sei, folge die Disziplinaruntersuchung. Zwei Jahre sei Arnim 67

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nach dem Willen des Kaisers gegen seinen Rat noch im Amt gehalten worden wie die Minister Graf Lippe und Mühler gleichfalls. Die Brüsseler Depesche habe Arnim in Umlauf gesetzt, um Börsenoperationen zu machen. Er behielt die Hausse, welche meine Instruktion bewirken mußte, sobald sie ausgeführt wurde, vier bis fünf Wochen in der Tasche, weil die Baisse noch nicht tief genug war. Ich brachte dann hier die Sache mit Gontaut in zwei Worten zum Abschluß, wofür Arnim in Paris in Monaten keine Zeit fand. Er fand immer neue Ausflüchte, um zu unterlassen, was ihm aufgetragen war. Wenn ich als Zeuge zitiert würde, was mir nicht paßte (neben Arnim zu erscheinen), so könnte ich ihn mit zwei Worten vernichten. Er erzählte haarklein den Hergang der Brüsseler Affäre, wo Arnim den Kaiser und ihn einfach belogen habe. 17. Dezember ging der ganze Tag mit Reden über den Fall Majunke verloren, und wurde schließlich mit kleiner Majorität gegen die Rechte die Resolution Hoverbeck angenommen. (S. Anlagen, S. 472.) Abends war ein Diner bei Bismarck, dem der Kronprinz beiwohnte. Danach verbreitete sich wie ein Lauffeuer die Nachricht, Bismarck wolle infolge des heutigen Votums seinen Abschied nehmen. Forckenbeck, Bennigsen, Hohenlohe-Langenburg versuchten vergeblich, ihn zu begütigen. Am Abend war er so weich und verzagt, wie ich ihn selten gesehen habe. Er hätte seit achtundvierzig Stunden nicht geschlafen, alles stürme auf ihn ein, er könne nicht mehr. Vom Abschiedsgesuch sprach er aber nicht mehr. Am 18. bot dann ein ungeschickter Versuch Windthorsts, durch Absetzung der geheimen Fonds beim Auswärtigen Amt Bismarck zu schikanieren, die willkommene Gelegenheit, die Bewilligung dieses Postens zu einem ausdrücklichen Vertrauensvotum zu machen. Bennigsen hielt eine seiner großartigen, wuchtigen Reden, und der Posten wurde in namentlicher Abstimmung mit 199 gegen 71 Stimmen bewilligt. Wir ließen das Resultat in das gerade bei Sr. Majestät stattfindende Conseil melden, und eine Stunde später erschien Bismarck im Waffenrock und mit äußerst freundlichem Gesicht im Reichstag zum Zeichen der Versöhnung. Ich wurde noch zu Tisch zitiert, wo der Fürst gegen meine Erwartung anwesend war. Er sollte eigentlich zum Botschafterdiner bei Sr. Majestät sein, hatte sich aber dort entschuldigt. Bismarck äußerte sich höchst befriedigt vom Verlauf dieser Krisis, welche er selbst aus mir nicht völlig klaren Gründen über Gebühr aufgebauscht hatte. Nach Tisch wurde der Elsässer Etat noch in einer Abendsitzung erledigt, welcher Bismarck beiwohnte. So war der Frieden wieder geschlossen. 68

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1875 Am 5. Januar wieder in Berlin bei Bismarck. Er sah ziemlich wohl und guter Stimmung aus, klagte aber über Verkältungen und Verdauungsstörungen. Er habe den spanischen Gesandten gesprochen und ihn gefragt, was die spanische Regierung in der an dem deutschen Schiff „Gustav“ verübten Piraterei tun werde. Der Gesandte habe versprochen, das Möglichste zu tun, man werde Kanonenboote entsenden. Bismarck sagte: das hätten Sie schon längst tun sollen, jedenfalls würden deutsche Kriegsschiffe geschickt werden. In Frankreich schien sich ein Staatsstreich vorzubereiten, die Botschaft Mac Mahons klänge danach. Am nächsten Tag mit Graf Frankenberg und Fürst Hohenlohe-Langenburg zu Tisch da. Er sprach nach Tisch lange und behaglich über Malerei, Architektur, Kunst überhaupt. Landschaften interessierten ihn nur ausnahmsweise, Heiligenbilder gar nicht, da sei ihm ein hölzernes Kruzifix noch lieber. Historische und Genremalerei gäbe mehr Anregung, zu denken. Ein Bild Pilotys, Wallensteins Tod, habe einmal tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Dann kam er durch die im Zeitungsbericht über den Arnimprozeß enthaltene Bemerkung Arnims: „Er habe in diesem Konflikt das Grab einer langgehegten Jugendfreundschaft gefunden,“ ausführlich auf die Affäre. Er habe mit Arnim nie in einem Freundschaftsverhältnis gestanden, sondern ihn schon früh durchschaut als einen Intriganten und gewissenlosen Streber, welcher ihn gesucht habe, wenn er geglaubt habe, davon persönlichen Gewinn zu ziehen. Als 1855 der Ministerpräsident von Manteuffel auf des Königs Befehl ihn habe ins Ministerium nehmen wollen und in ähnlichen Fällen habe Arnim sich ihm genähert. Manteuffel habe ihn damals scherzend gefragt, ob er das einzig freie Portefeuille, das der Finanzen, übernehmen wolle. Er (Bismarck) habe darauf geantwortet: „Ihre Frage erinnert mich an eine Charakteristik meiner Person, welche ich soeben in einem demokratischen Blatt gelesen habe: Ich sei ein Mann, welcher alles unternähme. Wenn man mich frage, ob ich das Kommando einer Fregatte übernehmen oder eine Steinoperation machen wolle ‒ so würde ich antworten: Ich habe das noch nie getan, allein ich will es versuchen.“ 69

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Manteuffel habe dazu gelacht und dem König die Geschichte erzählt, welcher es aber übel aufgenommen habe. Manteuffel und Gerlach hätten ihn auch gar nicht ernstlich haben wollen, und so habe er auch ihre Frage nicht ernst genommen, nach der Manier, wie sie gestellt wurde. Am Ende würde er, ernst gefragt, das Portefeuille der Finanzen unbedingt angenommen haben. Es sei in seinen damals fünf Abteilungen so gut besetzt gewesen, daß selbst ein so unfähiger Mann wie Bodelschwingh es habe jahrelang führen können. Der habe nie mehr als seinen Namen geschrieben. Armin habe er zuerst als sechzehnjährigen Menschen gesehen, als er schon sechsundzwanzig gewesen sei. Arnim habe 7000 Taler Revenüen geerbt und damit gelebt, als wenn er 20.000 habe. Schon verschuldet, habe er die Prillwitz geheiratet, welche als Tochter des Prinzen August einige Güter und das Haus am Leipzigerplatz geerbt hatte. Auf dem Totenbett in Italien habe er sie mit Tränen, welche ihm jederzeit leicht zu Gebote gestanden hätten, bestimmt, ihn zum Universalerben einzusetzen, nicht den erst ein Jahr alten Sohn. Letzteren habe er dann später übers Ohr gehauen durch einen Vergleich, über welchen Justizrat Drews gesagt habe: Ich hätte der Kurator des Sohns nicht sein mögen. Arnim behielt das Haus am Leipzigerplatz und die wertvollen Güter, der Sohn bekam Schlagenthin und die nicht bestreitbare Anwartschaft auf gewisse Lehnsgüter. Trotzdem sicherte er sich die lebhafte Affektion des Sohns, indem er ihn sehr verzog. Nur einmal sei er Arnim nähergekommen, als er, hier in zwei Hotels abgewiesen, von ihm eingeladen worden sei, bei ihm zu wohnen, was dann vierzehn Tage hindurch geschah. Bismarck war damals von Petersburg gekommen und es schwebten Verhandlungen über seinen Eintritt ins Kabinett. Arnim erklärte damals: Betrachte jeden Vordermann als seinen Feind, welchen zu beseitigen eine Hauptaufgabe sei. Als Bismarck Minister wurde, habe Arnim von Lissabon kläglich geschrieben: Eine Hütte in Deutschland sei ihm lieber wie ein Palast dort. Er habe Arnim immer für einen fähigen Mann gehalten, welcher gute Berichte schriebe, geistreiche Aperçus mache u. s. w., so habe er ihn nach Kassel, München, schließlich Rom gebracht. Dort sei er, je nachdem ihm von der einen oder der anderen Seite die Cour gemacht worden sei, Papalino oder das Gegenteil gewesen. Er habe alle vier Wochen andere sich widersprechende Berichte geschrieben. Anfangs urpäpstlich, habe er über Döllinger und ähnliche Gelehrte wie über eingebildete Schulknaben geschrieben, später sei er ganz ins Gegenteil umgeschlagen, habe ein Konzil berufen lassen wollen durch die weltlichen, auch die protestantischen Mächte, die Entsendung von oratores befürwortet u. s. w. Er (Bismarck) habe kürzlich wieder seine dama70

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ligen Depeschen durchgesehen und gefunden, daß er Arnim geschrieben habe: „Er solle doch den Leviathan nicht in seinem eigenen Element zu bekämpfen suchen, erst solle er ihn stranden lassen und dann ihm zu Leibe gehen.“ Später sei Arnim über Urlaub in Berlin geblieben, habe gegen ihn intrigiert, um Unterstaatssekretär oder Minister zu werden. Obschon sonst nicht diffizil in solchen Dingen, habe er ihn doch anweisen müssen, sich sofort auf seinen Posten zu begeben. In Paris habe er völlig den gegebenen Instruktionen entgegengehandelt. Die ihm in Paris zur Verfügung stehenden Dispositionsgelder habe er nicht dort, sondern dazu verwendet, ihm (Bismarck) in deutschen Blättern Opposition zu machen, und habe die deutschen Zeitungen völlig irregeführt, welche manches auf seine (Bismarcks) Inspirationen zurückgeführt hätten. Darauf habe er Arnim die Verfügung über jene geheimen Fonds völlig entzogen. Arnim habe an der Börse mit Décazes gemeinsam durch das Bankhaus Hirsch operiert. 1872 habe es so gestanden, daß er Sr. Majestät in Babelsberg gesagt habe: „Er oder ich.“ Der König habe darauf gesagt: „Dann fällt er.“ Das habe er aber im Moment noch nicht angenommen, weil das eine öffentliche Niederlage des Königs selbst gewesen wäre. Er habe gebeten, noch drei Monate zu warten, so würde durch Arnim selbst sich eine geeignete Gelegenheit bieten. Arnim habe dann in Paris wie bisher weiteroperiert, später den bekannten Brief an Landsberg in Paris selbst in Pasewalk zur Post gegeben, welcher, im Echo du Parlement veröffentlicht, so großes Aufsehen gemacht habe. Zum Bericht aufgefordert, hat Arnim dann Sr. Majestät gemeldet: jener Brief sei von Herrn von Kahlden geschrieben. Das habe ihm den Hals gebrochen; er habe nun zur Disposition gestellt werden sollen, als wieder andere persönliche Einflüsse die Oberhand gewonnen und ihn befestigt hätten. Bismarck war damals krank und abgespannt in Varzin. Arnim bewarb sich nun um Wien oder London. Eine vollständige diplomatische Konspiration war eingeleitet, wonach eventuell auch Arnim oder Schweinitz Premier werden sollten. Wie Arnim in Konstantinopel gewesen, sei die türkische Anleihe in Paris negotiiert worden mit 47 Prozent für eine siebenprozentige Anleihe. Später habe sich diese Sache am Widerspruch des Sultans zerschlagen. Zur Disposition gestellt, habe Arnim, wie sich später herausstellte, 140 Aktenstücke mitgenommen. Folgte der bekannte Briefwechsel mit Bülow. Arnim forderte später eine Audienz bei Bismarck, welche gewährt wurde. Arnim sei mit Tränen eingetreten, er habe ihn aber ausschluchzen lassen, ohne ein Wort zu sagen, dann seine Auseinandersetzungen ruhig angehört 71

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und am Ende nur gesagt: „Ihnen stehen Worte und Tränen im seltenen Maße zur Verfügung, aber auf mich macht das gar keinen Eindruck.“ Arnim: „Also halten Sie mich für einen Heuchler und Schauspieler?“ Worauf Bismarck ihn schweigend mit „bleiernem“ Blick ansah. Arnim: „Wollen Sie mir nicht die Befriedigung gewähren, mir Ihre Hand zu geben?“ Bismarck: „Hier in meinen eigenen vier Wänden kann ich das Ihnen nicht abschlagen; draußen würde ich es nicht tun.“ Das war die letzte Entrevue ‒ dann entwickelte sich der Prozeß. In der bezüglichen Korrespondenz Armins mit seinen Vertrauten wurde damals Bismarck als „Caracalla“, Se. Majestät als „Ohm“ oder „Lehmann“ bezeichnet. Ich schrieb diese Unterhaltung möglichst wortgetreu unmittelbar nach der Unterhaltung nieder und trage nach, was mir noch einfällt. Inzwischen kam eine Sendung des Kaisers. Es war ein Telegramm der Fürstin von Hanau an den Kaiser eingelaufen, worin die Bestattung des eben verstorbenen Kurfürsten in Kassel erbeten wird, was von Sr. Majestät bewilligt wurde. Der Kaiser überschickte Bismarck die Sache mit einem drei Seiten langen eigenhändigen Schreiben, „mit von der Jagd erstarrten Fingern geschrieben“, worin er Bismarcks Einverständnis wünschte. Bismarck war natürlich einverstanden und zugleich gerührt über die rücksichtsvolle Korrektheit des Kaisers in Behandlung der Sache. Der Kurfürst will still an der Seite seiner Mutter beigesetzt werden. 26. Januar. Bismarck ist inzwischen wieder mehrfach unwohl und schonungsbedürftig gewesen. Die Fürstin erzählte, daß sie wieder öfters mit anonymen Drohungen von beabsichtigten Attentaten geängstigt werde, welche sie ihrem Mann gar nicht mitteile. Dafür hätte sie schlaflose Nächte und erschrecke bei jedem kleinen Geräusch. Neulich sei die Abreise zweier Meuchelmörder von England avisiert worden, man wolle Bismarck am Schreibtisch erschießen. Fürst Hohenlohe-Langenburg erzählte, bei Hofe werde lebhaft gegen Bismarck gewühlt. Er zeige sich zu selten, sei zu unnahbar, verliere die Fühlung mit wichtigen Persönlichkeiten. Das sei sehr zu beklagen, da er doch der einzige mögliche und unentbehrliche Mann an seinem Platze sei. Der kirchenpolitische Kampf erregte damals die Gemüter. Der Kronprinz habe ihn neulich gefragt: ob er die katholischen Soldaten noch für zuverlässig halte? Diese Frage zeigt in sehr charakteristischer Weise, daß man, anstatt aus solchen Zweifeln die Notwendigkeit zu folgern, auf dem betretenen Weg 72

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weiterzugehen, schwankt und zweifelt über die Richtigkeit der beschlossenen Maßnahmen. Nach einem Diner bei Friedenthal nahm mich Präsident Simson in eine Ecke und teilte mir als einen Herzenskummer mit, er sei bei Bismarck in Ungnade gefallen, ohne seine Schuld, ohne sein Wissen und Willen. 1873 habe er nach Bismarcks Auffassung ein Kompromiß verletzt, wonach die Militärvorlage vom Kanzler zurückgezogen wurde, wogegen vom Reichstag das Preßgesetz und Zivilehegesetz nicht verlangt werden sollten. Von diesem angeblichen Kompromiß habe er (Simson) keine Ahnung gehabt. Er habe sich vielmehr als Puffer zwischen Regierung und Reichstag betrachtet, keine Tagesordnung ohne Einvernehmen mit Delbrück festgestellt. Es sei ihm jetzt, wo er sich bald ganz von der Politik zurückzuziehen denke, sehr schmerzlich, in einer solchen Disharmonie zu scheiden. Er sei erst Gegner, dann Gesell und aufrichtiger Freund Bismarcks gewesen. Er wisse, wem er das sage, und das sei ihm eine Erleichterung. Ich nahm mir gern vor, eine Vermittlung zu versuchen, weil Bismarck öfters falsch informiert und gereizt wird gegen Personen, welche sich bestreben, ihm freundliche Helfer zu sein. 14. Februar. Bismarck ist wieder sehr gereizt, mißvergnügt mit seinen Kollegen Camphausen, Eulenburg, Achenbach und geneigt zu schroffen Auseinandersetzungen mit dem Abgeordnetenhaus. Nächster Anlaß ist die Annahme eines Antrags Birchow, welcher Einführung der Kreis- und Gemeindeordnung für die westlichen Provinzen fordert. Das sei ein Triumph für den Fortschritt, eine Drohung gegen den König und ein Wortbruch der Kollegen, welche sich mehr als parlamentarische Mitglieder fühlten wie als Minister. Im Staatsministerium sei das Gegenteil beschlossen worden, und nun bei der Abstimmung hätten sich Falk, Eulenburg, Achenbach, Persius gedrückt. Er wolle abgehen. Der Kaiser sei auch sehr aufgebracht über diese Abstimmung und über die Angriffe gegen die Regierungspräsidenten. Da könne man nächstens auch vorschlagen, ihn selbst zu streichen. Er (Bismarck) werde künftig verlangen, daß man sich im Staatsministerium verständige, welche Vorlagen in einer Session gemacht werden sollten und über deren Hauptgrundsätze und Gesichtspunkte. Das ist eigentlich eine selbstverständliche Sache. Bismarck verliert wahrscheinlich durch Unwohlsein oder Abwesenheit den Zusammenhang. Er sieht die Kollegen zu selten, läßt sie ohne Direktive und tritt gewalttätig dazwischen, nachdem sie sich schon in bestimmter Richtung engagiert haben. Wie ich es beurteile, haben seine sämtlichen Kollegen, vielleicht mit gelegentlicher Ausnahme von Camphausen, das aufrichtige Bestreben, ihm in seiner Politik förderlich 73

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zu sein. Ich versuchte ihm in diesem Sinne zuzureden und ihn zu kalmieren, was ich für eine nützliche Aufgabe halte. 18. Februar zu Bismarck zitiert, welcher wieder besserer Laune war. Es haben einige Staatsministerialsitzungen stattgefunden, worin man sich über die dem Landtag zu machenden Vorlagen verständigt hat. Das ist auch der richtige Weg. Bismarck beabsichtigt zunächst bei Eintritt milderen Wetters einen kürzeren und dann einen langen Urlaub zu nehmen. 23. Februar. Zum Diner bei Bismarck mit meiner Schwiegermutter und Frau, wo außerdem Geheimrat von Loeper (vom Hausministerium, großer Goethekenner) und Lothar Bucher. 28. Februar. Abends da. Bismarck in behaglicher Stimmung, klagte über die Neigung Sr. Majestät, ohne genaue Kenntnis der Vorgänge in den Geschäftsgang einzugreifen. Es kämen dann Anfragen, eigenhändige Briefe, deren Beantwortung ganze Wochen Arbeit erfordere. Der Kaiser rauche nicht, lese keine Zeitungen, sondern nur Akten und Depeschen; es wäre nützlicher, wenn er Patience legte. Von den anderen Ministern nähme er kurze, abweisende Antworten hin, weil er deren Ressorts weniger kenne und nichts Besonderes erwarte. Von ihm aber verlange er eine andere Form der Behandlung der Dinge; wenn er aber eine scharfe Entgegnung mache, so werde Se. Majestät weich und tue Äußerungen wie: „Er wisse ja, daß er altersschwach werde, und könne doch nichts dafür, daß er so lange lebe“; das tue ihm selbst dann weh. Diese zarten Verhältnisse und Beziehungen zu dem alten Herrn machten es ihm aber schwerer, noch einige Jahre in den Geschäften zu bleiben. Die Krisis scheint wieder überwunden und es heißt, Graf Stolberg werde Vizekanzler werden, um den Fürsten zu entlasten. 19. März. Gestern und vorgestern wieder erregte Diskussionen und Szenen im Abgeordnetenhaus. Bismarck erschien währenddessen in einer das ganze Haus höchst überraschenden, elektrisierenden Weise, von Sybel hatte gerade höchst plastisch ausgeführt, wie in der klerikalen Presse die sogenannten Diocletianischen Verfolgungen in aufreizender Weise behandelt werden, und erzählte, wie schließlich der Minister Marc, beim Kaiser Diokletian in Ungnade gefallen, flüchtet und in einem Sumpf versinkt, als der Kanzler plötzlich, sehr frisch und vergnügt aussehend, unbefangen eintrat. Er wurde mit stürmischem Hurra, Bravo und Händeklatschen begrüßt und sah sich ganz erstaunt und überrascht um, bis ihm Friedenthal, welcher am Ministertisch saß, diesen Zusammenhang erklärte, worauf er lebhaft mitlachte und dann in einigen Kraftworten dem alten Gerlach antwortete. 74

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Gestern dinierte ich bei Bismarck, wo außerdem Graf Peter Schuwaloff, der russische Botschafter in London, anwesend war, welcher seine Kaiserin auf der Durchreise nach Nizza begleitet. Er gilt als einer der bedeutendsten russischen Staatsmänner und offenbar wünscht Bismarck, ihn in die erste, leitende Stelle des Kanzlers aufrücken zu sehen. Bei Tisch sprach Schuwaloff ausschließlich Französisch, sehr elegant und artikuliert. Bismarck fiel einige Mal ins Deutsche, ohne daß Schuwaloff darauf einging. Schuwaloff meinte, die diplomatische Tätigkeit bestehe in England in Essen und Trinken und Spazierenreiten. Man zahle enorme Preise für gewöhnliche Gebrauchspferde (200 bis 300 Pfund Sterling) und reite dann mit milliers de jolies Misses im Hydepark herum. Der Prinz von Wales sei ein enfant terrible; als er (Schuwaloff) sich neulich mit dem Herzog Christian englisch unterhalten habe und ihn nicht recht verstanden, habe er ihn gebeten, Deutsch zu reden. Worauf Prinz von Wales in ein großes Gelächter ausgebrochen sei, weil Schuwaloff das Deutsch des Prinzen Christian für Englisch gehalten habe. „Ich möchte keine englische Prinzeß zur Frau haben,“ sagte er sehr komisch, als wenn er sich verschnappt hätte. Le Marquis de Lome fait l’impression d’un mari supprimé. Schuwaloff ist ein Causeur ersten Ranges, es war ein Genuß, ihn mit Bismarck in lebhafter Konversation zu sehen. Nach Tisch zogen sie sich zurück und blieben über eine Stunde abwesend bis 8 ½ Uhr, wo Schuwaloff fortmußte, da die Kaiserin 9 ¼ Uhr abreiste. Bismarck war offenbar von seiner Unterhaltung sehr befriedigt. Während er sein Stenogramm korrigierte, machte er allerlei bezügliche Bemerkungen. Bismarck geht demnächst auf eine Woche nach Lauenburg und tritt Mitte April einen langen Urlaub an. Am 8. April erschien in der Post ein Artikel „Ist der Krieg in Sicht?“, welcher ungeheures Aufsehen machte und die ganze europäische Presse in Aufruhr setzte. Er deutete die ultramontanen Intrigen an, welche sich an die Zusammenkunft in Venedig ‒ zwischen dem Kaiser von Österreich und dem König von Italien ‒ anknüpften, Andrassy zu stürzen, mit Rom Frieden zu machen und eine katholische Liga gegen Deutschland zu bilden. Er konstatierte die enormen, kostspieligen Rüstungen, welche Frankreich mache, welche einer Mobilisation ähnlicher sähen als wie Friedensrüstungen, und bejaht die Frage, daß der Frieden bedroht sei. (S. Anlagen, S. 473 ff.) Der Artikel war von Konstantin Rößler geschrieben, und zwar vom Auswärtigen Amt nicht inspiriert, aber gern gesehen. Bismarck, welchen ich am 11. April sah, meinte: „Es ist mir lieb, daß er in einem unabhängigen Blatt ‒ nicht offiziösen ‒ steht und daß ich ihn nicht zu verantworten habe. 75

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Es ist ganz nützlich, wenn gelegentlich einmal ein recht helles Schlaglicht auf die verwirrte Situation geworfen wird. Von Krieg ist gar keine Rede.“ „Im heutigen Staatsanzeiger werden Sie ein Kollektivschreiben der preußischen Bischöfe lesen, was enorm frech ist; wir werden es beantworten mit Aufhebung der Artikel 15, 16, 18. Falk geht zu langsam und zaghaft vor, wir müssen reine Bahn machen, das heißt, wir wollen jetzt die Sache zum Biegen oder Brechen bringen.“ Bismarck schien des friedlichen Erfolgs sowohl jenes Postartikels wie der kirchenpolitischen Kämpfe gewiß, und hat man sich in solchen Fragen wohl seiner überlegenen Einsicht unterzuordnen. Der Salon war sehr gefüllt, besonders auch von jungen Offizieren, den Kameraden der Söhne ‒ es war der Fürstin Geburtstag. Ein großes Faß Bier ‒ ein Geschenk aus München ‒ war aufgelegt und, wer wollte, zapfte eigenhändig sein Bier ab. Ein merkwürdiges Tableau im Salon des ersten Diplomaten des Jahrhunderts! Der Qualm eines Tabakskollegs, dazu glänzende Damentoiletten ‒ er sehr bei Laune. Die Salons waren voll von prachtvollen Buketts, blühenden Sträuchern u. Frau Meister war aus Frankfurt zur großen Überraschung der Fürstin gekommen, und es fand Familientafel statt, welcher der General Graf Lehndorff und der Minister Graf Eulenburg beiwohnten. Letzterer hielt einen sehr geistvollen, dabei warmen, herzlichen Toast. Nach Tisch kam die Rede wieder auf den Postartikel, welcher zwar ohne sein Zutun erschienen, doch geeignet sei, eine nützliche, friedliche Wirkung zu üben. Wenn man in Österreich die Ansicht gewinne, daß man auf diesem Weg in Frankreich kriegerische Gelüste begünstige, werde man sich besinnen und einlenken. Die österreichische Armee sei in einer sehr schlechten Verfassung und die französische auch noch an Offizieren und Unteroffizieren sehr schwach. Man könne den Krieg von 1866 in sechs Wochen wiederholen, nach Wien ziehen oder die Österreicher, welche jeden verrieten, nach der ersten gewonnenen Schlacht sich selbst zum Alliierten machen und dann links abschwenken gegen Frankreich. Ein preußischer General (von Schweinitz) sei der Meinung und habe sie offen ausgesprochen, im nächsten Krieg mit Deutschland würden unsere Truppen zunächst Niederlagen erleiden, weil am dreizehnten Mobilmachungstag die Franzosen numerisch stärker sein würden wie wir. So urteile ein preußischer General, der jetzt fünf Jahre in Wen lebe. Wie müßte dann erst die eigentliche österreichische Gesellschaft denken! In Wien kann der Artikel nur ernüchternd wirken. Bismarck sprach in merkwürdig offener, frischer Weise und ist sich offenbar völlig seiner Zwecke und Ziele klar. Vielleicht vermutet man hier das 76

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Bestehen eines österreichisch-italienisch-französischen Bündnisses, unter ultramontanen Auspizien eingeleitet oder schon abgeschlossen. Sollte man hier das Erscheinen unseres Kaisers bei der Zusammenkunft in Venedig gewünscht haben? Die Kaiserreise war vor einigen Wochen ein ausgesprochener Lieblingswunsch Bismarcks. Betreffs des Pferdeausfuhrverbots meinte er: Jeder Antrag von Privatpersonen sei genehmigt worden, man habe der Schweiz ihre 400 Remonten und Holland seine 300 gewährt, er wünsche aber, eine genaue Kontrolle über die Pferdeausfuhr geübt zu sehen, und bis zu 500 würde man ruhig außer Land gehen lassen. Graf Herbert erzählte: der Kronprinz habe seinen Vater in letzter Zeit viermal besucht. Der Prinz reist heute nach Italien ab. Der Gesetzentwurf betreffs Aufhebung der Verfassungsartikel 15, 16 bis 18 ist gestern verteilt worden. Auf die Bemerkung, damit hätte man vor drei Jahren anfangen sollen, meinte er, das habe er auch damals gewollt, aber nicht durchsetzen können. 17. April. Im Herrenhaus hat sich bei Gelegenheit des Gesetzes über die Sperre der Temporalien das große Ereignis vollzogen, daß auch die ganze konservative Fraktion exklusive der Kryptojesuiten dafür gestimmt hatte. Bismarck hat dieses Faktum als Friedensschluß gefeiert, und vielleicht führt es zur weiteren Annäherung nach rechts auf Kosten der Provinzialordnung und anderer Selbstverwaltungsgesetze. Die Reise des Kaisers nach Italien ist offenbar ein Wunsch Bismarcks gewesen und es ist nicht recht klar, wer sie konterkariert hat. Dr. Lauer, welcher die letzte Entscheidung dagegen gegeben hat, soll geglaubt haben, in Bismarcks Sinn zu handeln, während dieser noch gestern sagte: „Wenn die Reise nach Wiesbaden möglich war, so hätte der Kaiser auch nach Verona gehen können, vielleicht ist Ihrer Majestät Einfluß dagegen gewesen.“ Bismarck wartet nun noch den für Mai angekündigten russischen und schwedischen Besuch ab, ehe er nach Varzin geht. Ich bin dahin und nach Schönhausen eingeladen, werde aber das Weitere in Ballhausen abwarten. 19. April. Se. Majestät hat die weiteren kirchlichen Gesetze noch nicht unterzeichnet, sondern die Sachen mit auf die Reise genommen. Bismarck will übermorgen nach Lauenburg abreisen, wollte aber womöglich vorher noch in die Sitzung kommen, um Windthorsts Angriffe in Bezug auf äußere Politik abzuschlagen. 20. April. Beim gestrigen Diner erzählte Graf August Eulenburg, bei der ersten Entbindung der Frau Kronprinzeß, welche eine sehr schwere gewesen sei, sei überhaupt ein englischer Arzt nicht anwesend gewesen, sondern 77

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die DD r. Martin und Wegner. Das Kind sei anderthalb Stunden ohne Besinnung gewesen und man habe am Erwachen überhaupt gezweifelt. Die. Verletzungen am linken Arm, wahrscheinlich eine völlige Zerreißung des Schulterkugelgelenks, seien überhaupt erst nach mehreren Tagen bemerkt worden. Früher habe der Prinz Wilhelm vielleicht wegen zu häufigen Elektrisierens heftige Schmerzen im Arm gehabt, jetzt aber nicht mehr, er könne reiten und die Zügel auch mit der linken Hand führen, aber ein heftiges Pferd nicht ohne Hilfe der rechten Hand halten. Seine Mutter, die Kronprinzessin, verlange, daß er sich möglichst selbst bediene, ohne Hilfe von Dienern, damit er möglichst gewandt und selbständig in seinen Bewegungen werde. 31. Mai. Bei Bismarck, welcher recht frisch nach Tisch eine längere Auseinandersetzung gab: „Den Deutschen fehle es an Selbstgefühl und Interesse für die innere Politik. Jeder beschäftige sich lieber mit der auswärtigen Politik und kritisiere diese, obschon er wenig davon wisse und verstehe. Eine geeinte Macht von fünf Millionen Preußen habe ganz Europa in Schach gehalten. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Was sich grün macht, fressen die Ziegen. Deutschland in sich gefestigt, will nichts als sich selbst in Frieden überlassen bleiben und sich friedlich weiterentwickeln. In Territorialfragen gibt es für uns gar keine begehrenswerten Objekte des Ehrgeizes mehr. Wir haben schon jetzt mehr Polen, Dänen, Franzosen, als uns erwünscht sein kann. Wir halten Frieden, indem wir uns kampfbereit zeigen. Man greift nicht leicht jemand an, dem der Degen lose in der Scheide sitzt. Ein festgenietetes Kadettenschwert fürchtet niemand.“ Es klang wie eine Instruktion für Staatssekretär von Bülow, welcher anwesend war. 27. Oktober. Da der Kaiser aus Italien erkältet zurückgekehrt und Bismarck noch in Varzin ist, eröffnete Delbrück ‒ der Staatssekretär ‒ den Reichstag mit einer sehr friedlichen Thronrede. Gesandter von Radowitz, welcher, bisher im Auswärtigen Amt beschäftigt, in vierzehn Tagen nach Athen geht, meinte: die Situation ist nie friedlicher gewesen wie augenblicklich. Wenn man aber wisse, welche enormen Anstrengungen es gekostet habe, wie viel stille Arbeit, um Rußland und Österreich einander zu nähern gegen Gortschakoffs Eigensinn und gegen den widerstrebenden Einfluß der österreichischen Hofkamarilla ‒ werde man zugeben müssen, daß die Diplomatie doch nichts Überflüssiges sei. Bismarcks Verdienste werden ja in mancher Beziehung überschwänglich anerkannt, aber von diesen Leistungen werde man erst später eine Idee erhalten. Andrassys Verbleiben im Amt sei von der größten Bedeutung, mit ihm lasse sich verhandeln. 78

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Die klerikale Bewegung bei uns sei im absteigenden Ast und werde mit völliger Unterwerfung enden. In der vorhandenen wirtschaftlichen Kalamität werde Bismarck sich vorläufig nicht engagieren, sondern die Situation sich noch weiter klären lassen. Sich weder für Schutzzoll noch Freihandel engagieren, sondern handeln „je nachdem“. Wenn einige Minister resignierten (Camphausen und Delbrück), so werde das nicht schaden. Man werde diese Bewegung vorläufig der eigenen Entwicklung überlassen. Dr. Struck, welchen ich im Hausflur traf, meinte: Bismarck hätte die Reise nach Italien in keinem Falle mitmachen dürfen. Er könne das lange Stehen nicht vertragen und habe wieder Anwandlungen von Venenentzündung gehabt. Die Fürstin influiere ihn auch durch ihre Attentatfurcht und mache ihn ängstlich. Graf Wend Eulenburg, der Verlobte der Komtesse Marie Bismarck, hatte damals einen schweren Typhus ‒ Fleckentyphus ‒, welchen Dr. Struck für sehr bedenklich hielt. Jetzt sei der 23. Tag und seit dem 21. habe die Temperatur etwas abgenommen. In Abgeordnetenkreisen ist die Stimmung etwas beklommen durch die wirtschaftliche Kalamität und durch die Aussicht auf die Verhandlungen über die Novelle zum Strafgesetzbuch. Lasker machte in der Justizkommission viel Schwierigkeiten. Vom Zentrum fehlen sehr viele Abgeordnete, so daß der Reichstag nicht beschlußfähig war. 161 anwesend. 31. Oktober in Varzin. Gestern per Stettiner Bahn via Schlawe, von wo noch 26 Kilometer Postfahrt. Hier ½6 abends angekommen. Anwesend außer der Familie der Botschafter in Rußland Prinz Reuß VII. Sehr herzlicher Empfang. Der Fürst gutaussehend, klagt über rheumatische Schmerzen in Schulter und Brust sowie heftiges Sodbrennen. Zeigt den neuen Anbau, welcher recht stattlich ist. Über politische Verhältnisse äußert er sich nicht gerade mißfällig, aber auch nicht befriedigt. Er klagt über die alte Schwierigkeit, dort passiven Widerstand zu finden, wo er aktiven Beistand erwarten dürfe. Offenbar verstimmt über Delbrück und Camphausen. Er will gewisse Abteilungen des Reichsamts des Innern zu mehr selbständigen Ressorts machen ‒ so jetzt die Post, die Elsaß-Lothringen-Abteilung. Delbrück wolle aber alles allein in der Hand behalten und mißbrauche gelegentlich seinen Einfluß gegen ihn. Einige Zeitungsnotizen hatten den Fürsten sehr geärgert, so die Besprechung der Vorgänge bei der Lauenburger Wahl seitens der National- und Kölner Zeitung. Er lese seitdem beide nicht mehr, um sich nicht zu ärgern. Auch die Post habe der Magdeburger Zeitung unzeitige und unpassende Dinge nachgeschrieben. Während er in der Tat ernsten Unwohlseins halber 79

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die Reise nach Italien unterlassen habe, hätten jene Zeitungen berichtet, er amüsiere sich mit Jagen und Fischen. Er habe dergleichen auf Spazierfahrten vom Wagen aus mitangesehen, sei aber zu einer aktiven Beteiligung seines Rheumas wegen völlig außerstande gewesen. Im Reichsjustizamt seien gute Juristen, welche aber nur für die künstlerisch-wissenschaftliche Fassade des Gebäudes Sorge trügen, sonst aber ohne festen Willen und Energie seien. Um 11 Uhr abends zog sich der Fürst zurück. Wegen Graf Wend Eulenburgs Befinden war man jetzt außer Sorge. Die landschaftliche Umgebung von Varzin ist hügelig und waldig, ein ausgedehnter, in die benachbarten Forsten übergehender Park umgibt das Haus, von welchem man weite Durchblicke in die hübsche Gegend hat. Es liegen in dem welligen Terrain auch viele Teiche, zum Teil in Etagen übereinander. Das Wohnhaus ist ganz ländlich, ohne architektonische Prätensionen, zu verschiedenen Zeiten gebaut und erweitert. Auf der Rückseite läuft die Landstraße unmittelbar vorbei, die Hauptfront geht nach dem Garten. Der alte Mittelbau hat etwa sechs Fenster Front, unten großer Flur, Treppenhaus, oben großer Vorsaal mit vier großen Logierzimmern darum. Auf der einen Seite ein großer Anbau, von Baurat Ende ausgeführt, mit ein paar größeren Zimmern für den Fürsten. Die Ställe, Wirtschaftsgebäude, Küchengarten liegen in Gruppen für sich abseits vom Schloß. Alles mit großer Raumverschwendung, nicht nach einem einheitlichen Plan ausgeführt. Gepflegte Gartenanlagen nicht vorhanden, dagegen war der Wald mit seinem herbstlich gefärbten Laub sehr anziehend. Sicher ein Besitz, welcher viel Gelegenheit bietet zu kostspieligen Verbesserungen aller Art und dagegen in Bezug auf Revenüen vermutlich vieles zu wünschen übrig läßt. Es war früher Besitz der Grafen Blumenthal und hat in der inneren Einrichtung die alte Einfachheit pommerscher Landsitze. So bestehen die Klosetts in großen, oben offenen Schränken, welche die vier Ecken des Vorsaals der Logierzimmer einnehmen. Tagesordnung: Frühstück auf dem Zimmer nach eigener Wahl, 12 Uhr gemeinschaftliches Dejeuner, 5 Uhr Diner. Nachmittag 2 bis 5 Uhr Fahrt mit Bismarck im offenen Wagen durch den Wald nach der Holzstoffschleiferei, welche von ihm angelegt, zur Holzverwertung gut zu prosperieren scheint. Der Fürst setzte mit großem Gusto seine Meliorations- und Aufforstungsprojekte auseinander, er habe schon gegen 3000 Morgen Ackerland in Schonungen gelegt und werde damit fortfahren. Der Boden sieht sandig, wenig fruchtbar aus. Hin und wieder Raps- und Kartoffelfelder, auch eine Brennerei im Betrieb. Er erging sich des Längeren 80

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darüber, wie viel gesünder es ihm gewesen wäre, wenn er Landjunker und Forstmann geblieben wäre. Über die Herrschsucht und den Eigensinn Delbrücks klagte er lebhaft und möchte ihn wie Camphausen offenbar gern bald los sein, er scheint das Reichskanzleramt auflösen oder wenigstens wesentlich umgestalten zu wollen in selbständige Ministerien oder Abteilungen. Er kommt offenbar mit großer Aktionslust und bestimmten Plänen nach Berlin zurück. Leider aber läßt sein Befinden viel zu wünschen übrig: rheumatische Schmerzen, Schlaflosigkeit, Sodbrennen, heftiges Aufstoßen genieren ihn sehr. In den schlaflosen Nächten gehen ihm dann alle geschäftlichen Verdrießlichkeiten durch den Kopf und er gerät in die trübsten Gemütsstimmungen. Daß er seine alten politischen Freunde ‒ die altkonservativen Junker ‒ verloren hat, wird er nie verwinden. „Mit sechzig Jahren macht man keine neuen Freunde mehr und die alten habe ich verloren.“ Er gerät bei solchen Betrachtungen gelegentlich in eine ganz weiche, sentimentale Stimmung, welche seine Umgebung mehr fürchtet wie gelegentliche Zornausbrüche. Die Fürstin sagte: Ich lebe doch nur für ihn, in solchen Zeiten machen wir dann den größten Unsinn mit den Hunden u. s. w., nur um ihn zu zerstreuen. Wie sein Diener Heinrich sich erschossen hatte (es war das einige Wochen vorher in Varzin geschehen), sei Bismarck ganz außer sich gewesen, schlaflos im Bett gelegen und habe sich alle die traurigen Fälle vergegenwärtigt, welche ihm im Leben begegnet wären, Thaddens Tod u. s. w. Sie habe sich dann bemüht, nachzuweisen, daß es anderen Leuten nicht besser ginge. Über die wirtschaftliche Lage, meinte Bismarck, habe Bleichröder mehrfach eine tadelnde Kritik geübt an Maßnahmen Delbrücks und Camphausens, und wenn seine Äußerungen und Voraussagen jetzt publiziert würden, so würde er als großer Finanzpolitiker dastehen. Davor verwahre sich aber Bleichröder aus Besorgnis vor geschäftlichen Nachteilen. Delbrück setze ihm bei den meisten Gelegenheiten einen passiven Widerstand entgegen. Er habe zu wenig Einfluß bei seinen Beamten und sei nicht mehr gesund und stark genug, um ihn sich zu erzwingen und um diese ewigen Friktionen zu ertragen. Es genüge nie, daß er in wichtigen Fragen seine Willensmeinung zum Ausdruck bringe, er müsse Kleinigkeiten zu Kabinettsfragen machen, bis es gelinge, sie durchzusetzen. Die alten Klagen in gesteigertem Maße! Am 1. November fuhr ich mit Prinz Reuß nach Berlin zurück, ein höchst angenehmer, gesprächiger Gesellschafter. Gortschakoff leide an Eifersucht gegen Bismarck, das verhindere ihn zuweilen, guten Rat anzunehmen. Napoleon III. habe viel Deutsches in seinem Wesen gehabt, gar nichts Korsisch-Italienisches. In Fontainebleau habe man auf der Rückkehr von 81

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der Jagd ein ganzes deutsches Kommersbuch durchgesungen. Napoleon war eine gemütliche Natur, liebte Deutschland, und Bismarck war ihm eine sympathische Persönlichkeit, welche ihn anzog und interessierte. Obschon er ihn wohl unterschätzt habe und seine offene Ideenentwicklung über künftige deutsche Politik als Exzentrizitäten möge angesehen haben. Palmerston hielt Bismarck für „craked“ ‒ nicht ganz recht im Kopf. Der Kaiser Alexander II. von Rußland hatte für unseren Kaiser Wilhelm eine geradezu schwärmerische Liebe, auch für Deutschland und für Bismarck. Während des französischen Krieges verfolgte er die deutschen Siege mit einem Interesse, als seien sie von seiner Armee erkämpft. Nach den Metzer Schlachten weinte er über die Verluste der Garden. Nikolaus sah die Notwendigkeit der Reformen, welche sein Sohn später machte, wohl ein, hielt sich selbst aber nicht für fähig zur Durchführung derselben. 18. November. Besuch in Varzin gab wieder Anlaß zu einem großen Zeitungsklatsch, da einige Reichsboten in Stettin zu uns einstiegen und vermutlich daran allerlei Kombinationen knüpften. Graf Wend Eulenburg wieder in Lebensgefahr. Friedenthal sehr auseinander über die schutzzöllnerische Stellung der freikonservativen Fraktion, welche auch in den Steuerfragen Opposition macht. Se. Majestät hat gestern bei einem Diner, zu welchem Präsidium und verschiedene Reichstagsmitglieder (Stumm) geladen waren, geäußert: Er könne nicht begreifen, daß es richtig sei, jetzt die Eisenzölle ganz zu beseitigen, während die Franzosen bei ihrem alten Schutzzollsystem blieben und dabei prosperierten. Der alte Herr hat ganz recht! 6. Dezember. Gestern früh 5 ½ Uhr ist Graf Wend Eulenburg, der Verlobte der Gräfin Marie Bismarck, gestorben. Am Abend vorher fand noch eine parlamentarische Soiree bei Bismarck statt, wo alles auf Genesung hoffte. Ein harter Schlag für die ganze Familie! Am 3. Dezember fand im Reichstag eine Diskussion über die Strafgesetznovelle statt, wobei ein Antrag Hänel-Lasker angenommen wurde, welcher demonstrativ gegen Bismarck gerichtet war. Er äußerte übrigens bei Tisch kein Mißfallen darüber und erzählte ausführlich die Gefangennahme Napoleons am Tage nach der Schlacht von Sedan ‒ aus Anlaß eines camphausenschen Bildes, was gerade ausgestellt war. „Er sei morgens 5 Uhr in Donchery mit der Nachricht geweckt worden, Napoleon wolle ihn sehen. Er sei sofort aufgestanden und auf der Straße, welche eine Trainkolonne gesperrt habe, ihm entgegengeritten. Ein Unteroffizier habe auf seine Frage gesagt, dahinten komme Napoleon mit mehre82

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ren Generalen. Er sei auf den Wagen losgaloppiert, habe kurz pariert, sei abgestiegen und habe Napoleon salutiert, wie einem Souverän es gebühre. Er habe vorgeschlagen, nach Donchery zu fahren, was aber Napoleon wegen des Aufsehens, welches es machen würde, abgelehnt habe. So seien sie in ein enges, nahe am Wege stehendes Haus getreten bis zur Nachricht, daß sie der König in Frénois empfangen wolle. Er sei dann dem Wagen vorgeritten, während sich eine Kürassiereskorte inzwischen herangefunden hatte.“ 17. Dezember. Wir beenden morgen den Etat. Die ganze Familie Bismarck ist über den Todesfall (Graf Wend Eulenburg) tief affiziert und er scheint sich mit doppelter Energie in die Arbeit zu stürzen. Er hat Gortschakoff ironisch beglückwünscht über seine Rolle als Friedensstifter im vergangenen Frühjahr. Die ganzen Gerüchte über unsere Absicht, über Frankreich herfallen zu wollen, seien im Palais entstanden und von da aus unter tätiger Mitwirkung des französischen Botschafters Gontaut Biron verbreitet worden. Er habe Gontaut seit anderthalb Jahren nicht gesehen. Bismarck wünscht eine Trennung der Nationalliberalen, Verstärkung des rechten Flügels und Schwächung der Fortschrittspartei.

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1876 18. Januar. Im Abgeordnetenhaus wurde bei der Präsidentenwahl Löwe (Calbe) durch Intrigen der eigenen Partei beseitigt und Hänel an seine Stelle gesetzt. Hänel ist, obschon gar kein Holsteiner, früher Augustenburger Partikularist und Ministerkandidat gewesen, gilt als demokratischer Streber nach Amt und Würden. Zu Tisch bei Bismarck, welcher eben vom Vortrag bei Sr. Majestät kam und etwas präokkupiert schien. Die Fürstin lag krank zu Bett, erschien sonach nicht. Graf Otto Stolberg könne einmal sein Nachfolger werden, er habe Ehrgeiz und Arbeitslust; wenn er mehr Interesse für die innere als wie für die auswärtige Politik habe, so sei das kein Fehler, eher vielleicht ein Vorzug. Höchstens eine gewisse pietistische Richtung könne bedenklich sein. Der Kaiser halte ihn (Bismarck) für altlutherisch und der Union abgeneigt, allerdings sei durch sie eine Konfession mehr geschaffen. Hohenlohe-Schillingsfürst stehe entgegen, daß er kein Preuße, sondern ein Bayer sei. Kardinal Manning wolle Papst werden, was vielleicht ganz praktisch. Dem Prinzen Reuß würde man vielleicht noch die Hochzeit vereiteln, wenn man laut werden ließe, daß er als Botschafter nach Wien gehen wolle. Der Großherzog von Weimar habe eine Gouverneur- oder selbst Oberpräsidentenstelle als angemessener gefunden. Er leide trotz guter Begabung und nationaler Erziehung und Richtung doch auch an gewissem Größenwahn, wie die meisten kleinen Souveräne. Er sei in seiner Weise herablassend, zeige aber doch gern den Stern auf der Brust. Man werde nie die Schwierigkeiten erfahren und ganz würdigen können, welche ihm diese Intrigen und Ansprüche der kleinen Monarchen seit 1864 gemacht hätten. Die guten, brauchbaren Russen hätten alle einen Aufguß von fremdem, in specie deutschem Blut. Er habe Gortschakoff einmal gesagt: „Könnten Sie sechzehn Stunden hintereinander arbeiten, wenn Ihre Mutter nicht eine Deutsche gewesen wäre?“ Er war behaglich und tatenlustig, rauchte drei Pfeifen hintereinander, was immer ein Zeichen von Wohlbefinden, wir saßen bis 8 ½ Uhr, ohne es zu merken. 84

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Die Komtesse vertritt jetzt ganz die kranke Mama und hat sich augenscheinlich zur Aufgabe gemacht, ihren Eltern etwas zu sein und zu leisten. „Der Karlistenkrieg wäre längst zu Ende, wenn die spanischen Regierungstruppen das wünschten, allein die Generale finden die Fortführung der Campagne bequemer und lukrativer. Ich würde, wenn provoziert, das alles gern im Reichstage sagen.“ Es folgte eine parlamentarisch sehr bewegte Zeit, wo die Beratungen über die Strafgesetznovelle stattfanden, ohne daß Bismarck ‒ damals unwohl ‒ sich an der Diskussion beteiligte. Schließlich wurde der Arnim-Paragraph angenommen ‒ gegen die Stimmen vom Zentrum und Fortschritt. 27. Januar. Erregte Diskussion beim Sozialdemokratengesetz. Lasker und Bamberger vertreten dabei ihre eigene Ansicht mit ihrer Dialektik, während innerlich wohl neun Zehntel ihrer Fraktion mit den Anschauungen der Rechten harmonierten, ohne zu wagen, mit ihr zu stimmen. Auch die Gründergeschichten spielten wieder eine gewisse Rolle in den Diskussionen. Es waren zwei Berichte Bismarcks an Se. Majestät über Graf Harry Arnim publiziert worden, welche großes Aufsehen machten und Bismarck natürlich erhöhte Gegnerschaft zuzogen, da am Hof vielfach für Arnim Partei genommen wurde. Ihre Majestät sei vorsichtiger geworden, seitdem sie wisse, daß Bismarck ihre Konspirationen genau kenne. Das Reichseisenbahnprojekt wurde damals laut und fand bei Miquel bereitwillige Unterstützung, während Graf Bethusy-Huc ganz Feuer und Flamme dafür war. 7. Februar. Diskussion über den Parlamentbau. Mein Antrag, welcher sich gegen das Projekt Kroll richtete, wurde mit großer Majorität angenommen. (S. Anlagen, S. 476.) 9. Februar hielt Bismarck bei Gelegenheit der dritten Lesung des Sozialistengesetzes (§§ 130 und 131 des R. St. G. B., Institut der Ehe, Familieneigentum) eine große Rede über äußere Politik und die gewerbsmäßige Lüge und Verleumdung, welche Krieg und Mißtrauen gegen Deutschland predige. Ihren Ursprung habe dergleichen oft in den Salons hoher Personen, welche unerfahrene Diplomaten als lautere Quelle behandelten. Man brüte solche Enten in der Korrespondenz Havas aus, und da man im Ausland keine deutschen Zeitungen lese, nehme man dergleichen als bare Münze. In deutschen Zeitungen wiederum bekümmere man sich mehr um auswärtige als wie um heimische Politik. So sei im vergangenen Frühjahr absolut keine Rede gewesen von einer Kriegsgefahr, die „Post“ aber habe ganz recht gehabt, auf die bedrohlichen Rüstungen Frankreichs hinzuweisen. „Die betreffenden 85

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Salons stehen den Anschauungen des Abgeordneten Windthorst näher wie den meinigen.“ Als Windthorst ihn zu provozieren versuchte, auf die orientalische Frage einzugehen, antwortete Bismarck mit einer äußerst graziösen Wendung gegen Simson (welcher gerade aushilfsweise präsidierte, weil Forckenbeck aus Anlaß des Todes seiner Frau abwesend war): „Aus Achtung vor meinem langjährigen Präsidenten kann ich mich nicht so weit von dem Gegenstand der Tagesordnung entfernen. Schon der geographischen Lage Deutschlands gemäß wird es der letzte Staat sein, welcher in einen orientalischen Krieg verwickelt werden könnte.“ Am nächsten Abend bei Bismarck wurde erzählt, daß bei seiner Rede Graf H. Arnim und der Flügeladjutant Radziwill in der Hofloge gewesen seien; der bayrische Gesandte Perglas und Gontaut seien in der Wilhelmsstraße sich begegnet und lange ‒ in einen Hausflur tretend ‒ in lebhafter Konversation gewesen; die Kaiserin habe in der Bonbonniere den Fürsten Hohenlohe-Langenburg gefragt: es sei wohl recht schlimm und hart gegen das Zentrum gewesen ‒ worauf Bismarck meinte: „Nun, gegen sie selbst war es auch gerichtet. Sie, die Königin von Holland, Marie Radziwill, die Fürstinnen Kotschubei und Trubetzkoi gehören alle zu der internationalen Clique, welche Kriegslärm verbreiten. Sie alle mögen es sich annehmen.“ Am 10. Februar abends wurde der Reichstag mit einer kurzen, aber freundlichen Dankrede seitens des Fürsten geschlossen. Die §§ 130 und 131 waren abgelehnt, und damit war der Versuch, die Sozialdemokratie auf dem Boden des gemeinen Rechts zu bekämpfen, gescheitert. Der preußische Landtag wurde am 16. Januar durch Camphausen eröffnet. 11. Februar bei Bismarck. Er sprach mit wahrem Ingrimm über die Versuche, eine neue Orthographie einzuführen. Er werde jeden Diplomaten in eine Ordnungsstrafe nehmen, welcher sich derselben bediene. Man mute dem Menschen zu, sich an neue Maße, Gewichte, Münzen zu gewöhnen, verwirre alle gewohnten Begriffe, und nun wolle man auch noch eine Sprachkonfusion einführen. Das sei unerträglich. Beim Lesen auch noch Zeit zu verlieren, um sich zu besinnen, welchen Begriff das Zeichen ausdrücke, sei eine unerhörte Zumutung. Ebenso sei es Unsinn, Deutsch mit latei­nischen Lettern zu schreiben und zu drucken, was er sich in seinen dienstlichen Beziehungen verbitten werde, solange er noch etwas zu sagen habe. Er werde das zur Kabinettsfrage machen, wenn Falk auf diesen Schwindel einginge. Es wurde eingewandt, daß Falk nicht der Vater dieser Reformbewegung sei, sondern daß er durch seine Maßnahmen versuche, der schon vorhandenen Konfusion und Willkür Einhalt zu tun. Es bestehe jetzt der Mißstand, daß 86

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auf derselben Schule in den verschiedenen Klassen eine verschiedene Orthographie gelehrt werde, und das wolle man abstellen durch Aufstellen fester Regeln. Ob die von der Konferenz aufgestellten Regeln und Thesen richtig seien, wäre natürlich eine andere Frage. Er beruhigte sich auch einigermaßen allmählich. Ungehalten war er auch darüber, daß man ihm neulich im Reichstag bei Gelegenheit der Diskussionen über die Strafgesetznovelle das Recht bestritten habe, über Paragraphen zu reden, welche in der zweiten Lesung abgelehnt worden waren (§§ 130 und 131, sogenannte Kautschukparagraphen). Miquel und Lasker hätten ihn nicht wollen zu Worte kommen lassen, weil sie gefürchtet hätten, er werde Dinge sagen, welche ihnen für die nächsten Wahlen unangenehm sein könnten. Er habe Miquel gleich seine böse Absicht angesehen, er habe bleich und aufgeregt ausgesehen. Lasker werde seinen Meininger-Sitz verlieren, wenn Bismarck gegen ihn operieren wolle. Wäre ihm das Wort versagt worden, so würde er weggegangen sein und den Reichstag nicht wieder betreten haben. Er ist merkwürdig reizbar und empfindlich. Auf die Bemerkung: „Man kann wohl vergeben, aber nicht vergessen,“ meinte er: „Das ist sehr richtig! Wenn ich schlaflos im Bett liege, kommen mir oft Gedanken über ungesühntes Unrecht, das mir vor dreißig Jahren widerfahren ist. Dann werde ich förmlich heiß darüber und träume im Halbschlaf von der nötigen Abwehr. So denke ich noch an die rohen Mißhandlungen im Plamannschen Institut, wo man Kinder von acht bis zwölf Jahren mit Rappierstößen morgens weckte. Die Lehrer waren aus der rousseauschen Naturschule und haßten außerdem die adligen Jungen.“ „Wenn ich gut schlafe, träume ich von Tannenschonungen, die frischgrün im Frühjahr stehen, feucht vom Regen lange Triebe machen ‒ dann wache ich ganz erfrischt auf.“ „Wrangel hatte mir während des Schleswigschen Krieges verschiedene Ungelegenheiten gemacht und ich sprach deswegen nicht mehr mit ihm, obschon ich bei vielen Hoffestlichkeiten, die ich damals noch besuchte, häufig neben ihm saß. Nach einer solchen kam er auf dem Potsdamer Bahnhof auf mich zu und sagte: Sie können wohl nie vergessen? Worauf ich kurz antwortete: Nein, Exzellenz! Dann kam er nochmals heran und meinte: Können Sie auch nicht vergeben? Darauf sagte ich: Ja! Wir schüttelten uns die Hand und sind seitdem einig geblieben.“ Der alte General von Peucker (kürzlich gestorben) war zu Bismarcks erster Zeit in Frankfurt ein etwas pedantischer, eitler, aber doch gescheiter, liebenswürdiger Mann, der gern von seiner Karriere erzählte, wie er durch 87

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eigene Anstrengungen emporgekommen und auf dem Schlachtfeld geadelt worden sei. In Rußland sei ihm sein Pelz im kaiserlichen Vorzimmer gestohlen worden und er habe bei 28 Grad Kälte im Frack reiten müssen. Orden haben ihm die größte Freude gemacht, morgens habe er nur den Johanniter getragen und mit jeder späteren Toilette einen Orden hinzugefügt, dabei Betrachtungen angestellt, wie man sie am schönsten und zweckmäßigsten gruppiere. Er (Bismarck) habe ihn einmal bei dieser Beschäftigung getroffen, der Diener habe ihn abweisen wollen, aber Peucker, welcher seine Stimme erkannt hatte, habe ihn eintreten lassen und bei seiner Beschäftigung um Rat gefragt. 17. April. Bismarcks neuliche Rede veranlaßte die Kreuzzeitung, welche sehr scharf darin verurteilt wurde, auf die Kriegsgerüchte vom 8. April 1875 zurückzukommen und auf die damalige Mithilfe. Die Deklarantenbewegung knüpfte sich gleichfalls an jene Rede. Aegidy erzählte, der damalige Postartikel habe sämtliche Zeitungen durchlaufen, ohne auf die Börse im Geringsten einzuwirken, erst vier Wochen später sei das geschehen, als ein Timesartikel, von Blowitz in Paris geschrieben, Kriegslärm hervorgerufen und auf die in Berlin herrschende kriegerische Stimmung hingewiesen habe. Eine Frau von Polignac und eine Prinzeß Radziwill haben nach Paris kriegerisch geschrieben, und Lord Lyons, ein Schwager des ultramontanen Herzogs von Norfolk, habe diese Nachrichten weiter kolportiert, welche willig in Paris und London, weniger in Petersburg und Wien geglaubt worden seien. Der Kaiser von Rußland kam nicht hierher, um Frieden zu stiften, er wußte, daß er nicht bedroht war. Die Kreuzzeitungsartikel und die Deklarantenbewegung schien Bismarck geneigt zu ignorieren, obschon er die einzelnen Namen sich wohl gemerkt hat. 19. April bei Bismarck zu Tisch. Die eben erfolgte Ernennung von Graf Otto Stolberg zum Botschafter in Wien erregte großes Aussehen und auch Billigung. Bismarck äußerte sich sehr interessant darüber. Er sieht in Stolberg seinen Nachfolger, den künftigen Kanzler. Ihm habe noch Erfahrung in der auswärtigen Politik gefehlt und Wien als deutscher Ort sei für Stolberg am passendsten, da er wohl nicht viel Sprachkenntnisse habe. Er lege darauf auch wenig Wert, das seien Fertigkeiten der Kuriere und Oberkellner. Früher habe man im diplomatischen Dienst französische Berichte machen müssen und leicht den Sinn dem geläufigen Ausdruck geopfert. Jetzt würden alle Berichte und Noten deutsch geschrieben. Stolberg gebe durch seinen Charakter dem Ausland die Garantie, keiner Lüge und keiner niedrigen Intrige fähig zu sein. In Wien habe man Keudell gewünscht, welcher aber in Rom auch ganz an seinem Platze sei. Dem Kaiser sei Keudell noch zu jung 88

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zum Botschafter und die Ernennung sei noch nicht vollzogen. Der Kronprinz habe Hohenlohe-Langenburg gewünscht, welcher zwar noch nicht diplomatisch tätig gewesen, aber ein zuverlässiger Charakter sei. Dem Kaiser sei auch Langenburg zu jung gewesen, allein gescheiter, als man mit vierzig sei, werde man überhaupt nicht. Delbrück mache bei den Justizgesetzen und in Etatsfragen wieder Weiterungen, indem er die liberale Seite unterstütze. Der Kronprinzeß, welche halb scherzhaft bemerkte: er wünsche wohl Präsident der deutschen Republik zu werden, antwortete Bismarck: „Hier zu Lande gibt es nur Royalisten, welche sich als Vasallen der Krone fühlen. Hüten sich die Träger der Krone, diese Gefühle zu zerstören!“ Bismarck war damals sehr erbittert über Richters gegen ihn persönlich gerichtete Angriffe im Parlament und in der Presse. Er hielt sie zum Teil für angestiftet von Camphausen, sicher mit Unrecht. Als ich mich vor der Abreise nach England bei ihm empfahl, meinte er: „Sagen Sie Lord Derby, er solle nicht so ängstlich mit dem Suezkanal sein.“ 24. April. Auf der Fahrt nach Berlin treffe ich Graf Karolyi, welcher von der Auerhahnbalz zurückkam vom Thüringer Wald. In Halle stieg noch Marineminister v. Stosch ein. Letzterer sehr präokkupiert durch eine Notiz in der Kölner Zeitung über Delbrücks bevorstehenden Rücktritt. Er habe am meisten mit ihm geschäftlich zu tun und sei folglich sehr interessiert, wer sein Nachfolger werde. Er meinte: Puttkamer, ich nannte als möglich Burchard und Graf Botho Eulenburg. Ersterer leuchtete ihm sehr ein. Achenbachs Leistungsfähigkeit im Eisenbahnressort schien er zu bezweifeln. Abends bei Bismarck. Der Fürst war müde und mit Kopfschmerz nach einer Unterredung mit Bennigsen zu Bett gegangen. Graf Holnstein, der bayrische Hofstallmeister, welcher bei Perglas zu Tisch gewesen war, erzählte, dieser sei ganz erregt gewesen über die Nachricht, Delbrück habe aus Gesundheitsrücksichten um seine Entlassung gebeten und sie auch erhalten. Die Fürstin widersprach nicht. Delbrück habe sich schon längere Zeit kaputt gefühlt, wolle sich nicht durch eine neue Reichstagsession gänzlich auspressen lassen und gehe ab, um sich seiner Gattin (D. hatte sich kürzlich mit der verwitweten Frau von Dycke, geborenen v. Pommer-Esche, vermählt) noch einige Jahre zu erhalten. Die Sache ist also richtig. 27. April. Zu Tisch bei Bismarck ‒ wo der an Krebs kürzlich operierte Graf Wartensleben. Nach Tisch sprach B. lange und behaglich über Delbrücks Rücktritt. Delbrück hatte direkt an den Kaiser sein Entlassungsgesuch gerichtet und ihm nur Mitteilung davon gemacht. Gleichzeitig habe er sich im Bundesrat empfohlen und die Sache in die Zeitungen gebracht, so daß ihm zu einer Intervention gar nicht Zeit und Möglichkeit geblieben sei. 89

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Möglicherweise habe ihn gekränkt, daß Camphausen zu Königs Geburtstag das Großkreuz des Roten Adler erhalten habe und er nicht. Er habe dergleichen Wünsche sich nie merken lassen, darum wisse man nicht, ob er sie gehabt habe. Es sei auch möglich, daß er sich wirklich erschöpft und in seinen Kräften rückgängig fühle: Abnahme des Gedächtnisses und dergleichen. Delbrück hätte, seine während der letzten Session gehaltenen Reden lesend, einen Rückgang konstatiert und sich nicht alternd im Amt halten wollen, habe Besorgnisse vor einem Schlaganfall gehabt. Er (Bismarck) habe diese Besorgnis seit Jahren und bleibe doch im Amt, weil der Kaiser sein Gehen als Fahnenflucht auslegen würde. Der Kaiser wolle abdizieren, wenn er ginge, darum bliebe er. Delbrück ginge, um sich keine Blößen zu geben. Der Kaiser habe ihm Delbrücks Brief nicht vorgelegt, vielleicht stände etwas für ihn (Bismarck) Unangenehmes darin, ebenso wenig habe er das Antwortschreiben gesehen. Demnach schien Bismarck selbst von dem Abschiedsgesuch überrascht zu sein. Den Parlamentsbau scheint Bismarck dilatorisch zu behandeln, er wünscht allerlei Änderungen am Plan und schlägt jetzt vor, ihn mitten auf die Königgrätzerstraße zu setzen. Im neu angekauften Radziwillschen Palais wird eifrig umgebaut und renoviert. 29. April 1876. Über die Neubesetzung von Delbrücks Posten schwirren zahlreiche Gerüchte. Hoffmann, Burchard, Bennigsen, Miquel, Achenbach, Eulenburg werden genannt. 7. Mai. Hoffmann war inzwischen zu Delbrücks Nachfolger ernannt. Bei Bismarck diniert mit Eulenburg und Graf Lehndorff. Bismarck klagte über die vielen Schwierigkeiten, welche Camphausen ihm mache, er werde ganz aus dem preußischen Ministerium ausscheiden, die Schwierigkeit sei aber dann wegen Führung der preußischen Stimmen. Er wolle Hoffmann und Bülow Sitz und Stimme im preußischen Ministerium geben, was aber Camphausen bekämpfe, weil Hoffmann kein Preuße sei und kein preußisches Ressort führe. Albedyll sei in Militärkabinettssachen Politiker, aber in die preußische Schablone passe es nur, dergleichen für Preußen auszunutzen. Bismarck will nächste Woche nach Lauenburg. Wir sollten im Abgeordnetenhaus nicht versuchen, ein neues Programm aufzustellen, sondern einfach mit den Neukonservativen in einem Klub zusammentreten. In der kurz darauf folgenden Fraktionssitzung der Freikonservativen wurde aber ein solches Vorgehen mit allen gegen fünf bis sechs Stimmen abgelehnt. 90

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12. Mai bei Bismarck, welcher eben die beiden Kanzler von Österreich und Rußland bei sich gehabt hatte, das heißt Andrassy hatte da diniert, während Gortschakoff stets allein ißt, nur weiche Sachen genießend wegen seines mangelhaften Gebisses. Die Damen waren von Andrassy sehr charmiert. ‒ Bismarck erschien erst gegen 11 Uhr, ziemlich ermüdet von der langen Unterhaltung „in fremden Zungen“. Gortschakoff werde bis Sonnabend nicht fertig werden und wünsche einen europäischen Kongreß. Auf die Frage der Fürstin, was das bedeute, ging er nicht ein. „Davon sprechen wir heute nicht,“ sagte aber doch: dann würden Derby und Décazes auch erscheinen. Bismarck hatte den neuen türkischen Botschafter Edhem Pascha besucht und erst für einen Diener gehalten. Derselbe habe ängstlich mit gefalteten Händen und niedergeschlagenen Augen vor ihm gesessen, wie es die Etikette sei dem Sultan gegenüber. Als er ihm gesagt habe, der Gouverneur von Salonichi verdiene den Tod ‒ peine de mort ‒, habe er ihn ganz erschrocken angesehen. Die Bestrafung des Pöbels bedeute nichts. ‒ Im Ganzen war er guter Stimmung. Ich wollte mich empfehlen, beide meinten aber, sie hofften mich noch Sonnabend zu Tisch zu sehen. Es sei zwar Diner beim Kronprinzen, allein da er morgen bei Sr. Majestät diniere, werde er sich wohl entschuldigen können. Am 14. dinierte ich mit dem neu ernannten Minister Hoffmann bei Bismarck. Bismarck hatte sich eben beim Kaiser von Rußland empfohlen und war dem Fürsten Dolgorucki auf der Treppe begegnet. Auf die Frage, wie es ginge, hatte Bismarck geantwortet: „La politique bien, la santé mal“ ‒ worauf Dolgorucki antwortete: „Je préférerais le contraire.“ Die Geschäfte seien eigentlich beendet, da aber beide Kanzler ihn noch allein zu sprechen wünschten, so vermute er, sie hätten noch etwas auf dem Herzen. Zur letzten Konferenz wurden auch die Botschafter von England, Frankreich und Italien zugezogen. Bismarcks Reise nach Lauenburg schien noch unbestimmt. Hoffmann wünscht seinen Garten und Wohnung zu erhalten, wie sie sind. Er macht einen biegsamen, unsicheren Eindruck. Camphausen opponiert seinem Eintritt ins preußische Ministerium. Bismarck meinte: „Ich werde von Camphausen, Achenbach und Friedenthal im Ministerium überstimmt, indem sie sich vorher verständigt haben. Falk stimmt mit mir.“ 24. September Varzin. 25. Um 8 ½ Uhr vormittags nach Schlawe 4 Uhr nachmittags, 344 Kilometer, per Post 26 Kilometer über Quassow, Kusserow, Wusterwitz, Wussow 91

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nach Varzin, wo 6 Uhr abends Ankunft. Familie beim Diner, zu Besuch Graf und Komtesse Bismarck-Bohlen. Fürst etwas magerer, aber gut und frisch aussehend. „Ich muß ’raus aus dem Bundesrat, will meine Kräfte am Kampf mit den Kollegen nicht verbrauchen. Bin jedes Mal im Herbst besser als im Frühjahr nach Berlin zurückgekehrt, aber doch immer weniger gut als im Vorjahr; man erschöpft das Kapital in steigender Progression. „Im Bundesrat bin ich nur Exekutivbeamter. Bülow müßte Kanzler werden und ich nur die auswärtige Politik behalten, welche verfahren wird, sobald ich mich nicht darum bekümmere. Leute wenden sich direkt an den Kaiser, welcher immer gern sein eigener auswärtiger Minister sein möchte. Jetzt hatten sie Münster in London nervös gemacht, so daß er nach Ems einige Noten schrieb, England rüste und sei im Begriff, gegen Rußland loszuschlagen. Darauf verlangte der Kaiser, ich solle eine Drohnote an England erlassen, welches zum Frieden gezwungen werden müßte. Der Kaiser von Rußland ist darüber einige Tage früher von Ems abgereist, weil er längere Zeit zum Rüsten braucht. Die Russen wissen selbst nicht, was sie wollen, einen Tag Krieg, den anderen Frieden. Gortschakoff will nicht sterben, ohne einem europäischen Kongreß präsidiert zu haben, darum nach Bern zu gehen, habe ich aber keine Lust. Die Russen stellen auch immer Forderungen an uns, an andere Drohnoten zu richten, um die ungewöhnlichsten Ansprüche zu machen, während wir ihnen füglich die Vertretung der eigenen Interessen überlassen können. Warschau oder gar Krakau wollen wir gar nicht, obschon es uns bei verschiedenen Gelegenheiten geboten worden ist. Dagegen würde ich eine Grenzregulierung, welche Schlesien vor russischer Invasion sicherer stellte, nicht ablehnen. Das Gebiet müßte dann natürlich nicht inkorporiert, sondern für sich verwaltet und absolut regiert werden. Germanisiert par force. „Wenn Camphausen, welcher die meisten Schwierigkeiten macht, zurücktritt, möchte ich Friedenthal an seiner Stelle sehen, der geht auf Ideen ein und ist ein fähiger Mensch. Die Organisation im preußischen Ministerium und Reichskanzleramt gehen das Parlament, abgesehen von Geldbewilligungen, gar nichts an. Ich möchte den Reichsministerien Inhalt geben dadurch, daß die Minister Träger preußischer Ministerien wären. Man könnte zwei Finanzminister haben, wovon der eine, der Preuße, die rein fiskalische administrative Leitung und der andere mehr die volkswirtschaftliche Seite der Sache verträte. Eigentlich sollte Achenbach das tun, allein er hat Camphausen gegenüber gar keine Stellung. „Stolberg macht seine Sache über Erwarten gut in Wien. Wenn er nicht will, braucht er kein Wort Französisch zu schreiben oder zu sprechen. 92

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„Kein Mensch weiß, wie widerstrebend der Kaiser zu den Taten, für welche er jetzt verherrlicht wird, hat gezwungen werden müssen, so damals in Ems Benedetti gegenüber. Er unterliegt jetzt ganz den Einflüssen der Kaiserin und Großherzogin von Baden, welche wieder klerikalen Einflüssen zugänglich sind. So machen sie mir im Elsaß allerlei Schwierigkeiten ‒ gegen Möllers entschiedenen Rat.“ 26. September. Varzin. Heute vierstündigen Ritt mit dem Fürsten, Komtesse und Grafen Herbert bei herrlichem, mildem Wetter durch die sehr hübsche Landschaft gemacht. Bei Tisch kamen drei lange chiffrierte Telegramme, welche Graf Herbert schnell übersetzte und die augenscheinlich einen kriegerischen Charakter hatten. Bismarck meinte, der Kaiser würde ihn wieder nach Baden telegraphieren und dann werde er unfähig für Geschäfte für den ganzen Winter sein. Der Kaiser sei jetzt leicht in seinen Entschlüssen zu bestimmen und sehr vergeßlich. Niemand wüßte, welche Schwierigkeit es gemacht habe, ihn zum französischen Krieg zu bringen. Er habe in Ems Benedetti alles konzediert, was jener gefordert habe. Das betreffende Telegramm habe er (Bismarck) in Berlin empfangen, gerade wie Moltke und Roon bei ihm diniert haben. Beide hätten die Gabeln hingelegt und nicht mehr essen mögen. Es sei ein zweites Olmütz schlimmerer Art gewesen. Er habe dann aus dem fünfzig Zeilen langen, zur Publikation bestimmten Telegramm ein solches von vier Zeilen gemacht und publiziert, was wie eine grobe Abweisung französischer Überhebung geklungen und zum Krieg geführt habe. „Der Kaiser hatte Benedettis Forderung nicht nur darin nachgegeben, daß er die Zollernkandidatur auf den spanischen Thron zurückzog, sondern auch auf eine Erneuerung derselben verzichtete.“ Ich fragte ausdrücklich: „Also ist es ein Irrtum, daß man annimmt, gerade an dieser weitergehenden Forderung sei die kriegerische Wendung eingetreten?“ Bismarck bestätigte ausdrücklich: „Die Aufgabe der Zollernkandidatur war schon eine schmähliche Niederlage und ich wollte damals resignieren wegen der Blamage und dem Kaiser überlassen, wie in jenem Entschluß, so auch im weiteren Verlauf der Sache sein eigener auswärtiger Minister zu sein. „Der kriegerische Enthusiasmus auf der Reise bis Brandenburg hatte gar nicht auf den König gewirkt. Ich mußte ihm erst klarmachen, daß das spätere Telegramm eine Kriegserklärung enthalte, und dann erst erfolgte die Mobilisierung. „Die Dinge, für welche er jetzt verherrlicht wird, habe ich ihm mühsam abgerungen. „Die Leute hier begreifen nicht, daß man menschenmüde sein kann, nachdem man Jahre das höchste Gefühl persönlicher Verantwortlichkeit getragen 93

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hat, mit der aufregenden Unsicherheit über das zu ermattende Resultat und über die Richtigkeit der eigenen Entschlüsse.“ Es war eine hochinteressante Unterhaltung, welche ich jetzt unmittelbar danach ihrem Inhalte nach niederschreibe. Über den Inhalt der chiffrierten Depeschen sagte Bismarck nur, sie seien kriegerisch, uns gehe es aber nichts an. Gleichzeitig kam ein Privatbrief von Graf Münster, welcher, bei einem Eisenbahnunfall in Hannover verletzt, des russischen Generals Erkert Besuch in Varzin ankündigt. Erkert sei vor zehn Tagen noch in Livadia mit Kaiser Alexander gewesen. 25. bis 28. September in Varzin. Am ersten Abend kam ein chiffriertes Telegramm an, welches die Ankündigung Rußlands enthielt, die Bulgarei zu besetzen, um Garantien für ernste Reformen in der Türkei zu gewinnen. Bismarck meinte, für uns könne bei den Orientwirren nur die Frage auftauchen, sich von Rußland Elsaß garantieren zu lassen und die Kombination eventuell zu benutzen, die Franzosen nochmals gründlich zu verarbeiten. Dazu würde man aber Se. Majestät nicht bekommen. Jolly in Baden sei ungnädig entlassen worden, wahrscheinlich infolge von Weiberintrigen, die Großherzogin stehe auch unter ultramontanem Einfluß. Betreffs des Parlamentsbaues hat das Ministerium beschlossen, den Antrag auf Überlassung des sogenannten Lennéplatzes abzulehnen als Schädigung des Tiergartens. Dagegen das deckersche Grundstück vorgeschlagen. Er wisse noch nicht recht, wie er sich zu der Frage verhalten solle, das Staatsministerium ginge es eigentlich nichts an. „Es war ganz gegen meinen Willen, daß mich Se. Majestät zum Fürsten machte; früher war ich ein reicher Graf, jetzt bin ich ein armer Fürst. Er müsse sparen, was vielfach als Geiz ausgelegt wird. Früher ließen auswärtige Minister sich von den fremden Mächten schmieren und bekamen von Österreich und Rußland regelmäßigen Gehalt. Als ich Minister wurde, bot mir der Bankier Lewinson (?) dreißigtausend Taler jährlich an; ich wollte es schriftlich haben, er aber meinte: ‚Sie wissen ja doch, so was macht man nicht schriftlich.‘“ Moustier hatte in Berlin früher eine dominierende Stellung und dirigierte das Auswärtige Amt. Als ich ihm auf einer Durchreise hier einen Besuch machte ‒ auf Manteuffels Wunsch ‒, versuchte er mir Lektionen zu geben (es war während des Krimkrieges) und schloß damit: „meine Politik werde Preußen zu einem zweiten Jena führen,“ worauf ich antwortete: „Warum nicht nach Leipzig?“ Moustier war wütend und hat sich über mich beschwert. So standen damals die preußischen Minister! 94

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Vom Hannoverschen Provinziallandtag wurde ein Beschluß gemeldet, das Ersuchen zu stellen, die Beschlagnahme des königlichen Vermögens aufzuheben ‒ worüber er sehr ungehalten war. Die zwei Eulenburgs spielten gern die noblen Leute, das sei aber hier nicht angebracht, sondern töricht. Wir machten drei- bis vierstündige flotte Ritte durch den Wald, und er war sehr munter und ausdauernd dabei, temperamentvolle Pferde reitend. Bismarck sprach sich für weitere Kooperation mit den Nationalliberalen aus, welches doch die vernünftigste Partei sei. Was wolle eine opponierende konservative Partei einer konservativen Regierung gegenüber? Der Aufenthalt war durchweg angenehm und höchst interessant. 30. November. Bismarck und Familie seit acht Tagen wieder in Berlin. Er hat seine Ankunft beschleunigt wegen des Marquis von Salisbury, welcher mit großem Train am 22. hier eintraf. Er hatte mit seiner Umgebung bei Bismarck diniert und sehr günstigen Eindruck gemacht. Salisbury sei eine echt normannische Erscheinung, ruhig, wenig und klar sprechend. Die Frau sei klein, nicht so hoher Abkunft, anscheinend aber sehr nett. Die auswärtige Politik sei nicht sein Geheimnis, er könne nur über die deutsche Auskunft geben, und die ginge dahin, eine völlige Neutralität zu beobachten. Die Russen wären in der Lage eines gesättigten Mannes, welcher ein einmal bezahltes Beefsteak noch aufäße ‒ weil es bezahlt sei. Nach den großen gemachten Rüstungen würden sie auch zum Krieg schreiten. Der Kaiser wolle, von Ihrer Majestät beeinflußt, die Pariser Ausstellung beschicken, während er keine Lust dazu habe und es weder politisch noch wirtschaftlich richtig finde. Wer bürge dafür, daß der Kronprinz nicht, wenn er in seiner Kürassieruniform erschiene, dort insultiert würde? Das Zustandekommen der Justizgesetze sei nicht besonders wichtig, er werde im Bundesrat die preußischen Stimmen führen und der Reichstag möge sich dann schlüssig machen, ob er annehmen wolle oder nicht. Wenn die fortschrittlich Liberalen bei den nächsten Wahlen noch erheblichen Zuwachs erhielten, würde es überhaupt mit der Gesetzgebung bald aus sein. Die deutschkonservative Bewegung habe mit dem Fehler begonnen, die freikonservative zu bekämpfen, damit sei eben nichts zu machen. Wenn er sich aus Berlin zurückzöge, werde er in Hamburg sich ein Haus anschaffen. Gestern war er etwas verkältet und klagte über Magenkatarrh, dabei aß er eine Menge Äpfel und trank Soda mit Kognak dazu. 17. Dezember. Die letzten Tage verliefen unter eifrigen Kompromißverhandlungen über die Justizgesetze. Die Campagne begann mit einem Diner bei Bismarck am 13., dem nur Bennigsen und ich beiwohnten. Nachdem ihm die nationale Seite der Sache sehr eindringlich, aber vorsichtig von 95

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Bennigsen betont war, erging sich Bismarck zunächst in Beschwerden darüber, daß ihm wieder die a l l e i n i g e Ve r a n t w o r t u n g zugeschoben werde über den Ausgang der Sache, während die preußischen Minister, deren Sache es doch sei, die Regierung zu vertreten, jedem Druck von oben oder unten nachgäben. Er wolle nicht mehr verhandeln. Die Stellung der Regierung sei durch Ministerialbeschlüsse und durch die kaiserliche Sanktion festgelegt. Er könne nicht um ein Haarbreit mehr nachgeben, und wenn Bennigsen von neuen Behandlungen spreche, so seien damit doch nur neue Zugeständnisse gemeint, welche er nicht machen könne. Der Schlüssel seiner Position sei in den Händen des Kaisers. Mit Leonhardt weiter zu verhandeln, könne zu nichts führen, man habe ihn schon bis zum Äußersten gedrängt, so daß er selbst keine Freude mehr an seinem Werke habe. In über vierhundert Punkten habe die Regierung nachgegeben, nun sei die Reihe am Reichstag. Ich ließ 7 ½ Uhr den Kanzler und Bennigsen allein, nachdem Bismarck sich einigermaßen beruhigt hatte und anfing, auf eine wirkliche Besprechung der einzelnen Punkte einzugehen. Ich ging unter dem Eindruck, daß alles in die Reihe kommen werde, und so ist es auch geschehen. Es handelte sich um die Zivil- und die Strafprozeßordnung. Am 15. Dezember abends war Feldmarschall Manteuffel anwesend. „Er sei demonstrativ erschienen, weil man wieder einmal versuche, sie beide zu verhetzen. Im Figaro stände eine Geschichte, wonach der Kanzler ihm schuld gegeben haben solle, er habe sich während der Okkupation von den Franzosen mit zehntausend Louisdor bestechen lassen. Von den Hofintrigen und den Preßbeziehungen dieser Kreise zu der Reichsglocke übergehend, meinte er: nach zwanzigjährigem Hofleben sei man dumm oder intrigant. Bismarck müsse zu Hofe gehen und wie der schwarze Douglas seine Vasallentreue zum Kaiser betätigen, indem er dreißig Höflinge erschlüge.“ Bismarck meinte: „Das werde wohl reichen, sei aber doch etwas zu ermüdend für ihn.“ Dann seien ja auch die Weiber die Hauptgegner, er sei des Kampfes längst müde und würde gern die erste schickliche Gelegenheit zum Gehen benutzen, so zum Beispiel jetzt den Abschluß der Justizgesetze, wo Eulenburg ihn im Stiche lasse, der Kronprinz putsche u. s. w. Manteuffel: „Autorität ist die Hauptsache, lassen Sie die Justizgesetze nicht scheitern, geben Sie aber auch keinen Gendarmen preis.“ Über die Armee sprechend, sagte Manteuffel: „Er habe bei Übernahme des Militärkabinetts die Offiziere in ihren Chargen durchschnittlich neun Jahre älter gefunden, als sie 1806 gewesen seien. Er habe mit Erfolg die Armee verjüngt, sich aber dabei natürlich viele Gegner gemacht. Er habe dabei fast den Glauben an die Mensch96

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heit verloren, sich aber immer wieder gesagt, nur Einzelne seien schlecht. Man miniere durch zu viel Dienst den Unteroffizier- und den Offizierstand, es sei das wiederum eine unabweisbare Folge der kurzen Dienstzeit, in welcher zudem eine viel intensivere Ausbildung erreicht werden müsse als früher. Man müsse die Einjährigen in zwei Klassen teilen und die studierten nur ein Jahr, alle anderen aber zwei Jahre dienen lassen. Wenn er jetzt jung wäre, würde er sich der parlamentarischen Tätigkeit widmen. Früher habe er die Justiz und ihre Beamten sehr geliebt, seitdem er aber einen Betrugsprozeß in allen drei Instanzen verloren habe, sei er überzeugt, daß die Richter parteiisch seien gegen Reiche und Vornehme.“ Über die Justizbeschlüsse wurde ein Kompromiß geschlossen, in welchem die Nationalliberalen in den von der Regierung als unannehmbar bezeichneten Punkten nachgaben. Sie hatten sich das ohne Not erschwert durch eine Reihe von namentlichen Abstimmungen in der zweiten Lesung. Jedenfalls kam damit ein großes politisches Ergebnis zustande auf dem Wege zur Rechtseinheit im Deutschen Reich. Am 21. Dezember erfolgte die Annahme des Gerichtsverfassungsgesetzes, der Zivil- und Strafprozeßordnung sowie der Konkursordnung in dritter Lesung. Am 22. schloß Se. Majestät persönlich den Reichstag mit einer höchst anerkennenden Thronrede. (S. Anlagen, S. 477 ff.)

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1877 Am 10. Januar fanden die Neuwahlen zum Reichstag statt. Ich wurde in Erfurt mit 8438 Stimmen gewählt, von 12.261 abgegebenen. 12. Januar in Berlin bei Bismarck zu Tisch. Bismarck hatte der Eröffnung des Landtags nicht persönlich beigewohnt, obschon Se. Majestät selbst ihn eröffnete. Er klagte über eine schlechte Nacht, er habe Furcht gehabt, zu kommen, und angefragt, ob er eventuell im Schloß den Lift benutzen dürfe, da ihm das Treppensteigen schwerfalle. Darauf sei ihm geantwortet: der Lift sei für Ihre Majestät reserviert, wenn er sich aber 11 ¾ Uhr pünktlich einfinden wolle, könne er ihn benutzen. Dann habe er befürchtet, sich zu verkälten, da man im Schloß bei dem milden Wetter die Heizung spare und das Warten in der dünnen Galauniform bedenklich sei. Er schien verstimmt zu sein, was auch bald zum Ausdruck kam, als bemerkt wurde, dem Kaiser habe bei Verlesung der Thronrede einige Mal die Stimme versagt, so als er seinen Dank aussprach für die allgemeine Teilnahme bei seinem siebzigjährigen Militärjubiläum und bei dem Passus über die Umgestaltung des Zeughauses zur Ruhmeshalle. „Infandum regina jubes renovare dolorem.“ „Da berühren Sie meinen wundesten Punkt. Ich habe auch die Natur, Dank und Vertrauen zu bedürfen, wo ich das Gefühl habe, mit der vollsten Hingabe meiner Kräfte das Äußerste geleistet zu haben. Alle Souveräne haben dasselbe Rezept in der Schätzung und Ausnutzung ihrer treuesten und talentvollsten Berater. Als man Louis XV. kondolierte wegen Colberts Verlust, des einzigen und bedeutendsten Finanzministers, sagte er: ‚Was tut’s, ich werde mir einen anderen heranbilden.‘ Unser König muß auch ein solches Rezept von Friedrich dem Großen haben. Er ist steinhart und kalt. Hat gar kein Dankgefühl, er hegt keine Dankbarkeit für mich, sondern er behält mich nur, weil er glaubt, ich könne ihm noch etwas leisten.“ Mich befremdete dieser Ausbruch im höchsten Maße. Gerade weil man als Fernstehender den durchaus entgegengesetzten Eindruck hat, daß selten ein Monarch so viel menschlich Gütiges, so viel selbstlose Anerkennung der Verdienste anderer hatte wie unser alter Herr. (Diese meine Ansicht haben spätere eigene Erlebnisse nur bestätigt. Es handelte sich bei solchen Äußerungen des Fürsten mehr um Ausbrüche momentaner Verstimmung als um ein ruhiges Urteil.) Als wir nach Tisch bei 98

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der Zigarre saßen, kam der Feldmarschall Graf Roon pustend und keuchend, atemlos an. Er brauchte wohl eine Viertelstunde, bis er sich erholte und sprechen konnte. Er litt an asthmatischen Beschwerden, welche, wie man sagte, durch einen seit Jahren vorhandenen, aber möglichst verheimlichten Kropf veranlaßt oder gesteigert wurden. Später kam Graf Moltke. Als Letzterer gemeldet wurde, fragte Bismarck den Diener in scharfem Ton: „Will er zu mir oder zur Fürstin? Jedenfalls lassen Sie ihn eintreten.“ Er empfing ihn dann aber sehr herzlich und meinte, ihn auf das Knie klopfend: „So haben wir drei zum letzten Mal zusammengesessen am 13. Juli 1870. Welches Glück war es, daß damals die Franzosen so weit gingen, wie schwer wäre es gewesen, eine andere gleich günstige Gelegenheit wieder zu finden! W i r h a b e n a n d e r b e n e d e t t i s c h e n D e p e s c h e n i c h t s v e r ä n d e r t , sondern sie nur etwas zusammengeschoben, um die französische Anmaßung in ihrer ganzen Stärke erscheinen zu lassen. Es war ja schon alles nachgegeben bezüglich der Hohenzollernkandidatur, und vielleicht hätte man, ohne die Zumutung auch für die Zukunft gleiches Wohlverhalten zu versprechen, noch mehr nachgegeben. Ich (Bismarck) frug Sie beide: ‚Sind wir fertig?‘ Sie sagten nicht, wie der französische Minister: ‚Wir sind archiprêts,‘ sondern nur: ‚Wir sind fertig.‘“ Roon rief dazwischen, archiprêts wäre französisch gewesen. Zu Moltke gewandt, sagte Bismarck: „In Frankreich haben wir dann noch manches Mal zusammengesessen und ich bin Ihnen oft mit Fragen lästig gefallen.“ Worauf Moltke lächelnd antwortete: „Nun, wir waren immer in der Lage, Befriedigendes antworten zu können.“ Roon beklagte sich über die Tyrannei seiner Frau, welche ihre Gesellschafterin Oppermann habe krank werden lassen, um selbst zu ihrer Tochter nach Kassel zu fahren. Moltke sagte: „Entweder steht der Mann unter dem Regiment seiner Frau oder er ist nicht glücklich. Der Zügel muß aber sanft sein, wenn es der richtige ist. Wir haben ja alle diese Erfahrung gemacht, ich habe sie leider zu früh verloren.“ Über die russischen Verhältnisse sprechend, meinten die Herren, es werde auf der europäischen Situation schwer lasten, wenn Rußland unbefriedigt aus der orientalischen Frage herausginge, dann mache sich die Unzufriedenheit woanders ein Loch. Nach der feierlichen Ankündigung des friedlichen Programms seitens Rußlands bis an die kleinsten Höfe wie Portugal sei es schwierig, davon wieder loszukommen. Der Degen sitze ihnen doch zu fest in der Scheide. Nachdem Roon gegangen war, zog sich Moltke mit Bismarck zurück zu einer offenbar geschäftlichen Besprechung, vermutlich im Auftrag Sr. Majestät. Bismarck hatte vorher wieder lebhaft davon geredet und geklagt, wie er seine Kräfte in den Kämpfen 1864 bis 1866 verbraucht habe. Nur der Wunsch, die verfahrenen wirtschaftlichen 99

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Verhältnisse wieder in die Reihe zu bringen, halte ihn im Amt fest. Er wolle in den Handelsverträgen keine Vorschriften für die heimischen Tarifsätze. Er wolle hohe Finanzzölle auf Zucker, Tabak, Wein, Spiritus, Kaffee etc. Indirekte Steuern besonders auf Bier. Ein Verbot, Bier ein Gebräu zu nennen, was nicht aus Malz und Hopfen sei, Wein, der nicht von Reben gewachsen. Camphausen sei gefügiger, seitdem Delbrück weg sei, aber die Geheimratsclique sei schrecklich in ihrem passiven Widerstand. Dem Grafen Guido Henckel sagte er beim Abschied: „Beruhigen Sie die Gallier, vorläufig fallen wir nicht wieder über sie her.“ Herrn von Deckers am selben Tag erfolgten Tod erwähnend, meinte er: Da tritt auch wieder die Frage des Ankaufs dieses Grundstücks für das Reich hervor. Das sind etwa acht Morgen, dagegen könnte man uns vier Millionen zahlen vom Reich für das Tiergartenterrain zum Parlamentsbau. Wir brauchen für Reichszwecke noch verschiedene Grundstücke, und sowie ich das ankündige, tritt eine Hausse in den Grundstücken ein. Dergleichen bleibt nie lange geheim, die Schreiber plaudern es aus. Bleichröder wolle ihn glauben machen, die Berliner Grundstücke rentieren nur mit zwei bis drei Prozent. „Als ich es wunderbar fand, daß man in einer Stadt so gern baue und Grundbesitz habe, wo die Sozialdemokraten die Hälfte der Stimmen haben, wurde er ganz betreten.“ „An diesem Resultat sind vor allem die Konservativen der Kreuzzeitung schuld, welche mich beim Schulaufsichtsgesetz im Stich ließen und zwangen, mit den Liberalen meine Gesetze zu machen.“ „Das ist alles sehr richtig,“ meinte Roon; „sind aber unsere neuen Gesetze nicht auch daran schuld?“ Bismarck räsonierte noch weiter über Kreuzzeitung und Deklaranten und schien mir mehr verstimmt als wie krank. Heute besuchte mich Lasker wegen der Präsidentenwahl im Abgeordne­ tenhaus. Sie würden Hänel, wenn vom Fortschritt präsentiert, ablehnen, wohl aber Petri oder Mühlenbeck akzeptieren, Bethusy dagegen die erste Vizepräsidentenstelle anbieten. Die Angriffe und Haltung der Fortschrittspartei bei Beratung der Justizgesetze im Reichstag seien unqualifizierbar. Er habe bisher diese Partei geschont um des Landes willen, so lange wie möglich. Wenn aber auch ferner in ihrer Presse jene Fragen in so demagogischer Weise behandelt würden, so sei ein anderes Auftreten der Nationalliberalen nötig ‒ sonst hätten sie und das Land den Schaden. Er habe bei der letzten Präsidentenwahl im Reichstag Hänel nicht bekämpfen wollen, um nicht für das Land eine Frontveränderung der liberalen Partei zu signalisieren, jetzt gehe das nicht mehr. 100

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Sie würden gern aus der Rechten einen Präsidenten wählen. Die Regierung habe bei Beratung der Justizgesetze selbst die Situation verfahren, weil Leonhardt und Bismarck es abgelehnt hätten, in der Kommission die letzte Position zu nehmen. Am 20. Januar verließ ich wieder Berlin, nachdem ich fast täglich bei Bismarck gewesen war. Die Schwankungen in der auswärtigen Politik beschäftigten ihn ausschließlich. Am letzten Tag aß ich da allein mit General Graf Lehndorff und Obernitz. Bismarck hatte eben Moltke einen Besuch gemacht und kam ganz erfrischt davon zurück. Er habe sonst keine Zeit für Höflichkeitsbesuche und wundere sich, daß ein Mann wie Moltke noch Zeit und Interesse habe, an dergleichen zu denken. Er habe erst lange warten müssen und sei dann von einem Soldaten in Drillichjacke durch eine lange Reihe dunkler Zimmer zu Moltke geführt worden, alles so kahl und komfortlos wie möglich. Den Inhalt seiner Konversation deutete er Sr. Majestät unseres Herrn, daß die Russen womöglich nicht marschieren. Sie fürchten unsere Intervention. Die Hetzerei der französischen Presse gegen unsere zweideutige Haltung in der Orientfrage kommt von der internationalen deutschfeindlichen Clique Beust, Chaudordy, den Orleans ‒ polnisch-französisch-legitimistische Einflüsse. Die Klaczkow-Blowitz in Paris machen diese Sache. Die Orleans stecken dahinter und die nicht offizielle Diplomatie bei den europäischen Höfen hilft mit. Man muß dagegen in den Zeitungen losgehen. Nicht die Franzosen, sondern die Pariser und die Orleans wollen wieder Krieg. Es folgte dann in den der Regierung näherstehenden Zeitungen eine entsprechende Kampagne. Die Prinzeß Karl hatte den Fürsten am Tage vor ihrem Tode noch einmal an ihr Bett rufen lassen, um Abschied zu nehmen, ihm für die dem Land geleisteten Dienste zu danken und zu bitten, sich auch ferner dem Lande zu erhalten. Diese Treue hatte den Fürsten tief gerührt. Die Kaiserin war, wie Graf Lehndorff erzählte, bei dieser Szene im halbdunklen Zimmer anwesend gewesen, ohne daß Bismarck sie bemerkt hatte. Es sei das als Absichtlichkeit gedeutet worden. Bismarck widersprach dieser Annahme entschieden und erzählte noch verschiedene kleine hübsche Züge von der inzwischen verstorbenen Prinzeß. Sie sei die einzige Prinzeß, welche wirklich Preußin geworden sei, ein patriotisch-militärisches Herz gehabt habe. In unserer Königsfamilie sei das immer so gewesen, die Weiber seien immer Ausländerinnen und antipreußisch geblieben und hätten eine eigene, feindliche Politik gemacht. 101

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Als ich mich mit dem Bemerken empfahl, ich würde zum Reichstag wiederkommen, meinte Bismarck: „Dann werden wir ihn umso früher berufen.“ 19. Februar. Abend bei Bismarck, wo nur von der Marwitz. Es war ein Herrenhausdiner gewesen und Bismarck kam spät, sehr munter, kritisierte das Diner ‒ man habe zu eng gesessen und zu viel Suppe und Süßigkeiten bekommen. Die Frage der Berlin-Dresdener Eisenbahn überlassen wir der schiedsrichterlichen Entscheidung der Austrägalinstanz. Stephan würde er schon zum Staatssekretär oder Verkehrsminister gemacht haben, wenn ihm dann noch ein Sporn bliebe. Er sei so schon etwas zu Eitelkeit und parvenühafter Kultivierung hoher Beziehungen geneigt. Er sei aber klug genug, Rektifikationen richtig aufzufassen und auch bittere Wahrheiten zu vertragen und anzunehmen. Wegen des eitlen Vortrags über Fremdwörter in der Singakademie werde er ihm noch seine Meinung sagen. Den Tod des alten Präsidenten Ludwig von Gerlach, welcher durch einen Reichspostwagen auf dem Potsdamerplatz überfahren worden war, erwähnte er, beifügend, Gerlachs letzte Rede über das Zeughaus sei eine geradezu schmähliche gewesen, es sei ein trauriger Schluß seiner parlamentarischen Tätigkeit. 22. Februar. Bei den Vorbesprechungen im Reichstag beteiligten sich die Sachsen und Württemberger in der konservativen Fraktion und Erstere scheinen dauernd derselben beitreten zu wollen. Es wurde eine Einigung zwischen Konservativen, Nationalliberalen und Freikonservativen herbeigeführt über die Präsidentenwahl, wonach Forckenbeck erster, von Stauffenberg zweiter und Fürst Langenburg dritter Präsident wurde. Damit war ein förmliches Kartellverhältnis zwischen diesen drei Parteien zum Ausdruck gebracht, was der Situation auch völlig entsprach. Die Majorität für die Regierung war durch das Zusammengehen dieser drei Parteien bestimmt. 1. März bei Bismarck zum Diner. Es wurde auffallend wenig über auswärtige und über wirtschaftliche Politik geredet. Der Reichstag würde keine wirtschaftlichen Steuervorlagen erhalten, nachdem derselbe seit zehn Jahren alle dergleichen Vorlagen abgelehnt habe. Man werde den Mehraufwand durch Erhöhung der Matrikularumlagen decken. „Für Berlin als den Sitz des Reichsgerichts könne er sich n i c h t an den Laden legen, nachdem der Bundesrat Preußen majorisiert habe.“ Demnach interessierte ihn diese Frage nur in mäßigem Grad, denn sonst wäre Preußen eben nicht majorisiert worden. 102

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Se. Majestät und der Kronprinz sollen sehr verletzt durch jenen Beschluß sein, daß man das Reichsgericht nicht nach Berlin legen wolle. Kommerzienrat Meckel aus Elberfeld ist sehr tätig, eine Agitation für eine Schutzzollpolitik zu organisieren. Er scheint zu wünschen, Delbrück als kundigen Fachmann zu gewinnen. Delbrück soll ausgesprochen haben, er schäme sich nicht, durch Erfahrung belehrt, seine Ansicht zu ändern und eine bessere Überzeugung mit Energie zu vertreten. Auch Friedenthal und Ministerialdirektor Burchard kämen dabei in Frage. Meckel hielt aber an Delbrück in erster Linie fest. In acht Tagen soll in Köln eine große Versammlung Industrieller stattfinden. 5. März zu einem höchst interessanten Diner bei Bismarck. General Ignatieff mit Gemahlin waren anwesend. Er ein slawisch-orientalisch, schlau aussehender, beweglicher Herr, etwa fünfzig Jahre alt. Sie eine sehr ladylike Dame, geborene Fürstin … Er hatte schon am Nachmittag eine lange Unterredung mit Bismarck gehabt, welche ihn vielleicht nicht völlig befriedigt hatte. Anwesend Legationsrat von Holstein, Obernitz, Oberlandforstmeister von Hagen ‒ bei Tisch war die Unterhaltung ganz allgemein. Frau von Ignattieff saß zwischen Bismarck und Holstein, eine sehr sympathische Erscheinung, aber etwas präokkupiert den Erfolg des Gemahls beobachtend und ihn zu fördern suchend. Nach Tisch okkupierte er den Fürsten gänzlich in leiser Unterhaltung, während Bismarck mit der Pfeife im Munde in seinem großen Lehnstuhl höchst gutmütig lächelnd dreinschaute. Holstein und ich saßen gegenüber, mit der Gräfin Eberhard Stolberg, geborener Prinzeß Reuß, konversierend, die ganze Zeit beobachtend. Ich hörte nur einmal, wie Bismarck ihm den schillerschen Vers zitierte: „Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein,“ und ihn dann ins Französische übersetzte, worin die Unterhaltung geführt wurde. Wir schlossen daraus, daß Ignatieff Zusicherungen wünschte, welche Bismarck ihm nicht machen wollte. Rußland mag den Krieg nicht wagen, lediglich auf eigene Kraft angewiesen, es begnügt sich nicht mit der Zusicherung wohlwollender Neutralität, sondern es will mehr aktive Unterstützung, sei es gegen die Österreicher oder die Westmächte. Es würde sich auch mit einem diplomatischen Erfolg begnügen, womöglich auf friedlichem Wege, da es sich des kriegerischen Erfolges nicht unbedingt sicher glaubt. Der entnervte Kaiser Alexander II. und der achtzigjährige Gortschakoff seien unentschieden und eher für den Frieden. Ignatieff ist ein geriebener, in der asiatischen Politik groß gewordener Diplomat, welcher jetzt die letzte 103

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Entscheidung an den europäischen Höfen suchen will. Er kommt von Wien und verschweigt, wohin er von hier gehen will, auch seine Gemahlin hat auf Holsteins unbefangene Frage ausweichend geantwortet. Bismarck war vorher beim Kaiser zum Vortrag gewesen, und die vor unseren Augen stattfindende Konversation war vielleicht von einer entscheidenden, welthistorischen Bedeutung. Prinz Reuß (Botschafter in Petersburg) holte Ignatieff nach 9 Uhr ab, und als er das Zimmer verlassen hatte, entschuldigte sich Bismarck scherzhaft beim Oberlandforstmeister von Hagen, daß er ihn so vernachlässigt habe, da „Europa durch das Zimmer gegangen sei“. Bismarck bedauerte dann, daß der Reichstag schon wieder auseinanderginge, allein es sei weder seine noch Hofmanns Schuld, daß der Etat noch nicht fertiggestellt sei. Wenn er aber nicht an dem einmal festgesetzten Termin, 22. Februar, festgehalten hätte, so würde er erst recht nicht fertigwerden. Die Geheimräte stritten untereinander herum, ohne an seinen Machtspruch zu appellieren, welcher jeden Widerspruch kurz kupieren werde. Richter und Hänel hätten wie ungezogene Jungen die Regierung heruntergemacht, wie man faule Dienstboten ausschelte. Die gestellte Interpellation wegen Reform der Gewerbeordnung werde er kurz abfertigen, man solle selbst Vorschläge machen, anstatt billige Kritik zu üben. Die Konservativen hatten vorher bei ihm deswegen angefragt, das hätten die anderen auch tun sollen. Wegen Sitzes des Reichsgerichts möge der Reichstag tun, was ihm gut scheine, er könne sich für Berlin nicht an den Laden legen. Die Gewerbeinterpellation ginge von den sächsischen Mitgliedern aus, welche ein gewisses Aktionsbedürfnis fühlten und durch ihre heimischen Verhältnisse dazu angeregt waren. 20. März. Seit acht Tagen spielt wieder eine intensive Ministerkrisis, veranlaßt durch die Etatsrede des Fürsten (10. März), worin er Stosch, den Chef der Admiralität, einer größeren Nachgiebigkeit gegen Richter als gegen den Kanzler beschuldigte. Stosch hatte in der Etatsberatung Forderungen von etwa 20 Millionen preisgegeben, welche vorher in den Verhandlungen mit dem Reichskanzleramt als unerläßlich bezeichnet worden waren. Stosch hatte sich infolgedessen krankgemeldet und den Abschied gefor­ dert, welchen Se. Majestät nicht gewähren will, während Bismarck darauf besteht. Bismarck nannte damals Stosch im kleinen Kreis einen Intriganten und Spion, welcher im Ministerrat nicht den Mund öffne, dann aber beim Kronprinzen und bei Sr. Majestät klatsche. 104

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Er fühle auch das Bedürfnis, aufs Land zu gehen, sein gnädigster Herr mache ihm auch die äußere Politik zu schwer. Beim Lesen eines Telegramms meinte er: „Heute Nachmittag sah es sehr friedlich aus und nun wieder kriegerisch.“ Herr und Frau von Radowitz und General von Waldersee waren anwesend. Auch Bennigsen war sehr verstimmt über den Gang der Dinge und fand die letzten Exkurse in der Rede vom 10. März sehr schädigend für die preußische Regierung und für das Ansehen der Minister. Bismarck gab ihnen mit dürren Worten Partikularismus und Mangel an Produktivität in wirtschaftlichen Fragen schuld, auch Mangel an gutem Willen ihm selbst gegenüber. Er erklärte auch wiederholt: nachdem der Reichstag alle Steuervorlagen seit zehn Jahren abgelehnt habe, werde er keine neuen mehr bringen, sondern sich auf Erhöhung der Matrikularbeiträge beschränken. 29. März. Se. Majestät hat den Fürsten zum Erblandjägermeister des Herzogtums Pommern ernannt, eine Würde, welche mit dem Majorat Varzin erblich sein soll. Ich zeigte dem Fürsten eine von mir aufgestellte Berechnung über den wahrscheinlichen Ausgang der am 21. stattfindenden Abstimmung über den Sitz des Reichsgerichts, welche eine Majorität von 71 Stimmen für Leipzig ergibt. Ein Aufschub könne kein günstigeres Resultat ergeben, da die Rechte jetzt fast vollständig zur Stelle und außerdem gereizt sei durch die von Lasker öfters veranlaßten Änderungen der Tagesordnung. Die Württemberger wollen für Leipzig stimmen, dagegen werden die erhöhten Militärforderungen, so die neu geforderten 135 Hauptmannsstellen, wohl durchgehen. Leonhardt und Friedberg sollen mit Abschied gedroht haben, wenn Leipzig durchginge. Man hat offenbar diese Frage preußischerseits im Bundesrat nicht mit der nötigen Energie betrieben und die Sache zu lange in der Schwebe gelassen. Am 21. fand nach nochmaliger vierstündiger Beratung die Abstimmung über den Sitz des Reichsgerichts statt und wurde mit 213 : 142 Stimmen für Leipzig entschieden ‒ a l s o m i t g e n a u 71 S t i m m e n , wie ich vorher berechnet hatte. Es stimmten für Leipzig außer Zentrum, Linken, die Thüringer, Sachsen, Württemberger und Bayern (Helldorf, Nathusius, Schlomka, Lasker, Wölfel etc.). Am 22. bei Bismarck; er war sehr erbittert über die Kritik, welche Lasker aus Anlaß seiner Abwesenheit bei der gestrigen Diskussion geübt hatte. „Er wolle auf Urlaub gehen und für den Rest der Session nicht wiederkommen. Er wolle einmal das Experiment, das er als junger Offizier gemacht habe, wiederholen, als man ihn geschulmeistert hätte, wie er ein schwieriges Pferd 105

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reiten solle. Er habe die Herren ersucht, einmal selbst das Pferd zu reiten, und sich gefreut, wenn das Tier ohne Reiter zurückgekommen sei. Camp­ hausen sei als Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums sein geborener Vertreter, der möge es nur einmal versuchen mit seinen Freunden Richter und Wehrenpfennig.“ Die Mitteilung, daß Michaelis am Vorabend in der Budgetkommission das Vorhandensein eines Überschusses von 33 Millionen aus der Kriegskontribution konstatiert habe, schien ihm neu, aber nicht besonders erfreulich. Schon damals hatte er die Idee des Vakuums ‒ es sei vorteilhafter für die Regierung, einen Mangel an Mitteln zu haben, um neue Steuerforderungen durchzusetzen. Auch die Abstimmung über Leipzig schien ihn doch schließlich zu verdrießen, obschon er sie selbst auf dem Gewissen hat. Man konnte in dem Punkte nicht recht klar werden. Im Übrigen blieb er dabei, er werde auf Urlaub gehen, und war offenbar in verschiedener Beziehung mißgestimmt, vermutlich auch über den Verlauf der stoschschen Affäre, welche mit dessen Verbleiben im Amt endete. „Wir kennten alle die Verfassung nicht und wüßten gar nicht, welches eigentlich seine Pflichten und Funktionen als Kanzler seien. Man mute ihm eine Menge Geschäfte und Verantwortungen zu für Dinge, welche ihn nichts angingen.“ Auf die Bemerkung, unter Camphausens Direktion würden die Sachen in die Brüche gehen und wir erschossen sein, meinte er: „Schießen Sie nur w i e d e r !“ Nachträglich stellte sich heraus, daß Se. Majestät unter dem 25. definitiv Stosch den Abschied versagt hatte, was Lehndorff möglicherweise dem Kanzler gerade mitgeteilt hatte. 5. April bringen die Berliner Zeitungen die Nachricht, daß Bismarck einen einjährigen Urlaub erbeten und erhalten hatte. Die Nationalzeitung bringt eine Art Nachruf! Man meinte, wenn einmal Bismarck ‒ sei es auch nur vorübergehend ‒ zurücktreten sollte, so sei die jetzige Zeit vielleicht nicht die ungünstigste für ein solches Experiment, solange der alte Kaiser lebe und die Möglichkeit seines Wiedereintritts bestehen bleibe und seinem Nachfolger sogar einen gewissen Rückhalt gebe. Zudem würde es sicher zu seiner körperlichen Kräftigung und zur Wiederherstellung seiner Gesundheit führen, wenn er dem geschäftlichen Ärger und Verdruß auf einige Zeit entzogen werde. Für die Führung der parlamentarischen Geschäfte scheint die 106

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Situation unberechenbar. Kein anderer Minister hat eine ähnliche Autorität und die Möglichkeit, Majoritäten zu bilden, insbesondere ist Falks Stellung aufs Schwerste erschüttert. Camphausen hat eine große, nach dem Gegenstand wechselnde parlamentarische Gegnerschaft, und Hofmann ist ohne den Rückhalt an Bismarck völlig machtlos. 10. April bei Bismarck, wo größere Gesellschaft, welche lautlos jeder Bemerkung folgte, so daß keine ungezwungene Konversation zustande kam. Die Fürstin sah matt und angegriffen aus, als wenn ihr der Gedanke, aus dieser Sphäre zu scheiden und ganz in das Privatleben überzutreten, doch noch nie so nahegetreten wäre. Das Entlassungsgesuch soll erst ganz kühl ausgenommen worden sein ‒ während man nachher einigermaßen erschreckt worden ist durch den Jubel der Gegner in der feindlichen heimischen und auswärtigen Presse sowie durch die Konsternation in den heimischen politischen Kreisen. Das Resümee seiner Äußerungen: „Ich gehe bald auf einen langen Urlaub und behalte in dieser Zeit nur die Leitung und Verantwortlichkeit für die äußere Politik, in specie für die orientalische Frage. Vertreten wird mich im Bundesrat und Reichstag Camphausen als ältester preußischer Minister. Daß Delbrück mich früher als Präsident des Reichskanzleramtes vertreten, lag mehr in seiner Person als wie in seiner amtlichen Stellung. Der Kanzler braucht gar nicht einmal Mitglied des Bundesrats zu sein, er ist ein reiner Exekutivbeamter. Der Kaiser als solcher hat weder Initiative noch Vertretung im Bundesrat, wie auch der scharfsinnige Jurist Falk zugibt ‒ er hat solche nur als König von Preußen als Präsidialmacht. „Hofmann hat im Bundesrat ohne Widerrede an Leonhardt als älteren Minister den Vorsitz im Bundesrat abgetreten, so oft er erschienen ist. Camp­hausen ist seit zwei Jahren gar nicht im Bundesrat erschienen und bekümmert sich überhaupt um nichts. Er war ganz bereit, die volle Vertretung für mich zu übernehmen ‒ für die innere und für die wirtschaftliche Politik. Ich selbst kann nicht mehr arbeiten in ‚stoschigen Verhältnissen‘“. Als die anderen fort waren, sagte Bismarck noch: „Der König war windelweich in Tränen und ich konnte, so fest entschlossen ich war, zu gehen, doch schließlich diese Form des Urlaubs nicht ablehnen.“ Ich meinte: „Sie haben völlig recht, die Entbindung von Geschäften zu verlangen, und es wäre nicht richtig, zu bleiben, ohne die Veränderungen durchgesetzt zu haben, welche Sie für richtig halten. Es wird dann wieder so kommen, daß die Leute, welche sich nur durch die Autorität halten, welche Ihr Namen ihnen gibt, gegen Ihre Intentionen handeln und nichts zustande kommt.“ 107

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Bismarck meinte: „Er käme vielleicht noch einmal in den Reichstag. Eine offizielle Notifikation seines Urlaubs könne wohl an den Reichstag gerichtet werden, nötig aber sei sie nicht.“ 12. April zu Tisch dort. Lehndorff, Obernitz anwesend. Nach Tisch sprach der Fürst lange und offen über die jetzigen Verhältnisse: Er werde nicht wieder in die Geschäfte eintreten, wenn nicht die Personalveränderungen einträten, welche er für notwendig halte. Er behalte die Reichskontrasignatur, da sich verfassungsmäßige Bedenken gegen eine Übertragung derselben an Camphausen herausgestellt hätten, und werde seinen Namen unter alles setzen, wo „Wilhelm“ stehe. Camphausen wolle die Vertretung im Reich ohne die Kontrasignatur nicht übernehmen, und so werde sie Hofmann führen müssen. Man sagte später, Se. Majestät habe Camphausen die Kontrasignatur nicht geben wollen. „In den Reichstag komme ich nicht mehr, einmal sähe es aus wie ein fishing for compliments und anderseits müßte ich große Reden halten, welche zu neuen Schwierigkeiten Anlaß geben könnten.“ „Ignatieff hat den Fehler, andere für dümmer zu halten, als sie sind. Seine Reisen waren ein Mißerfolg, abgesehen davon, daß er als Mann des Tages in den Salons aller europäischen Hauptstädte paradiert hat. Gortschakoff und Schuwaloff sind seine entschiedenen Gegner. D e r K r i e g w i r d n u n w o h l a u s b r e c h e n .“ Geheimrat Busch, welcher kürzlich von Konstantinopel eingetroffen war, neben welchem ich saß, beklagte die Torheit der Deutschen, welche nicht einsehen wollten, daß der Krieg in unserem Interesse läge. Er schien noch zu fürchten, daß die Sache friedlich abginge. Am 11. April, der Fürstin Geburtstag, waren die Salons wie gewöhnlich bei dieser Gelegenheit sehr gefüllt. Bismarck will zunächst für einige Tage nach Lauenburg reisen. Heute fand eine Diskussion über des Fürsten Urlaub statt, was er sehr überflüssig fand. Die Diskussion verlief übrigens durchaus befriedigend und endete in einem allgemeinen Vertrauensvotum für ihn ‒ besonders sprach Bennigsen brillant. Den Krieg hält man für entschieden, obschon Beust und England noch gegenteilige Anstrengungen machen. Moltke sagte: „Wenn die Russen den an sich richtigen Plan verfolgen, die Festungen liegen zu lassen und direkt über den Balkan nach Konstantinopel zu gehen, so verhungern sie. Der Train, welcher zu einer regelmäßigen Verpflegung erforderlich ist, wird kaum zu beschaffen sein. 108

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Die Franzosen haben an unseren Grenzen in Kantonnements solche Truppenmassen liegen, daß sie dreißig Kavallerieregimenter auf deutschem Boden haben können, ehe wir uns gerührt haben.“ Moltke schien demnach einen Angriff der Franzosen auf unsere Grenzen für möglich zu halten, während doch wahrscheinlicher ist, daß sie aus Besorgnis vor uns defensive Maßregeln ergriffen haben. Bismarck reist heute ab. 28. April fuhr ich 320 Uhr nachmittags nach Hamburg, schlief da und fuhr Sonntag früh nach Friedrichsruh ‒ etwa 26 Kilometer von Hamburg ‒, wo der Fürst und Graf Herbert mich am Bahnhof empfingen. Sehr herzlich. Sie wohnen nur fünf Minuten vom Bahnhof entfernt in einem kleinen, freundlichen Cottage, welches wohl für drei bis vier Personen, aber nicht für eine Familie mit sieben bis acht Dienstboten genügt. Die Lage ist sehr schön, mitten im Walde, aber doch offener wie Varzin. Wir stiegen bald zu Pferde und ritten zirka vier Stunden durch den Wald. Der Fürst ist durch die vierzehn Tage Ruhe und Landleben schon wesentlich erfrischt, schläft besser und ist in der Stimmung ruhiger. Über die Intrigen Ihrer Majestät war er noch sehr voll und beklagte sich wiederholt, daß auch die ihm persönlich nahestehenden Parteien und Blätter diese Dinge zu kühl nehmen und ihm nicht genug beiständen. Sie fürchte sich vor öffentlicher Kritik, da allein könne man ihr beikommen. Sie ringe ihrem Gemahl besonders auf persönlichem Gebiet allerlei Zugeständnisse ab wie auch in Fragen auswärtiger Politik, wovon sie wisse, es sei ihm unangenehm und bereite ihm Verlegenheiten. Sie schreibe eigenhändige Briefe, angeblich im Auftrage ihres Gemahls, an fremde Souveräne und durchkreuze seine Politik. Sie konferiere häufig mit Gontaut und folge dessen wie auch Windthorsts Ratschlägen. Sie sei schuld, daß die Elsässer Garnisonen so schwach besetzt seien, daß die Koblenzer Militärbahn so langsam voranschreite. Ihre Intrigen grenzten an Landesverrat, in ihrer Borniertheit habe sie stets die Rolle der Gegenpartei, sowohl ihrem Gemahl wie ihm selbst gegenüber, eingenommen. Jetzt übe sie den Haupteinfluß durch die Großherzogin von Baden, da der Kaiser ihr möglichst aus dem Wege gehe und sich vor ihr fürchte, „dem Feuerkopf “. Von der Liebe seiner Tochter sei er überzeugt und folge ihr leichter. Man habe alle möglichen Vorkehrungen getroffen, um den jetzigen Aufenthalt in Wiesbaden ungefährlich zu machen. Die Ernennung Gruners zur Exzellenz, die Dekorierung Nesselrodes sei durch sie ihm zum Tort veranlaßt. Jetzt habe der Kaiser das Ministerium angewiesen, die Ernennung Gruners zu kontrasignieren, worauf dieses mit einer gehorsamsten Gegenvorstellung geantwortet habe. 109

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Er (Bismarck) habe früher gedacht, Friedenthal zum Nachfolger Camp­ hausens zu machen, sei aber zweifelhaft, ob nicht die Frau schon zu sehr von Ihrer Majestät umsponnen sei. Bennigsen würde wenigstens die Garantie bieten, die Unterstützung der liberalen Partei nicht zu verlieren, welche man noch sehr brauche. Helldorff-Bedra halte er für einen falschen Doppelsachsen, er komme stets mit vorher überlegten Vorträgen in der Absicht, zu täuschen. Es sei ganz gut, wenn jetzt einige nicht überstarke Regenten folgten und die bedeutenderen Persönlichkeiten aus dem Reichstag ausschieden und in die Regierung einträten. So werde sich die Konsolidierung des Reichs am leichtesten vollziehen. Eine Schwächung der Kleinstaaten und des Bundesrats werde er nicht zulassen ‒ er sagte das im Anschluß an die Bemerkung, die Kronprinzeß denke an eine Verschmelzung der Thüringer Staaten unter einem Meininger oder Koburger. Er denke nicht an eine Wiederaufnahme der Geschäfte, ohne die ihm wünschenswert erscheinenden Personalkonzessionen erreicht zu haben. Er könne Eulenburg1 nicht mehr weiter durchschleppen und Camphausen vielleicht auch nicht. Nesselrode müsse weg ‒ er werde seine Bedingungen machen, daß diese Weiberpolitik aufhöre. Freilich beklage sich der Kaiser, sein ganzes Familienleben werde zerstört. Er schreibe gereizte Briefe über Kleinigkeiten wie ein Gutsherr, welcher die Wirtschaft nicht übersehe und gelegentlich ex abrupto dazwischenfahre, die Sachen erst recht verderbend. In diesem Sinne gegen die Kaiserin äußerte er sich noch mehrfach und sehr heftig, im Ganzen bekommt ihm aber der Aufenthalt da sehr gut und er hat augenscheinlich Neigung, ihn möglichst zu verlängern. 30. April reiste ich nach Berlin zurück. 29. Juni erhielt ich in Ballhausen ein Telegramm von der Fürstin Bismarck, ob ich anwesend. Ich fuhr am 30. Juni mit meinen Söhnen Otto und Helmut bis Eisenach entgegen, wo ich die Familie in ihrem Salonwagen vereinigt fand, auf der Rückreise von Kissingen nach Berlin. Bismarck sah etwas erhitzt aus ‒ es waren 24 Grad Reaumur im Wagen ‒, aber magerer, recht wohl. Er sprach lebhaft über alle ihn jetzt bewegenden Schwierigkeiten, die Orientfrage nur streifend. „Wir tun alles Mögliche, um den Frieden zu erhalten. Gontaut ist nur in Ems, um Se. Majestät zu unvorsichtigen Bemerkungen zu provozieren, wie in Metz auch. Wenn der Kaiser nur das ihm gesagt hat, was er mir selbst schrieb, so kommt das schon einer Konspiration gleich zu Gunsten Mac Mahons, 1

Graf Fritz, Min. d. Innern 1862‒1877, früher Chef der Ostasiatischen Expedition.

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zum Nachteil der Republik. Er hat ihm gesagt: ‚Comme vieux monarque‘ sympathisiere er nicht mit der Republik.“ Die Verschwörung der Weiber an der Spitze ist wieder auf einem Höhepunkt; was mich verbraucht hat im letzten Jahre, sind diese Intrigen, man hat mich ärgern wollen und verschiedene Fürsten nehmen teil daran. Es gipfelte in der Ordensverleihung an Nesselrode und der Ernennung Gruners zur Exzellenz. Camphausen und Friedenthal haben sich in dieser Sache sehr stramm benommen, alle anderen unselbständig, auch Falk, mit welchem zu stehen und zu fallen in der hegelschen Sache ich erklärt hatte. Hofmann vertritt mich nicht, er ist zu schwach für die Vertretung auch in seinem Fach. Der österreichische Handelsvertrag kommt nicht zustande, sie wollen nicht einmal eine Verlängerung des bisherigen Vertrags zugestehen ‒ angeblich, weil sie Rücksichten auf Ungarn in ihrer Zollpolitik zu nehmen haben. Huber und Michaelis wollen à tout prix Verträge schließen. Ich beherrsche diese Fragen nicht vollständig, allein ich würde Prolongation des bisherigen Vertrags auf ein Jahr vorziehen oder auch einen Hiatus nicht scheuen, um die Verhältnisse sich weiter klären zu lassen. Dem König von Bayern habe ich einen dankbaren Brief geschrieben für die Abberufung Perglas‘. Der betrachtete sich nicht als Bundesratsbevollmächtigter, sondern als Diplomat einer ausländischen Großmacht. Er wohnte in e i n e m Haus mit dem italienischen Botschafter und war der Mittelpunkt des Klatsches für die fremden Botschafter. Er lief schon morgens um 8 Uhr auf der Straße herum und schnüffelte nach Neuigkeiten, welche er dann anderen weiter mitteilte. Ich habe dem König von Bayern gedankt, daß er Perglas durch einen Gesandten ersetze, mit welchem zu verkehren ebenso sehr im Interesse der Förderung der Geschäfte liegen wie seinem Herzensbedürfnis befriedigend sein würde. Er habe ihm auch über die französischen Verhältnisse sein Herz ausgeschüttet. Wir haben Gewehr bei Fuß abzuwarten, welche Rauchwolken und Explosionen dieser Vulkan bringen wird. Eine Politik wie Friedrich II. bei Beginn des Siebenjährigen Krieges machen wir nicht ‒ den sich zum Angriff vorbereitenden Feind plötzlich zu überfallen. Es hieße auch in der Tat die Eier zerschlagen, aus welchen sehr gefährliche Küken kriechen könnten. Der Kaiser hat Gontaut gesagt, „er fürchte einen neuen Krieg nicht,“ allein als achtzigjähriger Mann fürchtet er ihn wohl und hat selbst die Provinzialkorrespondenz chauvinistisch gefunden, weil sie vor den Folgen eines ultramontanen Staatsstreichs in Frankreich warnte. Mac Mahon ist ‒ wie selbst so vorsichtige und wenig zu Kraftausdrücken geneigte Leute wie der Pariser Rothschild sagen ‒ „ein reines Rindvieh“. Er kann nicht drei Worte zusammenhängend sprechen, läßt sich 111

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vorher aufschreiben, was er sagen soll, und kann das nicht richtig herausbringen. In den Zeitungen steht dann freilich das, was er hätte sagen sollen. Unsere Zeitungen dürfen nicht drohen, aber sie sollen warnen, daß Mac Mahon die Monarchie, der Krieg, die Republik der Frieden für Europa sei. Graf Harry Arnim versteht meine Gegnerschaft gegen ihn immer noch nicht, weil er noch heute nicht weiß, daß mir der Kaiser den Inhalt aller seiner Konversationen mitgeteilt hat. Arnim hat Thiers beseitigt, weil er ihn in seinen Finanzoperationen störte und weil er eine Stärkung des monarchistischen Prinzips sah in dem Umsturz der Republik. Wir haben uns gar nicht in die inneren Verhältnisse Frankreichs zu mischen, aber eine Monar­ chie wird allemal ihre Stütze in auswärtigen Komplikationen suchen. Wie viel patriotischer ist doch eine französische wie eine deutsche Kammer! Jene bewilligen vor der Auflösung selbst einem feindlichen Ministerium ohne Weiteres das Militärbudget ‒ bei uns hat von Unruh (? Virchow oder Schulze-Delitzsch) in der Konfliktszeit gesagt: „Diesem Ministerium keinen Taler und wenn die Kroaten auf dem Kreuzberg stehen.“ (NB. Es war Schulze-­ Delitzsch.) Die schlimmste der bösen Weiber, die Königin von Holland, ist jetzt gestorben ‒ aber es sind noch mehr schlimme vorhanden. Se. Majestät ist etwas schwach und gedächtnislos, hat sich aber in den letzten Schwierigkeiten besser benommen, wie ich erwartet hätte. Ich kehre möglichst spät nach Berlin zurück, um mich nicht wie im letzten Jahr zu früh zu verbrauchen. In Kissingen waren bayerische Herzöge, mit welchen ich auf einem höflichen Visitenfuß stand. Die Königin von Neapel hätte sich aus ihrem Thron behauptet, er ist aber ganz schwach und borniert.“ Ich saß die meiste Zeit bis Erfurt mit dem Fürsten allein in seinem Arbeitskabinett, während die Jungen mit den Damen im Salon sich ganz lebhaft unterhielten. Helmut war besonders begeistert von dem Glanz des Salonwagens und den Hunden Sultan und Kilian. Dagegen mißbilligte er den großen schwarzen, breitkrempigen Hut des Fürsten und wollte ihm einen anderen kaufen. Nachher sagten beide, die Damen seien sehr freundlich gewesen, die ältere, die Fürstin, aber habe ihnen am besten gefallen. In Erfurt überreichten meine Nichten Hanny und Else Lucius Buketts und ich stellte meinen Bruder Ferdinand vor. Es waren eine Menge Erfurter am Bahnhof, welche schließlich in ein lebhaftes Hoch ausbrachen. Die Leute waren ganz glücklich über sein Aussehen und den freundlichen Gesichtsausdruck. Er hatte kurz vorher sich etwas bitter über dergleichen Ovationen ausgesprochen, welche neben dem Biergenuß nur eine Befriedigung der 112

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Neugier seien ‒ aber ich glaube doch, es machte ihm Freude. Bismarck will nach kurzem Aufenthalt in Berlin, Schönhausen, Varzin nach Gastein gehen. Ich habe immer die Besorgnis, etwas zu viel zu tun, allein er dankte noch beim Abschied so lebhaft für diese Aufmerksamkeit und für die Freude, welche es ihm gemacht habe, mich zu sehen, daß ich ganz froh bin, so gehandelt zu haben. 25. November. Seit ein paar Tagen zu den Sitzungen des Abgeordnetenhauses wieder in Berlin, hatte ich gestern eine lange Unterredung mit Herrn von Holstein, welcher nach einem fünfwöchentlichen Aufenthalt in Varzin vor Kurzem hierher zurückgekehrt ist. Er wünschte, daß ich bald einmal nach Varzin gehen möchte, und charakterisiert die Situation ‒ wie mir scheint, mit großer Offenheit ‒ so: Bismarck sei verhältnismäßig arbeitsund organisationslustig gewesen bis zu Friedenthals Besuch. Er habe augenscheinlich den Gedanken gehabt, Bennigsen ins Ministerium zu nehmen an Stelle von Camphausen. Ob Bennigsen allein nicht habe eintreten wollen, wisse er nicht, aber augenscheinlich habe Friedenthal, welcher selbst ambiere, Vizepräsident des Staatsministeriums zu werden, diesen Gedanken bekämpft und sich selbst als einzig möglichen Macher hingestellt. Er habe somit zu Gunsten Achenbachs und Camphausens gewirkt, wesentlich um keinen überlegenen Rivalen in das Kabinett zu bekommen. Bismarck sei danach sehr entmutigt und verstimmt gewesen und habe wieder von Abgehen oder Nichtwiedereintritt gesprochen. Dazwischen laufe wieder das Bestreben, Graf Fritz Eulenburg im Amt zu erhalten. Wolle man etwas Entscheidendes tun, so müßten Camphausen und Eulenburg definitiv gehen und durch geeignete Leute, womöglich aus parlamentarischen Kreisen, ersetzt werden. Ich bemerkte ihm, daß mir bei dem gänzlichen Fehlen einer dominierenden Persönlichkeit auf wirtschaftlichem Gebiet eine Reaktivierung Delbrücks als eine der besten Lösungen erschiene. Holstein war davon frappiert, lehnte den Gedanken anfangs ganz ab, meinte aber nachher, das müsse er sich noch überlegen. Holsteins Ansichten über die Situation stimmen mit meinen eigenen Beobachtungen und Friedenthals früheren Äußerungen überein, auch ist ihm wohl der Ehrgeiz zuzutrauen, das höchste Ziel zu erstreben. Bismarck hat in allen großen entscheidenden Fragen den richtigen Instinkt, und wenn je, so wäre jetzt der Moment, Bennigsen in eine leitende Stellung zu bringen. Er verbummelt sonst, verliert die Führung der Nationalliberalen oder er führt sie in augenblicklicher Mißstimmung ‒ wofür die Welfenfondsfrage eine geeignete Veranlassung bieten könnte ‒ in die Opposition. 113

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Bei dem konservativen Naturell Sr. Majestät ist es wahrscheinlicher, daß das jetzige Provisorium noch längere Zeit andauert und daß die bisherigen Persönlichkeiten auch ferner im Amt gehalten werden trotz der Unhaltbarkeit des jetzigen Zustandes. 8. Dezember. Gestern in Gesellschaft von Exzellenz Friedberg (Chef des Reichsjustizamts) hier in Varzin angekommen. Anwesend General von Kessel, Tiedemann, Graf Herbert. Bismarck frisch und sehr herzlich. „Falk sollte sich nicht mit Herrmann (Präsident des Oberkirchenrats) identifizieren, welcher in einer unbotmäßigen Weise seinen Abschied gefordert hat. Falk ist zu empfindlich; von der Kaiserin mißhandelt, gefällt er sich darin, verletzt zu sein. Wenn Falk geht, muß ich auch meinen Abschied fordern, um zu konstatieren, daß er nicht wegen einer Differenz mit mir geht. Ich würde aber ein Schreiben beilegen, welches das erklärt.“ Friedberg deutete an: Bismarck könne alle ihm nötig erscheinenden Personal- und Organisationsänderungen durchsetzen, wenn er sie dem Kaiser in Form eines neuen Dienstreglements vorschlüge. Bismarck: „Ich kann noch nicht einmal durchsetzen, daß er Eulenburg seinen definitiven Abschied gibt. Auf meinen Vorschlag, ihn an irgendeinen Hof als Gesandten zu versetzen, meinte Se. Majestät früher: ‚Das ist unmöglich, wenn ich denke, wie er sich mit mir nach Tisch unterhält, und denke, er macht es so mit dem Kaiser von Rußland oder Österreich ‒ das ist nicht möglich.‘ „Hofmann hat mir in den letzten Monaten mehr Verdruß gemacht wie alle übrigen Minister zusammen. Der schlimmste Gegner des Reichs ist der preußische Partikularismus. Die einflußreichsten Reichsämter müßten mit preußischen Ministerien verbunden sein. Der Vizekanzler muß preußischer Vizepräsident sein. Das Reichskanzleramt in seiner jetzigen Stellung muß eingehen. Wohin mit Hofmann, ist schwierig.“ 9. Dezember. Varzin. Bismarck will in jedem Fall die Elsässer Verwaltung loswerden, indem er sie selbständig macht. Nicht Reuß oder Wied, wie die Kaiserin wünscht, oder der Badenser, sondern der jeweilige Kronprinz soll Statthalter werden. Österreich hat auf den Vorschlag, den Handelsvertrag um ein Jahr zu verlängern, nur sechs Monate proponiert. Camphausen ist für Ablehnung, weil man den feindlichen Chlumetzki stürzen müsse und kein längeres Provisorium dulden dürfe. Bismarck diktierte Tiedemann sofort eine gegenteilige Antwort. „Preußen hat in dieser Frage keine auswärtige, sondern nur wirtschaftliche Politik zu machen. Drei Viertel der früheren Zollvereinsverhandlungen be114

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standen darin, die Schwachen schlecht zu behandeln. So will Camphausen jetzt Österreichs augenblickliche Verlegenheit eigennützig ausnutzen, ohne zu bedenken, welcher Stachel zurückbleiben muß.“ In diesem Sinne diktierte Bismarck, obschon Bülow (Staatssekretär des Auswärtigen Amts) in seinem Bericht angedeutet hatte, daß Camphausen daraus für sich eine Kabinettsfrage machen werde. „Wäre das ein Unglück?“, scherzte er vergnügt. Nach Tisch saßen wir noch bis nach 10 Uhr zusammen, er eine Pfeife nach der anderen rauchend, Verfügungen zeichnend und korrigierend, dabei eingehend über alle möglichen Dinge redend. „Er habe sich Wagener (Kreuzzeitungsredakteur, später Vortragender im Staatsministerium) gegenüber nie kompromittiert, wohl aber schulde der ihm manchen Dank.“ Dann erging er sich in Erzählungen über die Beseitigung von Grüner, Thile, Sydow ‒ alles widerstrebende Nichtstuer, welche feiner Politik Steine in den Weg geworfen hätten zu den schwierigsten Zeiten, so 1866. Klagte sehr über die ungenügende Vertretung seiner in Presse und Parlament. Es sei durchaus falsch, irgendeine Anklage oder Anschuldigung unerwidert zu lassen, ein Fehler, welchen man aus Trägheit auch den Sozialdemokraten gegenüber beginge. Lange wurde auch über die Tabaksteuer gesprochen. Es ist eine Vorlage im Bundesrat ausgearbeitet, welche 45 Millionen bringen soll. Bismarck will sich augenscheinlich in diesen Fragen ganz zurückhalten und die anderen gewähren, eventuell Schiffbruch leiden lassen, um erst wieder einzutreten, wenn es ihm gelungen ist, ein homogenes Ministerium und womöglich eine konservative Reichstagsmajorität zu bilden. Ob dazu die Einsetzung Stolbergs als Vizekanzler und der Eintritt einer parlamentarischen Größe der richtige Weg ist, muß sich erst ausweisen. Bismarck erhält übrigens alle Sachen hergeschickt, Bahntarife für Elsaß, Reblausangelegenheiten, Herausgabe der Briefe Friedrichs II. etc. Bismarck erzählte auch wieder die Geschichte der Versailler Kaiserproklamation. Se. Majestät habe sich anfangs gegen den neuen Titel gewehrt. Es sei wie die Charakterisierung als Major ‒ „Ei der Tausend, da muß ich doch sehr bitten.“ Als er zur Annahme des Kaisertitels sich entschloß, wollte er aber Kaiser von Deutschland heißen, was Bismarck damals sachlich und historisch unrichtig erschien. Der Großherzog von Baden rief daher bei der Proklamation: „Kaiser Wilhelm lebe hoch!“ Se. Majestät hätte ihn danach mehrere Tage geschnitten und als Luft behandelt. Der König von Bayern wurde durch Bismarck zu jenem Schritt bestimmt mit dem Hinweis, der König von Bayern könne sich wohl dem deutschen 115

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Kaiser, aber nicht dem König von Preußen unterordnen. Bismarck gewann die Sympathie des Königs von Bayern durch die Erinnerung, daß seine Vorfahren ihre märkischen Besitzungen dem Kaiser Ludwig dankten und somit Vasallen des bayrischen Hauses seien. In Hohenschwangau zu Bett mit einem Zahngeschwür liegend, unterschrieb der König den von Bismarck entworfenen Kaiserbrief. Nachmittags 2 ½ bis vier Uhr im Park spazierend, legte Bismarck mir sehr offen und eingehend seine Pläne dar und erteilte mir einen bestimmten und vertraulichen Auftrag. Dieser Auftrag bestand darin, Bennigsen zum Besuch in Varzin einzuladen, wo er ihn bestimmen wolle, das Ministerium des Innern zu übernehmen. Nachher kam er auf die Nikolsburger Verhandlungen: „Ich war der einzige unter dreihundert Menschen, welcher lediglich auf sein eigenes Urteil angewiesen war und, ohne andere befragen zu können, entscheiden mußte. Im Kriegsrat waren alle, der König an der Spitze, für Fortsetzung des Krieges. Ich erklärte, Kriegführen in dieser Jahreszeit in Ungarn bei Hitze, Wasserarmut, ausbrechender Cholera sei sehr schwierig, und was sei das Objekt? Nachdem alle Generale gegen mich votiert hatten, erklärte ich: Als General sei ich überstimmt, aber als Minister erbäte ich meinen Abschied, wenn gegen meinen Rat gehandelt würde. Die Beratung fand in meinem Zimmer statt, da ich krank war. Nach meiner Erklärung verließ ich das Zimmer, riegelte die Tür zu, ging in mein Schlafgemach und warf mich schluchzend ganz gebrochen auf mein Bett. Die anderen deliberierten noch eine Weile leise weiter, dann gingen sie weg. Am anderen Tag hatte ich noch eine heftige Szene mit dem König. Während er noch kurz vorher nach Empfang eines Briefes von Napoleon glücklich gewesen war, weil dieser anerkannte, daß die glänzenden Erfolge der preußischen Waffen ihn zur Intervention nötigten ‒ und sich zufrieden erklärt hatte mit der Abdikation der kriegführenden Fürsten zu Gunsten ihrer Thronfolger ‒, nannte er jetzt meine Friedensbedingungen schmähliche. Er verlangte Böhmen, Österreichisch-Schlesien, Ansbach-Bayreuth, Ostfriesland, ein Stück Sachsen u. s. w. Ich suchte ihm darzulegen, daß man die nicht tödlich kränken dürfe, mit welchen man später in Frieden leben wolle und müsse. Er bäumte sich dagegen auf und warf sich weinend auf das Sofa. „Mein erster Minister wird mir angesichts des Feindes fahnenflüchtig, mutet mir diese schmachvollen Bedingungen zu.“ Ich ging fort von ihm, fest in meinem Entschluß, und hatte eben in meinem Zimmer die Tür zugeworfen und den Pallasch abgelegt, als der Kronprinz eintrat und sich erbot, zu seinem Vater zu gehen. Er wünsche den 116

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Frieden auch und könne meine Motive verstehen und billigen. Ich hätte den Krieg gemacht, ich müsse ihn auch zum Abschluß bringen. Er brachte mir dann auch nach einigen Stunden einen Brief seines Vaters, welchen ich noch aufbewahre. Zweimal ist der Ausdruck „schmachvoll“ dann gebraucht. „Da ich ihn im Stich lasse, ungeachtet der glänzenden Erfolge der Armee, so wolle er sich den schmachvollen Bedingungen unterwerfen!“ Diese schmachvollen Bedingungen sind der Prager Frieden! Napoleons Brief an den König, welchen dieser als ein Kompliment auffaßte, weckte in mir die Gefühle, den Entschluß Hannibals: „Das sollst du büßen.“ Dann kam mit der Rückreise der Kampf wegen der Indemnitätsfrage. Es erschien eine Deputation von Konservativen, an der Spitze Kleist-Retzow, welche Aufhebung der Verfassung vorschlugen. Ich hatte wieder alles gegen mich, den Prinzen Karl an der Spitze, mußte fünf Tage kämpfen und wieder mit meinem Abschied drohen, nur der Kronprinz stand wieder auf meiner Seite. Vor Paris hätte Tümpling am 19. September mit den flüchtigen Franzosen in die Forts und in die Stadt einrücken können. Die Fenster waren schon dazu vermietet. Dann hätten wir schon längst die Stadt bombardieren können, wenn der König, Kronprinz, Moltke, Blumenthal und die anderen Offiziere, welche englische Frauen hatten, gewollt hätten. Als die Dotationsfrage kam, schickte mich der Kaiser zum Kronprinzen und zu Prinz Friedrich Karl, ob sie welche annehmen wollten. Der Kronprinz entgegnete: „Wir nehmen schon anderen fähigen Leuten die höchsten Ehren und Stellungen, wir dürfen ihnen nicht auch noch das Gold nehmen. Ich bilde mir nicht ein, die Sachen besser zu verstehen und zu machen, die anderen Generale verdienen diese Belohnungen. Befiehlt mir der König die Annahme einer Dotation, so gebe ich dieselbe weiter, dem, welcher sie verdient hat.“ Friedrich Karl erklärte, obschon die sächsischen Prinzen inzwischen abgelehnt hatten: „Ich habe eine Dotation verdient, ich kann sie brauchen, ich nehme sie an.“ Die 200 Millionen Franken, welche Paris als Kontribution gab, fielen mir ganz unerwartet in den Schoß. Thiers verließ mich nach mehrstündiger Konferenz, um zu frühstücken, und sagte im Weggehen: „Wegen der Kontribution von Paris einigen wir uns noch.“ Ich entgegnete ihm sofort ‒ so überrascht ich auch war ‒ scherzend: „Unter einer Milliarde zu fordern, wäre beleidigend für Paris.“ Er handelte mich dann auf 200 herunter. „Ich schlug dem König vor, diesen unerwarteten Schatz zu verwenden, um die Sechsundsechziger-Kontributionen den jetzigen Bundesgenossen 117

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wiederzuerstatten ‒ begegnete bei dieser Idee aber entschiedenem Widerspruch bei Sr. Majestät.“ Falk folge in der herrmannschen Affäre einer bescheidenen, aber darum nicht geringeren Eitelkeit und einem mißverstandenen Begriff von Manneswürde. Die geplanten Steuervorlagen müßten als preußische Anträge kommen, er werde sie nicht vertreten und sich nicht mit ihnen identifizieren. Ich meinte, dann würden sie mäßig vertreten werden, fallen und ihm doch die Verantwortung zugeschoben werden. Bismarck: „Camphausen halte sich für einen beim Kaiser hochangesehenen Mann, während der sich mit Hand und Fuß dagegen gewehrt habe, ihm das Vizepräsidium und die Vertretung Bismarcks zu übertragen. Das könne er Camphausen nicht sagen, allein es werde genügen, ihn eben gehen zu lassen. Camphausen frage alle zwei bis drei Monate an, ob er das Vertrauen des Fürsten noch besäße ‒ er könne ja einmal eine solche Anfrage unbeantwortet lassen. Die Konferenzen mit Friedberg verliefen anscheinend befriedigend. Anstatt kleiner einzelner Etatsforderungen in Personalien will er gleich eine möglichst vollständige Organisation machen ‒ was wohl zu billigen ist. Die Frage der Stellvertretung spielt dabei die Hauptrolle und die Beseitigung Hofmanns ist offenbar wesentlich. Er hat weder die nötigen technischen Kenntnisse noch auch den allgemeinen, für seinen Posten nötigen Takt. Er verschuldet drei Viertel des steten Ärgers. Große Redegabe macht mich immer zweifelhaft über Urteil und Verstand des Betreffenden. Die meisten Leute sind belastet mit einer großen Hypothek von Eitelkeit, der volle Kapitalwert eines jeden ist nur das, was nach Abzug jener Hypothek übrig bleibt.“ „Um dem Vorwurf zu begegnen, wir seien von Haus aus in die Verhandlungen über den österreichischen Handelsvertrag eingetreten mit der Absicht, denselben scheitern zu lassen, schlug ich vor einigen Wochen vor, den vorhandenen auf ein Jahr zu verlängern. Jetzt proponiert Österreich dieselben Prolongationen auf sechs Monate, und das ganze Staatsministerium beschließt nur gegen Bülows Widerspruch ein Ultimatum von vierzehn Tagen in zorniger Form zu stellen. Die Alternative lediglich anzunehmen oder abzulehnen, würde dem Kaiser von Österreich den Eindruck machen, als solle er ein zweites Sadowa durchmachen. Die sofortige Ablehnung und Abbruch der Verhandlungen würden zu unberechenbaren Zerwürfnissen führen, und dabei wird jetzt gerade Österreich vom Vatikan und von Frankreich lebhaft umworben.“ Es sei ein unbegreiflicher Mangel an politischem Verständnis in gewissen hohen Ministerialkreisen vorhanden. 118

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Gortschakoff habe seit Beginn des türkischen Krieges bald um Österreichs, bald um Preußens Freundschaft geworben und Zusicherungen von dem einen zu erlangen gesucht, um sie gegen den anderen auszuspielen und zu verwerten. So habe General von Werder aus dem russischen Hauptquartier Anfragen gestellt, deren Beantwortung er einfach verboten habe. Auch unser Kaiser habe sich gelegentlich anstiften lassen, Interventionsdrohungen auszusprechen, deren Tragweite er kaum übersehe. Berlin, 13. Dezember. Fürst Bismarck, welcher durch Friedenthals Besuch offenbar wankend geworden war in dem Entschluß, mit einem teils parlamentarischen Ministerium einen Versuch zu machen, hat mich nach einer meinerseits zu Gunsten des Plans ausgesprochenen Ansicht beauftragt, mit Bennigsen in Verhandlung zu treten und ihn zu fragen, ob er nochmals nach Varzin wollte respektive ob er dazu mittels eines ostensibeln Schreibens eingeladen zu werden wünsche. Ich gehe nachher zu Bennigsen, zurzeit Präsident des Abgeordnetenhauses, und somit steht die Sache auf einem entscheidenden Wendepunkt für die nächste politische Entwicklung. Eine weitere Entwicklung der Organisation war offenbar in der Kürze notwendig, da Bismarck die ganze Arbeitslast, welche insbesondere die gebotene Steuerreform erforderte, nicht tragen konnte. Der Eintritt fähiger und williger Kräfte schien erforderlich. Die allgemeine Idee war die Vereinigung der einflußreichsten Reichs- mit den entsprechenden preußischen Staatsämtern: der Kanzler zugleich Ministerpräsident, der Vize ebenfalls im Reich wie Staat Preußen, der Reichsjustizamtssekretär zugleich preußischer Justizminister, dasselbe in der Finanzverwaltung. Gedacht war dabei, daß die preußischen Chefs im Reich durch Direktoren oder Unterstaatssekretäre vertreten würden. Die Finanzreform erstrebte in der Hauptsache die Eröffnung oder Verstärkung eigener Einnahmequellen für das Reich. Das Tabaksmonopol erschien als das größte, einträglichste und am meisten erstrebenswerte. Alle anderen Steuerprojekte versprachen zu geringe Einnahmen, erschienen als kleine Mittel, welche im Verhältnis zum Ertrag das Publikum zu sehr belästigten. In der weiteren Entwicklung der Dinge sollte der Kanzler nur mit der auswärtigen Politik und Behandlung des Hofes, nur soweit diese Rücksichten es erforderten, mit parlamentarischen Geschäften befaßt sein, während der Vizekanzler die Finanz-, Zoll-, Handelspolitik und die Leitung des Parlaments haben sollte. Nach Bismarcks Äußerungen hatte Bennigsen nicht allein in das Staatsministerium eintreten wollen, sondern sollte auch Forckenbecks und Stauffenbergs Eintritt verlangt haben. Abgesehen davon, daß 119

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so viel Posten nicht leicht vakant zu machen waren, galt Forckenbeck als Fortschrittsmann, doktrinärer Freihändler, städtischer Autonomist und für ländliche Verhältnisse ohne Verständnis. Das Ergebnis meiner Unterredung mit Bennigsen war, daß er sich bereit erklärte, in den nächsten Wochen nach Varzin zu gehen, aber ein Einladungsschreiben wünsche. Bennigsen betonte, daß er Forckenbecks Eintritt ins Ministerium wünsche, dem der Kaiser ja persönlich mehr gewogen sei wie ihm, dem er noch verüble, seinem hannoverschen Vetter opponiert und denselben vom Thron gebracht zu haben. Ich empfahl, keine zu schwierigen Bedingungen zu stellen, und bezweifelte insbesondere, daß Forckenbeck qualifiziert und akzeptabel sein würde ‒ hatte aber doch den Eindruck, daß Bennigsen nicht eigensinnig auf seiner Forderung beharren würde. Ein kurzes Resümee richtete ich sofort nach Varzin, betonend, daß ohne Änderungen in der Organisation und in den leitenden Persönlichkeiten die erstrebten Finanzreformen schwerlich realisiert werden würden. Camphausen werde sich nicht zum Träger einer großen Finanzreform machen, halbe Maßregeln vorschlagen, so wie beim Bank- und Münzgesetz, aus welchen erst der Reichstag brauchbare Gesetze machte, das Odium auf ihn, Bismarck, fallen lassen und sich mit jenen Vorlagen nicht identifizieren. Wie ich von sicherer Seite hörte, lag damals dem Kaiser ein Entlassungsgesuch Bismarcks vor, welches eine Art Ultimatum enthielt und auch die Entfernung gewisser Hofschranzen forderte. Dagegen war die lange Abwesenheit Bismarcks, die Unzufriedenheit über den herrschenden Wirrwarr einer Koalition aller Bismarck feindlichen Elemente sehr günstig, schon der Abschluß der Verwaltungsreform und eine materiell richtig angefaßte Finanzreform boten ein genügendes Programm für positive Leistungen. Es lag ferner die große Gefahr vor, daß Bismarck seine Forderungen dem Kaiser gegenüber gerade auf einem sehr delikaten Boden ‒ interne Hof-, beinahe häusliche Familienfragen ‒ zu hoch spannte und daß in augenblicklicher Mißstimmung Entscheidungen gegen ihn fallen konnten. Die Zumutung, gegen die eigene Gemahlin Front zu machen, war gerade bei dem ritterlichen Charakter des höchsten Herrn eine sehr peinliche. Sicher waren alle ultramontan-feudalen Hofelemente lebhaft am Werke, Bismarcks Werk zu zerstören. 16. Dezember. Ein meinen Anschauungen im Wesentlichen zustimmendes Schreiben aus Varzin erhalten. Der Fürst werde Bennigsen Anfang Januar empfangen. 20. Dezember. Bennigsen nochmals gesprochen, welcher schon am 26. nach Varzin reisen will. 120

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1878 18. Januar wieder in Berlin. Der Besuch Bennigsens in Varzin war sofort durch Zeitungen bekannt geworden und hatte große Sensation gemacht, vielseitige Deutung erfahren. Graf Fritz Eulenburg (Minister des Innern) hatte einen halbjährlichen Urlaub erbeten und beim Abschied Sr. Majestät erzählt, es sei ja alles geordnet für Einsetzung eines neuen Ministeriums. Darauf hat Se. Majestät am Silvesterabend einen gereizten Brief an Bismarck gerichtet, welcher Letzteren sehr erregt und geradezu krank gemacht hat. Mit jenem kaiserlichen Brief kreuzte sich der Brief Bismarcks, in welchem er außer einer Neujahrsgratulation die Situation dargelegt hatte. Darauf hat Se. Majestät sofort im versöhnlichsten Sinne geantwortet, aber die hochgradige krankhafte Verstimmung des Fürsten nicht wieder begütigen können. Bismarck hat seitdem etwa drei Wochen das Zimmer, größtenteils sogar das Bett gehütet und soll sehr herunter und gereizt in seiner Stimmung sein. Die Unterhaltungen mit Bennigsen sind auch sehr angreifend, aber nicht unbefriedigend gewesen. Geheimrat Tiedemann, welcher morgen nach Varzin geht, erzählte, Bismarck habe schon am 21. Dezember, also vor Bennigsens Besuch, welcher am 27. stattfand, seine Gedanken schriftlich Sr. Majestät vorgetragen. Der bedenkliche Brief Sr. Majestät sei am Silvesterabend in Varzin angekommen und habe sich mit Bismarcks Neujahrsgratulation gekreuzt. Letztere habe schon die Ergebnisse der Konferenz mit Bennigsen enthalten. Umso auffallender erscheint dann, daß Eulenburgs Abschiedsbemerkungen und der Zeitungsklatsch über das neue Ministerium so gereizt haben sollen. Die friedbergschen Entwürfe über die neue Organisation sind immer wieder korrigiert und umgestaltet worden; jedenfalls scheint Bismarck in seinen Plänen klar und entschieden. Die Fragen der eigenen Verantwortung, der Unabhängigkeit der einzelnen Ressorts vom Kanzler, bieten eine Hauptschwierigkeit, ebenso ist die Frage der Vereinigung preußischer Ministerien mit den leitenden Ämtern im Reich noch ungelöst und streitig. Bennigsen ist der Meinung, in jedem Falle eine Kooperation der Rechten mit den Nationalliberalen sichern zu wollen, für das Organisationsgesetz, was er für richtig hält, dagegen scheint er den Steuerentwürfen abgeneigt zu sein. Auch scheint er ohne Forckenbeck in das Ministerium nicht eintreten zu wollen. 121

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27. Januar. Die Vorlage bezüglich der selbständigen Vertretung des Kanzlers ist gestern an den Bundesrat gelangt. Sie ist ganz allgemein gefaßt und gibt dem Kaiser das Recht, ein oder mehrere Mitglieder des Bun­desrats mit solcher Vollmacht zu versehen, den Kanzler selbständig zu vertreten. Bei einem parlamentarischen Diner saß ich kürzlich neben Bennigsen, welcher ziemlich ernst über die Lage sprach und die Vorteile aufzählte, welche jetzt seiner Partei zustattenkämen: 1. der steigende Finanzbedarf, welcher ohne ihr Mitwirken nicht zu befriedigen sei; 2. das in zwei Jahren eintretende Ende des Militärseptennats. Man fühle Bismarck an, wie unangenehm ihm die Verhandlungen mit dem Parlament als Machtfaktor seien. Er verstehe Steuer- und innere Fragen doch nur oberflächlich und überschätze seinen Einfluß auf die Volksvertretung in diesen Dingen. Es könne ihm passieren, daß er in der Bresche liegen bleibe, wenn er sich mit dem Parlament nicht verständige. Bennigsen gibt sich den Anschein, als wolle er ohne Forckenbeck nicht eintreten; ob es ihm ernst damit ist, ob er nicht selbständig genug ist, sich von seinen politischen Freunden loszumachen, ist schwer zu sagen. Er sprach auch viel über Rom und Italien, wo er kürzlich als Gast Keudells gewesen ist. Crispi habe schon 1870 eine feste Allianz mit Deutschland gewollt, Sella habe in Berlin studiert und sei nicht bloß auf finanziellem Gebiet einer der bedeutendsten politischen Köpfe. Wenn jetzt eine Verständigung mit der Regierung erfolge, so sei eine stetige Entwicklung für die nächsten zwanzig Jahre gesichert, wenn nicht ‒ könnten unberechenbare Komplikationen eintreten. Bennigsen und Stauffenberg scheinen Anhänger des Monopols oder Banderollensystems, aber Gegner einer erhöhten Tabaksteuer. 1. Februar. Eine längere Konversation mit Lasker, welcher die Verstimmung, die auf der Rechten herrscht über neue Annäherungsversuche zwischen Hänel und Nationalliberalen, zu beschwichtigen versuchte. Er hält die schlechte Behandlung Hänels durch das Parlament für einen Fehler (Hänel war nicht wieder ins Präsidium gewählt worden) und meint, es würde ein enormer Gewinn sein, ihn nebst den letzten nicht radikalen Elementen der Fortschrittspartei zu entziehen. Es sei eine Personenkombination möglich, welche den deutschen Bürgerstand völlig beruhigen würde, und selbst ohne eine solche Lösung der Personenfrage, welche das Publikum leichter verstehe wie Organisationsfragen, sei über die Finanzfrage eine Verständigung möglich. Diese habe eine technische, politische und wirtschaftliche Seite ‒ über alle könne man sich verständigen. 122

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Er habe Bismarck bei dem vorzeitigen Auftauchen des Reichseisenbahnprojekts gewarnt und den Irrtum mitgemacht, um nicht zu refüsieren, weil Bismarck ihm vorgeworfen habe, daß er ihn im Stiche lasse. Er habe sich auch erboten, ganz aus dem Parlament auszuscheiden, wenn Bismarck das für seine Zwecke förderlich schiene. Bei der jetzigen Wendung würde die liberale Partei der Schleppenträger der Konservativen. Hänel selbst bestrebte sich offenbar lebhaft, sich den Nationalliberalen zu nähern, und hat die Absicht, selbständig über auswärtige Politik namens der Fortschrittspartei zu interpellieren, ausgegeben und sich einem gemeinsamen Vorgehen angeschlossen, wobei Bennigsen die leitende Rolle zufällt. Wir hatten uns vorher durch eine Anfrage in Varzin vergewissert: ob eine Interpellation nicht ungelegen sei. Bismarck hatte anfangs zustimmend geantwortet, aber nach weiterer Überlegung an Bülow (Staatssekretär) telegraphiert, die Antwort würde ihm erleichtert werden, wenn er von feindlicher Seite angegriffen werde. Ich sagte Bülow, welcher mich rufen ließ, das sei jetzt, nachdem die Interpellation von allen Parteien, Konservativen, Zentrum, Polen, Sozialen, gezeichnet sei, nicht mehr möglich, was er auch einsah. ‒ Bismarck wird morgen oder übermorgen erwartet. Nach einem schweren parlamentarischen Diner sprach sich neulich Bennigsen ziemlich frei aus: Es sei für niemand jetzt besonders verlockend, ins Ministerium einzutreten. Er würde es nur tun gemeinsam mit Forckenbeck als Minister des Innern ‒ äußerstenfalls der Justiz, aber hinein müßte Forckenbeck gleichzeitig mit ihm. Wenn nicht ‒ denn nicht. Sie hätten Zeit, zu warten, inzwischen steige die Finanznot und das Septennat laufe ab. Sie würden gar nichts von Belang bewilligen, sondern sich mit Abstrichen, Anleihen und dergleichen vorläufig helfen. Er ging offener und lebhafter mit der Sprache heraus, als er sonst tut; darum ist auf diese Äußerungen auch mehr Gewicht zu legen. Bismarck selbst ist nach Bülows Meinung nie frischer und tatenlustiger, entschlossener gewesen, fester in seinen Plänen wie vor Weihnachten, vor der neuen Erkrankung; wie es jetzt mit dem Befinden stehe, wisse er nicht. Nachdem ich obige Bemerkungen niedergeschrieben hatte, erhielt ich abends einen eigenhändigen Brief Bismarcks, welcher sich höchst unmutig über die Stellung der Interpellation äußerte und sie geradezu als einen boshaften, feindlichen Akt bezeichnete. „Ob er wie Seelig Cassel vor den Augen Europas auf dem Seile tanzen solle“ u. s. w. Ich antwortete sofort, daß ich wie die anderen Unterzeichner bona fide gehandelt und geglaubt hätte, ihm einen Dienst zu erweisen. 123

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Am 14. Februar kam Bismarck in Berlin an, am 15. sprach ich ihn. Er war in seinem Wesen zwar nicht unfreundlich, aber doch kühler wie sonst, so daß ich die Empfindung hatte, als könnte dieser Zwischenfall der Ausgangspunkt einer Entfremdung werden. Es sind aber schon ähnliche Stimmungen vorhanden gewesen und überwunden worden, jedenfalls halte ich mich zurück und warte ruhig ab. Inzwischen schreiten die Ereignisse schnell voran ‒ Pio IX. ist gestorben und die Russen sind bis zur Enceinte von Konstantinopel, St. Stefano, vorgerückt, während die englische Flotte in den Dardanellen eingelaufen ist. Die Interpellation wird übermorgen von Bennigsen begründet und von Bismarck beantwortet werden. Im Bundesrat stößt die Stellvertretungsvorlage auf Widerstand, besonders sächsischerseits. Von Berlepsch, jetzt Sondershauser Minister, sagte mir gestern, es herrsche ein vollständiger Mangel an Fühlung unter den Mitgliedern des Bundesrats, und das könne nur störend wirken. Hofmann, welcher diese Fühlung herstellen sollte, tue gar nichts in der Richtung, und inzwischen gehe Nostiz umher und sammle Stimmen gegen die preußischen Vorschläge. Eine Situation ähnlich wie die bei der Entscheidung über den Sitz des Reichsgerichts, wo kleinstaatliche Stimmen gegen Preußen stimmten in der Meinung, Bismarck einen Gefallen zu tun. Dagegen ist im Reichstag jetzt ein gewisser einheitlicher Zug dadurch, daß ich mich mit Seydewitz (konservativer Fraktionschef) und Bennigsen über alle wichtigen Fragen frühzeitig verständige. Bis zu gewissem Grad neutralisiert das die Zerfahrenheit in Regierung und Bundesrat. Bei den Etatsberatungen haben wir so in Kommission wie Plenum eine sichere Majorität. 22. Februar. Die Interpellation am 19. verlief in günstiger Weise. Bismarck sprach zwar körperlich recht angegriffen ‒ aber geistig frisch, klar, entschieden in großartig realistischer Weise. Es war auch rhetorisch eine große Leistung, dabei sehr vorsichtig abgewogen. Die Wendung vom „ehrlichen Makler, welcher das Geschäft zustande bringen will,“ war besonders frappant. Am 20. war ich abends bei Bismarck. Er empfing mich in alter Herzlichkeit, ebenso die Fürstin, welche erst später, aus einer Gesellschaft kommend, erschien. Bismarck klagte über die Empfindung großer Mattigkeit, welche er während seiner Rede gehabt habe. Die Köpfe seien ihm wie schwarze Punkte erschienen. Er habe sich vorher zwei Tage überlegt, was er sagen wolle, sei aber nicht über den einleitenden Satz hinweggekommen, habe folglich improvisieren müssen, was bei solchen Staatsreden nicht richtig sei. Sonst habe er bei Korrektur der Stenogramme wörtlich gewußt, was er gesagt habe ‒ 124

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diesmal habe er sich besinnen müssen. Danach habe er keinen Bissen essen können und nicht geschlafen. Es war eben das Telegramm gekommen über die Wahl des Kardinals Pecci zum Papst Leo XIII. Als es ihm in Beisein des polnischen Baumeisters Mörner (?), welcher das Radziwillsche Palais für ihn umbaute, dort überreicht worden sei, habe er gedacht, nicht gesagt: „Wenn Löwen sich zum Lamm verwandeln, werden die Wellen rückwärts schreiten.“ Die Nachricht über den Tod Pius‘ IX. habe er durch Vermittlung der Kölner Zeitung zwölf Stunden früher in Varzin erhalten als Keudells offizielles Telegramm über Berlin. Er habe Lust gehabt, es Keudell nach Rom zu telegraphieren. Mit dem Gang der Interpellation war er sonst zufrieden und verriet viel Ärger über den Kanzler Gortschakoff, welcher sich 1875 als Friedensstifter Europas aufgespielt und in die Welt von Berlin telegraphiert habe: Maintenant la paix est assurée! während der Frieden gar nicht bedroht war. Er habe Gortschakoff heftig über seine Anmaßung zurechtgesetzt, daß er auf seine Schultern steigen, ihn als Piedestal benutzen wolle, um vor Europa als Friedensengel zu erscheinen. Er habe sich beim Kaiser Alexander darüber beschwert, welcher über Gortschakoffs Eitelkeit gelächelt habe. Mit der Fassung, welche der Bundesratsausschuß dem Stellvertretungsgesetz gegeben hat, schien er nicht weiter unzufrieden und ist vielleicht selbst von der zu selbständigen Stellung des Vizekanzlers zurückgekommen. Bezüglich der Steuervorlagen hat er sich mit Camphausen verständigt, welcher sie vertreten wird, aber seine Unterstützung dabei verlangt hat. Wie weit Bismarck sich mit ihm identifizieren wird, ob er nach Ablehnung der camphausenschen Entwürfe mit seinen eigenen Ideen hervortreten wird und ihn dann fallen läßt ‒ sind offene Fragen. Bismarck erzählte in Verbindung mit Betrachtungen über menschlichen Neid und Eitelkeit die alte Fabel: Es sei einem Menschen angeboten worden, irgendeinen Wunsch erfüllt zu sehen unter der Bedingung, daß sein erbittertster Gegner das Doppelte erhalten solle. Daraus habe der Betreffende gewünscht, ein Auge zu verlieren, damit sein Feind ganz blind werde. Es ist ein merkwürdiger Charakterzug Bismarcks, wie intensiv er Gedanken der Rache oder Wiedervergeltung für selbst erlittenes oder vermeintliches Unrecht pflegt. In seiner krankhaften Reizbarkeit empfindet er dabei manches als Unrecht, was als solches vielleicht von dem anderen gar nicht beabsichtigt war. Einen ganz intensiven Haß hat er gegen Stosch und meinte, anknüpfend an Richters Etatsrede: Ob wohl Richter die französischen Friedensverhandlungen genügend studiert hat, um die zweite 125

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Konvention von Ferrières zu kennen. Stosch habe durch dieselbe unbefugt den Franzosen wenigstens 20 Millionen Taler geschenkt. Er habe gar kein Recht gehabt, die Bedingungen betreffend die Verpflegung und Stärke der Okkupationstruppen zu modifizieren, welche Bismarck den Franzosen auferlegt hatte. Dann erzählte er wieder die Geschichte der Pariser Kontribution, welche er Thiers zwischen Tür und Angel in Versailles abgenommen habe, auf welche niemand und er selbst nicht gerechnet habe. Er habe damals Sr. Majestät geraten, über diese Kriegsbeute ohne Kontrasignatur ganz frei zu verfügen zu Gunsten der Fürsten, die 1866 abgenommenen Kriegsentschädigungen zu restituieren, der Armee Geschenke zu machen und dergleichen. Se. Majestät habe aber das nur tun wollen, wenn Bismarck kontrasigniere, was er wiederum abgelehnt habe, weil damit die Sache auf ein fremdes, unrichtiges Gebiet gebracht würde. So sei es unterblieben. Die Damen kamen erst gegen 12 Uhr und wir saßen bis nach 1 Uhr, zuletzt von Memoiren und Hardenbergs Denkwürdigkeiten redend. Er (Bismarck) habe nie Tagebücher geführt, aber alle seine Korrespondenzen seit 1840 aufgehoben, somit viele sicher interessante Sachen. Die Fürstin erzählte lachend, sie hätten einmal in Schönhausen alte Briefe von Moritz von Blankenburg gefunden, worin er Bismarck dränge, sie zu heiraten, sonst werde er es selber tun. Es war ein höchst behaglicher Abend, er verzehrte, selbst mit dem Messer tranchierend, eine halbe Pute und trank dazu eine Viertel- bis eine halbe Flasche Kognak mit zwei bis drei Flaschen Apollinaris gemischt. Bei Tage könne er nichts genießen, weder Bier noch Champagner, dagegen bekomme ihm Kognak mit Wasser am besten. Er nötigte mich, mitzutrinken, damit er nicht sähe, wie viel er konsumiere. ‒ Man hat dabei die Besorgnis, daß solche Diätfehler plötzlich einen Schlaganfall herbeiführen könnten. 24. Februar. Gestern und vorgestern bei Beratung der Tabaksteuervorlage sehr interessante, aber zugleich höchst peinliche Auseinandersetzungen zwischen Bismarck und Camphausen, welche wohl mit dem Rücktritt des Letzteren enden werden ‒ obschon er sich an sein Portefeuille klammert wie ein Ertrinkender an den Strohhalm. Camphausen suchte sich gestern durch den Nachweis zu salvieren, daß er schon vor einem Jahr das Monopol als richtige Maßregel bezeichnet habe, während er noch am Tage vorher dasselbe als „die Existenz der Einzelstaaten gefährdend und nicht so übermäßig lukrativ bezeichnet hatte“. Darauf hatte Bismarck gesagt: „Mein Ziel ist allerdings das Monopol.“ Es war eine peinliche Szene, und der sonst in feistem Behagen strahlende derbe Camphausen wischte sich die Tränen aus den Augen. Daß die 126

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Nationalliberalen ihn bei dieser Gelegenheit nicht verteidigten, sondern angriffen, „ôte toi que je m’y mette,“ soll ihn am tiefsten gekränkt haben. Bennigsen, welchem ich begegnete, teilte mir spontan mit, er habe infolge der letzten Ereignisse (Benehmen bei der Interpellation, Behandlung Camphausens und Hofmanns, Engagement für das Monopol) den Fürsten gebeten, von seiner ihn einbegreifenden Ministerkombination abzusehen. Er könne nicht für das Monopol wirken. Bismarck möge es nun mit einem fachmännisch-bureaukratischen oder einem fortschrittlich-liberalen (Hänel, Forckenbeck, Stauffenberg) Ministerium versuchen. Bennigsen ist von Haus nur zögernd und mit Vorbehalt auf die Proposition eingegangen und nun wieder ganz kopfscheu über das Monopolprojekt und die schutzzöllnerischen Tendenzen geworden. 4. März. Nachricht von dem russisch-türkischen Frieden von St. Stefano kam gestern. Die innere Lage wechselt mit kaleidoskopischer Schnelligkeit. Zunächst klebt Camphausen noch an seinem Posten. Die Unterhandlungen mit Bennigsen dauern fort, welcher aber ohne Forckenbeck und Stauffenberg nicht will. Mit Delbrück ist auch wieder verhandelt worden, welcher aber nur bereit ist (wie Bismarck gestern sagte), allenfalls das Handelsministerium zu übernehmen, solange es die Eisenbahnen behält. Dazwischen werden Friedenthal und Günther als Finanzministerkandidaten genannt. Eine Partei vom Hof begünstigt Graf Otto Stolberg als Vizekanzler und Se. Majestät selbst soll sehr gegen alle liberalen Ministerkandidaten sein. Friedenthal erklärt, er wolle nicht Minister des Innern werden, woraus man schließen könnte, daß seine Chancen dafür gering sind. Bismarck behandelt alle diese Fragen von seinem persönlichen Standpunkt aus, ist offenbar nicht geneigt, viel von seinem persönlichen Einfluß aufzugeben, und wechselt wohl auch seine Ansichten von Tag zu Tag. In Dingen, die er vielleicht selbst nicht will, verschanzt er sich hinter den kaiserlichen Willen, während jeder glaubt, er könne alles durchsetzen, was er ernstlich will. 15. März. Gestern Abend bei Bismarck, welcher sich in Anwesenheit von Udo Stolberg offen über die Situation aussprach: Nachdem er sich durch Stauffenbergs Rede in der Steuerdebatte und Laskers bei der Stellvertretungsvorlage überzeugt habe, daß mit den Nationalliberalen nichts anzufangen sei, müsse er sich anders helfen. Bennigsen sei auch nicht selbständig genug und beharre bei der Bedingung des gleichzeitigen Eintritts zweier anderer ins Ministerium. Das hieße die Fraktion zur Regierung berufen und eine so regierungsunfähige! Er (Bismarck) habe Bennigsen gesagt, seine Bedingungen seien denen Hüons ähnlich, der sollte zum Kalifen von Bagdad 127

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gehen, dem ersten Günstling den Kopf abschlagen, seine Tochter heiraten und sich noch zum Abschied die sechs Backzähne des Herrschers ausbitten. Es sei dem Kaiser schon sehr schwer, e i n e n nationalliberalen Minister zu nehmen, aber das Verlangen, noch zwei andere abzuschlachten, um weitere Vakanzen zu schaffen und den Artikel 109 mit in Kauf zu geben ‒ das sei zu viel und übersteige das Mögliche. Er habe nun noch keinen Finanzminister ‒ Friedenthal habe zweimal abgelehnt, freilich sage er bei jeder solchen Anfrage zunächst „nein“. Botho Eulenburg könne Minister des Innern, ein anderer Vizekanzler werden, dann könne er als altes Stangenpferd, wenn seine Gesundheit aushalte, den jungen starken Gaul noch einfahren. Leo XIII. hat sondieren lassen, wie ein Brief von ihm an Se. Majestät ausgenommen werden würde und ob er ihn durch den Nuntius in München an seine Adresse gelangen lassen könne. Darauf ist ihm angedeutet worden: er möge ihn an den König von Bayern geben, welcher ihn gewiß an seinen Landsmann, den Deutschen Kaiser, übermitteln würde. So sei es geschehen. Nachdem das Kardinalskolleg den Tod des Papstes Pius notifiziert habe, sei ein eigenhändiges, italienisch abgefaßtes Schreiben Leos gekommen, worin es heiße: „Bedauernd (dolente), daß die Beziehungen zu Deutschland weniger freundlich seien wie früher, hoffe er, sie würden sich bessern. Die katholischen Untertanen Sr. Majestät seien skrupulös loyal und gehorsam.“ Bismarck behandelte die Sache als wie von geringer Bedeutung und als wenn man sich kühl höflich, ohne weiter entgegenkommend zu sein, verhalte ‒ allein daß er diese Situation zu einem Versuch, mit Konservativen und Ultramontanen zu regieren, in ernsten Betracht zieht, halte ich doch für sehr wahrscheinlich. Schon früher äußerte er, mit dem Zentrum könne man sich jederzeit verständigen, und jetzt, wo die Nationalliberalen versagen, kann dieser Moment wohl gekommen sein. Ich habe Bennigsen mehrere Male auf diese Eventualität hingewiesen und gesagt: Greifen Sie zu, einmal im Besitz der Gewalt, werden Sie Ihre Stellung im Ministerium und im Parlament schon sichern und ausdehnen. „Was man von der Minute ausgeschlagen, gibt keine Ewigkeit zurück.“ Er hat aber stets gezaudert und erklärt: „Mein unter keinen Umständen.“ Wir stehen an einem großen Wendepunkt. Abgeordneter Reichensperger hat Varnbüler entschieden friedliche Absichten zu erkennen gegeben und angedeutet, sie hätten Schorlemer auf Reisen geschickt, damit er Bismarck nicht weiter reize. Das fällt zusammen mit dem Eintreffen des päpstlichen Briefes. 15. März. Friedenthal erzählt, er habe in Varzin empfohlen, Camphausen noch zu halten, bis alles zu einer großen Steuerreform vorbereitet sei, welche 128

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allseitig durchdacht jedem hätte etwas bieten sollen ‒ also das in den Motiven des Tabaksgesetzes entwickelte Programm nebst einem mäßig schutzzöllnerischen Tarif. Dann hätte man die Kabinettsfrage stellen und even­tuell Bennigsen-Forckenbeck ins Ministerium nehmen können. Das sei nun alles verpufft, und in diesen verfahrenen Verhältnissen denke er nicht daran, das Finanzministerium zu übernehmen. Es sei ja eine ganz lockende Sache, auch nur drei Monate Vizekanzler zu sein, das sei ihm aber nicht angeboten worden. Jetzt sei es am besten, Camphausen noch zu behalten oder ihm Burchard als Substituten zu geben. Das Programm sei: Stolberg Vizepräsident, ohne Portefeuille, Burchard Finanzminister des Reichs, Botho Eulenburg Minister des Innern, Friedenthal Landwirtschaft mit Domänen und Forsten. Er habe vor Monaten an Bismarck eine Denkschrift in diesem Sinne überreicht und bald Spuren davon in Äußerungen der Kreuzzeitung gefunden, obschon er das streng sekret gehalten und nicht einmal seiner Frau etwas davon gesagt habe. Abends zu Tisch bei Bismarck, wo nur die verwitwete Gräfin Eberhard Stolberg, geborene Prinzeß Reuß. „Wenn er (Bismarck) nur erst einen Finanzminister habe, einen Eisenbahnminister brauche er auch. Bennigsen habe ganz formell die Fortsetzung der Verhandlungen gekündigt. Er habe ihn als gescheiten Mann und energischen Charakter gewinnen wollen, die ganze Fraktion könne er aber nicht hineinnehmen.“ Graf Otto Stolberg kommt in den nächsten Tagen. 20. März. Abends bei Bismarck, wo Otto Stolberg. Dieser ist nicht abgeneigt, als Vizekanzler und Vizepräsident einzutreten, wünscht aber die Vereinbarung eines Programms über die beabsichtigte Entwicklung der Dinge. Bismarck kam später munter von eben stattgehabtem parlamentarischem Diner, wobei er die Abgeordneten konsultiert habe über das korrekte Verfahren, um ein neues Eisenbahnministerium, eine Vizepräsidentenstelle des Staatsministeriums zu kreieren und die Domänen und Forsten auf das landwirtschaftliche Ministerium zu übertragen. Dagegen war er gereizt darüber, daß man ihm nicht amtlich notifiziert habe, daß der Reichstag eine achttägige Pause zu Gunsten des Abgeordnetenhauses mache. Allerdings konnte man wohl annehmen, daß seine Vertreter oder Kollegen ihm hiervon Mitteilung gemacht hätten. Die Neigung, aus jeder Kleinigkeit einen Konfliktfall zu machen, ist fast krankhaft und führt zu ewigen Friktionen. Er kann sich bei dieser Nervosität dem Reich und Staat nur erhalten, wenn er auf einen großen Teil seiner Tätigkeit verzichtet und selbständigen Kräften neben sich einen gewissen freien Spielraum gewährt. In ruhigen Momenten sieht er das ein und ist dann auch entschlossen. 129

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Bennigsen ist ihm auch sympathisch, hat ihm aber die Sache zu schwer gemacht. Friedenthal hat das loyale Bestreben, nach besten Kräften mitzuhelfen. Die Vorlage wegen des neuen Ministerpostens ist an das Abgeordnetenhaus gelangt. Stolberg hat sich noch nicht definitiv über Annahme oder Ablehnung entschieden. Das Sprungweise und Violente in der Entwicklung der Dinge hat freilich für ruhige, besonnene Leute etwas vom aktiven Eintritt Abschreckendes. 23. März. Gestern Nachmittag 3 Uhr suchte ich Bismarck auf seine Einladung auf und traf ihn, mit Graf Bill im Park gehend, frisch aussehend, aber evident deprimiert. Er kam mir mit den Worten entgegen: „Halt, wollen Sie Finanzminister werden?“ Ich dankte lachend, die Sache als Scherz behandelnd ‒ auf meine mangelnde Qualifikation hinweisend. Er entgegnete: „Das Finanzministerium sei das Einfachste von der Welt: wenn ein so unfähiger Mensch wie Bodelschwingh ihm habe acht Jahre vorstehen können, so könne das jeder. Burchard habe bestimmt abgelehnt mit dem Hinweis, er sei zu liberal, außerdem habe er sechs Söhne und müsse im Amt bleiben, um seine Familie zu erhalten. Einmal Minister, könne er nach Jahresfrist in seine frühere Stellung nicht wieder zurücktreten, wenn er da unmöglich geworden sei. Herzog, Stephan, Friedenthal wollten auch nicht, genug, es sei keiner zu finden. Friedenthal habe offenbar seine eigenen Plänchen und konspiriere mit Delbrück, Camphausen, Bennigsen. Wenn Friedenthal das Ministerium des Innern hätte haben wollen, so wäre Eulenburg Finanzminister geworden. Achenbach wolle auch nicht, nötigenfalls m ü ß t e er. Würde die Bildung eines eigenen Eisenbahnministeriums abgelehnt, so müsse Achenbach springen und er werde Maybach zum Handelsminister machen, dann sei dasselbe erreicht. Zurückziehen werde er die Vorlage nicht, eventuell werde er seinen Abschied fordern und sein Verbleiben im Amt von einer vollständigen Neubildung des Kabinetts abhängig machen.“ Er sprach nicht leidenschaftlich, sondern eher resigniert-traurig. Stolberg besinne sich zu lange, er sei nun zehn Tage hier und komme zu keinem Entschluß. Die Frage habe ihn auch nicht unvorbereitet getroffen; er wolle ein Programm aufstellen, um seinen Geschäftskreis abzugrenzen, das sei aber von vornherein ganz unmöglich. Wenn zwei Leute eine gemeinsame Reise nach Griechenland verabredeten, könnten sie auch nicht jede Eventualität und Willensänderung voraussehen und darüber Stipula­ tionen treffen. Er sei doch kein unverträglicher Mensch! Er wollte noch Bleichröder über einen Finanzminister konsultieren, welcher eben gemeldet wurde. Er fragte noch nach Persönlichkeiten in der Fraktion. 130

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Abends bei der Soiree im Schloß traf ich Graf Stolberg und redete ihm entschieden zu, anzunehmen, was ich bisher vermieden hatte. Als weiterer Kandidat für das Finanzministerium wurde auch der Danziger Regierungspräsident Hoffmann genannt. 24. März. Im Abgeordnetenhaus wurde erzählt, der Oberbürgermeister von Berlin, Hobrecht, sei Finanzminister geworden, er ist am 22. spät abends noch zu Bismarck zitiert worden. Mit Achenbach soll er eine heftige Szene gehabt haben, indem er ihn förmlich bat, aushilfsweise auf sechs Monate den Posten anzunehmen, unter Offenhalten des Handelsministeriums. Die nächste Soiree fand schon im neuen Kanzlerpalais statt und es wurde da erzählt, Graf Otto Stolberg habe sich immer noch nicht definitiv erklärt, dagegen ein Promemoria eingereicht, was den Fürsten stark verschnupft habe. Das sei wie ein Dienstvertrag für untergeordnete Leute, solche Verhältnisse ließen sich so genau nicht präzisieren, sie seien Vertrauenssache. Anwesend auf der Soiree war Stolberg nicht. Im Abgeordnetenhaus hielt Bismarck gestern eine Rede, welche ziemlich unverblümt die Kabinettsfrage stellte. Die Nationalliberalen erklärten durch Miquel, sie könnten jetzt wegen Mangels an Zeit nicht für Dinge stimmen, welche sie nicht vollständig übersähen ‒ behielten sich aber doch alles vor. Bennigsen selbst scheint sehr verstimmt und geht in einer bei seiner sonstigen Verschlossenheit merkwürdig offenen heftigen Weise gegen Bismarck los. Es wäre zu beklagen, wenn hier eine dauernde Verstimmung und Gegnerschaft entstehen sollte. 25. März bei Bismarck, welcher ruhiger und behaglich über die Schwierigkeit der Ministersuche klagte. Die Sache ist aber dadurch beendet, daß inzwischen Stolberg, Eulenburg, Hobrecht angenommen haben. Er habe trotz seiner langen vorgestrigen Rede, der langen Soiree und des vielen getrunkenen Bieres gut geschlafen. Das Niveau des Abgeordnetenhauses stehe, wie er wieder gesehen habe, erheblich unter dem des Reichstags. Wenn man wie gestern dem Minister Friedenthal zugerufen hätte: geradeaus, würde er mit dem bekannten Zitat aus Götz von Berlichingen geantwortet haben. Er habe gestern sich mit Landboten über die Frage unterhalten, ob Schnelligkeit oder Gerechtigkeit der Entscheidung in der Rechtspflege wichtiger sei, und sich zum Schrecken eines rheinischen Friedensrichters für Ersteres entschieden. Eine Instanz genüge in den meisten Fällen, und wenn diese Entscheidung ein Gendarm mit seinem ehrlichen Unteroffizierverstand gäbe, so sei es ebenso gut wie ein gelehrter Richter. Der Gendarm müßte dann allerdings etwa zwanzig Meilen außerhalb seines Beritts Recht sprechen. 131

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Die Hörer seien bei Tisch ganz erschrocken über diese Idee gewesen, er habe sie aber durch die Versicherung beruhigt, daß er diese Paradoxen nicht auf der Tribüne verfechten werde. Graf Otto Stolberg hat das Vizepräsidium des Staatsministeriums definitiv angenommen. Die nächste Krisis wird nun sein, daß Achenbach abgeht und Maybach an seine Stelle tritt. Maybach soll ein schwieriger Charakter, aber ein tüchtiger Fachmann von großer, rücksichtsloser Tatkraft sein, was Achenbach trotz aller rednerischen Begabung abging. Selbständige Charaktere und tüchtige Fachleute sind das, was uns für die Ministerposten nottut. Falk hat sein volles Einverständnis mit Stolbergs Eintritt kundgegeben und sieht darin nicht eine Schwächung, sondern eine Verstärkung seiner Stellung. 29. März ging ich noch spät auf Holsteins Veranlassung zu Bismarck, welcher allein und sehr behaglich war. Es war eben die Nachricht gekommen, daß Derby abgegangen und Salisbury dafür ernannt sei, und die englische Militia werde mobilisiert. Bismarck sprach über frühere Verhältnisse, wo es nicht ungewöhnlich gewesen sei, daß auswärtige Minister eine regelmäßige Besoldung von fremden Mächten erhalten hätten. Kaiser Alexander II. habe vor zwei Jahren ein Handschreiben an unseren Kaiser gerichtet und auf seine Entlassung gedrungen, als er, Andrassy stützend, einen österreichisch-russischen Krieg verhütet habe. Gortschakoff erstrebe eine Allianz gegen Österreich mit Preußen oder auch eine Allianz mit Frankreich gegen Deutschland. Wenn Österreich die Polen gegen Rußland und Preußen aufhetze, würden wir wieder schnell genug in Brünn sein. Über die neuen Minister sagte er nicht viel, offenbar fühlte er sich wesentlich durch ihren Eintritt erleichtert. 9. April. Am 30. März war ich bei Bismarck zu Tisch, welcher eben in großer Kürassier-Paradeuniform von der Investitur des Großherzogs von Baden mit dem „Goldenen Vließ“ kam. Er selbst trug den Schwarzen Adler in Brillanten auf dem weißen Koller, ebenso den Hohenzollernstern und das badische Kollier der Treue, gleichfalls in Brillanten und Rubinen, sehr schön und glänzend, eigens für ihn hergestellt. Dazu die pfundschwere lange goldene Kette des spanischen Goldenen Vließes. Dieselben Insignien soll Cortez getragen haben. Bei Tisch eine ernste psychologische Unterhaltung über die Entstehung des Willens respektive das plötzliche Fassen eines festen, unbeugsamen Entschlusses nach langem Schwanken ‒ offenbar in Anknüpfung an die Erlebnisse der letzten Tage. „Es sei, als wenn plötzlich eine Feder einschnappe und nun die Wage feststehe, ohne daß man weiß, wie diese Festigkeit nach 132

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langem Schwanken plötzlich entstehe. Solche Momente habe er mehrere im Leben durchgemacht, wonach er dann unbeugsam gegen Einflüsse von oben oder unten geblieben sei.“ Er kam dann wieder auf die harte Erziehung, welche er in frühester Jugend (er kam sechsjährig in das Plamannsche Institut) erfahren und welche in ihm vielleicht das schroffe, empfindliche Element entwickelt habe, sich gegen erlittene Unbilden scharf zu wehren. Mit sechs Jahren sei er in jenes Institut gekommen, wo die Lehrer demagogische Turner gewesen seien, welche den Adel haßten, und mit Hieben und Püffen anstatt mit Worten und Verweisen erzogen hätten. So seien die Kinder morgens mit Rapierstößen, welche blaue Flecken gaben, geweckt worden, weil es den Lehrern zu langweilig gewesen sei, es auf andere Weise zu tun. Das Turnen sei angeblich Erholung gewesen, aber dabei hätten die Lehrer mit eisernen Rapieren geschlagen! Seiner schöngeistigen Mutter sei Kindererziehung unbequem gewesen, und sie habe sich früh davon losgesagt, wenigstens in ihren Gefühlen. Er sprach sehr bitter in dieser Beziehung. Als er der Fürstin ein Kompliment machte über ein besonders gelungenes Gericht farcierter Enten, und sie ihm dagegen ausführte, wie viel Abwechs­ lung sie ihm verschaffe, sagte er ganz betrübt: „Aber nach dreißigjähriger Ehe siehst du in einem Lob einen Tadel! O Frauen!“ Anwesend waren der Münchener Professor Dr. Georg Mayr, welcher eine Denkschrift über Tabakmonopol und Differentialtarife ausarbeiten soll. Bismarck bemerkte dazu: all das seien Vorbereitungen für die 79/80er Wahlen, jetzt denke er nicht an eine Auflösung, welche doch nur Wiederwahl der bisherigen Abgeordneten ergeben würde. Man werde ein wirtschaftliches Programm aufstellen und das den Parlamenten vorlegen, eventuell dann ans Land appellieren. Er sprach überhaupt ruhig und sachlich über diese Dinge. Inzwischen meldete ein Adjutant des Kronprinzen dessen Besuch auf 8 ½ Uhr an, und Friedenthal den seinen zum Zweck, den Fürsten abzuhalten, die Übertragung der Domänen- und Forstabteilung durch königliches Dekret auf das landwirtschaftliche Ministerium zu verfügen. Ich hatte schon vorher im selben Sinn mich geäußert, Bismarck schien aber zum anderen Weg bereits entschlossen, und darauf bezog sich auch vielleicht die Betrachtung über die Entstehung des Entschlusses. Später traf ich den Fürsten Hohenlohe-Langenburg, welcher bestätigte, daß davon die Rede sei, ihn zum Botschafter in Wien zu machen. Der Kronprinz sei zu diesem Zwecke zu Bismarck gefahren. Er selbst würde London vorziehen und sei überhaupt zweifelhaft über seine Qualifikation für den Posten. 133

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10. April. Zu Tisch bei Bismarck, welcher eben den rumänischen Minister Bratianu empfangen und ihm geraten hatte, unter allen Umständen sich mit Rußland zu verständigen, da ihnen doch niemand helfen werde. Bratianu, welcher ziemlich fließend Französisch spreche, sei niedergeschlagen gewesen, habe ihm aber wenigstens für seine Offenheit gedankt. „Daß ein Hohenzoller Fürst von Rumänien sei, mache in der Situation keinen Unterschied.“ Die Nationalliberalen haben inzwischen entschieden Stellung gegen das Monopol genommen und scheinen sich überhaupt zur Opposition formieren zu wollen. General Moltke, neben welchem ich neulich bei Spitzemberg saß, meinte über die Orientfrage: „Die Russen sind unangenehme Nachbarn, sie haben absolut nichts, was man ihnen selbst nach dem siegreichsten Krieg abnehmen könnte ‒ Gold haben sie nicht und Land können wir nicht brauchen.“ 12. Mai, Berlin. Gestern zwischen 3 bis 4 Uhr mittags hat ein einundzwanzigjähriger Sozialdemokrat Hödel-Lehmann aus Leipzig auf den Kaiser geschossen, als er mit seiner Tochter, der Großherzogin von Baden, am Russischen Palais vorbeifuhr. Der Betreffende feuerte vier Schuß aus einem Revolver, ohne zu treffen. Es herrscht eine ungeheure Aufregung über diese unbegreifliche Schandtat, welche ein Symptom ist der Wirkungen der sozialdemokratischen Hetzereien. Es ist eine Schmach für die ganze Nation, und wenn auch der Kaiser zunächst wenig erregt gewesen sein soll, so werden die Einwirkungen dieses Erlebnisses doch nicht ausbleiben. Wir erhielten diese Nachricht im Reichstag, der Präsident aber nahm keine Notiz davon, weil er die Nachricht nicht glaubte oder wenigstens eine amtliche Bestätigung abwarten wollte. Inzwischen wurde vertagt. Die Session nähert sich dem Schlusse und ist wegen Mangels an Interesse im Erlöschen. Die Gegenstände interessieren wenig Leute und das herrliche Frühjahrswetter lockt zu Reisen. 23. Mai. Heute steht die große Diskussion über das sozialdemokratische Gesetz bevor, wobei schwere Hiebe gegen Bismarck und die jetzige Regierung fallen werden. Graf Bethusy soll für die Fraktion reden. Bennigsen soll die Nationalliberalen, von welchen zwanzig bis dreißig für das Gesetz stimmen wollen, bestimmt haben, geschlossen dagegen zu stimmen. Er ist jetzt der enragierte Chef der Opposition und soll entschlossen sein, der Regierung ein Bein zu stellen, so oft und gründlich wie möglich. Bei aller Mäßigung wird er sicher sehr bitter sein und der liberale Philister folgt ihm mit Vorliebe. Wir werden für die Vorlage mit größter Entschiedenheit 134

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eintreten, mag die Einbringung im jetzigen Moment oppor­tun sein oder nicht. 24. spreche ich für die Vorlage. Eine Rede, welche lebhafte Reaktion bei Fortschritt und Nationalliberalen hervorruft. Am Abend wird die Session geschlossen. Klein-Ballhausen, 2. Juni. Nachricht, daß zwei Panzerschiffe bei ruhiger See angesichts der englischen Küste zusammengestoßen sind und das eine, der „Große Kurfürst“, Kapitän Graf Monts, mit 300 Mann zu Grunde gegangen ist. Am Abend brachte der Kutscher, welcher den Sondershauser Minister von Berlepsch an die Station gefahren hatte, die Nachricht mit, es sei ein zweites Attentat auf den Kaiser gemacht und derselbe schwer verwundet worden. So unglaublich die Nachricht klang, so hat sie sich doch im vollen Umfang bestätigt. Der Kaiser hat zwei volle Schrotschüsse in Kopf, Rücken und beide Arme bekommen. Der Täter ist ein Dr. Nobiling, verbissener Sozialdemokrat. Man vermutet eine Konspiration, deren Fäden in London und Paris enden. Der Unwille ist grenzenlos und es liegt ein schwerer Druck auf dem ganzen Lande. Jeder fühlt die Schande der verruchten Tat als persönliche Schmach. Soeben die Nachricht, daß Preußen beim Bundesrat die Auflösung des Reichstags beantragt hat. Das ist ein energischer und, wie ich hoffe, richtiger Coup! Die Nationalliberalen haben sich enormen Schaden getan durch ihre ablehnende Haltung bei dem Sozialistengesetz und in der Steuerfrage. Wenn die Regierung ihren Einfluß jetzt richtig übt, werden die Wahlen wenigstens in Preußen sehr konservativ ausfallen. In Süddeutschland und Sachsen mag sich weniges ändern. 15. Juni nach Berlin zur Wahlausschußsitzung. Den Abend und nächsten Tag zu Tisch bei Bismarck, welcher wohl, aber etwas marode von den Kongreßsitzungen war. „Er müsse jetzt acht bis zehn Stunden täglich in fremden Zungen über die intrikatesten Fragen reden, was sehr anstrenge. Unter den Kongreßleuten seien ihm Schuwaloff und Corti die angenehmsten, auch mit Waddington ließe sich leben. Die Leute hätten von Geschäftsführung und parlamentarischer Ordnung keine Ahnung. Er müsse immer die Fragen stellen und darauf aufmerksam machen, daß über eine wichtige Sache jetzt abgestimmt werde. Einige wichen von der Sache weit ab und heute habe er einem Türken bedeutet: was er sagen wolle, könne man in der Tischunterhaltung fortsetzen. Er wünsche ein möglichst baldiges Ende, damit er fortkönne. 135

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Andrassy sei zu unentschlossen, er souffliere ihm öfters, aber Andrassy traute sich nicht immer, zu folgen, und bedaure nachher, es nicht getan zu haben. Ob noch vor den Wahlen ein Regierungsprogramm verlautbart wird, scheint ungewiß ‒ die Wahl seiner beiden Söhne wünscht er lebhaft. Erschreckt hat mich, daß er jetzt schon mit den neuen Ministern Hobrecht und Graf Botho Eulenburg nicht recht zufrieden scheint, wohl aber mit Maybach. Hobrecht sei ein Leisetreter, welcher immer mit den Nationalliberalen Fühlung suche. Eulenburg sei ein Staatsanwalt, welcher immer sechs Gesetze dafür anführe, daß etwas nicht gehe. Stolberg klage über Mangel an Beschäftigung und doch könne er sich alles vorlegen lassen. Am 21. fuhr ich wieder fort, hielt am 30. Juni in Erfurt eine beifällig aufgenommene Wahlrede und wurde ohne Opposition als Kandidat der Konservativen und Nationalliberalen aufgestellt. Am 30. Juli wurde ich mit über 11.000 Stimmen gewählt gegen einen Sozialdemokraten, welcher 1500 Stimmen betaut. Es sind 63 Stichwahlen erforderlich, die Rechte ist schon um zirka 50 Sitze verstärkt. Die Ultramontanen, Fortschritt, Sozialdemokraten scheinen sich bei den Stichwahlen zu koalieren. In Kissingen verhandelt Bismarck eifrig mit dem Kardinal Masella. Da Friedenthal hier und in Neurode ‒ also doppelt ‒ gewählt ist, wird hier (Langensalza-Weißensee) eine Nachwahl nötig, bei welcher wahrscheinlich Graf Bill Bismarck aufgestellt wird. Die Verstimmung zwischen Bismarck und Bennigsen hat immer noch unangenehme Nachwirkungen, wird aber hoffentlich zu heben sein, sonst ist die Annäherung an das Zentrum die natürliche Folge. Ich fuhr zur Ausstellung nach Paris und wurde durch Telegramm zur beschleunigten Rückkehr veranlaßt, weil es inzwischen hier ernst wurde mit der Kandidatur Graf Bill Bismarcks. 24. August in Mühlhausen, wo aber erst morgen Wahlversammlung sein soll. 26. Langensalza. 27. Weißensee. Gegenkandidat war Geheimer Regierungsrat Reuleaux. In der Stichwahl wurde Graf Bismarck gewählt. 18. September zu Tisch bei Bismarck mit Graf Münster und Keudell. Bismarck hatte am 17. bei Gelegenheit der ersten Lesung des Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie eine große Rede gehalten, in welcher er auch seine Beziehungen zu Lassalle im Konversationston erwähnte. Nach Tisch unterhielten wir uns lange über die Situation und er sprach die Absicht aus, den Kommissionssitzungen über die Vorlage bei136

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zuwohnen, wovon ich abriet, da das Sache der eigentlichen Ressortminister sei. Er meinte, diese (Eulenburg, Hofmann) würden dann alle möglichen Konzessionen machen. Ich äußerte die Ansicht, die Nationalliberalen seien durch die Wahlen belehrt mit der Absicht zurückgekommen, etwas zustande zu bringen, und fürchten, man suche weiteres Konfliktmaterial, um sie noch mehr zu schwächen. Man müsse sie einerseits beruhigen, anderseits klarmachen, was sie unbedingt zu konzedieren hätten. Meines Erachtens würden sie alles Nötige konzedieren, aber nur auf eine bestimmte Periode, zehn, sieben, fünf oder drei Jahre; ich riet nicht unter fünf zu akzeptieren. Er hörte sehr aufmerksam zu, ohne sich selbst zu erklären. Nachher erzählte Münster, daß Bismarck schon eine Unterhaltung mit Bennigsen über den Gegenstand gehabt habe und daß vermutlich schon eine Basis der Verständigung gewonnen sei. Bismarck erzählte noch, der Kaiser habe sich schon völlig von der schweren Verwundung erholt, sei frisch und kriegslustig, Konflikte auszufechten. Streiche sich den Schnurrbart ganz jugendlich und wolle demnächst wieder völlig in die Geschäfte eintreten. Er habe Stauffenbergs Rede über Artikel 109 nicht vergessen und ihr mehr Bedeutung beigelegt als er selbst. Während des Essens kam ein Telegramm vom Grafen Lehndorff, wonach der Kaiser mit ihm seinen ersten Ritt gemacht hat. Bismarck meinte: „Wenn er nur beim Schrittreiten bleiben wollte.“ Die Geschäfte während der Regentschaft des Kronprinzen hätten sich sehr leicht und bequem gemacht, wie auch die Chefs des Zivil- und des Militärkabinetts bestätigten. Bismarck selbst war sehr frisch und von Abschiedsgedanken ist jetzt offenbar nicht mehr die Rede. Am 6. Oktober nach Berlin gekommen, sah ich am Abend noch Bismarck, welcher bezüglich des Sozialistengesetzes eine gewisse Indifferenz gerade bezüglich der Punkte äußerte, welche man bisher als hauptsächliche betrachtet hat, das heißt § 19, Zusammensetzung der Beschwerdeinstanz, und § 22, Dauer des Gesetzes. Das Gesetz sei mehr seinem Inhalte als wie seiner Dauer nach von Bedeutung, inhaltlich habe schon die Bundesratsvorlage wenig getaugt, und die Kommissionsbeschlüsse hätten sie noch mehr verschlechtert. Er betrachte das Gesetz nur als einen ersten Schritt, welchem weitere doch folgen müßten. Hauptsache sei ihm § 20, der Zivilbelagerungszustand und die Möglichkeit der Ausweisung von Agitatoren, demnächst die Beseitigung des stauffenbergschen Amendements zu § 6, die Unterdrückung von Zeitungen betreffend. Nachher äußerte er sich noch ziemlich bitter über den eitlen Gecken Gortschakoff. Kaiser Alexander wolle lieber allein regieren, darum wolle er 137

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den alten schwachen Mann behalten und nicht den klaren energischen Graf Schuwaloff zum Kanzler nehmen. Wie die Sachen dabei gingen, verbiete ihm der Respekt zu sagen. Fürst Gottschakoff habe dem Prozeß der Wera Sassulitsch auf der ersten Bank beigewohnt, Tränen der Rührung vergossen und der Freisprechung applaudiert. 7. Oktober dinierte ich da. Fürst Pleß sprach energisch seinen Unwillen aus, daß die Regierung so nachgiebig gegen die Nationalliberalen sei und ähnlich wie beim Militärseptennat unnötige Konzessionen mache. In Abgeordnetenkreisen sei die Meinung verbreitet, die Regierung werde sich eventuell mit einem Jahr begnügen, während fünf und selbst sieben erreichbar seien. Bismarck erwiderte: Er habe allerdings geäußert, daß ein schneidiges Gesetz von kürzerer Dauer ihm genehmer sei als wie ein unbrauchbares von langer Dauer. Übrigens könne er so schnell sein letztes Wort nicht sagen, da der Kaiser auch mitzureden habe, er habe erst heute einen Brief erhalten, worin der alte Herr ihm Vorwürfe mache über die vielen Konzessionen, welche die Regierung schon in der Kommission gemacht habe. Der Kaiser habe die Berliner Wahlen als eine persönliche Kränkung empfunden, Stauffenberg sehe er nur mit Artikel 109 auf der Achselklappe, welchen er für ein Palla­dium der preußischen Monarchie aus der Konfliktszeit her ansehe. Als er (Bismarck) einmal sich abfällig über den Wert dieses Artikels geäußert habe, sei der Kaiser ganz aufgebracht geworden. Ich mußte unmittelbar nach dem Diner weg in die Fraktionssitzung, wo ich entsprechende Direktiven gab, zum großen Mißfallen der Mehrheit derselben. Nur der Abgeordnete von Lerchenfeld erklärte sich mit einer kurzen Dauer des Gesetzes zufrieden und gegen eine Verlängerung des Termins. Als ich nach 11 Uhr nach Hause kam, beschied mich ein Bote zum Kanzler, welcher Folgendes mitteilte: Er habe seinen Operationsplan den Nationalliberalen gegenüber wohl überlegt, und dieser erlaube ihm nicht, jetzt schon den letzten Tropfen möglicher Konzessionen herauszupressen in einer Weise, welche eine große Verstimmung zurücklassen müsse. Könne man einen Gegner völlig vernichten, so sei das eine rationelle Sache, könne man das aber nicht, so müsse man seine Gelegenheit wählen. Die Nationalliberalen hätten vor der Auflösung an Größenwahn gelitten und seien jetzt einigermaßen davon kuriert. Er habe die Auflösung des Reichstags nur gegen das entschiedene Widerstreben Friedenthals, Hobrechts, Eulenburgs durchgesetzt, auch Falk habe geschwankt. Die Hödel-Vorlage habe er, selbst krank, von Friedrichsruh aus seinen Kollegen nur abgerungen. Beides habe sich durch den Erfolg als richtig erwiesen, er halte eine nochmalige Auflösung in diesem Moment 138

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nicht für richtig, sondern wolle die Behandlung der Steuervorlagen seitens des Reichstags im Frühjahr abwarten. Er könne nicht Fraktionspolitik machen, welche gebiete, den Triumph der äußersten Erniedrigung des Gegners zu genießen, darum habe er die für möglich erachteten Konzessionen, immer vorbehältlich der kaiserlichen Entscheidung und des Gesamtergebnisses der zweiten Lesung, schon jetzt angedeutet. Der Kronprinz habe ihn heute früh 9 Uhr überrascht und sei eine geschlagene Stunde bei ihm geblieben. Der Kronprinz habe ihn bevollmächtigt, nach bestem Ermessen zu handeln, da ihm selbst die Erfahrungen über Behandlung parlamentarischer Kompromisse abgehen; angenehm sei es ihm aber nicht, wenn er in einem Regierungsjahr dreimal auflösen müsse, zweimal und ein Todesurteil genüge. Ob er persönlich etwas tun könne? Bismarck hat ihm darauf geraten, Mitglieder der Fraktionen, welche eine Majorität bilden, zum Tee zu laden, und habe ihm mich, Bennigsen und Helldorf-­Bedra genannt; ich möge aber seine Kaiserliche Hoheit nicht in die Enge drängen und die Sache nicht schwer machen. Ich konstatierte die Auffassung der beiden konservativen Fraktionen. Es sei einiges Management nötig, aber so viel stehe fest, daß wir jedes Gesetz annehmen würden, welches der Regierung akzeptabel sei. Man sei zwar etwas erbittert über die an die Nationalliberalen gemachten Konzessionen, werde siebenjährige Dauer des Gesetzes beantragen, sich überhaupt wohl etwas erhitzen, allein schließlich für die Vorlage stimmen. Ich begriffe seine Auffassung vollständig und sehe die Lage ähnlich an, wie damals bei Annahme des Septennats für den Militäretat, was sich im weiteren Verlauf der Dinge ja völlig bewährt habe. Wir schieden damit im völligen Einverständnis und ich kann nicht leugnen, daß ich ein lebhaftes Gefühl der Überraschung und auch der Genugtuung empfand, seinerseits dem Kronprinzen als Vertrauensmann mit in erster Linie empfohlen worden zu sein. Einige Befangenheit und das Gefühl einer nicht vollständig verdienten Ehre habe ich allerdings auch dabei empfunden. Es ist doch keine geringe Sache, in einer so großen, entscheidenden Frage gewissermaßen in den engsten Rat der Krone gezogen zu werden neben einen Mann wie Bennigsen. Über Oberpräsident von Puttkamer meinte er, zugleich über Graf Eulenburgs Unentschlossenheit klagend: „Er habe ihn immer mit in erster Linie als Ministerkandidaten betrachtet, sei aber durch seine Zurückhaltung enttäuscht. Er habe drei Jahre im Reichstag völlig geschwiegen, sei gar nicht hervorgetreten wie einer, der beim Whistspiel darauf wartet, in die Hinterhand zu kommen, das habe er ihm verübelt, dann habe er ihm, als er (Puttkamer) das Unglück hatte, einen Treiber bei der Jagd totzuschießen, einen ganz töricht unmännlich zerknirschten 139

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Brief geschrieben.“ Ich bezeichnete ihn dagegen (Puttkamer) als vorzüglich gewandten Parlamentarier und bedeutende Kapazität. Auch Schlieckmann nannte ich. 13. Oktober. Die Verhandlungen über das Sozialistengesetz gehen langsam, aber mit Erfolg voran. Bei der ersten gestern stattgehabten Abstimmung hatten wir 200 gegen 167 Stimmen, Lasker mit zirka 13 Nationalliberalen fiel ab, das ist die Majorität für das ganze Gesetz überhaupt. Bismarck, welchen ich öfters sah, war irritiert über Annahme von Amendements, welche sich außerhalb des Kompromisses bewegen, und drohte mit Scheitern des Ganzen. Kein Mensch komme zu ihm und frage ihn um Rat. Fürst Hohenlohe-Schillingsfürst, welcher allein außer mir anwesend war, beschwichtigte ihn mit dem Hinweis, daß man aus Bescheidenheit ihn nicht behellige. Wir haben aber doch Veranlassung genommen, Bennigsen vor weiteren Amendements zu warnen und zu raten, Bismarck persönlich aufzusuchen. Der innere Grund der Verstimmung schien übrigens uns beiden zu liegen in dem vorgestrigen Auftreten Delbrücks, welcher ein nationalliberales Amendement gegen Graf Eulenburgs energische Abwehr verteidigte und durchbrachte. Bismarck sieht darin vielleicht eine drohende Koalition Bennigsen-Lasker-Delbrück. Über den Orient meinte er, es bereiteten sich neue Komplikationen vor, der Kaiser von Österreich verfolge eine andere Politik wie sein Kanzler Andrassy, er habe von Haus aus mit Rußland gegen die Türkei gehen wollen. Beust komme jetzt nach Paris, wie Andrassy ihm geschrieben habe. Offenbar fürchte man in Wien, daß Beust gemein genug sei, Enthüllungen zu machen, wenn man ihn schlecht behandle und gänzlich gehen lasse. Es scheint, daß Beust im Besitz von Geheimnissen der langrand-dumonceauschen Affäre ist, wo man österreichischerseits das fürstlich taxissche Vermögen gerettet hat unter der Verletzung des Rechtes vieler anderer Beteiligten. Bismarck ärgert sich über jede, auch die mäßigste Kritik so darüber, daß gestern Bamberger ihm Mangel an richtiger Schätzung Lassalles vorgeworfen habe. Meines Erachtens kann man ihm und der Sache keinen besseren Dienst tun, als daß man stets abwiegelt und ihn zurzeit möglichst abhält, in dem Reichstag zu erscheinen. Über seine Ministerkollegen ist er wieder sehr ungehalten und tut ihnen wohl etwas unrecht; wenigstens Graf Stolberg und Eulenburg, die nur äußerst widerstrebend in das Ministerium eintraten, verdienen seinen Unwillen nicht. 9. Oktober. Große Rede Bismarcks über das Sozialistengesetz. 17. Oktober. Gestern sind die langatmigen Debatten der zweiten Lesung zum Abschluß gekommen, nachdem auch ich eine Rede gehalten, welche 140

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einigen Eindruck machte. Nachher Diner beim Kanzler, wo Bennigsen, Helldorf, Graf Eulenburg, Frankenberg, Fürst Hohenlohe-Schillingsfürst. Später kam auch Graf Otto Stolberg. Der Fürst riet lebhaft zu einer Verständigung, und wenn Bennigsen auch jedes Nachgeben ablehnte, so trennten wir uns doch in der Annahme, daß heute eine solche erfolgen werde. Um 10 Uhr ist unsere Konferenz. Um 12 Uhr Bundesratssitzung, um 2 Uhr Fraktion. Also heute wird alles fertig gemacht werden; so wäre dieselbe Kombination wie beim Militärseptennat wiederhergestellt. 19. Oktober. Annahme des Sozialistengesetzes mit 221 gegen 149 Stimmen. Hiernach Schluß des Reichstags durch Bismarck mit dem Ausdruck seines persönlichen Dankes. 5. November durch eine äußerst herzlich gefaßte Einladung zur Hochzeit der Gräfin Marie mit dem Legationssekretär Grafen Rantzau aufgefordert, fuhr ich nach Berlin, wo am 6. in Bismarcks Palais die Vermählung durch Superintendent Forberg stattfand. Der Kronprinz wohnte der Trauung bei in der Uniform der Pasewalker Kürassiere, blieb aber nicht zu Tisch. Es war ein rauer Tag, und durch den zu späten Versuch, einen offenen Kamin anzustecken, waren einige Zimmer verräuchert und kalt. Ich sah den Fürsten vorher in großer Uniform in einem Lehnstuhl etwas erhitzt sitzen, er erwartete den Kronprinzen und meinte: „Das Heiraten ist doch eine schwere Sache.“ Der Kaiser habe ihm, nachdem er alle preußischen Dekorationen bereits besitze, noch eine neue ausgedacht und zugeschickt, das Großkreuz des Roten Adlers mit einer Krone und gekreuztem Zepter. Ebenso für Rantzau einen Orden. Das sei verlegen, weil während der Regentschaft das eigentlich Sache des Kronprinzen sei. Er müsse diesem nun sagen: Se. Majestät habe die Absicht ausgedrückt, diese Verleihung vorzunehmen. Der Kaiser verfüge häufig in die Regentschaft hinein, was ihn und den Prinzen gelegentlich in Verlegenheit setze. Die Besetzung der diplomatischen Posten geschehe auf seinen Vortrag durch den Kronprinzen, dann kommandiere Se. Majestät zu viel quer dazwischen. Nach Friedrichsruh könne er erst wieder abreisen, nachdem er beim Kronprinzen Vortrag gehalten habe. Die Trauung begleitete Herr von Arnim-Kröchlendorff jr., Leutnant der Gardes du Corps, auf einem Harmonium. Anwesend die gräflichen Familien Rantzau, Brockdorff, Reventlow, Baudissin. von Kleist-Retzow, Bucher, Dietze, Tiedemann, Spitzemberg, Woedtke, Eickstedt, Eisendecher, Holstein ‒ zu Tisch etwa fünfzig Personen. Toast auf Se. Majestät: Fürst Bismarck. Auf das Brautpaar: Minister von Bülow. 141

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Familie Bismarck feierte in sehr hübscher Rede Major Graf Rantzau, Bruder des jungen Eheherrn. Wahlspruch: „Ohne Schein und ohne Scheu.“ Auf Familie Rantzau toastete Fürst Bismarck. „Einheit des deutschen Urstamms in Brandenburg, Pommern, Holstein ‚up ewig ungedeelt‘.“ Auf das deutsche Vaterland sprach in markiger, feuriger Rede Herr von Kleist-Retzow. Auf die Brautjungfern Graf Lehndorff. Graf Rantzau war in der Uniform der 3. Gardeulanen; die Braut sehr glücklich und strahlend, entzog sich der Gesellschaft erst gegen 8 Uhr und gab mir einige Myrten aus ihrem Strauß für unser Baby. Ich führte Frau von Döring, eine geborene Brockdorff, junge Frau von zirka fünfundzwanzig Jahren mit lebhaftem politischen Interesse. Am 5. Dezember fand der feierliche Einzug des Kaisers statt, ein schönes Volksfest im besten Stil und Sinn, voll Enthusiasmus, ohne die geringste Störung. Der Landtag war am 3. Dezember zusammengetreten. Das Sichler Bahnprojekt, das für meinen Wahlkreis von höchster Bedeutung war, führte mich zum Minister Maybach, welcher bei dieser Gelegenheit mit großer Offenheit sein großes Verstaatlichungsprojekt in weiten Zügen entwickelte, wie er es auch später in ausgezeichneter Weise ausgeführt hat. Suhl-Grimmenthal bezeichnete er als Teil einer großen, wichtigen, durchgehenden Linie nach Süddeutschland. Er machte mir den Eindruck eines Mannes, welcher große organisatorische Ideen und auch das Zeug dazu hat, sie durchzuführen. Bismarck kommt dem Vernehmen nach erst Anfang Februar zurück

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1879 9. Januar. Varnbüler ist hier mit Arbeiten und Vorschlägen über die Tarifreform beschäftigt. Neulich mit ihm und Miquel fünf Stunden die Grundlagen einer Verständigung über diese Fragen besprochen. Miquel versicherte, Bennigsen werde sich bona fide an die Spitze der Nationalliberalen zu einer Verständigung setzen, nachdem die erforderlichen konstitutionellen Garantien gesichert seien. Diese Frage sei erledigt durch die Abgabe einer Erklärung der Regierung, wodurch die Sicherheit geboten würde, daß Überschüsse im Reich zu einer Reduktion der Personalsteuern in den Einzelstaaten Verwendung finden würden. Mäßige Getreidezölle, 25 Pfennig per Zentner, würde vielleicht selbst Bennigsen akzeptieren. Viehzölle nicht über 10 bis 15 Mark per Stück. Er habe schon 1867 über das Bedenkliche von Handelsverträgen geredet und alle seine Befürchtungen seien seitdem eingetroffen. Offenbar liegen bei den Nationalliberalen die Dinge so, daß sie Verständigung und Frieden mit der Regierung wünschen. Wenn die Steuerund Zollvorlagen technisch richtig vorbereitet werden, so haben sie eine gute Chance, zustande zu kommen. Ein soeben im Bundesrat eingebrachtes Gesetz wegen Beschränkung der Redefreiheit im Reichstag (sogenanntes Maulkorbgesetz) dagegen wirkt ungünstig, weil es großes Mißtrauen hervorgerufen hat; die Regierung sammle damit neues Konfliktmaterial zur Verwertung bei einer künftigen Auflösung. Eine Einladung rief mich nach Friedrichsruh, von wo ich am 26. Januar nach Ballhausen zurückkehrte. Bismarck fand ich leidlich wohl und tief im Studium der Zoll- und Tariffragen. Es ist wunderbar, mit welcher Energie er sich in diese ihm fast fremden Materien einarbeitet. Es ist ihm sehr ernst mit seinen Projekten und er unterschätzt vielleicht die entgegenstehenden Schwierigkeiten, führt manches auf Mangel an gutem Willen bei seinen Mitarbeitern zurück, was in der Schwierigkeit der Sache liegt. Er droht mit Rücktritt oder nochmaliger Auflösung. Besonders übel wirkt die Einbringung des sogenannten Maulkorbgesetzes. Während bis dahin die Spannung zwischen Fortschritt und 143

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Nationalliberalen von den Wahlen her eine sehr große war, haben sie sich jetzt wieder genähert in der Besorgnis gemeinsam drohender Gefahr. Am meisten im Rückstand scheinen gerade die Dinge, welche im Landtag voraussichtlich ohne große Schwierigkeiten zu lösen sein würden, wie der Ankauf der Privatbahnen. Der Tarifentwurf ist schon weiter gediehen. Bei Bismarck schien sich die Idee zu befestigen, lieber die Bahnen zu expro­ priieren, als sie freihändig zu erwerben. Anstatt sich mit einer Zoll- und Steuerreform zu begnügen, welche etwa den jetzigen Bedarf von 100 bis 120 Millionen decken würde, will Bismarck die Salzsteuer ganz abschaffen und die Einkommensteuer erst bei 6000 Mark Einkommen beginnen lassen, dagegen jeden Import mit Zöllen belegen und eventuell das Tabaksmonopol doch noch einführen. Gerade das Gigantische seiner Pläne macht es den Mitarbeitern schwierig. Sonst ist der Moment für große Reformen durchaus günstig. Möglich wäre jetzt meines Erachtens: 1. Abänderung des Wahlgesetzes, längerer Wohnsitz, längere Legislaturperioden, öffentliche Stimmabgabe. 2. Wiedereinführung respektive Erhöhung von Eisen-, Textil-, Vieh-, Getreide- und Holzzöllen. 3. Erhöhung der Finanzzölle auf Kaffee, Tabak etc. 4. Ankauf der Privatbahnen in Preußen. Mit Mäßigung behandelt, ist die konservative Strömung im Land großer Steigerung fähig, während man mit Schroffheit versöhnliche Elemente in die Opposition drängt. Bennigsen, mit welchem ich eine längere Unterredung hatte, ist offenbar bereit, bei der Tarif- und Steuerreform ehrlich mitzuarbeiten, wenn nicht Übermäßiges verlangt wird. 7. Februar. Gestern nach dem Hofball bei Bismarck, welcher auf der Treppe gefallen war und sich rechten Arm und Hand (Daumen) verstaucht hatte, sonst munter. Bezüglich der Anträge der Budgetkommission meinte er, man solle über die Erklärungen der Staatsregierung nicht hinausgehen. Resolutionen seien doch nur einseitiger Natur und nicht für die Regierung bindend. Wenn Finanzminister Hobrecht über die allgemeine Erklärung hinausginge, so sage er mehr, als er verantworten könne. Nötigenfalls werde er noch zweibis dreimal auflösen. Windthorst suchte mich zu einer längeren Unterredung auf: „Ich wünsche zu konstatieren, daß wir den Frieden mit dem Staat erstreben und keine Schwierigkeiten in den Zollfragen machen werden. Ich ordne, je älter ich werde und je Schwereres ich erlebt habe, umso mehr den politischen die kirchlichen Interessen unter. Ich bin meiner alten Dynastie anhänglich, aber 144

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in den zollpolitischen Fragen von diesen Gefühlen nicht beeinflußt.“ Es war das erste Mal, daß ich überhaupt mit ihm privatim gesprochen habe, und seine Äußerungen frappierten mich im höchsten Maß, weil sie offenbar zum weiteren Gebrauch bestimmt waren. Inzwischen wurde lebhaft mit den Neukonservativen verhandelt, mit uns in den Resolutionen zu stimmen, insbesondere Nr. V, welche verheißt, daß Mehreinnahmen im Reich zu Steuererlassen in den Partikularstaaten verwendet werden sollen. Windthorst bezeichnete Wiederherstellung der (kirchlichen) Verfassungsartikel als wünschenswert, der Friede müsse durch den Kaiser geschlossen werden, die Anzeigepflicht könne erfüllt werden, ebenso die Aufsichtsbefugnis des geistlichen Schul- und Unterrichtswesens. Varnbüler klagte sein Leid. Er sei auf dem Punkt angelangt, sein Mandat als Vorsitzender der Tarifkommission niederzulegen. Nachdem er geglaubt habe, einen akzeptablen Tarif in allen Punkten feststellen zu können, wenn er Bayern durch eine Reduktion des Getreidezolls von 60 auf 25 Pfennig gewönne, habe ihm Bismarck gestern Abend erklärt, daß er nicht weiter nachgebe. Es käme ihm nur darauf an, wenn er seine fest gefaßten Pläne nicht durchsetze, den Reichstag wiederholt aufzulösen, um eine Majorität in seinem Sinne zu gewinnen. Bismarck sei ziemlich erregt gewesen, wie er es auch schließlich geworden. Er (Varnbüler) wünsche im Interesse des Landes etwas zustande zu bringen, dazu, nur Konfliktmaterial zu sammeln, gebe er sich nicht her. Er bat geradezu um meinen Rat. Ich riet, direkt ein schriftliches Promemoria an Bismarck zu richten, sich rein sachlich haltend, ohne persönliche Motive zu äußern, doch sein Mandat zur Verfügung zu stellen. Das will er auch tun, dabei betonend, daß er bei den früher in Friedrichsruh verabredeten Tarifsätzen stehen bleiben werde. Ich war am 7. Februar abends bei Bismarck, über meine Konversation mit Windthorst berichtend, welche ihn angenehm zu überraschen schien. Natürlich traute er der Versicherung aufrichtiger Friedensliebe nicht ganz. Wenn das Zentrum etwas wolle, möge es mit Taten den Beweis führen. Rom handle gerade so, beteure seine Friedensliebe und suche dem Kaiser die Idee beizubringen, als wollte es alle möglichen Konzessionen machen, dabei bliebe es aber ohne tatsächliche Konsequenzen. Auf die geäußerte Vermutung, daß Windthorst hiermit seine Dienste zur Verfügung stelle für die Zoll- und Steuerreform und für Regelung der Welfenhausfrage, ging Bismarck nicht weiter ein. Der zwischen Rußland und der Türkei stattgehabte Friedensschluß wurde telegraphisch gemeldet. 145

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Daß Maybach auf die neulich im Abgeordnetenhaus stattgehabten Anzapfungen mit der Entwicklung seines Eisenbahnprogramms zurückgehalten habe, mißbilligte er; meinte, das sei gegen die früher im Ministerrat getroffene Verabredung. Man solle ihn nur aufmuntern, mit der Sprache herauszukommen. Im Bundesrat habe er heute das Disziplinargesetz mit einigen Verschärfungen durchgesetzt. Er soll dabei sehr heftig aufgetreten sein. 12. Februar. Der Reichstag ist heute mit einer sehr konfliktlustigen Thronrede eröffnet worden, welche der Kaiser selbst las, nicht ohne allmählich etwas zu ermüden. Sie enthielt eine scharfe Verurteilung unserer Zollpolitik seit 1863/65 und war, wie ich nachher hörte, von Bismarck selbst abgefaßt worden, ohne daß ein preußischer Minister von dem Inhalt vorher Kenntnis erhalten hätte. Die Nationalliberalen fassen die Rede als eine entschiedene Kriegserklärung auf. Zu Tisch bei Bismarck, wo eine lange Konversation über die Situation. Er berührte die Differenzen mit Varnbüler und warf ihm vor, zu viel Konzessionen zu machen; Varnbüler verfolge weniger allgemeinpolitische Ziele, sondern er wolle eine Zollära Varnbüler inaugurieren. Sehr bestimmt sprach Bismarck den Willen aus, jetzt seinen Platz behaupten zu wollen. Bei der Neuwahl des Präsidiums des Reichstags wurde ich, nachdem Fürst Hohenlohe-Langenburg auf die Wiederwahl zum zweiten Vizepräsidenten verzichtet hatte, am 22. Februar an seine Stelle gewählt, nachdem Zentrum und Linke ostensibel gegen mich gewirkt hatten. 18. Februar bei Bismarck zu Tisch, welcher etwas gereizt war, daß keine Fraktion für die Verhaftung des Abgeordneten Fritsche habe stimmen wollen. Das sei ein Beweis, daß wir auch schon sozialistisch angekränkelt seien und einen Vernichtungskrieg nicht wollten. Der Fehler sei, daß man den kleinen Belagerungszustand auf Berlin beschränkt und nicht auf alle sozialdemokratischen Zentren ausgedehnt habe. Der Aufenthalt der ausgewiesenen Leute in Berlin sei der reine Hohn, dann sei es am besten, die ganze Sache als unerheblich zu behandeln. Im Reichstag hatte man das Ansuchen auf Verhaftung eines ausgewiesenen Abgeordneten allerdings wie einen persönlichen Fußtritt empfunden. Über die Vizepräsidentenfrage tröstete er mich freundlich, das sei keine persönliche Niederlage, sondern ich erlitte die Angüsse als ihm nahestehender Freund. Langenburgs Verhalten sei dabei zweifelhaft gewesen (er hatte erst abgelehnt, wollte dann doch annehmen etc.). „Geborene Fürsten ziehen nicht die Konsequenzen 146

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ihrer Erklärungen, höchstens ernannte ‒ diese haben noch einige bürgerliche Erinnerungen.“ Der Beschluß des Reichstags, die Ausweisung der Sozialdemokraten nicht zu statuieren, soll Se. Majestät sehr verstimmt haben. Er hat dem Präsidenten Simson gesagt: Es täte ihm sehr wehe. Bismarck erzählte: Se. Majestät sei ihm gegenüber jetzt so weich und nachgiebig wie nie zuvor. Er überlasse ihm alle wichtigen Personalentscheidungen und handle seinem Rat gemäß. Wahrscheinlich habe er in seinem langen Krankenlager darüber nachgedacht, was er ihm alles geleistet und wie oft er (Majestät) ihm unrecht getan habe. Am 27. Februar starb Graf Roon in Berlin, und ich wohnte in Vertretung des Reichstagspräsidiums der Leichenfeier in der Garnisonskirche bei. Dem Kaiser war von den Ärzten untersagt worden, anwesend zu sein; der Kronprinz vertrat ihn. Die Rede des alten Büchsel war mehr die eines alten Freundes, welcher von der hohen politischen und militärischen Bedeutung des Dahingeschiedenen kein rechtes Bild hat. Roon war der Typus des pflichttreuen, gewissenhaften Preußentums, ausgestattet mit hohen geistigen Fähigkeiten, mit großem Organisationstalent und einer unerschütterlichen Festigkeit und Willenskraft. Im Wesen gelegentlich etwas rau und abstoßend, aber echt durch und durch. Bismarck war nicht anwesend, verkältet, aber man hätte ihn doch gern da gesehen. Sonst waren nur offizielle Persönlichkeiten in der Kirche. 9. März. Dieser Tage war im Reichstag eine heftige Szene zwischen Bismarck und Lasker. Ersterer war in seiner Rede allerdings provokant gewesen; Lasker antwortete aber so scharf, daß er sich ins Unrecht setzte und Bismarck die Lacher schließlich auf seiner Seite hatte. Nützlich für den Gang der Geschäfte sind solche Friktionen natürlich nicht. Ich habe schon einige Mal ohne Anstoß präsidiert und vorgestern begrüßte mich auf dem Präsidentenstuhl Bismarck, dabei ganz ehrerbietig die Hand schüttelnd. Bismarck hat angefangen, um den Nationalliberalen die Meinung persönlicher Feindseligkeit zu benehmen, die ihm politisch Näherstehenden in kleinen Gruppen zu Tisch einzuladen. So den bayrischen Abgeordneten von Schauß, einen Rivalen Stauffenbergs, den Hannoveraner Laporte, und hat ihnen den ganzen Hergang der Weihnachtsverhandlungen ausführlich erzählt, wonach die Hauptschuld des Scheiterns auf Bennigsen fällt. Es sind das sehr nützliche Annäherungen, um die immer wieder in Umlauf gesetzten Drohungen mit Auflösung zu paralysieren. Kürzlich wurde kolportiert, 147

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Bismarck werde auflösen, wenn seine Vorlagen nur einer Kommission überwiesen würden. Ich habe dagegen positiv erklärt, die Frage der Getreidezölle werde unbedingt aufrechterhalten respektive zur Kabinettsfrage gemacht werden, wie Bismarck selbst wiederholt erklärt hat. 30. März. Die Zollvorlagen sind noch nicht fertig, obschon Bismarck Bundesrat und Reichstag enorm treibt Er geht dann sehr weit und ist nur zu geneigt, Mangel an gutem Willen und an bona fides zu finden, wo faktische Unmöglichkeiten vorliegen. Er droht jetzt schon wieder mit Auflösung, schon in dem Fall, daß seine Vorlagen nicht sofort im Plenum behandelt, sondern einer Kommission überwiesen würden. Ich habe gegen diese Auffassung gesprochen, mit dem Hinweis, daß man das Zentrum nicht verstimmen dürfe, welches offenbar loyal und in Konsequenz der bei ihm herrschenden Anschauung für die Schutzzollpolitik eintreten will. Der Kaiser will heute 3 Uhr mittags das Präsidium empfangen. Wir kondolieren gleichzeitig wegen des plötzlichen Todes des Prinzen Waldemar, welcher, elf Jahre alt, an der Diphtheritis gestorben ist, während man die Krankheit für unbedenklich hielt. Es ist ein tieftrauriger Fall, welcher allseitig lebhafte Teilnahme findet. Es ist zudem das erste Mal, daß Se. Majestät seit seinem im Palais erlittenen Unfall, wobei er sich die Hüfte beschädigte, wieder vom Reichstag Notiz nimmt. Das Präsidium ist noch nicht zu einem Diner oder intimeren Hoffest eingeladen worden. 31. März. Der Kaiser empfing uns sehr freundlich, fast herzlich schlicht, einfach, betrübt über den Todesfall wie ein guter Großpapa. Er zählte alle die Verluste auf, welche die königliche Familie in den letzten Wochen erlitten hatte: Großherzogin von Darmstadt, Prinz Heinrich der Niederlande, und meinte: „in der künftigen Generation steht mein Haus nur auf wenig Augen. Daß der Prinz Heinrich (Enkel) die lange Seereise unternimmt, ist sehr gegen meine Meinung geschehen, er hätte in Ost- und Nordsee auch seine Reisen machen und dazwischen seine Eltern sehen können. Groß wie die englische wird ja unsere Flotte nie werden und einem Prinzen meines Hauses eine Stellung geben,“ sagte er lächelnd. Dann ging er auf unsere Arbeiten über, wir möchten nicht zu lange zögern, damit das Land Ruhe und Gewißheit erhielte. Es habe sich ja wohl bereits eine gewisse Praxis betreffs der Länge der Osterferien entwickelt, aber später werde es zu warm in Berlin und die älteren Herren wollten dann in Bäder reisen. Der jetzige Reichstag sei ja günstig zusammengesetzt unter dem Eindruck der Ereignisse des letzten Sommers. Eine nochmalige Auflösung sei 148

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ein unsicheres Experiment. ‒ Er sprach das in einem freundlichen, väterlichen Ton, keineswegs drohend. Er empfing uns stehend, den Helm in der Hand, mit Handschuhen, den rechten Arm in der Binde. Als wir herausgingen, trat das preußische Staatsministerium ein. Unmittelbar darauf empfing uns die Kaiserin ganz in Trauer, was ihr besser steht wie helle Toiletten und ausgeschnittene Kleider. Sie hat schöne große Augen. Sie dankte, daß wir auch an sie gedacht hätten, sprach recht einfach und fiel ganz in sächsisch-thüringischen Dialekt: „Ja, es hat mer sehr weh getan,“ was besonders Stauffenberg auffiel. Am anderen Tage wurden wir vom Kronprinzen empfangen, dessen Auftreten männlich, einfach, wohltuend war. Es habe ihn gerührt, daß die erste Kundgebung der Teilnahme aus dem Reichstag an ihn gelangt sei. Er habe die Nachricht durch den ehrlichschen Bericht, welcher ihm stets telegraphisch über die Sitzungen zugehe, erhalten. Es sei ihm umso wohltuender gewesen, als er die Echtheit der Teilnahme herausgefühlt habe. Die sei ja auch so natürlich für jeden, welcher selbst Kinder habe und besonders wer selbst ähnliche Verluste erlebt habe, sagte er, zu Stauffenberg und Forckenbeck gewendet. (Ersterer hat drei oder vier Kinder, Letzterer kürzlich seine Frau verloren.) Soweit man in so zartem Alter von Charakter sprechen könne, habe Prinz Waldemar viel gehabt. Er sei ein echter Junge gewesen, habe sich immer aus eigenem Antrieb beschäftigt, wenn er seine Arbeiten erledigt gehabt hätte. Sein Bruder Heinrich sei anders, der lasse sich treiben. Er wäre gewiß für den Staat ein wertvoller Mann geworden, er habe am meisten von seinem Großvater mütterlicherseits (Prinz Albert) geerbt. Vor sechs Wochen sei die Obergouvernante an Diphtheritis leicht erkrankt, in letzter Woche eine englische Bonne und jetzt eine Kammerfrau. Man habe aber gar keine Besorgnis gehabt, bis der Tod so plötzlich eingetreten sei. Die Ärzte seien gerade in Begriff gewesen, wegzugehen. Die Kronprinzeß sei wie immer enorm gefaßt und sicher gewesen. Am Leichenbett sei alles geordnet, die Beerdigung, die Nachrichten bis nach Kanada, an die Verwandten, geregelt worden. Man habe sie beide mit Karbol desinfiziert, was bei seinem dichten Haar und Bart gewiß richtig sei. Er werde den Geruch sein ganzes Leben nicht vergessen. Es sei wunderbar, wie der eine Infektionen ausgesetzt sei, der andere nicht, zum Beispiel die Ärzte. Den kleinen Nachlaß habe die Kronprinzeß auch gleich geordnet, die Gegenstände desinfiziert und Andenken verteilt. Nun würden sie nach Wiesbaden gehen, was der Kronprinzeß nicht leicht werde, da sie gern der Prinzeß von Meiningen beistehen wolle, deren 149

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Entbindung Mitte April bevorstehe. Ein Luftwechsel sei aber doch vielleicht nützlich. Bei allen Reisedispositionen denke man immer an den Verstorbenen, wo kommt der hin. Die Geschwister könnten sich noch gar nicht daran gewöhnen, ihn nicht mehr zu haben. Dann sprach er über unsere Geschäfte, wie lange wir zu tun haben würden und ob etwas zustande käme. Da die anderen beiden Herren drucksten und die Achseln zuckten, sagte ich mit einiger Entschiedenheit: Ich sei überzeugt, daß wir zu positiven Ergebnissen gelangen würden, was Forckenbeck dann etwas widerstrebend bestätigte. Dieselbe Bemerkung hatte ich mir schon in der Audienz beim Kaiser erlaubt, weil die hohen Herren augenscheinlich etwas im Dunkel gehalten werden über die Schwierigkeiten der Situation und weil ihnen die Hoffnungslosigkeit vielleicht schroffer dargestellt wird als der Fall. In beiden Fällen sahen mich die hohen Herren etwas überrascht an, daß ich als Neuling mich so positiv äußerte. Beim Abschied reichte er jedem die Hand. Wir verabredeten, über beide Audienzen nichts Tendenziöses ins Publikum zu bringen. 2. April. Bismarcks Geburtstag wurde in gewohnter Weise gefeiert; da ich die mündliche Einladung der Fürstin auf den Abend, nicht auf das Diner bezogen hatte und ins Hotel zu Tisch ging, wurde ich durch zwei Boten nach 5 ½ Uhr zitiert und saßen wir bis 9 ¼ Uhr in animierter Unterhaltung. Der Kaiser hat den Fürsten in einem drei Seiten langen, eigenhändigen Schreiben beglückwünscht und einen Bronzeabguß des Denkmals des Großen Kurfürsten dediziert. Graf Rantzau zum Legationsrat ernannt. Der große Saal war voll prachtvoller Buketts und Geschenke, Wein, Bier in kunstvollen Fässern, Spirituosen etc. Außer mir und Graf Lehndorff war nur Familie anwesend, und Lehndorff, welcher gleichzeitig seinen Geburtstag hat, brachte in sehr hübschen, warmen Worten den Toast des Tages aus, indem er den Kaiser und seinen Kanzler leben ließ. Nachher war von Buschs Buch „Bismarck und seine Leute“ die Rede, was ihm überall geschadet habe, außer in England, wo man für kernige Aussprüche mehr Sinn habe. Bismarck wurde wieder Feuer und Flamme, als man auf die milde Behandlung von Paris und den langen Aufschub des Bombardements kam. Die gegen mich als Intimus des Hauses gerichtete Polemik der fortschrittlichen Blätter verurteilte er sehr scharf und stieß in Kognak auf mein Wohl an. Jedes persönliche Attachement bezeichne man als Liebedienerei und Charakterlosigkeit, als sei Ersteres ganz ausgeschlossen. Anlaß dazu gab eine im Berliner Montagsblatt enthaltene Beschreibung meiner Person unter „Parlamentsbüsten“ wo ich als Schlemmer, Fettbauch und 150

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williges Mundstück des Kanzlers geschildert war. In diesem Blatt wird allerdings alles, was konservativ heißt, beschimpft und nur den Liberalen eine gewisse Achtung gewährt. 8. Mai. Seit 28. April sitzt der Reichstag wieder, und da Stauffenberg an einem schweren Gichtanfall erkrankt ist, präsidiere ich fast täglich und zum Teil in schwierigen Situationen, ohne bisher Malheur gehabt zu haben. Heute war wieder eine sehr peinliche Szene. Lasker hatte eine scharfe Rede gegen Bismarck gehalten aus Anlaß eines sehr agrarischen Briefes, welchen dieser an Herrn von Thüngen gerichtet hatte. Bismarck, von Tiedemann avertiert, erschien und hielt eine enorm heftige, gegen Lasker persönlich ausfallende Rede, welche der Präsident Forckenbeck durch leises Klingeln einmal unterbrach. Bismarck wandle sich mit wütenden Blicken gegen ihn und sagte halblaut: „Was soll die Glocke, es ist ja ganz ruhig im Saal,“ ‒ und fuhr dann fort. Ich löste Forckenbeck ab und dieser kam am Schluß einer langen Rede mit dem Stenogramm der laskerschen Rede zurück und erklärte: Er könne nach Durchsicht von Laskers Rede nicht finden, daß Lasker beleidigende Ausdrücke gegen Bismarck gebraucht habe, welche zu rektifizieren sein würden. Er habe die Pflicht, die Mitglieder des Hauses wie des Bundesrates vor beleidigenden Äußerungen zu schützen, und bitte beide Seiten um Mäßigung. Bismarck erwiderte darauf: Er habe nichts gegen diese Auffassung des Präsidenten zu erinnern, müßte sich aber seine Rechte bezüglich seiner Äußerungen vorbehalten und habe nichts zu ändern oder zuzufügen. Er rief mich dann in sein Kabinett und sagte: „Ich bin als höchster Reichsbeamter, als Präsident des Bundesrats hier und unterliege nicht der Disziplin des Präsidenten. Er darf mich nicht unterbrechen, auch mich nicht mit der Glocke warnen, wie er es heute tat. Er mag am Ende meiner oder der Rede anderer Bundesräte seine Kritik üben, er mag sich bei den Vorgesetzten über die Kommissarien beschweren ‒ wenn er aber im Haus den Versuch, Disziplin zu üben, macht, so ist es ein Schritt näher zur Auflösung.“ Minister Hobrecht saß dabei wie ein armer Sünder und ich fürchte, er bekam, nachdem ich das Kabinett verlassen hatte, seinen Teil wegen der unvorsichtigen Äußerung, welche er neulich tat, worin er die kanzlerischen Finanzpläne als „Zukunftsmusik“ bezeichnet hatte. Forckenbeck ist übrigens so verängstigt, daß er mich öfters rufen läßt, und bei jeder Gelegenheit, vor und nachdem er etwas getan hat, fragt: „ob es so recht sei“. Durch die große Reizbarkeit und Heftigkeit des Kanzlers ist die Situation auch sehr schwierig. Während überall Bereitwilligkeit vorhanden ist, etwas zustande zu bringen, was für jetzt genügt und für später die Grundlage 151

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zu weiteren Schritten bietet, zerreißt er wieder die angesponnenen Fäden und treibt es zu Konflikten ‒ als erstrebe er nochmalige Auflösung. Es sollte mich nicht wundern, wenn Forckenbeck eines schönen Tages das Präsidium niederlegt und ich in einsamer Pracht den Präsidentenstuhl schmücke. Manches Mal könnte man wünschen, selbst ganz heraus zu sein. 13. Mai. Die Zolldebatten der ersten Lesung sind beendet und morgen konstituieren sich die Kommissionen. Nicht Bennigsen, sondern Varnbüler, Franckenstein werden Vorsitzende der Tarifkommission. Damit tritt zum ersten Male die neue politische Kombination zwischen der Rechten und dem Zentrum in die Erscheinung. Bismarck billigt diese Kombination. Ich habe betont, es müsse Sache der bezüglichen Delegierten sein, nach eigenem besten Ermessen zu handeln. Wenn diese glaubten, auf Grund der in der wirtschaftlichen Vereinigung gewonnenen Verständigung so operieren zu müssen, so müßten wir damit einverstanden sein. Bismarck, welchem ich gestern mitteilte, daß diese Absicht bestehe und es uns nicht möglich sei, unter jetzigen Verhältnissen gegen Deutschkonservative und Zentrum ein Kompromiß zu machen, sagte ganz ruhig: „Das können Sie nicht.“ Ich schließe daraus, daß er der Unterstützung des Zentrums gewiß ist, bis auf einen gewissen Punkt. Charakteristisch für die Situation ist es, daß wir in einer großen Frage zum ersten Male mit dem Zentrum gegen die Nationalliberalen gehen. Gestern traf ich bei Bismarck Hohenlohe-Schillingsfürst, welcher meinte, Bismarck habe seinen festen, lang angelegten Plan und werde sein Ziel auch erreichen. Die Parteien sind jetzt gründlich durcheinandergeschüttelt. Nachdem Forckenbeck am 18. Mai abends im Städtetag im Zoologischen Garten eine sehr agitatorische Rede gegen die Getreidezölle gehalten hatte, in welcher er das liberale Bürgertum „auf die Schanzen“ zum Kampf rief ‒ legte er am 20. das Präsidium nieder, so daß ich bei Stauffenbergs Krankheit der einzige funktionierende Präsident blieb. Ich hatte dem Haus die entsprechende Mitteilung und die weiteren Vorschläge zu machen. Es schien zunächst, als würde ich zum ersten Präsidenten gewählt werden, wozu auch gegnerische Blätter wie Voß- und Nationalzeitung mir die Qualifikation zusprachen. Die Sache nahm aber eine andere Wendung dadurch, daß die Freikonservativen oder Reichspartei geteilter Meinung waren und mit 24 : 20 Stimmen ein Zusammengehen mit dem Zentrum ablehnten, welches den ersten Vizepräsidentensitz verlangte. Darauf verständigte sich das Zentrum mit den Konservativen, und von Seydewitz wurde zum Präsidenten, 152

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Freiherr von Franckenstein zum ersten Vizepräsidenten gewählt. Das geschah am 21. Mai 1879. Am selben Abend dinierte ich mit dem neu gewählten Präsidenten von Seydewitz und Graf Lehndorff bei Bismarck. Es kam die Kandidatur Franckensteins zur ersten Vizepräsidentenstelle zur Sprache, falls Stauffenberg resigniere, und Bismarck fragte, ob er diesen wohl, wenn gewählt, einladen könne, da er nie eine Karte abgegeben habe. Ich bezeichnete Franckenstein als bayrischen Magnaten mit österreichischen Sympathien, aber als vornehmen Herrn, welcher jedenfalls keine Formen verletzen werde. Es ist schwer, nach so langer Fehde schnell auf den Friedensfuß mit so erbitterten Gegnern, wie das Zentrum bisher war, zu kommen, aber es entspricht dem tatsächlichen friedlichen Zusammengehen in den Zollfragen. Das Zentrum hat übrigens den Inhalt unserer Fraktionsverhandlungen, welche ein Zusammengehen mit ihm bei der Präsidentenwahl ablehnten, sofort erfahren und demgemäß mit den Konservativen sofort angeknüpft, was ihm nicht zu verargen ist. Die Nationalliberalen haben sich meiner Kandidatur gegenüber feindlich verhalten ‒ trotz der sympathischen Zeitungsartikel. Die Nationalliberalen arbeiten durch ihr jetziges Verhalten auch bei den Zollfragen an ihrer eigenen Vernichtung. Am 25. Mai wurde Franckenstein an Stauffenbergs Stelle zum ersten Vizepräsidenten gewählt. Der Kaiser sagte Bismarck neulich, als der andeutete, die jetzige Situation erfordere einige Entschiedenheit, um sie zu einem befriedigenden Abschluß zu bringen: „Haben Sie diese bei mir früher vermißt?“, schnurrbartstreichend. Bismarck erzählte diesen Zug zum Beweis, wie sich Se. Majestät wieder völlig erholt und gekräftigt habe. 28. Mai. Gestern Abend empfahl ich mich beim Fürsten, wo nur Hohenlohe-Schillingsfürst anwesend. Bismarck sprach die Absicht aus, demnächst auf Urlaub zu gehen. Jetzt, wo der schutzzöllnerische Teil des Tarifs ziemlich unter Dach gebracht ist, beginnt er, den finanziellen lebhaft zu betonen, und hat gestern in pleno ziemlich lebhaft die Zurückhaltung verurteilt, welche in dieser Beziehung die Finanzminister der Partikularstaaten beobachten. Das Zentrum nimmt hierbei eine mehr abwartende Stellung ein, zum Teil eine entschieden ablehnende seit gestern. Es ist, als ob wieder eine Annäherung an die Nationalliberalen stattfände. Seine Durchlaucht, sagt man, verfolgt nicht zwei jagdbare Hirsche gleichzeitig! Jetzt treibt er den Finanzhirsch, nachdem der Schutzzollhirsch erlegt ist. 153

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11. Juni. Feier der goldenen Hochzeit der Majestäten. Der alte Herr hatte eben erst in seinem Arbeitszimmer einen Unfall erlitten. Er war infolge von Schwindel oder einem Ohnmachtsanfall hingefallen, ohne sich allein wieder aufrichten zu können, und war so erst nach einiger Zeit gefunden worden. Trotzdem bewegte er sich bei der Gratulationscour unermüdlich umher ‒ mit seinem steifen Bein ‒ und war wohl gegen drei Stunden im Geschirr. Er erwiderte alle Ansprachen, besonders die der Generale, welche Moltke anführte. Eine Amnestie für die Bischöfe ist nicht erfolgt, was das Zentrum sehr verstimmt haben soll, wie in einer Rede Schorlemers es zum Ausdruck kam. Windthorst hat, nachdem er sich für die Schutzzölle engagiert und auch gestimmt hat, an Bismarck die Bitte gerichtet, „er möge nicht die Bischöfe, aber die Kapläne amnestieren, nicht die erlassenen Gesetze revidieren, wohl aber in Sachen der Charitas eine milde Handhabung eintreten lassen.“ Bismarck habe darauf geantwortet, das könne nur Falk tun; wenn e r es täte, werde es als Gang nach Kanossa aufgefaßt und als Zahlung für die bei der Tarifreform vom Zentrum geleistete Unterstützung. Windthorst hat das selbst Herrn von Schauß und Varnbüler erzählt. Varnbüler ist immer für Zusammengehen mit dem Zentrum gewesen. Varnbüler erzählte mir: Bismarck habe ihm das Finanz-Ministerium angeboten und er bitte um meinen Rat als Freund, ob er annehmen solle. Diese Eröffnung hat mich kaum überrascht, weil Bismarck schon früher sich geneigt zeigte, ihn zum Handelsminister zu machen. Wenn Bismarck das Ausscheiden Hobrechts voraussieht, so wird er nach den letzten Erfahrungen frühzeitig darauf bedacht sein, einen Ersatz zu sichern. Ob er dann sich für Bennigsen oder Varnbüler entscheidet, wird von der Situation abhängen, ob er seine Stütze mehr beim Zentrum oder bei den Nationalliberalen suchen muß. Bismarck gibt sich jetzt den Anschein, als wolle er sich mit den Schutzzöllen begnügen und die Ordnung der Finanzen der Zukunft überlassen. Er rechnet darauf, daß der steigende Bedarf schließlich doch noch zum Tabaksmonopol führen wird, und dafür wäre Varnbüler der Mann. Gestern dinierte ich bei Minister Hofmann, neben Hobrecht sitzend, welcher überaus freundlich, doch einen unsicheren und gedrückten Eindruck machte. Gegenüber saß Varnbüler, sein eventueller Nachfolger. Die Nationalzeitung schließt heute einen Leitartikel mit der Andeutung eines Ministerii Varnbüler. 19. Mai. Bei dem gestern bei Bismarck stattgehabten großen parlamentarischen Diner wurde sehr eifrig zwischen Bismarck und Franckenstein-­ Bennigsen verhandelt. 154

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Franckenstein wünscht augenscheinlich einen Kompromiß zustande zu bringen, der zugleich den föderativen Charakter des Reichs bestätigt und womöglich die Nationalliberalen vom Kompromiß ausschließt. Um diesen Preis würde er auch hohe Finanzzölle und Tabaksteuer bewilligen. Bennigsen dagegen erstrebt konstitutionelle Garantienquotisierung respektive Bewilligung auf begrenzten Zeitraum. Franckenstein scheint kirchenpolitische Konzessionen nicht in den Vordergrund zu schieben, er wünscht sie vielleicht darum nicht, um Preußen im Süden nicht populär werden zu lassen. Windthorst wiederum verfolgt wohl in erster Linie mehr welfische als kirchliche Ziele, ihm ist es selbst unbequem, den schutzzöllnerischen Tendenzen der eigenen Fraktion so weit folgen zu müssen. 25. Juni. Bezüglich der konstitutionellen Garantien ist eine Einigung zwischen Zentrum und Konservativen zustande gekommen, welche dem Reich genügende Einnahmen sichert, dabei aber die Matrikularbeiträge perpetuiert. Uns konveniert diese etwas partikularische Lösung nicht recht, allein zwischen die Wahl gestellt, die parlamentarischen Rechte nach der Schablone Rickert-Lasker zu verstärken oder die Rechte der Einzelstaaten, kann man kaum zweifelhaft sein. In Letzteren liegt die mehr konservative Macht. Damit ist Bennigsen wieder mehr auf die linke Seite geschoben, was ich bedauere. Varnbüler war eben bei mir, er steht vor der Krönung seines Werks und erklärte, für ihn stehe fest, daß er das Finanzministerium nicht übernehmen werde, wohl aber würde ihm der Botschafterposten in Rom konvenieren. Als Finanzminister sei Burchard der geeignete Mann und voraussichtlich jetzt auch willig dazu. Dann klagte er sein Leid darüber, daß Bismarck über die Position des Packpapiers den ganzen Tarif wolle scheitern lassen, was natürlich nicht ernst gemeint ist. Franckenstein erklärte mir gestern: Er könne bezüglich der Finanzbewilligungen keine festen Zusagen machen, nur so viel aber sagen, daß er nach der Finanzreform im Reich nicht wünschen könne, daß nachher der bayrische Minister mit Forderungen in den Landtag käme. Im Übrigen versicherte er seine volle Loyalität bei allen Verhandlungen, in welche er einmal getreten sei. Daran glaube ich auch. Bismarck meinte neulich: Sein Wunsch sei immer noch, den rechten Flügel der Nationalliberalen unter Bennigsen von den Semiten zu trennen und die Fraktion nicht in eine Ecke zu drängen. Heute findet die entscheidende Kommissionssitzung statt. 27. Mai. Die Nationalliberalen sind ganz niedergeschmettert von dem ihrerseits unerwarteten Resultat unserer Einigung mit dem Zentrum. Sie 155

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haben augenscheinlich geglaubt, für Bennigsens Fassung die Zustimmung des Kanzlers und damit die unserige gewonnen zu haben. So konsequent sie uns auch in eine Liga mit dem Zentrum gedrängt haben, so indigniert sind sie jedes Mal, wenn wir demgemäß handeln und die Konsequenzen dieser Stellung ziehen. Der durch die Klausel Franckenstein geschlossene Kompromiß scheint sie völlig zu konsternieren, und es wird zwischen zweiter und dritter Lesung nicht an Versuchen fehlen, die Situation noch zu verändern. Wir wären in dem Fall an das Kompromiß nicht gebunden, wenn das Zentrum sein Wort nicht einlöst bei den Abstimmungen über die Finanzzölle und Tabaksteuer ‒ allein es wird Wort halten. Unbequem dabei sind die immer neu auftauchenden Gerüchte von Auflösung und Reaktionsgelüsten auf kirchlichem, politischem und wirtschaftlichem Gebiet ‒ welchen der Kanzler selbst durch seine Äußerungen Nahrung gibt. Noch vorgestern sagte er, als ich da dinierte, daß er das Auflösungsdekret in der Tasche habe. Dabei liegen gar keine ernstlichen Schwierigkeiten vor, den Tarif in allen seinen Teilen durchzubringen. Durch solche Drohungen werden die Leute nervös und verlieren die Lust und Laune zur Arbeit. 30. Juni. Gestern von einer Tour nach dem Spreewald-Muskau, welche ich mit Fürst Hohenlohe-Langenburg und Staelin gemacht hatte, zurückkehrend, fand ich eine Einladung zum Fürsten, welcher ich wegen der späten Stunde nicht mehr folgen konnte. Heute Mittag 12 Uhr ging ich hin und traf den Fürsten mit der Fürstin beim Frühstück. Wir gingen in sein Arbeitszimmer, und er sagte, nachdem wir Platz genommen, etwa Folgendes: „Die drei Minister Falk, Friedenthal, Hobrecht haben am selben Tage, zur selben Stunde, jeder aus verschiedenen Gründen ihr Entlassungsgesuch eingereicht. Es liegt also eine Verabredung vor, welche ich nur auf Friedenthal zurückführen kann, welche ich aber den beiden anderen nicht zugetraut hätte, weil es im gegenwärtigen Moment eine Verlegenheit ist. Falk hat den Wunsch, vor einem kleinen Kreis als großer, bewunderter Charakter dazustehen, er hat schon oft seinen Abschied eingereicht und beim letzten Mal wenigstens das Ende der jetzigen Session abwarten wollen. Friedenthal hat mir Ende Mai die Neigung, seinen Abschied zu nehmen, ausgesprochen. Ich antwortete ihm damals: Gehen möchte ich auch, aber darum handelt es sich jetzt nicht. Ich möchte Sie nun fragen: ob Sie ein Ministerium anzunehmen bereit sein würden?“ Ich, ohne viel Besinnen, antwortete: „Die Anfrage kommt mir etwas überraschend, aber wenn Sie es mir zutrauen, würde ich nicht nein sagen.“ 156

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Bismarck: „Ich danke Ihnen für das durch Ihre Antwort bewiesene Vertrauen. Für Kultus würden Sie als Katholik nicht passen, wie wäre es mit dem Landwirtschaftlichen? Ich werde dem Kaiser noch andere Vorschläge machen müssen als wie Graf Behr-Negendanck, Köller, Seydewitz ‒ allein Sie habe ich in erster Linie ins Auge gefaßt. Es ist jetzt ein schöner, durch Zulegung der Domänen- und Forstverwaltung erweiterter Wirkungskreis und ich wünsche eine sichere, feste Unterstützung im Staatsministerium. Frieden­thal hat immer intrigiert, jetzt reserviert er sich für das kronprinzliche Ministerium ‒ Delbrück-Bennigsen ‒, er irrt sich darin. Nun muß ich Ihnen auch sagen, wen ich für die anderen Ministerien dachte, und bitte um Ihre Meinung. Für das Finanzministerium dachte ich an Bitter.“ Ich: „Ein geschulter Beamter ist hier sicher am Platz, Bitter kenne ich nicht. Wäre nicht der Direktor Burchard geeignet?“ Bismarck: „Nein, der ist zu liberal und hat schon früher entschieden abgelehnt, dagegen habe ich an Bötticher, Dechend, Varnbüler gedacht.“ Ich: „Wäre nicht Oberpräsident von Puttkamer passend?“ Bismarck: „Der soll Kultusminister werden.“ Ich: „Falks Abgang im jetzigen Moment ist sehr zu bedauern, es wird als ein dem Zentrum gebrachtes Opfer gedeutet werden. Es wäre schon ein Gewinn, wenn er als Justizminister bliebe.“ Darauf las Bismarck die Entlassungsgesuche und die an ihn gerichteten Begleitschreiben vor, mit welchen die drei Minister ihm die Kopien der an den König gerichteten Schreiben zugeschickt hatten. Friedenthal motivierte seinen Rücktritt mit Gesundheitsrücksichten ‒ im Begleitschreiben an Bismarck bat er um Bewahrung seines ferneren Wohlwollens für sich und seine Familie (wobei Bismarck brummte: „Das ist nie groß gewesen!“). Hobrecht motivierte kurz, er fühle sich dem Amte nicht gewachsen, und fügte auch im Begleitbrief keine weiteren Gründe an. Er hat Tiedemann wiederholt mündlich betont, das sei sein einziger Grund und er folge keiner Verabredung. Falk motivierte mit dem Hinweis auf seine bisherigen Schwierigkeiten in der Kirchenpolitik und auf die weiter drohenden. Ich: „Er hätte allerdings damit warten können bis zum Zusammentritt der Generalsynode, während es jetzt so aussieht wie eine an das Zentrum gemachte Konzession für wirtschaftliche Unterstützung.“ Bismarck meinte: „Ganz gewiß, er ist derjenige, welchen ich am wenigsten gern gehen lasse. Er brauchte sich um die Ernennungen, welche Se. Majestät 157

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für die Generalsynode vorgenommen hat, nicht zu kümmern ‒ und wenn er zehn Dompfaffen wie Stöcker ernannt hätte. Aber Falk will vor einem kleinen Publikum groß und rein dastehen! Ich kann ihn unter diesen Umständen nicht halten, umso weniger, als er sowohl wie Hobrecht mit Rücksicht auf ihre Privatverhältnisse es ablehnen, eine andere Stelle im Staatsdienste anzunehmen.“ Ich wiederholte meinen Dank für das mir durch die Anfrage erwiesene Vertrauen und versicherte, dieselbe nur als eine eventuelle aufzufassen. Zerschlüge es sich an anderen Rücksichten, so werde ich das als Erleichterung empfinden und in keinem Fall mißdeuten. Ich stehe aber als eine Reservetruppe zur Verfügung und fürchte mich vor dem Amt nicht. Bismarck dankte wiederholt für meine Bereitwilligkeit, erzählte noch, Hobrecht habe für Meinecke neulich den Oberpräsidentenposten in Schleswig gefordert, was er abgelehnt habe. Auch das könne Hobrecht verstimmt haben. Eher wohl hat dazu beigetragen das ohne Hobrechts Zuziehung geschlossene Kompromiß über den Zolltarif etc. Falk ist sicher durch die ihm nicht konvenierenden Ernennungen zur Generalsynode verstimmt worden. 1. Juli bei Bismarck mit dem amerikanischen Gesandten White diniert. Bismarck hatte mit Franckenstein eine Unterredung gehabt, welcher an den Finanzzöllen noch etwas abhandeln wollte: 40 Mark statt 42 Mark für Kaffee, 4 Mark statt 6 Mark für Petroleum. Bismarck hat Franckenstein erklärt, das sei anzunehmen oder abzulehnen, wie die Regierungsvorlage es vorschlage. Im Fall der Ablehnung sei der einzige Ausweg sein Rücktritt oder Auflösung. Außerdem werde er die den Transit betreffenden Vorschlage der Tarifkommission nicht annehmen als eine Schädigung der heimischen Produktionsverhältnisse. Ich: „Wenn Franckenstein das in seiner Fraktion durchsetzt, so übertrifft das meine kühnsten Erwartungen. Er wird sicher einen schweren Stand haben.“ Bismarck blieb aber fest. Dann sprach er über die Schwierigkeit, für mich in der Fraktion einen Remplaçant zu finden. Ich bezeichnete Graf Frankenberg-Bethusy als solchen und glaube auch in näherer Beziehung bleiben zu können trotz des Amtes. Ich war kaum zu Hause (wohnte damals immer im Hotel d’Angleterre, Schinkelplatz 2), als Franckenstein ankam, in gelinder Verzweiflung über die Halsstarrigkeit des Fürsten. Ihm selbst sei die Höhe der Zollsätze ganz gleichgültig, aber in der Zentrumsfraktion werde es schwere Kämpfe kosten. Ob er es durchsetzen würde, wisse er nicht, versuchen wolle er es. 158

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Ich bestärkte ihn in der Auffassung, daß auf Nachgiebigkeit beim Fürsten nicht zu rechnen sei, und empfahl, das Äußerste zu tun, um den guten Abschluß des großen Reformwerks zu erreichen. Ich hatte den Eindruck, daß Franckenstein es durchsetzen werde und sicher den guten Willen dazu habe. Nach Tisch beauftragte Bismarck den Grafen Herbert, an Eulenburg (Hofmarschall) zu schreiben, er möge ihn besuchen, da er allerlei für den Kronprinzen zu erzählen habe. Er unterhielt sich überhaupt so, als sei mein Eintritt ins Kabinett eine bereits entschiedene Sache. Ich kann es noch nicht recht glauben, daß Se. Majestät einen ihm völlig unbekannten, verhältnismäßig jungen Mann ohne juristische Vorbildung und Beamtenschulung, dazu Katholik, lediglich auf Bismarcks Empfehlung zum Minister ernennen wird. Ich behandle daher Dritten gegenüber die Sache nur wie eine fernliegende Eventualität. 4. Juli. Meine Kandidatur steht jetzt in allen Zeitungen mit der Bemerkung, die eingeleiteten Verhandlungen würden wahrscheinlich zu einem Abschluß führen. Se. Majestät soll Friedenthals Rücktritt sehr bedauern und sein Verbleiben wünschen, während Bismarck die Alternative stelle: „Er oder ich.“ Friedenthal setzte mir gestern die Pistole auf die Brust, und ich gab zu, daß Verhandlungen schwebten, ohne daß ich an deren Abschluß glaube. Friedenthal war sehr erregt, mit Füßen treten lasse er sich nicht, unter keinen Umständen werde er sich bewegen lassen, zu bleiben. Er lasse schon packen, man wisse ja nicht, ob er nicht des Landes verwiesen werde und dergleichen mehr. Anlaß zu seiner Empfindlichkeit sollen Äußerungen Bismarcks in der letzten Soiree gegeben haben, wo er ihn einen „semitischen Hosensch…“ genannt habe. Das steht mit gewissen Umschreibungen in allen Zeitungen. Das Kompromiß ist nun fertig dahin geschlossen, daß die Schutz- und Finanzzölle in voller Höhe bewilligt sind, ebenso die Tabaksteuer nach den Kommissionsbeschlüssen. Das ist ein äußerst günstiges Resultat, wogegen die Konzession, welche man im föderalistischen Sinn durch die franckensteinsche Klausel gemacht hat, nicht weiter von Bedeutung ist. Liberalerseits wird sie natürlich scharf angefochten und zum Vorwand genommen, gegen das Ganze zu stimmen. Das ist ein bequemer Weg, die Partei wieder zu konsolidieren und für die bevorstehenden Wahlen zum Abgeordnetenhaus eine gemeinsame Losung zu finden. 13. Juli. Seit acht Tagen wieder hier, kam Bismarck auf die Ministerfrage nicht mehr eingehend zurück, sondern riet nur, mir inzwischen die nötige Information zu verschaffen. Das Weitere werde nach Schluß des Reichstags erfolgen. Der ist nun gestern erfolgt und wahrscheinlich wird heute in Ems die Ernennung vollzogen. Hobrecht schickte mir eben seine große, ganz 159

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neue goldgestickte Uniform zur Anprobe; sie war mir aber viel zu eng in der Brust und zu lang, so daß sie für mich nicht brauchbar ist. 14. Juli. Um 11 ½ Uhr erhielt ich meine Ernennung im blauen Kuvert und fuhr sofort zu Friedenthal, welchen ich in großer Aufregung traf. Er hatte noch keinen Bescheid erhalten und fürchtete offenbar, daß er den Abschied in einer ungnädigen Form erhalte. Inzwischen kamen zwei blaue Briefe an, in deren einem der Abschied mit dem Rang und Titel eines Staatsministers, im anderen das Adelsdiplom enthalten war. Friedenthal gab sich den Anschein, als sei ihm Letzteres nicht angenehm. Er lehnte auch später die Nobilitierung ab. Um 2 Uhr mittags fand Staatsministerialsitzung statt, in welcher Bitter, Puttkamer und ich als neue Minister eingeführt wurden. Bismarck kündigte die Absicht an, 1. das Septennat zu erneuern unter Vermehrung der Artillerie, 2. das Sozialistengesetz zu verlängern, 3. zweijährige Budgetperioden einzuführen. Dann verlas er die Entlassungsgesuche der drei abgegangenen Minister und gab einen ausführlichen Kommentar dazu, was nur für Friedenthal etwas unfreundlich war. Um 6 Uhr dinierte ich noch da und fuhr um 10 Uhr abends zur persönlichen Meldung mit den anderen Neuernannten nach Koblenz. Um 4 Uhr nachmittags hatte ich die Geschäfte des Ministeriums übernommen und die Räte mir vorstellen lassen. Am 15. Juli um 12 ½ Uhr hatten wir Audienz im Koblenzer Schloß bei Sr. Majestät. Wir unterhielten uns, in einem Eckzimmer sitzend, über eine halbe Stunde, und Se. Majestät sprach sehr freundlich und eingehend, mit jedem über sein Ressort, besonders mit Puttkamer. „Ich gehöre der positiven Union an, das habe ich nicht nur von meinem Vater ererbt, sondern es ist meine eigene, heilige Überzeugung, dadurch bin ich mit Falk öfter uneinig gewesen, ich konnte ihm in Personenfragen nicht nachgeben, aber ich feinde andere Richtungen nicht an.“ „Friedenthal habe ich ungern und erst nach wiederholten Verhandlungen gehen lassen. Ich habe aber das beste Vertrauen zu Ihnen. Daß ein Leutnant“ (ich war in Premierleutnantsuniform erschienen) „Minister geworden und sich als Exzellenz bei mir gemeldet hat, ist wohl noch nicht da gewesen, vielleicht war es beim Graf Arnim-Boitzenburg der Fall.“ Danach empfing uns auch die Kaiserin. Um 5 Uhr war großes Diner bei den Majestäten, etwa 64 Personen, wobei auch eine siamesische Gesandtschaft war. Nachher sprach ich auch den Prinzen Wilhelm, welcher mit großer Hochachtung von seinen Lehrern, von Professor Nasse sprach und 160

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Bedauern ausdrückte, daß er nächstens Bonn verlassen müsse. Er wünscht nun zu reisen, den Orient, Ägypten u. s. w. zu sehen, Professor Nasse habe ihm gesagt, ich sei immer der Kanal gewesen, wodurch sie über Bismarcks Absichten in der Fraktion unterrichtet worden seien. 25. September. Von einer Moorbesichtigungsreise nach Holstein-Hannover zurückgekehrt, erlebte ich die erste Probe politischer Aktion oder Krisis, welche die Verhandlungen mit Österreich über den Abschluß eines Defensivbündnisses herbeiführten. Vom Berliner Kongreß her war bei Rußland, insbesondere bei dessen Kanzler, dem Fürsten Gortschakoff, eine lebhafte Verstimmung gegen Bismarck respektive gegen Deutschland zurückgeblieben, weil man glaubte, nicht die wirksame Unterstützung in der Orientfrage erhalten zu haben, zu welcher man sich in Rußland berechtigt glaubte durch die wohlwollende Neutralität, welche während des Deutsch-Französischen Krieges beobachtet worden war. Bismarck dagegen hat in den bezüglichen Staatsministerialsitzungen wie in seinen öffentlichen parlamentarischen Reden immer behauptet: durchaus eine rußlandfreundliche Haltung in allen Verhandlungen beobachtet zu haben, soweit es die Rücksicht auf die anderen Großmächte gestattete. Er sei darin nie so weit gegangen, einen Druck bis zur Drohung geübt zu haben, sondern nur bis zu der Grenze, welche er als Stellung des „ehrlichen Maklers“ bezeichnete, welcher das Geschäft zustande bringen will. Wenn Rußland im Berliner Kongreß nicht mehr erreicht habe, so habe es das selbst verschuldet durch einen gewissen Mangel an persönlichem Mut oder Selbstvertrauen, das Risiko eines Krieges mit Österreich und England zu laufen. Ein Fall, der bei der großen Abneigung dieser beiden Mächte vor kriegerischen Abenteuern wahrscheinlich gar nicht eingetreten wäre. Frankreich war damals noch nicht wieder aktions- und bündnisfähig, wie das wiederholte vergebliche Liebeswerben Gortschakoffs um ein Bündnis bewiesen habe. Die Spannung zwischen Rußland und Deutschland war unter Gortschakoffs Einfluß so groß geworden, daß Kaiser Alexan­ der II. an unseren Kaiser einen von Gortschakoff abgefaßten, sehr gereizten Brief geschrieben hatte, welcher für Bismarck geradezu beleidigende Stellen enthalten hatte. Das veranlaßte Bismarck, nur unter bedingter Zustimmung unseres Königs, mit Österreich in Verhandlung zu treten über Abschluß eines Defensivbündnisses, welches sich allerdings in erster Linie gegen Rußland richtete, für den Fall, daß es aggressiv gegen eine der verbündeten Mächte vorgehen würde. Unser König, nach dessen feststehender Anschauung ein enges Freundschaftsverhältnis zu Rußland zum System der preußischen Politik gehörte, eine Ansicht, welche durch das intime persönliche Verhältnis zu Kaiser Alexander II. und durch dessen überaus 161

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freundliches Verhalten während des französischen Kriegs sich noch weiter befestigt hatte, widerstrebte dem österreichischen Bündnis in dem Sinn, als er darin eine Abwendung von Rußland, ja geradezu eine Spitze, einen feindlichen Akt gegen jene altbefreundete Macht sah. Dieser Anschauung folgend, hatte sich unser Kaiser zu der Zusammenkunft in Alexandrowo gegen Bismarcks Rat, welcher darin ein zweites Olmütz sah, herbeigelassen. Dieses Verhalten Sr. Majestät führte zu einer ernsten Krisis, welche zu einem ernsthaften Entlassungsgesuch des Fürsten Bismarck führte und schließlich im Abschluß der österreichischen Allianz gipfelte. Den Inhalt des Briefwechsels der beiden Kaiser erfuhren wir in den damaligen Staatsministerialsitzungen, welchen Bismarck präsidierte und welche meist seine eigenen, höchst interessanten Ausführungen ausfüllten. Den Brief des Kaisers Alexander, welcher heftige Beschuldigungen Bismarcks enthielt, hatte unser Kaiser in sehr vornehm abweisender Form erwidert. Er hatte diese von Bismarck entworfene Antwort mit dem Bemerken gezeichnet, er würde selbst energischere, schroffere Ausdrücke gerechtfertigt gefunden haben. Trotz dieses Briefwechsels und trotz Bismarcks Abraten folgte unser Kaiser der Einladung des Zaren nach Alexandrowo. Bismarck proponierte nun das Defensivbündnis mit Österreich, ein Bündnis, welches er anfangs dem Reichstag zur Genehmigung vorlegen und im Reichsanzeiger publizieren wollte. Moltke, Fürst Hohenlohe-Schillingsfürst, damals Botschafter in Paris, traten dafür ein. Se. Majestät aber sah darin den Versuch, ihn zu einer Allianz mit Frankreich und England gegen Rußland zu nötigen, ähnlich der Situation Preußens beim Ausbruch des Krimkriegs, und widerstrebte dem lebhaft. Auf Bismarcks Anfrage über eine projektierte Reise nach Wien antwortete Se. Majestät abschlägig. Bismarck schickte nun an Se. Majestät, welcher damals in Baden-Baden war, vier Promemorias von sieben bis neun Bogen, welche meisterhaft gewesen sein sollen. Se. Majestät wollte aber wohl auf ein Dreikaiserbündnis eingehen, aber nicht auf ein solches mit Österreich allein, welches seine Spitze gegen Rußland richtete. Bismarck schloß dann in Wien mit dem Grafen Andrassy ein Bündnis mit Österreich allein ab und überschickte es Sr. Majestät durch einen Feldjäger zur Prüfung und Genehmigung. Am 25. September allein zu Tisch bei Bismarck. Er sprach sich im vorher erörterten Sinn aus und erklärte, bestimmt gehen zu wollen, wenn Se. Majestät seinem Rat nicht folgen wolle. Allein er sprach ruhig, nicht ägriert, wie ein Mann, der des Erfolgs seiner Schritte sicher ist. Über den Kaiser von Österreich äußerte er sich sehr befriedigt, das sei ein geschäftsmäßig gebildeter, verständiger Herr. Er erledige täglich sein großes Arbeitspensum 162

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mit größter Gewissenhaftigkeit und eine erledigte Nummer sei für ihn auch eine erledigte Sache. In diesem Sinn sei er auch konstitutionell und wechsle seine Entschlüsse nicht leicht. Die deutsche Frage betrachte er durch den Krieg von 1866 für abgemacht. 28. September. Die Krisis ist auf dem Kulminationspunkt. Nach einem gestern aus Baden-Baden eingegangenen Telegramm von Bülow II., welcher Se. Majestät gewöhnlich auf seinen Reisen als Vertreter des Auswärtigen Amts begleitet, will Se. Majestät den Vertrag mit Österreich nicht vollziehen, sondern will nach wie vor ein Dreikaiserbündnis. Darauf hat Bismarck telegraphisch Bülow angewiesen, das bereits in seinen Händen befindliche kategorische Entlassungsgesuch zu überreichen. Abends bei Bismarck traf ich Graf Friedrich Eulenburg, Radowitz, Kleist-Retzow, Geheimrat Tiedemann etc. Bismarck gab seiner Verstimmung lebhaften Ausdruck und betonte sein Ruhebedürfnis. Mit den Parlamenten werde man noch leicht fertig, aber das Hineinkommandieren von hoher Stelle ohne genügende Kenntnis der Sachlage reibe ihn auf. Das Parlament, glaube er, könne bei Sr. Majestät alles durchsetzen, und Majestät glaube umgekehrt an seine (Bismarcks) Allmacht im Parlament und sei geneigt, Mangel an gutem Willen zu sehen, wo Unmöglichkeiten vorlägen. Sie müßten einmal die Rollen tauschen, er wolle auch noch ein paar Jahre in Frieden leben, er hätte auch eine Konstitution, um achtzig Jahre alt zu werden, was allerdings kein Glück sei. Ihn schmerzten diese Kämpfe, gerade weil er den Kaiser liebe; da sei ein so rücksichtsloser Mensch wie Camphausen besser am Platz, dem sei es gleichgültig gewesen, wenn er den Kaiser geärgert habe. Er sprach mehr betrübt als wie erbittert. Dagegen äußerte er sich sehr scharf und zwanglos über Gortschakoff und Oubril. Morgen essen Saburoff, Oubril und Orloff bei ihm, offenbar, um ihn zu besänftigen wegen des gortschakoffschen Briefs an unseren Kaiser. Der Kronprinz, Moltke, General Manteuffel sind in dieser Frage ganz aufseiten Bismarcks. Manteuffel hat gesagt: er traue zwar Österreich auch nicht viel, aber Rußland noch weniger. Unserem Kaiser hat man vorgestellt, ein Dreikaiserbündnis führe möglicherweise zu einem Krieg mit Italien und England. Auch Minister Botho Eulenburg II. hat zu Bismarcks Überraschung erklärt, er wolle in dieser Frage mit ihm stehen und fallen, allerdings gilt dies fürs ganze Ministerium. Ich vermute indessen, daß Se. Majestät im letzten Moment nachgibt. Als 1877 Bismarck seinen Abschied forderte, hat Se. Majestät ihm vorgeworfen, er wolle ihn allein lassen, um der Welt zu zeigen, daß er (Bismarck) allein die große Politik der letzten Jahre gemacht habe. Er werde aber alsdann auch abdizieren. Se. Majestät scheint das aber weniger 163

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im Ton des Vorwurfs als wie in der Form eines Appells an Bismarcks Loyalität und Ergebenheit gesagt zu haben. Seitdem hat Bismarck eine größere Zurückhaltung mit Entlassungsgesuchen geübt. Am 28. September um 2 Uhr fand ein Ministerrat statt, welcher exklusive Justizminister Leonhardt vollzählig war. Bismarck leitete die Sitzung ein mit einem meisterhaften Vortrag über die allgemeine politische Lage unter Vorlesung von Aktenstücken: „Schon bei den Nikolsburger Verhandlungen stand es bei mir fest, daß das Ende dieses Kriegs nicht ein dauernder Riß und Verfeindung mit Österreich sein dürfe, sondern vielmehr der Anfang zu einem Einverständnis und womöglich zu einer Allianz. Stammesgemeinschaft, geographische Lage, geschichtliche Entwicklung wiesen diese beiden Staaten aufeinander an. Zwischen Schlesien und Bayern sei eine offene langgestreckte Grenze, für Deutschland gebe es nur die Allianz mit Rußland oder Österreich oder mit beiden. Die Freundschaft mit Rußland habe er lange gepflegt und erhalten. Seit 1870 aber habe sich in Rußland eine steigende Feindseligkeit entwickelt, obwohl von Deutschland reichliche Gegendienste in allen politischen Fragen für die russische Haltung 1870 geleistet worden seien; eine Allianz mit einem Autokraten, einer halb barbarischen dummen Nation, verhetzt durch Panslawismus, sei an sich riskant, während die Allianz mit einem schwächeren Staat wie Österreich viel Vorzüge habe. Rußland nehme seit Jahren unter der Herrschaft Miljutins eine aggressive Haltung gegen Preußen ein. Die Hetzereien der russischen Zeitungen, die Äußerungen des Zaren gegen General von Schweinitz, endlich der Brief des Zaren sowie die Sondierungen Gortschakoffs in Paris, ob man sich mit Rußland gegen Deutschland alliieren wolle, lassen keinen Zweifel über die herrschenden üblen Absichten. Alexander II. sei seit vier bis fünf Jahren sein eigener auswärtiger Minister, er behalte Gortschakoff nur, weil er ihn als einen Toten betrachte, so mache er mit Miljutin eine unberechenbare Politik mit asiatischer Überhebung. Diese Betrachtungen hätten ihn mit Besorgnis erfüllt über die deutsche Zukunft. Ja, er habe aus dem frech drohenden Tone Rußlands den Argwohn geschöpft, dieses hätte bereits eine feste Allianz mit Österreich geschlossen. Dieser Gedanke sei aber geschwunden bei seinen Unterhaltungen mit Andrassy und besonders mit dem Kaiser von Österreich selbst. Dort sei man mit Begeisterung auf den Gedanken eines Bündnisses mit Deutschland eingegangen, gegen eine Tripelallianz habe man eingewandt, sie sei nicht haltbar. Gegen ein allgemeines Schutz- und Trutzbündnis sei einzuwenden, daß es uns in Händel mit Italien verwickeln könne, während anderseits Österreich in französische Konflikte durch uns kommen könne. Es sei Österreich nicht zuzumuten, für Elsaß-Lothringen 164

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zu fechten, ebenso wenig könne Preußen gegen Italien zu Felde ziehen. Wohl aber empfehle sich ein einseitiges Defensivbündnis gegen Rußland, möge es aggressiv vorgehen oder möge es sich einmischen wollen in einen Krieg, welchen eine der verbündeten Mächte für sich führe. In beiden Fällen gewähre es eine sichere Flankendeckung. Tue Preußen nicht beizeiten solche Schritte, so könne sich die Koalition des Siebenjährigen Krieges wiederholen, wo Rußland, Österreich, Frankreich vereint gegen Preußen fochten. Während ein Bündnis mit Österreich auch England auf diese Seite ziehe. In Österreich sei die Erbitterung selbst beim Erzherzog Albrecht (sonst unser entschiedener Gegner) sehr lebhaft über die Lügen und die Anmaßung der russischen Politik. Albrecht habe gesagt: diese Freundschaft ist wenigstens für unsere Lebenszeit vorüber. Bismarck verlas zwei Berichte von Schweinitz aus Petersburg, wonach der Zar neben einer Reihe von anmaßlichen Rektifikationen geradezu gedroht hatte: „Die Dinge würden eine sehr ernste Wendung nehmen, wenn die Haltung Deutschlands nicht eine freundlichere würde.“ Deutschland unterstütze überall die österreichischen und sonst gegnerischen Deutungen des Berliner Traktats. Er verlas dann auch den Brief des Zaren an unseren Kaiser, worin die beleidigende Wendung stand: „es sei nicht würdig eines Staatsmannes u. s. w.“ Trotzdem sei unser Kaiser nach Warschau gereist, was ein zweites Olmütz bedeute, mit welchem wieder der Name Manteuffel verknüpft sei. Graf Stolberg habe die Abneigung des Kaisers gegen ein Bündnis mit Österreich zu überwinden gesucht und ihn so weit gebracht, daß er wenigstens ein allgemeines Bündnis, welches nicht ausschließlich gegen Rußland gerichtet sei, billige. Allem Weiteren setze er ein taubes Ohr entgegen, indem er ihn absichtlich mißverstehe und noch neulich dem Fürsten Hohenlohe-Schillingsfürst gesagt habe, Bismarck wolle ihn zu einer allgemeinen Allianz mit Frankreich und England gegen Rußland verleiten. Er habe endlich, nachdem alle Gegenvorstellungen vergeblich geblieben seien, gestern in Baden-Baden sein Abschiedsgesuch eingereicht, was ihm als Reichsbeamten nicht versagt werden könne. Er sei zwar bereit, noch einige Jahre mitzuarbeiten, wenn er sich im Einverständnis mit seinem Monarchen befinde, nicht aber, wenn er sich in Friktionen mit diesem aufreiben müsse, das halte er nicht aus. Wie jetzt die Sachen lägen, müsse der deutsche Kanzler vor allem das Vertrauen des russischen Zaren besitzen, er könne auch nicht selbst nach Baden reisen, um die Sache durchzusetzen, weil Se. Majestät daraus schließen dürfte, er wolle absolut im Amte bleiben. Zudem würde es erfolglos sein, und er würde nur wieder ähnliche Szenen erleben wie in Nikolsburg. Der Kaiser werde ihm in einer Weise begegnen, daß die 165

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Ehrfurcht verbiete, zu antworten, und werde weggehen, ohne ihn zu hören. Wenn das Staatsministerium seiner Meinung wäre und seine Auffassung teile, so sei es das Richtige, Graf Stolberg führe nach Baden und proponiere Sr. Majestät die Brücke eines Ministerconseils. Damit habe man in früheren Jahren auch Erfolge erzielt, 1864 und 1866 seien in kritischen Perioden fast täglich solche gewesen, zuweilen seien auch Generale zugezogen worden, welche sich alle auf seine Seite gestellt hätten, eventuell müsse Se. Majestät den General Manteuffel zum Reichskanzler machen. Würde der auch Kollegen finden?, meinte einer der Minister. Graf Stolberg verstand sich sofort zu dieser Mission und wollte morgen abreisen. Es herrschte völlige Übereinstimmung mit Bismarcks Ideen und Plänen. Diese Allianz ist die Wiederaufrichtung des Deutschen Bundes in einer neuen, zeitgemäßen Form. Ein Bollwerk des Friedens für lange Jahre hinaus. Populär bei allen Parteien exklusive Nihilisten und Sozialisten. Bismarcks Gedankenentwicklung war von einer großartigen Klarheit und Einfachheit. Jeder hatte das Gefühl, für eine große, wichtige Sache einzustehen. Bismarck klagte zwar wiederholt über sein Angegriffensein, es war aber so schlimm nicht. Trotz der vielen Arbeit und Sorge ist er leistungsfähiger und frischer wie je. Er hält fest an seiner Idee und wird sie auch durchsetzen. Diese höchst fesselnde Sitzung dauerte über zweieinhalb Stunden. Als wir weggingen, begegnete uns Fürst Orloff. Bismarck meinte: „In Wien arbeiten die Russen sicher wie die Bienen, um alles zu Fall zu bringen. Der Zar hat Saburoff direkt von Livadia hierhergeschickt, um zu begütigen, nachdem er Wind davon bekommen hat, wie die Sachen hier stehen. Rußland sieht sich ganz isoliert, nachdem es den einzigen Freund mit Fußtritten fortgestoßen hat. Drei russische Botschafter dinieren heute bei mir, um alles wieder zu applanieren, mit ihrer slawischen Verlogenheit und Beweglichkeit fließen sie über von freundschaftlichen Versicherungen. Wenn Se. Majestät das wüßte, würde er sagen: „Da sehen Sie ja, alles ist wieder in der Reihe.“ Der Zar hat ihm mit Tränen in den Augen versichert, „er bliebe der Alte“. Dasselbe würde er tun, wenn er als Sieger auf dem Kreuzberg stände. Die Russen lügen mit einer ungewöhnlichen Frechheit u. s. w. 30. September. Graf Stolberg ist noch nicht abgereist, weil Se. Majestät ihn nicht am Geburtstag der Kaiserin empfangen wollte. Stolberg meinte nach Durchsicht der Akten, der Kaiser habe noch gar nicht abgelehnt und werde sicher nachgeben, wenn er nicht zu dem ganz unwahrscheinlichen Entschluß käme, zu abdizieren. Heute ist der Kronprinz bei ihm in Baden-Baden. Nachstehend noch einige frappante Bemerkungen aus dem neuerlichen Ministerrat: 166

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„Italien treibt steuerlos der Republik entgegen, ist für niemand eine potente Allianz.“ „Waddington muß als ein friedlich gesinnter Staatsmann unterstützt werden. Er hat die russischen Offerten mit dem für unseren Kriegsminister schmeichelhaften Hinweis erwidert: Auch mit Rußland zusammen sei Frankreich nicht stark genug gegen Deutschland, wenn man nicht zugleich Österreichs sicher sei.“ „Rußland hat sich dem einzigen Freund gegenüber benommen wie ein asiatischer Despot, welchem der Bediente nicht schnell genug die Treppe herauflaufe.“ „Das Benehmen und der Brief des Zaren sei wie das des Herrn gegen den Vasallen.“ 3. Oktober bei Bismarck. Stolberg hat noch nichts erreicht, Se. Majestät hält ihn hin und erklärt sich müde. Er wolle alles tun, was möglich, ohne ein Schuft gegen Rußland zu werden. Bismarck hat nun ein zweites Entlassungsgesuch abgefaßt, welches heute abgeht. Er zählt darin die Anstrengungen der letzten drei Jahre auf und empfiehlt Stolberg als Nachfolger. Stolberg berichtet, alle in Sr. Majestät Umgebung seien für die Allianz mit Österreich, auch die Kaiserin. Sie hat gesagt: sie billige jeden in Wien getanen Schritt. Stolberg hat Order bekommen, von Baden abzureisen, um die Entscheidung zu beschleunigen. 4. Oktober. Se. Majestät behandelt Stolberg ferner dilatorisch und läßt ihn nicht abreisen. Stolberg selbst ginge lieber wieder nach Wien, da ihm weder seine jetzige noch die Kanzlerstelle behagt. Er wünscht mit Prinz Reuß zu tauschen, während Bismarck lieber Schillingsfürst hernähme. 5. Oktober. Bismarck abends besuchend, traf gerade ein Telegramm Stolbergs aus Baden ein, wonach Se. Majestät schließlich nachgegeben und den Vertrag mit Österreich vorbehaltlich einiger redaktionellen Änderungen genehmigt hat. Bismarck war inzwischen auf seinen völligen Rücktritt vorbereitet und verlas mir sein wiederholtes, ausführlich motiviertes Entlassungsgesuch. Er setzte nochmals die Gründe des Bündnisses mit Österreich auseinander, zählte die Strapazen der letzten drei Jahre auf, wo er nominell zwar viel Urlaub, tatsächlich aber alle Arbeit gehabt habe. Er fing mit 1877 an ‒ Eulenburgs I. Intrigen bei Bennigsens Ministerkandidatur, Interpellation über auswärtige Politik, Sozialistengesetz, Tarifreform, welche er gegen die widerstrebenden Kollegen, welche den Dienst versagten, durchsetzen mußte. Er war gezwungen, sich selbst in diese ihm bisher fremden 167

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Materien einzuarbeiten, Berliner Kongreß, die lästigen Anfragen aller Art, die Begegnung in Alexandrowo. Er habe nicht das Recht der Souveräne, seinen persönlichen Gefühlen der Verehrung und Verwandtschaft zu folgen, wo Staatsinteressen auf dem Spiel ständen. Er hat Sr. Majestät vier Tage vor Alexandrowo ausdrücklich abgeraten, den Zaren anders als auf deutschem Gebiet zu treffen nach jenem unverschämten Brief. Faktum sei, daß Se. Majestät vor Rußland eine große Angst habe. Er sei deshalb 1866 und 1870 nur mit größtem Widerstreben zu dem entscheidenden Entschluß gebracht worden. Auch nach Ems habe er 1870 zweimal Entlassungsgesuche telegraphisch eingereicht. Bismarck erzählte wieder die Geschichte, wie der Prinzregent 1862 auf dem Punkt gewesen sei, wegen des Militärkonflikts zu abdizieren, und wie er ihn davon abgehalten habe. Se. Majestät hatte ihm inzwischen allerlei Begütigendes geschrieben: „Sie hätten doch nie eine erhebliche Differenz in den siebzehn Jähren gemeinsamer Arbeit und Zusammenwirkens gehabt.“ Bismarck lachte herzlich dabei über dieses bequeme Gedächtnis. Nun ist aber wieder Friede. 6. Oktober. Im Ministerrat gab Bismarck ein längeres Exposé, mitteilend, daß Se. Majestät den Vertrag genehmigt habe und er bereits entsprechende Notifikation nach Wien gerichtet habe. Inzwischen sei General von der Goltz von Baden eingetroffen mit langem, eigenhändigem Schreiben von Sr. Majestät, welcher noch weitere Erklärungen fordere und selbstverständliche Vorbehalte mache. Wie der Kronprinz schreibe, betrachte Se. Majestät sich als treubrüchig Rußland gegenüber, als wenn er dort Rechenschaft schulde. Vielleicht hat er in Alexandrowo Zusicherungen gemacht. Bismarck ergoß sich wieder in Klagen über die ewige verdoppelte vergebliche Arbeit, welche solche Erkundigungen und Erklärungen machten. Er las denn auch sein in ein Urlaubsgesuch umgewandeltes Abschiedsgesuch wieder vor und gab deutlich zu verstehen, daß er Se. Majestät bei seiner ersten Entscheidung festhalten werde. Die Großherzogin Alexandrine scheint Sr. Majestät bittere Vorwürfe gemacht und ihn wieder umgestimmt zu haben. Bismarck ließ zu Protokoll nehmen, das Staatsministerium nehme Akt von der erfolgten Zustimmung Sr. Majestät zum Vertrag und danke dem Grafen Stolberg für seine erfolgreichen Bemühungen. 10. Oktober. Bismarck ist gestern abgereist, nachdem ich noch den letzten Tag da diniert hatte. Er gab mir den Auftrag, mit Bennigsen in vertrauliche Verhandlungen zu treten, um ihn zur Wiederübernahme des Präsidiums im Abgeordnetenhaus zu bestimmen. Der Ausfall der Wahlen ist 168

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ein so überwiegend konservativer, daß Bismarck wohl ein Überwiegen der Kreuzzeitungsleute befürchtet und feindliche Operationen wie beim Schulaufsichtsgesetz. Die Liberalen haben zirka 100 Sitze verloren. Die Konservativen sind 115, die Freikonservativen gegen 50 stark. Stöcker und Strosser sind gewählt. Rauchhaupt meinte, die Konservativen seien so siegestrunken, daß er als Verräter behandelt würde, wenn er anstatt mit dem Zentrum mit den Nationalliberalen verhandeln wollte. Er schien aber geneigt, Bennigsens Kandidatur zum Präsidenten zu unterstützen. 16. Oktober. Graf Stolberg erzählte: Die Kaiserin habe sich sehr empressiert gezeigt für das Einverständnis mit Österreich. Sie habe sich bewundernd über Bismarck geäußert, und dieser habe ihr zum Geburtstag gratuliert! So ändern sich die Zeiten! Alle sehen die Zustimmung Sr. Majestät zu diesem Vertrag als den größten Coup an, welchen Bismarck je durchgesetzt habe. 13. Dezember. In Varzin, wo ich den Fürsten angegriffen von einer heftigen Gallenkolik fand. Er hat unter heftigen Schmerzen (vielleicht Gallenstein) starke Gallenentleerung gehabt. War sehr herunter und hatte so schwachen Herzton, daß Dr. Struck (Hausarzt) sehr ängstlich gewesen ist. Die inzwischen erfolgte Annahme der Eisenbahnvorlage hat ihn halb gesund gemacht. Ich fand ihn im Schlafrock bei einer riesigen Schüssel mit Bouillon, Reis und Tauben darin, beschäftigt und mit gutem Appetit essend. Er fing gleich lebhaft an, von Geschäften zu reden, und sprach die Hoffnung aus, bald reisefähig zu sein. Er fühle sich aber noch sehr schwach und es könne wohl noch drei bis vier Wochen dauern. Als ich ihm die mir von Sr. Majestät aufgetragenen Grüße meldete, freute er sich offenbar darüber, machte aber gleich darauf einen heftigen Ausfall gegen ihn wegen seines Verhaltens im letzten Sommer Österreich und Rußland gegenüber. Ihn habe das geschmerzt als Offizier, Untertan und Minister. Es sei ihm eine Erfahrung gewesen wie die entdeckte Untreue einer heißgeliebten Frau. Die Reise nach Alexandrowo hat ihn enorm verdrossen. Er vergißt dabei das hohe Alter Sr. Majestät und die von Jugend auf gewohnte brüderliche Zuneigung zu Rußland und der russischen Kaiserfamilie. Er übersieht die langjährige politische Freundschaft und die Dankbarkeit für die Haltung Rußlands während des französischen Krieges. Bei ihm selbst hat sich der Übergang von Freundschaft zu Feindschaft auch erst in einem jahrelangen Prozeß vollzogen durch die gemachten üblen Erfahrungen, während dem Kaiser wohl zu plötzlich und unvermittelt das fertige Resultat der Wiener Verhandlungen mitgeteilt wurde. Bezüglich der Eisenbahnvorlage meinte er: Es sei nicht unbequem, 169

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durch die Haltung des Zentrums von den Pflichten der Dankbarkeit vom Reichstag her etwas entbunden zu werden. Das Verhalten des Zentrums bestätige die Ansicht, daß kein Verlaß darauf und sie nie ehrliche Freunde werden würden. Über die Elbinger Simultanschulfrage, welche für Puttkamer eine Kabinettsfrage geworden war, sprach er selbst nicht, wohl aber deutete Graf Herbert an, daß er Puttkamer darin stützen und nicht daran scheitern lassen werde. In diesem Fall würde wieder beim Zentrum eine Stütze zu suchen sein, ohne welches es keine Majorität für Puttkamer geben würde. Bismarck erklärte dann seine Bedenken bezüglich der Jagdordnung für erledigt und war einverstanden, dem schorlemerschen Antrag bezüglich der Höfeordnung für Westfalen Folge zu geben. Obschon er gegen einen zersplitterten Grundbesitz sei, müsse er doch sagen, daß ein Kleinbesitzer oft konservativer wie der Großbauer sei. Da ihn das Sprechen angriff, blieb ich nur etwa dreiviertel Stunden. Am folgenden Tag war ich etwa anderthalb Stunden nach dem Frühstück bei ihm. Er war angekleidet und ging im Zimmer auf und ab. Er war sehr ungehalten über den Staatssekretär Herzog, welcher den Statthalter Manteuffel beiseitezuschieben suche und sich ganz unzukömmliche Dinge erlaube. Dann kam er auf unsere inneren Verhältnisse und sagte: Er wünsche entschieden nicht, daß Puttkamer die Elbinger Sache für sich zur Kabinettsfrage mache, sein Abgang jetzt würde ihn in entschiedene Verlegenheit setzen. Er sei ein fähiger, aufrichtiger Mann mit etwas zu viel Eitelkeit und Sentimentalität. Das Passivum, welches dem Aktivum seiner Bartpflege entspreche, müsse irgendwo herauskommen, und das sei in seinen vielen Reden nach seiner Ernennung zum Minister geschehen. Das nehme er ihm weiter nicht übel und er habe an sich gegen das Bekanntwerden des österreichischen Vertrags nichts gehabt. In der Andeutung, daß Puttkamer an einer anderen Klippe scheitern möge, habe er nur sagen wollen, daß sich durch seine sonstige Geschäftsführung sein Verbleiben im Amt entscheiden möge. Graf Botho Eulenburg habe es anders verstanden, weil er in ihm einen Rivalen sehe, während er sich den übrigen Ministern weit überlegen glaube. Er achte parlamentarische Majoritäten nicht gerade hoch, aber über manche Dinge, welche sich ausleben und natürlich entwickeln müßten, hätten sie doch zu entscheiden; so sei es mit den Schulfragen, ob simultan oder konfessionell. Puttkamer könne als gläubiger Mensch die protestantischen Pastoren versöhnen und wiedergewinnen, welche die Schläge miterhalten hätten, die Rom galten. Ganz großartig war der realistische Hinweis, daß gewisse ele170

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mentare Fragen sich ausleben müßten und daß ein Staatsmann seine eigenen Entscheidungen aus dieser naturgemäßen Entwicklung herausnehmen müßte. Sein Gesundheitszustand schien mir kein solcher, daß Besorgnisse unbegründet wären. Es liegt ein Leberleiden vor, was sein Vater auch gehabt haben soll, auch ist ein plötzlicher Kollapsus bei seiner Konstitution sehr wohl möglich. Er fühlte sich sehr schwach und traute sich nicht zu, eine Treppe zu steigen.

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1880 11. Februar. Eine politisch und gesellig sehr bewegte Zeit liegt hinter und vor mir. Bismarck ist seit vierzehn Tagen wieder hier, arbeitslustig, in alle Ressorts eingreifend, reizbar und nicht leicht zu behandeln. Jetzt steht er auf dem Punkt, die Feldpolizeiordnung, welche mit viel Mühe und Arbeit über alle Differenzpunkte gefördert worden ist, an den Paragraphen über die Pilze- und Beerenlese scheitern zu lassen. Es steht im Reichstag die Präsidentenwahl bevor und wäre Bennigsen, Franckenstein, Graf Arnim wohl die beste Kombination, aber Bismarck lehnt jede Einwirkung ab und will die Sache gehen lassen. Er stützt sich abwechselnd auf Zentrum und Nationalliberale. ‒ Bennigsen scheint sehr verstimmt. 21. März. Nachdem die Feldpolizeiordnung vom Abgeordnetenhaus ins Herrenhaus gebracht war, brachte Graf Mirbach ‒ offenbar auf Bismarcks Anregung ‒ alle die Erschwerungsanträge wieder ein, welche im Abgeordnetenhaus unter dem Hohn der Versammlung abgelehnt worden waren. Ich bekämpfte diese Anträge mit Erfolg und brachte das Gesetz in annehmbarer Form dahin zurück, wo es auch so angenommen wurde. Bismarck hielt selbst einen Ministerrat darüber und machte die Publika­ tion des Gesetzes noch von dem Erlaß einer scharfen Ausführungsinstruk­ tion abhängig, welche die Eigentumsbegriffe schärfen solle. Vor der nächsten Staatsministerialsitzung bat ich ihn schriftlich um definitive Entscheidung über die Publikation. Die Nichtpublikation mache meine Stellung schwierig, wenn nicht unmöglich, anderseits wäre seine Zustimmung unbedingt erforderlich, weil bei mir das Gefühl zurückbleiben müßte, seine berechtigten Ansprüche nicht erfüllt zu haben. Die Sitzung am 17. März begann mit einer ziemlich erregten Diskussion über die Maigesetze. Bismarck sprach seine Geringschätzung der durch das Breve vom Februar 1880 gemachten päpstlichen Konzessionen aus (der Anmeldepflicht genügen zu wollen). Er rektifizierte Puttkamer, welcher geneigt schien, dem Papst gerührt in die Arme zu sinken, und schlug vor, die Maigesetze zu lassen, wie sie sind, aber eine gesetzliche Vollmacht zu extrahieren, wodurch die Art der Ausübung derselben der Diskretion der Regierung überlassen würde. 172

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Graf Eulenburg meinte: Ein solch gesetzgeberischer Versuch werde im Landtag als ein Hohn aufgefaßt werden, was den Fürsten höchlich erbitterte und zu wiederholten heftigen Verwahrungen veranlaßte. Nachdem wir so etwa zwei Stunden diskutiert hatten, einigte man sich dahin, dem Papst die Anerkennung seines Entgegenkommens zu insinuieren und ihn zu weiteren Konzessionen zu ermuntern. Hierauf sagte Bismarck: „Da es noch früh ist und der Minister Lucius mir seine Eile ausgedrückt hat, können wir noch die Feldpolizeiordnung erledigen.“ Damit war die Sache nach einigen einleitenden Worten meinerseits in wenig Minuten erledigt und das Gesetz wird demnächst publiziert werden. Ich erhielt am 21. März die vierte Klasse des Roten Adlers mit dem Bemerken, die dritte werde am nächsten Tage folgen. Das geschah denn auch am Geburtstag Sr. Majestät, welcher mir erklärte, als ich mich bedankte, er hätte nicht höher gehen können, weil die Schleife zur dritten und das Eichenlaub zur zweiten davon abhängig sei, daß man die vierte besessen habe. Es freue ihn, mir ein Zeichen seiner Zufriedenheit haben geben zu können. 20. April. Eröffnung der Internationalen Fischereiausstellung in Anwesen­ heit des Protektors, des Kronprinzen. Sie wurde später von den Majestäten, auch vom König von Sachsen und zahlreichen Fürsten besucht. Den König von Sachsen geleitete ich fünf Stunden und frühstückte mit ihm da. Unter anderem erzählte er von seinem Besuch bei Bismarck, wo er etwa eine Stunde geblieben sei, weil er gefunden habe, es sei ihm angenehm. Bismarck sei stets liebenswürdig gegen ihn gewesen, aber er habe ihn doch gealtert und sehr reizbar gefunden. Als er eine differierende Meinung geäußert habe, hätte sich Bismarcks Gesichtsausdruck verändert und er habe sofort eingelenkt. Es sei ein Unglück, daß er gar keine abweichende Meinung hören könne und gleich schlimme Absichten vermute. So bei der Abstimmung über den Entwurf einer Stempelsteuer, wo niemand gewußt habe, daß ihm an der Sache etwas gelegen sei. Jeder tue ihm ja den Willen, der Kaiser an der Spitze. Die Reichstagssession ist inzwischen in ziemlich unbefriedigender Weise zu Ende gegangen; außer Etat, Militär- und Sozialistengesetzen, Seuchenordnung ist nichts zustande gekommen, die Steuervorlagen blieben unerledigt, das Verfassungsgesetz kam gar nicht zur Verhandlung und die Samoavorlage wurde mit 16 Stimmen Majorität abgelehnt. Bismarck erschien an einem der letzten Tage (8. Mai) bei Beratung der Elbschifffahrtsakte und hielt eine Rede, welche in ihrem Hauptteil eine energische Warnung vor dem Zusammengehen mit dem Zentrum war, ein Appell an die 173

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nationalen Parteien, sich zusammenzuschließen gegenüber dem wachsenden Partikularismus. Der Grundton war traurig-müde. Übrigens beschäftigt er sich eifrig mit Steuerplänen und wünscht evident, den Kirchenkonflikt zu einem Abschluß zu bringen. Die Steuervorlagen haben im Landtag geringe Chancen, das Zentrum stimmt eo ipso dagegen und die Nationalliberalen sind auch unsicher. Es handelt sich um das sogenannte Verwendungsgesetz und den Erlaß der untersten Stufen der Klassensteuer. 30. Mai. Von einer Dienstreise nach Oberschlesien und Posen zurückgekehrt, besuchte ich Bismarck, über die Reise berichtend. Er räsonierte über das Herrenhaus, welches sich nicht einmal für das Feld- und Forstpolizeigesetz interessiert habe und jetzt im Begriff stehe, die eulenburgschen Verwaltungsgesetze anzunehmen. Es handelte sich um das Verwaltungsstreitverfahren und Behördenorganisation, welche sehr scharfsinnig und logisch, aber höchst kompliziert war. Bismarck meinte, wenn er nicht Minister wäre, würde er im Herrenhaus dagegen stimmen. Eulenburg sei heute zwei Stunden bei ihm gewesen und habe für seine Gesetze plädiert wie ein Staatsanwalt. Er habe ihm erklärt, er werde dafür sorgen, wenn nicht die Zustimmung der Stadtverordneten zu Polizeiverordnungen und die Exemption der Städte über 10.000 Einwohner gestrichen würde, daß die Gesetze unpubliziert blieben trotz Zustimmung der Häuser des Landtags und des Ministeriums. Nur im Zentrum seien wirkliche Politiker, die wüßten, was sie wollten; es werde doch noch zu einem klerikal-konservativen Ministerium kommen, was er freilich nicht mitmachen möge. Das Zentrum wünsche die kirchenpolitischen Vorlagen, welche die Nationalliberalen wieder törichterweise bekämpften. 10. Juni. Gestern war Staatsministerialsitzung, welcher Bismarck in besonders guter Laune präsidierte, weil der Zollanschluß Hamburgs im Bundesrat angenommen war. Er leitete die Verhandlungen mit einem längeren Exposé ein über die Unreife unserer parlamentarischen Zustände und die falsche Praxis, daß die Regierung schon in den Kommissionsberatungen Zugeständnisse mache. In diesem Stadium habe sie einfach ihre Vorlagen aufrechtzuerhalten, sie dürfe sich hier nicht zum ersten Male als Zitrone auspressen lassen, um denselben Prozeß bis zum letzten Tropfen im Plenum nochmals durchmachen zu müssen. Er habe sich gefreut, daß die Konservativen sich ihm mit Vorschlägen genähert hätten, eine Vereinigung mit den Nationalliberalen zustande zu bringen. Auch Bennigsen sei bei ihm gewesen, er habe es aber entschieden abgelehnt, regierungsseitig für eine oder die andere Abänderung der Vorlage zu optieren. Das gäbe den dabei Übergangenen (Zentrum) das Recht, zu klagen, die Regierung sei unaufrichtig 174

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gewesen, habe die eigene Vorlage aufgegeben und mit den Liberalen paktiert. Werde die Vorlage von allen Parteien abgelehnt, so sei das gar nicht ungünstig, dann habe die Regierung ihre Friedensbereitschaft dokumentiert, überlasse dem Parlament, etwas Besseres zu finden, und es bleibe beim Alten. Komme ein Gesetz durch Konservative und Nationalliberale zustande, so sei das das Günstigste. Die auch vorliegende Eventualität der Bildung einer Majorität von Zentrum und Konservativen überging er. Sie liegt aber vor, da ein erheblicher Bruchteil der Konservativen geneigt ist, mit dem Zentrum durch dick und dünn zu gehen. Er wolle keinen förmlichen Staatsministerialbeschluß herbeiführen, in den Kommissionen keine Konzession zu machen, aber in diesem Fall müsse so gehandelt werden. Die Regierung sei in einer äußerst günstigen Lage und dürfe sich das Spiel nicht verderben lassen. Da wir uns auf eine stürmische Sitzung über das Verwaltungsorganisationsgesetz gefaßt gemacht hatten, welches aber ganz schnell passierte, so war die Stimmung eine sehr einträchtige. Als Puttkamer klagte über die Heftigkeit, mit welcher selbst so gemäßigte Leute wie Herr von Cuny in Kulturkampfsachen auftreten, meinte Bismarck: Das ist ja recht gut, um dem Zentrum zu zeigen, wie die Stimmung in den evangelischen Kreisen und wie gemäßigt die Regierung sei. Einmal im Besitz der gewünschten Vollmachten, könne man dann zeigen, wie artig und maßvoll die Staatsregierung sie gebrauche. Man solle doch nicht erschrecken vor der Möglichkeit, ausgedehnte Machtbefugnisse zu erhalten und sie selbst zu mißbrauchen. Item, er war besonders gutlaunig und hoffnungsfreudig, so daß man glauben konnte, er habe schon einen Pakt mit dem Zentrum in der Tasche. Bennigsen, welchen ich später sprach, meinte: Diese Art, zu operieren, mache ihm den Versuch, die Nationalliberalen zusammenzuhalten, nahezu unmöglich. Er habe sich von Forckenbeck und Lasker getrennt, welche völlig in die Opposition gehen würden, um nach vier, sechs Jahren mit einer fortschrittlichen Majorität ans Ruder zu kommen. In den gemäßigten liberalen Kreisen herrsche große Erbitterung über diese Führung der Sache und über die Publikation der gewechselten Depeschen, weil hier solche Fragen wie die Haltung des Zentrums in der Forstpolizeiordnung, in der Samoafrage, in Verbindung gebracht seien mit der großen Kirchenpolitik. Ihm bliebe nur übrig, sich nächstens ganz von der Politik zurückzuziehen. Er habe heute Bismarck gesprochen und ihn ungewöhnlich heiter und zugänglich gefunden; folgedessen habe er sich auch rückhaltlos über die Sachlage geäußert, ohne heftige Erwiderungen zu erhalten. Wenn man nur wüßte, ob die Regierung die Vorlage auch ohne den Artikel IV annehme. 175

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Das Zentrum wies gestern durch Herrn von Schorlemer und Lieber die ganze Vorlage, insbesondere den Artikel IV, mit Hohn zurück. Da die beiden konservativen Fraktionen und die Nationalliberalen in diesem Fall auch keine unbedingte Heeresfolge leisten werden, so liegt die Wahrscheinlichkeit einer völlig ergebnislosen Verhandlung vor. Verantwortlich ist lediglich der Fürst, welcher den maßvollsten Widerspruch in dieser Frage mit Erregung zurückwies. Dann wäre das einzige Ergebnis dieser Verhandlung: allseitige Verstimmung der Parteien gegeneinander und gegen die Regierung. 4. Juli. Ausgang der kirchenpolitischen Beratung war: Ablehnung des Artikels I mit einer Stimme Majorität, Ablehnung des Artikels IV mit großer Majorität. Annahme des verstümmelten Gesetzes mit vier Stimmen. Die Majorität wurde gebildet von den Konservativen, Freikonservativen und Nationalliberalen ‒ etwa die Hälfte unter Bennigsens Führung ‒, Spaltung der Nationalliberalen also in etwa zwei Hälften. Am Tage nach der Abstimmung reiste Bismarck ab und ich geleitete ihn nach dem Hamburger Bahnhof. Er räsonierte über die Ablehnung des Artikels IV, welcher ein so gutes Handelsobjekt gewesen wäre für die Verhandlungen mit dem Papst. Im Ministerrat wurde die Publikation des Torsogesetzes beschlossen. Ebenso wurde gegen die Stimmen des Grafen Eulenburg und Kamekes beschlossen, Sr. Majestät zu raten, an der Kölner Dombaufeier keinen Anteil zu nehmen. Gestern wurde der Landtag durch Graf Stolberg geschlossen, nachdem das Herrenhaus die Vorlage nach den Beschlüssen des Abgeordnetenhauses unverändert angenommen hatte. Es hat den Anschein, als wolle Graf Stolberg von seiner Stellung als Vizepräsident des Staatsministeriums zurücktreten. Im Bundesrat haben auch erregte Verhandlungen stattgefunden. Der bayrische Minister Pfretzschner ist durch eine Klage beim König von Bayern und Ruthardt (bayrischer Gesandter) durch eine persönliche Alterkation auf einer Soiree beim Fürsten beseitigt worden. Auch gegen Minister Hofmann und den Generalpostmeister Stephan hat sich der Fürst in einer Weise gehen lassen, als wolle er beide los sein. Der Entwurf der Stempelsteuer gab den Anlaß hierzu. Eulenburg gegenüber, dessen Organisationsgesetz er anfangs offenbar scheitern lassen wollte, hat er eingelenkt, wozu vielleicht der Gnadenbeweis beitrug, daß Se. Majestät bei Eulenburg dinierte. Über Puttkamer hat er trotz dessen glänzenden parlamentarischen Leistungen sich auch wenig befriedigend geäußert. „Wer einen so gepflegten Bart trägt, ist mit einer großen Hypothek Eitelkeit belastet.“ 176

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Die Session schloß somit in allgemeiner Mißstimmung. 19. Juli. Heute früh bin ich von einem Besuch in Friedrichsruh zurückgekehrt, wohin ich am 16. gefahren war. Er war in ausgezeichneter Stimmung, gar nicht gereizt, frisch, herzlich, Widerspruch ertragend und eingehend in seiner Konversation. Er sprach von 1870 und meinte: Die Proklamation der Infallibilität am 18. Juli und die französische Kriegserklärung am 19. Juli stehe nicht in einem zufälligen, sondern in einem ursächlichen Zusammenhang. Eugenie habe dem Papst den Krieg versprochen als Exekution gewissermaßen des neuen Dogmas. Man verstehe das hier noch immer nicht, obschon er es schon wiederholt auf der Tribüne erklärt habe. „Wenn Graf Stolberg und Maybach nicht mit Graf Hatzfeldt zusammen dienen wollten, müsse er auf seine Ernennung zum Minister verzichten. Maybach könne er nicht entbehren, er habe ihm aber kein Wort in dieser Beziehung gesagt, obschon er alle paar Wochen von Demission rede und er (Bismarck) wie der Böttcher ums Faß herumlaufen müsse, um die auseinanderfallenden Dauben zusammenzuhalten. Hatzfeldt sei der einzig wirklich brauchbare Botschafter, in anderen Ländern frage man weniger nach Charakter als wie nach Kapazität ‒ an jedem sei etwas auszusetzen oder anders zu wünschen.“ Er nannte noch eine. Reihe von Namen ‒ so Waldersee, welchen er als plump, aber zuverlässig bezeichnete. Graf August Eulenburg lobte er als sehr fähig ‒ nur wegen des Bruders bedenklich. Bennigsen spreche wahrscheinlich schlecht Französisch, das schade aber nicht viel; vielleicht passe er aber doch mehr zum Finanz- und parlamentarischen Minister als für die Diplomatie, obschon er das auch machen würde. Bismarck hat meines Erachtens immer für Bennigsen ein gewisses Tendre gehabt, und es liegt lediglich an dessen Mangel an Selbstvertrauen und Unabhängigkeit von seinen parlamentarischen Gefährten, daß er nicht Minister geworden ist. Allerdings hatte Se. Majestät eine ausgesprochene Abneigung gegen Bennigsen. Ganz zuletzt nannte Bismarck seinen Sohn, den Grafen Herbert, als völlig geeignet, nur vielleicht zu jung. Nach Straßburg solle an Herzogs Stelle der Oberpräsident von Bötticher, falls er dazu bereit sei ‒ Manteuffel wünsche ihn. Auch über die parlamentarischen Zustände äußerte er sich höchst maßvoll. Man dürfe es den Leuten nicht übelnehmen, wenn sie eine feine Politik nicht verständen! Merkwürdig ruhig und aimable! Außer mir war nur der Graf Bernstorff-Wotersen, ein passionierter Jäger, welcher viel in Schweden und Norwegen jagt, anwesend. Wir fuhren 177

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stundenlang auf holprigen Wegen umher, seine gut gepflegten Forste besehend. Bismarck geht nächstens nach Kissingen, aber nicht nach Gastein. Für die Zukunft nimmt er als Aufenthalt offenbar Friedrichsruh als bequemer gelegen, zugänglicher. Die Nachbarschaft scheint ihm auch mehr zuzusagen als wie die um Varzin. 25. Juli. Bismarck ist auf dem Wege nach Kissingen gestern Abend hier angekommen und ich sprach vor. Er ging mit mir in sein Arbeitszimmer und eröffnete mir: Hofmann müsse fort, er könne einen Stellvertreter nicht brauchen, welcher aus Mangel an Urteil oder aus bösem Willen ihm Schwierigkeiten mache und seine Stellung mißbrauche. Hofmann sei sein Geschöpf, ganz einfältig, wisse von praktischen Dingen gar nichts. Er sei wie ein Pferd, was von jedem gesattelt, bestiegen und irgendwohin geritten werden könne. Bereits vor drei Jahren habe er ihm das gesagt in einer Form, die Hofmann hätte übelnehmen respektive zum Anlaß des Abschieds hätte nehmen müssen. Mein Hofmann sei ohne Vermögen, wolle seine Stelle behalten, und auch ihm sei es leid, ihn herauszusetzen. Allein er benutze seine Stellung als preußischer Handelsminister, um Vorlagen zur Regierungssache für Preußen zu machen, über die er (Bismarck) notwendig hätte gefragt werden müssen. So habe er bezüglich der Anzeigepflicht von Unfällen in Fabriken einen Bundesratsbeschluß extrahiert und die kaiserliche Genehmigung dazu eingeholt ‒ ohne daß er etwas davon erfahren habe. Er habe eine Art Staatsstreich machen müssen, um die Rücknahme dieser Vorlage zu erreichen, welche bereits die kaiserliche und bundesrätliche Zustimmung erhalten hatte. Das oft zu tun, sei nicht angängig, erlaube auch seine Gesundheit nicht. Er habe sich in den letzten acht Tagen wieder todkrank geärgert und gestern Galle gespien, so daß er noch den bitteren Geschmack im Munde habe. Hofmann sei ganz in den Händen des Unterstaatssekretärs Jacoby, welcher ein Kreuzzeitungsmann achtundvierziger Schlags sei. Er betrachte die Großindustrie als Ruin des kleinen Handwerkers und bekämpfe sie als einen Ausfluß des Liberalismus. Jacoby sei ein durchgebildeter, tüchtiger Fachmann, aber verschroben und seinem Chef weit überlegen. So habe er ein Haftpflichtgesetz ausgearbeitet, analog demjenigen bei Eisenbahnunfällen, wo die Schuld des Unternehmers präsumiert werde. Bismarck habe sein ganzes Leben hindurch bei seinem landwirtschaftlichen Betrieb auch gewerblichen gehabt und wisse, daß ein solches Prinzip einfach ruinös für die Industrie und ganz ohne Nutzen für Belebung des Klein-Handwerks sei. Hofmann müsse fort, am liebsten würde er ihn bei Manteuffel anbringen als Staatssekretär, oder er möge Oberpräsident werden an Böttichers Stelle, welcher 178

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mit ihm tauschen wolle. Unter diesen Umständen schien die Trennung die einzig mögliche Lösung, wenn auch sicher bei Hofmann mehr Mangel an eigenem Urteil vorlag wie böser Wille. 26. Juli. Gestern dinierte ich bei Bismarck mit Hohenlohe und Holstein. Er war ernst und taute erst allmählich auf, klagte über Gesichtsschmerz, wegen dessen er Dr. Struck konsultieren wolle. „Wenn der nichts wisse, wünsche er ihm seine Schmerzen und sich seine Dummheit.“ Er führt das Leiden auf Alteration zurück. Er hatte von fremden Diplomaten nur Saburow gesprochen und wollte morgen ‒ als wie heute ‒ weiterreisen, sonst würden ihn all die anderen Botschafter überlaufen. Saburow scheint er gesagt zu haben, daß ein Beitritt zur deutsch-österreichischen Allianz keine Schwierigkeiten böte. Sonst war noch von dem Haftpflichtgesetz und Statistik die Rede, in welchen beiden Dingen er sehr reizbar ist. Graf Eulenburg ließ fragen, wann er kommen dürfe, was mit einiger Ungeduld für den Abend gewährt wurde. 11. August. Die Frage Hofmann ist in der befriedigendsten Weise geregelt worden. Die Elsaß-Lothringer Zeitung publiziert die Ernennung Hofmanns zum Staatssekretär mit dem Prädikat Exzellenz. Diese Nachricht ist für die Minister eine große Überraschung, da sie absolut geheim gehalten worden ist. Man hielt die Schwierigkeiten für applaniert, da auch Hofmann unbefangen heiter auftrat. Sein Nachfolger wird Bötticher, welchen wir uns alle wohl gefallen lassen können. Wahrscheinlich kommt er selbst ungern, da er sich in seiner Stellung in Schleswig sehr wohl fühlte. Die hiesige Position ist natürlich erheblich schwieriger. Jedenfalls hat Bismarck alles Gewollte durchgesetzt, und Pfretzschner, Ruthardt, Hofmann sind die Opfer dieses Jahres. Am 12. August kam Majestät von Gastein nach Babelsberg zurück und am 13. war ich dahin zum Vortrag befohlen. Der Kaiser empfing mich in einem achteckigen Turmzimmer, dessen Zugang so viel Eckchen und Treppchen hat, daß man Not hat, ohne Stolpern hinein- und herauszukommen. Er hörte meinen Vortrag über Notstand und Ernte etc. mit ernster Teilnahme an und plauderte dann ganz vertraulich. Mit Bismarck sei er immer einer Meinung gewesen, nur zweimal habe er sich mit ihm in ernsten Differenzen befunden, das letzte Mal im Herbst bei den deutsch-österreichischen Vertragsverhandlungen. Er habe aber dem Kaiser von Rußland doch nicht alles, nicht den geheimen Artikel mitgeteilt. Hofmanns Abgang affizierte ihn gar nicht. Hofmann selbst scheint auch ohne alle Bitterkeit nur die Lichtseiten der Lösung eines unhaltbaren Verhältnisses zu sehen. 26. September traf ich in Eisenach den Fürsten, welcher auf der Reise von Kissingen nach Berlin war, und fuhr bis Gotha mit ihm. Er teilte mit, Bötticher 179

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werde Staatssekretär des Innern und er wolle das Handelsministerium selbst übernehmen. Das war mir allerdings eine völlige Überraschung! Die drohenden landwirtschaftlichen Notstände betrachtet er ziemlich kühl und meinte, sie seien wohl übertrieben. Ich hätte für die Produzenten und nicht für die Konsumenten zu sorgen. Bitter sei in der Geheimratsgesellschaft in Tarasp ängstlich geworden und wolle nicht recht voran, verlange Reform der Spiritussteuer und dergleichen. Wenn wir aber den konservativen Wählern nicht Steuererleichterungen in baldige sichere Aussicht stellten, so schnappten sie bei den nächsten Wahlen ab. Dazu sei ein Gesetz nötig, welches die Überschüsse der Einnahmen über die jetzigen zur Erleichterung der direkten Steuern überweise. In der Tat wird die Stellung der Regierung bei der jetzigen Kirchenpolitik ohne populäre Steuererleichterungen schwierig. Bezüglich der Kirchenpolitik stellte er das Stattfinden neuer Verhandlungen entschieden in Abrede, ebenso seine Geneigtheit zu weiteren Konzessionen. Die eben stattgehabte Sezession in der nationalliberalen Partei unter Rickert bezeichnete er als ein erwünschtes Ereignis. ‒ Bismarck sah wohl aus und war guter Laune. 29. November. Im Landtag waren einige erregte Diskussionen beim Etat ‒ auch über die Judenfrage. Die Finanzlage ist etwas kraus. Des politischen Effekts wegen soll eine Steuererleichterung von 15 Millionen stattfinden, nachdem der Finanzminister einen solchen Überschuß herausgerechnet hat. Inzwischen ergibt sich ungefähr ein gleiches Defizit, nachdem dem Abgeordnetenhaus schon eine entsprechende Mitteilung gemacht ist. Nun behauptet Bismarck, er habe den Erlaß überhaupt nicht gewollt, sondern es sei Bitters Wille gewesen. Hohenlohe-Schillingsfürst, welcher im Auswärtigen Amt die Vertretung geführt und eben einen Typhusanfall überstanden hat, war in Friedrichsruh und hat den Fürsten sehr wohl und frisch gefunden, aber von Kommen redet er noch nicht. Hohenlohe dagegen sieht gealtert und angegriffen aus und sehnt sich nach Paris zurück, wohin er demnächst abgeht. Provisorisch kommt jetzt Hatzfeldt zur Vertretung des Kanzlers ‒ Konstantinopel werde für ihn offengehalten. 25. Dezember. Das zweite Verwendungsgesetz, welches die gänzliche Abschaffung der Klassensteuer und die Überweisung der halben Grund- und Gebäudesteuer in Aussicht nimmt, ist nach schwierigen Kämpfen im Ministerium, wobei der Finanzminister ziemlich isoliert stand, an das Abgeordnetenhaus gelangt. Bitter ist seiner Aufgabe absolut nicht gewachsen, und da ihn die Konservativen nur schonen, soweit sie glauben, daß er Bismarcks Intentionen vertritt, kann die Lage recht schwierig für ihn werden. 180

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Bitter hat sich korrekterweise alle direkten Verhandlungen zwischen Bismarck und Abgeordneten verbeten. Bezüglich der Vertretung im Auswärtigen Amt scheint Hatzfeldts Kommen aufgeschoben, dagegen soll Graf Stirum eintreten und Busch Unterstaatssekretär werden. Graf Stirum hat neulich die gute Bemerkung gemacht: Bismarck sei seinen Kollegen gegenüber wie Don Juan gegen seine Geliebten. Erst kajoliere er sie, wenn er sie aber fest habe, lasse er sie laufen, ohne sich weiter um sie zu bekümmern.

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1881 25. Januar. Gestern fand im Abgeordnetenhaus unter Bismarcks Vorsitz eine Staatsministerialsitzung statt. Nachdem das Ministerium auf Bitters Drängen einem einmaligen Steuererlaß zugestimmt hat ‒ sehr widerstrebend und in der Meinung, es geschehe auf Bismarcks Betrieb ‒, hat Bitter mit den Konservativen verhandelt und den Antrag Minnigerode, welcher einen dauernden Verzicht auf 25 Prozent der Klassen- und der unteren Einkommensteuerstufen ausspricht, akzeptiert ohne vorherige Beratung des Staatsministerii. Ein vorgestern erhaltenes Schreiben des Finanzministers fordert Zustimmung respektive stillschweigende Billigung des Staatsministerii. Dagegen leistete Graf Stolberg Widerspruch, und so fand eine Sitzung statt, zu welcher Fürst Bismarck erschien, nachdem er vorher eine augenscheinlich erregte Unterhaltung mit Graf Stolberg im Seitenkabinett gehabt hatte. Bismarck hatte evident keine Sitzung gewollt. Bismarck leitete die Sitzung mit der Bemerkung ein: Man kann den Antrag Richter-Minnigerode gar nicht ablehnen, das habe er schon am 11. November dem Finanzminister geschrieben. Man dürfe sich von der Opposition in dieser Beziehung nicht überbieten lassen und müsse den Willen für Steuererleichterungen durch die Tat dokumentieren. Er sei von Haus aus gegen einen einmaligen Erlaß gewesen, wohl aber für einen dauernden. Dieselben Leute, welche jetzt nach dem Ministerium unter dem Kronprinzen schielten, würden mit dem Tabakmonopol debütieren, was sie jetzt bekämpfen. Delbrück und Camphausen seien für das Monopol gewesen. Der horror vacui werde die durch den dauernden Steuererlaß entstehende Lücke ausfüllen. Man müßte den Wähler vor die Frage stellen, ob er wieder mehr direkte Steuern zahlen wolle oder nicht. Nach dieser Darlegung erklärten sämtliche anwesenden Minister, für den dauernden Erlaß zu stimmen trotz entgegenstehender Bedenken. Auch für den einmaligen Erlaß hätten wir nur in der Voraussetzung gestimmt, es sei Bismarcks ausgesprochener Wille, und es seien Deckungsmittel vorhanden. Bismarck hörte diese Erklärungen an unter Zeichen großer Ungeduld, stand auf, setzte sich wieder und meinte, es sei doch zweckmäßig, diese Beratung veranlaßt zu haben, und wiederholte ausdrücklich, Bitter (welcher 182

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abwesend war) habe hierin gegen die Verabredung gehandelt. Bitter habe sich in Kissingen von Helldorf für die Notwendigkeit eines einmaligen Erlasses gewinnen lassen. Er gehe mit seinen Kollegen, so weit er könne, schlachte sie nicht öffentlich ab, sondern sage ihnen, wenn nötig, unter vier Augen, daß sie sich trennen müßten, wie es bei Delbrück und Hofmann geschehen sei. Se. Majestät habe zwar an die erschütterte Gesundheit Delbrücks nicht geglaubt, aber sein und Hofmanns Abgang sei ihm völlig gleichgültig gewesen. Camphausen habe der König nur sehr widerstrebend zum Vizepräsidenten gemacht, zum Kanzler würde er es nicht getan haben. Dann ging er einige Zeit in die Sitzung, um acte de présence zu machen, und kam zurück, erzählend von einer heftigen Szene, welche er einmal mit Rechberg im Bundestag gehabt habe. Rechberg habe sich mit ihm schießen wollen, worauf er ruhig vorgeschlagen habe, das gleich im Garten des Eschenheimer Palais abzumachen. Rechberg habe sich dann aber wieder beruhigt und anders besonnen. Bötticher solle der spezielle Vertreter der Reichsinteressen im preußischen Staatsministerium werden. Gerüchtweise wurde erzählt, Se. Majestät habe den Schatzsekretär Scholz neulich empfangen, Bitter werde nach Italien reisen und Tiedemann im Schatzsekretariat Scholz ersetzen. 15. Februar. Bitters Situation wird immer schwieriger, er ist konfus und greisenhaft, ändert in wichtigen Finanzprinzipienfragen über Nacht seine Ansicht und folgt je dem Druck des Fürsten, um sich im Amt zu halten. Das Herrenhaus hat in der Kommission den dauernden Steuererlaß abgelehnt, und es wird eines erheblichen Drucks seitens der Regierung bedürfen, um diese falsche Maßregel im Plenum des Hauses durchzusetzen. Diese Herrn Richter gemachte Konzession bleibt ohne jede Gegenleistung seitens des Landtags. Der horror vacui drückt nur die Regierung, nicht das Parlament. Dieselbe Majorität, welcher wir den Erlaß konzediert haben, wird neue Steuern ablehnen, erklärend, die jetzige Minorität würde sie dann bewilligen. Die große Rede, welche der Fürst am 4. Februar zu Gunsten des zweiten Verwendungsgesetzes, Abschaffung des Schulgelds u. s. w. hielt und welche ihn geistig und körperlich sehr frisch, fast übermütig zeigte, wird in ihrer weiteren Wirkung sich vielleicht als ein politischer Fehler erweisen. Sie kommt dem Fortschritt und den Radikalen zugute. Man kann sie als eine Abwendung von den Konservativen und Zuwendung zu einer fortschrittlich-liberalen Majorität auffassen. Er erklärt Richter für regierungsfähig und verführt die Konservativen zu unsolider Finanzpolitik. Die Konservativen 183

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gehen am liebsten mit dem Zentrum zusammen, trotz Köln und der Haltung beim Juligesetz. Von Helldorf-Bedra, welchen ich neulich sprach und der eben vom Fürsten kam, berichtete, daß dieser sehr aufgebracht gegen das Zentrum sei. Das Hindernis für den Friedensschluß liege nicht in Rom, sondern hier im Zentrum. Trotzdem will Helldorf lieber mit dem Zentrum zusammengehen und vor allem eine Stärkung und Neuformation der Nationalliberalen verhüten. Auf wirtschaftlichem Gebiet (Gewerbeordnung, Unfallgesetz) steht das Zentrum auch den konservativen Anschauungen näher wie die Liberalen. Graf Eulenburg befindet sich mit seinen Vorlagen in einer Krisis, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Teils konservativ-klerikale, teils konservativ-liberale Koalition hat in Kompetenzgesetz und Kreisordnungsnovelle Beschlüsse zuwege gebracht, welche dem Fürsten als unannehmbar gelten. Graf Arnim will in dem heute eröffneten Reichstag das Präsidium nur annehmen unter Ausschluß des Zentrums vom Präsidio. 16. Februar fand eine große Debatte im Herrenhaus statt über das Steuer­ erlaßgesetz, welches das Abgeordnetenhaus nach Richters Anträgen angenommen hatte. Bismarck hielt eine große Rede dafür, nachdem die Etatskommission die Ablehnung empfohlen hatte. Camphausen sprach gegen das Gesetz, was zu einer scharfen Auseinandersetzung zwischen beiden führte, aber mit Annahme der Vorlage im Herrenhaus endete. Im Reichstag war Graf Arnim-Boitzenburg zum ersten, von Francken­ stein zum zweiten Präsidenten gewählt worden. Nachdem Graf Arnim abgelehnt hatte, wurde Unterstaatssekretär von Goßler zum ersten Präsidenten gewählt, so daß die Freikonservativen und Nationalliberalen ins Freie fielen. Se. Majestät, welchen ich am nächsten Abend (17. Februar) auf dem Hofball sprach, meinte, er habe erst gestern Abend gehört, daß Graf Arnim ablehnen wolle, und ihm sofort geschrieben, das nicht zu tun. Er handle nach Parteirücksichten und mache einen großen politischen Fehler. Sehr bezeichnend für das klare, richtige Urteil des alten Herrn. Fürst Bismarck war damals körperlich sehr leidend, mehr vielleicht, als man meist annahm; weil er sehr häufig über seine Gesundheit in öffentlichen Reden klagte, wurde man dagegen abgestumpft. Eine Folge davon war eine leicht gereizte Stimmung, dabei war er überarbeitet, weil er in wirtschaftlichen und Finanzfragen bis dahin die allein treibende Kraft war und in dem Finanzminister eine ganz ungenügende Unterstützung fand. Bötticher, ein sehr fähiger und auch dem Fürsten sympathischer Mann, war neu eingetreten und bedurfte einiger Zeit, bis er sich in manche ihm bisher 184

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fernliegende Materie eingearbeitet hatte. Die Jahre 1878 bis 1881 waren wohl die an persönlichen Konflikten reichsten, und erst nach dem Ausscheiden Hofmanns, Bitters, Eulenburgs und dem Eintritt Böttichers, Scholz’, Goßlers trat ein gewisser Beharrungszustand im Personal des Ministeriums ein, welcher bis zum Lebensende des Kaisers Wilhelm dauerte. Auch mit Neuorganisationen wurde experimentiert, so wurde der Volkswirtschaftsrat damals mit seinen verschiedenen Sektionen ins Leben gerufen und ebenso schnell wieder fallen gelassen, nachdem er in der Tabakmonopolfrage ein ablehnendes Votum abgegeben hatte. Es waren keine leichten Zeiten für die Mitarbeiter des Fürsten. Am 18. Februar wurde das Steuererlaßgesetz nach dreitägigen erregten Diskussionen angenommen. 19. Februar platzte im Herrenhaus die Bombe des Konflikts mit Eulenburg (s. Anlagen S. 502 ff.) in nie da gewesener dramatischer Weise. Der älteste Rat meines Ministerii, Geheimer Oberregierungsrat Heyder, kam zitternd vor Aufregung aus der Sitzung des Herrenhauses, welcher er als Kommissar beigewohnt hatte, und berichtete mir den Hergang. So etwas sei noch nie vorgekommen, im Herrenhause habe man sich unter allgemeiner Erregung und Konsternation vertagt, ratlos, was zu tun sei. Nachdem Graf Eulenburg, Minister des Innern, mit großer Wärme und Entschiedenheit für einen Beschluß des Abgeordnetenhauses eingetreten war, wonach gewisse Kommunalaufsichtsrechte auf den Kreisausschuß anstatt auf den Landrat übertragen werden sollten, erhob sich der Geheime Regierungsrat Rommel vom Handelsministerium und verlas eine Erklärung des Ministerpräsidenten, durch welche er sich in diametralem Gegensatz zu Graf Eulenburgs Auffassung setzte. Man möge es in den fünf älteren Provinzen (exklusive Posen), wo das Unglück einmal geschehen sei, beim jetzigen Zustand lassen, aber in keinem Fall diese Einrichtung auf die westlichen Provinzen übertragen. (Es handelt sich um das Gesetz über die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden und der Verwaltungsgerichte.) Ich ging sofort zu Graf Stolberg und rekapitulierte den historischen Verlauf der Krisis wie folgt: Am 18. Februar fand im Herrenhaus ein Ministerrat statt, in welchem Graf Eulenburg seine Darlegungen gab und empfahl, die Session bis zum 29. zu verlängern. Fürst Bismarck dissentierte und bestand etwas unwillig darauf, daß am 23. geschlossen würde. In der Frage, ob Landrat oder Kreisausschuß die Aufsichts- und Beschwerdeinstanzen für die Landgemeinden sein sollte, blieb Bismarck mit vier (Bötticher, Kameke, Lucius) gegen fünf Stimmen (Stolberg, Eulenburg, Puttkamer, Bitter, Friedberg) in der Minorität. 185

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Am Abend schrieb Bismarck an Stolberg, es sei das Gesetz so nicht annehmbar für ihn, und ließ dieselbe Mitteilung durch Tiedemann an Graf Eulenburg machen. Graf Eulenburg erwiderte mit Vorlegung eines Schreibens des Fürsten vom 6. Februar, worin sich dieser damit einverstanden erklärte, daß der Kreisausschuß anstatt des Landrats die Aufsichts- und Beschwerdeinstanz der Landgemeinde werde. Graf Stolberg antwortete im selben Sinn am 19. zwischen 12 und 1 Uhr. Inzwischen fand fast à tempo die Szene Rommel im Plenum des Herrenhauses statt. Graf Eulenburg reichte sofort nach der Sitzung seinen Abschied ein und fuhr zu Sr. Majestät, welcher ihn aber ‒ wider Erwarten ‒ kühl empfing. Fürst Bismarck erklärte, es habe hier eine Reihe der sonderbarsten Zufälle mitgespielt und „der Teufel hätte das Spiel nicht besser mischen können, wie es hier geschehen sei“. Er selbst sei unwohl gewesen und hätte nicht ausgehen können, weil er sonst eine Rippenfellentzündung riskiert hätte. Die Erklärung habe er flüchtig diktiert, sie sei aber nicht zur wörtlichen Verlesung, sondern nur zum Anhalt zur Abgabe einer mündlichen Erklärung seitens des Kommissars bestimmt gewesen. So sei ein Effekt eingetreten, welchen er nicht beabsichtigt habe; er bedauere das, könne aber Eulenburg nicht nachlaufen. Diese Version hat Bismarck dann auch später noch mündlich und schriftlich gegeben. Eine vom Minister Friedberg damals gemachte Niederschrift des Hergangs, welche er mir später einmal gab, füge ich hier bei. Abs chiedsgesuch des Ministers des Innern, Febr uar 1881. In der Sitzungsperiode des Jahres 1880/81 hatte der Landtag einen Gesetzentwurf „Über die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden und der Verwaltungsgerichte“ zu beraten. In diesem war der „Landrat“ als die Aufsichtsund Beschwerdeinstanz der Landgemeinden angenommen worden, das Abgeordnetenhaus aber hatte den Vorschlag verworfen und an Stelle des Landrats den „Kreisausschuß und Bezirksrat“ gesetzt. Der Minister des Innern, Graf Eulenburg, hatte sich mit dieser Abänderung einverstanden erklärt, der Präsident des Staatsministeriums, Fürst Bismarck, hielt aber dieselbe für im höchsten Grade bedenklich und legte in einem an den Minister des Innern gerichteten Schreiben vom 25. Januar 1881 dar, wie seiner Meinung nach im Herrenhause dahin gewirkt werden müsse, daß die vom Abgeordnetenhause beschlossene Änderung dort wieder beseitigt werde. Graf Eulenburg vertrat in seinem Antwortschreiben 186

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vom 31. desselben Monats die Ungefährlichkeit und Zulässigkeit der vom Abgeordnetenhause beschlossenen Bestimmung, und die Kommission des Herrenhauses, an welches der Gesetzentwurf inzwischen gelangt war, faßte den Beschluß: dem Plenum die A n n a h m e derselben zu empfehlen. Fürst Bismarck richtete hierauf an den Vizepräsidenten des Staatsministeriums, Grafen zu Stolberg, ein Schreiben, in welchem er erklärte: Daß, wenn das Plenum des Herrenhauses den Beschluß seiner Kommission gutheißen sollte, er nicht in der Lage sein würde, Sr. Majestät die Sanktion des Gesetzentwurfs zu empfehlen, und beraumte gleichzeitig eine Sitzung des Staatsministeriums an, in welcher er die zwischen ihm und dem Minister des Innern obwaltende Meinungsverschiedenheit zur Beratung stellte. Diese Sitzung fand am 17. Februar ‒ im Ministerzimmer des Herrenhauses ‒ statt und endete mit dem Beschluß, daß sich fünf Stimmen gegen vier für die Auffassung des Grafen Eulenburg und somit gegen den Ministerpräsidenten entschieden. Der Bericht der Kommission wurde am 19. Februar ‒ also zwei Tage nach jener mit einem schweren Mißklang beendeten Staatsministerialsitzung ‒ auf die Tagesordnung des Herrenhauses gesetzt. In derselben bekämpfte von Kleist-Retzow die von dem Fürsten Bismarck für unannehmbar gehaltenen Bestimmungen des Entwurfs ungefähr mit denselben Argumenten, die dieser dem Grafen Eulenburg gegenüber geltend gemacht hatte, während jener die angefochtenen Bestimmungen gegen den Redner verteidigte und die Annahme derselben befürwortete. Da erhob sich, nachdem Graf Eulenburg seine Rede beendet hatte, der als Regierungskommissar des Präsidenten des Staatsministeriums „und des Handelsministers“ angemeldete Geheimrat Rommel, bat um das Wort und verlas im Auftrage desselben eine Erklärung, in welcher die Bedenken, welche der Minister gegen die in Rede stehenden Paragraphen glaubte geltend machen zu müssen, entwickelt waren und welche mit den Worten schloß: „daß der Ministerpräsident aus diesen Erwägungen die Annahme der Artikel 17 und 42 in der jetzigen Fassung als ein neues Hindernis für die Fortbildung der in den fünf Provinzen begonnenen Organisation betrachte und der Überzeugung sei, daß die weitere Ausdehnung der Organisation erst nach Revision dieser Paragraphen würde erfolgen können.“ (Stenogr. Bericht des Herrenhauses, Sitzung vom 19. Februar, S. 205.) Unter dem verblüffenden Eindruck dieser Erklärung, die im vollen Gegensatz zu der eben von dem Ressortminister abgegebenen stand, beantragte ein Mitglied des Hauses, Graf zur Lippe, die weitere Beratung auszusetzen und den Druck der verlesenen Erklärung zu veranlassen, „da unter 187

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dem Eindruck der bloßen Anhörung derselben ein Beschluß in der Sache nicht gefaßt werden könne“. Das wurde angenommen und die Sitzung selbst schloß in einer dem Herrenhause sonst nicht eigenen Aufregung. Der Vizepräsident des Staatsministeriums, Graf Stolberg, hatte der Sitzung desselben nicht beigewohnt, und ich begab mich nach ihrem Schlusse zu ihm, um ihm über die Szene, die sich eben dort abgespielt habe, Mitteilung zu machen. Sie überraschte ihn zwar, doch meinte er, daß er Ähnliches schon seit einiger Zeit gefürchtet habe, denn zwischen dem Fürsten und Grafen Eulenburg hätten schon seit längerer Zeit „starke Verstimmungen“ geherrscht, und die heute zum Ausbruch gekommene Krise werde unzweifelhaft zu einem Abschiedsgesuch des Letzteren führen. Als ich den Grafen verließ, begegnete mir im Vorzimmer der Bruder des Ministers Eulenburg und teilte mir mit, daß dieser vor wenigen Tagen aus Anlaß des fraglichen Gesetzentwurfs eine sehr gereizte Auseinandersetzung mit dem Fürsten gehabt und dieser ihm dabei vorgeworfen habe: „Er wolle herrschen“. Jetzt bleibe dem Bruder nichts übrig, als seinen Abschied zu erbitten, und er sei in diesem Augenblick schon im Palais des Kaisers, um diesem seine Bitte vorzutragen. In später Nachmittagsstunde ging mir aus der Reichskanzlei eines der dort gebräuchlichen metallographierten Billette zu, in welchem der Reichskanzler mich ersuchte, ihn abends zwischen 9 und 10 Uhr „mit meinem Besuche zu beehren“. Zur angegebenen Stunde wurde ich empfangen und hatte zunächst eine längere Besprechung kirchenpolitischer Fragen, unter anderen eine über die Wahl des Kapitelverwesers Dr. Höting zum Bischof von Osnabrück und eine andere über den von dem Dompropst Dr. Holzer gemachten Vorschlag, durch Bischof Hefele Friedensverhandlungen mit der römischen Kurie anknüpfen zu lassen. Nach dieser Besprechung ging der Fürst zu der brennenden Frage des Tages ‒ die Herrenhaussitzung ‒ über und hatte kein Hehl, daß dies der eigentliche Grund sei, wegen dessen er mich zu sich beschieden habe. Als Eingang der Besprechung verlas er ein vor einigen Stunden ihm zugegangenes Handbillett des Kaisers, in welchem dieser ihm mitteilte: Graf Eulenburg sei vorhin bei ihm gewesen und habe mündlich um seinen Abschied gebeten, da er nach der Desavouierung, die er heute im Herrenhause erfahren habe, nicht länger im Amte bleiben könne. Das Billett des Kaisers schloß mit den Worten: „Da müssen wohl Mißverständnisse vorgekommen sein, ich verstehe das nicht. Bericht!“ 188

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„Von einem Mißverständnisse,“ fuhr der Fürst fort, „kann allerdings insofern die Rede sein, als die von Herrn Rommel, ‚einem ganz tugendhaften Geheimrat‘, abgegebene Erklärung nur dazu bestimmt gewesen ist, dem Grafen Eulenburg, bevor er in die Verhandlung eintrete, mitgeteilt, keineswegs aber im Hause v e r l e s e n zu werden. Sie hätte eigentlich nur zur Instruktion der Regierungskommissare dienen sollen, aber ‚wenn der Teufel sein Ei in eine Sache legen wolle, dann gehe eben alles verkehrt‘! So in diesem Falle; Geheimer Rat Stüve habe die Erklärung dem Grafen Eulenburg, bevor dieser das Wort ergriffen, überreicht, dieser aber sie mit den Worten zurückgewiesen: ‚Tun Sie, was Ihnen aufgetragen ist.‘ Erst darauf habe der zweite Kommissar geglaubt, die Erklärung demnächst v e r l e s e n zu müssen. Nach diesem Verlauf der Sache müsse er allerdings auch seinerseits eine Ausgleichung für unmöglich erachten und werde daher Sr. Majestät die Ablehnung des angebrachten Abschiedsgesuches nicht anraten können. Komme es zur Verabschiedung des Grafen Eulenburg, so werde er den jetzigen Kultusminister von Puttkamer zum Nachfolger desselben in Vorschlag bringen.“ Den im Handschreiben Sr. Majestät befohlenen Bericht erstattete der Fürst schon am folgenden Tage und legte in demselben dar, daß, nachdem Graf Eulenburg von der ihm vorgezeigten Erklärung Kenntnis bekommen hatte, er in der Lage gewesen sei, die Vorlesung desselben zu verhindern, jedenfalls, nachdem er die Vorlesung zugelassen, sich in seiner Rede nicht in einem so schroffen Gegensatz zu derselben, wie er es getan, hätte äußern dürfen; der Fürst würde es bedauern, wenn Graf Eulenburg bei seinem Abschiedsgesuch beharren sollte, aber er glaube, ihm einen berechtigten Grund dazu nicht gegeben zu haben. Die in diesem Immediatbericht enthaltene Erklärung, daß die „Ve r l e s u n g “ seiner ‒ nur zur Instruktion des Regierungskommissars bestimmten ‒ Äußerung nicht in seiner Absicht gelegen habe, wiederholte der Fürst in der Sitzung des Herrenhauses vom 21. Februar in ausführlicher Rede, die er mit der Bemerkung einleitete: „Er hätte keinen Grund, in die sachliche Diskussion einzutreten, wenn er nicht der unrichtigen Auslegung der hier in seinem Namen am 19. verlesenen und von ihm nicht zum Ve r l e s e n , sondern zur Instruktion der Herren Kommissare bestimmt gewesenen Auslegung entgegentreten wollte. Durch zufällige Umstände sei er verhindert gewesen, seine Instruktion der Kommissare m ü n d l i c h zu erteilen, und hätte sie deshalb s c h r i f t l i c h gegeben; sie sei aber keineswegs darauf berechnet gewesen, buchstäblich verlesen zu werden, sondern hätte eben nur zur Instruktion der Kommissare dienen sollen.“ 189

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Als im Laufe der Verhandlungen ein Mitglied des Hauses, Graf Brühl, jene Erklärung eine „Kanzlerbotschaft“ nannte, verwahrte sich der Fürst gegen dieses „geflügelte Wort“, um welches der Redner den parlamentarischen Redeschatz bereichert habe; es gebe nur „Kaiserbotschaften“ und nicht Kanzlerbotschaften, da der Kanzler nur ein Diener des Kaisers sei und somit auch nicht „Botschaften“ von diesem, sondern allein von jenem ausgehen könnten (vgl. Stenogr. Bericht, S. 219). Weder der an den Kaiser erstattete Immediatbericht noch die von dem Ministerpräsidenten im Herrenhause abgegebenen Erklärungen über die Natur der von dem Kommissar v e r l e s e n e n Erklärung hatten den Erfolg, Graf Eulenburg zur Rücknahme des Entlassungsgesuchs zu bestimmen, und so endete denn der geschilderte Zwischenfall mit dem Ausscheiden des Grafen aus dem Ministerium des Innern, in welches Herr von Puttkamer an seine Stelle eintrat. Graf Eulenburg, welcher nach allgemeiner Annahme hoch in Gunst beim alten Herrn stand, hatte bei seiner Audienz den Eindruck, daß Se. Majestät auf das Ereignis nicht unvorbereitet sei und daß er den Abschied erhalten würde. So geschah es denn auch. Graf Eulenburg wurde Oberpräsident in Kassel. Puttkamer wurde nach einigem Zögern Sr. Majestät, welcher ihn als Kultusminister sehr schätzte, Minister des Innern und von Goßler Kultusminister. Am 21. gab Fürst Bismarck im Herrenhaus, noch vor Wiedereröffnung der Diskussion, eine Erklärung im oben erwähnten Sinne ab. Die von Rommel verlesene Erklärung sei nicht hierzu bestimmt gewesen, sondern zur Ins­ truktion für den Kommissar für seine Auslassungen. Absicht einer Personaländerung oder tiefergehende Meinungsverschiedenheiten lägen nicht vor. Ministerialdirektor Marcard gab nachstehendes Referat auf Grund einer vom Geheimrat Stüve gegebenen Darstellung: Sonnabend (19. Februar) früh wurde Stüve, nachdem man Rommel vergeblich gesucht hatte, zu Bismarck beschieden, welcher ihm das auf sein Diktat von einem Sekretär geschriebene Konzept vielfach korrigiert und schwer leserlich mit der Weisung Überreichte, es im Herrenhaus zu verlesen, auch wenn schon die Diskussion über § 17 vorbei sei. Nur wenn die ganze Vorlage schon erledigt sei, solle er es zurückhalten. Sonst sei es zu verlesen. Stüve zeigte in der Sitzung das Manuskript Eulenburg, welcher es flüchtig überlas und sagte: Er solle tun, was ihm befohlen sei. Inzwischen trat Rommel ein, welchem Stüve das Papier als dem eigentlich für das Plenum angemeldeten Kommissar überreichte. Rommel schrieb es in einem Nebenzimmer ab, weil er es nicht gut lesen konnte, und fragte Eulenburg, wann er 190

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es publizieren solle. Dieser wies ihn kurz ab, weil er Kleist-Retzow, der ihn heftig im bismarckschen Sinn angriff, anhörte, um ihm zu antworten. Eulenburg war also avertiert und redete im Bewußtsein, was folgen würde, vielleicht umso entschiedener für die Fassung des Abgeordnetenhauses. Demnach wäre die Frage, ob das Schriftstück zum Verlesen bestimmt war, wohl entschieden. Stüve ist wie Marcard Hannoveraner und mit ihm intim befreundet. 26. Februar fand der feierliche Einzug der Prinzeß Viktoria Auguste über die Linden her ins Schloß statt. Wir sahen den Zug vom Fenster des Schlosses an. Prinz Wilhelm kommandierte inzwischen im Schloßhof die Leibkompanie des 1. Garderegiments mit russischen Mützen mit solchem Eifer, als ginge ihn der Einzug sonst nichts an. Ließ vor seiner künftigen Gemahlin stramm präsentieren. Echt preußisch! Graf Eulenburg erschien dabei, für mich und vermutlich auch für die anderen Minister überraschend in der Uniform für Verabschiedete, das heißt der zweiten gestickten Uniform ‒ Frack mit Epauletten. Er hat den Abschied gestern Abend erhalten ‒ gerade acht Tage nach der Szene im Herrenhaus. Fürst Bismarck war in Generalsuniform da und sagte: „Nun habe sich alles à l’amiable gelöst.“ Eulenburg wird Oberpräsident in Kassel ‒ er war seit 30. März 1878 Minister. 4. März eine kurze Sitzung über die Ministerfrage. Bismarck nannte einige Namen und sagte, sein Kandidat sei Herr von Puttkamer in erster Linie, er sei aber mit dem Vorschlag bei Sr. Majestät auf Widerstand gestoßen, welcher ihn als Kultusminister behalten wolle, wo er sich sehr in seinem Sinne bewährt habe. Puttkamer erklärte sich bereit, das Innere zu übernehmen, wenn es im allgemeinen Interesse gefunden werde. Nachdem Bismarck sich entfernt hatte, einigten wir uns leicht für Puttkamer als Minister des Innern und von Goßler als Kultusminister, nur Bitter schien nicht ganz einverstanden, weil er wohl selbst den Posten des Innern ambierte. Inzwischen fand im Reichstag unter Bismarcks Mitwirkung eine animierte Diskussion statt über die städtische Mietsteuer, sogenannte Lex Tiedemann, welche schließlich stürmisch wurde. Bismarck warf dem Magistrat und den Stadtverordneten vor, sie bildeten einen fortschrittlichen Ring, handelten parteilich in der Einschätzung der Dienstwohnungen u. s. w. Dabei rief der Abgeordnete Struve: „Schamlos.“ Bismarck: „Ich habe eben eine ganz unverschämte Bemerkung gehört, der Herr wird wohl den Mut haben, sich zu melden!“ Struve stand auf und sagte: „Ich bin es gewesen.“ Bismarck: „Dann wundere ich mich nicht.“ 191

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Der Präsident rief Struve zur Ordnung. Struve rief: „Was wird der Herr Präsident tun gegenüber dem Reichskanzler?“ Bismarck: „Ich nehme den Ausdruck zurück, nachdem der Herr Abgeordnete sich gemeldet hat. Er kennt gewiß Scham!“ 10. März. Gestern vertrauliche Sitzung bei Bismarck. Er teilte mit, die Domkapitel in Osnabrück und Hildesheim-Paderborn hätten Vikare gewählt und vorschriftsmäßige Anzeige erstattet. Das sei der erste Schritt, die erste tatsächliche Betätigung der Neigung zum Frieden. Dann verlas er einen Brief Sr. Majestät, worin derselbe wiederholt und entschieden sich einverstanden ausdrückt mit der Geschäftsführung des Kultusministers Puttkamer und seine Abneigung ausdrückt, ihn zum Minister des Innern zu machen. Wilmowski, der Geheime Kabinettsrat, habe Sr. Majestät seitdem noch wiederholt Vorstellungen in seinem (Bismarcks) Auftrag gemacht, sei aber energischem Widerspruch begegnet. Se. Majestät habe die Feder auf den Tisch gestoßen und gesagt, er wisse schon, daß man ein Definitivum daraus machen werde, wenn er sich erst auf ein Provisorium einlasse. Äußerstenfalls wolle er es bis zum 1. Juli zulassen. Bismarck, welcher offenbar für Puttkamer entschieden ist, machte noch einige Scheinvorschläge. „So ungern er sich von Bötticher trenne und dieser von ihm, so werde er diesen vorschlagen, wenn Se. Majestät auf seinem Widerspruch beharre. Es sei eine unerwartete Schwierigkeit, keinen Minister des Innern zu finden. Ein Finanzminister, das sei schon schwieriger ‒ auf Bitters Kandidatur ging er gar nicht ein.“ 14. März. Gestern, Sonntag, Abend Telegramm aus St. Petersburg, wonach Kaiser Alexander II. durch ein nihilistisches Bombenattentat getötet worden ist. Er starb zwei Stunden, nachdem er die schweren Verletzungen erhalten hatte. Als er, von der ersten Explosion unverletzt, aus dem Schlitten sprang, wurde ihm die zweite Bombe vor die Füße geschleudert, welche beide Beine zerschmetterte und den Unterleib zerriß. 19. März. Sitzung bei Bismarck, in welcher einstimmig die Bestätigung der in Paderborn und Osnabrück gewählten Bischöfe beschlossen wurde, auch sollen beide von der Leistung des Eides entbunden werden. Sie gehören beide einer versöhnlichen Richtung an und haben ihre Meldung beim Oberpräsidenten vorschriftsmäßig erstattet. Wenn sie nun die Anzeigepflicht bezüglich der von ihnen anzustellenden Geistlichen erfüllen, so ist tatsächlich der kirchliche Frieden hergestellt. Bismarck stellte zur Diskussion, ob Sr. Majestät anzuraten sei, ein direktes Schreiben an den Papst zu richten, anknüpfend an diese versöhnlichen Tatsachen, und bezüglich Triers eine 192

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Verwesung einzurichten. „Es ist ein gewisses Risiko, daß eine Ablehnung erfolgt und der Schritt als Gang nach Kanossa bezeichnet wird, allein gerade eine so starke Regierung darf so etwas wagen, ohne daß die versöhnliche Absicht verkannt wird. Sollte Rom refüsieren, so setzt sich der Papst ins Unrecht, was kaum zu gewärtigen ist.“ Friedberg und ich stimmten dem Gedanken zu, während die anderen mit ihrer Meinung zurückhielten. Ferner proponierte Bismarck, regelmäßig jede Woche eine Sitzung zu halten, um das jetzt üblich gewordene schriftliche Votieren wieder einzuschränken und die mündliche Erörterung zu beleben. 3. April. Sonntag fand die dritte regelmäßige Staatsministerialsitzung bei Bismarck statt. Es wurde dabei geraucht und Bier angeboten, was der Sache einen gemütlichen Charakter gab. Es fand eine ziemlich heftige Szene zwischen Bitter und Bismarck statt wegen des Zollanschlusses von Hamburg. (S. Anlagen, S. 506 ff.) Während Bismarck auf Beschleunigung drängt, ist Bitter immer guten Muts, versichert, in acht bis zehn Tagen werde alles in der Reihe sein, während die Sache am alten Fleck bleibt. In Trier ist ein ausgesprochener Jesuitenzögling de Lorenzi zum Kapitelvikar gewählt worden trotz Abmahnung. Ihm soll die Eidesleistung nicht erlassen werden, was in Paderborn und Osnabrück geschah. Das Schreiben des Kaisers an den Papst ist dadurch erleichtert worden, daß Letzterer unserem Herrn zum Geburtstag gratuliert hat, so daß unser Brief zu einer dankenden Antwort unter Betonung der friedlichsten Gesinnung werden soll. Gleichzeitig schrieb Bismarck an Jacobini und dieser Schriftwechsel soll nächstens publiziert werden. Weiter erzählt Bismarck: Die Kölner Zeitung sei in die Hände eines französischen Konsortiums für 6 Millionen Mark übergegangen, so erkläre sich die Zustimmung zu Lorenzis Wahl. ‒ Diese Nachricht hat sich später nicht bestätigt. Ein Artikel in der Deutschen Revue macht großes, für das Ministerium peinliches Aufsehen. Er gibt Enthüllungen über Eulenburgs Rücktritt, indem er ihn und seinen Vorgänger (Fritz Eulenburg) verantwortlich macht für den Gang der Verwaltungsreform. Es wird konstatiert, daß in den letzten zwei Jahren die innere Politik nicht im Sinne des Ministerpräsidenten geführt worden sei. Eine für Graf Stolberg und das ganze Ministerium peinliche Kritik. Daneben wird in offiziösen Blättern geschrieben, die Parteien, welche die Steuerreformpolitik des Fürsten bekämpften, sänken auf eine Stufe herab mit Richter. Nun ist aber tatsächlich zurzeit keine einzige Fraktion für Bewilligung neuer Steuern. 193

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Kürzlich dinierte ich bei Bismarck mit Graf Frankenberg und Herrn von Mirbach, welcher seine frühere Deklarantenerklärung wieder zurückgenommen, also Frieden mit Bismarck geschlossen hat. Dieser Schritt findet zahlreiche Zustimmung und Nachfolge von früheren Deklaranten. 13. April. Ministerrat, in welchem Bismarck einen eigenhändigen, sehr herzlichen Brief verliest, welchen Alexander III. an unserm Kaiser nach seiner Thronbesteigung gerichtet hat. Er versichert darin, die durch drei Generationen bewährte Freundschaft mit Preußen als den besten Teil seines Erbes zu betrachten u. s. w. Bezüglich Tunis solle die deutsche Presse die äußerste Zurückhaltung beobachten, um jedem Mißtrauen in Frankreich vorzubeugen. Auf Italien habe man bei seiner Doppelzüngigkeit und Unzuverlässigkeit gar nicht zu rücksichtigen. Italien sei 1866 im Begriff gewesen, uns zu verraten, und 1870 nur durch die schnellen kriegerischen Erfolge abgehalten worden, uns anzufallen. Die einzigen uns Wohlgesinnten seien die Republikaner wie Mazzini und dergleichen gewesen. General Govone sei auch ein ehrlicher Mann gewesen, welcher ihn vor seiner eigenen Regierung als französischen Satelliten gewarnt habe. 24. April. In der gestrigen Staatsministerialsitzung teilte Bismarck uns ein Schreiben des Grafen Stolberg mit, nebst Antrag an Se. Majestät, in welchem Graf Stolberg „in Rücksicht auf den großen Umfang seiner eigenen Verwaltung“ um seinen Abschied nachsucht, indem er Bezug nimmt auf ein ähnliches, schon im vergangenen September ergangenes Schreiben. Zugleich stellt er anheim, die Sache aufzuschieben bis zum Schluß des Reichstags, zu konvenierender Zeit. Er schreibe schon jetzt, weil der Fürst möglicherweise Sr. Majestät lieber mündlich vor dessen Abreise Vortrag halten würde. Vorschläge über den eventuellen Nachfolger machte er nicht. Bismarck begleitete die Vorlesung mit allerlei Zwischenbemerkungen halb humoristischer Natur, als wenn es ihn nicht weiter affiziere und als wenn er den Schritt ganz natürlich fände. „Heutzutage sei niemand gern Minister, höchstens für die erste Zeit mache es Spaß. Auch er verliere in seiner Privatverwaltung, obschon sie natürlich nicht so groß sei, wie die stolbergsche. Dieser habe erst kürzlich in Oberschlesien den früher renardschen Minervawald, fünf Quadratmeilen groß, gekauft und bar bezahlt. Rothschild habe ihm einmal in Frankfurt mitgeteilt, es sei ihm ein unangenehmer Gedanke, daß seine Kinder einmal nur den vierten oder fünften Teil erbten von dem, was er hätte. So denkt jeder!“ Stolberg habe die olympische Höhe des Hofes geliebt und gelegentlich auch gute Dienste geleistet, so damals in Baden bei den Verhandlungen über 194

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den österreichischen Vertrag. Jedenfalls würde man ihm empfehlen müssen, bis zum Schluß des Reichstags zu warten. Er (Bismarck) behandelte die ganze Sache sehr kühl ‒ enfin nous aurons un autre! Während wir anderen sein Ausscheiden sehr bedauern und empfinden werden. Nicht nur seine gentile Repräsentation, seine loyale Geschäftsführung, seine einflußreiche Stellung beim Hof werden wir missen, sondern das ganze Ansehen des Ministeriums im Land wird durch seinen Rücktritt leiden. Alle konservativen Nuancen waren ihm gewogen und die im gegnerischen Lager kolportierte Meinung, daß jede selbständige Persönlichkeit mit eigenen Ansichten schwer neben Bismarck im Ministerium bestehe, wird neue Nahrung erhalten. 28. Mai. Ein glänzendes Diner beim Fürsten Bismarck, wozu Se. Majestät, alle Minister mit ihren Damen und sonst Familie Bismarck anwesend. Höchst gelungenes Fest, prachtvoll blumengeschmückte Tafel im Kongreßsaal. Se. Majestät bewegte sich ganz jugendfrisch in der Gesellschaft und fand niemand, welcher wußte, wer die erste Gemahlin Wilhelms IV. von England gewesen sei. Seine persönlichen Erinnerungen gehen weit über die jetzige Generation zurück. Bismarck ging an einem Stock wegen Venenentzündung. Bismarck war sonst guter Stimmung wegen des guten Fortgangs der Verhandlungen über den Zollanschluß Hamburgs und des sich bessernden Stands der Finanzen. Es ist das in erster Linie Maybachs Verdienst, dessen Bahnen ein Plus von 20 Millionen ergeben haben. 30. Mai. Paradediner im Schloß, wobei Se. Majestät höchst aufgeräumt, zwei seiner Minister (Bötticher und mich) in Landwehruniform zu sehen. „Einfache Epauletten und Großkordons ‒ das können nur Prinzen oder Minister sein.“ „Sie machen aber auch dem anderen Rock Ehre.“ Er war überaus gnädig ‒ ebenso der Kronprinz, dessen Benehmen wohl Reflex der allerhöchsten Gnadensonne war. 10. Juni. Galatafel bei Sr. Majestät zu Ehren des Königs Milan von Serbien. Ein zweiunddreißigjähriger, gut aussehender, bescheiden auftretender Herr. 12. Juni. Bei Bismarck konferiert. Er liegt noch auf dem Sofa mit Venenentzündung und sieht mit dem struppigen, unrasierten Bart alt und zittrig aus. Klagte anfangs mit gebrochener Stimme: er müsse die Flinte ins Korn werfen und könne nicht mehr. Nichts, was er einmal angriffe, könne er wieder loswerden. In der auswärtigen Politik gäbe es Dinge sekretester Natur, welche er selbst machen müsse. Im Parlament habe man mit lauter Verrückten zu tun, nirgends eine Stütze. Bennigsen laufe den Sezessionisten nach und stelle sich ganz in die Opposition. Er und Stosch intrigierten mit Bitter für ein künftiges Ministerium, in welchem Stosch Kriegsminister, 195

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Bennigsen Kanzler, Stauffenberg Schatzsekretär, Forckenbeck Minister des Innern sein solle. Die Kronprinzeß begünstige diese Kombination, während der Kronprinz sich weit davon trenne und von seiner Frau differiere. Der Kronprinz wolle seinen Hofmarschall Eulenburg los sein und ihn zum Gesandten in Holland oder Portugal gemacht haben. Se. Majestät habe der Ernennung Puttkamers zum Minister des Innern zugestimmt, wenn Goßler sein Nachfolger im Kultusministerium würde. Das geschehe, weil er es der Kaiserin versprochen habe. Zuletzt habe er (Bismarck) noch den Grafen Limburg-Stirum als Minister des Innern vorgeschlagen, was Se. Majestät, welcher gestern anderthalb Stunden bei ihm war, weder abgelehnt noch angenommen habe ‒ „er möge ihm das schreiben, damit er es weiter überlegen könne.“ Wahrscheinlich aber wolle er das mit der Kaiserin besprechen, welche jetzt sehr großen Einfluß auf ihn habe. Se. Majestät habe Puttkamers Ernennung noch nicht unterschrieben, weil es der 11. Juni, sein Hochzeitstag, sei. Über die parlamentarischen Parteien äußerte er sich bitter. Mit der Mietssteuer hätte ihn der Magistrat persönlich ärgern wollen, in der Innungsfrage (Gewerbeordnung § 100, Nr. 3) hätten ihn selbst die Freikonservativen mit von Ende und Graf Arnim an der Spitze in Stich gelassen; in den Fragen der zweijährigen Budgetperiode und des Volkswirtschaftsrats hätte Bennigsen ihn ganz ohne Not bekämpft. Dem Zentrum wolle und könne er nicht die nötigen Konzessionen machen, um sie zu gewinnen; das müßte ein anderer tun u. s. w. Bismarck hat an heftigen Magenkrämpfen gelitten, welchen dann Blutungen folgten, was er alles dem gehabten vielen Ärger zuschrieb, während das wohl auf das Vorhandensein von Magengeschwüren deutet. Dabei beschäftigen ihn die Gedanken über künftige Ministerkombinationen lebhaft. Er will Stosch öffentlich durch die Zeitungen mit seiner Namensunterschrift angreifen, weil er Rickert in Danzig von seinen Werftarbeitern wählen ließe und mit Hänel in Kiel konspiriere. Er werde Sr. Majestät geradezu sagen, daß er mit einem solchen … nicht dienen wolle. Wie viel davon Wirklichkeit und Phantasie ist, kann man kaum ergründen. Jedenfalls ist Bismarck körperlich sehr angegriffen und schon dadurch reizbar. Beim Abschied äußerte er noch seine Freude über das kühlere Wetter, was der Verbreitung der Tollwut der Hunde steuern werde. Er hat namentlich großen Anstoß genommen an einem Bericht der Veterinärdeputation, worin konstatiert wird, daß die Tollwut nicht spontan bei uns entstünde, sondern daß sie stets über die östliche Grenze eingeschleppt und durch Biß übertragen werde. Er war ganz entrüstet über diese Theorie und hat sein Mißfallen darüber schon wiederholt ausgesprochen. 196

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16. Juni. Gestern wurde der Reichstag geschlossen, nachdem er das Unfallgesetz nach den Beschlüssen der zweiten Lesung unverändert angenommen hatte ‒ also in einer Form, welche früher der Kanzler für nicht annehmbar erklärt hatte. Ursprünglich hat allerdings der Fürst von diesem ersten Versuch, eine so schwere Materie zu ordnen, keinen sofortigen Erfolg erwartet, sondern ihn nur als Ballon d’essai betrachtet. 18. Juni. Heute teilte Bismarck im Ministerrat ein ausführliches Schreiben Sr. Majestät mit, worin derselbe sich dahin äußerte, daß er, obschon Herr von Puttkamer zu seiner vollkommenen Zufriedenheit und mit Würde das Kultusministerium verwaltet habe, da von Puttkamer wichtigere Aufgaben für sich im Ministerium des Innern sähe, ihn von seinem jetzigen Ressort entbunden und zum Minister des Innern ernannt habe. Goßler ernenne er zu seinem Nachfolger. Graf Stolberg entbinde er auf seinen Antrag seines Amts unter Verleihung des Sterns der Großkomture des Hohenzollernschen Hausordens. Den Vorsitz im Staatsministerium solle, falls innerhalb desselben keine andere Einrichtung getroffen werde, der dienstälteste Minister führen. Die betreffenden Kabinettsordres lagen bei, und Bismarck erklärte, er habe sie erst nachträglich kontrasigniert. Er bemerkte dazu, er sei zu schwach gewesen, um diese Fragen zu kämpfen, welche Se. Majestät bei seinem letzten Besuch mit ihm ausgemacht habe. Er hoffe, Goßler werde trätabler sein, als man befürchte, und wenn er zu weit rechts wolle, sei ja das Staatsministerium noch da. Er sprach das matt und leidend, als wünsche er keine weitere Diskussion über dieses fait accompli. Herr von Puttkamer hielt sich aber verpflichtet, zu erklären, daß diese Ernennung auf seinen Vorschlag erfolgt sei und daß er nach zehnjähriger naher Bekanntschaft die volle Garantie für den Charakter, die Fähigkeiten und für das parlamentarische Geschick Goßlers übernehme, er sei vielleicht etwas eckig, aber maßvoll und keineswegs schroff. Andere meinten, sie wünschten, er möge in diesem Urteil recht haben, aber im Lande werde diese Ernennung schwerlich viel Beifall finden. Bismarck sprach dann etwas lebhafter, er bürge zwar nicht für Goßler, aber für Wolff sich ins Zeug zu legen, gegen den ausgesprochenen Willen des Königs und bei Wolffs2 eigner, geringer parlamentarischen Leistungsfähigkeit, habe er nicht Kraft und Neigung gehabt. Übrigens glaube er, jederzeit seine (Goßlers) Entlassung durchsetzen zu können, wenn er die Alternative stelle: er oder ich. „Man könne dann vielleicht noch politisch Kapital 2

Damals Regierungspräsident in Trier.

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aus seiner Ausschlachtung machen,“ fügte er humoristisch lächelnd zur allgemeinen Heiterkeit hinzu. Hierauf entwickelte er in längerer Rede seine Zukunftspläne über Arbeiterversicherung und Finanzreform. An Ersterer halte er fest, ohne Belastung des Arbeiters. Die Konservativen hätten in ihrer Dummheit sich zu einem unannehmbaren Kompromiß durch das Zentrum verleiten lassen. Außerdem ginge er um mit großen Kanalprojekten, auch die Schul- und Armenlasten müßte der Staat übernehmen und zeigen, welche nützliche Verwendung für Staatsmittel man habe. Nicht zweihundert, dreihundert ‒ viele hundert Millionen könne man für solche nützliche Zwecke brauchen. Der Finanzminister solle seinen Marschallsstab über die Mauer werfen und so weiter. Er verhandle geheim über einen Handelsvertrag mit Frankreich, welcher gegen Holland und Belgien gerichtet sei. Niemals sei man in Frankreich uns freundlicher gesinnt gewesen als jetzt, wo man ihnen in Tunis freie Hand gelassen habe. Zudem hätten sich dabei Italiener und Franzosen gründlich verfeindet. Holland, das uns die Lachse wegfange und in Schifffahrtsfragen keine Konzessionen mache, verdiene auch keine Rücksicht. Ein Reich von vierzig Millionen könne uns reelle Vorteile bieten. Er schwanke noch, ob er den Reichstag für November zur Budgetberatung auf sechs Wochen berufen oder ihn später gleichzeitig mit dem Landtag berufen solle. Genug, er war voll Projekte und trotz seines leidenden Gesundheitszustandes höchst unternehmungslustig. Hindernisse für alle diese gigantischen Pläne sieht er nicht und meint, alles durchsetzen zu können. Schließlich empfahl er sich für eine längere Abwesenheit: Die Posten des Vizepräsidenten und des Staatssekretärs des Äußern bleiben vorläufig unbesetzt. 20. Juni. Graf Stolberg besuchte mich, als gerade Minister Friedberg hier war, und sprach seine Überraschung aus über den so schnell erfolgten Abschied. Er habe mit Bismarck verabredet gehabt, erst nach den Reichstagswahlen oder zu sonst konvenierender Zeit die Sache perfekt zu machen, stattdessen habe er, am Sonnabend zurückkehrend, den blauen Brief auf seinem Tisch gefunden. Es sei ihm ja ganz angenehm, aber doch überraschend gekommen. 29. Juni. Gestern beim Kanzler diniert, welcher morgen zu reisen gedenkt. Er ist sehr abgemagert, matt und weich, wie ich ihn noch nicht gesehen habe. Mit Einbringung einer Höfeordnung für Westfalen und Lauenburg erklärt er sich einverstanden, wiederholt betonend, daß er die Parzellierung des Grundbesitzes im Allgemeinen für richtiger halte. Nach Tisch ließ er Feuer 198

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anmachen und die Fenster schließen, weil es ziehe; wir hatten unten im Vorzimmer neben dem Arbeitszimmer diniert. Dann legte er sich aufs Sofa und betonte wiederholt sein Ruhebedürfnis. Am anderen Tag ein Diner beim Prinzen Wilhelm, wo die Minister Maybach, Bitter, Kameke und Oberbürgermeister von Forckenbeck. Der Prinz unterhielt sich sehr lebhaft und schwärmte für wagnersche Musik und Felddienstübungen. 29. Juni bei Bismarck diniert, er war matt und klagte über Schmerzen, war aber sehr herzlich, was vielleicht etwas demonstrativ war, da gerade in den fortschrittlichen Zeitungen kolportiert wurde, ich sei brouilliert mit Bismarck und meine Stellung erschüttert wegen der Abstimmung über die Wehrsteuer u. s. w. 17. Juli. Von einer Dienstreise nach Ostpreußen zurückgekehrt, hörte ich, Dr. Struck, der langjährige Hausarzt des Fürsten, habe kurz vor dessen Abreise um Entbindung von der Praxis gebeten. Bismarck sei ganz aus den Wolken gefallen gewesen, daß Struck ihm ‒ der ihn erfunden und gemacht habe ‒ den Stuhl vor die Tür setze. Dr. Struck habe der Fürstin den Gebrauch von Kreuch angeraten, während der Fürst dagegen war, weil sie, von ihm getrennt, sich um ihn ängstigen und keinen Kurerfolg haben werde. Das scheint zu Differenzen geführt und damit geendet zu haben, daß Struck einen Brief schrieb, in welchem er sagte: Er bitte um Entbindung von seinem Dienst, da seine Gesundheit zu schwach sei, um die Erschütterungen zu ertragen, mit welchen die Praxis im bismarckschen Hause verbunden sei. Dr. Struck hat etwas von Bismarcks Stil profitiert! Tiedemann hat seine Ernennung zum Regierungspräsidenten in Trier oder Bromberg wiederholt angeregt, was Bismarck ihm etwas übelgenommen zu haben scheint ‒ warum er es so eilig habe, von ihm fortzukommen? 6. August. Auf Vorschlag des Statthalters von Manteuffel, unter Zustimmung des Fürsten, soll der Straßburger Erzpriester Korum, Jesuit und Stockfranzose, in Trier Bischof werden. Offenbar ein Schritt zum Ausgleich des Kirchenkonflikts. Die Verhandlungen Schlözers in Rom, wohin dieser in geheimer Mission gegangen war, scheinen keine größeren positiven Ergebnisse gebracht zu haben. Die Wiedereinsetzung Melchers’ scheint dort zur Conditio sine qua non gemacht zu sein, auch hält man dort wohl das hiesige Friedensbedürfnis für stärker als der Fall. Nach Schlözers Äußerungen verlangt man in Rom Begnadigung der entsetzten Bischöfe exklusive Ledochowskis, Bestellung einer Gesandtschaft, „Inaussichtnahme einer Revision der Maigesetze“. Die Ernennung Korums ist ein entgegen199

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kommender Akt, ohne daß dabei die Erfüllung der Anzeigepflicht stipuliert wäre. Man nimmt wohl an, sie werde stillschweigend erfüllt werden. Die Begnadigung von Melchers ist ausgeschlossen. 15. August. Auf der Rückreise von Kissingen ist gestern der Fürst hier eingetroffen, und heute fand bei ihm ein Ministerrat statt, welchem ich nur die ersten drei Viertel Stunden beiwohnen könnte, da ich nach Babelsberg zu Tisch befohlen war für 2 Uhr. Bismarck sah besser aus, klagte aber über permanente Schmerzen, von welchen er hoffte, sie werden weichen, nachdem er aufgehört habe, Rakoczi zu trinken. Er fing an mit Klagen über die Hundesperre und wollte durch den Reichsanzeiger seinen Dissensus konstatieren mit der Art, wie die bezügliche Bundesratsinstruktion gehandhabt werde. Diese Sache koste Stimmen im Reich, erbittere und werde partikularistisch verwertet. Dann kam er auf den Wahltermin und wünschte den Sonntag als Wahltag fixiert, wenn die zwei Kultusminister keine Bedenken dagegen hätten. Die Leute gingen besser zur Wahl als zur Kirche, er hasse die Heuchelei, welche mit der Sonntagsfeier getrieben werde. Er gab aber den Gedanken leicht auf, nachdem Puttkamer und Goßler remonstriert hatten. Dagegen hielt er fest daran, den Reichstag im November und den Landtag im Januar zu berufen. Er wolle dann außer dem Budget nur das Monopol und die Unfallvorlage bringen. Keine andere Steuervorlage, weil das die Chancen des Monopols schwäche. In Babelsberg war nur ganz kleine Gesellschaft und Se. Majestät sehr frisch, erzählte in Anknüpfung an meinen Bericht über meine letzte Dienstreise nach Ostpreußen von seiner Tour 1806 über die Kurische Nehrung nach Memel. In Nidden hätten sie (die drei Prinzen, Friedrich Wilhelm IV., er, Karl) zum ersten Male auf Stroh geschlafen. Die Damen, seine Mutter, Prinzeß und Hofdamen, in einem kleinen Raum des Schuppens. Der Name sei ihm kürzlich wieder in Erinnerung gebracht worden, bei Gelegenheit eines Kirchenbaues. Am nächsten Tag hätten sie nur eine kleine Tour zurückzulegen gehabt bis Schwarzenort ‒ etwa drei Meilen. Er nannte diese Namen ohne Zögern, sie waren ihm völlig gegenwärtig. 30. Oktober. Heute ist die amtliche Konstatierung der Reichstagswahlen, welche, als Plebiszit über Bismarcks Steuerreformpläne (Monopol) betrachtet, ungünstig ausgefallen sind. Sicher verloren haben wir fünfzehn Sitze, darunter Langenburg, Varnbüler, Bill Bismarck. Zahlreiche engere Wahlen: darunter ich, Frankenberg, Kardorff, Bethmann, Ratibor, Schillingsfürst. Ähnlich bei den Konservativen. Die entschiedensten Gegner: Bunsen, Struve, Rickert, Richter, Forckenbeck sind gewählt. 200

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Die Nationalzeitung sagt, an die 1878er-Wahl anknüpfend: Ein großer Reichtum schmählich ward vertan! Die Mittelparteien sind geschlagen und die Extremen an Zahl gewachsen. Das Zentrum bleibt vollzählig. Monopol, Arbeiter- und Altersversicherung sind zurzeit aussichtslos. In den Stichwahlen wurden die Konservativen und auch die der Regierung näherstehenden Liberalen wie Berger (Witten) und Löwe-Calbe geschlagen. In Erfurt siegte Professor Stengel gegen mich mit 11.000 gegen 8000 Stimmen! Die englischen Wahlen sind ähnlich ausgegangen und d’Israeli ist auf der Höhe seiner Erfolge in der äußeren Politik geschlagen worden. 11. November. Hofjagd in Springe, welcher aber Se. Majestät einer Verkältung wegen nicht beiwohnte. Während des ersten Jagdtages kamen Nachrichten über eine schwere Erkrankung des Großherzogs von Baden, was den Kronprinzen veranlaßte, seinerseits die Jagd aufzugeben und seinem Sohn, dem Prinzen Wilhelm, die Repräsentation zu überlassen. Prinz Wilhelm bekam also den Kaiserstand und erlegte eine große Menge Wild, was ihm viel Vergnügen machte. Als ein schwerer Keiler, welcher in einen tiefen Graben gerollt war, von den Treibern mit Stricken heraufgehißt wurde, griffen die Prinzen Wilhelm und Heinrich selbst mit zu und arbeiteten mit voller Kraft mit, als wenn ein Segel gerefft wird. 14. November. Bismarck ist in Berlin eingetroffen. Die Stichwahlen meist ungünstig für die Rechte ausgefallen. Kardorff, Frankenberg, Graf Udo Stolberg, Rauchhaupt sind durchgefallen. Reichspartei hat zwanzig Sitze verloren. Bismarck teilte im Ministerrat mit, Se. Majestät wolle selbst die Session eröffnen, und zwar werde er nicht namens der verbündeten Regierungen, sondern für seine Person reden. Die Absicht der Steuer- und Sozialreform werde scharf betont und das Tabakmonopol wie Altersversorgung aufrechterhalten werden. Dann sprach er über die aus den Wahlen sich ergebenden Kombinationen: Franckenstein oder Moufang müßten Kanzler werden, während er sich auf den Altenteil der äußeren Politik zurückziehen, also auswärtiger Minister und preußischer Ministerpräsident bleiben wolle. Dasselbe hätten ja die Nationalliberalen auch früher erstrebt, sie hätten die übrigen Ministerien für sich haben und ihn als Hausknecht für die europäische Politik behalten wollen. Es war das natürlich scherzhaft gemeint, aber doch mit einiger Bitterkeit ausgesprochen, er behandelte dabei die eigenen Schöpfungen sehr en bagatelle. Bezüglich der Antisemitenbewegung tadelte er deren Inopportunität, sie habe die Ziele verschoben. Er sei nur gegen die fortschrittlichen, nicht gegen konservative Juden und deren Presse, er würde 201

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unter allen Umständen gegen den Fortschritt für Zentrum und Sozialisten stimmen. Letztere erstrebten U n m ö g l i c h e s , was doch unter allen Umständen schließlich mit dem Schwert niedergeschlagen werden müßte; der Fortschritt aber erstrebe eine mögliche Staatsform, die Republik. Der Kaiser habe sich sehr amüsiert, zu hören, daß Professor Mommsen, dessen Name ihm völlig unbekannt gewesen sei, die Krone gegen ihn, den Kanzler, schützen wolle. Anfangs sei Se. Majestät etwas elegisch und abgespannt gewesen, weil er offenbar gefürchtet habe, von ihm Unangenehmes zu hören. Er sei aber immer munterer geworden und habe ihn gar nicht weglassen mögen. Gegen die Sozialreform sei er nur deswegen mißtrauisch gewesen, weil er befürchtet habe, er solle das Sozialistengesetz und sonstige Repressivmaßregeln gegen die Sozialdemokratie aufgeben. Im Übrigen habe er nichts dagegen. Aus allem ging hervor, daß sich Bismarck bezüglich seiner Stellung zu Sr. Majestät völlig als Herr der Situation fühlt und die parlamentarischen Schwierigkeiten leichtnimmt. Daß seine Steuervorlagen abgelehnt werden, sieht er offenbar voraus, ebenso daß er die Sozialdemokraten und das Zentrum für die Sozialvorlagen nicht gewinnt. In einigen Betrachtungen über das Wahlergebnis glaubte ich Gedanken wiederzufinden, welche ich in einem Schreiben an ihn über die Wahlen ausgesprochen hatte. „Mein Nachfolger in dem fortschrittlichen Ministerium werde Struve werden!“ In dem Entwurf der Thronrede hat Se. Majestät nur eine Stelle beanstandet, worin gesagt war, „er würde einen Erfolg in den Sozialreformplänen für den schönsten in seiner von so sichtbarem Segen begleiteten Regierung halten“. Hier will er nicht den Superlativ, sondern nur den Positiv gesetzt haben! Darin kann man das Gefühl des alten Herrn völlig verstehen! 17. November. Reichstagseröffnung durch die kaiserliche Botschaft, welche Fürst Bismarck verlas. Es war alles in großer Uniform und auch der Kronprinz und die anderen königlichen Prinzen anwesend ‒ aber nur zum Gottesdienst. Bismarck schiebt jetzt die Person Sr. Majestät sehr in den Vordergrund und macht ihn in persönlichster Weise zum Träger seiner sozialen und Finanzreformpläne. Bei einem kürzlich stattgehabten Bundesratsdiner äußerte er sich im selben Sinn wie neulich im preußischen Staatsministerium. Die Botschaft machte großen Eindruck. 21. November. Einweihung des Gewerbemuseums durch den Kronprinzen. Goßler hielt die erste Ansprache, welche der Kronprinz sehr würdevoll und majestätisch erwiderte. Se. Majestät ist seit zwei Tagen wieder unwohl; es soll ein Nieren- oder Blasenleiden sein. 202

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Fürst Bismarck lebt abgeschlossen wie der zürnende Achilles, ist aber in der Presse tätig durch inspirierte Artikel. Im Reichstag sind Levetzow, Franckenstein, Ackermann ins Präsidium gewählt. Bismarck arbeitet jetzt mit Lohmann, Professor Schäffle und Ad. Wagner an seinen Sozialreformplänen und scheint Bötticher davon fernzuhalten. 26. November hatte ich eine lange Konversation mit dem Fürsten, in seinem Garten promenierend. Er sprach sehr ruhig über die Situation, weder die Möglichkeit einer Auflösung noch seine gesetzgeberischen Projekte erwähnend. Die Judenhetze sei unopportun gewesen, er habe sich dagegen erklärt, aber weiter nichts dagegen getan wegen ihres mutigen Eintretens gegen die Fortschrittler. Über Bennigsen äußerte er sich klagend, daß der immer in der Hinterhand bleiben wolle und so schließlich mit seinen Atouts sitzen geblieben sei. Die Sache mit ihm sei Neujahr 1877/78 zu Ende gewesen durch den Brief des Kaisers. Das Monopol sei später durch Bennigsen zum Vorwand benutzt worden, nachdem er sich überzeugt habe, daß er Forckenbeck und Stauffenberg nicht in das Kabinett mitnehmen könne. Etwa der Inhalt dieser Konversation stand einige Tage später in den Grenzboten, welche Bucher, Paul Lindau und Moritz Busch mit Korrespondenzen versehen. Es werden jetzt in der Presse die widersprechendsten Dinge lanciert und meist auf Bismarcks Äußerungen zurückgeführt. Dasselbe hat er selbst in der letzten Woche getan in einer Reihe von brillanten, geistreichen Reden im Reichstag. Dabei hat er auch die Zivilehe als ein der Regierung abgerungenes odiöses Gesetz bezeichnet. Er ist dabei auch vielfach persönlich polemisch aufgetreten und hat ein Staatsministerialprotokoll zitiert, um den früheren Finanzminister Hobrecht bloßzustellen. Er gibt sich trotz des ungünstigen Ausfalls der Wahlen den Anschein, als glaube er an eine wachsende konservative Bewegung im Lande ‒ als erstrebe er eine hochkonservativ-klerikale Majorität. Er ist voll Rücksicht gegen den Papst auf Kosten der italienischen Regierung. 11. November. Hofjagd in der Göhrde, welche Se. Majestät hatte verschieben lassen, um sie selbst abzuhalten, was nun auch geschah. Er war sehr munter und machte den Ärzten Vorwürfe, daß sie ihn nicht hatten wollen reisen lassen. Schoß vierunddreißig Sauen und fünfzehn Stück Rotwild. Ließ sich von Indien erzählen und setzte die Würde der Generalobersten auseinander, welche drei Sterne tragen wie die Oberlandforstmeister. In Berlin 10  ½ Uhr angekommen, ging ich noch auf die Bismarcksoiree, wo Bismarck mich gleich bemerkte und an seinem Tisch Platz nehmen ließ. Er 203

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trug gute Laune zur Schau, schien aber doch verstimmt über das demonstrative Ausbleiben des Zentrums. Es war fortgeblieben wegen eines sehr aggressiven Artikels der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung gegen Windthorsts Verhalten in der Frage des Zollanschlusses von Hamburg. Windthorst hatte gefragt, ob man nicht Komplikationen mit auswärtigen Mächten über diese Frage befürchten müsse. Die Äußerung war in der Kommission gefallen und gar nicht weiter aufgefallen, nachher aber durch ein Billett, welches Bitter an den Kanzler geschrieben hatte, aufgebauscht worden. Bismarck scheint den Gedanken zu verfolgen, Windthorst vom Zentrum zu isolieren, was aber schwerlich reüssieren wird. In einem am 8. Dezember stattgehabten Ministerrat sprach er zwar sehr ruhig über diese persönlich parlamentarischen Beziehungen, schien aber doch tief verletzt. Die Notwendigkeit eines Friedensschlusses mit Rom betonte er wiederholt. Seine sozialen Reformpläne nannte er Meliorationen der jetzigen Verhältnisse, welche zwar wünschenswert, aber nicht absolut notwendig seien. 15. Dezember sah ich Bismarck, um ihm den allgemeinen dreijährigen landwirtschaftlichen Verwaltungsbericht zu überreichen. Er war infolge der parlamentarischen Soireen unpäßlich und klagte über rheumatische Schmerzen und Blasenbeschwerden. Er betonte wieder seine Abneigung gegen die Höfeordnungen und gegen die Erleichterung und Hebung des Realkredits. Dadurch werden nur das Schuldenmachen und leichtsinnige Ausgaben befördert. Wenn der Bauer nichts habe, so liege er krumm und rangiere sich dadurch wieder. Das gelte für den größeren Besitz auch, aber leider wolle der sich nicht einschränken. 22. Dezember. Eine lange Staatsministerialsitzung, in welcher wichtige Finanzfragen erörtert wurden: Beamtengehaltserhöhungen, Verwendungsgesetze, Ertrag der Stempelsteuer, wobei Bismarck seine absonderlichen bekannten Finanzpläne entwickelte, welche den horror vacui als höchste Weisheit preisen. Er will möglichst viele und große Verwendungszwecke entwickeln, um die Notwendigkeit der Bewilligung neuer Steuern nachzuweisen. So will er umfassende Gehaltserhöhungen von zirka 40 Millionen. Das werde die Sympathien der Beamten sichern! Würde das nicht bewilligt, dann sollte man sich mit dem Minimum von 800.000 begnügen, um nur die Landräte und politischen Beamten besser zu dotieren! Sämtliche Minister sprachen sich, ohne die aufgestellte Theorie zu erörtern, dagegen aus, diese einzelnen Kategorien herauszuheben. Man möge vielmehr versuchen, in einer Vorlage sämtliche in Frage kommenden Gehaltserhöhungen zusammenzufassen. 204

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Bismarck teilte mit, Se. Majestät sei sehr unwillig darüber gewesen, daß man ihm das Recht, seine eigene persönlich politische Meinung zu äußern, beschränken wolle. Er habe eine bezügliche Botschaft an den Reichstag richten wollen, er (Bismarck) halte es aber für zweckmäßiger, das als König von Preußen gegenüber dem Landtag zu tun. Bismarck bemerkte, durch Professor Ad. Wagners Schuld sei das Monopol in die Wahlagitation geworfen worden sowie der Gedanke, den Ertrag zum Patrimonium der Enterbten zu machen ‒ während wir uns alle sehr wohl entsinnen, gerade diese Wendung wiederholt aus seinem Munde gehört zu haben, wie sie auch in den von ihm inspirierten Artikeln wiederholt stand. „Das Altersversorgungsgesetz sollte als Schwimmer für das Monopol dienen, um dieses vor Stranden zu bewahren.“ Er hat sich diesen Illusionen ganz ernsthaft hingegeben. 23. Dezember. Allein bei Bismarck. Er behauptet, er würde bei einem einfachen Landleben ganz vergnügt gewesen sein, freilich hätte er in Schönhausen den Wald entbehrt und in Reinfeld das gute Land; er sei der Meinung seines Vaters, daß die ersten siebzig Jahre die besseren seien. Bezüglich einer von mir vorbereiteten Vorlage, welche auf Erhaltung der Knicks in Schleswig-Holstein gerichtet ist, indem sie für eine nicht ablösbare Reallast gesetzlich erklärt werden sollen, erhob er lebhaften Widerspruch, weil man dann dieselbe Konsequenz für Lauenburg ziehen werde, und der angebliche Grund, der Fiskus werde dann die 800 Kilometer Knicks, gleich 80 Hektar Forstboden, ohne Gegenleistung loswerden, nur ein fiktiver sei. Im Übrigen appellierte er an das kollegiale Gefühl als holsteinscher Gutsbesitzer, dessen Wünsche doch auch einige Berücksichtigung verdienen. Dann kam er auf die Hundesperrfrage in etwas erregtem Ton und meinte: Diese Sache und das Monopol sei an dem üblen Ausgang der Berliner Wahlen schuld! Die dreißigtausend Hundebesitzer Berlins hätten fortschrittlich gestimmt. Er ließ also wenigstens das Monopol als ein Item gelten. Die Angelegenheit der gesetzlichen Regelung der Knickfrage führte noch zu einer Schwierigkeit, weil der Entwurf, nachdem er alle Ministerien (auch Handels- und Auswärtiges) ohne Anstand passiert hatte und von Sr. Majestät schon vollzogen war, vom Fürsten beanstandet wurde. Er blieb infolgedessen unerledigt liegen, womit die Frage vorläufig aus der Welt geschafft war. Der Kriegsminister Kameke hatte damals auch Friktionen, welche nahe an die Kabinettsfrage führten, aber gleichfalls friedlich beigelegt wurden. Kameke bezeichnete damals Caprivi und Bronsart I als geeignete Nachfolger. Das Jahr schloß unter dem Druck ungelöster Differenzen im Ministerium. 205

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1882 1. Januar. Der heutige Empfang bei Sr. Majestät verlief in gewohnter Weise. Bismarck war in diesem Jahr an unserer Spitze und startete in gedämpfter Stimme sehr verbindlich und liebenswürdig die guten Wünsche des Staatsministeriums zu Neujahr ab. Se. Majestät dankte und sagte: Er habe wieder eine Erinnerung an das Ende erhalten, indem er schwindelig (ohnmächtig) geworden sei. Glücklicherweise seien Ärzte zur Hand gewesen, welche ihn sorglich zu Bett gebracht hätten. Er habe geschlafen und das habe ihm gutgetan. Bismarck meinte: Lauer habe bei Sr. Majestät die gewiß nützliche Praxis eingeführt, am Tage etwas zu ruhen, aber vielleicht reiche die Zeit dazu nicht immer. Se. Majestät bestätigte das: Es gingen ihm bei langen Vorträgen zuweilen die Gedanken aus. Zwischen den Vorträgen nehme er auf ärztlichen Rat zuweilen ein Glas Madeira. Die Kaiserin mute sich auch zu viel zu und breche abends zusammen. Er rede aber nicht in ihre Arrangements und überlasse das ihren Ärzten. Puttkamer sagte er freundliche Worte über seine tapfere Verteidigung seines Ressorts und richtete an jeden Einzelnen freundliche Worte. Mir dankte er für den großen Verwaltungsbericht, welchen er natürlich noch nicht gelesen habe, aber das Begleitschreiben hätte ihn interessiert. Dann machte er noch einen Scherz über die vielen Jagden, welche ich mitmache. Beim Weggehen sagte er, zu allen gewandt: „Wer seine Pflicht tut, findet auch die verdiente Belohnung.“ Über auswärtige Politik meinte er: Gambetta befriedige auch seine Kammern nicht, es sei überall dasselbe mit dem konstitutionellen System. Bismarck meinte: In England ginge es auch bergab, man müsse hoffen, daß die Wahlen zum Abgeordnetenhaus besser ausfielen, allein das Publikum sei zu töricht und leichtgläubig. Er werde Sr. Majestät einen Erlaß an das Staatsministerium vorlegen, wie er ihn beabsichtige. Nachher empfing uns die Kaiserin in kornblumenblauen Samt gekleidet. Sie wünschte uns und unseren Familien ein glückliches Jahr und empfahl uns Bewegung in frischer Luft. 206

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2. Januar. Nachdem Herr von Puttkamer über die Knickangelegenheit mit dem Fürsten gesprochen und den Vorschlag gemacht hatte, den Entwurf unerledigt liegen zu lassen, ging ich selbst zu Bismarck. Er empfing mich ganz unbefangen und machte mir in freundlicher Weise Vorwürfe über meine schnelle Handlungsweise: Das ginge nicht, daß jeder erkläre, er spiele nicht mehr mit, wenn er gegen eine Sache votiere. Man dürfe ein Portefeuille nicht wegwerfen wie einen alten Rock, es sei sein Recht, über eine Frage, welche er (Bismarck) genau kenne und welche ihn als holsteinschen Grundbesitzer berühre, seine Ansicht geltend zu machen. Da er im Begriff war, zu Sr. Majestät zum Vortrag zu fahren, so ging alles eilig ab. Am 3. Januar war eine Sitzung unter Bismarcks Vorsitz, nach welcher er mich einlud, zurückzubleiben. „Es sei alles neulich so eilig gewesen, daß er nochmals auf den Fall zurückkommen müßte. Es habe ihn allerdings überrascht und peinlich berührt, daß ich mich so leicht von meinem Portefeuille trennen wolle. So weit sei kein Minister selbständig, daß er sich nicht gefallen lassen müsse, im Staatsministerium überstimmt zu werden. Allerdings werde er in wichtigen großen Fragen das sich auch nicht gefallen lassen, hier handle es sich aber um eine geringfügige Frage von nur lokalem Interesse, welche außerdem in Widerspruch stehe zur ganzen preußischen Agrargesetzgebung im Ablösungswesen.“ Ich gab zu, daß es sich um keine kapitale Frage handle, allein es sei ein Internum meines Ressorts, über welches nach jahrelangen Verhandlungen übereinstimmende Gutachten aller Provinzialinstanzen ergangen seien. Es sei zweifelhaft, ob man jetzt, wo die Ablösungen von Servituten und Reallasten in der in diesen Beziehungen zurückgebliebenen Provinz in Fluß kämen, zu entbehren sei. Man könne aber den Entwurf zurücklegen, bis die befürchteten Schwierigkeiten hervorträten. Die Erhaltung der Knicks sei jedenfalls eine Sache von großer Bedeutung für die Landeskulturinteressen. Bismarck war sehr verbindlich und ich hatte den bestimmten Eindruck, daß er mein Bleiben im Amt und eine Kabinettsfrage aus der Sache nicht gemacht zu haben wünschte. So schloß die Differenz friedlich und wirkte vielleicht luftreinigend. Ich empfahl ihm noch, die Frage der Erhöhung der Holzzölle vorläufig ruhen zu lassen, wenigstens bis zur Frühjahrssession des Reichstags. Graf August Eulenburg schied damals friedlich aus seiner langjährigen Stellung beim Kronprinzen aus, um in den diplomatischen Dienst überzutreten. Se. Majestät wünschte aber, ihn im Hofdienst zu behalten, was schließlich auch geschah. 207

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7. Januar. Hofjagd im Grunewald, auf welcher von dieser Frage viel die Rede war. Se. Majestät war höchst munter und leutselig. Erzählte, er sei früher gern parforce geritten, habe es aber aufgegeben, nachdem er älter geworden sei und mehrere Unfälle gehabt hätte. Einmal habe ihn ein Baumzweig vom Pferde gerissen, ein andermal ihn sein Pferd heftig vor den Kopf gestoßen. Jetzt reite er nur noch bei den Manövern. Das Reiten im Forst sei auch durch die vorhandenen Löcher, welche man nicht immer rechtzeitig sehe, gefährlich. Wrangel sei immer in den sonderbarsten Anzügen zur Jagd gekommen. Mit einem flatternden Plaid ‒ trotzdem habe er aber auf einer Jagd einmal zwei Füchse geschossen. Se. Majestät hatte an dem Tage vier Dachse geschossen, welche „zufällig“ erschienen seien. (Es gehört zu den regelmäßigen Scherzen bei den Grunewaldjagden, einige Füchse und Dachse in Säcken mitzunehmen und in die Treiben zu lassen.) Prinz Wilhelm schoß wieder brillant. Er hatte einige Tage vorher beim Amtsrat Dietze neunzig Hasen geschossen. 10. Januar empfing ich eine sehr anerkennende Kabinettsorder über den Verwaltungsbericht und die kräftige, erfolgreiche Leitung meines Ministeriums. Es waren eigenste Wendungen Sr. Majestät darin, voll Wohlwollen und Gnade. Im Reichstag hielt Bismarck gestern eine interessante Rede über praktisches Christentum und die Fürsorge für die arbeitenden Klassen. Es war auch einige Polemik und Mißmut über den Ausfall der Wahlen darin ausgesprochen. Den Mittelpunkt bildete die Erklärung und Verteidigung des königlichen Erlasses vom 4. Januar 1882 an das Staatsministerium, in welchem die Selbständigkeit des Königs, zu herrschen und regieren, sowie die politischen Pflichten der Beamten erörtert wurden. Die Rede führte zu einem heftigen Zusammenstoß mit dem Abgeordneten Hänel. Übrigens eine höchst bedeutende Rede. 7. Februar. Gestern längere Staatsministerialsitzung, welche etwas stürmisch begann. „Man sei verfassungsmäßig nicht verpflichtet, über alles und jedes Auskunft zu geben, und solle es verweigern, je nachdem höflich, bestimmt oder auch grob. In Wortrempelei brauche man sich nicht einzulassen, er halte es überhaupt nicht mehr aus, stundenlang still zu sitzen und sich mit Kot bewerfen zu lassen.“ Anlaß dazu gab das grobe Auftreten des Abgeordneten Richter dem Minister Maybach gegenüber in einer Sitzung des Abgeordnetenhauses. Sekrete Sachen dürften nicht metallographiert vervielfältigt werden, am 208

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besten sei es, dergleichen mündlich zu erledigen. Wir sähen uns überhaupt zu selten und müßten öfter zusammenkommen, wozu ja die Reichs- und Landtagssitzungen Gelegenheit gäben. Sonst müßte man schriftlich unter Privatsiegel korrespondieren. Anlaß gab ein Schreiben des Finanzministers, den Welfenfonds betreffend, was allerdings töricht publik war. In diesem Ministerium passieren überhaupt die meisten Indiskretionen. Das Herrenhaus hatte in einer Kommission den Beschluß gefaßt, das Gesetz betreffend die Fürsorge für Hinterbliebene von Beamten auf die Lehrer von Staatsanstalten auszudehnen. Der Fürst schien damit einverstanden und nützlich zu finden, die Ungleichheit zwischen Lehrern an Staats- und an Kommunalanstalten noch zu steigern, um sie alle mit der Zeit in Staatshände überzuführen. Auch die finanzielle Tragweite der Frage beirrte ihn nicht, weil dadurch neue nützliche Ausgabenbedürfnisse konstatiert würden. Er setzte dabei voraus, der Unterstützung aller seiner Kollegen gewiß zu sein, wenn er den Kampf der Monarchie des Königs gegen die kommunalen Republiken fortsetze. Wer die Schule habe, beherrsche die Zukunft! Wie es unmöglich gewesen sei, die Privatbahnwirtschaft zu dulden, welche nichts weiter bedeute, als ganze Provinzen der Ausbeutung des Verkehrs­ monopols von Erwerbsgenossenschaften preiszugeben, so sei es ebenso unmöglich, ganze Provinzen in Steuerpacht an Generalunternehmer zu überlassen u. s. w. Der Reichsschatzsekretär Scholz bedeutete ihn mit dem Hinweis, daß es sich nicht nur um finanzielle, sondern auch um technisch schwierige Fragen handle ‒ er sei für Aufrechterhaltung der Regierungsvorlage und besondere Regelung der Materie. Im selben Sinn sprach sich Bitter aus, während Goßler für diese Konzession war. Bismarck entschied sich dafür, die Frage in suspenso zu lassen, was insofern tunlich, als das Herrenhaus im März wieder zur Plenarberatung zusammentreten wird. Endlich wurde noch die Frage der Ausdehnung der westfälischen Landgüterordnung auf die vier rechtsrheinischen landrechtlichen Kreise der Rheinprovinz bejahend entschieden ‒ obschon unter Vorbehalt seitens des Fürsten, welcher immer wieder seine Vorliebe für Parzellierung des Grundbesitzes betonte. Auch der kleinste Grundbesitz mache konservativ. Der Verschuldung sei, was freilich schwer möglich, vorzubeugen durch eine Gesetzgebung analog den amerikanischen Home stead laws, das sei zu versuchen und dergleichen mehr. Er ließ aber die Übertragung zu. 5. März. Bismarck seit drei Wochen unwohl, sieht niemand, läßt die Dinge treiben und gibt keine Direktiven, weder in der Kirchen noch in der 209

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Steuerpolitik. Auch den Volkswirtschaftsrat hält er sich vom Leibe und auch die konservativen Führer Graf Mirbach und Rauchhaupt sieht er nicht. Das Verwendungsgesetz ist noch nicht an das Abgeordnetenhaus gelangt. In Rom soll die Stimmung zurückhaltender geworden sein. 22. März. Zur Gratulation bei Sr. Majestät unter Führung des Fürsten, welcher bei der Ansprache sagte, es sei das zwanzigste Mal, daß er an diesem Tage in gleicher Eigenschaft erschiene. Se. Majestät antwortete: Das Ministerium sei jetzt ganz nach seinen Wünschen und Ansichten zusammengesetzt und arbeite sehr gut. Wir möchten zusammenbleiben. Im Parlament freilich ginge es langsam vorwärts, es sei eine reine Redeschule, sie sprächen ewig über den Etat, ohne daran etwas zu ändern ‒ wozu das nötig sei? Er ging an einen Stock gestützt, weil er neulich im Zimmer gefallen war und sich die Knie beschädigt hatte. Dann schüttelte er jedem die Hand und sagte freundliche Worte. Er hatte am Morgen Maybach das Großkreuz des Roten Adlers, Bötticher und mir den Stern zur zweiten Klasse verliehen. 22. April. Bismarck ist seit acht Tagen in Friedrichsruh und inzwischen ist von Zentrum und Konservativen ein Kompromiß zuwege gebracht, wonach das Kirchengesetz inklusive Bischofsparagraph und exklusive Anzeigepflicht fertiggemacht ist. Freikonservative und Nationalliberale verhielten sich ablehnend. Das Zentrum stellt sich in vielen Fragen zur Regierung freundlich. 6. April. Bötticher war in Friedrichsruh und berichtet, daß Bismarck auf Frühjahrssession des Reichstags und Einbringung des Monopols besteht. Der Reichstag soll zum 27. Mai berufen werden, durch die Diskussion über das Monopol würden die Meinungen im Land geklärt werden, nur so könne man den Lügen und Verleumdungen, welche der Fortschritt im Lande verbreite, entgegenwirken. Aus der Ablehnung des Monopols werde er nicht die gänzliche Zurücklegung des Projekts folgern, sondern eine andere Steuererhöhung des Tabaks vorschlagen. Die Frage der Erhöhung der Holzzölle studiert er noch und konsultiert alle möglichen Forstbeamten darüber, jetzt den Direktor der Forstakademie in Eberswalde, Dankelmann. Es ist aber noch unbestimmt, ob er schon in der Frühjahrssession damit kommt. Das bezüglich der Lauenburger Kommunalverwaltung bestehende Provisorium scheint er ablaufen lassen zu wollen. Die Frage, ob Graf Hatzfeldt zum Minister ernannt werden wird, ist noch unentschieden. Im Reichsschatzamt wird eine Zolltarifnovelle ausgearbeitet, welche vorläufig die Holzzölle nicht berührt. 210

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30. April. Dankelmann ist auf Requisition der Generalkommission in Hannover in Friedrichsruh gewesen, um ein Gutachten abzugeben über den Wert von zur Ablösung stehenden Berechtigungen. Er hat den Fürsten wiederholt gesehen und ist beiläufig über die Holzzölle konsultiert worden. Inzwischen haben die Ministerkonferenzen über das Monopol in Abwesenheit des Fürsten stattgefunden, worüber die Herren etwas pikiert scheinen. Minister von Mittnacht, welchem ich demonstrierte, Bismarck sei vielleicht deshalb nicht gekommen ‒ abgesehen von seinem in der Tat leidenden Gesundheitszustand ‒, um keine Pression zu üben, er lege aber auf diese Konferenzen den höchsten Wert, sagte: „Ja, wenn er selbst nicht dabei sein muß!“ Gegen das Monopol haben Bayern, Sachsen, Baden und Hessen gestimmt, dafür die kleinen Staaten, auch diese widerstrebend mit dem Hinweis: „daß sonst ja der Reichstag gar nicht votieren könne.“ Inzwischen ist der Minister des Innern in großen Schwierigkeiten, weil er es nicht durchsetzen kann, daß in Lauenburg an die Stelle der Verlängerung des Provisoriums ein Definitivum tritt. Der Fürst erklärt, das jetzige nicht mehr dulden zu können, lieber wolle er seine Besitzungen dort verkaufen. Im Abgeordnetenhaus dagegen hat man fast einstimmig für die Verlängerung des Provisoriums gestimmt. Puttkamer ist gestern nach Friedrichsruh gefahren, um über den Schluß der Session die Entscheidung zu extrahieren. Bismarck hat neue Botschaften in Aussicht gestellt, wenn der Landtag streiken wolle und die von der Regierung gemachten Vorlagen nicht erledige. Er besteht auf Beratung des Verwendungsgesetzes und der Kanalvorlage, welche Letztere durchzusetzen sich Maybach außerstande erklärt. Im Abgeordnetenhaus scheint zwischen Rauchhaupt und Windthorst eine Verabredung getroffen, daß die hannovrische Kreisordnung nicht mehr zur Beratung kommen soll, während Puttkamer ein hohes Interesse daran hat, sie als erstes positives Ergebnis seiner Amtszeit zustande zu bringen. Das Resultat der schwebenden Verhandlungen ist vielleicht, daß die hannoversche Kreisordnung geopfert wird und dafür unter Windthorsts Hilfe für Lauenburg ein dem Fürsten genehmes Provisorium zustande kommt. Es sind komplizierte, nicht gerade erfreuliche Verhältnisse. 3. Mai. Puttkamer ist mit der Entscheidung von Friedrichsruh gekommen, das Verwendungsgesetz sowie die Lauenburger und hannoversche Vorlage jedenfalls zu erledigen. Folgedessen fand gestern im Abgeordnetenhaus eine ziemlich gereizte Diskussion statt, in welcher das Verwendungsgesetz allseitig verurteilt wurde. Der Beschluß, die zweite Lesung in pleno abzuhalten, 211

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ist gleichbedeutend mit der Verwerfung ohne kommissarische Beratung. Also Ablehnung in schärfster Form. Auch das Nebeneinandertagen von Reichs- und Landtag wirkt ungünstig. Wäre der Reichstag zu Hause geblieben und der Landtag ruhig zu Ende geführt worden, so wäre eine Menge Unzufriedenheit und Agitationsstoff dem Lande erspart worden. Das Ansehen der Staatsregierung erleidet empfindliche Echecs und das Parlament gewinnt durch seine Permanenz an Bedeutung. Im Herrenhaus haben kürzlich die Herren von Kleist-Retzow und Graf Schulenburg-Betzendorf wieder ihre heftige Feindschaft gegen die Zivilehe und das Schulaufsichtsgesetz betont. Für Letzteres trat Bismarck damals mit der vollen Kraft seiner ganzen Autorität ein ‒ Gegner der Zivilehe ist er immer gewesen. 5. Mai. In einer vertraulichen Besprechung des Staatsministeriums waren wir einig in der Ansicht, daß eine Weiterführung der Landtagsgeschäfte neben dem Reichstag untunlich sei, umso mehr, als Ersterem kein rechtes Material mehr vorliegt. Obschon Bismarck bei Puttkamers Anwesenheit in Friedrichsruh auf Einbringung der Kanalvorlage verzichtet hat mit Rücksicht auf Maybachs Widerspruch und dessen angegriffene Gesundheit, so hat er doch jetzt, nachdem Puttkamer im Plenum diesen Verzicht ausgesprochen hat, wieder gereizt geschrieben, er verzichte keineswegs auf die Kanalvorlage und Maybach sei gar nicht so leidend. Puttkamer glaubte zunächst, Maybach habe sich etwa abweichend Bismarck gegenüber geäußert, während Maybach über diese Zumutung so erregt war, daß er mit einem Entlassungsgesuch drohte. Wir einigten uns dahin, dem Fürsten mit der Vorstellung zu antworten, daß das Staatsministerium eine weitere Verlängerung der Landtagssession nicht für tunlich halte und den Schluß nach Erledigung der Lauenburger Vorlage empfehle. Puttkamer wird in diesem Sinne schreiben. Inzwischen läßt Bismarck durch seine Presse aussprechen, daß ihm an dem kirchenpolitischen Gesetz nichts liege, und hat das Zentrum damit in Bewegung gesetzt. Wenn das Abgeordnetenhaus streike, werde er es auflösen und im August wieder berufen. 7. Mai. Gestern ist Prinzeß Wilhelm glücklich von einem gesunden Prinzen entbunden worden. Also ist die männliche Linie in vier Generationen beerbt! Ein seltener Fall! In der heutigen Staatsministerialsitzung verlas Puttkamer ein Antwortschreiben des Fürsten auf unsere neuliche Vorstellung: Da seine gebrochene 212

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Arbeitskraft ihm nicht gestatte, an den parlamentarischen Kämpfen teilzunehmen, füge er sich der einstimmigen Meinung des Staatsministeriums. Es bedeute das für die Regierung eine große Niederlage, eine verlorene Schlacht. Die Liberalen, welche auf einen Thron- und Personenwechsel spekulierten, würden das Monopol, das jetzt unmöglich sei, dann selbst machen. Wir beschlossen, die Session nach Erledigung der Lauenburger Vorlage durch eine kurze, geschäftsmäßige Kundgebung zu schließen. Wir haben in der Tat eine große Niederlage erlitten mit der Einbringung des Verwendungsgesetzes und dem Versuch des Zusammentagens von Reichs- und Landtag. Die Bedenken gegen dieses Vorgehen sind seinerzeit geltend gemacht, aber unbeachtet geblieben, jetzt macht Bismarck das Staatsministerium für den vorausgesagten Mißerfolg verantwortlich. Graf Rantzau berichtet von einer neuen Attacke von Ischias, welche die Rückkehr des Kanzlers ganz ungewiß mache. 8. Mai. Nachricht von der Ermordung des Lord Cavendish und Bourkes im Phönixpark in Dublin. Das ist die Antwort auf die Begnadigung der irischen Rebellen und wird das Kabinett Gladstone wohl umwerfen. 11. Mai. Schluß des Landtags durch eine Ansprache des Staatsministerii, welche einen gelinden Tadel aussprach über die Nichterledigung des Verwendungsgesetzes. Bismarck hatte das ausdrücklich gewünscht, als er sich widerstrebend mit dem Schluß der Session einverstanden erklärte. Große Körperschaften lassen sich nicht terrorisieren und Drohungen bewirken in solchen Fällen das Gegenteil! Gestern empfing uns das kronprinzliche Paar zur Gratulation in Potsdam. Er, in großer Generalsuniform mit Band, hielt eine kurze Ansprache, in welcher er seine Freude aussprach über die Geburt des Enkels und versicherte, er werde nach denselben Prinzipien erzogen werden, wie er seine Kinder erzogen habe. Im Zwiegespräch äußerte er die Hoffnung, daß die Prinzeß imstande sein werde, das Kind selbst zu stillen. Unmittelbar darauf empfing uns Prinz Wilhelm, in einem Satz dankend für unsere Glückwünsche und die Hoffnung aussprechend, daß sein Sohn in den Bahnen wandeln werde, welche das Leben seines Urgroßvaters ihm vorgezeichnet habe. Es lag in seiner Äußerung etwas ungemein Schlichtes, Natürliches, was uns allen sehr gefiel. Am Tage vorher waren wir zum Diner bei Sr. Majestät befohlen, welcher in dieser Form die Wünsche des Staatsministeriums entgegennahm. Es sei ihm ein recht eigentümliches Gefühl gewesen, seine drei Thronfolger vor 213

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sich zu sehen, mit ihnen unter demselben Dach zu sein, zu denken, was der Neugeborene in fünfzig Jahren sein werde. Wenn er aufkomme, sei seine Karriere ja gemacht, und was wir, die Minister, tun könnten, den Thron zu befestigen, täten wir ja gewiß. Er war freudig bewegt, würdevoll, frisch, das Bild eines glücklichen Monarchen. 30. Mai. Die Pfingsttage enden heute und die Reichstagssorgen nahen wieder mit der Aussicht auf das demnächstige Erscheinen Bismarcks. Er ist recht unwohl gewesen, läßt sich aber Haufen von Material schicken zur Steuer- und Monopolvorlage. Er will jedenfalls zur zweiten Beratung hier sein. Am 26. war Paradediner, wo sich Se. Majestät wieder über seine militärischen Minister freute. Prinz Wilhelm ist zu den Gardehusaren versetzt, ein ganz neuer Fall, ohne Präzedenz, welcher die militärischen Kreise in die höchste Aufregung versetzt. Sonst ist es Tradition, daß die Thronfolger beim 1. Garderegiment zu Fuß, also bei der Hauptwaffe der Infanterie, ihre Karriere machen. Der Kronprinz hat erst als General der Infanterie eine Kavallerieuniform erhalten. Se. Majestät hat das direkt befohlen, ohne den Kronprinzen oder Kriegsminister zu konsultieren. 11. Juni. Gestern der erste Ministerrat unter Vorsitz des Fürsten seit seiner Rückkehr; ganz friedlich und vergnüglich, ohne Explosionen. Er war sehr ergrimmt gegen Bitter und Puttkamer zurückgekehrt wegen der nicht erfolgten Erledigung des Verwendungsgesetzes und hat die Absicht ausgesprochen, den neu gewählten Landtag bald einzuberufen zur Beratung desselben Gesetzes. Inzwischen hat der Reichstag bei den Zolltarifberatungen alle proponierten Erhöhungen abgelehnt, die Herabsetzungen angenommen. Es ist also genau eingetreten, was Sr. Durchlaucht vorausgesagt wurde gegenüber seinem Drängen auf Erhöhung der Holzzölle. Morgen kommt die Monopolvorlage, wobei er eine große Rede halten wird; damit ist wenigstens der einzige Zweck erfüllt, welchen diese unglückliche Frühjahrssession hat. Über die kirchenpolitische Frage gab er sehr günstige Aufklärungen. Man sei nun zu einem Abschluß und Stillstand gekommen in den möglichen Konzessionen und müsse jetzt abwarten, was Rom tue. Man habe das ganze Kleingeld der möglichen Konzessionen im Interesse der eigenen Untertanen ausgegeben. Man könne und werde das auch ferner tun, aber den Klang des römischen Beutels habe man noch nicht vernommen. Man müsse sich zufrieden zeigen mit dem Erreichten und kein Verlangen nach mehr haben. Es sei mit der Kurie wie mit Weibern: Der, welcher sich nicht um sie zu kümmern scheine, sie verletze, habe den meisten Erfolg. Oder es sei wie beim Pferde214

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handel: wenn man das Verlangen nach einer gewissen Klasse von Pferden zeige, so schlage der Preis auf. Das vom Bischof Kopp erhobene Verlangen, man solle andeuten, welche Konzessionen noch der Staat zu machen denke, sei höchst naiv. Jede derartige Andeutung sei eine Konzession ohne Gegenleistung. Umgekehrt müsse man sich behaglich und befriedigt von dem jetzigen Zustand zeigen. Wenn die Fortdauer dieses Zustands die römische Kirche nicht geniere ‒ uns könne das recht sein. Wenn die Bischöfe gemeinsame Schritte in Rom tun wollten, so möchten sie das immerhin auf ihre Rechnung und Gefahr tun. Die ganze Wirksamkeit eines solchen Schritts sei verloren, sobald der geringste Schein staatlicher Einmischung dabei hervortrete. Goßler erklärte sich zwar mit diesen Direktiven ganz einverstanden, schien aber nicht davon überzeugt. Er wünscht offenbar mit weiteren Konzessionen die konservativ-klerikale Allianz zu befestigen. Kopp lobte er sehr als den besten, fast zu impulsiv gut preußischen Bischof. Seine Naivität, staatliche Befugnisse als berechtigt anzuerkennen, lasse befürchten, daß er in Rom als staatskatholisch anrüchig werde. Korum dagegen segle ganz im übelsten klerikalen Fahrwasser. Habe gar keine Widerstandskraft gegen seine fanatische Klerisei, habe den Privatsekretär seines Vorgängers behalten, sei ganz von seinem Kapitel abhängig und rechtfertige somit nicht die bescheidensten Erwartungen. Die Haltung der klerikalen Blätter am Rhein sei miserabel. Bismarck ließ durchblicken, daß Schlözer gewiß erholungsbedürftig sei und einen längeren Urlaub brauche, also Rom nächstens auf längere Zeit verlassen würde. Fazit: Wir sind auf einem toten Gleis angelangt und kommen nicht recht vorwärts, Rom ist in die Hinterhand gekommen und Korums Wahl war ein vom General von Manteuffel verschuldeter Fehler. Ebenso wäre es richtiger gewesen, die Aufhebung des Sperrgesetzes im vergangenen Jahre scheitern zu lassen. Wir hatten das vollkommen in der Hand, aber Bismarck ließ die Sache treiben, wie damals beim Beschluß über den Sitz des Reichsgerichts ‒ bis es zu spät war. Ob er diesen Verlauf innerlich gewollt hat, ist schwer zu sagen, aber nicht unwahrscheinlich. 11. Juni. Taufe des Sohnes des Prinzen Wilhelm, wozu Österreich, Rußland, Italien besondere Vertreter geschickt haben. Die Minister sind mit ihren Damen befohlen. Die Taufe fand im Potsdamer Stadtschloß statt in dem zur Kapelle umgestalteten Schlafzimmer Friedrichs des Großen. Es war ein sehr hübsches Bild, das Hereintragen des kräftig strampelnden Prinzen, welcher während der ganzen Taufe schrie, und die Übergabe an die jugendliche Mama. 215

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Se. Majestät brachte den Toast auf den Urenkel aus. 12. Juni hielt Bismarck eine zweistündige Rede über das Monopol, zwar polemisch, aber doch mild und resigniert im Ton. Er endete mit einem lebhaften Appell an die Einigkeit und nationale Gesinnung. Freilich wird alles ohne Effekt bleiben und nur wenige Stimmen werden für das Monopol abgegeben werden. Der Großherzog von Weimar wohnte in der Hofloge der Sitzung bei und nickte lebhaft zustimmend bei Betonung des Vertrauens zur nationalen Gesinnung Deutschlands. 14. Juni hielt Bismarck eine zweite große Rede, worin noch mehr Mousseux war wie in der ersten. Er ist von einer erstaunlichen Frische und steigert sich im Kampf in seinen rednerischen Leistungen. Einen Effekt hat die Rede natürlich nicht gehabt, vielmehr ist die Vorlage mit 173 gegen 46 Stimmen abgelehnt worden. Ich habe ihn eben gesprochen über die nächsten Landtagsvorlagen. Er will bald nach Varzin abreisen. Ruhe, Bewegung, frische Luft, einfache Nahrung sei der ärztliche Rat. Der Reichstag soll nur vertagt werden bis zum November, wo der Landtag auch wieder zusammentreten soll. Das Verwendungsgesetz soll in der alten Gestalt wieder vorgelegt werden. Die Freifahrkarten sollen während der Zeit Gültigkeit behalten, um die Abgeordneten nicht zu verstimmen ‒ also plötzlich höchst aimable gegen den fortschrittlichen Reichstag! Die Landtagswahlen sollen im September sein. 18.  Juni. Gestern wurde uns eine von Bismarck gegengezeichnete Kabinettsorder mitgeteilt, worin Se. Majestät monatliche Berichte befiehlt über die stattgehabten Steuerexekutionen und seinen entschiedenen Willen ausspricht, den vorhandenen Notständen Abhilfe zu schaffen. (S. Anlagen, S. 518.) Das kann wirken wie eine Prämie auf säumige Steuerzahlung! Die dritte allerhöchste Botschaft innerhalb sechs Monaten! Es hat etwas von Schießen mit Kanonen auf Sperlinge. Ein zu häufiger Gebrauch der stärksten Mittel beeinträchtigt die gewollte Wirkung. Bennigsen hat die zweite Rede Bismarcks mit einer sehr bedeutenden, hochpolitischen Rede beantwortet, welche allseitig einen großen Eindruck gemacht hat, umso mehr, als sie höchst versöhnlich und maßvoll war. Dabei übte sie eine sehr abfällige Kritik an den bismarckschen Steuerreformplänen, war aber voll Anerkennung der großen Verdienste Bismarcks und manifestierte den guten Willen, denkbar weit entgegenzukommen. Bismarck rechnet dagegen immer noch mit Bennigsen und er sieht in ihm den einzigen befähigten liberalen Führer, welchen er gern als Mitarbeiter gewinnen würde. Allerdings hat inzwischen die Norddeutsche Allgemeine Zeitung bereits eine grob abweisende Antwort auf Bennigsens Rede gegeben. 216

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Die Extrahierung und Publikation der letzten Kabinettsorder sprechen jedenfalls nicht für versöhnliche Tendenzen, sondern eher für weitere Schärfung des Kampfes um die Steuerreform. In einer Stunde haben wir vertrauliche Besprechung bei Bismarck und werden wohl die Parole für die Neuwahlen hören. Ich halte für möglich, daß sich in dieser Sitzung eine Krisis vollzieht. Diese Vermutung bestätigte sich schnell. Bitter erschien nicht mehr in dieser Sitzung, sondern hatte infolge des Umstandes, daß die sein Ressort unmittelbar berührende Kabinettsorder ohne seine Zuziehung erlassen war, seinen Abschied eingereicht und Abschrift dem Fürsten zugehen lassen. Bismarck las uns das Abschiedsgesuch mit den Marginalien, welche Se. Majestät dazu gemacht hatte, vor, worin Se. Majestät eine Verletzung Bitters nicht einräumte, sein Gesuch nicht gerechtfertigt findet und einen abschlägigen Bescheid anheimgibt. Bismarck begleitete das mit einem längeren Erguß: „Es sei sein Recht, als Ministerpräsident dergleichen informatorische Schritte zu tun. Die Zustimmung Bitters oder des Staatsministeriums habe er nicht extrahieren können, da Sr. Majestät Abreise am selben Abend stattgefunden habe. Übrigens sei Bitter für das wichtige Ministerium insuffizient. Er habe ihn getragen, weil er ihn für einen braven Kerl gehalten habe. Übrigens habe er verschiedenen seiner Kollegen, zum Beispiel Maybach, ihre Wirksamkeit erschwert. Seit Königs Geburtstag, wo er glaubte, diese Spuren konstatiert zu haben, habe er die Absicht gehabt, ihn nicht weiter zu halten. Er habe nicht die Kraft und Lust, die ‚faux frais‘ dieser inneren Kämpfe im Ministerium zu tragen. Vor vier Jahren hätten ihn die Nationalliberalen bei der Ministersuche kaltzustellen gesucht, das habe zu Hobrechts Wahl geführt. Bitter sei auch eine Verlegenheitswahl und sei der Sache nicht gewachsen. Er werde also dem Kaiser nicht nur raten, das Entlassungsgesuch anzunehmen, sondern es geradezu als wünschenswert bezeichnen. Se. Majestät habe nicht die Verpflichtung, von Finanzsachen etwas zu verstehen, sei also befriedigt, wenn ihm der Finanzminister Überschüsse melde, auch wenn er sie nicht gemacht habe.“ Er bat dann um die Meinung der Kollegen. Puttkamer meinte: Wenn für Bitter in der Kabinettsorder ein Anlaß vorliege, sich verletzt zu fühlen, so würden er und Goßler sich in der gleichen Lage befinden. Bitter sei seinem Ressort nicht gewachsen, und er sei einverstanden mit der Gewährung des Abschieds. Bötticher: „Er wollte sterben und hat diesen Anlaß benutzt.“ Bismarck: „Sind Sie dessen so gewiß, daß er ernstlich gehen will?“ 217

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Lucius: „Nein! Es kostet nur ein Wort, ihn zum Bleiben zu veranlassen, dieses würde ich aber nicht aussprechen. Sein Ausscheiden ist kein Verlust, sondern ein Gewinn.“ Dieser Ansicht pflichteten alle bei. Sein Ausscheiden verursacht keine Träne. Er wäre nur zu gern geblieben. Übrigens ist Bitter 69 Jahre alt und hat 49 Dienstjahre. Im weiteren Verlauf der Sitzung tadelte Bismarck einen Artikel der Provinzialkorrespondenz „Die Elle des Kanzlers“. Wer Eile habe, sei immer im Nachteil jenen gegenüber, welche keine hätten. Bezüglich der Bischöfe scheint Goßler auf Begnadigung zu drängen, während Bismarck sich indifferent dazu stellt und tat, als ob er Melchers‘ Missetaten gar nicht kenne. Während bisher jede Möglichkeit, Melchers zu begnadigen, als ausgeschlossen galt, wie ausdrücklich in den betreffenden Staatsministerialprotokollen ausgesprochen ist, scheint Goßler diese Frage wieder zur Diskussion stellen zu wollen und sucht den Kanzler dahinzuleiten. Bismarck selbst gab sich nur den Anschein, als wisse er von Melchers’ Gefährlichkeit und grober Verschuldung nichts. Dagegen erging er sich über die ultramontane polnische Geistlichkeit, in specie die Radziwills, in den stärksten Ausdrücken. Sie sollten zur Treppe hinunterbefördert werden und dergleichen mehr. Schon den Alten sei der Hochmut aus den Augen gequollen, wenn sie in ihrem Palais unter den alten polnischen Königsbildern Gesellschaft empfangen hätten, die sich hätte beugen und um Entschuldigung bitten sollen, daß sie nicht auf den Knien läge vor Polen. Bismarck erwartete die Botschafter zu Tisch und meinte, es sei eine Vorkonferenz für Konstantinopel. Offenbar fühlte er sich ganz als Herr der Situation, der Rücktritt Ignatieffs, die irischen und ägyptischen Wirren paßten ihm ganz gut. 21. Juni. Bismarck ist mit der Fürstin und Rottenburg gestern nach Friedrichsruh abgereist. Den Botschaftern soll er eine einstündige französische Rede gehalten und damit die politische Situation wohl erschöpft haben. Inzwischen enthalten die Morgenblätter Nekrologe über Bitter, welche zum Teil von ihm selbst inspiriert scheinen. Die Nationalzeitung gibt eine offenbar von ihm inspirierte Version seines Rücktritts, welche seinen Kollegen vorwirft, ihn in wichtigen Fragen nicht unterstützt, sondern dilatorisch behandelt zu haben. Er macht dann die Andeutung, daß „mehr Licht“ noch mehr von seinen Verdiensten zu Tage bringen werde. Er ist vielleicht geneigt, Memoiren zu schreiben und zu publizieren. 218

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25. Juni. Nach einem bei mir stattgehabten parlamentarischen Diner blieb Windthorst noch allein zurück und machte mir in der eindringlichsten Weise in wiederholten Wendungen etwa folgende Erklärung: Seine Partei sei mit meiner Amtsführung durchaus zufrieden und habe das beste Vertrauen zu mir; wenn sie das nicht in ostensibler Weise dartäten, so geschehe es, weil sie fürchteten, mir damit mehr zu schaden wie zu nützen. Wenn ich einmal wünsche, daß irgendein Ton angeschlagen werde, so würde er auf einen leisen Wink es gern tun. Ich brauche ihm dann nicht etwa zu schreiben, „damit nichts Schriftliches da wäre“, sondern er werde zu mir kommen. Ich möge diese Äußerung nicht als eine Indiskretion betrachten, sondern solle versichert sein, daß er und seine ganze Fraktion, für welche er in dieser Beziehung einstehe, mich unterstützen wolle, wo und wie sie könne. Mich frappierten diese, wie mir schien, aufrichtig gemeinten, wiederholten Beteuerungen von Vertrauen und Bereitwilligkeit, mir in Schwierigkeiten zu helfen, in hohem Maß. Veranlaßt waren sie vielleicht dazu durch Zeitungsgerüchte, meine Stellung sei erschüttert, das Verhältnis zu Bismarck getrübt, welche gerade wieder ohne einen mir ersichtlichen Grund in Umlauf gesetzt waren. Möglich ist auch, daß eine neue agrarische Parteibildung im Werke ist, welche eine Partei Bismarck sans phrase etablieren und mich bei dieser Gelegenheit ausschlachten will. Dabei ist Windthorst vielleicht ins Vertrauen gezogen worden und hat mich warnen wollen. Fürst Bismarck selbst läßt solche Dinge treiben und nimmt erst im konvenierenden Fall Stellung dazu. 28. Juni. Bitter hat nach der heutigen Morgenzeitung gestern, d. d. 26. Juni, den Abschied erhalten, die Geschäfte bereits niedergelegt und wird in acht Tagen das Finanzministerium verlassen. Bleichröder hat das Faktum schon gestern mit Angabe des Datums Maybach erzählt, hat also Verbindung bis in die unmittelbare Umgebung Sr. Majestät. ‒ Bitter scheint noch vor wenigen Tagen die Illusion gehabt und ausgesprochen zu haben, daß sich die Sache wieder zuzöge. Er soll einen hohen Grad im Freimaurerorden bekleiden und darauf seine Hoffnung gebaut haben. Auch die Protektion der Kaiserin und der Gräfin Hacke scheint er genossen zu haben, oder hat es wenigstens geglaubt. Der Reichsschatzsekretär Scholz, der präsumtive Nachfolger Bitters, soll den Zeitungen nach in Varzin sein, und es heißt, Bismarck wolle zunächst selbst interimistisch das Finanzministerium leiten, indem er sich von Scholz vertreten ließe, bis er einen Ersatz für das Schatzamt gefunden habe. 28. Juni. Von Bötticher teilt per Zirkular ein von Ems eingegangenes Telegramm mit: Se. Majestät ist einverstanden, Bitter den Abschied zu erteilen 219

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unter Belassung des Ranges und Titels eines Staatsministers. Will ihm den Roten Adler erster Klasse verleihen. Wünscht zu wissen, ob Scholz gleichzeitig ernannt werden soll, da ein bezüglicher Antrag nicht vorliege. Er sei aber damit einverstanden. Die betreffenden Orderentwürfe gehen erst zur Gegenzeichnung nach Varzin. Bitter ist nicht volle drei Jahre Minister gewesen. Nächst Maybach sind Puttkamer und ich, am 13. Juli 1879 ernannt, jetzt die ältesten Zivilminister. Abgegangen sind seit unserem Eintritt: von Bülow (gestorben), Leonhardt (gestorben), Hofmann, Botho Eulenburg, Bitter, Graf Stolberg. 30. Juni war ein Ministerrat, in welchem über Bitters Preßtätigkeit allgemeine Indignation herrschte. Niemand hat ihn infolgedessen besucht, was er lebhaft empfinden soll. Die Ernennung von Scholz wird in der Kürze erwartet. 7. Juli. Ein geharnischter Artikel in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, welcher dem Zentrum Mores lehrt und betont, von Melchers’ Begnadigung könne keine Rede sein. Die Regierung dürfe die Fühlung mit gemäßigt Konservativen und Liberalen nicht verlieren. Darob große Entrüstung in den ultramontanen Blättern, Drohungen von Allianz mit dem Fortschritt. Die Nationalzeitung dagegen wünscht, daß die ferneren Taten der Regierung diesen Worten entsprächen. Die fortschrittlichen Blätter sehen nur Wahlhumbug in jener Kundgebung, nachher werde die alte Melodie wieder beginnen. Goßler versichert, gegen die Begnadigung von Melchers zu sein, eventuell unter Stellung der Kabinettsfrage. Außerdem spuken Gerüchte, Tiedemann werde zum Handelsminister oder zu Böttichers Nachfolger ernannt werden, ohne daß ersichtliche Gründe dafür vorliegen. Friedberg, welchen ich kürzlich sprach, meinte: Bismarck liebe es, einige Ministerdauphins in Vorrat zu halten, so sei für ihn Herr von Schelling, der Präsident des Reichsjustizamts, auf Lager. Bismarck sei augenblicklich sehr erbittert gegen Rom, und daher sei jener Artikel der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung übermäßig scharf ausgefallen. Auf eine Anfrage in Varzin, ob einer Reise nach Petersburg-Moskau zum Besuch der großen Industrieausstellung Bedenken entgegenständen, habe ich eine sehr freundliche Antwort erhalten, das sei nicht der Fall, ich möge aber nicht vergessen, daß Erholung der Hauptzweck meines Urlaubs sei und daß der Weg nach Petersburg an Varzin vorüberführe. 220

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Inzwischen ist die große Petition zu Gunsten der Begnadigung von Melchers aus dem Kabinett Sr. Majestät an Goßler zur Bescheidung abgegeben und von diesem nach eingeholter Zustimmung Bismarcks abschlägig beschieden worden. Das ist nach Ablehnung des Sperrgesetzes und dem neulichen Artikel ein empfindlicher Schlag für das Zentrum. Es scheinen auch dort Spaltungen zwischen den überwiegend politischen Katholischen (Welfen) und den rein kirchliche Zwecke verfolgenden sich zu entwickeln. Von Schorlemer kontra Windthorst. Der Fürstbischof Herzog in Breslau ‒ ein als mild taxierter Mann ‒ geht unter dem Einfluß von Franz und Gleich scharf gegen die Zivilehe und Staatspfarrer vor. Folgedessen scheint die von Bismarck schon eingeleitete Begnadigung Blums sistiert. Es wird versichert, Bismarck werde in seiner Nachgiebigkeit nicht weiter gehen, als bisher schon geschehen. 14. Juli. Auf die Anfrage, ob ich mich vor meiner Abreise nach St. Petersburg noch abmelden dürfe, wurde ich zur Tafel nach Babelsberg befohlen und saß links von Sr. Majestät, welcher wie immer ungemein gnädig und gesprächig war. Er freute sich, daß einmal ein preußischer Minister Rußland bereise. Er sei gewiß, daß ich da einen guten Eindruck machen werde; er sagte das wiederholt, gute Reise wünschend. Er sei 1817 zum ersten Male im Innern gewesen. Seine Schwester, die Zarin, sei damals in anderen Umständen gewesen. Sie seien vierzehn Tage von Petersburg nach Moskau unterwegs gewesen, meist auf Knüppeldämmen fahrend. Es seien ganze Alleen von Bauern aufgeboten gewesen, welche mit Hebebäumen am Weg gestanden hätten, um dem Wagen weiterzuhelfen. Dann erzählte er von der französischen Kampagne 1813 bis 1815, an Knesebecks Memoiren anknüpfend. Knesebeck sei immer sehr vorsichtig gewesen, er sei gerade bei dem entscheidenden Kriegsrat krank, abwesend gewesen, sonst wäre der Marsch auf Paris schwerlich so schnell beschlossen worden. Die russische Kampagne sei von niemand geplant worden, sondern habe sich providentiell entwickelt. Die Kaiserin erschien nicht bei Tisch, sondern saß prächtig angetan mit viel Schmuck im achteckigen Saal, vor und nach dem Diner Cercle machend. Sie hat sich durch einen Fall verletzt. Sie war gleichfalls sehr gnädig und erkundigte sich nach meiner Familie. Rußland sei ein schreckliches Land, ein Abgrund. Niemand wisse, wie es sich entwickeln werde. Sie habe Turgenieffs Neuland gelesen und es für ein Phantasiegebilde gehalten, allein es sei eine ganz richtige Schilderung der wirklichen Verhältnisse, wie sich seitdem herausgestellt habe. Sie kenne das Land, man habe nur die Äußerlichkeiten von Religion und Kirche. Die jungen Leute seien ganz schrecklich ‒ Nihilisten! 221

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Auch sie wünschte gute Reise und klagte, daß sie durch den erlittenen Unfall beeinträchtigt sei, etwas zu leisten, nachdem sie nur gekommen sei, für den Kaiser zu sorgen. Sie könne nicht aufstehen, müsse unhöflich sein. Sie sah aber für ihre Verhältnisse nicht schlecht aus. Beide sind merkwürdig höfliche, liebenswürdige Wirte, an welchen sich jeder Privatmann ein Beispiel nehmen könnte. 6. Oktober. Varzin. Von der russischen Reise zurückgekehrt, ging ich nach Varzin, wo ich bei prachtvollem Herbstwetter eintraf und nur Rantzaus vorfand. Der Fürst trug einen grauen Vollbart und sah ruhig und behaglich aus. Über parlamentarische Dinge redend, äußerte er sich auch über die selbständigen Konservativen. „Das Niederschlagende sind die Feinde im eigenen Lager, der Neid, die Mißgunst, der Unverstand der Freunde. Weil sie nichts können, soll es der andere auch nicht. Der Kampf gegen die politischen Freunde ist das Aufreibende ‒ wie damals beim Schulaufsichtsgesetz. Jetzt herrschen die sozialen und wirtschaftlichen Fragen vor, und demgemäß sind besondere politische Fraktionsbildungen nicht berechtigt. Die größte Festigung des Reiches wären gemeinsame Finanzen, gemeinsame Einnahmequellen und Revenüen, aus welchen selbst die Einzelstaaten noch schöpfen könnten. Daß dafür so wenig Verständnis sich findet, ist das größte Übel. Ich schäme mich, dafür so wenig Sinn zu finden, und verliere den Mut. Die Kaiserin hat stets das Gegenteil von dem gewollt, was der Kaiser wollte, sie war zeitweise liberal bis zum Extrem, österreichisch, französisch, je nachdem sie das Gegenteil hätte sein sollen. Maybach wünsche ich hierher, um ihn den Detailgeschäften zu entziehen, in welchen er sich aufreibt, und um ihm seine hypochondrischen Anwandlungen zu benehmen. Wenn man seine Temperamentseigenschaften verschmelzen könnte mit den sanguinen, leichtblütigen Puttkamers, so gäbe es einen guten Guß. Der scheint mir jetzt aber auch ruhiger und weniger polemisch wie früher.“ Die Holzzollfrage wurde kurz erledigt und Dunkelmann als Hauptkommissar zur Vertretung akzeptiert. Körperlich klagte er nur über Gesichtsschmerzen und beobachtete eine gewisse Diät ‒ kein Brot, Kartoffeln, Butter, Obst ‒, mageres Fleisch, Rotwein, Champagner. Wir machten eine lange Fahrt durch die Forste bei köstlichem Wetter in der Richtung nach Krangen. Der Fürst sprach von der Frankfurter Zeit. Wenn er nur Zeit fände, seine Memoiren zu schreiben, er habe nie ein Tagebuch, aber viele eigenhändige Briefe geschrieben. Die an ihn gerichteten Sachen habe er gesammelt, und darunter wäre viel Interessantes. So seine Korrespondenz mit dem General von Gerlach, durch welchen er an Friedrich Wilhelm IV. geschrieben habe. General Gerlach sei nur Preuße gewesen, 222

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während er (Bismarck) in dem burschenschaftlichen Enthusiasmus für ein einiges Deutschland aufgewachsen sei. Die Anfeindung von früheren politischen und persönlichen Freunden wie damals beim Schulaufsichtsgesetz und den Äraartikeln, sei ihm stets das Angreifendste gewesen, was er nie vergessen könne. Es sei ein Fehler gewesen, den Monopolgedanken vor den Wahlen zu proklamieren, mit der Holzzollerhöhung dürfe man das nicht wieder tun. Er kommt auf diese Enttäuschung öfters wieder zurück und sieht den gemachten Fehler ‒ leider zu spät ‒ ein. Über meine Schrift scherzend, meinte er: die Buchstaben ständen so weit auseinander, daß sie sich nur ja nicht drängten. Der Besuch verlief in allen Stücken sehr angenehm. 22. Oktober. Graf Hatzfeldt ist zum Staatsminister und Staatssekretär des Äußern ernannt und wird heute eingeführt. Scholz ist gestern von Varzin zurückgekehrt. Er hat uns sein Finanzprogramm entwickelt. Er hält danach die Kontinuität mit seinem Amtsvorgänger in weiterem Umfang aufrecht, als vielleicht nötig ist. Er nimmt weder den dauernden Steuererlaß von 14 Millionen zurück noch den einmaligen der 7 Millionen aus der Reichsstempelsteuer ‒ er will dem Landtag die Initiative überlassen. Inzwischen haben die Wahlmännerwahlen stattgefunden und sind überwiegend günstig konservativ ausgefallen. Es ist das erste Mal, daß die verschiedenen Wahlsysteme des Landtags und des Reichstags ein erheblich verschiedenes Resultat ergeben: daß nicht in der Presse vorher gehetzt worden ist, bewährt sich, ebenso, daß gar kein Aktionsprogramm seitens der Regierung entwickelt worden ist. Das Resultat spricht auch dafür, daß im Land keine besondere Unzufriedenheit herrscht über die jetzige Regierungsweise, und wir schneiden somit gut ab. Ich werde voraussichtlich ohne Zutun meinerseits in Greifswald-Grimmen gewählt werden. Die Majestäten befinden sich beide noch in Baden und leider nicht in gutem Gesundheitszustand. Die Kaiserin scheint der Auflösung entgegenzugehen und sich von dem Fall nicht wieder zu erholen. Se. Majestät wird dadurch zurückgehalten, hat aber selbst eine Attacke von Nierenkolik gehabt. Vor fünfzehn bis sechzehn Jahren hat er einen ähnlichen Anfall erlitten und im letzten Jahr die erste Wiederholung gehabt. Die Widerstandskraft nimmt natürlich mit den Jahren ab. 23. Oktober Jagd beim Kronprinzen im Spandauer Forst bei prachtvollem Wetter. Er war sehr lebhaft und entwickelte sehr bürgerlich solide Ansichten über Kindererziehung im Gegensatz zur Verlotterung in den großen englischen Adelsgeschlechtern. Dann erzählte er viel von 1848, was er in lebhafter Erinnerung hätte. Alles habe den Kopf verloren und niemand habe 223

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befohlen. So sei noch unaufgeklärt, wer den Abmarsch der Truppen und die Ablösung durch die Bürgerwehr befohlen habe. Er sei mit den anderen jungen Prinzen nach Potsdam geschickt worden, und auch dort seien sie bei vermeintlicher Gefahr anderwärts untergebracht worden. Die Memoiren des Generals von Brandt schilderten den Hergang und die Verhältnisse ganz richtig. Lord Ampthill, welcher geladen war, erzählte seine Wiener Erinnerungen. Der Kronprinz schoß einen starken Schaufler, ich einen Fuchs und zwei Böcke. Es ist eine ganz freie Jagd mit sehr bunter Strecke ‒ es kommen Birkwild, Fasanen, Hasen, Schwarzwild vor ‒, ganze Strecke dreißig bis vierzig Kreaturen. Sehr hübsches Revier. 14. November. Eröffnung des Landtags durch Se. Majestät. Die Thronrede war kurz, strengte aber den hohen Herrn doch an. Die Betonung der friedlichen Weltlage und der Absicht der gänzlichen Beseitigung der vier untersten Klassensteuerstufen wurde beifällig aufgenommen. Von konservativer Seite wurde versichert, man sei nicht gewillt, mit dem Zentrum durch dick und dünn zu gehen, von dieser Richtung seien nur etwa fünfundzwanzig Mitglieder in der Fraktion, vielmehr suche man Anschluß an Freikonservative und Nationalliberale. Man möge sie nur nicht durch kirchlich offensive Anträge in Verlegenheit setzen. Bismarck habe die Kurie unterschätzt und große Fehler in deren Behandlung gemacht. Alle bisher gemachten Konzessionen seien ohne Gegenleistung geblieben. Er handle übereilt, unter zornigen Impulsen, höre und beachte keinen Rat. Gewisse Persönlichkeiten (von Holstein) in seiner Umgebung von lebhafter Phantasie hetzten, machten unrichtige Mitteilungen und trügen an manchen Fehlgriffen schuld. Mein Etat wurde glatt, ohne jede unangenehme Diskussion erledigt. 8. Dezember. Gestern Bismarck zum ersten Male wieder gesehen, welcher seit fünf Tagen wieder hier. Er klagt zwar über Gesichtsschmerzen, Mattigkeit und Schlaflosigkeit, seitdem er wieder in Berlin sei, war aber doch leidlich wohl und guter Stimmung. Sagte einiges Freundliche über meine Amtsführung. Se. Majestät habe sich neulich ganz spontan sehr freundlich über mich geäußert, er sehe mich öfter auf den Jagden, zu denen ich als Forstminister befohlen werde, und unterhalte sich gern mit mir. Ich sei auf vielen Gebieten bewandert und ihm sympathisch. Bismarck meinte, er habe mich vielleicht anfangs sechs Zoll größer gewünscht, sei aber jetzt ganz charmiert, wie er wiederholt versichert habe. Es ist so selten, daß Bismarck seinen lieben Kollegen Annehmlichkeiten sagt, daß es mir besonders auffiel, auch als Zeichen seiner eigenen wohlwollenden Gesinnung. 224

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Bezüglich einer vom Abgeordneten Windthorst beabsichtigten kirchenpolitischen Interpellation meinte er, man brauche gar nichts zu antworten, ebenso wenig wie der Reichstag Erklärungen abgebe bezüglich seiner Ablehnung des Monopols. Man habe keine Verhandlungen mit Rom nötig und könne ruhig so weiterregieren. Ebenso sei es bezüglich der Steuerpolitik ‒ das Reich könne es ohne neue Steuern aushalten, wenn es die Partikularstaaten könnten und kein Bedürfnis nach neuen Einnahmen hätten. Trotzdem hat er gestern durch Scholz aggressiv gegen Hobrecht operieren lassen unter Publikation von Ministerialprotokollen, um Hobrecht bloßzustellen. Er ließ nachweisen, daß Hobrecht als Minister für zweijährige Budgetperioden votiert hatte. Das schafft üble Präzedenzfälle. 15. Dezember. Der Reichstag hat sich vertagt, nachdem er die zweijährige Budgetperiode gegen 48 Stimmen abgelehnt hat. Im Abgeordnetenhaus hat heute die zweite Beratung des Lizenzsteuergesetzes begonnen, und auch diese Sache ist wenig hoffnungsvoll. Die Stimmung ist ausgesprochenermaßen gegen weitere Erlasse ohne vorhandene Deckung. Eher würde man die früheren Erlasse modifizieren oder rückgängig machen. Bismarck gibt dem Abgeordnetenhaus anheim, selbst eine organische Steuerreform zu ersinnen. Nachdem man es bisher geflissentlich vermieden hat, für die Regierungsvorlagen Fühlung zu suchen, sie sogar gegen die bekannten Aufforderungen auch der befreundeten Parteien lanciert hat ‒ will man nun die Initiative auf den schwierigsten und wichtigsten Gebieten den Parteien des Abgeordnetenhauses überlassen. Das heißt die eigene Sache aufgeben und sich selbst bankerott erklären. Scholz verficht seine Vorlage mit großer dialektischer Gewandtheit und Sachkenntnis, aber ohne Erfolg. Die Interpellation Windthorst hat mit einer Niederlage für ihn geendet. Nur Richter ist für ihn eingetreten, und so ist die ganze Aktion mit der kühlen Erklärung Böttichers, man lehne es ab, Gründe anzugeben, zu Boden gefallen. Ebenso ist die sozialdemokratische Interpellation günstig für die Regierung verlaufen. Selbst Windthorst und Richter haben einen republikanischen Abgeordneten Wendt scharf zurückgewiesen. So weit also in der Defensive erfolgreich. 16. Dezember. Letzte Hofjagd im Grunewald, zu welcher Se. Majestät einer Verkältung halber nicht erschien. Prinz Wilhelm erzählte von seinem letzten Besuch bei Bismarck. Er habe sich über die England zu freundliche Haltung in der ägyptischen Frage gewundert und ihn darüber um Aufklärung gebeten. Darauf hätte Bismarck 225

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sehr geringschätzig über Gladstone und sein Kabinett gesprochen, welche von auswärtigen Dingen so viel wie Quartaner verständen. Es sei aber nötig gewesen, eine englisch-französische Allianz zu verhindern, womöglich diese beiden Mächte zu entzweien; das sei der Schlüssel zu der deutschen Politik. Prinz Wilhelm war damit ganz einverstanden und betonte bei jeder Gelegenheit seine Abneigung gegenüber allem Englischen und seine Vorliebe für das stramme, streng preußische konservative Wesen. Trotzdem hat er meines Erachtens eine große Vorliebe für England ‒ unbewußt. Der Kronprinz hatte den Kaiserstand und schoß ziemlich viel, unterhielt sich auch längere Zeit mit Puttkamer, welchen er sonst meist schneidet. Die Steuerdebatte (Lizenzsteuer) ist gestern im Abgeordnetenhaus zu einem befriedigenden Abschluß gekommen, in dem Sinn, daß sich alle Parteien zu Gunsten des Erlasses ausgesprochen haben, vorausgesetzt, daß Deckung dafür vorhanden. In der Lizenzsteuer wollen aber nur Konservative und Freikonservative Deckung suchen und auch diese contra coeur. Zentrum, Linke und Mehrheit der Freikonservativen würden lieber die bisherigen Erlasse rückgängig machen und die ganze Klassensteuer systematisch umgestalten. Das wäre auch das Richtige ‒ Bismarck hat sich aber in der Richtung noch nicht geäußert und das Staatsministerium überhaupt noch nicht gesehen. 22. Dezember. Mit dem Kronprinzen in Potsdam einige ihm am Herzen liegende Meliorationsprojekte bei Bornim-Bornstedt besichtigt. Er klagt immer über seinen Mangel an Mitteln und über die steten abschläglichen Antworten auf seine an das Haus- und andere Ministerien gerichteten Anträge. „Man sehe in allem und jedem unpraktische, englische Ideen der Kronprinzeß“ u. s. w. Wir fuhren durch die Anlagen nach Bornstedt, wo er nicht erwartet worden war und somit im Haus alles in Unordnung fand. Man war in Vorbereitung zum Fest mitten in der Bäckerei u. s. w. Die alte Haushälterin war ganz außer sich und schalt ihn förmlich aus, was er sich mit gutem Humor gefallen ließ. 29. Dezember. Gestern bei Bismarck, welcher munter und befriedigt war über den Effekt englischer Medikamente, welche er gegen Gesichtsschmerz angewandt hatte. Zu meiner Überraschung erklärte er ‒ während er nur widerstrebend bisher den Höfeordnungen zugestimmt hat ‒ sich bereit, den Wünschen des brandenburgischen Provinziallandtags auf Erlaß einer Intestaterbordnung Folge zu geben. Man könne vereinzelte Wünsche auf diesem Gebiet berücksichtigen, ohne damit die Konsequenzen für andere Provinzen zu ziehen. Ebenso, meinte er, müßte man dieselben Bestimmungen auf die Altmark 226

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ausdehnen. Bezüglich der Rübensteuer erklärte er sich gegen eine Reduktion der Bonifikation, aber für Besteuerung der Melasse. 30. Dezember. Zum ersten Male zum Tee ins Palais befohlen, Einladung intimster Art, die als ganz besondere Auszeichnung gilt. Der Tee wird in einem kleinen, einfenstrigen Salon, rechts vom Flur ‒ in der sogenannten Bonbonniere ‒ genommen, wo nur Platz für vier bis acht Personen ‒ dauert eine bis anderthalb Stunden. Anwesend von Stosch, General von Beyer, Professor Curtius. Ihre Majestät wurde in einem Rollstuhl hereingefahren, in einfacher Toilette mit Handschuhen. Sie sah wohl etwas elender aus wie früher und schien nicht frei von Schmerzen. Später erschien Se. Majestät im offenen Überrock, weißer Weste. Das Gespräch war meist allgemein, dann unterhielt sich auch jede Majestät für sich gesondert. Ehrenvoller Jahresschluß!

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1883 2. Januar. Gestern früh traf die Nachricht hier ein von Gambettas fünf Minuten vor Mitternacht ‒ Silvester ‒ erfolgtem plötzlichem Tod. Das erste, was Se. Majestät beim Neujahrsempfang ganz vergnügt bemerkte, war: Nun, Gambetta ist tot! Ein remüanter Charakter weniger in der Welt, trotzdem müssen wir auf unserer Hut bleiben. Wir möchten fortarbeiten mit gutem Erfolg wie bisher. Nachher empfing uns Ihre Majestät in weißem Kaschmir mit rotem Samt, sie sprach laut und kräftig. Sie empfing den Fürsten allein, vor uns. Später war ich mit Friedberg beim Fürsten wegen der brandenburgischen Höfeordnung, wobei er ganz traitable war und es vorläufig bei der Regierungsvorlage lassen wollte. „Das Scheiden Gambettas fördere die Desorganisation in Frankreich und erschwere die Gründung eines stabilen Elements in der Regierung. Er habe Gambetta nie gesehen, obschon dieser bereit gewesen sei, ihn irgendwo aufzusuchen. Graf Guido Henckel habe sich anheischig gemacht, ihn irgendwohin zu liefern. Er habe aber abgewinkt, um ihn nicht zu kompromittieren.“ Schließlich kam Bismarck auf die Steuerreform und erklärte positiv, die Aufhebung der vier untersten Stufen aufrechterhalten zu wollen. Der König habe den Marschallsstab über die Mauer geworfen. Seine Position sei die von Bennigsen bezeichnete: Kein Erlaß ohne Deckung, Beseitigung der vier untersten Stufen. Lieber wäre ihm natürlich die Annahme des Lizenzsteuergesetzes, obschon sich die Konservativen wieder möglichst töricht benähmen. Seinetwegen könne auch in den früheren Erlassen Deckung gesucht werden oder nur die zwei bis drei untersten Stufen abgeschafft werden. Das wäre das völlige Eingehen auf Bennigsens Vorschlag. 18. Januar. Am 11. und 12. fand im Herrenhaus die Beratung der brandenburgischen Landgüterordnung statt, wobei gegen meine Erklärungen mit 63 gegen 53 Stimmen eine Intestaterbordnung anstatt der Höfeordnung beschlossen wurde. Offenbar die Folge von Äußerungen Bismarcks zu Gunsten dieser Einrichtung. 228

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Mit der generellen Vertretung der Holzzölle und Zuckersteuervorlage ist Scholz beauftragt, das Zusammentagen von Reichs- und Landtag erschwert und verzögert aber die Sache. Gegen den Rat, den Reichstag zu schließen oder zu vertagen, verhält sich Bismarck ablehnend. Jedenfalls könne die Regierung dazu nicht die Initiative ergreifen nach den gemachten Ankündigungen von Steuer- und Sozialreform durch die allerhöchsten Botschaften: das Steuererlaßgesetz, Krankenkassen- und eventuell Unfallgesetz. Wenn es auch nur von Räten dritter und vierter Klasse vertreten werde – umso besser ‒, denn wenn er selbst käme, so machte das den Leuten noch Spaß. Also Refrain: je toller, je besser. 24. Januar. An Stelle der Silberhochzeitsfeier für das kronprinzliche Paar, welche heute mit einer Defiliercour ihren Anfang nehmen sollte, tritt nun die Bestattung des Prinzen Karl. Er ist nach langem Siechtum an einer Bronchitis gestorben, welche er sich zugezogen, indem er darauf bestand, an einem kalten Tage in den Garten gebracht zu werden. Das ist eine große Enttäuschung nach all den Vorbereitungen für Hunderte von Deputationen und Menschen, welche sich auf Aufzüge zur Feier vorbereitet hatten. Der Prinz Friedrich Karl befindet sich auf einer Reise in Ägypten. Am 24. Januar fand im Dom die Trauerfeier statt und nachher empfing uns Se. Majestät. Anfangs sehr bewegt, meinte er: Ihn habe die Todesnachricht sehr überrascht, er hätte noch lange leben können. Als er ihn zuletzt sah, sei der Prinz nicht mehr bei klarem Bewußtsein gewesen und hätte ihn nicht erkannt. Er werde dem Bruder wohl bald nachfolgen. Se. Majestät machte trotzdem einen elastischen Eindruck und reichte jedem in gewohnter Freundlichkeit die Hand. Bismarck nahm weder an der Trauerfeier noch an der Kondolenz teil und bleibt so unsichtbar, wie sonst nie zuvor. Man sieht ihn nur, wenn man ihn aufsucht, und einen Ministerrat hat er noch gar nicht abgehalten. Inzwischen gehen die Geschäfte im Reichstag rasch voran und er kann Ende Februar geschlossen werden. ‒ Bötticher war schwer krank und erholt sich langsam. Graf August Eulenburg ist Oberzeremonienmeister und Exzellenz geworden. Von Normann sein Nachfolger als Hofmarschall! 27. Januar. Lange Sitzung des Staatsministeriums und des Bundesratsausschusses über die Holzzölle etc. Goßler machte in Ersterem ‒ anknüpfend an das in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung publizierte Schreiben des Kaisers an den Papst (vom 22. Dezember 1882) ‒ Mitteilung über den Stand des Kulturkampfes und der 229

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polnischen Frage. Bismarck hat ihn instruiert, Windthorst als Friedensstörer anzugreifen und für die bisherigen Mißerfolge verantwortlich zu machen. Es scheint, daß der Papst mit Furcht vor Vergiftung terrorisiert wird. Die Daten zwischen Aktion im Vatikan und Windthorsts hiesigem Auftreten koindizieren so sehr, daß man den Zusammenhang nicht verkennen kann. Das letzte amtliche Antwortschreiben der Kurie (das heißt nicht des Papstes, sondern Jacobinis an Bismarck durch Schlözer) erhält eine sehr verklausulierte Zusage bezüglich Erfüllung der Anzeigepflicht ‒ nachdem man hier Gesetzesrevisionen vorgenommen haben werde im römischen Sinn. Inzwischen hat Windthorst formulierte Anträge eingebracht, welche die preußische Regierung nötigen sollen, Farbe zu bekennen. 1. Februar zum Tee zu den Majestäten befohlen. Anwesend: General von Beyer, Unterstaatssekretär von Thile, Professor Helmholtz ‒ alles wie das letzte Mal. Ihre Majestät etwas heiser, aber sonst munter. Sie sprach über die Rheinüberschwemmungen, gegen welche man Versicherungen einrichten solle. Die Orleans benähmen sich nicht richtig ‒ sie sollen entweder als Prinzen oder als Privatleute leben. Ihr Eifer, das konfiszierte Vermögen zurückzuerhalten, sei unschicklich gewesen. Es wurden das Blühen der Gewerbe und die große Baulust in Berlin erwähnt, während in Paris die Verhältnisse zurückgingen. Die jetzt aufkommende Mode, kleine runde, in Blei gefaßte Fensterscheiben zu haben, paßte in die heutigem Salons wie die Faust aufs Auge. Worauf Se. Majestät lächelnd sagte: „Faust aufs Auge, da geh nur zu dem Herrn Sohn, der hat sie auch überall.“ Sie lachte sehr und spricht, wenn sie sich gehen läßt, merkwürdig thüringisch, zum Teil vielleicht mir zu Ehren. Finanzminister Scholz berichtete: Jetzt, nachdem der Reichstagsbau in allen Details feststehe und die Vorlage, welche die Bewilligung der ersten Rate zur Ausführung des Baues fordere, vorliege, habe Bismarck Einspruch gegen den Plan erhoben. „Er habe erst jetzt aus der gedruckten Vorlage ersehen, daß man sechzig Stufen zum Sitzungssaal steigen müsse, daß der Saal nicht frei stände und keine Fenster nach allen Seiten habe.“ Seit zehn Jahren behandelt er den Bau dilatorisch und scheint nicht abgeneigt, ihn weiter zu verschleppen. Er lebt nach wie vor äußerst zurückgezogen, empfängt fast niemand und gibt meist durch Rottenburg Bescheid und Direktive. 13. Februar. Zum Tee bei den Majestäten. Die Kaiserin hatte starken Schnupfen, sprach aber viel. Anwesend: General von Beyer, Graf und Gräfin Perponcher, Graf Goltz, Professor Weber, welcher von Spanien erzählte. Beide Majestäten erkundigten sich nach der Lage des Militärpensions- und Reliktengesetzes, welches unter Windthorsts Führung an die Kommission zurückverwiesen ist, um dem Kriegsminister aus einer Schwierigkeit zu hel230

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fen. Die Kreuzzeitung hatte schon berichtet, daß Kameke seine Demission eingereicht habe. Der Kriegsminister, mit welchem ich am anderen Tage in der Bahn ritt, war ärgerlich, daß gerade diese Zeitung das Gerücht gebracht hatte. Er habe seine Entlassung nicht eingereicht, wie ja selbstverständlich sei, jetzt, wo er mitten im Kampf stände. Was er später tue, werde sich finden. Er war offenbar verstimmt über die Behandlung verschiedener Fälle seines Ressorts seitens des Kabinetts, in welchem über seinen Kopf weg Direktiven gegeben worden sind. So hat über die Frage der Kommunalbesteuerung der Offiziere bei Sr. Majestät eine Konferenz stattgefunden, zu welcher Stosch, Albedyll, Moltke zugezogen waren, aber nicht Kameke, der Ressortminister. Auch Bismarck scheint sich eingemischt zu haben, ohne genaue Kenntnis der Frage, und sich gegen Konzessionen erklärt. Inzwischen ist die Frage durch Rückverweisung an die Kommission bis nach Ostern vertagt, da der Reichstag nach Erledigung des Etats Ferien macht. Bismarck liegt seit drei Wochen mit Venenentzündung wieder fest, befindet sich aber auf dem Wege der Besserung. Der linke Unterschenkel, die innere Knieseite, ist der besonders leidende Teil. Ich war neulich da, er trug grauen Vollbart, einen langen, violettseidenen Schlafrock, ging an einem Krückstock und sah wie ein alter Bischof aus. Er meinte, er könne besser gehen wie stehen. Die Gratulation beim Kronprinzen habe ihm den Rest gegeben. Diese Herrschaften hielten auf solche lästigen Aufmerksamkeiten, der Kaiser sei in solchen Fällen verständiger. Ich berichtete über den Verlauf der Verhandlungen im Landesökonomiekollegium in Anwesenheit des Kronprinzen und über die Neigung, extrem agrarische Forderungen zu stellen. Er meinte: Ich solle die weitgehendsten Forderungen unterstützen, eine große Enquete entrieren und der landwirtschaftlichen Bevölkerung klarmachen, daß sie schlecht behandelt werde; sie könne Besserung betreffs der Schul- und Armenlasten nur vom Staat erwarten, wenn dieser das Tabakmonopol und die Getränkesteuer durchsetze. Auf den Einwand, daß, wenn ermutigt, die agrarischen Ansprüche ungemessen wachsen würden und daß ich damit gegen den Finanz- und Kultusminister in Opposition treten würde, meinte er: Das schadet nichts, törichte Ansprüche brauche man nicht zu befriedigen und wir seien nicht identisch mit unseren Amtsvorgängern in ihren Fehlern. Puttkamer sei gestern bei ihm gewesen, er fürchte sich vor Auflösung des Abgeordnetenhauses, weil das Maximum der konservativen Mandate erreicht sei. Er habe keinen weiteren Blick, daß man mit liberalen 231

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Abgeordneten dasselbe erreichen könne, auch seien die Konservativen gar nicht einmal völlig willig. Puttkamer sei für ihn ein gefallener Stern. Bismarck hat kürzlich vorgeschlagen, gesetzlich die gleichzeitige Übernahme von Reichs- und Landtagsmandaten zu verbieten. Auf den Einwand, daß das sämtliche deutsche Landtagmitglieder, also auch die Mitglieder der ersten Kammern, treffen werde, daß sich gefährliche Gegensätze auf diese Weise zwischen den Einzellandtagen und dem Reichstag entwickeln könnten, ging er nicht ein und meinte sogar, das werde günstig sein. Also sehr kampf- und konfliktlustig. Von ihm ging ich zu Puttkamer, welcher seine gestrige Konversation mit Bismarck erzählte: Bismarck habe seinen Vorschlag als „kneifen“ bezeichnet. Darauf habe er zwar in höflichster Form, aber doch entschieden seine Meinung gesagt: Wenn er (Bismarck) auf eine Auflösung hinarbeite, so sei die Frage der Doppelmandate und des Zusammentagens keine geeignete Frage dafür. Eine günstigere Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses sei überhaupt nicht zu erzielen, es könne also nur von einer Auflösung des Reichstags die Rede sein und diesem habe ja der Fürst in der Vertagungsfrage nachgegeben. In der Frage, die Annahme zweier Mandate zu verbieten, habe er ihn gar nicht orientiert gefunden. Er habe gar nicht gewußt, daß der Entwurf sich bloß auf die preußischen Abgeordneten erstrecke, und habe Rottenburg darüber interpelliert. Dieser habe aber nachgewiesen, daß Minister Scholz das Votum durchaus Bismarcks Angaben gemäß abgefaßt habe. Bismarck sei ärgerlich gewesen über Scholz, welcher ihm die Vertagung des Reichstags abgerungen habe. Darauf habe ihm Bismarck erzählt von einer anderthalbstündigen Unterhaltung, welche er mit Bennigsen gehabt habe. Puttkamer hatte das Gefühl, von Bismarck schlecht behandelt zu sein. Er sei eingetreten, ihn zu unterstützen und zu helfen, soweit sein Gewissen ihm das gestatte. Er lasse manches über sich ergehen, aber eine Grenze habe alles in der Welt. Er würde sich nicht wundem, wenn Bismarck zuletzt gegen ihn dasselbe Gefühl habe wie gegen Botho Eulenburg. Bismarck hat kürzlich ein zweites Schreiben an die einzelnen Minister gerichtet, worin er um Meinungsäußerung über den Vorschlag ersucht: den preußischen Abgeordneten die Mitgliedschaft in den Reichstag zu verbieten oder das Stellvertretungssystem einzuführen. Nach dieser Form des Votierens wünscht er nicht ein Votum des Staatsministeriums zu extrahieren, sondern das der einzelnen Minister; das schließt eine Besprechung der Minister untereinander eigentlich aus. Allerdings könnten die Einzelvota vorschlagen, ein Votum des Gesamtministerii zu veranlassen. Sicher wird die Mehrzahl gegen den Erlaß eines so sonderbaren Verbots sein. Wenn das ein 232

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Schritt zur Auflösung des Abgeordnetenhauses sein soll, so sieht man auch nicht, was damit bezweckt sein soll. Es ist die unmotivierteste Krisis, welche Se. Durchlaucht ohne einen ersichtlich verständigen Grund herbeiführt. ‒ Ich gebe ein bestimmt ablehnendes Votum ab. Der Kriegsminister von Kameke erzählte mir, er erwarte heute, seinen Abschied zu erhalten. Se. Majestät habe ihm infolge einer scharfen Auseinandersetzung mit Albedyll, einen groben Brief geschrieben, welchen er mit einem Entlassungsgesuch beantwortet habe. Se. Majestät sei dabei natürlich stimuliert worden und nicht seinen eigenen Eingebungen gefolgt. Bismarck habe wohl die Hand im Spiel gehabt. (Ich vermute eher, er hat die Sache gehen lassen ohne eingreifen oder sie verhindern zu wollen.) Kameke war etwas erregt, aber vollkommen mit sich einig, das Richtige getan zu haben. Man dürfe sich nicht avilieren lassen, sondern müsse zur richtigen Zeit gehen. Man mute ihm Dinge zu, welche er nicht tun könne und wolle. Dem Reichstag drohend und polternd gegenüberzutreten, sei nicht seine Sache, durchsetzen werde man damit auch nichts. Er sei nun zehn Jahre im Amt, und in der Zeit habe sich das Ordinarium des Etats um 62 Millionen erhöht, Schädigungen der Armee hätten sicher nicht stattgefunden, im Gegenteil glaube er, manche abgewandt zu haben. Er ließ mich dann den Brief Sr. Majestät und seine eigene Antwort lesen. In dem ersten drei Quartseiten langen, von einem Schreiber geschriebenen Eingang drückt Se. Majestät in zum Teil verletzender Weise sein Mißfallen aus, daß den Übergriffen des Parlaments in den Verhandlungen nicht in genügender Weise entgegengetreten sei. Es müßten doch außer dem Oberstleutnant Spitz, der genügt habe, noch andere bessere Kräfte in der Armee für die parlamentarische Vertretung zu finden sein. Es seien das „Kommando“ betreffende Äußerungen nicht entschieden genug zurückgewiesen worden. Es brauche nicht jeder ein großer Redner zu sein, es sei zweifelhaft, wie manche Reden wirkten u. s. w. Schließlich kamen dann noch einige eigenhändige freundliche Wendungen, welche die „Verletzlichkeit“ schonen wollten. Dieses am 25. Februar erhaltene Schreiben beantwortete Kameke am 26. mit einem würdig gehaltenen Entlassungsgesuch, was Se. Majestät mit einem eigenhändigen, sehr freundlichen Schreiben erwiderte. Er nimmt darin das Entlassungsgesuch an, dessen amtliche Beantwortung demnächst erfolgen solle. Er spricht ferner darin die Geneigtheit aus, bei sich bietender Gelegenheit von den Diensten des Generals ferneren Gebrauch zu machen. Von Kameke war gerührt über die sich hierin aussprechende freundliche Gesinnung und hat im selben Sinn geantwortet: „er werde sich eintretendenfalls zu prüfen haben, ob seine Kräfte noch der dienstlichen 233

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Aufgabe gewachsen seien“. Er meinte, man hätte ihm wohl das Kommando des 2. Korps, seiner Heimatprovinz, anbieten können. Obschon völlig mit sich einig, war er doch tief bewegt. Er sei sechsundsechzig Jahre alt und trete mit dem Abschied in ein offenes Grab. Er habe hier zehn Jahre gelebt ‒ länger als wie er irgendwo in seiner langen Dienstzeit gewesen sei. Seine Kinder seien hier aufgewachsen und tausend Fäden seien zu lösen. Das sei schmerzlich, aber er komme als anständiger Mann heraus. 5. März. In der Sitzung des Abgeordnetenhauses kam Friedberg mit einem Schreiben des Fürsten, an das Staatsministerium adressiert und eine Antwort auf die drei dissentierenden Vota enthaltend, welche Puttkamer, Friedberg, ich bezüglich der Kumulierung von Mandaten an ihn gerichtet hatten. Er bekämpfte diese Vota, indem er uns Sachen suppeditierte, welche keiner von uns behauptet hatte. Er gab uns Schuld, einer Machtentwicklung der Parlamente das Wort zu reden. Ungefähr das Letzte, was wenigstens aus meinem Votum herausgelesen werden konnte. Schließlich empfiehlt er eine Verständigung im Staatsministerium und rechnet in dieser Beziehung „auf freundliches Entgegenkommen“. Man kann es auch als eine Rückzugsbewegung auffassen. 9. März. Bei einem Diner sprach ich Windthorst, welcher genau orientiert schien über die jetzige Krisis. Über Puttkamer rede man als von einer gefallenen Größe. Er würde ihm gern aus Verlegenheiten helfen, soweit er könne, aus Dankbarkeit für seine versöhnliche Kirchenpolitik. Die Verwaltungsgesetze wolle er nicht, um sie nicht auf die westlichen Provinzen und Hannover ausgedehnt zu sehen. Wenn das Zusammentagen die Hauptschwierigkeit sei, so wolle er sich das überlegen. Die Bayern widerstreben freilich und wollen das Militärpensionsgesetz überhaupt nicht. Wenn die Regierung nicht wenigstens einer Resolution zustimme bezüglich der Regelung der Kommunalsteuerpflicht der Offiziere, so sei nichts zu machen und das Gesetz werde fallen. Wolle man einen Konflikt, so sei ja allerdings die Regierung stark genug, ihn durchzufechten. Er sprach merkwürdig offen und versicherte mir wiederholt sein und seiner Partei Wohlwollen und Zufriedenheit mit meiner Amtsführung. Er werde mir nach Ostern genau mitteilen, was im Reichstag erreichbar sein werde. Er schien die Gewerbenovelle für wichtiger zu halten als das Krankenkassengesetz, erklärte sich aber bereit, auch Letzteres und das Militärpensionsgesetz fertig zu machen. Windthorst ist ein guter Geschäftsmann und ein wichtiger Faktor im parlamentarischen Getriebe, mit welchem jeder zu rechnen hat. Beim Vandalendiner (8. März) saß ich neben Bennigsen, welcher von seiner letzten Entrevue mit Bismarck sprach. Er sei von ihm eingeladen worden 234

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und sie hätten sich über Steuer- und Kirchenpolitik völlig verständigt. Offenbar rechnet Bismarck immer noch mit ihm und würde ihn gern im Kabinett sehen. Bennigsen benimmt sich stets taktvoll und entgegenkommend. In der Donnerstagsoiree im Palais war Frau von Albedyll anwesend, er nicht. Ich saß mit ihr am kronprinzlichen Tisch. In den Zeitungen war bemerkt, Bronsart mache seinen Eintritt ins Ministerium abhängig von einer Veränderung der Stellung des Militärkabinetts und das habe Albedyll veranlaßt, sein Abschiedsgesuch einzureichen. Klingt nicht gerade unwahrscheinlich. Uns ist inzwischen die Notifikation von Kamekes Rücktritt, nicht aber die der Ernennung seines Nachfolgers zugegangen, was auch dafür spricht, daß noch Anstände zu beseitigen sind. Von Stosch soll gleichfalls sein Entlassungsgesuch eingereicht haben ‒ aus Gesundheitsrücksichten. 10. März. Bronsart hat heute seine Antrittsbesuche als Minister gemacht, nachdem heute früh das betreffende Zirkular seiner Ernennung eingegangen war. Er schien noch unter dem Eindruck der Überraschung, sich plötzlich auf diesen höchsten Posten gestellt zu sehen. Er faßte augenscheinlich die Stellung richtig auf, ohne ihre Schwierigkeiten zu unterschätzen. Mit Bismarck hatte er bereits konferiert und sich verständigt. Seine Ernennung datierte vom 3., obschon er sie erst am 8. erhalten und die erste Andeutung am 4. bekommen hat. Von Kameke, mit welchem ich heute ritt, ist gerührt über die vielen Beweise von Teilnahme. Bronsart habe den Kopf in die Schlinge gesteckt, sei dem Militärkabinett untergeordnet, ein Minister zweiter Klasse. (N. B. Bisher stand das Militärkabinett in der Armeerangliste als Abtei­ lung, das ist die Personalabteilung des Kriegsministeriums. Der Chef war also ein dem Minister untergeordneter Abteilungsdirektor. Von jetzt ab figu­ rierte es selbständig als Kabinett neben, respektive über dem Minister. Da Albedyll der dienstältere General war Bronsart gegenüber, so hat er offenbar das leicht durchgesetzt. So ist es seitdem geblieben und die Stellung des Kabinettchefs ist seitdem weit über die des Ministers an Einfluß und Bedeutung gewachsen.) 18. März. Stosch geht nun auch. Auf sein wiederholtes Abschiedsgesuch hat Se. Majestät seine Unzufriedenheit geäußert, daß er den Gehorsam verweigere und unter dem 16. mitgeteilt, er werde den Abschied erhalten. Als sein Nachfolger wird General Caprivi genannt. Da es noch harter Winter war, ritt ich regelmäßig in der Bahn des Kriegsministeriums 8 bis 9 Uhr vormittags, wo ich meist Stosch und Kameke traf. 235

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Beide doch etwas wund, nun in verschiedener Weise verketzert zu werden. Stosch klagte, daß man ihn als Liberalen in Verruf brächte und dem Kronprinzen eine möglichst konservative Umgebung zu schaffen suche. Er habe hauptsächlich sich bestrebt, ihn aus sich herauszubringen, und ihn mit gescheiten Leuten zu umgeben versucht. Bismarck war in dieser Zeit meist unwohl und wenig sichtbar. Scholz vertrat Bötticher augenscheinlich zu Bismarcks Zufriedenheit. 1. April. Zur Gratulation bei Bismarck, welcher recht angegriffen. Bezüglich der zahlreichen in letzter Zeit lancierten Projekte ‒ Verstaatlichung des Versicherungswesens, Hagel, Feuer u. s. w. ‒ meinte er, schnelle Erfolge, welche sich zu Akten der Gesetzgebung verdichteten, ermatte er gar nicht. Er sei zufrieden, sie angeregt und zur Diskussion gestellt zu haben. Er hatte in den letzten Wochen angeregt: Verbot, zwei Mandate anzunehmen, oder Stellvertretung, Verstaatlichung des Hagel- und Feuerversicherungswesens, Rekonstituierung des Staatsrats, und nach der Heftigkeit, mit welcher das geschah, konnte man allerdings nicht denken, daß das nur Anregungen zur Diskussion sein sollten. Umso besser, wenn es nur Anregungen gewesen sind! Er kam dann auf die Einberufung des Gerichtsrats Schröder in das landwirtschaftliche Ministerium als Hilfsarbeiter. Ich hatte ihn auf Empfehlung des Justizministers einberufen zur Bearbeitung der Verschuldungsfrage des Grundbesitzes als einen hoch qualifizierten Mann, ohne nach seiner politischen Richtung zu fragen. Inzwischen hatte eine mir bekannte Persönlichkeit Puttkamer darauf aufmerksam gemacht, daß Schröder bei den letzten Abgeordnetenwahlen in Danzig für Rickert gestimmt hatte, ohne sich aber agitatorisch hervorzutun. Ich hatte vergeblich versucht, Puttkamer zu bestimmen, die Sache zu ignorieren, vielmehr hatte er meinem Vorschlag widersprochen, Schröder zum vortragenden Rat zu ernennen. So war die Sache zu Bismarcks Kenntnis gekommen, und er ergriff die Gelegenheit, sie in sehr freundlicher Weise zu schlichten. Er sagte: Er spräche nicht von Minister zu Minister, sondern als alter Freund und verantwortlicher Redak­teur meines Postens. Man würde die Beförderung eines Freundes von Rickert deuten als ein Hinschielen auf ein Ministerium Gladstone, welches mit dem Thronwechsel eintreten könne oder vermutet würde. Man täusche sich in dem Kronprinzen; wenn er es erlebe und gesund genug sei, mache er sich anheischig, das zu verhindern. Ich hätte Schröder ruhig gehen lassen sollen, die Einberufung eines Hilfsarbeiters sei eine Probezeit, wie eine Verlobung, wo man sich auch nicht wundem dürfe, wenn sie zurückginge. Beim Militär sei man weniger rücksichtsvoll und fände die Grenze 236

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sehr schnell, wo der Dienst begönne. Er wolle zwischen Kollegen nicht Zwist anblasen, allein Puttkamer trage selbst in der Sache große Schuld. Er hätte den Oberpräsidenten Ernsthausen beseitigen müssen, welcher dem Schröder ein gutes politisches Zeugnis ausgestellt habe ‒ Knall und Fall. Ebenso wie auch den Oberpräsidenten Wolff wegen seiner wahnsinnigen Sonntagsheiligungs-Verordnung. Wenn er nächstens den Reichstag auflöste, werde diese Order uns in Sachsen zehn Mandate kosten! Das Vergnügen, was sich die armen Leute sonntags machten, hätten die Reichen alle Tage. Er sei nicht für den englischen Sonntag, und ein Oberpräsident, welcher dergleichen mache, müßte ausdrücklich hierfür zur Disposition gestellt werden. Sein Zorn entlud sich somit ganz aus Puttkamer, während er mir nur guten Rat gab, dessen Berücksichtigung er glaubte erwarten zu dürfen. Auf die Bemerkung, wir hätten jetzt oft im Staatsministerium uns zu trennen, meinte er: „Räumlich gewiß nicht.“ 11. April. Friedberg erklärte sich bereit, für Schröder zu sorgen, womit für mich diese Sache erledigt war. Puttkamer hatte schon seinerseits mit ihm die Sache besprochen und ihm dabei sein Herz ausgeschüttet über die mit Bismarck gehabte Konversation. Bismarck habe ihm so starke Dinge gesagt, daß er es auf der Zunge gehabt habe, seine Demission anzubieten, um nicht „gerommelt“ zu werden. Er könne Wolff nicht schroff desavouieren aus Rücksicht für seine Parteigenossen. 8. April. Empfing uns Se. Majestät in voller Uniform, um unsere (Scholz’ und ich) Danksagung entgegenzunehmen für die am 22. März erfolgte Dekorierung mit dem Roten Adler erster Klasse. Er setzte sich halb auf einen Tisch und klagte, daß er sich gar nicht wieder erholen könne. Er habe Schüttelfröste gehabt und man habe ihn mit warmen Tüchern reiben müssen, ehe er wieder warm geworden sei. Er dankte Scholz für seine gute Vertretung der Armee in dem Reichstag und sprach ausführlich über den Rücktritt Kamekes, welcher zu wenig getan habe, um unberechtigte Angriffe und Übergriffe zurückzuweisen. Alles, was die Kommandogewalt in der Armee betreffe, sei seine, nicht des Ministers Sache. Darein dürfe das Parlament nicht reden. Er ernenne die Offiziere ohne Rücksicht auf Religion und Adel. In der früher kleinen preußischen Armee seien alle Offiziere adlig gewesen und sie hätten unter den Hohenzollern die Armee geschaffen ‒ das sei eine Tatsache, wie einmal Graf Arnim-Boitzenburg als Minister gesagt habe. Die Angriffe auf die Gardeducorps und auf die Disziplin in der Armee seien Eingriffe in die Kommandogewalt. Betreffs des Militärpensionsgesetzes habe ihm Kameke zwei Kabinettsorderentwürfe vorgelegt, eine strengere und 237

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eine entgegenkommendere. Er habe sich für Erstere entschieden, und Kameke gab dementsprechend eine Erklärung im Reichstag ab, wo man das Gegenteil ermattet habe. Das habe Eindruck gemacht, und man habe das Gesetz in die Kommission zurückverwiesen, wo es sich noch befinde. Was daraus würde, wisse er nicht. Ob die Konzession, den alten Pensionären eine Erhöhung zu gewähren, wirken würde, stehe dahin. Auf Scholz‘ Bemerkung, diese Konzession werde nur von den Freunden des Gesetzes geschätzt werden und keine neuen Stimmen gewinnen, dagegen würde leicht eine Erhöhung des allerhöchsten Dispositionsfonds aus dem Reichsinvalidenfonds zu bewerkstelligen sein, meinte Se. Majestät: Er habe schon damals nicht verstanden, warum man diesen Fonds so übermäßig hoch dotiert habe, da ja die Berechtigten doch abstürben, ohne Kapital und Zinsen zu konsumieren. Scholz meinte: Die Revenuen gingen zurück durch die zahlreichen Konvertierungen, welche stattfänden, und wenn schließlich sechzig Millionen übrig blieben, so könne das für manche Fälle nützlich sein. Auf meine Andeutung, man habe damals im Reichsinvalidenfonds einen zweiten, zinsbar angelegten Kriegsschatz gesehen, meinte Se. Majestät, den Gedanken habe der Kanzler nie ausgesprochen, aber er gefiel und frappierte ihn. Se. Majestät unterhielt sich etwa zwanzig Minuten recht lebhaft mit uns und besann sich nur gelegentlich auf ihm fernerliegende Gegenstände, körperlich war er noch etwas herunter, aber geistig frisch. Nachher sprach ich Friedberg, welcher erzählte, daß Stosch Se. Majestät schwer gekränkt habe durch seinen politischen Brief und dadurch, daß er, zur Abschiedsaudienz befohlen, sich entschuldigt habe mit dem Umstand, die Uniform schon weggeschickt zu haben. Eine damals von Friedberg niedergeschriebene aktenmäßige Darstellung der Krisis Stosch-Kameke lasse ich folgen. Abs chiedsgesuch der Minister von Kameke und von Stosch: Dem Reichstage war in der Wintersession 1883/84 der Entwurf eines Militärpensions- und Reliktengesetzes vorgelegt worden. Derselbe gab Anlaß, die Frage der „Kommunalbesteuerung der Militärpersonen“ mit in den Kreis der Beratung zu ziehen und wenn nicht eine vollkommene Aufhebung, wenigstens eine Verminderung der den Militärpersonen nach der bestehenden Gesetzgebung auf diesem Gebiete zustehenden Exemptionen zu verlangen. Der Kriegsminister von Kameke glaubte, diesem Verlangen nicht jede Berechtigung absprechen zu können, und erwies sich darum einer mäßigen Konzession nach dieser Richtung hin nicht abgeneigt. 238

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Im Militärkabinett vertrat General von Albedyll die Meinung, daß auch die geringste Nachgiebigkeit in dieser Steuerfrage vermieden werden müsse, und am 3. Februar 1883 richtete der Kaiser ein Handschreiben an den Kriegsminister, in welchem er diesem zu erkennen gab, daß eine Abänderung des bestehenden Rechtszustandes zu Ungunsten des Militärs für unzulässig erachtet werde, der Minister derselben deshalb entgegentreten müsse und darauf hinzuweisen habe, daß dem Reichstag keine „Einmischung in Kommandoangelegenheiten“ zustehe und auch der Kriegsminister eine „verantwortliche Mitwirkung in Kommandoangelegenheiten nicht besitze“. Schon vor dem Erlaß dieses Handschreibens hatte der Kaiser die Frage mit den eigens zur Beratung derselben einberufenen Herren: Grafen Moltke, General von Pape, General von Albedyll und den Ministern von Kameke und von Stosch diskutiert ‒ 22. Januar ‒ und bei dieser Beratung hatte sich nur von Stosch der von dem Kriegsminister vertretenen Ansicht auf Nachgiebigkeit angeschlossen, während die Übrigen die strenge Auffassung des Kaisers, daß jede Konzession zu vermeiden sei, geteilt hatten. Der Kaiser erachtete es bei der zwischen ihm und seinem Kriegsminister obwaltenden Meinungsverschiedenheit für geraten, die Meinung des Reichskanzlers zu vernehmen, und forderte diesen in einem an ihn unter dem 22. Februar gerichteten Schreiben auf, sich über dieselbe zu äußern. Dieser antwortete, und zwar in seiner Eigenschaft als „verantwortlicher Reichsminister“, daß er mit der Auffassung des Kaisers einverstanden sei, übrigens der Kriegsminister sich mit ihm über die Angelegenheit niemals in Verbindung gesetzt habe. In einer Sitzung des Reichstags nahm der Kriegsminister Veranlassung, eine Erklärung im Sinne des Kaisers abzugeben; der Gesetzentwurf wurde in eine Kommission verwiesen und der Reichstag vertagt (12. Februar). Während der zwischen der Vertagung und der Wiederaufnahme der Reichstagsverhandlungen eingetretenen Pause empfing der Kriegsminister ‒ am 24. Februar ‒ abermals ein Schreiben des Kaisers, in welchem ihm mit eindringlichen Worten von Neuem empfohlen wurde: bei der nächsten sich darbietenden Gelegenheit im Reichstage zu betonen, daß er als Kriegsminister in Angelegenheiten der Armee wohl über Verwaltung und Gesetzgebung mitzusprechen habe, ihm aber „in Kommandoangelegenheiten“ eine Einwirkung irgendwelcher Art nicht zustehe; die Abgabe einer solchen öffentlich im Reichstage abzugebenden Erklärung sei notwendig, damit in der Armee kein Zweifel darüber aufkomme, „w e r a l l e i n ü b e r s i e z u b e f e h l e n h a b e “! 239

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Von Kameke glaubte in diesem kaiserlichen Erlaß eine Mißbilligung seiner in dieser Frage vor dem Reichstage bisher eingenommenen Stellung und ein gewisses Mißtrauen über seine zukünftige Haltung erkennen zu müssen und beantwortete den allerhöchsten Erlaß durch Einreichung seines Abschiedsgesuchs ‒ 26. Februar. Der Reichskanzler, durch den Kaiser davon in Kenntnis gesetzt, berichtete tags darauf bereits an diesen: „Er erachte die Annahme des Entlassungsgesuchs für angezeigt,“ erklärte es aber gleichzeitig für erwünscht, daß Herr von Kameke ein Armeekommando erhielte. Ein solches lag nicht in seinen Wünschen, und so erhielt er am 3. März die nachgesuchte Entlassung. Herr von Stosch, der in der fraglichen Angelegenheit von Anfang an mit Herrn von Kameke Hand in Hand gegangen war, glaubte, nachdem der Kaiser die Entscheidung im entgegengesetzten Sinne getroffen hatte, nun auch seinerseits nicht länger im Dienste bleiben zu können, und reichte vier Tage später ‒ 7. März ‒ gleichfalls ein Entlassungsgesuch ein. Der Kaiser beantwortete dasselbe durch ein Handschreiben vom 11., in welchem er seine Überraschung über den von Herrn von Stosch getanen ‒ und durch nichts motivierten ‒ Schritt aussprach und die Gewährung des Gesuchs rundweg ablehnte. Von Stosch aber legte dagegen in einem ausführlichen Bericht die Gründe, aus welchen er zu dem Gesuche gekommen sei und aus welchen er dabei beharren müsse, dar und erhielt darauf gleichfalls den erbetenen Abschied. Der Kaiser, dem die stattgehabte Krise im hohen Grade verdrießlich war ‒ das letzte Schreiben des Ministers von Stosch nannte er „eine Art von politischem Glaubensbekenntnis“ ‒, sah sich veranlaßt, an das Staatsministerium einen von keinem Minister kontrasignierten Erlaß am 3. April 1883 zu richten, durch welchen dasselbe über die Veranlassung des Ausscheidens der Minister von Kameke und Stosch „näher informiert werden solle, damit jedes Mitglied des Ministeriums die Angelegenheit genau kennen, zugleich aber auch die Gesichtspunkte kennen lerne, welche Se. Majestät im Verlauf derselben als Seine Ansicht und Sein Wille aufgestellt habe und welche Er überall beachtet und erforderlichenfalls vertreten wissen wolle“. Dem allerhöchsten Erlaß war überdies eine besondere „Zusammenstellung“ über den Gang und den Verlauf, den die Angelegenheit genommen hätte, beigefügt. Dieselbe schloß mit der Bemerkung: sie sei, soweit sie den Minister von Stosch beträfe, ausschließlich zwischen diesem und Sr. Majestät allein verhandelt worden. Alles, was darüber hinaus in die Öffentlichkeit gekommen sei, beruhe auf Erfindung. 240

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Weiter erzählte Friedberg: Bismarck habe vom Kronprinzen eine Geburtstagsgratulation erhalten und diese noch am selben Tage mit einem vier Seiten langen eigenhändigen, meisterhaften Dankschreiben erwidert. „Beglückt samt seiner ganzen Familie über die Huld des Kronprinzen. Er danke für die Wünsche für gute Gesundheit, welche er wohl brauchen könne. Wenn er sie hätte, würde er sie im Dienst des Reichs verbrauchen, um es zu festigen durch gute Finanzen. Nicht an dem guten Willen der Fürsten und Regierungen scheiterten seine Pläne, sondern an der Torheit der Parlamente. Er wünsche das Reich zu festigen für die große europäische Krisis, welche sich vorbereite.“ ‒ Es sei eine Art großartiges, politisches Testament, dabei voll Deferenz und Courtoisie gegen den Kronprinzen. Bismarck habe augenscheinlich einen großen Coup mit Italien zuwege gebracht ‒ eine Allianz mit ihm neben Österreich für friedliche defensive Zwecke. Das sei auch eine Lieblingsidee des Kronprinzen und er vermute, die Sache sei direkt von Bismarck entriert, ohne Intervention der Gesandten Keudell und Schlözer. Das wäre auch eine Erklärung dafür, daß die Verhandlungen mit der Kurie stocken. 13. April. Fürst Bismarck hat durch Dietze im Reichstag verbreiten lassen, er sei geneigt, die Spendung der Sakramente freizugeben, das heißt den Antrag Windthorst, welchen Puttkamer-Goßler bisher bekämpft haben, anzunehmen. Die Mitteilung hat wie ein Donnerschlag auf Freund und Feind gewirkt. Windthorst ist starr gewesen. Das würde ja die ganze Situation ändern. Bennigsen hat (am 11. April) eine Audienz von fünf Viertelstunden beim Kanzler gehabt, vermutlich um diesen verhängnisvollen Schritt zu verhüten. Goßler ist ebenso überrascht gewesen, da er noch kurz vorher dem Kanzler dringend von einem solchen Schritt abgeraten hatte. Er hatte ihn als unausführbar bezeichnet und geglaubt, mit seinen Argumenten einen gewissen Eindruck gemacht zu haben. Unklar ist noch, ob eine Mystifikation vorliegt oder die Absicht, Zentrum und Nationalliberale kirre zu machen für Holzzölle und Pensionsgesetz. Vielleicht unterschätzt Bismarck auch die Tragweite seiner Äußerungen und lanciert sie im Unmut über die nicht ohne seine Schuld verwirrten parlamentarischen Verhältnisse. Man ist ja an und für sich geneigt, in jedem solchen Anlauf weitsichtige Pläne zu sehen, allein auf parlamentarischem Gebiet haben wir doch letzter Zeit auch erhebliche Mißerfolge erlebt. Von Goßler erzählte in dem gestern in Abwesenheit des Fürsten gehaltenen Ministerrat den Hergang und gab ihm vorstehende Deutung. Er nahm seiner ganzen Art nach die Sache sehr ernst und sah sich selbst vor die wichtigsten persönlichen Entscheidungen gestellt. Das von ihm dem 241

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Fürsten überreichte Gegenexposé teilte er uns nicht mit, Puttkamer aber meinte, es sei vernichtend gewesen für die Idee des Fürsten und habe wohl seines Eindrucks nicht verfehlt. Dieses isolierte Vorgehen des Fürsten, ohne den Ressortminister oder das Staatsministerium zu hören, ist allerdings bedenklich, aber nicht gerade ohne Präzedenzien. Inzwischen habe ich im Reichstag die Vorlagen betreffs Erhöhung der Holzzölle und der Rübensteuer mit einigem Erfolg vertreten. Bezüglich der Ersteren erfolgte die Verweisung an eine Kommission mit 136 gegen 135 Stimmen! Die Weitervorberatung in pleno wäre gleichbedeutend gewesen mit der Ablehnung mit großer Mehrheit, denn die Polen und Freihändler wie Flügge und Unruh-Bomst stimmten für Kommissionsberatung, während sie Gegner der Erhöhung sind. 15. April. Gestern ist durch Scholz eine allerhöchste Botschaft an den Reichstag verlesen worden, kontrasigniert Bismarck, welche an das Pflichtgefühl appelliert und Erledigung des Etats und der Krankenkassenvorlage fordert, um den nächsten Winter frei zu machen für die Alters- und Inva­ lidenversorgung. Die Botschaft ist mit achtungsvollem Schweigen aufgenommen worden. Die Presse hält sie für nicht recht motiviert, es ist auch wohl fraglich, ob der Einsatz im richtigen Verhältnis steht zum möglichen Gewinn. Es ist die dritte Botschaft in Jahresfrist und wird allmählich die Form, in welcher Bismarck mit dem Parlament verkehrt. Der Effekt, daß der Reichstag den Etat erledigt, wäre wohl auch ohne die feierliche Form der Botschaft erreichbar gewesen. Der Erlaß der zwei untersten Klassensteuerstufen wird als ein großer Triumph gefeiert, während dergleichen Vorschläge der Regierung kaum abgelehnt werden können vom Parlament. Fürst Bismarck promeniert wieder in seinem Park und befindet sich besser. 18. April. Der Großherzog von Mecklenburg, ein höchst patriotischer Herr und treuer Freund und Verehrer Sr. Majestät, ist, noch nicht sechzig Jahre alt, gestorben. Kurz vor seinem Tod hat er gesagt: „Witzendorff, wenn ich tot bin, melden Sie Sr. Majestät, daß die zweite Armeeinspektion vakant ist.“ 20.  April. Im Abgeordnetenhaus täglich Geschäftsordnungdebatten. Bennigsen gibt zu, dem Fürsten abgeraten zu haben, Frieden zu schließen. Die Konservativen wollen den Antrag Windthorst ablehnen und der Regierung zur Erwägung empfehlen: im Wege autonomischen Vorgehens die Härten der Maigesetzgebung zu beseitigen, da die Verhandlungen mit Rom nicht zum Ziele führten. 25. April. Heute findet Beratung und Abstimmung über den Antrag Windthorst und sonstige vorliegende Resolutionen statt. Wir, das heißt die Minis­ 242

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ter, welche Mitglieder des Abgeordnetenhauses sind, verabredeten, nicht teilzunehmen, weil Verhandlungen schwebten, weil keine der eingebrachten Resolutionen völlig unserer Ansicht entspreche und weil man über des Fürsten schließliche Intentionen nicht unterrichtet sei. 27. April. Nach einer Rede Goßlers, welcher von allen Resolutionen abriet, wurde der Antrag Windthorst abgelehnt, aber eine abgeschwächte Resolutton, „organische Reform“, angenommen durch die Stimmen von Zentrum, Konservativen, Demokraten u. s. w. Bismarck macht Witze über die „organische“ Reform ‒ ebenso gut könne man sagen „amerikanische“ oder „australische“ Reform ‒ und schimpft über die kurzsichtigen Hochkirchlichen, welche überhaupt jetzt den Zeitpunkt für geeignet halten, friedensbedürftige Resolutionen einzubringen. Folge­ dessen sind Zentrum und Konservative im gleichen Maß verstimmt. Ob die Verwaltungsgesetze, wie Puttkamer zuversichtlich hofft, unter diesen Umständen zustande kommen, ist auch zweifelhaft. Bennigsen soll ein Zustandekommen durch eine konservativ-klerikale Majorität wünschen und in Aussicht stellen, den Reichsetat in drei Tagen zu erledigen, wenn von allen Neu- und Mehrforderungen abgesehen werde. Das wäre für die Regierung völlig akzeptabel. 3. Mai. Beim Kanzler zur Besprechung über die Holz- und Zuckervorlage. Er war sehr matt und sah recht angegriffen aus, klagte über heftige Gesichtsschmerzen, welche nur bei „slight intoxication“ wichen. Er ließ eine halbe Moët kommen, um sich zu erfrischen. Die besprochenen Geschäftssachen gaben zu Differenzen keinen Anlaß. Er freute sich über die blühende Zuckerindustrie und wünschte ihren Flor zu erhalten, selbst unter Opfern der Staatskasse. „Er sei ganz unbeteiligt und ganz unbefangen. Von Neid besitze er keine Spur und freue sich über jeden reichen Mann, während die Geheimräte solche haßten!“ In Sachen des mein Ressort nicht berührenden Pensionsgesetzes lehnte er schroff jede Konzession wegen Heranziehung des Privatvermögens der Offiziere zur Kommunalbesteuerung ab. Selbst wenn das von Sr. Majestät befohlen würde, so werde er es nicht annehmen und ausführen. Nachdem er gehört habe, daß Kameke wochenlang diese Konzession empfohlen habe, werde er ihn in Pommern nicht besuchen. Warum den zweihundert Städten, welche schon den Vorteil der Garnison hätten, noch ein besonderes Geschenk machen? Ob die alten Generale mehr Pension erhielten, sei ihm gleichgültig. 10. Mai. Wir ziehen nun die Bilanz unserer parlamentarischen Taktik und erleiden Niederlage auf Niederlage. Am 7. ist trotz heftigen Widerspruchs 243

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von Scholz und Bronsart der ganze Etat an die Budgetkommission verwiesen worden. Eine üble Antwort auf die kaiserliche Botschaft, welche Beschleunigung der Arbeit empfahl. Am 8. wurden die Holzzölle mit 177 gegen 150 Stimmen abgelehnt. Die Entscheidung schwanke, solange die Polen zweifelhaft waren. Sie waren von Anfang an entschlossen, dagegenzustimmen, mit Rücksicht auf ihre in Rußland und Österreich gelegenen Besitzungen, und gaben sich nur den Anschein, zu zweifeln, um auf anderen Gebieten Zugeständnisse zu erreichen. Den kürzlich in Posen ergangenen Erlaß in der Sprachenfrage haben sie dann zum Anlaß genommen, gegenzustimmen. Endlich hat die Kommission für das Unfallversicherungsgesetz mit großer Mehrheit beschlossen, den Reichszuschuß zu streichen, also den Hauptpunkt gegen Bismarck zu entscheiden, der schon vor drei Jahren den Großindustriellen Stumm bestimmte, auf ein Mandat zu verzichten. Dazu Monopol und zweijährige Etatsperiode ‒ somit sind alle Projekte Bismarcks, für welche die kaiserliche Autorität ins Feuer geführt wurde, gescheitert. Von Franckenstein fand das provokante Auftreten von Scholz-Bronsart im Pensionsgesetz sehr unglücklich und sah für das Zustandekommen gar keine Chance. So ist Freund und Feind verstimmt und die längste bisher da gewesene Reichstagssession endet ohne jedes Resultat! 14. Mai. Während der europäische Himmel sehr friedlich aussieht und parlamentarische Pfingstruhe herrscht, bringt fast jede Nummer der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung Hetzartikel gegen die Liberalen und Liebkosungen der Agrarier. Bismarck hält sich ganz zurückgezogen und hat seit langer Zeit keinem Ministerrat beigewohnt. Puttkamer erkennt allmählich auch, daß Bismarck die Verwaltungsgesetze gar nicht wünscht. Neulich Diner bei Sr. Majestät, wo er sich sehr befriedigt äußerte über die Aufnahme, welche Prinz Wilhelm in Wien gefunden habe. Er sei mit fabelhaftem Enthusiasmus empfangen worden ‒ zwar sei es ihm selbst dort auch so gegangen zu seinem Erstaunen ‒, als habe man dort 1866 ganz vergessen. Prinz Wilhelm sei dem Kaiser von Österreich persönlich sympathisch. Prinz Wilhelm sei ernst, tüchtig, habe große Jagdpassion und sei auch politisch ganz sicher und korrekt. Se. Majestät sprach besonders lange und freundlich mit mir. 31. Mai. Wir haben soeben, gewiß fast seit Jahresfrist, die erste vertrauliche Besprechung des Staatsministeriums unter Bismarcks Vorsitz gehabt. Er ist recht gealtert, Gesicht weiß und eingefallen, Leib aufgeschwemmt. Klagt über fortwährende Magenbeschwerden, auch bei Nacht, welche Professor 244

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Frerichs seit sechs Monaten vergeblich mit Opium behandelt. Über Gesichtsschmerzen klagt er weniger. Er hatte die Sitzung wahrscheinlich auf Goßlers Wunsch berufen, welcher Direktive für seine Kirchenpolitik verlangt. Die letzte päpstliche Note bezeichnet er als kalt und trocken, wie man von oben herab zu einem Vasallen spricht, oder wie ein Lehrer, welcher an einer Schülerarbeit Kritik übt. Man könne nicht weiterverhandeln, was an sich in den Konkordatsumpf führen könne. Ein Konkordat binde außerdem nur eine Seite, und Se. Majestät habe eine lebhafte Abneigung. Dagegen müsse man nun ohne Weiteres das tun, was zur Befriedigung des religiösen Bedürfnisses der eigenen Untertanen erforderlich sei. Ob man nicht ganz auf die Anzeigepflicht verzichten könne? Ob man nicht ohne Weiteres alles reichlich geben solle, was mit dem Existenzminimum des Staats vereinbar sei? Es müßte möglichst viel scheinen und möglichst wenig sein. Von Goßler hatte im Eingang der Sitzung einen Gesetzentwurf verteilt, welcher in drei knappen Paragraphen die Hilfsgeistlichkeit von der Anzeigepflicht befreit und damit dem dringendsten Bedürfnis der Seelsorge Abhilfe verschafft. Bismarck entwickelte jene Gedanken, weiter aussprechend, daß der katholische Wähler belehrt werden müßte, um ihn vom Zentrum loszumachen. Man könne keine stramme Kirchenpolitik machen, seitdem man bei den Liberalen eine so laue Unterstützung finde. Sie hätten sich nur auf die Schultern der Regierung gestellt, um ihre Fraktionspolitik zu machen. „Seitdem der Spannnagel Bennigsen gebrochen sei, könne er dem Zentrum keinen Widerstand mehr leisten.“ Friedberg wies auf die letzten kaiserlichen Noten hin, welche die Anzeigepflicht bei den bepfründeten Geistlichen als eine Ehrensache bezeichneten. Bismarck ging über den Einwand leicht hinweg, hatte die Sache vielleicht nicht in genauer Erinnerung und betonte, daß er sich in dieser Frage lieber nach links schieben lassen werde und eher mit den Liberalen ein Gesetz machen wolle, als den Konservativen im Verein mit dem Zentrum die Führung in die Hand zu geben. Uns schien kein Grund zur Eile, unmittelbar nach Empfang jener groben Note mit einer entgegenkommenden Vorlage vorzutreten, aber der Grundgedanke, die Gewissensnot und die religiösen Bedürfnisse der eigenen Untertanen durch autonome Akte der heimischen Gesetzgebung zu befriedigen, leuchtete allen sehr ein. Der Kabinettsrat von Wilmowski erzählte, daß der Vorschlag des Staatsministeriums, Herrn von Kleist-Retzow das Exzellenzprädikat zu geben, an allerhöchster Stelle unangenehm berührt habe, doch habe man dem Bericht 245

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nicht entgegenhandeln wollen. „von Kleist habe als Oberpräsident Unfug genug angerichtet.“ Auch der Kronprinz sei darüber ungehalten gewesen und habe es als seinen Eltern zugefügten Affront bezeichnet. Das Staatsministerium hatte dem Vorschlag Puttkamers widerstrebend zugestimmt in der Meinung, einen Wunsch Bismarcks zu erfüllen und den allerhöchsten Intentionen zu begegnen. Die neue Vorlage hat alle überrascht und das Zentrum teilweise decontenanciert, weil sie mehr bietet, als es erwartet hatte, und anderseits die Konkordatsaussichten schwächt. Sie suchen daher auch alle möglichen Ausstellungen vor, um noch mehr zu erreichen, oder das Gesetz von den anderen Parteien gegen ihre Stimmen beschließen zu lassen. Die Liberalen sind zwar ärgerlich über das bewiesene Entgegenkommen, aber sie stimmen schließlich wohl zu, weil sie nicht hinter der Regierung zurückbleiben wollen und auch den Frieden wünschen. So ist der Gesamteindruck dieses nicht unbedenklichen Schritts über Erwarten günstig. Wenn Bismarck jetzt dabei bleibt, sich nicht weiter drängen läßt, sondern die Vorlage von einer liberal-konservativen Majorität ‒ unter Zustimmung des Zentrums oder ohne sie ‒ bekommt, so kann sich der Schritt als ein ganz glücklicher erweisen. Bismarck ist eben der Einzige, welcher eine solche Vorlage machen kann, ohne sich dem Vorwurf der Schwäche auszusetzen. Der Kronprinz ist anfangs sehr ärgerlich gewesen und verletzt über Kleist-Retzows Auszeichnung. Puttkamer scheint hiervon keine Ahnung gehabt und nach landsmannschaftlicher Sympathie gehandelt zu haben. Bennigsen3 ist vor einigen Tagen beim Fürsten gewesen, um den Schluß des Reichstags vor erledigter Etatsberatung zu verhüten. Bismarck hat ihm aber ein Sündenregister der nationalliberalen Partei vorgehalten und ihn gänzlich abgewiesen. Inzwischen geht nun die Etatsberatung schnell vorwärts und kann in wenigen Tagen beendet sein. Damit wäre faktisch eine zweijährige Etatsperiode erreicht ‒ also wenigstens ein Erfolg der letzten kaiserlichen Botschaft! Bismarck befindet sich jetzt in Behandlung des Dr. Schweninger, welcher den Zustand bedenklich findet und eine sehr strenge Diät anbefohlen hat. Inzwischen behandelt Frerichs ihn nebenher, seine Pillen aber werden fortgeworfen. Es war der Ausgangspunkt der Behandlung Schweningers, dessen Weisungen der Fürst anfänglich widerstrebend und gelegentlich gar nicht folgte. 3

Bennigsen legte bald darauf seine Mandate nieder, was große Sensation in der politischen Welt machte und Bismarck sehr leidtat.

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Allmählich gewann aber Schweninger eine solche Autorität über seinen Patienten, daß er ganz gefügig wurde und die lästigen diätetischen Vorschriften befolgte, weil er sich durch die Erfahrung über ihre Wirksamkeit belehrte. Nach Diätfehlern erlitt Bismarck schwere Rückfälle und überzeugte sich mehr und mehr von der Richtigkeit des schweningerschen Regimes. Dr. Schweninger hat die Behandlung des Fürsten bis zu dessen am 30. Juli 1898 erfolgtem Tod sich zur Lebensaufgabe gemacht und sie mit größter Hingabe und Aufopferung mit großem Erfolg erfüllt. 2. Juli wurde der Landtag geschlossen, nachdem auch das Herrenhaus die kirchenpolitische Vorlage angenommen hatte. Goßler hatte seine Sache sehr wirksam vertreten und konnte befriedigt auf die Session zurückblicken. Er fürchtete, daß trotz der versöhnlichen Haltung der Regierung die Bischöfe unter Melchers’ Führung sich versammeln und den friedlichen Effekt des letzten Akts der Gesetzgebung stören würden. Man sah darin weniger die Aktion des friedlich gesinnten Papstes als den Einfluß Windthorsts auf die jesuitisch gesinnte Umgebung desselben. Goßler wünschte daher freundliche Kundgebungen aus katholischen Kreisen zu Gunsten der Regierung. Die letzte päpstliche Note ‒ französisch abgefaßt ‒ wurde im Staatsministerium verlesen. Sie beklagte sich über das einseitige (unilaterale) Vorgehen der preußischen Regierung und verlangte Fortsetzung der Verhandlungen. Anerkannt wurde dabei der friedliche Charakter dieses Vorgehens. Zur Voraussetzung der Erfüllung der Anzeigepflicht wurde gemacht „die Freigebung der Ausbildung der Geistlichen und der Jurisdiktion der Kirche“. Was unter letzterem jeder Ausdehnung fähigen Begriff gemeint war, vermochte niemand zu sagen. Man glaubte, den Einfluß Windthorsts in dieser Forderung zu sehen, die alles in Frage stellte. Der Ton ist wie in der früheren anmaßend. Beide sollen in der Fassung eigenstes Werk des Papstes sein, welcher ein passionierter Journalist ist von literarischen Bestrebungen. Die Kardinäle Franzelin, Nina, selbst Ledochowski sollen gegen diese Kundgebung gewesen sein, welche ein Sieg des Einflusses der intransigenten Jesuitenpartei sein soll. Bismarck, welcher infolge eines Diätfehlers einen Anfall von Gelbsucht bekommen hat, ist nach Friedrichsruh gereist. Er hat nach der Reise gut geschlafen und mit Appetit gegessen. Dr. Schweninger empfiehlt eine Kur in Kissingen. 22. Juli. Der Gesandte von Schlözer war hier und erzählte, daß er sich beim Fürsten gemeldet habe, aber noch nicht dahin entboten sei. Er war der Meinung, daß mit den jetzt gemachten kirchlichen Konzessionen das Äußers­te getan und vorläufig wenigstens lediglich abzuwarten sei. Insbesondere 247

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sprach er sich gegen weitere Konzessionen auf dem Gebiete der Schule aus. Dem Vatikan sei die Gewissensnot der ohne Empfang der Sakramente sterbenden deutschen Katholiken ganz gleichgültig. In Rom erstrebe man nach wie vor den Abschluß eines Konkordats und sei darum empfindlich über das einseitige autonome Vorgehen Preußens. Anderseits werde gerade dieses Vorgehen als großartig bewundert. Schlözer gilt als ein guter Kenner römischer Verhältnisse, spricht fertig Italienisch und steht in intimen freundschaftlichen Beziehungen zu hohen Prälaten; er hielt sich in Rom bisher als Privatmann auf und seine Verhandlungen hatten einen streng vertraulichen Charakter. Auch er war der Meinung, daß der Fürst zu dem letzten, weit entgegenkommenden Schritt lediglich durch die Rücksicht auf die Gewissensnot der heimischen Katholiken bestimmt worden ist. 20. Juli. Bismarck ist direkt von Friedrichsruh nach Kissingen gefahren. 19. August. Taufe des zweitgeborenen Sohns des Prinzen Wilhelm. General von Caprivi, Nachfolger Stoschs als Chef der Admiralität, klagt über das Übergewicht des Militärkabinetts gegenüber dem Kriegsminister. Sieht einen Krieg mit Rußland an wie ein unabwendbares Verhängnis, was nur unglückliche Folgen für beide Teile haben könne. Ein Krieg ohne Objekt, welcher nur feindliche Gefühle und Verwilderung beider Nationen zur Folge haben könne. Er sagt wie Moltke, auch im Fall des glücklichen Ausgangs eines solchen Kriegs werde man nicht wissen, was man fordern solle, Land könnten wir nicht brauchen, und Geld hätten die Russen nicht. Leider ist diese Auffassung in militärischen Kreisen sehr verbreitet und insofern eine Gefahr, als sich Gedanken festsetzen, welche gar nicht begründet sind, aber dann doch als Tatsache gegebenenfalls wirken können. Es ist eben die Aufgabe der Diplomatie, den an sich durch kollidierende Interessen nicht bedingten Krieg à tout prix zu vermeiden, wie es Bismarck konsequent getan hat. 17. August. Eine Depesche des Grafen Herbert Bismarck aus London vom 9. August gibt ein mit dem französischen Botschafter Waddington gehabtes Gespräch wieder, worin Waddington dem Kanzler völlige und baldige Genesung wünscht, weil er in ihm die größte Friedensgarantie sehe. Er habe die Stellung eines Schiedsrichters in Europa und kein anderer nach ihm werde eine ähnliche Position haben. Waddington erkennt die weise, friedliche Politik an, welche der Kanzler seit dem französischen Krieg geübt habe. St.-Vallier (der frühere hiesige Botschafter) und er seien die einzigen französischen Diplomaten, welche das unumwunden anerkennten und aussprächen, daß es ganz in der Hand Frankreichs läge, mit Deutschland in Frieden zu leben. Das käme daher, daß sie beide den Vorteil gehabt hätten, mit dem Kanzler 248

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in längerem persönlichen Verkehr zu stehen. „Meine feste Überzeugung ist, daß, solange Bismarck am Ruder bleibt, wir uns unbedingt auf die Loyalität Deutschlands verlassen können ‒ ‚et je tache de faire des écoliers‘. Wenn der Kanzler aber einst sein Amt niederlegt, so werden stürmische Zeiten für Europa kommen; ich kann nur mit Sorge und Beklemmung daran denken. Die jetzt in den Schranken gehaltenen Begehrlichkeiten stets unbefriedigter Nationen werden dann zum Ausbruch kommen und die kleinen Geister, welche sie anfachen, um ihre persönliche Herrschsucht und Eitelkeit zu befriedigen, werden überall ihr Haupt erheben. Dann wird man erst erkennen, von welchem unschätzbaren Wert für den Frieden und das Gedeihen der Völker die jetzige deutsche Politik ist.“ Eine merkwürdig unbefangene Beurteilung Bismarcks seitens eines Gegners! Im weiteren Verlauf der Konversation hatte Waddington, von einer Reise nach Rußland zurückgekehrt, sein Bedauern und seine Verwunderung ausgesprochen, daß ein Mann wie Graf Schuwaloff jetzt zu Hause ganz ohne Ansehen und Einfluß sei. Kein Mensch dächte mehr an ihn in St. Petersburg und er sei als Sündenbock für den Berliner Kongreß geopfert worden. 15. September. Provinzialständefest in Merseburg aus Anlaß der Königsmanöver. Ich saß Sr. Majestät schief gegenüber und der hohe Herr war sehr munter und gesprächig. Die Fürsten von Anhalt, Koburg, Rudolstadt waren anwesend, ferner der Kronprinz und Prinz Friedrich Karl; Prinz Wilhelm hatte sich wund geritten und erschien nicht. Später Amtsrat Dietze getroffen, welcher den Fürsten Bismarck in Kissingen gesehen hat. Das Befinden habe sich durch den Kurgebrauch gebessert, den gleichfalls dort anwesenden Kardinal Howard habe der Fürst nicht gesehen, wohl aber habe Graf Herbert mit ihm verkehrt. Einen Auftrag habe Howard nicht gehabt. Über die vom Oberpräsidenten von Wolff erlassene Verordnung betreffs der Sonntagsheiligung sei der Fürst sehr erbittert gewesen. Sie habe ihm in der ihm ergebensten Provinz alle Anhänger entzogen und werde bei etwaigen Wahlen der Regierung zahlreiche Stimmen kosten. 19. September. Se. Majestät gab die geplante Fahrt nach Halle, wo seit Monaten geschmückt und für den feierlichen Empfang gerüstet worden war, Ermüdung halber auf. So fuhr der Kronprinz in Vertretung seiner mit kleinem Gefolge, dem ich mich angeschlossen hatte, dorthin. Es waren Prinz Albrecht, Graf Stolberg, von Wolff, von Wilmowski, Graf Wintzingerode. Die Stadt hatte große Anstrengungen gemacht, alle Straßen waren geschmückt, voll Menschen. Ehrenjungfrauen in malerischen alten Kostümen, Halloren etc. 249

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Der Kronprinz ließ im Schritt durch die Straßen fahren, war evident verstimmt, aber beherrschte sich und trat sehr freundlich auf. Er erledigte das ganze Festprogramm, erwiderte die Ansprachen, besuchte die Kinderabteilung der neuen chirurgischen Klinik und lehnte nur das solenne Frühstück ab. Er fühlte, daß den Hallensern das Nichterscheinen des Kaisers doch eine große Enttäuschung war, umso mehr, als in Halle die Meinung verbreitet war, es herrsche bei Sr. Majestät noch eine gewisse Verstimmung von wegen der schlechten Haltung der Einwohnerschaft im Jahre 1848. Tatsache war, daß seitdem der König Halle nicht mehr betreten hatte. Man hatte also in dem Besuch eine Art Versöhnungsfest gesehen; der Grund war aber lediglich, daß Se. Majestät beim Reiten oder Einsteigen in den Wagen eine Art Quetschung der Blase erlitten und blutig uriniert hatte, was die Leibärzte veranlaßte, einen Ruhetag zu verordnen. Wie nach dem Tode Sr. Majestät 1888 konstatiert wurde, litt er an Bildung von Blasenstein, was damals nicht bekannt war. Es wurde ein taubeneigroßer Stein in der Blase gefunden. Der Kronprinz, welchen die Enttäuschung des Publikums drückte, meinte: „Der Kaiser hätte lieber einen Manövertag aufgeben sollen.“ 27. September. Fest im Palmgarten in Frankfurt zu Ehren Sr. Majestät und der ihn begleitenden Fürstlichkeiten. Oberbürgermeister Miquel hielt einen zündenden Toast, welchen Se. Majestät sehr schön beantwortete. 28. September. Niederwaldfest bei unsicherem Wetter, aber großartig gelungen durch das Ensemble der Feier und durch die prächtige, schlichte Rede des alten Kaisers. Es war eine würdige, unvergeßliche Feier! Gewissermaßen der feierliche Schlußakt des großen französischen Krieges. Gerade wie der Kaiser anfing, zu sprechen, brach ein Sonnenstrahl durch die Wollen und auch die zu früh vom anderen Rheinufer abgefeuerten Kanonensalven bildeten ein würdiges Akkompagnement, gewissermaßen die Interpunktion der kaiserlichen Rede! Niemand konnte sich dem großen Eindruck entziehen und niemand ahnte etwas von dem gleichzeitig geplanten schändlichen sozialistischen Attentat. So verlief alles aufs Beste und den Schluß bildete ein Diner im Schloß zu Wiesbaden, bei welchem sich Se. Majestät heiter und leutselig unter seinen Gästen bewegte. 28. Oktober. Beim Fürsten, welcher in leidlicher Gesundheit noch in Friedrichsruh, angefragt wegen Einbringung der Jagdordnung. Er antwortete bejahend. Da ich außerdem einen Gesetzentwurf wegen Übertragung der Separationsgesetzgebung auf das linke Rheinufer einbringen werde, so steht eine geschäftsreiche parlamentarische Kampagne bevor. 250

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5. November. Galadiner bei Sr. Majestät zu Ehren des Kronprinzen und der Kronprinzeß von Österreich. Sie eine stattliche, hochblonde Erscheinung, blühend und hübsch, daneben die Prinzeß Wilhelm und die Erbprinzeß von Meiningen. Der Kaiser, zwischen dem jungen Paar sitzend, unterhielt sich lebhaft und munter, brachte ihr Wohl aus. Sie wechselte dabei einen freundlichen, schelmischen Blick mit ihrem Gemahl, augenscheinlich gespannt, ob er den Toast erwidern würde, was nicht geschah. Nach Tisch ließ sie sich durch den Punzen Wilhelm die anwesenden Minister einzeln vorstellen und wechselte mit jedem einige freundliche Worte. Sie spricht geläufig Deutsch mit österreichischem Dialekt, „es gefallt dem Erzherzog“. Sie begleitet ihren Gemahl auf seinen Jagdpartien und schießt selbst gelegentlich Hirsche. Fürst Pleß erzählte nachher, er habe sich große Mühe gegeben, diese Einladung nach der Schorfheide zustande zu bringen, welche unsere höchste Jagdleistung darstelle. Wenn der König von Sachsen früher anstatt mit dem Österreicher mit dem König von Preußen gejagt hätte, so hätte er voraussichtlich 1866 auf der richtigen Seite gestanden. Das Verhältnis der beiden Kronprinzen sei ein sehr inniges und freundschaftliches. Der Besuch war so verabredet, daß er in eine Zeit fiel, wo nur der Kaiser hier anwesend und sonst die jungen Herrschaften unter sich waren. Von Bötticher berichtete von einem neuen heftigen Gelbsuchtanfall, welchen Bismarck erlitten hätte. Dr. Schweninger sei herbeitelegraphiert worden und nehme die Sache sehr ernst. 18. November. Hofjagd in Springe bei prachtvollem, klarem, sonnigem Wetter. Se. Majestät war nur von den Prinzen Wilhelm und Albrecht begleitet. Nach Tisch wurde das übliche Billard um eine Mark gespielt, wie vor vier Jahren, wo ich zum ersten Male geladen zwischen Sr. Majestät und dem Großfürsten Wladimir spielte. Se. Majestät erzählte, er habe nie Musik und Kartenspiel gelernt, obschon er recht gern Musik hört. Mir machte er das scherzhafte Kompliment, alles zu verstehen, und unterhielt sich nach Tisch lange mit mir, auch über Geschäfte und Finanzen. Dem Minister Bötticher sagte er: Bismarck brenne auf den Bau des Nordostseekanals, während er wenig Meinung dafür habe. (Bismarck behauptete das Umgekehrte!) In der Gesellschaft macht jetzt die Nouvelle Revue großes Aufsehen durch die Artikel „La société de Berlin“, welche sehr abfällig und meist übelwollend, doch mit viel Geist und Kenntnis der Berliner Hofgesellschaft geschrieben sind. Sie können nur von genau orientierten Personen geschrieben sein. Man nennt Mr. Guérard, früheren Vorleser Ihrer Majestät, als Verfasser ‒ 251

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intimer Freund Gambettas. Die Revue ist das Organ von Mad. Edm. Adam. Die September- und Oktoberhefte sind heraus, die nächsten sollen die Minister behandeln. Se. Majestät sagte neulich, vom Grafen Wilhelm Redern sprechend, er rechne es ihm hoch an, daß er damals während des schleswigschen Feldzuges, schwer an Gelenkrheumatismus erkrankt, doch wieder zum Regiment zurückgekehrt sei nach der Herstellung. Ich konnte das bestätigen und erzählte, wie Graf Redern, als wir vor Flensburg in Schnee und Eis biwakieren mußten, gesagt habe: „Es ist jetzt gar nicht die Saison zum Biwakieren,“ was Se. Majestät sehr amüsierte. Die Jagd in Springe endete mit einem Unfall, wie er unter jagdgerechten Leuten ‒ zumal auf einer Hofjagd ‒ nicht passieren sollte. General von Kotze schoß dem General von Thile, nachdem schon „Jagd vorbei“ geblasen war, durch den Oberschenkel. Es schien glücklicherweise nur eine Fleischwunde zu sein, und General von Thile rauchte danach seine Zigarre und meinte, als ich kondolierte (er war 1870 als Oberstleutnant unser Stabschef beim IV. Korps): „Zu dergleichen wäre in Frankreich ein schicklicherer Anlaß gewesen.“ Angeblich sei die auf eine Sau gerichtete Kugel rikoschettiert an einem Stein. Auf der Rückfahrt erzählte Bötticher von den Schwierigkeiten des Unfallgesetzes. Es müßte schrittweise dem Fürsten abgerungen werden, welcher zudem seine Ansichten öfters ändere. 22. November. Nachdem die Jagdordnung im Herrenhaus mit längeren Ausführungen eingebracht, welche sich wesentlich gegen die früheren Kommissionsbeschlüsse richteten, zur Hofjagd nach Letzlingen gefahren. 8. Dezember. In einer dreitägigen Etatsberatung, welche sehr günstig verlief, wurde mein Etat erledigt. In der großen Politik bildet der Besuch des Kronprinzen in Spanien das Ereignis des Tages. Er hält sich längere Zeit in Madrid auf und wird enorm fêtiert. Jetzt verlautet, er werde über Rom zurückreisen und vielleicht den Papst besuchen. Gleichzeitig wird die Welt überrascht durch die Begnadigung des Bischofs Blum. In beiden Fällen war vorher nichts transpiriert, so daß auch das Zentrum völlig überrascht erscheint. 10. Dezember. Von einem Besuch in Friedrichsruh, wohin mich der Fürst ohne Anlaß meinerseits geladen hatte. Er war sehr mager geworden, aber rüstig und schmerzfrei, macht lange Spaziergänge und hält unter steter Aufsicht Schweningers strenge Diät. Der augenscheinliche Erfolg des vorgeschriebenen Regimes stimmt ihn willig. Über die parlamentarischen Parteiverhältnisse sprach er ziemlich entmutigt. Es sei schwierig, vernünf­ 252

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tige Dinge durchzusetzen, und es seien verschiedene Möglichkeiten in Erwä­gung zu ziehen. Er könne entweder ganz von den preußischen Geschäften und dem Ministerpräsidium sich zurückziehen oder er könne auch wieder die Stellung des Reichskanzlers verkleinern und diesen wieder zu dem ursprünglich gewollten einfachen Bevollmächtigten zum Bundesrat machen. Man könne den Bundesrat zu einer Art Oberhaus entwickeln ‒ allein recht ernsthaft scheint er mir die ventilierten Projekte nicht zu nehmen. Dann klagte er über die Indolenz, Vergnügungslust und den Mangel an politischem Verständnis des Kronprinzen, welcher den politischen Zweck seiner Reise nicht erfasse, sondern sie als Vergnügungstour betrachte und über die Gebühr ausdehne. Weil er auf der Reise von Genua nach Valencia sehr seekrank gewesen sei, habe er durch Frankreich zurückreisen wollen, was natürlich nicht tunlich sei. Er solle über Rom zurückreisen und dort den Papst besuchen. Man müsse der Kurie gegenüber fortiter in re, suaviter in modo sein, obschon er (Bismarck) jetzt weiter als je davon entfernt sei, neue Konzessionen zu machen. Was man geben könne, würde freiwillig, ohne Gegenleistungen, gewährt werden. Er sagte das zum Teil in Goßlers Gegenwart, welcher den ersten Abend mit mir zusammen in Friedrichsruh war. „Puttkamer sei, wie Bennigsen einmal gesagt habe, ein Windkutscher, welcher vortrefflich beim Antrag Stern gesprochen habe, aber auch bei seinen Kollegen nicht die Autorität habe, um Ministerpräsident zu werden.“ Worauf er mit dieser Bemerkung hinaus wollte, war nicht recht ersichtlich. Bismarck, welcher sehr mitteilsam und guter Laune war, ging stundenlang vor Tisch mit mir umher und nachher noch allein wohl zwei Stunden. Seine jetzige Zeiteinteilung ist: 7 Uhr aufstehen, 10 bis 12 ½ Uhr Gehen und Sprechen mit Besuchern, dann gemeinschaftliches Dejeuner. Gehen allein, bis es dunkel wird. 6 Uhr Diner, eine bis zwei Pfeifen, 9 ½ Uhr pünktlich zieht er sich zurück. Er gab mir eine gute Photographie mit eigenhändiger Unterschrift ‒ jetzt eine seltene Auszeichnung. 19. Dezember. Gestern endigte die zweitägige Diskussion des Herrenhauses über die Jagdordnung ziemlich günstig, abgesehen von zwei bedenklichen Beschlüssen. Inzwischen ist der Kronprinz glücklich in Rom angekommen, glänzend empfangen worden und gestern beim Papst gewesen. Es ist der erste hochfürstliche Besuch, welcher dem Papst seit der Okkupation Roms durch die Italiener zuteilwird. Die Sache macht große Sensation in der Zentrumspresse, und Windthorst scheint die direkte Beilegung der Differenzen von Souverän zu Souverän zu fürchten, tut alles, das zu verhindern. 253

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20. Dezember. Zum kleinen Tee bei den Majestäten. Anwesend: Graf Goltz, Perponcher und Prinz Johann Albrecht von Mecklenburg, welcher kürzlich von einer Welttour zurückgekehrt ist. Er berichtet sehr interessant und anspruchslos über das Gesehene. Überall steht der deutsche Name in der höchsten Achtung und er habe Masten von Empfehlungen von allen möglichen Potentaten den Majestäten zu überbringen. Beide nahmen das augenscheinlich interessiert und erfreut entgegen. Ihre Majestät ist etwas stärker im Gesicht geworden und sah daher wohler aus. Sie blieb im Rollstuhl sitzen. 31. Dezember. Zur Spandauer Jagd beim Kronprinzen bei vier bis fünf Grad Frost und schönem, sonnigem Wetter. Er erzählte sehr befriedigt von seiner spanisch-italienischen Reise und besonders von seinem Besuch beim Papst, welchen er als einen höchst vornehmen, feinen, milden Herrn bezeichnete. Nun sei der Bann gebrochen und er habe tun können, was katholische Fürsten nicht gekonnt hätten. Er habe gleich vorgehabt, nicht vom Quirinal aus, sondern vom Palazzo Cafarelli, wo Frau von Keudell die Honneurs in sehr angenehmer Weise mache, den Besuch im Vatikan zu machen. Der Papst sei äußerst höflich und dankbar gewesen für die ihm erwiesene Aufmerksamkeit. Er habe auch den General von Blumenthal, den er auf der Reise in Rücksicht auf sein hohes Alter tunlichst geschont habe, besonders ausgezeichnet. Der junge König von Spanien Alfons XII. sei ein entschlossener Mann, welcher selbst regieren wolle. Es sei eben ein durch die Weiberherrschaft gründlich mißregiertes Land. Der König habe bewußtermaßen sehr bedenklich fortschrittlich-republikanische Elemente in das Ministerium genommen, damit sie sich abwirtschaften sollten. Ein immerhin recht gefährliches Experiment, was nur glückt, wenn der Herrscher selbst dabei wirklich Herr der Situation bleibt und imstande ist, die Schäden abzuwenden, welche seine Minister verursachen.

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1884 1. Januar. Se. Majestät empfing das Ministerium, welchem sich Hermes, der Präsident des Oberkirchenrats, neuerlich anschließt, zur Neujahrsgratulation und erwiderte Puttkamers kurze Ansprache etwa so: „Ich danke Ihnen und gratuliere Ihnen und mir auch, daß ich so entouriert bin, wie es jetzt der Fall ist. Ich habe Ihnen allen zu danken für Ihre Leistungen auf den verschiedenen Gebieten. Ich brauche Ihnen nicht zu empfehlen, so fortzufahren. Mir sind die Geschäfte nie leichter gemacht worden wie jetzt. Die mündlichen und schriftlichen Verträge, welche an mich gelangen, sind kurz, klar und faßlich. Ich bin sehr zufrieden mit Ihnen allen. „Daß es dem Fürsten besser geht, freut mich sehr zu hören, er ist in gesunder Weise, ohne Hungerkur, magerer geworden und geht und reitet sogar wieder stundenlang. Mit der spanischen Reise war ich gleich einverstanden, er hat aber mit der italienischen auch recht behalten. Mein Sohn ist brillant aufgenommen worden, ich bin zwar auch seinerzeit sehr gut empfangen worden. „Daß es schon fünfzig Jahre her ist, seit der Zollverein gegründet worden ist! Ich erinnere mich der Zeit sehr wohl ‒ es fing mit Darmstadt an, das hatte etwas auf sich!“ Der Kaiser sprach mit großer Frische, launig, mit voller Stimme und gutaussehend. Er war in großer Generalsuniform mit Ordensband und Schärpe, auch das Georgenkreuz tragend. Seine Ansprache war wohl prämeditiert, aber einfach, natürlich wie sein ganzes, stets gleichmäßiges Wesen mit uns. Es war der ungeschminkte Ausdruck seiner wohlwollenden Gesinnung. Er sagte dann noch jedem Einzelnen etwas Freundliches und entließ uns mit dem wiederholten Ausdrucke seiner Zufriedenheit, „damit wir keine Zeit versäumten, wir hätten noch mehr zu tun“. Unmittelbar danach empfing uns Ihre Majestät die Kaiserin im oberen Stockwerk, im Rollstuhl sitzend. Sie wünschte uns alles Gute, denn jeder habe gewiß etwas zu wünschen, jeder habe Sorgen und Arbeit genug. Sie freue sich, den Kaiser so wohl und zufrieden zu sehen. Er arbeite auch noch 255

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viel, mehr als seinem Alter angemessen sei. Sie suche ja möglichst viel ihm abzunehmen und für ihn zu tun, aber das gehe doch nicht immer. Dann lasse sie ihren Unmut an den Flügeladjutanten aus, denn jemand müsse man doch dazu haben. Dem Kaiser sei das Niederwaldfest eine große Freude gewesen ‒ und innere Genugtuung. Darum habe sie ihm auch das Denkmal in verschiedenen Gestalten geschenkt. Auch auf die Reise des Kronprinzen wies sie mit Befriedigung hin. ‒ Genug, auch dieser Empfang war sehr wohltuend. Ein seltenes Königspaar! Zum Abschied wünschte sie allen ein frohes Fest, was wir wohl alle hier im Kreise unserer Familien verlebt hätten. Etwas mehr Ruhe hätten wir wohl gehabt. Dieser Jahreswechsel bezeichnet allerdings eine Zeit friedlicher Entwicklung und Erfolge, welche lediglich dem weisen Gebrauch zu danken ist, welchen der Kaiser und Bismarck von der immensen Machtstellung gemacht haben, welche Deutschland besitzt. Dazu das ungewöhnliche Wohlsein, welches das greise Herrscherpaar und die neben ihm verdienstvollsten Männer Bismarck und Moltke gerade jetzt genießen. Es ist eine gloriose Zeit, die des Lebens wert ist. 6. Januar. Die heutige Morgenzeitung enthält die Nachricht von dem plötzlich in New York erfolgten Tode Laskers. Er war seit Jahr und Tag nach einem schweren Typhus sehr leidend, obschon er wieder zu arbeiten begonnen hatte. Mit ihm endet einer der bedeutendsten und zeitweise populärsten Parlamentarier des neuen Reichs. Er war neben Bismarck und Bennigsen der nach 1870 wohl meistgenannte Name im Reichstag. Durchaus patriotisch, uneigennützig, voll idealer Aspirationen, hat er politisch doch mehr zersetzend wie schöpferisch gewirkt. Die Nekrologe selbst der ihm politisch näherstehenden Zeitungen sprechen ihm die praktische und staatsmännische Qualität ab. Von Bismarck hatte ich einen vom 2. Januar datierten eigenhändigen Brief, sehr herzlich im Ton, in welchem sich der Passus findet: „In der Hoffnung, daß mir meine Gesundheit für diesen Winter in Berlin eine ausgedehntere Beteiligung an den Geschäften erlauben wird, rechne ich auf die Fortdauer der kollegialen Unterstützung, die Sie mir stets gewährt haben.“ Darin ist viel zu finden! Ein Aktionsprogramm, Ausdruck der Zufriedenheit und der Sporn zu weiteren Leistungen. Friedberg meinte, Puttkamer sei von Friedrichsruh gedrückt zurückgekommen. Er regiere ganz im Sinne der extremsten Kreuzzeitungspartei und schaffe durch seine Art der Behandlung von Personalien viel Unmut. 256

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Dabei ist er aber ein loyaler Kollege und ein Wechsel wäre in vieler Beziehung doch zu bedauern. Bismarck hat vielleicht den Gedanken, ihn durch Bennigsen zu ersetzen, noch nicht aufgegeben. 15. Januar. Grunewaldjagd ‒ die letzte der Saison. Se. Majestät nahm frisch und munter teil daran und hat überhaupt in diesem Winter keine Jagd versäumt. Die Behandlung der Jagdordnung leidet in der Kommission des Abgeordnetenhauses durch die Rücksicht auf die Reichstagswahlen, welche noch bevorstehen. Die Konservativen sind zu weitgehenden Konzessionen nach links geneigt, besonders in der Wildschadenfrage, welche Bismarck gegenüber ein Noli me tangere bildet. Auch die Hessen und Hannoveraner sind durch ihre partikularistischen Wünsche unbequem. Bismarck interessiert sich lebhaft für die Frage und schreibt lange Exposés, ohne bisher Schwierigkeiten gemacht zu haben. Das kommt aber noch ‒ bei der Wildschaden- und Sonntagsjagdfrage. Se. Majestät hat sich neulich Prollius, dem mecklenburgischen Gesandten, gegenüber sehr freundlich über mich geäußert: „Ich sei neulich mit dem Herzog Albrecht von Mecklenburg zum Tee geladen gewesen und hätte diesem lebhaft sekundiert, ihn auch berichtigt in seinen Erzählungen über seine Weltfahrt. Ich sei ein ausgezeichneter landwirtschaftlicher Minister und man müsse mich warmhalten.“ 27. Januar. Die Wildschadenfrage gelangt in ein kritisches Stadium durch die Nachgiebigkeit der Konservativen. Eine andere augenblickliche Schwierigkeit ist die Einberufung eines juristischen Hilfsarbeiters, gegen dessen Ernennung zum Vortragenden Protest vom Minister des Innern erhoben wird. Endlich haben die Konservativen in Königsberg durch einen etwas zweifelhaften Wahlcoup das Präsidium des dortigen bisher fortschrittlichen landwirtschaftlichen Vereins erobert, was zu Wahlprotesten und unangenehmen Erörterungen im Abgeordnetenhause führen wird. Also eine Reihe von Schwierigkeiten, welche die nächsten Wochen lösen müssen. 10. Januar. Bötticher teilte in der letzten Staatsministeriumsitzung ein Schreiben mit, worin der Fürst sein Arbeitsprogramm für den zu Anfang März zu berufenden Reichstag mitteilt. Das Sozialistengesetz (Verlängerung des Gesetzes vom Oktober 1878) soll erst eingebracht werden, nachdem klar ist, wie die verschiedenen politischen Parteien sich zu dem Unfallversicherungsgesetz stellen. Eventuell möge das Sozialistengesetz scheitern, damit die liberale Bourgeoisie von 257

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ihren fortschrittlichen Neigungen durch die Furcht vor der Sozialdemokratie geheilt werde. Ein Nachtragsetat soll nicht eingebracht werden, wie man glaubt, aus Animosität gegen die Postverwaltung, deren ganzes Extraordinarium vom Reichsschatzamt ‒ das ist der Reichskanzler ‒ abgelehnt worden ist. Das ist zugleich auch ein Schlag für die Militär- und Marineverwaltung. Das Militärpensionsgesetz soll nicht wieder gesondert, sondern in einem Entwurf mit dem Zivilpensionsgesetz vereinigt werden. Diese Kombination wird für den Kriegsminister eine große Schwierigkeit werden! Für Ausarbeitung des Zivilpensionsgesetzes fehlt eigentlich ein Ressortminister, als welchen man ebenso gut das Reichsamt des Innern wie das Schatzamt ansehen könnte. Da der Staatsrat in Preußen neben den verantwortlichen Ressorts keine rechte Stelle hat, projektiert der Fürst jetzt eine Art Reichsrat, das ist ein erweiterter Bundesrat oder Ausschuß desselben, in welchem Parlamentarier, praktische Geschäftsleute und auch Arbeiter neben den Ministern sitzen sollen. Als geeignet zur Berufung hat er bezeichnet die Persönlichkeiten, welche zum Teil schon in den Volkswirtschaftsrat berufen waren, wie Abgeordnete Cremer, Professor Ad. Wagner etc. Das etwas phantastische Projekt scheint ein Ausfluß des Verdrusses zu sein über die geringe Zustimmung, welche die früheren ähnlichen Projekte betreffs Staats- und Volkswirtschaftsrat bei den Ministerien und Parlamenten gefunden haben. Es erweist sich in diesen Fällen immer dieselbe Schwierigkeit, außer den Persönlichkeiten, welche bereits im öffentlichen Leben stehen in Staat, Provinz, Kreis, Kommune, neue sonstige zu finden. Man trifft immer wieder auf dieselben Persönlichkeiten, welche schon bisher sich durch Gemeinsinn und parlamentarische Begabung ausgezeichnet und ihre Bereitwilligkeit, öffentliche Ehrenämter zu übernehmen, dokumentiert haben. Ich riet, von diesen Ideen möglichst wenig zu verlautbaren, da sie eine große Menge von Zünd- und Agitationsstoff enthalten, der immer noch frühzeitig genug transpiriert. Inzwischen überbieten sich die hochorthodoxen Konservativen in ungeschickter Politik im Verein mit dem Zentrum, von welchem sie regelmäßig düpiert werden. So ist neulich unter Stöcker-Windthorsts Führung eine Resolution unter lebhaftem Widerspruch Goßlers und der Freikonservativen gefaßt worden, welche den Fortbildungsunterricht am Sonntag während des Gottesdienstes verbietet. Dieselbe fixe Idee über Sonntagsheiligung wie beim Verbot der Ausübung 258

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der Jagd am Sonntag im Herrenhaus. ‒ Die Konservativen sekundieren damit nur dem Zentrum und versetzen Goßler einen Schlag. Natürlich ist Wahlpolitik dabei und die Konservativen schmeicheln sich der Hoffnung, das Zentrum würde bei den Reichstagswahlen erkenntlich sein und mithelfen für konservative Wahlen. Bismarck votiert neuerlich zu allen wichtigeren Vorlagen oft so spät, daß es für Berücksichtigung zu spät ist und den Ressortministern Schwierigkeiten entstehen. In einem Schreiben an den Kronprinzen beklagt sich Bismarck über seinen Mangel an Einfluß im Staatsministerium und stellt gänzliches Ausscheiden in Aussicht. Das sind zuweilen Vorboten von Wünschen auf Änderungen im Bestand des Ministeriums. Nach Goßlers Mitteilungen hat der päpstliche Brief an den Kronprinzen von diesem eine Beantwortung gefunden, welche den Papst an den Kaiser verweist, soweit es sich um Verhandlungen kirchenpolitischer Natur handle. Darauf ist Ende Januar eine Note Jacobinis an den Kanzler oder ein neuer Brief des Papstes an den Kaiser ergangen und durch Vermittlung des Nuntius in München, von dessen Inhalt Goßler nicht unterrichtet war oder von welchem noch nicht bestimmt feststand, daß er bereits eingegangen sei. Goßler konstatierte außerdem, daß das Zentrum sich ihm gegenüber neuerlich äußerst feindlich benimmt. Die Germania bringt jetzt eine Reihe von Artikeln, welche persönliche Angriffe gegen Bismarck enthalten. Bismarck wird als kirchenfeindlich und stets liberal geschildert im Anschluß an die neuerlich publizierten Depeschen aus seiner Bundestagszeit. Das ist ein Anzeichen, daß sie von den direkten Verhandlungen nichts mehr hoffen oder in dieser Richtung tätig sein wollen. Die Begnadigung von Melchers und Ledochowski kommt auch immer wieder aufs Tapet ‒ Goßler hat aber keinen Zweifel darüber gelassen, daß keiner der jetzigen Minister eine solche Order gegenzeichnen würde. Daher wohl die Animosität gegen ihn im Zentrum. 26. Januar. Fastnachtsball, sehr glänzend, Kaiser bis zum Schluß anwesend. Den Mittelpunkt des Interesses bildete eine russische Deputation, welche dem Kaiser zum siebzigjährigen Jubiläum seiner Dekorierung mit dem Georgsorden gratulierte. Er erwarb ihn 1814 für tapferes Ordonanzieren im Befreiungskrieg bei Bar-sur-Aube. An der Spitze Großfürst Michael Nikolajewitsch, ein Onkel des Kaisers, ein großer, schlanker, schöner Mann von einigen fünfzig Jahren, welcher sich, fließend Deutsch sprechend, mit den Ministern unterhielt, die ihm von Sr. Majestät einzeln vorgestellt wurden. Im Gefolge General Gurko, ein kleiner, schmächtig, skrophulös aussehender Mann mit zwinkernden Augen, schlechten Zähnen, gescheiteltem 259

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Vollbart und glattem, dünnem Haar. Er sieht unangenehm aus, wurde aber allseitig mit viel Aufmerksamkeit behandelt. 3. März. Zirkuliert ein Brief des Papstes vom 12. Februar an den Kaiser, dessen Annahme Schlözer und Bismarck abgelehnt hatten, als überhebend im Ton und nicht geeignet zur Annahme. Trotzdem ist er an seine Adresse gelangt. Der Brief knüpft wieder an an den Besuch des Kronprinzen in Rom und an dessen Schreiben vom 28. Januar. „Das Letztere habe die päpstliche Hoffnung gehoben und sein Herz getröstet ‒ relevé und consolé.“ Dazu schreibt Hatzfeldt: Am 14. Februar sandte Jacobini an Schlözer ein Schreiben des Papstes an den Kaiser mit der Bitte um Weiterbeförderung, unter Beifügung einer offenen Abschrift. Schlözer lehnte wegen des Inhalts des Schreibens die Beförderung ab, unter Benutzung des Umstandes, daß er keine sichere Beförderung jetzt habe. Einige Tage später stellte der Nuntius in München dasselbe Ersuchen an Graf Werthern, welcher es auch ablehnte. Der Reichskanzler ist der Ansicht Schlözers, daß sich das Schreiben zur Beförderung durch einen Vertreter Sr. Majestät nicht eigne. Es würde sich kaum in verbindlicher Form beantworten lassen. Der daraus erhobene Anspruch des Papstes auf eine Kontrolle unserer Gesetzgebung und eine Mitwirkung bei derselben muß notwendig zurückgewiesen werden. Beide Ansprüche liefen auf das Verlangen eines Konkordats hinaus, Vertragsform oder Notenaustausch verpflichte, gemachte Zusagen traktatmäßig zu halten. Beides wäre nicht möglich, da wir das Recht der eigenen Gesetzgebung wahren müßten. Auch würde nötig sein, den Ausdruck „autorité supérieure“ zurückzuweisen, wenn schon der Zusammenhang verschiedene Deutungen zuließe. Überdies würde es der Würde Sr. Majestät nicht entsprechen, über geschäftliche Dinge und streitige Fragen gleichsam in einem Prozeß mit dem Papst persönlich Schriftstücke zu wechseln. Se. Majestät habe dazu seine Berater und könne sich nicht auf das Niveau begeben, auf welches der Papst sich stelle, indem er persönlich plädiere. Bismarck hält dafür, daß wenn das Schreiben auf anderem Weg an Se. Majestät gelangt, die Antwort sich auf ein accusé de réception und auf die Erwähnung der Tatsache zu beschränken habe, daß Se. Majestät den Bericht des Staatsministeriums befohlen habe. Damit hat Se. Majestät auf Hatzfeldts Vortrag sich einverstanden erklärt und befohlen, das Schreiben zur Kenntnis des Staatsministeriums zu bringen. Bis jetzt hat aber der Kaiser das Schreiben des Papstes noch nicht erhalten. 260

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Ein sehr merkwürdiger Zwischenfall, der so seine korrekte, aber allerdings schroffe Erledigung gefunden hat. Da das Zentrum über solche Vorfälle meist früh und gut unterrichtet ist, so erklärt dies die feindliche Haltung, welche das Zentrum letzter Zeit bei verschiedenen Gelegenheiten beobachtet hat. 12. März. Rottenburg teilt mit, daß Bismarck heute hier eintreffen werde, der Perron wird bei der Ankunft gesperrt sein wegen Besorgnis vor Attentaten. Bismarck hat die Absicht, sich von den preußischen Geschäften ganz zurückzuziehen, er hoffe aber, die Kollegen würden auch ferner im Einklang mit ihm handeln. Rottenburg versichert, es sei dem Fürsten ernst mit diesen Entschließungen, Personalwechsel in den Ministerien wünsche er nicht. 13. März. Fürst Bismarck erschien heute 1 Uhr im Reichstag und ergriff vor dem Eintritt in die Tagesordnung das Wort über das Kondolenztelegramm, welches das amerikanische Repräsentantenhaus aus Anlaß von Laskers Tod an die deutsche Regierung gerichtet hat. Bismarck wandte sich scharf gegen Revolutionäre und Republikaner. Auf einen Angriff Hänels antwortete er scharf und launig. „Er habe nicht die Verpflichtung, Sentimentalitäten auszutauschen und sich auf der politischen Mensur über den Haufen schießen zu lassen.“ Dabei betonte er seine guten Wünsche für die nationalliberale Partei, welche Lasker immer in falsche Bahnen gebracht habe. „Beteuerungen persönlicher Achtung und Freundschaft machten politische Gegner nur noch gefährlicher.“ Ich kam in den Reichstag, während er sprach, und fand ihn gealtert, matter wie sonst. Bismarck war schon morgens 10 Uhr zum Palais gefahren und von da  ‒  weil die allerhöchste Frau bei Sr. Majestät war ‒ zu Puttkamer, welcher noch beim Ankleiden war. Puttkamer meinte, er sei sehr freundlich, fast zärtlich gewesen und habe die Absicht, aus dem preußischen Staatsministerium auszuscheiden, fest betont. Nachher fuhr er zu Sr. Majestät, welcher eine halbe Stunde mit ihm konferierte und sehr erfreut und befriedigt von dem Wiedersehen gewesen sein soll. 16. März. Sitzung beim Fürsten, welcher fast allein sprach und, wie er selbst sagte, seinen Sack ausschüttete. Er habe das Bedürfnis, uns zu begrüßen und seine Absichten mitzuteilen, ohne heute eine Beschlußfassung oder auch nur eine Diskussion oder Meinungsäußerung zu wünschen. Er sei jetzt wohler wie vor einem Jahr, wo er nicht geglaubt habe, den Winter zu überleben. Er danke das einem strengen ärztlichen Regime, welchem er nachleben müsse, wenn er sich noch einige Jahre erhalten wolle. Er müsse sich so viel im Freien bewegen, daß er für Stubenarbeit dann zu müde sei 261

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und nicht mehr als zwei bis drei Stunden arbeiten könne. Er müsse seinen Einfluß im Reich und in Preußen auf das äußerste zulässige Minimum verringern. In seiner Stellung als auswärtiger Minister sei er, wie er sagen dürfe, zurzeit nicht zu ersetzen. Er habe darin eine längere Erfahrung und höhere Autorität wie irgendeiner seiner Vorgänger, und diese Geschäfte wären ihm leicht. Solange er aber nur einen Zipfel von Verantwortlichkeit habe, wie er schon in der Mitunterschrift von Immediatberichten und Gesetzesvorlagen bestehe, wolle er auch seinen pflichtmäßigen Einfluß ausüben. Es falle ihm nicht leicht, darauf zu verzichten, allein er müsse es ‒ aus dem feigen Grunde, noch einige Jahre leben zu wollen. Er werde also ganz aus den preußischen Geschäften ausscheiden, kein anderer Grund als dieser bewege ihn dazu. Er sei mit den Persönlichkeiten und den Beziehungen und Verhältnissen der im Amt befindlichen Kollegen zufrieden und einverstanden. Er wünsche nichts anderes. Die Friktionen seien in früheren Jahren viel größer gewesen, zum Beispiel Bodelschwingh habe von seinem Amt gar nichts verstanden; während er tatsächlich am meisten politisch rechts gewesen sei, habe er die liberalsten Vota durch seine Räte abgeben lassen. Auch Itzenplitz und Selchow hätten ihre Ressorts nicht übersehen, jetzt sei alles in den sachverständigsten Händen. Mit Roon sei er persönlich befreundet gewesen und habe doch schwere Kämpfe mit ihm gehabt. Durch die Entwicklung seiner eigenen Stellung seien sowohl das Herrenhaus wie der Bundesrat in ihrer Position herabgedrückt. Das Herrenhaus besonders durch die beiden popularitätsbedürftigen Eulenburgs. Die preußischen Minister müßten Mitglieder und zwar aktive des Bundesrats werden, während jetzt die bezüglichen Geschäfte jüngeren Geheimräten zufielen, welchen die fremden Gesandten sich nicht unterordnen möchten. Camphausen sei nicht mehr im Bundesrat erschienen, nachdem Delbrück ihm in einer Sitzung nicht den Vorsitz abgetreten habe. Er denke an die weitere Entwicklung des Staatsrats zu einem Reichsrat. Er wolle Reichskanzler bleiben und wolle auch keineswegs Sr. Majestät aus dem Dienste laufen, allein es wäre vielleicht ganz richtig, wenn er als solcher völlig außerhalb des preußischen Staatsministeriums stehe. Er habe das heute dem Kronprinzen auseinandergesetzt, welcher auch alles eingesehen und gebilligt habe. Dem Kaiser habe er zwar schon Andeutungen gemacht, indes habe der eine große Abneigung vor Neuerungen und er werde ihm wohl noch alles schriftlich auseinanderzusetzen haben. Er wolle auch heute seine Ideen nur andeuten. Er las dann einen an ihn gerichteten Brief Dr. Schweningers vor, welcher dieselben Ratschläge erteilt und Arbeitsenthaltung geradezu zur Voraussetzung weiterer erträglicher Existenz mache. Er sei sein Ausstellungs262

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patient. ‒ Bismarck sprach durchweg in einem freundlichen, verbindlichen Ton und wünscht augenscheinlich die von ihm für notwendig erkannten Änderungen à l’amiable zu machen. Er deutete auch wiederholt an, daß die Träger der wichtigsten Reichsämter auch Mitglieder des preußischen Staatsministerii sein müßten, das gäbe dann freilich zwei Justiz- und zwei Finanzminister, was allerdings auch schon früher da gewesen sei. Hatzfeldt könne „vielleicht“ Minister des Auswärtigen, Bötticher Handelsminister werden. Der Finanzminister müßte auch im Reich aktiv sein und das Schatzamt in ein Verhältnis zu ihm gebracht werden. In diesen Beziehungen wird er uns wohl noch nicht seine letzten Gedanken gesagt haben, welche doch in einigen Personalwechseln ausgehen dürften. Die Stellungen der von ihm Genannten würden sicher Änderungen erfahren. Die Presse sei eine gefährliche unverantwortliche Macht geworden, welche in Rußland zum Krieg gegen Deutschland, in Ungarn zum Krieg gegen Rußland hetze. Jahrelang habe die Verhütung eines Konflikts mit Rußland seine Aufmerksamkeit und Arbeitskraft gänzlich in Anspruch genommen, erst nachdem der türkische Dammbruch den Abfluß der Hochflut zugelassen habe, sei er in dieser Beziehung erleichtert. 18. März. Gestern traf ich Bismarck auf einem Ritt im Tiergarten bei prachtvollem Wetter und begleitete ihn. Er war sehr guter Stimmung und sprach es aus, wie er vor einem Jahr nie geglaubt habe, wieder so weit gesund zu werden, um wieder reiten zu können. Beim Reiten habe er am meisten das Gefühl der Genesung. Nach dem ersten Ritt auf dem ihm vom Grafen Herbert aus England geschickten Cob hätten ihm alle Glieder wehgetan, jetzt aber ginge es wieder. Dabei jagten wir im langen Galopp durch den Tiergarten, zum Staunen der Berliner, welche in hellen Haufen bei dem prachtvollen Wetter promenierten. Im Jahre 1848 sei ein ähnlich schöner März gewesen. Herzog (großes Geschäft) wolle eine Million stiften zur Errichtung eines Denkmals für ihn. Die Sache setze ihn in Verlegenheit. Über die Erkrankung Tiedemanns sprechend, meinte er, dieser sei einer der wenigen, welche mit der erreichten Stellung zufrieden seien. Sonst wollten die meisten immer etwas Neues, wie in Chamissos Gedicht, wo einer seinen Wünschen gemäß als Papst endet und sofort befiehlt, den Zauberer, welcher ihn dazu gemacht hat, zu verbrennen. So sei Graf Harry Arnim gewesen, welchen er anfangs sehr poussiert habe. 20. März. Gestern waren wir auf einer Soiree beim Kronprinzen, welcher in äußerst liebenswürdiger Weise den Wirt machte. Er führte die Damen durch alle Räume bis in sein Schreib- und Arbeitszimmer, die überall aufgestellten Kunstwerke demonstrierend und von der früheren Benutzung der 263

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Räume erzählend. Friedrich Wilhelm III. hat dasselbe Palais sein ganzes Leben lang bewohnt und ist da in einem kleinen Raum ‒ jetzt Bibliothek und Durchgangszimmer ‒ gestorben. Es liegt neben dem jetzigen Schlafzimmer der kronprinzlichen Herrschaften, welches als solches auch von Friedrich Wilhelm III. benutzt worden sei. Darin sei der Kaiser und alle seine anderen Kinder geboren. Ein Gang führt von da über die Wallstraße nach dem Prinzessinpalais, was vormals die Fürstin Liegnitz bewohnte. An dem Eckfenster habe König Friedrich Wilhelm oft gestanden und er erinnere sich seiner sehr wohl mit der Schnupftabaksdose in der Hand. Er sei sehr freundlich gegen ihn gewesen und bis kurz vor seinem Tode auch ganz gesund und rüstig. Auf ein Bildnis der Königin Luise hinweisend (in einem Husarenreitkleid mit weißer hoher Halskrause) meinte er, eine seiner jüngsten Töchter habe etwas Ähnlichkeit mit ihr. 23. März. Der gestrige Geburtstag Sr. Majestät verlief sehr glänzend. Die Mehrzahl der deutschen Fürsten war anwesend. Der Prinz Heinrich war eben von seiner anderthalbjährigen Reise nach Ostasien heimgekehrt. Se. Majestät hat mich zum Major befördert und der Kronprinz hat mir die Epauletten dediziert ‒ mit einem launigen Gratulationsbillett. Ich erschien infolgedessen bei der Gratulation als Major. Bismarck, welcher an unserer Spitze erschien, meinte in Bezug auf das Sozialistengesetz, daß die Verweisung der Vorlage an eine Kommission keineswegs gleichbedeutend sei mit der Ablehnung, wie Se. Majestät geglaubt zu haben schien. Gladstones Politik jetzt, wo man sich in London vor Dynamitattentaten kaum retten kann, eine Wahlreform vorzuschlagen, wodurch zwei Millionen Wähler mehr geschaffen werden, nannte Se. Majestät völlig unverständlich. Nachdem aber eine solche Reform einmal auf dem Tapet sei, würden die Tories, wenn wieder am Ruder, in derselben Richtung etwas tun müssen. Bismarck: Sie müßten wohl nicht, aber sie tun es vielleicht. Über Gladstone habe Lord Palmerston, welcher ihn als jungen Mann in einem untergeordneten Posten im Kabinett gehabt hätte, geäußert: Wenn der je als Premier zur Regierung käme, so würde er das Land durch den Schmutz ziehen und selbst im Irrenhaus enden. Das Erste sei eingetroffen, das Zweite stehe noch bevor. Bismarck beabsichtigt nun definitiv, den Staatsrat wieder in das Leben zu rufen, und hat in diesem Sinne votiert. Er will ihm alle wichtigeren Gesetze vorlegen und ihm die entscheidende Stimme lassen. Ein Zeitverlust und eine Kaltstellung des preußischen Staatsministeriums! Eine neue Friktionsmaschine. 264

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28. März. Eine Depesche des Prinzen Reuß aus Wien führt interessante Äußerungen des Kaisers Franz Joseph an, worin derselbe sich mit den Ausführungen des Fürsten Bismarck betreffs des Falles Lasker im Reichstag einverstanden erklärt, ebenso in Betreff der Unfallversicherung. Die Fusion der Sezession mit dem Fortschritt präokkupiere ihn. Sie machten es gerade wie die Deutschliberalen in Wien, die immer regierungsunfähiger würden. „Bismarck solle sich nicht ärgern, das seien die Leute nicht wert ‒ Gott erhalte ihn!“ Eine merkwürdig richtige und unbefangene Beurteilung der hiesigen Verhältnisse und Personen. „Der Papst wolle den Frieden, Ledochowski sei man ja nun los und nahe daran, die Resignation von Melchers zu erreichen, dann wären zwei große Steine des Anstoßes auf dem Wege zum Frieden beseitigt.“ Vor der Hoftafel, welche am 22. März in Wien stattfand zur Feier des Geburtstags unseres Kaisers, hat der Kaiser von Österreich über die Haltung unseres Zentrums beim Sozialistengesetz geäußert: „Es sei unerhört, daß diese Partei ihre Zustimmung verhandeln wolle in einer Frage, die jedem Freund der Ordnung wichtig sein müsse. Er hoffe, daß diese Leute doch noch zu der Einsicht kommen würden, daß es sich um den Schutz des Staates sowie der Kirche, des Eigentums und des Lebens jedes Einzelnen handle!“ „Se. Majestät waren mit dieser Frage sehr beschäftigt und hatten sich an dem, was Eure Durchlaucht bei dieser Gelegenheit im Reichstag gesprochen haben, sehr erfreut,“ schreibt Reuß. Der Fürstin Bismarck geht es schlecht, daß man das Schlimmste befürchten muß; man will die Söhne herbeirufen, und der Fürst ist sehr gedrückt. 1. April. Die Beratung der Jagdordnung im Abgeordnetenhaus ist gestern zu Ende geführt worden, aber eine Einigung zwischen Regierung und Parlament noch nicht erreicht worden. Die Wildschadenfrage und Sonntagsjagd bilden noch ungelöste Differenzpunkte. Gestern Abend zum Tee bei den Majestäten, wo die Großherzogin von Baden, Maybach, General von Strubberg und General von Ollech, die Prinzen, Heinrich der Seefahrer und der Erbgroßherzog von Baden. Die Kaiserin war in excellent spirits und scherzte über die beiden uralten Prinzen, welche zwischen der Großherzogin und dem Kaiser sitzen sollten. Die Minister und Generäle in bunter Reihe. „Wenn sich alles so leicht machen ließe.“ Es war von der Szene im Reichstag (21. März) die Rede, wo Bismarck betreffs Verlängerung des Sozialistengesetzes vom 18. Oktober 1878 gesprochen hatte. Se. Majestät erzählte von dem Spiritisten Home, 265

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welchen er in Baden gesehen habe. Ihre Majestät meinte: Sie hätte keinen Kopf für das Rechnen gehabt und habe es nie bis zur Regel de tri gebracht. Bismarck war gestern länger beim Kaiser und später auch beim Kronprinzen. 2. April. Zu Tisch beim Fürsten, wo nur Familie Rantzau, der Külzer Bismarck, Schweninger. Der Fürstin geht es etwas besser, und Schweninger verneint jede unmittelbare Gefahr. Unter den Geburtstagsgeschenken befindet sich eine Dezimalwaage, auf welcher Schweninger uns wog. Ich hatte 1704/5 Pfund. Die Gräfin Rantzau behauptete, 210 Pfund bei der letzten Wiegung gewogen zu haben. Der Fürst war recht munter, etwas gereizt, daß man im Ministerium des Innern zu vornehm sei und es verschmähe, die nötige scharfe Preßpolemik gegen Fortschrift und Zentrum zu machen. Die auswärtige Politik strenge ihn gar nicht an, aber er habe sonst zu viel zu tun und gewinne nicht die zum Reiten erforderlichen zwei Stunden. Auf die Frage, ob er sich nicht einmal wolle malen lassen, antwortete er nicht ablehnend und bezeichnete Menzel als ihm genehm; ich schlug Knaus vor. Er hielt die Zeit für äußerst friedlich, freilich sei Anfang Juli 1870 auch vom Krieg keine Rede gewesen und er habe die Franzosen damals nicht für so töricht gehalten, daran zu denken. Die Polen seien so wütend, weil es mit dem russischen Krieg nichts sei, das müsse ihnen gesagt werden. Das seien die Leute, welche auf den Krieg spekulierten. 5. April. Beim Fürsten zur Besprechung über die Jagdordnung. Er wies die Andeutung der Möglichkeit, dieselbe zustande zu bringen, schon weit zurück bei der unerhörten Wahlangst der Konservativen. Ebenso war er sehr entrüstet über die Beschränkung des Jagdrechts, welche in der Aufzählung des jagdbaren Wildes läge. Das gäbe Fremden den Vorwand, sich auf und außerhalb der Waldwege aufzuhalten, herumzutreiben, Fallen zu stellen und zu wildern. Die Kaninchen hasse er auch als den Kulturen schädlich. Das Kaninchen bildete einen Differenzpunkt, weil es in einigen Gegenden als jagdbar, in anderen als schädliches Ungeziefer gilt wie Ratten und Mäuse. Bezüglich der weiteren geschäftlichen Behandlung war er für „Gehenlassen“, um nicht der Regierung, sondern dem Abgeordnetenhaus die Schuld für das Scheitern der Vorlage zuzuschieben. Also nicht Zurückziehen der Vorlage, sondern eventuell der Nachweis der Undurchführbarkeit der Beschlüsse des Abgeordnetenhauses, ohne sie regierungsseits als unannehmbar zu bezeichnen. Dann möge man sie im Herrenhause liegen lassen, ohne sich weiter darum zu kümmern, wenn sie schließlich im Abgeordnetenhause nochmals an die Kommission verwiesen würden. Er blieb bei diesen 266

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Auseinandersetzungen ziemlich ruhig, obschon ihn diese Fragen innerlich lebhaft erregten. Im Staatsanzeiger werden die neulich im Bundesrat gemachten föderalen Äußerungen des Kanzlers publiziert. Sie knüpfen an das freisinnige Parteiprogramm an und gipfeln in der wiederholten Versicherung, daß der Versuch eines parlamentarischen Regiments zur Auflösung des Reichs führen müsse. Diese feierliche Kundgebung der preußischen Regierung hat jedenfalls den Zweck, unsere bundestreue, nicht aggressive Gesinnung gegen die Partikularstaaten zu betonen und den unitarischen Bestrebungen, welche der Kronprinz hegen soll, entgegenzutreten oder vorzubauen: Es sind eigenste Gedanken des Fürsten. Bis jetzt scheint sich der Kaiser gegenüber den Vorschlägen Bismarcks auf Enthebung vom Präsidium des Ministerii und sonstigen Entlastungen ablehnend zu verhalten. Er hat schriftlichen Vortrag befohlen. Bismarck wird aber seinen Willen durchsetzen und schließlich doch die Zügel in der Hand behalten. In der liberalen Presse werden öfters jetzt Gerüchte über die kritische Lage Puttkamers lanciert. 6. April. Sonntag. Die heutige Sitzung des Staatsministeriums dauerte von 1 bis 3 Uhr; den Verhandlungen wurde ein vom Minister des Innern entworfener Immediatbericht betreffs Reaktivierung des Staatsrats zu Grunde gelegt. Bismarck betonte hauptsächlich, daß nicht nur Staatsbeamte, sondern jeder beliebige Vertrauensmann berufen werden könnte, auch Nichtpreußen! Und daß möglichst jede wichtigere Sache der Begutachtung des Staatsrats unterzogen werden muß. Die Sache gipfelte in der Frage, wer Präsident werden solle; sie wurde dahin beantwortet, daß der Kronprinz es sein solle und Bismarck sein Stellvertreter als Fürst, General und Kanzler. Es wurden dabei die Befugnisse des Staatsministeriums eskamotiert unter der Firma „des beirätigen, nicht dezisiven Staatsrats“. Es handelt sich also um Beiseiteschiebung des Ministeriums oder Unterordnung unter einen Staatsrat, welcher nicht einmal ausschließlich preußisch sein würde. Das sind Projekte, welche notwendig sich im Sande verlaufen müssen, da die Gewalt doch bei den großen Verwaltungsressorts bleiben wird. 20. April. Zum Tee bei den Majestäten, wo Maybach, General von Strubberg, Graf von der Goltz, wobei die Großherzogin von Baden die Honneurs machte, da Ihre Majestät, unwohl, nicht erschien. Se. Majestät kam etwas später von der Königin, war noch etwas heiser, unterhielt sich aber lebhaft und erzählte von seinen verschiedenen Reisen nach England ‒ 1814 und 1848 ‒, wo er den Duke of Wellington wiederholt 267

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gesehen habe, welcher sehr freundlich gewesen sei. In Portsmouth habe er ihn auf die Victory geführt und die Stelle gezeigt, wo Nelson gefallen sei. Sie sei bezeichnet gewesen mit der Inschrift: „Here fell Nelson.“ Er sprach noch von vielen anderen Persönlichkeiten, welche er damals gesehen habe, und hatte offenbar angenehme und lebhafte Erinnerungen daran bewahrt. Dann erzählte er von dem Streit der Fachleute über die Einführung des Minis- oder Zündnadelgewehrs. Er sei für Ersteres gewesen, Willisen aber im Verein mit König Friedrich Wilhelm IV. habe alles darangesetzt, das Zündnadelgewehr einzuführen. Bei der Abstimmung in der sehr zahlreichen Kommission hätten die jüngeren Offiziere aus Subordination mit dem König gestimmt. 22. April. Bismarck glaubt, daß die Kaiserin, von Roggenbach unterstützt, gegen den Staatsrat operiere. Er hat sich so darüber geärgert, daß er wieder mit Abschiedeinreichen gedroht hat. Er ist wieder angegriffen von Arbeit und Ärger. 27. April. Bei der dritten Lesung der Jagdordnung im Abgeordnetenhaus ist bezüglich der Wildschadenfrage ein klerikal-konservativer Vermittlungsantrag angenommen, welcher zwar ziemlich unschädlich, doch auf Widerspruch beim Kanzler stoßen wird. 28. April. Prinz Wilhelm, bei welchem ich neulich zu Tisch war mit einigen anderen Ministern, lieh mir ein Buch über den Fürsten Bismarck, welches durch die von dem Prinzen darin gemachten Randbemerkungen interessant und charakteristisch ist. Alle straff royalistischen preußischen Äußerungen und solche, welche abfällig über englische Politik lauteten, waren angestrichen und mit zustimmenden Bemerkungen versehen. Bei der am 27. Januar 1863 stattgehabten erregten Adreßdebatte wies Bismarck auf den Geburtstag des mutmaßlichen Thronerben hin und sagte: „Das preußische Königtum hat seine Mission noch nicht erfüllt, es ist noch nicht reif dazu, einen rein ornamentalen Schmuck ihres Verfassungsgebäudes zu bilden, noch nicht reif, als ein toter Maschinenteil dem Mechanismus des parlamentarischen Regiments eingefügt zu werden.“ Dazu schrieb Prinz Wilhelm: „Und was dieser Jüngste dazu tun kann, so soll es nie dazu kommen.“ „Die Ablehnung der Militärvorlage wie die gehässige Anfeindung der auswärtigen Politik des Herrn von Bismarck ist Landesverrat!“ Prinz Wilhelm: „Sehr richtig.“ Der Satz: „Alles war gegen mich, die Damen unseres Hofes, die Liberalen, die Engländer“ war dick unterstrichen. 11. Mai. Gestern seit langer Zeit die erste parlamentarische Soiree beim Fürsten, zu welcher etwa fünfhundert Einladungen „zu einer vertraulichen 268

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Besprechung“ ergangen waren. Es war sehr gefüllt, und Gräfin Rantzau machte die Honneurs. Zentrum stark vertreten. Windthorst saß lange neben dem Fürsten und unterhielt sich humoristisch mit ihm. Das Sozialistengesetz ist mit zirka 30 Stimmen Majorität verlängert worden. Vom Zentrum stimmten 39 für, 53 gegen. 16. Mai. Im Herrenhause ein Ministerrat, in welchem Bismarck mitteilte, er werde demnächst nach Friedrichsruh abreisen, da er Erholung dringend nötig habe. Die in der Kreuzzeitung stattgehabte Erwähnung der Bewerbung des Fürsten Alexander von Bulgarien um Prinzeß Viktoria mißbilligte er sehr und bezeichnete sie als grobe Indiskretion. (N. B. Die Nachricht hat zuerst in den Hamburger Nachrichten gestanden und ist von da übernommen.) Die Erfinderin der Intrige sei eine darmstädtische Prinzeß und die Königin von England, welche einen Keil in die deutsch-russische Freundschaft treiben wolle. Der Prinz von Wales sei in derselben Angelegenheit zu ihm gekommen, habe für diesen „Herzensbund“ gegenüber politischen Erwägungen plädiert. Bismarck hat dagegen gerade die Wahrnehmung der politischen Interessen als seine Pflicht betont, er halte die Frage für sehr wichtig, und dagegen könne eine Liebschaft der Prinzeß nicht ins Gewicht fallen. (Diese Äußerung hat der Prinz „rather hard“ gefunden.) Der Bulgare, welcher durch seine Mutter „Haucke“ polnischer Extraktion sei und die Schönheit, Bravour und Neigung zur Intrige dieser Nation geerbt habe, sei auch bei ihm gewesen, versichernd, er habe kein Wort von diesem Plane geäußert und sei nur gekommen, um ihn zu sprechen. Bismarck erwiderte: Es würde ihm vielleicht lieber sein, er hätte ihn nicht gesprochen, denn er müsse gegen diesen Gedanken ganz entschieden auftreten. Bismarck glaubte die ganze Sache erledigt durch das entschiedene Dazwischentreten des Kaisers. Schließlich extrahierte er noch die „prinzipielle Zustimmung des Staatsministeriums zum Nordostseekanalprojekt“ ‒ der Kaiser sei dafür, Caprivi auch. Letzterer verlange Helgoland zur Deckung des Kanals, woran er auch arbeite. Gegen das Projekt macht sich militärischerseits Widerspruch geltend und wohl aus dieser Rücksicht lehnte er es ab, die Landesverteidigungskommission darüber zu hören. Moltke und Stosch, ebenso Kameke waren Gegner des Projekts: es sei gleichbedeutend mit der Aufgabe des nördlich vom Kanal liegenden Schleswig, und zur Bewachung des Kanals seien ein bis zwei Armeekorps erforderlich. Trotzdem könne mit den modernen Sprengmitteln der Kanal leicht auf Wochen oder Monate undurchführbar gemacht werden. Die Kanalbaukosten belaufen sich anschlagsmäßig auf 159 Millionen Mark! 269

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31. Mai. Paradediner, das wie immer sehr familiär und animiert verlief. Der Kaiser ist dabei stets besonders leutselig und heiter. Er scherzte wie gewöhnlich über seine militärischen Minister, und der Kronprinz meinte, wir, das heißt Bötticher, Goßler, ich als Major, hätten um Se. Majestät strammgestanden wie bei der Parole. Prinz Wilhelm war sehr befriedigt von seiner russischen Tour zurückgekehrt und sprach sehr interessiert über das dort Gesehene. Alles mache den Eindruck des persönlichen Regiments und alles werde auf die epochemachenden Persönlichkeiten wie Iwan der Grausame, Peter der Große, Katharina zurückgeführt. 5. Juni. Zum Tee bei Sr. Majestät und der Großherzogin von Baden. Se. Majestät erzählte lebhaft von alten Zeiten, wie er 1813 in Landeck gebadet habe mit dem Kaiser von Rußland in einem Bassin. Ein General habe mit Wasser gespritzt, was sie amüsiert habe. Man habe im Wasser gefrühstückt und gespielt, zuweilen seien die Sachen im Wasser geschwommen. Man habe die Damen beim Baden abgelöst, welche die Herren hätten beim Herausgehen defilieren müssen im Badekostüm. Er hätte damals das Bad wegen seines verletzten Fingers gebrauchen müssen. Er war durch ein springendes Gewehr stark beschädigt worden ‒ es fehlte das mittlere Glied am, ich glaube, linken Zeigefinger und er pflegte den Finger gewohnheitsmäßig zu streichen. Die Abreise nach Ems ist bis zum 15. verschoben. 7. Juni. Bismarck wird heute erwartet, um als Parrain der morgen stattfindenden Investitur des Prinzen Heinrich mit dem spanischen Goldenen Vließ beizuwohnen. Er will mirabile dictu auch dem nachfolgenden Diner beiwohnen, wozu auch die Minister befohlen sind. Dasselbe wird noch besonders interessant durch die Anwesenheit der Buren von Transvaal, der Präsidenten Krüger, Smith u. s. w. Unsere tote Saison ist somit ganz belebt und interessant. 8. Juni. Die Verleihung des Goldenen Vließes an Prinz Heinrich hat, wie Hatzfeldt berichtet, auf den Wunsch des Kronprinzen stattgefunden. Der spanische Gesandte Benomar hielt eine kurze französische Ansprache, überreichte ein Handschreiben des Königs von Spanien und hing dem Prinzen schließlich die große goldene Kette um. Dieselbe Dekoration trugen Se. Majestät, der Kronprinz, Prinz Wilhelm und Bismarck. Letzterer trug Generalsuniform und unterhielt sich freundlich mit den Anwesenden. Nachher wurden die Buren vorgestellt, Krüger, Smith und Dutroit, stattliche, breitschultrige Männer in altmodischen schwarzen Überröcken und hohen Hüten. Präsident Krüger trug über dem Rock eine breite, grüne, gestreifte Schärpe ‒ wie ein Großkordon. Er wie die anderen haben grobe 270

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handfeste, deutsche oder holländische Bauerngesichter, wie man ihnen an der Küste in Holstein und Hannover begegnet. Sie sprechen nur Holländisch, und Bismarck verständigte sich mit Krüger, welchen er zu Tisch führte, Plattdeutsch sprechend. Bismarck nahm dem Kaiser gegenüber Platz und hatte Krüger rechts, Benomar links von sich. Beim Cercle nach Tisch blieb Bismarck in ganz hofmäßiger Haltung und wurde natürlich von allen anwesenden Prinzen und Prinzessinnen sehr ausgezeichnet. Die Großherzogin von Baden, die Kronprinzeß und Prinzeß Friedrich Karl unterhielten sich lange mit ihm. Die Kronprinzeß sehr eingehend über die von Schweninger vorgeschriebene Diät und meinte, wir wären doch alle Karnivoren. Er war höchst verbindlich gegen die Damen und ließ sich auch der Gräfin Benomar von mir vorstellen. Als der Kaiser an uns herankam, meinte er, lächelnd zu Bötticher und mir gewandt: Wir könnten es noch weit bringen, nachdem wir so jung Major geworden seien. Die Großherzogin von Baden bedankte sich sehr gnädig für das von der Domänenverwaltung geleistete Entgegenkommen durch Überlassung eines Grundstücks für die Siloahstiftung und war einigermaßen pikiert, zu hören, daß keiner meiner vortragenden Räte über den biblischen lieblichen Quell Siloah, welcher im Evangelium Johannis erwähnt sei, Bescheid gewußt habe. 9. Juli. Heute fand bei etwas nässelndem Wetter die Grundsteinlegung des Reichstagshauses statt. Abgesehen vom Wetter, was auch nicht gerade störte, war alles gut disponiert und ging sehr schnell vonstatten. Die ganze Feier dauerte wenig über eine halbe Stunde. Wir waren schon vor 1 Uhr wieder zu Hause. Der ganze Hof, Se. Majestät an der Spitze, Ministerium, Generalität, Bundesrat waren anwesend. Fürst Bismarck verlas mit laut vernehmlicher Stimme die Urkunde. Der Kaiser allein begleitete seine drei Hammerschläge mit einem Weihespruch. Alle anderen verrichteten ihre Schläge still und schnell. Prinz Wilhelm führte seinen Schlag so kräftig aus, daß ein allgemeines Beifallsgemurmel laut wurde. Am Schluß trat der Kaiser nochmals barhäuptig hervor, ging die Rampe herab zum Stein und führte noch drei Schläge für die Kaiserin und Königin. Die Botschafter, mit Ausnahme des französischen, dessen Mutter kürzlich gestorben ist, waren anwesend. Auch die Fürstin Bismarck war da, recht elend aussehend, aber lebhaft in ihren Bewegungen. Die Familie ist lange nicht so guter Gesundheit in ihrer Gesamtheit gewesen. 20. Juli. Parlamentarischer Frühschoppen 11 bis 1 Uhr beim Kanzler, ein gesellschaftliches Novum, was auf Schweningers Rat zurückzuführen ist. 271

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Natürlich war er sehr zahlreich besucht. Der Fürst war sehr munter und einverstanden, daß der Reichstag in nächster Woche geschlossen werde, nachdem das Unfallgesetz zustande gebracht ist. Alles andere fällt unter den Tisch. 22. Juli. Im heutigen Ministerrat gab Bismarck ein sehr eingehendes Exposé über die ägyptischen Konferenzvorschläge und über seine Kolonialideen, welche sich anknüpften an die Angrapequena-Frage. Er nimmt diese wie alle auswärtigen Fragen sehr ernst und vorsichtig ‒ aber im großen Stil. Die Intimität zwischen England und Frankreich ist ihm höchst verdächtig. England gibt Frankreich überall nach und läßt ihm freie Hand, während es für deutsche Wünsche und Interessen ein sehr taubes Ohr habe. Bismarck las mehrere lange Depeschen vor über Unterredungen, welche Graf Herbert mit Granville gehabt habe. Er hat ihm ziemlich deutlich ein conveniently short memory vorgeworfen und unter Anführung früherer Äußerungen sein Deutschland abgeneigtes Verhalten nachgewiesen. Sie haben früher anerkannt, daß Angra außer der englischen Interessensphäre liege, während sie jetzt eine Art Monroedoktrin in Bezug auf Afrika entwickeln. Bismarck will in Übereinstimmung mit Wien und Rom die Konferenz nicht beschicken, ehe nicht die Grundlagen derselben im englischen Parlament festgestellt sind. Er will nicht Beschlüsse einer europäischen Konferenz abhängig machen von nachträglich erfolgenden parlamentarischen Beschlüssen. Offenbar bereitet er damit Gladstone einige Verlegenheiten. Er will der englischen Regierung endlich zu Gemüt führen, daß man nicht Dienste erwarten kann von einer Regierung, welche man seit Jahren schlecht behandelt hat. Auf der Konferenz sei es zu spät, das ungeschehen zu machen. Genug, er rechnet mit England jetzt scharf ab; er sprach ernst und weitblickend wie immer, wenn es sich um europäische Fragen handelt. Den Satz: „Wir sind die Freunde unserer Freunde und die Feinde unserer Feinde“ betont und variiert er bei diesen Gelegenheiten sehr scharf. Graf Herbert scheint dem Grafen Münster die Geschäfte ziemlich aus der Hand zu nehmen, Letzterer bezieht sich auf die Berichte des Ersteren. Bismarck hält Schweinitz und Münster offenbar für überständig in ihren Ämtern. Augenscheinlich will er bei Gelegenheit der Postdampfervorlage über auswärtige und Kolonialpolitik sprechen. Stephan habe in der Kommission die Vorlage wie auf einem Fest vertreten. Er betonte auch die notwendige Annäherung an die Nationalliberalen, ohne welche man nun seit sechs Jahren regiert habe und mit denen man nun regieren könne, bis sie wieder zu stark und üppig geworden seien. Die Freikonservativen bezeichneten die im Allgemeinen mittlere politische 272

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Richtungslinie. Mit der Rechten sei nichts anzufangen, sie sei ebenso unfähig wie der Fortschritt. Letztere Bemerkung machte Bismarck mit besonderer Betonung, so daß sie wie ein Stich auf Puttkamer klang und empfunden wurde. Bismarck erzählte weiter, er habe den Nationalliberalen bei dem parlamentarischen Frühschoppen geraten, wieder in den Zirkus zu springen bei der Postdampfervorlage. Die Kolonisationsfrage sei eine zukunftsreiche, zu pflegende. Nicht daß man mit zivilversorgungsberechtigten Unteroffizieren kolonisieren könne, sondern man müsse die Handelsniederlassungen schützen und ihnen folgen. Ich wünschte, er wiederholte seine Ausführungen im Pleno oder in der Kommission, sie würden Sensation machen und ihn in einem schöpferischen Johannistriebe zeigen. Am 26. Juni hat der Fürst bei Gelegenheit der Dampfervorlage, wie schon vorher in der Kommission, seine Ideen über Kolonialpolitik entwickelt und dabei der Intrigen erwähnt, welche früher gespielt hätten, um Stosch an seine Stelle zu setzen, unter Mitwirkung Rickerts und der Liberalen. Ob das eine Improvisation war oder die Absicht, neuen Kombinationen in der Richtung vorzubauen, ist nicht recht ersichtlich. Seitdem der Kronprinz den Vorsitz des Staatsrats übernommen hat, sollen die Fortschrittler etwas verschnupft sein, während Bismarcks Stellung zum Kronprinzen eine offenbar intimere geworden ist. Allerdings könnte dieses Verhältnis wieder getrübt sein durch die Stellung, welche Bismarck gegen die Verlobung der Prinzeß Viktoria mit dem Fürsten von Bulgarien genommen hat. Die Old Queen hatte sich offenbar für diese Heirat lebhaft interessiert. Der Reichstag wurde am 28. Juni geschlossen nach einer ziemlich ergebnisreichen Session, das heißt das Unfallgesetz kam zustande. Die Postdampfervorlage blieb unerledigt. 29. Juli. Sonntag. Die Sitzung des Staatsministeriums war höchst interessant durch die Verlesung sehr vertraulicher Depeschen vom November 1883, welche auch die jetzige Situation beleuchten. Sie ergaben, daß sich in London ein förmliches Familienkomplott gebildet hatte, Preußen durch die Heirat des Fürsten von Bulgarien mit der Prinzeß Viktoria zu engagieren für dessen Aufrechterhaltung und uns dadurch mit Rußland zu brouillieren. Bismarck war von letzterer Absicht fest überzeugt und sieht in diesen verschlungenen Fäden polnische Intrigen, welche überall, besonders auch in Rußland und Wien, anzuknüpfen suchen. So schreibt Graf Herbert von einer After-dinner-Konversation mit dem Prinzen von Wales, in welcher dieser ihm dreierlei mitgeteilt hat zur Vermittlung an den Fürsten. 273

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1. Er selbst habe keinen politischen Einfluß und auch der Queen gelinge es nicht, ihren Willen in dieser Beziehung bei ihren Ministern durchzusetzen. Es erscheine ihr geboten, den Bulgaren zu stützen. Bismarck möge sich für ihn interessieren. Bismarck begleitete die Verlesung mit seinen Bemerkungen: Er denke gar nicht daran, sich in Verhältnisse einzumischen, welche ihn und Deutschland nichts angingen. Wenn der Bulgare sich nicht halten könne, so möge er gehen, er hätte gar nicht dorthin gehen sollen. Die Königin von England möge doch dort ihren Einfluß spielen lassen. Das habe er auch schon dem Bulgaren selbst gesagt, während der Prinz von Wales bei seiner letzten Anwesenheit hier nicht mit einem Wort darauf gekommen sei. Die Heiratsideen stammten aus derselben Quelle. Der Kaiser sei gegen den Bulgaren unwillig, seitdem dieser die Anmaßung gezeigt habe, seine Enkelin heiraten zu wollen. 2. sagte der Prinz von Wales, die Reise Gladstones nach Kopenhagen habe gar keine politische Bedeutung, sondern nur die einer Reklame für den Eigentümer des Schiffs, auf welchem er dahin gefahren sei. 3. möge sich der Fürst für die Prinzen von Orleans interessieren, welche friedlich gesinnt seien und ebenso wenig an einen Krieg mit Deutschland dächten wie die Republik. Jetzt stimme Vicomte de Vogué, früher französischer Botschafter in Wien, dieselbe Tonart an. Er behauptet, alles in Frankreich sei bereit zu einer Rekonstruktion des Königtums der Orleans. Es fehle nur noch an einem Monk und der sei auch schon gefunden in Galliffet. Der sei nur zu unvorsichtig in seinen Äußerungen und habe offen eine Diktatur in Aussicht gestellt, um die gesamten Gegner hängen zu lassen und anderthalb Jahre ganz ohne Parlament zu regieren. Duc Décazes sei derselben Ansicht und halte die Restauration für unmittelbar bevorstehend. Bismarck hält demgegenüber die seit dem Arnimstreit eingenommene Stellung fest, das heißt die der absoluten Nichteinmischung in die inneren Verhältnisse Frankreichs. Er hält die Republik für die Nachbarstaaten nicht für gefährlich, sie könne nur ernüchternd und abschreckend wirken. In England fürchte man sich vielleicht vor der Infizierung. Eine Republik sei schwächer, weniger aktionsfähig, und das sei die Hauptsache, weniger bündnisfähig nach außen ‒ er betonte das besonders in Rücksicht auf Rußland. Ein König ‒ auch noch so friedenslustig ‒ werde mit fortgerissen, er dürfe eben nicht als zu friedensselig oder ängstlich gelten. Er habe sich damals gegen Arnims Versuche, monarchische Intrigen zu begünstigen, ablehnend verhalten, und dabei bleibe er. Er wolle uns das alles mitteilen, um 274

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sich unseres Einverständnisses zu sichern. Er war merkwürdig mitteilsam und hat sich selten so offen über diese intimsten Verhältnisse der persönlichen Politik der höchsten Spitzen ausgelassen. Er habe Graf Herberts Brief nicht in den Geschäftsgang gegeben, sondern ihn Sr. Majestät direkt unter Rückerbittung mitgeteilt, welcher sich in einem eigenhändigen Schreiben (das er gleichfalls verlas) zustimmend geäußert habe. „Eine durable Monarchie sei allerdings einer Republik vorzuziehen, aber nicht durch uns zu machen.“ Bismarck erzählte dann noch von einem Besuch Franckensteins, welcher gebeten habe, wenn man dem Jesuitengesetz nicht zustimmen könne ‒ was er einsehe ‒, so möge man vorläufig die Sache ruhen lassen. Rom hätte in den letzten zwei Jahren nach der entgegenkommenden Haltung der preußischen Regierung wohl auch einige Schritte entgegenkommen sollen. Das werde er auch mit dem Nuntius in München besprechen. Bismarck hat ihm geantwortet: Er sei nach der Art der Behandlung der Posener Bistumsfrage ganz außerstande, einen Akt der Nachgiebigkeit zu tun. Nach der großen Majorität, mit welcher das Gesetz angenommen sei, erst recht nicht. Es sei schon viel, daß Franckenstein diese Ansicht ausspreche. Derselbe befinde sich in entschieden innerem Widerspruch mit Windthorst, wie es sich ja auch kürzlich bei verschiedenen Abstimmungen gezeigt habe. Dann war noch vom Staatsrat die Rede, ob die Mitglieder sich Staatsrat nennen dürfen und welchen Rang sie haben sollten. Man entschied sich für die zweite Klasse. Dietze habe gefragt, ob seine Frau sich Frau Staatsrat nennen dürfe. Die Ernennung habe die Betreffenden ungemein gekitzelt. Der Kronprinz sei ungehalten darüber gewesen, daß man dem sächsischen Kriegsminister Graf Fabrice zum fünfzigjährigen Dienstjubiläum den Schwarzen Adler verliehen habe. Bismarck hat die Frage en bagatelle behandelt, nachdem es durch die Dekorierung von Schleinitz’ und Stillfrieds markiert sei, daß man die Verleihung nicht besonders hoch schätze. Wenn Bismarck das dem Kronprinzen auch gesagt hat, so wird der das hart empfunden haben. Endlich ersuchte er Goßler, dem Dr. Schweninger zum akademischen Lehrstuhl zu verhelfen. Er könne ohne ihn nicht gesund leben und müßte sonst selbst nach München ziehen. Sein Vergehen, wegen dessen er aus der Münchner Fakultät entfernt worden sei, stuprum auf einem Kirchhof unter blühendem Flieder, dürfe man nicht so streng nehmen. Minister v. Goßler erklärte sich bereit, das Unmögliche zu tun, nachdem Schweninger durch 275

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Ernennung in eine Reichscharge rehabilitiert sei. Von Bötticher versprach, das zu ermöglichen, und in der Tat ist das Verdienst Schweningers, den Fürsten gesund zu erhalten, ein Reichsinteresse. Zum Schluß war noch die Rede von der nahenden Cholera, wovon der Fürst riet, möglichst wenig Lärm zu machen und den Doktoren nicht zu freie Hand zu geben. Dann sagte er allen freundlich Lebewohl, er müsse unter seine Kiefern in Varzin, er fühle sich zwar nicht matt, aber er werde es empfinden, wenn er erst aus diesem Getriebe heraus sei. 24. Juli. Ein Ministerrat aus Anlaß eines Schreibens des Fürsten in Cholerasachen. Nach Kochs Rat will er alles oder nichts, völlige Sperre von Personenund Gepäckverkehr oder gänzliche Freigabe. Obschon er selbst den ersten Schritt tat für ein Lumpeneinfuhrverbot im Elsaß, schrieb er jetzt etwas pikiert, als verlange das Staatsministerium von ihm Torheiten. Wir beschlossen, es bei der Sperre der Lumpeneinfuhr zu lassen, und haben demgemäß geantwortet. Die Verhandlungen mit Rom scheinen zu einem völligen Stillstand gekommen. Der Papst hat bei Schlözers Abschiedsbesuch von Posen gar nicht gesprochen. Übrigens läßt er sich durch Lenbach ein Porträt Bismarcks malen. 20. Juli. Mit Schlözer und Friedberg diniert. Ersterer kam von Varzin und war ganz erfüllt von „Ottos“ Weisheit und Geltung in der äußeren Politik. Die Reise des Kronprinzen sei lediglich des Papstes wegen geschehen. Er, Schlözer, habe sich allerdings in der Erwartung getäuscht, daß die beiden Erzbischöfe als Gastgeschenk geopfert würden. Der Papst habe gebrannt darauf, den Kronprinzen zu empfangen, und sei enttäuscht gewesen, als dieser sich nicht als Träger einer besonderen Mission eingeführt habe. Natürlich habe er sich schnell beherrscht. Jacobini sei bei der Ankündigung des Besuchs des Kronprinzen beinahe vom Stuhl aufgesprungen und habe auf seine (Schlözers) Veranlassung sofort eine Begrüßungskarte auf der preußischen Gesandtschaft abgegeben. Im Übrigen bestätigte er, daß Windthorst in der deutschen Frage den Vatikan dirigiere, nicht umgekehrt. Franckenstein habe wiederholt zum Frieden geraten und halte den Widerstand des Vatikans für töricht. Andere einflußreiche Mitglieder des Zentrums ständen auf Windthorsts Seite. Eine deutsche Fürstin (Hatzfeldt), welche kürzlich beim Papst Audienz hatte, sagte ihm einige Wahrheiten und beklagte sich, daß die katholischen Geistlichen sich in Deutschland mehr um Politik als um die Seelsorge kümmerten. Ehe der Maler Lenbach bis zum Papst zugelassen worden sei, hätten viele Intrigen gespielt, der Papst habe ihn lange vor sich knien lassen und examiniert, ob er ein guter Katholik sei. Die Königin und die anderen 276

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italienischen Damen seien voll Devotion gegen den Papst, und der Kronprinz habe ihr seine Audienz wörtlich erzählen müssen. Der Vatikan mache immer noch auf jeden Neuling einen imposanten Eindruck. 23. Oktober. Gestern Ministerrat beim Fürsten, welcher seit einigen Tagen wieder hier. Sieht wohl aus, klagt auch nicht über sein Befinden, leidet aber an Gesichtsschmerzen, was ihn beim Sprechen geniert. Sprach zunächst über den Staatsrat, als sei ihm die Sache schon unbequem, und fühlt offenbar schon die entstehenden Weitläufigkeiten und Friktionen. Die Vorlagen sollen gleichzeitig in den Ministerrat und in den Staatsrat, aber erst zur Beschlußfassung in Letzterem kommen, nachdem Ersterer votiert hat. Das preußische Ministerium beschließt erst, nachdem die Vorlagen den Staatsrat passiert haben. Frage, ob die Mitglieder Diäten und Reisekosten erhalten sollen. Eine Geschäftsordnung sei ebenso wenig nötig wie im preußischen Staatsministerium ‒ dabei hat Letzteres zirka zehn, der Staatsrat gegen hundert Mitglieder. Der einzige mir einleuchtende Zweck des Staatsrats scheint mir, daß der Kronprinz in näheren Konnex tritt mit den laufenden Geschäften. Unterstaatssekretär von Möller verlas den Entwurf der vom Kronprinzen zu verlesenden Eröffnungsrede. Die bereits von ihm gebilligte Geschäftsordnung soll reponiert werden. Die kommandierenden Generäle und Oberpräsidenten sollen fortbleiben und sich nur ausnahmsweise zeigen. Nur für die Prinzen sollen Stühle gestellt werden. Als Vorlagen werden die für den Reichstag vorbereiteten gemacht werden: 1. Postsparkassengesetz, 2. Dampfersubvention, 3. Ausdehnung der Unfallversicherungsgesetze auf die Transportgewerbe und Landwirtschaft. Dann wurde die braunschweigische Frage erörtert. Der Herzog von Braunschweig war 18. Oktober 1884 in Sibyllenort gestorben. Der Herzog von Cumberland hat durch den Grafen Grote ein Besitzergreifungspatent und die Notifikation hierher gelangen lassen, daß er die Regierung angetreten habe. Er hat Abschrift dieses schon längst ausgefertigten Aktenstücks hierher an den Kanzler gelangen lassen mit dem Ersuchen, die Originale Sr. Majestät durch den Grafen Grote überreichen zu dürfen. Er tituliert darin Se. Majestät „freundlieben Bruder und Vetter“ und gibt ihm sonst den Kaisertitel. Bismarck meinte: Man müsse den Regentschaftsrat weiter fungieren und den Bundesrat die ihm zustehenden Dinge entscheiden lassen. Für die Ordnung sei ja durch das Militärkommando gesorgt. Er schien noch nicht mit sich selbst im Klaren, was demnächst zu tun sei, und wollte Sr. Majestät baldigst Vortrag halten. Wie verlautet, hat der Herzog von Braunschweig seinen schlesischen Grundbesitz dem König von Sachsen, sein Barvermögen dem Herzog von Cumberland vermacht. Letzteres soll sehr groß sein. Windthorst 277

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ist zu Cumberland gereist und die Germania speit Gift, daß die Sukzession des Welfen beanstandet wird. Die wahre Physiognomie des Zentrums zeigt sich in alledem. Bismarck betonte wieder die Zweckmäßigkeit des Zusammengehens mit den Nationalliberalen, die doch einen Faden hätten, an welchem sie sich leiten ließen. Er hat die medingsche Originalkorrespondenz über die Welfenlegion für teures Geld gekauft und es sitzen jetzt drei Leute an der Arbeit, sie zu studieren. 25. Oktober. Eröffnung des Staatsrats durch den Kronprinzen in Anwesenheit der Mehrzahl der auswärtigen Mitglieder. Der Kronprinz las die etwas schwerfällig stilisierte Rede etwas unsicher vor, als wenn er befangen wäre. Bismarck sah auch angegriffen und verstimmt aus und trug eine Infanterieuniform, welche schlotterig auf ihm saß. Nach der Eröffnung, welche im Elisabethsaale stattfand, machte der Kronprinz noch Cercle. Bismarck bemerkte, daß er seit dreißig Jahren in diesen Räumen, welche früher Friedrich Wilhelm IV. bewohnt habe, nicht gewesen sei. Im Erker nach der Kurfürstenbrücke zu standen zwei Sevresvasen mit den jugendfrischen Porträts der Kaiserin Eugenie und Napoleons! Um 5 Uhr nachmittags fand Diner im Palais statt, vorher hielt Se. Majestät eine kurze Ansprache über die Reaktivierung des Staatsrats. Bei Tisch unterhielt er sich lebhaft mit Bismarck, welcher ihm gegenübersaß, rechts davon Moltke und Maybach, links Puttkamer und ich. Bismarck erzählte alte Familiengeschichten und erwähnte, was Sr. Majestät neu schien, daß er mütterlicherseits vom Feldmarschall Derfflinger abstammt, was er gern erzählt. Gegen den Kronprinzen war Bismarck von größter Aufmerksamkeit und Deferenz. Der Kronprinz trank ihm bei Tisch zu, war aber still und machte einen müden Eindruck. 27. Oktober. Zum kleinen Familiendiner bei Bismarck, welcher sehr mäßig aß, trank, rauchte. Von Politik war wenig die Rede, gestreift wurde Braunschweig und Staatsrat. Er fragte, ob Se. Majestät mit Bennigsen gesprochen habe, er hätte es nicht gesehen und Bennigsen nicht recht in den Vordergrund bringen können, ohne es zu auffallend zu machen. Der Kaiser habe eine alte Aversion gegen Bennigsen, weil er in der Konfliktszeit als Präsident des Nationalvereins die preußische Opposition unterstützt habe. (Es ist merkwürdig, wie fest und stets wiederkehrend Bismarck auf Bennigsen zurückkommt und ihn als Ministerkandidaten festhält.) Bismarck kam vom Kaiser, welcher nach einem längeren Vortrag über Braunschweig und den Staatsrat sich über alte Zeiten unterhalten hätte. Der Diamantenherzog sei in einer schlottrig sitzenden Uniform, in gezierter Weise 278

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austretend, bedeckt mit Diamanten am Hals, bei seinem Vater Friedrich Wilhelm III. erschienen, welcher gar keinen Sinn für diesen Glanz gehabt habe. Über die Wahlen redend, meinte Bismarck, wenn sie über Gebühr oppositionell ausfielen, so würde das parlamentarische System umso schneller ruiniert und die Säbelherrschaft vorbereitet werden. Das Manifest Cumberland schien ihm nicht unwillkommen. Er sei so bureaukratisch geworden in seinen Gewohnheiten, daß er sich kaum noch nach dem Lande sehne. Die am 28. Oktober stattgehabten Reichstagswahlen scheinen überall ein Wachsen der Sozialdemokraten ergeben zu haben, so besonders in Berlin. Gewählt ist Löwe und ein Sozialdemokrat, in den anderen vier Wahlkreisen stehen solche in der Stichwahl mit Fortschritt und Stöcker, Cremer. Der Fortschritt hat eine Anzahl Sitze verloren und wird in den Stichwahlen wohl noch einige gewinnen durch die Unterstützung von Zentrum und Sozialisten. Der verstorbene Herzog von Braunschweig hat wirklich den König von Sachsen zum Erben seiner schlesischen Allodialbesitzungen (Sibyllenort) und den Herzog von Cumberland zum Erben seines Kapitalvermögens eingesetzt. Das von ihm gleichfalls besessene Thronlehen Öls dagegen fällt an die preußische Krone zurück und geht in den Besitz des Kronprinzen über. Bei einer am 4. November in Spandau stattfindenden Jagd, wozu dieser mich befohlen hatte, sprach er den Wunsch aus, daß ich die Sache einmal besichtige und ihm Rat betreffs der künftigen Organisation der Verwaltung geben möchte. Ich erklärte mich bereit dazu, falls das Hausministerium das nicht als zu seinem Ressort gehörig in Anspruch nähme. Dabei erzählte Se. Königliche Hoheit seine letzte Begegnung mit dem verstorbenen Herzog. Er habe ihn nach dem französischen Kriege gesehen, wo er nach Berlin gekommen sei, um den Kaiser zu beglückwünschen. Der Herzog habe ihn in eine Fensternische genommen und in seiner eigentümlichen Weise gesagt: Er habe sich einen Pedigree kommen lassen und daraus ersehen, daß, wenn er einmal pfi (pfiff) wäre, der König von Hannover sein nächster Erbe sei. Das ginge nicht. Dann käme dessen Sohn, dem würde der König aber nie die Erlaubnis geben. Dann käme der Herzog von Cambridge mit seinen dicken Töchtern, welcher keine Söhne ‒ wenigstens keine ehelichen ‒ hätte. Dann käme Prinzeß Viktoria als nächste Erbin. Er (der Kronprinz) habe für diese Meinungsäußerung gedankt, aber es bestritten, daß die Rechte des Hauses Hannover so ohne Weiteres beiseitegesetzt werden dürften. Wahrscheinlich hat der Kronprinz dadurch den Herzog irre gemacht in seinen freundlichen Absichten und es so selbst vereitelt, daß der Herzog zu Gunsten seiner Söhne Verfügungen getroffen hat. 279

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Später soll der Herzog daran gedacht haben, den Sohn des Prinzen Friedrich Karl zum Erben einzusetzen. Schließlich hat er den ganz fernstehenden König von Sachsen eingesetzt, welcher regelmäßig zu seinen Jagden erschien. Land und Stadt Braunschweig hat er gar nicht bedacht, was die Gefühle dort etwas abgekühlt hat. Am 2. November wurde die neue Polytechnische Hochschule in Charlottenburg feierlich eingeweiht, wobei Se. Majestät eine sehr schöne, richtig gefühlte improvisierte Ansprache hielt, welche großen Eindruck machte. Er schloß mit dem Wunsch, „daß die Leistungen der Hochschule den prachtvollen Einrichtungen des Neubaues entsprächen“. Ein bewunderungswürdiger alter Souverän! Die Sitzungen des Staatsrats nahmen einen schnellen, sachgemäßen Verlauf. Zur Beratung standen das Postsparkassengesetz, Ausdehnung des Unfallgesetzes auf die landwirtschaftlichen Arbeiter, wo ich den Vorsitz in den betreffenden Sektionen führte. Der Kronprinz war stets mit großer Ausdauer anwesend. Es fanden zwei Plenarsitzungen im Elisabethsaal statt, welche etwas lang und ganz parlamentarisch verliefen. Bismarck fand die Versammlung zu groß und die Verhandlungen zu lang; entschied sich dafür, das Unfallgesetz nur in den Sektionen beraten zu lassen, nicht in pleno. Bennigsen, Graf Zedlitz und Baron Minnigerode waren Referenten. Die Zuneigung zu Bennigsen ‒ Miquel trat wieder eklatant hervor. Die Kongokonferenz ist vom Fürsten mit einer großen, inhaltsvollen Rede eröffnet worden. 20. November. Feierliche Eröffnung des Reichstags durch Se. Majestät. 19. November. Jagd in Letzlingen, wo Se. Majestät siebzehn Dubletten auf Hochwild machte und über hundert Kreaturen erlegte. War sehr rüstig, gesprächig und gnädig zu seinen Gästen. Puttkamer und mich heranwinkend, uns neben ihm zu setzen, meinte er: „Ich bin gern zwischen meinen Ministern.“ 22. November. Kongodiner bei Sr. Majestät, etwa achtzig Personen, die fünf Botschafter, Bismarck, alle Prinzen, Stanley, ein kleiner, breitschultriger, sonnenverbrannter Mann mit kurzem, grau meliertem, straffem Haar. Der Kaiser begrüßte ihn sehr warm: „Ah c’est vous!“ und unterhielt sich auch nach Tisch lange mit ihm. Auch Bismarck zeichnete ihn sehr aus. 15. Dezember. Eine sehr heftige Szene im Reichstag! Fürst Bismarck versicherte auf Ehrenwort und Diensteid die Berechtigung einer Etatsforderung (neue Direktorenstelle im Auswärtigen Amt), welche schließlich unter dem kleinlichen, höhnischen Widerspruch von Fortschritt, Zentrum, Sozial280

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demokraten abgelehnt wurde. Ich habe den Fürsten wohl nie so erregt gesehen und fürchte, er wird ernste Konsequenzen daraus ziehen. In der später stattfindenden Staatsministerialsitzung meinte er, man müsse den Reichstag nicht mit Auflösungsdrohungen ängstigen, sondern weitere Torheiten begehen lassen, bis er schußrecht sei. Dr. Schweninger habe ihm empfohlen, nach Italien zu gehen, was auch für die Fürstin nötig sei. Vielleicht werde er es tun, obschon es ihn schrecklich langweilen werde. Mit dem Kaiser habe er vier Jahre gegen Kammermehrheiten regieren können, der Kronprinz glaube aber an Majoritäten. Mit diesem Wahlgesetz sei nicht auszukommen. Man müsse sagen wie Fürst Schwarzenberg von der Verfassung von Kremsier: „Diese Einrichtung hat sich nicht bewährt.“ Es sei merkwürdig, wenn er jetzt nach zweiundzwanzigjähriger Regierung mit einer budgetlosen Zeit ende, wie er damals begonnen habe. Er betonte wiederholt, daß er einen Putsch der Sozialdemokraten wünsche, man möge den Stoff zu weiteren Konflikten sich weiterentwickeln lassen. Er war so ruhig und resigniert, wie er sonst nach ähnlichen Konflikten nicht ist. Gerade darum trägt er sich vielleicht mit ernsten, weitertragenden Plänen. 22. Dezember. Gestern zum Tee bei den Majestäten, wo die beiden badischen Prinzen, Reuß VII. und Waldersee. Sie war erregt über den reinsdorffschen Prozeß, Attentatversuch beim Riederwaldfest. Der Kaiser habe alles genau gelesen und sei deprimiert über alle diese Schändlichkeit. Er sprach von den patriotischen Kundgebungen, welche aus dem Lande jetzt erfolgten wegen der Ablehnung des von Bismarck geforderten Ministerialdirektors, und freute sich, daß die Niederlage des Fürsten wieder zum Guten ausschlage. Vorher hatte Prinz Wilhelm beim Diner bei Puttkamer erzählt, daß Se. Majestät sich bei der letzten Familientafel sehr lebhaft mißbilligend über den Reichstag ausgesprochen habe, so daß alles auf dem Kopfe gestanden habe. „Seine Eltern seien auch dabei gewesen und die hätten es auch hören sollen.“ 23. Dezember war ich zum Vortrag bei Sr. Majestät befohlen, wurde aber wieder abbestellt. Als ich dann am 24. erschien, kam Se. Majestät mit ausgestreckten Händen mir entgegen und bat wiederholt „um Verzeihung“, daß er diese Konfusion gemacht und mich abbestellt habe. Er sei unter dem Eindruck gewesen, Bismarck habe sich angesagt; das sei aber ein völliger Irrtum gewesen ‒ er wisse gar nicht, wie er dazu gekommen sei u. s. w. Genug, es war ganz beschämend, wie er sich immer wieder wegen einer Sache entschuldigte, wo gar nichts zu entschuldigen war. Ebenso tut er es, wenn man auch nur wenige Minuten zu warten hat ‒ wirklich ein einziger Mann an Schlichtheit, Güte, strengen, pünktlichen Dienstgewohnheiten. Jede Begeg­ nung mit ihm ist eine Freude! 281

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1885 1. Januar. Se. Majestät empfing uns zur Gratulation sehr frisch und sagte jedem etwas Freundliches, besonders dem Fürsten. Er müsse sich freuen über die wohlwollenden Kundgebungen aus ganz Deutschland. Solche Anerkennung sei noch keinem Staatsmann zuteilgeworden. Unsere guten Wünsche erwiderte er mit „douce réciprocité“. Auf die Bemerkung des Fürsten, er habe bis nach 2 Uhr mit seiner Familie gefeiert und die Fürstin mit, sagte der Kaiser: Sie hätten die kronprinzlichen Herrschaften bei sich gehabt, sie hätten sich schon nach 10 Uhr getrennt. Früher mit dem hochseligen König seien sie allerdings auch bis ins Neujahr zusammengeblieben. Dann kam er auf den reinsdorffschen Prozeß und die schwere Entscheidung darüber. Es sei wunderbar, daß die Sache habe ein ganzes Jahr geheim gehalten werden können trotz der Explosion an der Rheinhalle. Wir möchten aushalten wie bisher, die Kabinette machten ihm die Geschäfte leicht. 14. Januar. Bismarck hat im Reichstag einige große Reden über Kolonialpolitik und unsere europäischen Beziehungen gehalten. „Wir seien von Freunden rings umgeben und kein Wölkchen trübe den Horizont.“ Er war ebenso groß und frisch wie Windthorst kleinlich und altersschwach. Wir bereiten eine Erhöhung der Holz- und Getreidezölle vor. 1. Februar. Sonntag. Eine sehr lebhafte Sitzung beim Fürsten, worin er seine bekannten Finanztheorien entwickelte, welche ein Vakuum als erstrebenswertes Ziel bezeichnen. Es setzte Scholz etwas in Verlegenheit, dieser wich aber geschickt aus und parierte die Stiche. Es handelt sich um Lehrergehaltserhöhungen, welche Bismarck wollte und Scholz bekämpfte; bei der Abstimmung siegte Bismarck mit fünf (Bronsart, Puttkamer, Goßler, Bötticher) gegen vier (Maybach, Lucius, Friedberg, Scholz) Stimmen. Es passiert mir nicht oft, mit Scholz zu stimmen, mit dem man meist in einem Kampf um Etatspositionen lebt. Vorher erging sich Bismarck über die den Papst beherrschende Jesuitenpropaganda, welche den Frieden verhindere und den Papst mit der Furcht vor Vergiftung terrorisiere. Sie hätten in der lagrand-dumonceauschen 282

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Bankaffäre einen Verlust von vielen Millionen, das geniere sie aber nicht. Kardinal Franzelini sei das Haupt dieser Partei, in welcher auch die Polen eine große Rolle spielten. Sie verbreiteten sich auch auf den deutschen Universitäten und hätten in Würzburg und Leipzig festen Fuß gefaßt. Bismarck legt dieser Bewegung eine große Bedeutung bei und sieht in den Polen stets gefährliche Intriganten und internationale Konspiratoren. Er behandelt jetzt die meisten Fragen nach Wahlrücksichten. Über den Entwurf des Börsensteuergesetzes will er den Staatsrat hören ‒ für den Finanzminister ein unbequemer Aufenthalt. 9. März. Gestern eine Sitzung, in welcher der Fürst den Kultus- und den Justizminister etwas bedrängte ‒ wegen eines fortschrittlichen Staatsanwalts. In der Kornzolldebatte hat Bismarck sehr lebhaft und wirksam gesprochen, der Erfolg der Erhöhung ist sicher. Am 2. März hielt er bei Gelegenheit der Kolonialfrage eine großartige Rede über auswärtige Politik, welche sehr aggressiv und niederschmetternd für Gladstone und Granville war. Sie haben eine sehr unfreundliche, fast feindliche Politik unseren Bestrebungen, die Hamburger im Kamerungebiet und sonst an der westafrikanischen Küste zu schützen, entgegengesetzt, obschon es sich, abgesehen von der Walfischbai, um anerkannt herrenloses Land handelt, welches außerhalb der englischen Machtsphäre liegt. Am 3. März reiste Graf Herbert nach London, vermutlich mit einer Art Ultimatum in Kolonialsachen in der Tasche. Granville hat inzwischen im englischen Parlament eine Abbittrede erster Klasse gehalten, welche Bismarck völlige Satisfaktion gibt. Dieser steht jetzt wieder auf der Höhe seines beherrschenden Einflusses in der europäischen Politik. Zur Feier seines siebzigjährigen Geburtstages werden großartige Ovationen vorbereitet. Es findet eine Geldsammlung statt, um ihm eine Ehrendotation zu gewähren, welche er nach eigenem Gusto verwenden soll. Er soll sich zur Annahme bereit erklärt und gegen Komiteemitglieder geäußert haben (Ernst Mendelssohn): Er habe Deutschland so viel erworben und genützt, daß er gegen die Annahme kein Bedenken habe. Eine sicher völlig berechtigte Auffassung. Die Engländer geben siegreichen Feldherren und Staatsmännern große Kapitalien und Renten, welche sich auf die Nachkommen vererben. Die Marlborough und Wellington beziehen noch heute bedeutende Staatsrenten. Im Publikum herrscht eine gewisse Befangenheit oder Voreingenommenheit gegen diese Auffassung, und viele meinen, er solle eine milde Stiftung damit machen. Näher liegt jedenfalls eine Stiftung für die eigene Familie und seine Deszendenz. 283

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20. März. Leichenfeier für den verstorbenen Minister von Schleinitz, welcher Ihre Majestät beiwohnte. Graf Otto Stolberg wird sein Nachfolger. Er wird viel zu ordnen und auf anderen Fuß in der Verwaltung zu bringen finden. 19. März. In der Staatsministerialsitzung äußerte der Fürst: Es werde die öffentliche Meinung im Lande empfindlich berühren, wenn die englische Rationalität durch die konfessionelle Richtung der Kronprinzeß schärfer als nötig hervorgehoben werde. Es handelte sich um die Erteilung von Korporationsrechten an die hiesige anglikanische Kapelle, deren Gemeindemitglied die Frau Kronprinzeß ist. Im Abgeordnetenhaus sind heute die Gesetze über das auf die Rheinprovinz zu übertragende Konsolidationsverfahren und im Reichstag die Erhöhung der Holzzölle angenommen worden. Damit ist mein parlamentarisches Arbeitspensum glücklich erledigt. Das Komitee der Bismarckspende hat sich für den Ankauf der alten Schönhauser Güter für den Fürsten entschieden. Ein Gedanke, mit dem Bismarck einverstanden ist. Es sind bisher zirka anderthalb Millionen Mark zusammengebracht. Herzog von Ratibor steht an der Spitze. Zur Feier des achtundachtzigjährigen Geburtstags Sr. Majestät waren vierundsechzig Fürstlichkeiten zur Gratulation eingetroffen, darunter die Prinzen von Wales, Edinburgh, Schweden. Se. Majestät war leider durch Heiserkeit verhindert, unsere Gratulation persönlich entgegenzunehmen, und erschien auch bei der Soiree am Abend nicht. Es war das erste Mal in meiner Ministerzeit, daß dieser Empfang unterblieb, und so fehlte die Hauptsache der Feier des Tages für uns Er hat sich aber, wie heute (23. März) gemeldet wird, schon wesentlich erholt durch eine gute Nachtruhe, indem er bis 8 ¾ Uhr früh schlief, Er hat gestern nur die Fürsten empfangen, darunter Bismarck. Letzterer, welchen ich nachher sprach, erzählte: Der Kaiser habe ihn allein empfangen und sei anfangs sehr wehleidig gewesen und habe vom Sterben gesprochen. Er möge auch nach seinem Tode aushalten und Schaden verhüten. Allmählich habe er sich aber ermuntert und gesagt, sie wollten es zusammen noch ein weiteres Jährchen versuchen. Das Abfindungsgesetz für das augustenburgsche Haus ist im Abgeordnetenhause ohne Widerspruch einstimmig angenommen worden. Da ich anwesend dabei war, machte ich sofort dem Kronprinzen durch Boten Meldung hiervon. Bei unserem nächsten Begegnen (25. März) dankte er lebhaft für diese Benachrichtigung. Der Herzog Günther und Prinz Christian seien gerade bei ihm gewesen, so daß er es ihnen habe schwarz auf weiß mitteilen können. 284

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2. April. Der gestrige Geburtstag des Fürsten verlief glänzend und ungestört beim schönsten Wetter. Ich war in unmittelbarer Nähe Augenzeuge, als der Kaiser, gefolgt von sämtlichen Prinzen des königlichen Hauses (Kronprinz, Wilhelm, Friedrich Karl, Heinrich, Leopold, Georg, Alexander), eintrat und ihm mit bewegter Stimme dankte für alles, was er ihm und dem Lande geleistet habe, und ihn bat, auch ferner auf seinem Posten auszuhalten. Bismarck antwortete bewegt. Es sei stets sein höchstes Glück gewesen, ihm zu dienen, und so würde es für den Rest seines Lebens sein. Als er versuchte, ihm die Hand zu küssen, umarmte der Kaiser ihn und küßte ihn rechts und links. Beide hatten Tränen in den Augen. Den Hintergrund bildete dabei das neue wernersche Bild der Kaiserproklamation in Versailles, rechts davon die Gruppe der Prinzen, links die Familie Bismarck stehend. Die drei jungen Rantzau (Bismarcks Enkel) in roten Samtjacken bildeten eine allerliebste Gruppe, als sie vor dem Kaiser standen und die Mama sie auf den Kopf stupste, damit sie ihm die Hand küßten. Auch der Kronprinz sprach sehr herzlich mit allen Gliedern der Familie. In den Abendzeitungen der fortschrittlichen Presse war bemerkt worden, daß das kronprinzliche Palais ganz dunkel gewesen sei und niemand am Fenster gestanden habe, den vorbeikommenden Festzug zu sehen. Da die kronprinzlichen Herrschaften aber am 31. März zum Tee im kaiserlichen Palais waren, wohin ich gleichfalls befohlen war, so erklärt sich das ganz natürlich. Unter den vielen kostbaren Geburtstagsgeschenken aller Art ist auch eine Photographie der Familie des Prinzen Wilhelm, begleitet von einem handschriftlichen Glückwunsch der Prinzeß. „Die drei jüngsten Hohenzollern dürfen bei diesem Fest nicht fehlen, darum schicke ich sie in effigie.“ Der Herzog von Ratibor überreichte den Kaufbrief von Schönhausen, „lastenfrei“, wie er bemerkte. Wie der Fürst Elsaß-Lothringen mit Deutschland wieder vereinigt habe, so wünsche das Komitee ihm den alten Familienbesitz wieder vereinigt zurückzugeben. Bismarck dankte sehr herzlich und betonte, daß ihm das eine besonders große Freude sei. Jetzt könne er erst mit Recht den Namen Bismarck-Schönhausen führen, während er sich bisher Bismarck in Schönhausen hätte nennen sollen. Diese Form der Dotation ist absolut unanstößig, der Wiedererwerb eines in schweren Kriegszeiten verlorenen Familienbesitzes hat etwas höchst Berechtigtes und selbst Ideales. Die Anschauung, ein hochstehender Mann dürfe keine Geschenke von reellem Wert annehmen, ist eine durchaus künstliche, gar nicht natürliche. Die abfällige Kritik der demokratischen Presse ist lediglich ein Ausdruck des Neides und der Mißgunst, welcher 285

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diesen edlen Volkstribunen eigen ist. Der Gratulationsfrühschoppen dauerte von 11 bis nach 4 Uhr und war besucht von Deputationen, vom Kaiser, Botschafter, General bis zum Kantor, Studenten und Dorfschulzen. Eine Simmentaler Deputation in Nationaltracht hatte Vieh als Geschenk gebracht. Es wurden Salamander gerieben und getoastet. Besonders interessant war der Eintritt von wenigstens sechzig Generälen mit General von Pape an der Spitze. Bismarck erwiderte alle Ansprachen geistreich, launig bewegt, lachte öfter herzlich und schien die Sache zu genießen, ohne Ermüdung zu zeigen. Die Studenten von siebzehn Universitäten in bunten Kneipjacken belebten das Bild in hervorragender Weise. Auch ihre Ansprache war gut, männlich, patriotisch, ohne Phrase. Die Söhne wurden dekoriert von Sr. Majestät. Graf Herbert mit Rotem Adler zweiter und Graf Bill dritter Klasse. Alles verlief harmonisch ohne üble Nachwehen für den Fürsten ‒ wirklich ein nationaler Festtag! 12. April. Vertrauliche Besprechung (übliche Form der Einladung zu den meist sonntags 1 Uhr stattfindenden Staatsministerialsitzungen) beim Fürsten. Bismarck entwickelte bei Besprechung des Antrags von Huene (teilweise Überweisung des Ertrags der landwirtschaftlichen Zölle an die Kreise) und des Antrags von Zedlitz (Staatszuschüsse zu den Lehrerpensionen) wieder seine alte Vakuumtheorie und belobte Scholz, daß er Dinge täte, zu welchen sich Bodelschwingh nie entschlossen hätte. (Es klang beinahe wie Spott!) Dagegen wehrte er sich lebhaft gegen den Gedanken, die den Kreisen überwiesenen Beträge zur Steigerung der Schullast zu verwenden. Er sprach von der in Afghanistan vorhandenen Kriegsgefahr, berührte aber Braunschweig und Kulturkampf nicht. Von Scholz konstatierte, daß das Zentrum seine Abstimmung für die Viehund Getreidezölle nicht abhängig mache von der Annahme des Antrags Huene seitens der Regierung, wohl aber die betreffs der Erhöhung der Holzzölle. Wir anderen wußten das von Haus aus und hatten die Annahme des Antrags Huene bedenklich gefunden. Sie war indes erfolgt, ehe das Staatsministerium darüber gehört worden war. 27. April. Graf Berchem, Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, hatte eine Einladung der österreich-ungarischen Regierung zum Besuch der in Budapest stattfindenden Ausstellung an mich übermittelt, und Bismarck, welcher den Besuch durch mich wünschte, ließ mich kommen und empfahl, den Besuch lediglich als einen Akt der Courtoisie zu bezeichnen, nicht als eine Informationsreise, unsere Zollpolitik als Gebot der Selbsterhaltung, nicht als Frucht der parlamentarischen Mehrheitsströmung darzustellen. 286

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Die Freundschaft zu Österreich-Ungarn möge ich fest betonen und Hoffnung auf Erhaltung des allgemeinen Weltfriedens aussprechen. Er bemerkte, England wünsche jetzt lebhaft die Intervention einer dritten Macht, das ist Deutschland, in Indien, er werde sich aber wohl hüten, Rußland zu konterkarieren. Er unterbrach sich in diesem Satz, über Gesichtsschmerzen klagend, und schellte nach Graf Herbert, welcher ihm die letzteingegangenen Depeschen von Graf Münster und Schweinitz bringen mußte. Er meinte dann in dieser Unterhaltung: „Das Wort Rußland dürfe ich in Ungarn nicht aussprechen.“ Kalnoky heiße „Schmutzfuß“, ein Sinn, welcher noch besonders hervortrete, wenn man, wie ich es täte, die paenultima akzentuiere. Das a müsse gedehnt gesprochen werden. Ich reiste am nächsten Tage über Wien nach Pest, wo ich vom Kaiser wie Ministern mit großer Auszeichnung behandelt wurde und viel Interessantes erlebte. Am 5. Mai war ich wieder in Berlin. 13. Mai wurde die Zolltarifnovelle nach den Beschlüssen zweiter Lesung unverändert angenommen, die Getreidezölle sind verdreifacht, Holzzölle verdoppelt. 19. Mai. Die Fürstin Bismarck ist mit einer Lungenentzündung bettlägerig, so daß von Reisen vorläufig keine Rede. Er will einige Tage nach Schönhausen und später nach Kissingen gehen. Das Börsensteuergesetz ist gleichfalls erledigt. Bezüglich des russisch-englischen Konflikts meinte Bismarck, die Sache sehe wieder etwas krauser aus und die Erhaltung des Friedens sei noch nicht völlig gesichert. Gladstone freilich habe geäußert, man müsse noch viel über sich ergehen lassen, „to avoid the worst“. Solche Äußerungen erführen natürlich die Russen auch und würden danach handeln. Bismarck hat offenbar nichts dagegen, daß sich Rußland und England in Asien etwas verbeißen. Die Frage, inwieweit ungarische Schweine importiert werden dürfen, führte zu einigen Schwierigkeiten mit dem Fürsten, welcher auch gegen vorübergehenden Import bei vorhandenem Bedarf und völliger Gesundheit war. Se. Majestät war erkältet, hatte Blasenbeschwerden mit Blutabgang und mußte das Zimmer hüten, was natürlich bei seinem hohen Alter sehr beunruhigend war. Es war auch für den Fürsten unmöglich, unter diesen Umständen abzureisen, obschon die Fürstin leidlich wiederhergestellt war. 1. Juni. Staatsministerialsitzung beim Fürsten. Nachdem er sich widerstrebend damit einverstanden erklärt hatte, daß die Wahlen zum Abgeordnetenhaus zur gewöhnlichen Zeit im Herbst stattfänden und das Notkommunalsteuergesetz bestätigt werde, erzählte er, daß er den Kaiser nicht verlassen könne, solange er in diesem Schwächezustand sei. Er habe ihn 287

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vorgestern empfangen und sei förmlich unwillig gewesen über sein Befinden, was er als ein gutes Zeichen ansehe von wiederkehrendem Kraftgefühl. Seine politischen Mitteilungen habe er eingehend und mit Interesse entgegengenommen. Lord Rosebery, welcher ihn kürzlich besuchte, habe über die englisch-russischen Schwierigkeiten in Asien gar nicht gesprochen, aber über Ägypten und den Sudan, bis er selbst davon angefangen habe. Er halte die Gefahr eines dort drohenden Konflikts für nach wie vor vorhanden. Er höre, daß die russischen Truppen dort verstärkt und die Eisenbahnbauten in der Richtung beschleunigt würden. Die Verhandlungen russischerseits würden verschleppt und vielleicht wirke die Erkrankung des Kaisers dämpfend, weil man sich der freundlichen Gesinnung des Kronprinzen weniger sicher fühle. In Frankreich verschlechtern sich die inneren Verhältnisse und gingen rapide abwärts. Für uns würden die Franzosen nie auch nur zu aufrichtigen defensiven Bundesgenossen werden. Diese Feindschaft sei zu alt und werde auch ferner dauern. Ein Krieg zwischen England und Frankreich sei für uns indes fast ebenso unbequem wie ein Krieg zwischen Österreich und Rußland. Blieben wir neutral, so erbten wir den Haß beider Teile, und wir könnten kaum anders, als schließlich doch auf die Seite Englands treten. England werde nur zu schlecht und unfreundlich gegen uns regiert. Es wiederholten sich jetzt in Sansibar dieselben Intrigen gegen die deutschen Interessen wie in Angra, Neu-Guinea, Kamerun. In London verspreche man alles Mögliche, aber in der Lokalinstanz arbeite man gegen Deutschland. 11. Juni. Die Braunschweiger Frage macht mit Bayern und noch mehr mit Sachsen einige Schwierigkeiten. Bismarck weist in einem langen nach Bayern gerichteten Schreiben die dortigen Einwendungen zurück und deutet an, wenn man die Sache auf das politische Gebiet brächte, sei es die Frage, ob Preußen als Träger der Krone Hannover nicht erbberechtigt sei für Braunschweig. Die Fehler der Gegner setzen Bismarck immer wieder in eine bessere Lage und drängen auf den Weg der Annexion, was doch die reinlichste Lösung wäre. Obschon er diese in der bisherigen Behandlung der Frage völlig perhorresziert hat. Dieselben Situationen wiederholen sich. Goßler gab ein langes Exposé in der Schulfrage, er sei am Ende, könne nicht weiter, müßte eine Lösung suchen. Bismarck wünscht die seit 1852 beobachtete und entwickelte Verwaltungspraxis ‒ wonach die Regierung selbstherrlich alles für die Schulausstattung sachlich und persönlich Erforderliche einfach dekretiert und den Gemeinden auferlegt ‒ zu beseitigen und eine gesetzliche Regelung zu etablieren, um der Verwaltungswillkür Schranken zu setzen. Bismarck wünscht auch keine weitere Ausdehnung des Lehr288

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stoffes. Er hat in diesen Beziehungen sicher recht, verfährt aber etwas stürmisch in seinem Widerspruch und greift tief in das Kultusressort ein, indem er die Entscheidung ihm entzieht und in das Staatsministerium verlegt. 15. Juni starb der Prinz Friedrich Karl plötzlich. 17. der Feldmarschall von Manteuffel. Der Kaiser erholt sich sehr langsam und ist im Gehen und Stehen behindert. Diese Todesfälle werden ihn auch sehr affizieren. 15. Juni teilte Graf Vitzthum mir mit, die königlichen Majestäten von Sachsen hätten nach den während ihres Aufenthalts in Sibyllenort gemachten Wahrnehmungen keine Neigung mehr zum Verkauf. Sicher eine große Enttäuschung für den Kronprinzen. 20. Juni. Nach Potsdam zum Tee befohlen, fand ich allerdings den Kronprinzen recht enttäuscht. Der schöne Traum mit Sibyllenort sei also vorüber, er hätte es kommen sehen, als er in Sigmaringen die Königin von Sachsen so entzückt von ihrem Besitz gefunden habe. Sie habe sich über die schönen englischen Kupferstiche, die alten Bäume, über alles gefreut. Der König von Sachsen habe die Verkaufsfrage gar nicht berührt, sondern nur von einem Stuhl erzählt, welcher Musik mache, wenn man sich daraufsetze. Der Besuch von Öls, welcher aus Anlaß eines Regimentsfestes der 8. Dragoner, deren Chef er ist, geboten war, machte ihm unter diesen Umständen wenig Freude. 8. Juli. Dem Fürsten ist die Kissinger Kur gut bekommen. Er klagt nur über schnelle Müdigkeit in den Beinen nach geistiger Anstrengung. Hier, wo er lange, wichtige Konzepte korrigieren müsse, sei er gleich kaputt. Er wache mit dem Gefühl auf, als könne er die höchsten Berge ersteigen, aber nach einigen Stunden Arbeit könne er sich nur mit Mühe erheben. Der Kriegsminister überschwemme ihn mit den größten, kostspieligsten Plänen, welche aber gar nicht eilig seien. So bringe er wieder das gar nicht dringliche Pensionsgesetz, in der Kommunalsteuerfrage könne er nicht nachgeben, unter keinen Umständen. Er verlange komplizierte Grenzbahnen und dergleichen mehr. Das Befinden des Kaisers sei wieder besser. „Gott erhalte ihn noch lange,“ sagte er mit besonderer Betonung. Der letzte Ohnmachtsanfall sei umso bedenklicher, als er ohne jeden besonderen Anlaß eingetreten sei. Gastein werde ihn vielleicht wieder kräftigen. 15. August traf Se. Majestät vom Gasteiner Aufenthalt sehr gekräftigt in Potsdam wieder ein. 18. August. Schlözer hier gesprochen, welcher ganz entzückt von einem wochenlangen Aufenthalt in Varzin kam. Bismarck sei in bester Stimmung und Gesundheit gewesen und habe viel vom Jahre 1848 erzählt. Mit Kalnoky, welcher gleichzeitig anwesend, habe er kirchenpolitische Gespräche geführt. In Rom glaube man große Konzessionen gemacht zu haben durch die 289

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Ernennung von Kremenz in Köln und sei verwundert, daß die preußische Regierung alle neun Posener Kandidaten gestrichen habe. Schlözer meinte, er habe unter den italienischen Prälaten Freunde, unter den deutschen nur Gegner. Die Jesuiten konzentrierten ihre ganze Feindschaft auf Deutschland; man ließe sich in Frankreich, Rußland, Österreich mißhandeln, nur um den ganzen feindlichen Apparat gegen Preußen spielen zu lassen. Die deutschen Prälaten seien sämtlich ohne Ausnahme die intensivsten Gegner des Deutschen Reichs. Sie könnten es nicht verwinden, daß der Schwerpunkt der deutschen Politik von Wien nach Berlin verlegt sei. Die preußischen Konservativen seien in diesen Fragen völlig borniert, verständen sie nicht und ließen sich düpieren. 20. August. In der Schweineeinfuhrfrage erhielt ich eine sehr freundliche Antwort. Die könne keinen Grund zu meinem Rücktritt bieten. „Der Wert, welchen Ihre Mitwirkung im Ganzen hat, ist zu hoch, um auf weitere gemeinsame Tätigkeit zu verzichten.“ Schließlich erklärt er sich damit einverstanden, daß ich nach eigenem Ermessen handle. Das ist sehr viel! 21. August. Ich war für 2 Uhr zum Dejeuner zum Kronprinzen befohlen und um 4 Uhr zu den Majestäten in Babelsberg zum Diner. Ebenso Graf Münster, mit dem ich im halboffenen Hofwagen vom Neuen Palais nach Babelsberg durch die königlichen Gärten fuhr; ohne den Regen wäre es eine herrliche Rundfahrt gewesen. Beide Majestäten ziemlich wohl und wie immer huldvoll. 6. Oktober nach Berlin vom Urlaub zurückgekehrt, war die Karolinenfrage gerade glücklich gelöst. Die spanische Regierung hatte die Anfrage, ob man die Mediation des Papstes als Schiedsspruch annehmen wolle, bejahend beantwortet, und so war der Sturm im Glas Wasser in elegantester Weise beschwichtigt. Dem spanischen Gesandten gegenüber hat Bismarck die ganze Frage in humoristischer Weise behandelt, so daß dieser sehr erleichtert fortgegangen ist. „Der einzige vernünftige Mann in Spanien während der Krisis sei der König gewesen.“ Die Spanier hätten sich als höchst töricht, ja unzurechnungsfähig erwiesen. Die Franzosen hätten lebhaft dabei geschürt, und das sei der Lohn für die fünfzehnjährigen Liebesmühen, sie zu versöhnen. Courcelles werde seine hiesige Stellung wesentlich abgekühlt finden. Die Zuschiebung des Schiedsrichteramts an den Papst hat Bismarck damit motiviert, diesem eine Aufmerksamkeit zu erweisen und zu manifestieren, wie gut man mit ihm persönlich stehe trotz des Zentrums. 19. Oktober kam die Nordostseekanalfrage zur Abstimmung im Staatsministerium, wobei ich gegen die Leistung eines Präzipualbeitrags Preußens stimmte ‒ da es sich lediglich um maritim-militärische Reichsinteressen 290

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handelte. Ich erwähne das, um zu konstatieren, daß Bismarck auch in wichtigen, ihm am Herzen liegenden Fragen Widerspruch vertrug. (S. Anlagen, S. 525 ff.) 22. Oktober. Fürst Hohenlohe schreibt in einem vermutlich letzten Bericht als Botschafter betreffs des überraschenden Ausgangs der französischen Wahlen: Man täusche sich, wenn man annähme ‒ wie die Kölner Zeitung in einem sehr ungeschickten Artikel behaupte ‒, die Niederlage der opportunistischen Partei Gambettas habe ihren Grund in dem Übergang der Wähler in das monarchische Lager. Es habe nicht der dégout über die bisherige Mißregierung und Stellenjägerei der republikanischen Parteiregierung dazu geführt, sondern die Unzufriedenheit über den Krieg in Tonkin und China und mit der finanziellen Mißwirtschaft der Gambettisten; teilweise auch die Mißstimmung des Landvolks über die antiklerikale Politik samt ihrem Gefolge von Vexationen und Nörgeleien. Hohenlohe mißbilligte die injuriösen Behauptungen, welche die Kölner Zeitung gegen die Männer schleudert, mit welchen wir seit Jahren in guten Beziehungen gelebt hätten. „Man täuscht sich, wenn man glaubt, die Republik sei ernstlich bedroht. Die Unzufriedenen, welche zwischen Radikal und Monarchie zu wählen haben, hätten monarchisch gestimmt, das werde der Monarchie keine guten Früchte tragen, wenn sie, durch den Erfolg übermütig gemacht, auf die Erschütterung der jetzigen Verfassung hinarbeiten wollten. Die republikanische Gesinnung herrsche im Lande vor. Der Versuch, die Republik zu beseitigen, werde zum Bürgerkrieg führen. Freycinet schätzt die konservative Partei auf 200, die Radikalen auf 150 bis 180, die Opportunisten (gemäßigte Republikaner) auf 200 bis 220. Von den Radikalen seien nur 50 wirklich geneigt, mit den Opportunisten eine allerdings prekäre Majorität zu bilden.“ Graf Solms berichtet vom 28. September über eine Unterredung, welche er mit der Königin Isabella gehabt habe, die auf die Nachricht, in Madrid werde am 25. eine Revolution ausbrechen, direkt von Paris dahin gereist war. „Sie habe Bismarcks Haltung in der Karolinenfrage wohlwollend, nachsichtig, entgegenkommend gefunden. Sie habe mehr Vertrauen zu Sagasta als zu Canovas. Der König sollte mehr Diners geben und die Königin mehr Leute bei sich zum Tee sehen ‒ damit sie auch mit anderen Leuten in Berührung komme, anstatt nur mit der stabilen Umgebung; die Traditionen müßten durchbrochen werden.“ Die Flotte sei früher besser gewesen, man müsse sie durch Sammlungen heben. 27. Oktober. Nach einem Diner, wozu nur die Minister und das Präsidium der Generalsynode geladen waren ‒ kein einziger General ‒, äußerte Se. Majestät: Er müsse genau mit seinen Kräften haushalten und dürfe das Reservoir 291

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derselben nicht erschöpfen. Tue er das, so müsse er stets dafür büßen. Die Ärzte verlangten, daß er sich an anstrengenden Tagen anderthalb Stunden völlig zu Bett lege ‒ vor Tisch. Könne er das, so gehe es ihm ganz wohl. So habe er letztes Jahr am Rhein alles mitmachen können, bis er sich in Köln übernommen habe und heiser geworden, dann auf der Fahrt von Koblenz nach Bingen (nach der Enthüllung des Goeben-Denkmals) so plötzlich ohnmächtig geworden sei, daß er nicht mehr nach der Klingel habe greifen können. So habe man ihn denn gefunden. Das müsse er vermeiden, besonders schwer sei es ihm, nicht mehr reiten zu können. Das ginge aber nicht mehr. Alle seine Äußerungen sind so männlich einfach ‒ ohne alle Pose. 1. November. Bei der gestrigen Jagd in der Schorfheide war Se. Majestät ungemein rüstig und lebhaft. Schon eine halbe Stunde vor dem absichtlich spät angesetzten Aufbruch zur Jagd erschien er im Freien und unterhielt sich lebhaft mit den allmählich eintreffenden Jagdgästen. Dem Dr. Leuthold, welcher wiederholt Anläufe nahm, ihm zuzureden, sich zu setzen oder in das Haus zu gehen, winkte er freundlich, aber energisch ab, mit dem Stock drohend. Er schoß dann auch gegen dreißig Hirsche und meinte, als wir hinzutraten, einen abnormen Bierzehner bewundernd: „Wenn nur mehr gekommen wäre, hätte ich das Doppelte geschossen.“ Prinz Georg von Sachsen, welcher in seiner Nähe gestanden hatte, sagte: Der Kaiser habe mit größtem Eifer daraufgeknallt, solange ein Stück in Sicht gewesen sei. Während die Strecke gemacht wurde, ging Se. Majestät umher, sich lebhaft unterhaltend. 6. November. Bei den gestern stattgehabten Wahlen zum Abgeordnetenhaus sind wir drei Brüder, August, Ferdinand und ich, mit großen Majoritäten, fast einstimmig gewählt worden ‒ in Orten, wo vor zwölf bis fünfzehn Jahren fortschrittlich gewählt wurde. Die veränderte Wirtschaftspolitik hat jedenfalls feste Wurzeln geschlagen. Im Ganzen wird die Rechte um zirka zwanzig Stimmen, welche Linke und Zentrum verlieren, stärker werden. 8. November. Auf der Jagd in Springe erzählte mir der Prinz Heinrich von seiner Braunschweiger Kandidatur. Er habe sich in die Notwendigkeit, die Regentschaft zu übernehmen, gefunden, so schwer ihm auch das Scheiden aus der Marine geworden sei. Er habe die Sache als abgemacht angesehen, als sich zu seiner großen Freude die Dinge in letzter Stunde so gewendet hätten, daß er verschont worden sei. Der Kaiser habe ihn besonders hoch dadurch erfreut, daß er ihm gesagt habe, als jene Wendung eingetreten sei: Er sei ihm zu schade für Braunschweig und werde der Marine erhalten bleiben. Es wäre auch bei seinen dreiundzwanzig Jahren eine zu schwere 292

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Aufgabe gewesen. Er und sein Bruder seien ja dank der von seinem Vater beobachteten Theorie, sie in eine öffentliche Schule zu schicken, vernünftig erzogen und hätten manches gelernt ‒ allein er freue sich doch, vor jener schwierigen Aufgabe bewahrt worden zu sein. Inzwischen trat Se. Majestät dazu und erkundigte sich, was wir konspirierten. Als er hörte, wir sprächen von der braunschweigischen Angelegenheit, klopfte er dem Punzen auf die Schulter und sagte: „Nein, der war zu schade dafür!“ Worauf der Prinz Heinrich, ihn halb umarmend, sagte: „Er sei ihm so dankbar für seine Entscheidung.“ Der Verlauf der Angelegenheit scheint folgender gewesen zu sein. Bismarck erklärte in der Sitzung des Staatsministeriums am 24. August 1885: Er werde den Prinzen Heinrich vorschlagen, wenn der Kronprinz damit einverstanden sei, sonst den Prinzen Albrecht. In diesem Sinne hat Bismarck an den Kronprinzen geschrieben. Dieser hat ihn längere Zeit auf Antwort warten lassen, weil er mit sich selbst nicht einig gewesen sei und die Meinung der in Baveno abwesenden Prinzeß habe hören wollen. Bismarck hat das als eine Ablehnung angesehen, vielleicht hat es ihm auch so besser gepaßt, und hat den Prinzen Albrecht proponiert. Nachdem das ein fait accompli war, hat erst der Kronprinz zustimmend, sehr irritiert geschrieben. Bismarck könnte nun erst die nötigen Aufklärungen geben, aber obschon die Sache durch die Unschlüssigkeit des Kronprinzen jene Wendung nahm, so ist doch sicher dadurch das Verhältnis zum Fürsten Bismarck, was sich eben gebessert hatte, wieder getrübt worden. Der Minister Friedberg meinte: Der Kronprinz erfasse leichter klare, mündliche Vorträge als wie schriftliche Berichte. Er verstehe nicht, aufmerksam zu lesen, eine Gabe, welche Se. Majestät in besonders hohem Maße habe, neben dem enormen Fleiß, mit welchem er regelmäßig alle Eingänge lese, und zwar mit großem Interesse und Verständnis. Er beweise das bei jeder Gelegenheit, insbesondere auch durch die Gründlichkeit, mit welcher er die Berichte über die Vollstreckung von Todesurteilen studiere. Das Urteil Friedbergs war mir umso interessanter, als niemand in längerem intimerem Verkehr mit dem Kronprinzen gestanden hat wie gerade er. 19. November. Der Reichstag wurde mit einer friedlichen Thronrede eröffnet trotz des serbisch-bulgarischen Konflikts. 28. November. Bismarck hält im Reichstag aus Anlaß einer Interpellation über das Missionswesen heftige Reden gegen das Zentrum. 29. November. Sonntag. In der Staatsministeriumsitzung äußerte sich Bismarck lebhaft gegen die Kreuzzeitung, welche nie eine Majorität hinter sich haben werde, offenbar ein Wink für Puttkamer. Dann verlas er längere vertrauliche Berichte, wovon besonders einer aus Rußland von Interesse war. 293

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Der Kaiser mokiere sich über die Engländer und ist sehr feindlich und mißtrauisch gegen sie. Eine respektwidrige Äußerung über old Vicky unterdrückte er. Kritisierte die Österreicher derb, welche aus Scheu vor dem Tadel der Ungarn eine Animosität gegen Rußland zur Schau tragen, anstatt sich engagieren zu lassen und damit England zur Aktion zu nötigen. Der Papst sei sehr gehoben durch die ihm übertragene Vermittlung und habe genau den Vorschlag gemacht, welchen Bismark ihm suppeditiert habe und als für Deutschland akzeptabel bezeichnete. Der König Alfons habe das angenommen und die Königin Christine nach dessen Ableben versprochen, die Verabredung zu halten. Dieselbe enthält auch eine Verlängerung des Handelsvertrags bis 1892. König Alfons war am 25. November gestorben. Die Bulgaren haben die Serben völlig aufs Haupt geschlagen und aus ihrem Lande herausgeworfen. Sodann kam Bismarck auf die letzte Debatte im Reichstag, aus welcher er mit dem Unbehagen von Katzenjammer gegangen sei, als ob er sich in einer schmutzigen Kneipe mit Gesindel gebalgt habe. Es sei hart für ihn, noch die Berufspflicht zu haben, auf solche Kämpfe einzugehen. Die bevorstehende Interpellation über die Ausweisung der polnischen Überläufer sei ein Übergriff des Reichstags in die Kompetenz der Einzelstaaten, des Königs von Preußen. Der könne sich nicht vor die Schranken des Reichstags laden lassen, um sich zu verteidigen. Er wolle die Beantwortung ablehnen, eine kaiserliche Botschaft herausziehen und verlesen. Mit einem jüngeren Monar­chen, welcher nicht die Autorität des alten habe, ließen sich die Grenzen der Rechte der Krone schwerer wahrnehmen. Man komme über die Verlängerung des Sozialistengesetzes oder über die Militärfrage doch in einen Konflikt mit dem Reichstage, da sei es gut, gleich die Provokation aufzunehmen, wo 168 Abgeordnete, also die Mehrheit der Anwesenden, damit komme. Den Entwurf zu einer solchen Botschaft wolle er morgen 1 Uhr dem Staatsministerium vorlegen. Er hat vielleicht recht, aber wir anderen hatten doch den Eindruck, daß er mit Kanonen auf Sperlinge schieße. 6. Dezember. Durch eine entzündete Sehne, welche ich mir durch einen Fehltritt auf der Jagd zugezogen hatte, ans Zimmer gefesselt, konnte ich in den letzten Tagen den erregten Diskussionen im Reichstag nicht beiwohnen. Die kaiserliche Botschaft hat jedenfalls die von Zentrum und Polen gewollte Diskussion nicht verhindert. Sie fand, nachdem die Beantwortung der Interpellation abgelehnt war, der Bundesrat seinen Exodus genommen hatte, zehn Minuten später statt bei dem Titel „Reichskanzler“. Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung hat inzwischen eine planmäßige Kampagne unternommen gegen Kreuzzeitung und Zentrum. Sie weist in 294

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mehreren Artikeln der Kreuzzeitung den Mangel jeden politischen Instinkts und die seit 1858, der Einsetzung der Regentschaft, begangenen Fehler nach. Im Schulaufsichtsgesetz, in allen entscheidenden Phasen des Kulturkampfs habe sie auf der falschen Seite gestanden. Ihrer Anmaßung käme nur ihre Unfähigkeit gleich. Im Zusammenhang mit den neulichen Äußerungen des Fürsten, in der Tatsache einer längeren Konversation mit dem Kronprinzen, ist das sehr bedeutungsvoll, und die Germania, welche einen sehr feinen, oft richtigen Instinkt in dergleichen hat, wittert das auch. Insbesondere nimmt sie die Äußerungen der Post sehr ernst, während die Kreuzzeitung sie meist schlecht und höhnisch behandelt. Der Kronprinz hat nach seiner neulichen Unterredung mit Bismarck geäußert, er habe wieder gefunden, wie seit den Tagen in Nikolsburg, daß er sich in allen großen Fragen in vollem Einverständnis mit dem Fürsten befinde. Sie hätten sich gegenseitig die Worte aus dem Munde genommen. Bei einem Vortrag in Ölser Angelegenheiten zeigte mir der Kronprinz eine gute Photographie der Königin von Spanien, eine stattliche Erscheinung mit charaktervollem Gesicht. Sie habe sich in ihre Situation sehr gut gefunden, obschon diese sehr schwierig sei. Den Tod des Königs beklagte er lebhaft, er sei ein ungewöhnlicher Mann gewesen, welcher vom ersten Tage seiner Regierung ab das Richtige getan habe. Graf Solms hat noch drei Tage vor des Königs Tode eine anderthalbstündige Unterhaltung mit ihm gehabt, ohne daß er oder der König nur entfernt an das Ende gedacht hätten. Der König habe nach San Sebastian gehen wollen und noch andere Reisepläne gehabt. 13. Dezember. Fürst Bismarck ist wieder etwas unwohl ‒ Gesichts- und Hüftschmerz ‒ und sehr verstimmt gegen den Reichstag. Will gar nicht wieder hingehen, was er allerdings schon oft ausgesprochen hat. Die Wiederzulassung der ungarischen Schweine hat so gut gewirkt, daß man jetzt dort von allen Zollrepressalien Abstand genommen hat. Graf Berchem hat den Fürsten auf diesen nützlichen Effekt der in unserem eigenen Interesse vorgenommenen Maßregel aufmerksam gemacht. 20. Dezember. Gestern Botschafterdiner bei Sr. Majestät, welcher, von seiner Heiserkeit kuriert, wieder ausfährt und die regelmäßigen Vorträge empfängt. Natürlich macht sich eine Abnahme der Kräfte und geringere Widerstandsfähigkeit in seinem hohen Alter geltend. Auch Bismarck hütet das Zimmer und ist nicht sichtbar, hat auch keinen Ministerrat in letzter Zeit gehalten. Das vom Finanzminister vorbereitete Branntweinmonopol hat sehr geringe Aussicht auf Erfolg, aber der Fürst besteht auf der Einbringung. 295

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Monopole haben kein Glück bei uns und sind bei der enormen Gegnerschaft wohl überhaupt nur durchführbar unter dem Druck der größten Finanzbedrängnis. 29. Dezember. Zum Tee bei den Majestäten, beide frisch und gesprächig, obschon Se. Majestät durch Hexenschuß geniert war. Er sprach von der Masernerkrankung des Prinzen Wilhelm, welche leicht verlaufe, während er selbst sie schon im reifen Alter sehr schwer gehabt habe, so daß die Perioden immer sieben Tage gedauert hätten anstatt fünf wie sonst die Regel. Der Prinz sei schon zur Jagd in Wernigerode unwohl gereist und habe vielleicht in Erxleben die Infektion geholt. Das fünfundzwanzigste Regierungsjubiläum Sr. Majestät soll am 3. Januar begangen werden in einer vielleicht etwas anstrengenden Weise. Gottesdienst in der Schloßkapelle, Defiliercour und Cercle. Empfang der außerordentlichen, von fremden Höfen kommenden Botschafter. Der Finanzminister gab in der letzten Staatsministerialsitzung Andeutungen über die Grundzüge des Spiritusmonopols; der Fürst hält die vorherige Anhörung des Staatsrats nicht für erforderlich. Es soll als preußischer Antrag eingebracht werden. Einen zuversichtlichen Eindruck machte der Finanzminister nicht über den Erfolg des Projekts, und der Fürst spricht von der Ablehnung wie von einer selbstverständlichen Sache. Der Fürst spricht in einem an das Staatsministerium gerichteten Votum den Wunsch nach einem Gesetz aus, wonach den Kommunen, welche Sitz von Behörden und Garnisonen sind, eine besondere Steuer auferlegt werden soll zu Gunsten derjenigen Gemeinden, welche solche Vorteile nicht besitzen. Ein merkwürdiges, völlig aussichtsloses Projekt! 31. Dezember. Gestern zur Jagd in Spandau beim Kronprinzen. Er war sehr guter Stimmung und erzählte von seiner Hochzeit, welche im Lande sehr populär, aber in den Hofkreisen nicht gern gesehen worden sei. Man habe offiziell für seinen feierlichen Einzug gar nichts getan, es sei aber durch die spontane Bewegung der Berliner Bürgerschaft, Handwerker etc. sehr glänzend geworden. Die Königin von England habe damals eine Liste der seiner Gemahlin dargebrachten Geschenke gewünscht, dieselbe habe aber gar keine von der Familie erhalten. Gerade, weil er nie dergleichen Aufmerksamkeiten erfahren habe, mache er es sich zur Regel, seinen nächsten Verwandten und Freunden regelmäßig Geschenke zu machen bei passenden Gelegenheiten. Daß der Sultan bei meinem Besuch meiner Frau ein Bonbon und meinem Sohn den Medjidje geschickt habe, ist doch zu wenig ‒ es hätten Brillanten oder dergleichen sein sollen. Die preußischen Orden seien im Auslande wenig beliebt, man trage sie dort gar nicht. Stephan schlug die 296

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Stiftung eines Reichsordens vor, was Sr. Kaiserlichen Hoheit einzuleuchten schien. Jetzt trügen die nichtpreußischen Offiziere ihre Landesdekorationen vor den preußischen, was nicht in der Ordnung sei. Prinz Wilhelm ist von den Masern wiederhergestellt, während die Prinzeß sie nun zu bekommen scheint, obschon sie dieselben schon einmal gehabt hat. Die Feier des fünfundzwanzigjährigen Regierungsjubiläums nimmt große Dimensionen an. Es kommt eine große Anzahl besonderer Gesandten zur Gratulation. Es soll am 3. Januar Gottesdienst, Defiliercour, Galadiner und Oper stattfinden, auch Illumination. Hoffentlich wird es nicht zu viel für den hohen Jubilar.

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1886 3. Januar. Die kirchliche Feier in der Schloßkapelle ist ohne Störung würdig verlaufen, ebenso die Defiliercour, bei welcher Se. Majestät das Ministerium heranwinkte und jedem herzlich die Hand reichte. Nachher empfing er uns noch in der Schwarzen Adlerkammer und hielt mit bewegter Stimme eine Ansprache. Er habe ‒ mit vierundsechzig Jahren zur Regierung gekommen ‒ nur auf wenige Jahre gerechnet und nie daran gedacht, ein solches Jubiläum zu erleben. Seine Regierung sei sichtbar von Gott gesegnet. Er danke Gott besonders dafür, daß er ihm den Fürsten Bismarck zugeführt habe, welchem er gar nicht dankbar genug sein könne, wie er schon oft gesagt habe. Er danke auch uns allen, wir seien nun ja ein homogenes Ministerium und er wünsche nur, daß wenigstens in seiner Regierungszeit eine Änderung nicht mehr einträte. Er dankte uns allen, daß wir ihm die Geschäfte so leicht machten. Er reichte uns wiederholt die Hand, welche wir küßten. Dann erschien die Kaiserin, geführt von dem Großherzog von Baden. Der Fürst, welcher an unserer Spitze war, hatte uns vorher erzählt, der Papst habe die Absicht gehabt, ihm den Christusorden zu verleihen und ein lateinisches Handschreiben an ihn zu richten. Nun es aber vorzeitig in die Zeitungen gekommen ist, werde sicher alles in Bewegung gesetzt werden, um diese Verleihung an einen Akatholiken zu hintertreiben. Er wisse nicht, wie es in die Zeitungen gekommen sei. Auf die Bemerkung, es habe zuerst in der Frankfurter gestanden, meinte er, diese habe ihre guten Börsenverbindungen mit Paris. Dem Kaiser machte Bismarck sehr verbindliche Zwischenbemerkungen: „Durch seine Gnade habe er ihm die Mitarbeit und Hilfe leicht gemacht in den schwierigsten Lagen, welche sie erlebt hätten. Sie hätten immer im Urteil übereingestimmt.“ 6. Januar. In der heutigen Staatsministerialsitzung teilte uns der Fürst das inzwischen eingegangene päpstliche Schreiben mit, in welchem er ihn zum Christusritter ernennt. Er zeigte uns den sehr prächtigen, mit Brillanten besetzten Orden, ein rot und weiß emailliertes Kreuz mit Krone und den Maltheserinsignien am Ring sowie einen Stern. Das Ganze in einem roten Lederetui mit goldenen rafaelschen Engelsköpfen, welches sich in einem weißen 298

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Atlaskästchen mit dem päpstlichen Wappen befand. Das lateinische Breve, gezeichnet Leo P. M., ist ein historisches Aktenstück, welches eine merkwürdige Huldigung für das Deutsche Reich und für die Person des Fürsten darstellt. Es wurde länger diskutiert, ob es im lateinischen Urtext oder in deutscher Übersetzung zu publizieren sei. Man entschied sich für Ersteres, und Bismarck bemerkte dabei, daß Schlözer mitgeteilt habe, der Papst wünsche die Publikation. Sehr merkwürdige Tatsache! Dann wurde das Branntweinmonopol behandelt, das heißt, es wurde nach einem Vortrage des Finanzministers ohne Diskussion angenommen, daß das Staatsministerium im Prinzip mit der Vorlage einverstanden sei. Der Finanzminister betonte, welche enormen Summen es einbringen werde, und berief sich dabei auf die Argumente und Berechnungen des kläglich gescheiterten Tabakmonopols, als wenn jene Vorlage zustande gekommen wäre. Der Fürst stimmte freudig zu und empfahl, die Pflege der Interessen der Landwirtschaft dabei nicht in den Vordergrund zu stellen, weil darin nur das Interesse der großen adligen pommerschen und schlesischen Grundbesitzer gefunden werde. Mit der Zuckerindustrie habe man schon mehr Mitgefühl, weil da die bürgerlichen Magdeburger Domänenpächter eine Rolle spielten. Man solle nur die Erträge möglichst hoch erscheinen lassen, die Verwendung der Einkünfte sollte auch den Kommunen besonders zugutekommen. Die etwa vorliegenden technischen und landwirtschaftlichen Einwendungen könnten in dem weiteren Stadium der Beratung Berücksichtigung finden. Nur die Strafbestimmungen sollten gemildert werden, um die Leute nicht kopfscheu zu machen. Goßler empfahl, die Mittel für den Staat und zu Schulzwecken zu reservieren. Pium desiderium und cura posterior! Die Sache soll als preußischer Antrag beim Bundesrat eingebracht werden und hat noch weniger Aussicht auf Erfolg als das Tabakmonopol; ob sich wirklich der Fürst und der Finanzminister über den Ausgang Illusionen machen?! 13. Januar. Bei den Majestäten zum Tee. Beide munter und behaglich. Er sprach von der Thronrede des am nächsten Tage zu eröffnenden Landtags. Er wolle nur die Einleitung sprechen, da die Rede zu lang sei, und es auch nicht passe, über Schweineeinfuhr und Steuersachen zu reden. Er habe gar nicht rechtzeitig von dem im Abgeordnetenhause angenommenen Antrag Huene gehört, wonach die schönen Einnahmen aus den Zöllen und Eisenbahnen gleich wieder verschwinden sollten, sonst hätte er sich dagegen gewehrt. Ein merkwürdiger Beweis, wie er sich orientiert und ein klares, nüchternes Urteil in Finanzsachen hat. Dann erzählte er eine Jagdgeschichte von 299

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zwei Majoren von D. und von R., wonach einer gewilddiebt und dabei die Mütze des anderen aufgehabt habe, die Mütze enthielt den Namen des anderen, geriet den verfolgenden Forstbeamten in die Hände und führte zu allerlei Komplikationen. Dann sprach er von Graf Theodor Stolberg, mit welchem ich 1860 den marokkanischen Feldzug mitgemacht hatte; derselbe habe am Tag nach seiner Rückkehr aus dem Feldzug vor seiner Eskadron bei der Parade in Potsdam gehalten, als sei nichts passiert. Am 10. Januar hatten wir eine Sitzung, welche größtenteils ausgefüllt wurde durch Verlesung langer Berichte des Regierungspräsidenten von Tiedemann über die Kolonisierung von Westpreußen und Posen, eine Frage, welche der Fürst stets sehr ernst nimmt. Es kommt ein bezüglicher Passus in der Thronrede vor, welcher den Rückgang des Deutschtums betont. Bismarck verlas auch den Entwurf seines Dankschreibens an den Papst, an dessen Schluß er die Betätigung seiner Dankbarkeit verspricht. Es wurde diskutiert, ob Lateinisch oder Französisch zu schreiben sei; Bismarck entschied sich für Ersteres. Goßler soll, was noch an Konzessionen auf kirchenpolitischem Gebiet zu machen ist, vorbereiten und in den nächsten Landtag bringen. Also alle möglichen Konzessionen zur Befriedigung des religiösen Bedürfnisses der Untertanen, aber scharfer Kampf gegen Polen und Zentrum. Die Landtagseröffnung erfolgte programmmäßig am 14. Januar. Se. Majestät las Einleitung und Schluß deutlich und vernehmlich. In der Hofloge waren die badischen Herrschaften und die meisten Botschafter und Gesandten. Der Saal war sehr gefüllt. Fürst Bismarck in Kürassieruniform las seinen ziemlich langen Teil schnell und fest. Besonderen Eindruck schien der Inhalt nicht zu machen. Der polnische Passus, das heißt die Andeutungen, daß ein Fonds von 100 Millionen zum Ankauf polnischer Güter ausgesetzt werden solle, schien die Leute zu wundern. Der Bau des Dortmund-Ems-­ Kanals und des Oder-Spree-Kanals wurde angekündigt. Der Kronprinz war in Kürassieruniform, Prinz Wilhelm als Gardehusar anwesend. 24. Januar. Zum Tee bei den Majestäten. Prinz Reuß VII., Goltz, Graf Waldersee anwesend. Es wurde von dem bevorstehenden Besuch des Herzogs von Edinburgh gesprochen, die Kaiserin wollte ihn zusammen mit Sr. Majestät empfangen zu einer Stunde, welche schon besetzt war durch einen Vortrag. Er war ganz bereit, sich zu akkommodieren, wogegen sie lebhaft protestierte. Graf Benomar, welcher hier sehr beliebt, sollte abberufen werden, soll aber nun auf kaiserlichen Wunsch doch bleiben, was beide Majestäten sehr erfreute. Sie beauftragten den General Goltz, das Benomar mitzuteilen. Se. Majestät scherzte über die hübsche Gräfin Benomar, welcher er und der König Alfons in Homburg abwechselnd den Hof gemacht hätten. 300

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27. Januar. Die Chancen des Spiritusmonopols sinken immer tiefer, je weitere Kreise sich mit den Details befassen. Im Verein der Spiritusinteressenten ist die Beratung ganz tumultuarisch ausgegangen. Man hat auf eine Abstimmung verzichtet, weil die große Mehrheit gegen das Regierungsprojekt war. Der Nordostseekanal ist in der Reichstagskommission ohne Widerspruch angenommen worden, obschon er für die Handelsschifffahrt nicht nötig und für Landesverteidigungszwecke nach militärischer Ansicht sogar schädlich. 30. Januar. Dritter Tag der Polendebatte im Abgeordnetenhaus über den Antrag Achenbach. Bismarck hat am ersten Tag eine zweistündige, gestern eine einstündige Rede gehalten, wobei er, abgesehen von einigen Übertreibungen, sehr wirksam sprach. Er stellte die Trockenlegung des Reichstags durch den Landtag in Aussicht, wenn mit jenem keine Geschäfte mehr zu machen seien. Er pries die Schönheit und Liebenswürdigkeit der polnischen Damen, nur dürften sie nicht zu vielen politischen Einfluß haben. Die Bauern seien gut, aber der Adel tauge nichts. Nicht ein Edelmann sei im letzten Krieg gefallen, eine Expropriation des polnischen Besitzes sei mit 100 Millionen Taler zu erreichen, es seien etwa 500.000 Hektar und es sei vielleicht auch gerechtfertigt, selbst wenn dabei ein kleiner Zinsverlust entstehen werde; so gut man expropriiere für Festungs- und Eisenbahnbauten, so könne man es auch für solche hochpolitische Zwecke tun. 7. Februar. Sitzung beim Fürsten, in welcher das Gesetz über den 100-Millionen-Fonds festgestellt wurde. Bismarck bemängelte nur einige Details des Gesetzes und der Motivierung. Er will weniger große Bauerngüter als große Domänen und ganz kleine Arbeiterstellen etablieren. Er wünscht, die Leute in der Provinz Posen an den Gedanken der Expropriation zu gewöhnen, was gerade keine Empfehlung des Entwurfs bei den besitzenden Klassen sein wird und auch sehr verwirrend für die Eigentumsbegriffe der Massen wirken kann. Zur Ausführung des Gesetzes soll eine besondere Immediatkommission eingesetzt werden, die dem Staatsministerium unterstellt werden soll und nicht einem einzelnen Ressortminister. Es sollen nicht Ankäufe gemacht werden, um deutsche im Zusammenbruch befindliche Besitzer zu retten, mögen sie noch so gute Kerle sein, sondern es soll lediglich von Polen vorzugsweise sub hasta gekauft werden. Damit würde ich völlig einverstanden sein, abgesehen von der Abneigung, auch größere bäuerliche Stellen zu etablieren. Finanzminister von Scholz referierte über den günstigen Verlauf der Verhandlungen im Bundesrat und in dessen Ausschuß über das Spiritusmonopol. 301

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Bismarck, welcher die Rentabilitätsberechnungen auf Grund der in seinen eigenen vier großen Brennereien gemachten Erfahrungen geprüft hat, meinte: Es würden sich nicht 300, sondern 500 Millionen Überschuß ergeben. Wenn das für das Reich gesichert werde, so stehe dieses fester begründet da wie zu Karls des Großen Zeiten. Es ist merkwürdig, in welchen Illusionen er sich bewegt bei der Erörterung eines Projekts, für dessen Zustandekommen auch nicht der Schatten einer Wahrscheinlichkeit vorhanden ist. 13. Februar. Zum Tee bei den Majestäten. Kriegsminister von Bronsart war anwesend, und die Unterhaltung bewegte sich um die Verhandlungen des eben erledigten Militäretats. Die Kaiserin bewunderte die Geduld und Ausdauer der Minister, welche sich so viele Angriffe böswilliger und unkundiger Kritiker gefallen lassen müßten und trotzdem immer die nötigen Aufklärungen und Entgegnungen abgeben. Der Kaiser erzählte ausführlich von seinen Erlebnissen in England während der Chartistenbewegung, wobei es gar nicht zu Tätlichkeiten gekommen sei infolge der großen militärischen und polizeilichen Vorbereitungen. Wellington war damals in England die große militärische Autorität. 14.  Februar. Staatsministerialsitzung über einen Antrag des Kriegsministers auf Erhöhung der Präsenzziffer des Eisenbahnregiments. Der Finanzminister hatte scharf ablehnend votiert, und zwar in metallographischer Vervielfältigung, welche allen Ministern zugegangen war. Der Fürst scheint zwar die Ablehnung inspiriert, aber nicht die öffentliche Verhandlung der Frage gewollt zu haben. Der Finanzminister hat in der Goldwährungsfrage ein scharfes Rencontre mit Kardorff gehabt, bis an die Grenzen des parlamentarisch Zulässigen. Er hat Kardorff außerdem durch Zwischenrufe gereizt. Parlamentarier verurteilen das Auftreten von beiden. Bismarck wünscht offenbar sich in dieser Frage freie Hand zu halten, um später tun zu können, was ihm gut scheint. Er hält eine Änderung der Währungsverhältnisse nicht für tunlich, auch die Goldwährung für das wahrscheinlich richtige System; allein er würde sie vielleicht unter Umständen opfern, wenn er dafür ein anderes, ihm besonders am Herzen liegendes Objekt eintauschen könnte wie zum Beispiel das Tabak- oder Spiritusmonopol. Dadurch ist die Stellung von Scholz sehr erschwert. 15. Februar. Die gestrige Sitzung war höchst interessant, Bismarck las uns die mit dem Papst und Schlözer in den letzten Wochen geführte Korrespondenz vor. Der Papst hat einen zweiten Brief an Bismarck gerichtet, welchen dieser abermals mit der Anrede „Sire!“ französisch beantwortet hat. Er 302

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machte dazu die Randglosse: „Königliche Hoheit bin i nit, aber den Urlaub kriegst!“ Bismarck führt in dem Schreiben aus, daß seine friedliebenden Absichten an dem Widerstand des Zentrums scheiterten, er sei auf die Unterstützung von Parteien angewiesen, welche zu weitgehende Konzessionen an Rom nicht billigen würden. Es würden zweiseitige konkordatmäßige Abmachungen mit Rom nicht möglich sein, wohl aber werde der Staat einseitig vorgehen, wenn er entgegenkommen könne. In den an Schlözer gerichteten Instruktionen war derselbe Gedanke sehr klar und schön variiert und immer wieder auf die Notwendigkeit der einseitigen Regelungen dieser Dinge hingewiesen. Bismarck meinte, ihm persönlich gingen die gemachten Zugeständnisse noch gar nicht weit genug. Er verlasse sich in der Beziehung auf den Kollegen Goßler, welcher in dienstlich strammer Haltung diese Instruktion entgegennahm und, mit seiner Vorlage bewaffnet, direkt zur Vollziehung derselben zu Sr. Majestät zu fahren im Begriff war. „Ich bin ein bibelgläubiger Christ, aber ein Feind der Priesterherrschaft. Dieser Streit ist so alt wie die Welt und die lutherischen Pastoren haben ebenso viel Neigung, den Papst zu spielen, wie die katholischen.“ Dann erklärte Bismarck, die betreffenden Sektionen des Staatsrats über die Bildung und den Geschäftskreis der Ansiedlungskommission hören zu wollen. Ob das nicht schon in nächster Woche geschehen könne? Puttkamer und ich verneinten das. „Er wolle den Staatsrat nicht ganz einschlafen lassen, wollte ihm auch ferner nicht fertige Vorlagen, sondern nur Grundzüge unterbreiten.“ Man einigte sich dahin, daß die entsprechenden Entwürfe in meinem Ministerium ausgearbeitet werden sollen. Warum er es mit der kirchenpolitischen Vorlage so eilig hat, ist nicht recht klar, vielleicht hofft er das Zentrum für das Monopol zu kaptivieren. „Er mache es dem Papst gegenüber wie der Wucherer, welcher stets sagt: Ich habe das Geld selbst nicht, aber jener Herr gibt es nur unter diesen harten Bedingungen; so spiele er Goßler dem Papst gegenüber aus.“ 21. Februar. Sonntag. In der heutigen Staatsministerialsitzung erklärte der Fürst sich damit einverstanden, daß das Militärpensionsgesetz auf der Basis zustande komme, daß das Privatvermögen der Offiziere zur Kommunalbesteuerung herangezogen wird. Er akkordiert also jetzt genau das, was er Kameke vor drei Jahren versagte und woran das Gesetz damals scheiterte. Bei Besprechung der Ansiedlungsfrage betonte Bismarck wiederholt, daß ihm an der Schaffung bäuerlicher Stellen wenig gelegen sei, das sei nur dekorativ, um die Sache populär zu machen. Die Hauptsache sei, möglichst viel 303

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Grundbesitz in die Hand des Staates zu bekommen, welchen man als Domänen an Deutsche verpachten müßte. Wenn das Abgeordnetenhaus keinen Wert auf eine besondere Kommission lege, so tue er es auch nicht. Er schwärme für die überseeische Kolonialpolitik so wenig wie für diese. Demnach scheint er sich für die eigentliche Durchführung des Gesetzes nicht besonders interessieren zu wollen. Se. Majestät hat seine Zustimmung zum Pensionsgesetz widerstrebend gegeben und dazu bemerkt: „Die Opposition setzt also ihr Stück durch.“ Er ist sich demnach völlig klar, daß die Position, derentwillen Kameke vor drei Jahren fiel, nun doch aufgegeben ist. Am meisten wundert mich Bismarcks Nachgiebigkeit in einem Punkte, welchen er sonst mit der größten Hartnäckigkeit und Erregung verteidigt hat: „Nur keine Konzessionen an die Kommunen.“ Das Gesetzprojekt, wonach die Städte für die Vorteile, welche ihnen der Sitz von Behörden und Garnisonen gewährt, besonders besteuert werden sollten, ruht auch vollständig. Der Verein der Spiritusbrenner ‒ eine gewichtige Körperschaft ‒ hat sich zu Gunsten des Monopolprojekts geäußert. Im Reichstag sind die Chancen dafür gleich null, obschon die Süddeutschen zum Teil dafür sind, weil sie ein gutes Geschäft dabei machen würden. 28. Februar. In der heutigen Sitzung ließ Bismarck deutlich durchblicken, daß, wenn das Reichsgesetz über die Pensionierung der Offiziere gesichert sei, er es nicht eilig haben werde, die Frage der Kommunalbesteuerung im Landtag zu lösen. 4. März. Erste Lesung der Monopolvorlage im Reichstag. Man erzählt in den parlamentarischen Kreisen bereits, der Kanzler habe das Monopolprojekt schon aufgegeben. Das ist nicht unbedenklich! Ich war vorgestern bei ihm, über den Gang der Polenvorlage berichtend, daß das Abgeordnetenhaus von der Immediatkommission nichts wissen wolle. Er meinte, dann müsse man erst recht die Beratung des Staatsrats beschleunigen. Die Kommission hat Rauchhaupt zum Vorsitzenden gewählt. 7. März. Sonntag. Eine sehr merkwürdige Sitzung. Gestern war nach einer dreitägigen Diskussion, in welche Bismarck wiederholt mit großen Reden eingriff, die Spiritusvorlage einer Kommission überwiesen worden mit dem klaren Verdikt, daß die Vorlage als definitiv abgelehnt zu betrachten sei. Nur um noch zu diskutieren, um die Vorlage nicht in der schroffsten Form abzuweisen, war das geschehen. Dazu war unmittelbar nach dem am 2. März stattgehabten Diner beim Kanzler verbreitet worden, er selbst habe das Projekt aufgegeben und dem Abgeordneten Buhl gesagt: „Die Nationalliberalen möchten sich nicht in den Schlund des Monopols stürzen.“ Dieses Gerücht 304

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hatte Bötticher feierlich desavouiert, es ging aber doch durch alle Zeitungen und wurde geglaubt. Heute leitete Bismarck nun die Ministersitzung mit einer sehr erregten langen Rede ein: Er wünsche sich die Meinung der Herren Kollegen darüber zu versichern, ob es nicht geboten sei, um den Ernst des Willens der Regierung zu bezeugen, sofort im Abgeordnetenhaus ein Lizenzsteuergesetz einzubringen, wodurch den Schankwirten der Krieg bis aufs Messer gemacht werde. Er wolle gar nicht gerecht und billig sein, er kümmere sich nicht um die Verfassung des Reichs, sie solle in allen Fugen krachen, er erwarte unser aller Unterstützung, nötigenfalls die Verfassung zu brechen. Die Konservativen hätten nicht einmal den Mut gehabt, auf die schüchterne Andeutung des Ministers von Puttkamer auf die Möglichkeit einer Änderung des Reichswahlrechts auch nur entfernt einzugehen. Wir erlägen der Tyrannei der Schankwirte, welche schon in England und Frankreich herrschen. Man solle mit der Fabrikatsteuer drohen, wenn die Konservativen nicht für das Monopol eintreten. Scholz widersprach sehr bestimmt der gleichzeitigen Einbringung einer Lizenzsteuer in das Abgeordnetenhaus, welche dort mit einem noch größeren Fiasko enden werde wie das Monopol im Reichstag! (Wörtlich!) 1882 sei das Lizenzsteuergesetz, welches nur eine Einnahme von 14 Millionen erstrebt habe, schimpflich zu Fall gekommen, und so werde es jetzt auch gehen. Zu einer großen Aktion sei er sonst auch bereit ‒ das sei aber keine solche. Puttkamer, ich, Bötticher stimmten dem Finanzminister bei. Nach einigen kräftigen Ausfällen, er werde sich nicht durch juristische Bedenken von etwas abhalten lassen, was er für richtig halte, beruhigte der Fürst sich schließlich mit der Zusicherung der Minister des Innern und der öffentlichen Arbeiten, sie würden die baupolizeilichen Vorschriften bezüglich der Schankwirte streng handhaben. Die Kommissionsberatungen sollen indessen energisch fortgeführt werden, eventuell bis zur Ablehnung, womöglich mit einer Resolution, die sich zu Gunsten irgendeines Steuermodus erklärt. Seit den Szenen mit Graf Eulenburg und Bitter habe ich den Fürsten nicht so wüten gesehen. Es bleibt dabei unverständlich, was er eigentlich bezweckt, da wir gar nicht in besonderen Finanzkalamitäten uns befinden. Wir brauchen die vielen Millionen, die er herbeizaubern will, gar nicht. Nachher sprach der Fürst in drei Worten seine Zustimmung aus, daß in das Ansiedlungsgesetz das Institut der Rentengüter ausgenommen werde. Es sei ja eine ganz vernünftige Sache, und wenn sie sich dort bewähre, könne sie auch in anderen Landesteilen eingeführt werden. Er tat damit auf die Vorstellung von Tiedemann und Rauchhaupt, was er meinem Vorschlag 305

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vom 24. Januar versagte. Damit wäre diese an sich schwierige Vorlage im Abgeordnetenhaus gesichert. Goßler berichtete dann über den Gang der Verhandlungen über seine Vorlage in der Kommission des Herrenhauses. Er bezeichnete sie als hoffnungsvoll. Bischof Kopp habe sich in den letzten Tagen so gestellt, daß die Annahme eine fast einstimmige werde gegen einige liberale Querköpfe. Schwenke Kopp noch ab, einem Drucke von Rom folgend, so gehe die Sache in tausend Splitter und niemand werde noch dafür stimmen. Bismarck meinte: Er habe Kopp gesagt, er möge in seinen Konzessionen in der Kommission nicht weiter gehen, als er mit Zustimmung Roms gehen dürfe. Er sei der angenehmste Bischof und solle sich nicht selbst totmachen, sondern erhalten. Es sei sonst besser, wenn die Vorlage gegen seine Stimme zustande käme. Goßler wurde empfohlen, die Regierungsvorlage jedenfalls durch das Herrenhaus zu drücken. Nötigenfalls sei er zu einem neuen Pairschub bereit. „Alles soll vergewaltigt werden, damit uns die Gesetzlichkeit nicht tötet.“ In der Sozialistengesetzkommission geht es auch nicht vorwärts, was Se. Majestät lebhaft empfindet. „Er habe für diese Sache geblutet und wolle nicht Schutz für sich in seinen Residenzen, sondern für alle anderen Fürsten und überall.“ Ein ritterlicher Herr! 10. März. Der Kaiser ist noch unwohl und leidet an Heiserkeit und rheumatischen Schmerzen. Er liegt bis Mittag zu Bett und schläft viel. Dann ist er wieder frisch und empfängt Vorträge und Besuch zum Tee. Besorgt ist man freilich stets um ihn. Auf dem gestrigen Fastnachtsball war er nicht. Miquel besuchte mich gestern und erzählte, er habe den Bischof Kopp festgemacht und ihm gesagt, wenn er (Kopp) schließlich nicht dafür stimme, werde niemand dafür stimmen. Dann sei die Vorlage unrettbar gefallen. Kopp erhalte von Rom neuerdings zustimmende und ermutigende Telegramme. Man wolle in Rom jetzt mit Preußen Frieden schließen angesichts der Schwierigkeiten, welche sich in Frankreich in der Konkordatfrage vorbereiten. Man wünsche gerade mit Bismarck den Frieden zu schließen. Er (Miquel) arbeite daran, im Herrenhause die Diskussion auf einige große allgemeine Reden zu beschränken und dann die Vorlage en bloc anzunehmen. Er erhalte aus dem Lande zahlreiche Briefe über diesen Kanossagang, allein es sei ja nützlich, das Entgegenkommen, welches der Staat übe, möglichst groß erscheinen zu lassen, um Rom gefügiger zu machen! Kopp müsse am Ende dieser Diskussion auftreten und nicht nur die Zustimmung Roms, sondern auch dessen Bereitwilligkeit aussprechen, der Anzeigepflicht zu genügen. Das wäre allerdings ein würdiger Abschluß dieser etwas gewagten Kampagne! 306

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Kopp versichert zwar, das Zentrum müsse für das stimmen, wofür er eintrete; allein er ist vielleicht etwas sanguinisch und kann sich täuschen. Unglaublich einfältig ist auch hier wieder die Haltung der orthodoxen Hochkonservativen, welche nicht nur über die Regierungsvorlage hinausgehen wollen, sondern dem Bischof Kopp Vorwürfe darüber machen, daß er dem Staat zu weit entgegenkomme. Ein Konservativer, dessen Namen Miquel nicht nennen wollte, sei zu Kopp gekommen und habe ihm gesagt, er begreife nicht, daß Kopp eine so weitgehende Staatsaufsicht in kirchlichen Dingen dulden wolle. Kopp hat das eine schlaflose Nacht bereitet ‒ wie er Miquel klagte. Eine unfaßbare Borniertheit! 12. März. Die Spiritusvorlage ist in der Kommission mit allen gegen sechs Stimmen abgelehnt worden. Die Freisinnigen haben gar nicht diskutiert, sondern lediglich abgelehnt. Scholz hat dem Fürsten vorgestern sein Portefeuille zur Verfügung gestellt und Miquel als Nachfolger empfohlen. Bismarck hat ihn beruhigt und gesagt: Miquel sei ein höchst interessanter, ideenreicher Mann, mit welchem er sich gern unterhalte, aber ‒ Scholz hat hierin ganz korrekt gehandelt. Goßler meinte, eine Kombination sei, daß Scholz Kultusminister und Miquel Finanzminister werde. Die kirchenpolitische Vorlage ist gestern zum Abschluß gekommen, und Goßler ist sehr hoffnungsreich. 14. März. Bismarck erzählte, er habe kürzlich eine Unterredung mit dem Kronprinzen gehabt, welcher ihn gefragt habe, ob er im Fall eines Thronwechsels im Amt bleiben werde. Darauf habe Bismarck geantwortet: „Ja, unter zwei Bedingungen: daß Sie deutsche und keine fremde Politik machen und daß Sie kein parlamentarisches Regime einführen wollen.“ In beiden Fällen habe der Kronprinz ihm zugestimmt. Der Zustand des Kaisers gibt jetzt wieder zu Besorgnissen Anlaß, wie es im letzten Jahr zur selben Zeit auch der Fall war. Er schläft häufig beim Lesen ein und man weiß nicht immer, was Schlaf, was Ohnmacht ist. In der Kirchenpolitik ist jetzt erwartungsvolle Stille, man erwartet die Entscheidung von Rom. Die Intransigenten intrigieren hier wie dort, der Erfolg ist nicht sicher zu übersehen, aber Frieden doch wahrscheinlicher wie das Gegenteil. Die heutige Staatsministerialsitzung verlief sehr ruhig. Bismarck veranlaßte Scholz zur Ausarbeitung neuer Steuerprojekte: Erhöhung der Maisch­ raumsteuer und der Bonifikation- und Konsumsteuer etc. Der Fürst erging sich in enormen Rentabilitätsberechnungen des Spiritusmonopols und der Konsumsteuer, welche er auch in seinen Reichstagsreden verwertet hat. Die Macht der Schankwirte müsse gebrochen werden und der Reichstag ins 307

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Unrecht gesetzt. Das allgemeine Wahlrecht habe er 1866 gegen Österreich ausgespielt mit der Absicht, es so früh wie möglich zu revidieren. Dann folgte eine lange, sehr eingehende Diskussion über die goßlerschen Forderungen betreffs der polnischen Schulen, wobei Scholz etwas scharf opponierte und der Schulverwaltung heftige Vorwürfe machte über ihren Mangel an Energie, innerhalb ihrer Sphäre germanisierend zu wirken. Bismarck trat dabei auf Scholz‘ Seite und empfahl, die Forderungen für diese Zwecke möglichst zu reduzieren, was dann auch geschah. Bezüglich der Stiftung einer katholischen Universität in der Schweiz hat die Kurie eine lange Gegenerklärung erlassen, um mit der Schweiz in Frieden zu bleiben, welche dann in den letzten drei Zeilen mit der Billigung der gemachten Vorschläge endete. Bismarck schien Ähnliches für unsere kirchenpolitische Vorlage zu erwarten. 21. März. Bismarck erging sich in der heutigen Staatsministerialsitzung in Räsonnements darüber, daß die Minister, welche bei der Etatsberatung jede Anfrage und Anzapfung von Intransigenten eingehend und sachlich erwiderten, die Würde der Staatsregierung herabsetzten und sich auf ein Niveau stellten mit den parlamentarischen Klopffechtern; was sich grün mache, fräßen die Ziegen. Man müsse gar nicht oder kurz ablehnend antworten. Den Einwand: man müsse die unterstellten Beamten vertreten, dürfe gewisse Behauptungen nicht unrevidiert ins Land gehen lassen, wollte er nicht gelten lassen und wiederholte immer wieder: man dürfe gegen eine gewisse Klasse von Menschen nicht gerecht, billig, vernünftig sein, und höchstens seien die Freunde und solche, welche noch zu belehren seien, gut zu behandeln. In Frankfurt solle der Belagerungszustand erklärt werden, womöglich noch vor Beratung des Sozialistengesetzes, um dieses zu Fall zu bringen. Gerade so wenig, wie man im Krieg Soldaten, welche unnötige Brutalitäten begingen, dem Feind ausliefere, dürfe man Beamten, welche ihre Befugnis überschritten hätten, den „Richtern“ übergeben. Er sagte das mit Bezug aus die Frankfurter Kirchhofsexzesse. Eine Analogie, welche den Justizminister sehr kränkte. Es war eine herbe Kritik für Puttkamer und Scholz, welcher Letztere am Tage vorher ohne Not durch sein Auftreten im Abgeordnetenhaus eine lange, überflüssige Diskussion veranlaßt hatte. Am Ende der Sitzung meldete Scholz an, daß seine neue Branntweinsteuervorlage in acht Tagen fertig sein werde, und erbat sich Instruktion für die bevorstehende Verhandlung der Spiritusmonopolvorlage. Falls der Fürst nicht anwesend sei, wolle er mit einem Zitat aus Hartmann schließen (Philosophie des Unbewußten), worin gesagt ist: Die Deutschen schätzten 308

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gute Ideen ‒ Monopolvorlagen, Kolonialpolitik ‒ erst, wenn die Autoren tot seien. Bismarck goutierte den Gedanken nicht und meinte: „Dann müsse er sich wohl den Hals bald abschneiden.“ Die Franzosen nehmen eine 1 ½-Milliarden-Anleihe auf, angeblich um Schulden zu tilgen, die Russen konvertieren die ihrigen auf 3 ½ Prozent wesentlich durch Berliner Bankhäuser und nehmen neue Anleihen auf. Die Franzosen projektieren für nächstes Jahr eine teilweise Mobilisierung an ihrer Ostgrenze und die Russen ein großes Manöver in Polen unter Konzentrierung von 130.000 Mann. Das sieht nicht gerade friedlich aus, wie Bismarck auch denkt. Bei der Gratulation am 22. März empfing uns Se. Majestät wie gewöhnlich in großer Uniform, den Helm mit Busch in der Hand. Es ginge ja noch mit dem Kopf, aber mit den Beinen sei es klapprig geworden. Der Fürst solle nicht zu viel arbeiten. Bei der Erwähnung des Sozialistengesetzes brauste er förmlich auf und sagte mit erregter Stimme: „Er hätte es nicht für möglich gehalten, daß ihm von einem Untertanen eine solche Beleidigung zugefügt werden könne ‒ anzunehmen, daß er das Gesetz für seine eigene persönliche Sicherheit haben wolle; das habe er doch bewiesen, daß ihm daran gar nichts liege. Er wolle es für alle Fürsten und für die Sicherheit des Landes. Dieser kleine Bullenbeißer, der Windthorst!“ Es war wirklich großartig, diese jugendliche Indignation in dem neunundachtzigjährigen Mann zu sehen! Dann zeigte er seine Geschenke und wies auf die zufällige Gruppierung, wonach eine Viktoria seinem Vater den Lorbeerkranz reichte, während die Statuette Friedrichs des Großen darauf zufrieden hinzublicken schien. Bismarck sagte: „Nun, er“ (Friedrich der Große) „könne auch mit seinem Nachkommen zufrieden sein.“ Se. Majestät: Es sehe im Osten wieder bedenklich aus, der neue Konflikt mit dem Sultan und dem Fürsten von Bulgarien sei bedenklich. Freilich, Keckheit auf der einen und Unentschlossenheit auf der anderen Seite, da könne man sich schließlich doch vertragen. Bismarck meinte, er könne nicht glauben, daß die Königin Viktoria so mutig sei, den Konflikt aus Familieninteresse zu schüren. Se. Majestät meinte: Das glaube er doch! Bismarck: Für ihn sei stets Arbeit das einzige Gerüst, an welchem er sich noch im Alter aufrechterhalte. Beim Abschied reichte Se. Majestät wie gewöhnlich jedem die Hand und erkundigte sich nach dem Minister Maybach, welcher zu seiner sterbenden Frau nach San Remo gereist war. 309

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Abends war eine theatralische Soiree bei den Majestäten. 26. März. Bismarck hielt bei der zweiten Beratung des Spiritusmonopols eine große Rede, „um Zeugnis abzulegen für eine verlorene Sache“. Wie alle seine Reden, enthielt sie eine große Menge von Pointen und interessanten Gesichtspunkten, ging aber zu sehr in die Breite und verlor sich gelegentlich in Einzelheiten. Großartig dagegen waren die Andeutungen der künftigen Gefahren, welche dem Deutschen Reich drohten. Vor hundert Jahren regierte noch Friedrich der Große mit dem ganzen Prestige seiner Erfolge und wenige Jahre später machte die französische Revolutionsarmee ihren tour du monde! Könnten nicht die anarchistischen Ideen, an die französischen Fahnen geheftet, ähnliche Erfolge haben?! „Ich habe im Frühjahr 1870 nicht vorausgesehen, welche Gefahren uns unmittelbar bevorstanden. Könnte nicht dergleichen jetzt wieder drohen? Der Bestand des Reichs ist gegründet auf eine schlagfertige Armee, gute Finanzen und die Zufriedenheit der Bewohner. Wäre es nicht gefährlich, wenn den Fürsten die Opfer leid würden, welche sie für die Gründung des Deutschen Reichs gebracht haben? Mit Staatsstreich wolle er nicht drohen.“ Trotzdem erklärte von Helldorf-Bedra namens der Konservativen, sie würden sich der Abstimmung enthalten ‒ unter dem Hohn des Hauses. Es motiviert sich durch den Umstand, daß vierzehn Konservative gegen das Monopol gestimmt haben würden. Gleichzeitig mit diesem großen Mißerfolg droht das Scheitern der ganzen kirchenpolitischen Vorlage im Herrenhause. Bischof Kopp ist in letzter Stunde noch mit Amendementsvorschlägen hervorgetreten ‒ auf Weisung Roms, welche heute zunächst zur Rückverweisung an die Kommission führen werden. Da die Leute unter dem Eindruck sind, daß Bismarck doch noch weiter nachgeben werde, ist gar kein fester Punkt mehr und kein Aufhalten in dieser Politik. 29. März. Staatsratssitzung, welcher der Kronprinz und Bismarck beiwohnten und welche interessant wurde durch eine ganz spontane, kräftige Äußerung des Prinzen, der sein volles Einverständnis mit den beabsichtigten Maßregeln ausdrückte, welche die Versäumnisse der sonst wohl verdienten Bureaukratie nachholen sollten. Bismarck entwickelte seine Ansichten über die Stellung der Ansiedlungskommission, welche darauf hinauskommen, daß er eigentlich keine Kommission wollte, sondern einen allmächtigen Kommissar, quasi Minister ad hoc. Der könne Sitz und Stimme im Staatsministerium haben wie die Minister ohne Portefeuille, wie Delbrück, Hatzfeldt, Bötticher. Er setzte die 310

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Gedanken auseinander, mit welchen er im Staatsministerium in der Minorität geblieben war und sich auch gefügt hatte. Ich schrieb ihm auf einen Zettel die Warnung, daß von Schorlemer anwesend sei und daß die Befürwortung einer Änderung der Beschlüsse der Kommission des Abgeordnetenhauses noch die ganze Sache in Frage stellen könne. Darauf lenkte er in einer späteren Rede ein, indem er erklärte, er spreche hier nur seine eigene Meinung aus, welche er fallen lasse, wenn das Staatsministerium oder auch nur einer der nächstbeteiligten Minister eine abweichende Meinung geltend mache. Er wolle damit den Gang der Gesetzesvorlage im Abgeordnetenhause nicht beeinflussen. Bennigsen und Gneist hatten inzwischen darauf aufmerksam gemacht, daß die Vorlage nicht einen solchen allmächtigen Kommissar vorsehe, sondern eine Kommission, und daß es bedenklich sein könne, dergleichen zu proponieren. Der Verlauf bestätigte das Bedenkliche, eine solche Beratung des Staatsrats herbeizuführen, ehe noch die Vorlage durch den Landtag bestätigt ist. Trotzdem meinte Bismarck im Weggehen: Er sei froh, wenigstens seine Ansicht zur Sache festgelegt zu haben. Ich bin nun gespannt, wie Schorlemer sich weiter verhalten und im Abgeordnetenhause etwa das Gehörte verwerten wird. Ich hatte den Vorsitz in der Sektionssitzung und schloß sie mit dem Vorschlag, eine aus den drei Referenten und den Unterstaatssekretären Marcard und Herrfurth bestehende Subkommission einzusetzen, welche in bestimmten Thesen das Ergebnis der Sektionssitzungen formulieren sollte, so daß durch Abstimmungen die Meinung derselben festgestellt werden kann. Damit war Bismarck und die Versammlung einverstanden. Die Schwierigkeiten sind damit aber noch nicht beendet, sondern fangen für mich erst an. Am Ende kann es sich ereignen, daß ich meine Demission anbiete, um dem Generalgewaltigen Platz zu machen. Ob Bismarck das wünscht, ist mir noch unklar. Mein Ressort hat zwar die geeigneten Kräfte für die Durchführung des Gesetzes in den Generalkommissionen, aber sonst bin ich ressortmäßig gar nicht oder weniger wie der Minister des Innern dabei beteiligt. Ich könnte sogar die Mitwirkung ablehnen. 31. März. Gestern war ich bei Bismarck, die weitere Behandlung der Vorlage besprechend. Er lag auf dem Sofa, über Venenschwellung und Schmerzen im Bein klagend. Wünschte baldige Erledigung der Sache im Staatsrat, wonach das Ministerium und Se. Majestät weiter befinden würden. Warum die Beratung im Abgeordnetenhause noch nicht stattfinde? Ich deutete 311

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die Schwierigkeiten an, welche aus der Einsetzung einer dem Ministerium unterstellten Kommission entständen, was er wohl verstand, ohne näher darauf einzugehen. Die Beratung in der Staatsratssektion wurde am selben Tage noch unter meinem Vorsitz zu Ende geführt, und zwar wurden die Vorschläge der Subkommission ohne wesentliche Änderungen angenommen. Die einzige wesentliche war: daß der Vorsitzende der Ansiedlungskommission vom König, und zwar als im Hauptamt, ernannt werden sollte. Bennigsen und Minnigerode vertraten diese Ansicht lebhaft. Die zweite Lesung im Abgeordnetenhaus soll morgen beginnen, und da bisher keine Abänderungsanträge vorliegen, kann sie schnell verlaufen. 2. April. § 1 des Ansiedlungsgesetzes ist mit 218 gegen 120 Stimmen angenommen und damit die Vorlage in der Hauptsache erledigt, und was heute erfolgt, ist nur Nachgeplänkel. Der Kaiser, Kronprinz und Prinz Wilhelm haben dem Kanzler zu seinem gestrigen Geburtstag persönlich gratuliert. Den Minister Bötticher hat Bismarck umarmt und geküßt: „Gott möge Sie mir noch lange erhalten!“ Bötticher ist von seiner schweren Erkrankung völlig hergestellt. 5. April. Es sind zwei Sonntage ohne Staatsministerialsitzungen vergangen, es wird aber eifrig an neuen Steuervorlagen und an der Kirchenpolitik gearbeitet. Schlözer ist von Rom berufen und Fürst Hatzfeldt vom Papst empfangen worden im Beisein Jacobinis. Er soll einen eigenhändigen Brief Bismarcks überreicht haben, von dessen Inhalt wir aber nicht unterrichtet sind. Welche große Eile eigentlich Bismarck bewegt, den Frieden mit Rom à tout prix herbeizuführen, versteht man ebenso wenig wie die heftige Aufnahme der Polenfrage, welche doch in keiner mehr akuten Lage war wie seit Jahren. Ob er große europäische Katastrophen drohen sieht? Man muß es fast glauben, denn ohne Grund handelt er schwerlich so. Andere freilich bezweifeln die Planmäßigkeit seines Handelns. 6. April. Schlözer war hier und erzählte, er habe sich den Unwillen Bismarcks zugezogen, weil er ohne besondere Autorisation eine Note an die Kurie gerichtet habe, worauf die Antwort erfolgt sei: Falls die koppschen Anträge angenommen würden, werde die Kurie bezüglich der jetzt vakanten Stellen der Anzeigepflicht genügen; für die Zukunft hege man das Vertrauen, daß die preußische Regierung im Verordnungswege alle Schwierigkeiten ebnen werde. Schlözer sieht darin ein sehr akzeptables Entgegenkommen der Kurie, während Bismarck ihm vorwirft, ohne Auftrag und ganz ohne Not diese Démarchen gemacht zu haben. Schlözer meinte, der Papst wünsche den 312

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Frieden mit Preußen, dessen Monarchen und ersten Minister er sehr bewundere. Die Anrede „Sire“ und das Schiedsrichteramt in der Karolinenfrage habe ihn gänzlich gewonnen. Windthorst habe in Rom Gegenintrigen gemacht und darauf hingewiesen, die Regierung bedürfe der Unterstützung des Zentrums bei Bewilligung des Septennats. ‒ Bismarck hat sich ungehalten geäußert bezüglich des für die Zukunft gemachten Vorbehalts. Ihm läge an der Anzeigepflicht zwar gar nichts, aber jetzt tue man der Kurie lediglich einen Gefallen, indem man zwölfhundert Geistlichen, welche begierig darauf warteten, die ersehnte Anstellung gewähre. Schlözer meinte, das werde im katholischen Volk ein lebhaftes Dankgefühl erregen, wenn mit einem Male sich überall wieder die Kirchentüren öffneten und die Glocken läuteten. 8. April. Gestern teilte ein konservativer Abgeordneter mir mit, der Fraktionsvorstand habe es abgelehnt, eine von Minnigerode befürwortete Interpellation einzubringen bezüglich der Lage der Landwirtschaft. Heute erschien derselbe wieder und meldete, das Plenum der Fraktion habe auf Minnigerodes Antrag beschlossen, doch eine solche zu stellen. Auf eine an den Reichskanzler gerichtete Anfrage über die Opportunität hat Rottenburg kurz geantwortet: Man habe nichts dagegen. Bismarck hat beim Tee gesagt: Von Silberwährung könne nicht die Rede sein, aber gegen weitere Erhöhung der Getreide- und Viehzölle habe er nichts. Später erschien Minnigerode mit seiner Interpellation, die bereits gedruckt und von der Fraktion unterzeichnet war, und rechtfertigte sie mit der allgemeinen landwirtschaftlichen Notlage, welche eine allgemeine Diskussion erfordere, gegen mich persönlich sei die Sache nicht gerichtet u. s. w. Ich hielt mit meinen Bedenken gegen dieses Vorgehen nicht zurück, daß es nur ein Gaudium für die Opposition sei. Bismarck selbst sei der Meinung, daß die Begehrlichkeit der Agrarier nicht weiter gereizt werden dürfe, ich würde die Sache im Staatsministerium vortragen, und er dürfe sich nicht wundern, wenn sie auf eine trockene ablehnende Antwort hinauslaufe. Das schien zwar einigen Eindruck auf ihn zu machen, indessen meinte er, die Verhältnisse seien stärker wie die Menschen und trieben oft weiter, als man wolle. So gehe es auch Abgeordneten und Ministern. Ich habe den Eindruck, daß es sich um eine eigenste Aktion Minnigerodes handelt und daß Bismarck die Sache nicht angeregt, sondern nur zugelassen hat. 9. April. Sitzung bei Bismarck, worin er in etwa einstündiger Rede die zu beobachtende Kirchenpolitik entwickelte. Er will selbst friedlicher 313

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erscheinen als das Parlament, aber sich von dem Einspruch desselben oder des Ministerii hemmen lassen. Er will nichts tun, was die Nationalliberalen als eine Niederlage des Staates empfinden würden, weil er nie mit Zentrum und Konservativen regieren könne und wolle gegen die Nationalliberalen und Freikonservativen. Er wolle so weit in seinen Konzessionen gehen, als diese hier zugelassen würden. Nicht weiter ‒ seine Grenze sei bei der Schule und Schulaufsicht. Der Papst sei friedlich und freundlich gesinnt. Er habe noch kürzlich Lenbach gesagt: „Er und Bismarck regierten die Welt!“ In diesen Auseinandersetzungen war viel Feines und Großes ‒ aber er selbst kann seinen eigenen Einfluß nicht neutralisieren. Das Parlament will keine Direktiven geben, sondern sie vielmehr von ihm empfangen. Daran kann er jetzt nichts ändern, so unbequem es ihm im gegebenen Moment ist. Es glaubt eben niemand mehr, daß das Parlament oder Ministerium gegen seinen ausgesprochenen Wunsch und Willen etwas beschließt. Für Goßler eine schwierige Lage. Dem Gesandten Schlözer warf er vor, entgegen einer wiederholt eingeschärften Instruktion am 26. März auf eigene Faust eine Note an die Kurie gerichtet zu haben, worin er anfrug: ob die Kurie unter diesen oder unter welchen anderen Bedingungen der Anzeigepflicht genügen werde. Am selben Tage sei die bekannte Antwort erfolgt, wonach die einmalige Erfüllung der Anzeigepflicht in Aussicht gestellt wurde, und Weiteres, wenn die Revision der Maigesetze zugesichert werde. Hierdurch habe die Verhandlung einen zweiseitigen Charakter bekommen, und es seien Gegenleistungen der Kurie verlangt worden, während er bisher streng daran festgehalten habe, einseitig die Grenze im Wege der eigenen Gesetzgebung zu regeln und die für die Befriedigung des religiösen Bedürfnisses der katholischen Untertanen nötigen Konzessionen ohne irgendwelche Gegenleistungen zu machen. Schlözer sei in Rom nicht mehr zu brauchen und er werde versuchen, ihn anderwärts zu verwenden, obschon er ihn schon früher zu sehr ammolli gefunden habe. Bei der von mir gestellten Frage, wie die landwirtschaftliche Interpellation beantwortet werden solle, erklärte er sich dafür, man solle sich bereit erklären, eine Enquete anzustellen. 14. April. Gestern sind im Herrenhause die weitgehenden Anträge Kopp mit der Regierungsvorlage angenommen worden. Für dieses Kanossa stimmten Bismarck, Minister Friedberg und alle gouvernementalen Hochkonservativen ‒ dagegen alle Liberalen, Freikonservativen, Stolberg, Graf Arnim-Boitzenburg u. s. w. Es ist damit genau eingetreten, was ich in der neulichen Staatsministerialsitzung voraussagte, und das Gegenteil von dem, 314

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was Bismarck angeblich wollte, daß er in seinen Konzessionen so weit gehen wolle, als es die Zustimmung der Nationalliberalen und die Schonung der mittelparteilichen Stimmung erlaube. „Er denke nicht an die Möglichkeit, sich auf Zentrum und Hochkonservativenmajorität zu stützen.“ 15. April wurde im Herrenhause die Hundertmillionenvorlage für Ansiedlungszwecke nach einem vorzüglichen Referat des Oberbürgermeisters Miquel ohne erhebliche Diskussion angenommen. Bismarck griff mit einer kurzen Entgegnung gegen den Polen Koscielski ein, womit die Sache erledigt war. 22. April. Graf Münster besuchte mich und äußerte sich sehr beruhigend über die Lage in Frankreich. Man fürchte sich da sehr vor uns, und Freycinet habe ihm wiederholt versichert, solange er im Amt sei, wäre an Krieg nicht zu denken. Boulanger sei 47 Jahre alt, jüngster Divisionsgeneral; früher Orleanist, jetzt mit den Radikalen liebäugelnd, erstrebe er die Diktatur für sich selbst. Während er in den Zeitungen die Soldaten mit den Anarchisten fraternisieren lasse, habe er gleichzeitig straffe Befehle nach Décazeville ergehen lassen, die strengste militärische Disziplin aufrechtzuerhalten. Alle seien in Paris übertrieben höflich, dabei habe man natürlich das Bewußtsein, verhaßt zu sein. Man betrachte ihn als Ambassadeur de conflit und habe seine Versetzung nach Paris so aufgefaßt. Er wäre natürlich lieber in England geblieben, wo er eine vorzügliche Stellung gehabt habe. Boulanger halte die Armee für noch nicht kriegsbereit. Hier müsse man natürlich stets bereit sein, aber den Krieg nicht provozieren. Die Franzosen täten es sicher nicht. Münster hielt nach dem Krieg 1870 dafür, daß die Franzosen die letzten Milliarden in Kanonen und Kugeln bezahlen würden. Er fand hier die Leute beunruhigt und wollte Moltke und Waldersee besuchen. Bismarck hatte er noch nicht gesprochen. Ich sah kurz danach Bismarck und fand ihn verstimmt und einsilbig. Der Unterstaatssekretär von Möller habe eine schwere Lungenentzündung (er starb daran), Burchard und Boccius seien überarbeitet, am Überschnappen, nur die Parlamentarier arbeiten sich nie kaputt. Er wünscht nun, daß wir einen Entwurf der Königlichen Beiordnung für die Organisation der Ansiedlungskommission entwerfen, weil Möller krank ist. Über die in Posen zu machenden Ankäufe hat er wechselnde Ideen. Gestern meinte er, man müsse vor allem Deutsche in ihrem Besitz halten, indem man ihnen Darlehen gäbe, Ankäufe von ihnen mache. Das ist nun nach den in den Verhandlungen gegebenen Erklärungen nicht möglich und gibt einen nützlichen Wink, in der Instruktion der Immediatkommission alle nötigen Fragen klar zu stellen und festzulegen vor wechselnden Meinungen. Es kommt jetzt oft vor, daß 315

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bei Bismarck die Anschauungen sich ändern, ohne daß man in jeder Äußerung tief angelegte und weittragende Pläne suchen dürfte. In der Kirchenpolitik erscheint das am augenfälligsten. 10. Mai. Vorgestern Sitzung beim Fürsten, welcher wieder sehr kulturkampflustig redete, als wollten wir von Neuem anfangen. Verlas den Dankbrief des Papstes an den Kaiser für das Pektorale. Zur Einschüchterung der Sozialdemokraten wünscht er überall, wo sich Gelegenheit bietet, den Belagerungszustand zu erklären, damit die Leute den Nachteil jeder Ausschreitung lebhaft empfinden. So jetzt in Spremberg, wo bei der Aushebung ein geringfügiger Exzeß stattfand. „Wir müßten rachsüchtig sein!“ Heute traf ich Bismarck im Tiergarten reitend und begleitete ihn ein Stück. Er wunderte sich, daß Bismarck-Flatow gegen das Kirchengesetz gestimmt habe, und wollte in Rom es aufklären lassen durch Schlözer, daß ihn dafür keine Verantwortung treffe. Ich meinte, der Fall sei ja sehr nützlich, um darzutun, wie groß der Widerstand im eigenen Haus sei gegen seine friedliche Kirchenpolitik. Er lächelte dazu und meinte, das könne man allerdings tun. Als leitender Minister dürfe er sich nicht von Zorn und Antipathie leiten lassen, obschon er ja begreife, daß man nach dem jahrelangen Kampfe noch so fühle. Ich hatte ihm mitgeteilt, daß mein eigener freikonservativer Bruder wie fast alle Abgeordneten aus der Provinz Sachsen gegen das Gesetz gestimmt hatte. Er diplomatisiert in dieser Sache offenbar nach beiden Seiten und sein Hintergedanke bleibt, daß er sich das Zentrum eventuell für seine Monopolvorlagen sichern will. Dr. Schweninger hat dem Fürsten dringliche Vorstellungen gemacht, sich von Geschäften zurückzuhalten und bald aufs Land zu gehen. Er finde ihn blutarm und könne für nichts stehen, wenn er nicht bald eine Ruhepause mache. Dem scheint sich der Fürst auch fügen zu wollen, was der weiteren ruhigen Abwicklung der Geschäfte nur förderlich sein kann. Die Beschränkung der Versammlungsfreiheit wird von allen vernünftigen Zeitungen als prophylaktisches Mittel gegen die drohenden Streiks gebilligt. 23. Mai. Eröffnung der Jubiläumsausstellung der Akademie bei tropischer Hitze, wobei Se. Majestät eine vorzügliche kurze Ansprache hielt. Während er vorher müde und angegriffen aussah, sprach er mit jugendlicher Frische frei in seiner bescheidenen, echt gefühlten wohltuenden Weise alles Verdienst auf seinen erlauchten Vorfahren Friedrich II. zurückfahrend. Vorher hatte der Kronprinz eine viel zu schwülstige lange Rede flüchtig und gelangweilt vorgelesen und Goßler eine ähnliche Rede frei gehalten. Die Ansprache des Kaisers brachte alles wieder in das Geleise und in eine schöne, gehobene Stimmung. 316

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30. Mai. Der Fürst hat auf die Mitteilung des Verordnungsentwurfes der Ansiedlungskommission durch Rottenburg geantwortet: Er fühle sich nicht arbeitskräftig genug, sich weiter mit der Sache zu befassen, und ersuche das Staatsministerium, das weitere selbständig zu veranlassen, das heißt, er wünscht sich die Freiheit vorzubehalten, über alle Mißerfolge bei der Ausführung des Gesetzes freie Kritik zu üben und sich nicht weiter mit der Sache zu identifizieren. In der letzten Sitzung des Staatsministeriums wurde nun beschlossen, nach dem früher vereinbarten Programm zu verfahren, ohne nochmalige Rückfrage beim Fürsten. Es wurde demgemäß sowohl der Entwurf der königlichen Beiordnung wie auch des Immediatberichts von den anwesenden Ministern vollzogen und beschlossen, eine Anfrage an Graf Zedlitz zu richten, ob er geneigt sei, die Stellung zu übernehmen. Die neue Spiritusvorlage geht wieder vollständig in die Brüche. Die Kommission ist in vier Sitzungen bis in die zweite Lesung gediehen und hat sich bisher nur bereit erklärt zu einer Konsumsteuer von 25 Pfennig anstatt 120 pro Liter, dagegen die präzise Angabe der Verwendungszwecke beschlossen, welche der Finanzminister überhaupt nicht so schnell beibringen kann. Der Reichstag soll dann geschlossen werden, sobald die zweite Lesung negativ entschieden ist. Bötticher wird nach Friedrichsruh fahren, um Bismarcks Zustimmung zu extrahieren, da er jetzt konsequent ablehnt, die brennendsten Fragen, welche er selbst angeregt hat, zu beantworten. Schließlich machte der Minister Maybach den Finanzminister aufmerksam, daß er weiteren Konvertierungen von vierprozentigen Eisenbahnobligationen nicht zustimmen könne. Die letzte Transaktion dieser Art habe schon sehr viel böses Blut gemacht. Der Finanzminister schien überrascht und erbittert, als alle übrigen Minister Maybachs Auffassung zustimmten. Es sei seine Sache, diese Maßregeln zu proponieren und wir müßten uns gefaßt machen, daß er alle unsere Etatsforderungen ablehnen müsse. 5. Juni. Diner bei Goßler zu Ehren des neuen Posener Erzbischofs Dinder, welcher ganz in Scharlach erschien. Großer, magerer, schwärzlicher Herr, sicher und höchst verbindlich auftretend. Er ist Gast des Kaisers, des Kronprinzen und des Fürsten in Friedrichsruh gewesen. Er geht anscheinend mit dem guten Willen in die Sache, sich mit dem Staatsministerium und der Regierung zu vertragen. Ob er sich von den bestimmenden Einflüssen seiner Umgebung wird freihalten können, muß sich noch zeigen. 8. Juni. Bötticher ist in Friedrichsruh gewesen, um die Zustimmung des Fürsten zum Schluß des Reichstags zu erlangen, hat aber nicht reüssiert. Der Fürst besteht auf Durchberatung der Spiritusvorlage im Reichstag und droht mit weiteren Vorlagen auch für den Landtag. Die schon im Kabinett 317

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befindliche Verordnung betreffs der Ansiedlungskommission beanstandet er mit dem Hinweis: Graf Zedlitz solle Oberpräsident von Posen und zugleich Präsident der Ansiedlungskommission werden. Günther soll zur Demission veranlaßt werden. 10. Juni. Bei prachtvollem Wetter Enthüllung des Denkmals Friedrich Wilhelms IV. Die Feier auf dem monumentalen Platz war höchst wirkungsvoll. Der Kaiser zog den Degen und kommandierte selbst die Honneurs wie damals in Potsdam bei der Enthüllung des Denkmals Friedrich Wilhelms I. Nachher machte er noch Cercle und hielt uns eine kurze Ansprache in dem schönen, würdigen, pietätvollen Sinn, welcher ihn auszeichnet. „Es sei ein Tag der Freude und Trauer für ihn, das Gedächtnis an seinen Bruder, der so Schönes geschaffen und in seinen letzten Jahren so Trübes erfahren hätte.“ Er umarmte und küßte den Kronprinzen wiederholt, welcher auch ganz bewegt war. Prinz Wilhelm war wegen eines Ohrenleidens nicht anwesend. Die Großherzogin von Baden, die Kronprinzeß und Prinzeß Wilhelm waren anwesend. Die eben eingetroffene Nachricht von der bevorstehenden Entmündigung des Königs von Bayern wegen ausgesprochener Geisteskrankheit machte großes Aufsehen. 16. Juni. Der König von Bayern hat sich am 13. Juni, nachdem ihm seine Entsetzung von der Regierung verkündet worden war, welcher er sich mit Gewalt zu widersetzen suchte, und nachdem er nach Schloß Berg übergeführt war, im nahen See ertränkt. Mit dem ihn auf den letzten Gang begleitenden Dr. Gudden muß er noch einen heftigen Kampf gehabt haben. Dr. Guddens Leiche wurde im See neben der des Königs gefunden und trug Spuren des Kampfes an sich. Der König hatte vorher mit Gudden diniert und veranlaßt, daß kein Wärter sie auf dem nachfolgenden Spaziergang begleitete. Also hat der König mit Vorbedacht gehandelt. Das Ereignis macht ungeheure Sensation. Minister Friedberg teilte mir ein von ihm abgefaßtes, höchst inte­ ressantes Memoire mit über die Einsetzung der Regentschaft im Herbst 1857. (S. Anlagen, S. 480 ff.) 20. Juni. Se. Majestät ist gestern von hier abgereist. Er hat seine Abreise noch um einen Tag verschoben, um dringende Geschäfte zu erledigen. Er hat darüber geklagt, daß die Anwesenheit der Großherzogin von Baden so viel Zeit in Anspruch nehme, er müsse sie amüsieren. Kabinettsrat von Wilmowski erzählte das und anderes, was die enorme Pflichttreue und Arbeitsamkeit des Königs charakterisiert. Die mein Ressort betreffende s.sche Sache hat er drei Wochen hin und her überlegt und besprochen, schließlich auch ganz im richtigen Sinn entschieden, kein Dar318

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lehen, sondern ein Geschenk zu machen. Die Stellung des Denkmals Friedrich Wilhelms IV. sei während der Regentschaft vom Kronprinzen entschieden worden gegen die Meinung Sr. Majestät, welcher das Monument nicht auf die Treppenhöhe, sondern zu ebener Erde habe stellen wollen. Die Gelehrten seien sehr uneinig gewesen und hätten sich nur mit einer Stimme Majorität für die hohe Stellung entschieden. Um dem Kaiser die Geschäfte zu erleichtern, wäre es wesentlich, wenn über die auswärtigen Angelegenheiten ständig Vortrag durch Herrn von Bülow stattfände wie jetzt nur während der zwei Reisemonate. Man lege ihm zu viele Berichte zum Selbstlesen vor, was er in seiner Pflichttreue auch tue. Das ist schon rein physisch eine erstaunliche Leistung. 25. Juni. Die Königliche Verordnung betreffs der Ansiedlungskommission ist von Sr. Majestät am 25. Juni vollzogen und gestern publiziert worden. Die Sache ist auch insofern perfekt geworden, als Graf Zedlitz hier war und demnächst eingegeben werden wird zur Ernennung zum Oberpräsidenten von Posen und zum Vorsitzenden der Ansiedlungskommission. Es ist das eine allseitig befriedigende Lösung, die Ministerialinstanz bleibt völlig unberührt und die Ausführung des Gesetzes wird in die Provinzialinstanz und zugleich in die besten Hände gelegt. Im Übrigen bin ich zum Ressortminister designiert für alle weiter von hier aus zu tuenden Schritte. Endlich hat sich auch Fürst Bismarck in das Unvermeidliche gefügt und in den Schluß der Parlamente eingewilligt. Es werden also keine neuen Vorlagen überhaupt mehr gemacht, in specie keine Steuervorlagen. Dasselbe Resultat wie jetzt wäre erreicht worden, wenn man vor Pfingsten geschlossen hätte! Heute Requiem für den König von Bayern. 28. Juni. Bismarck gesprochen, welcher, sonst munter, über Gesichtsschmerzen klagte. Über die Ansiedlungssachen wünscht er auf dem Laufenden gehalten zu werden. Der Reichstag wird in der Presse wegen seiner mangelnden Leistungsfähigkeit schlechtgemacht, man solle künftig vom Regierungstisch die Beschlußunfähigkeit konstatieren, Änderungen des Wahlgesetzes und der Verfassung werden diskutiert. ‒ Von Bötticher klagt über Bismarcks Gleichgültigkeit gegen die Fortführung der sozialen Reform. 30. Juni. Bismarck ist heute nach Schönhausen gefahren und beabsichtigt, in den nächsten Tagen nach Kissingen zu gehen. Später will er mit dem Kaiser in Gastein sein und auch den Kaiser von Österreich in Ischl besuchen, vermutlich handelt es sich um die Verlängerung des Bündnisses. 3. Juli. Staatsministerialsitzung in Abwesenheit Bismarcks. Es fand eine ausführliche Besprechung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage statt 319

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und der möglichen Mittel zur Abhilfe. Man war einig, daß abgesehen von möglichen Zollerhöhungen, welche jedenfalls der Finanzlage zugutekämen, staatlicherseits nicht viel zu tun möglich sei. Es wurde erwähnt, Bismarck habe die Idee, stattliche Produktionszweige zu kontingentieren! Die Durchführung der Unfallversicherungsgesetze stößt auf Schwierigkeiten, weil der Fürst jetzt nicht wie früher beabsichtigt, daß die Geschäfte den Kreis- und Provinzausschüssen überwiesen werden sollen. Dieselben seien jetzt schon überlastet, was nicht der Fall ist. 18. August. Gestern war zum Gedächtnis des vor hundert Jahren erfolgten Todes Friedrichs des Großen eine sehr würdige Feier in Potsdam. Gottesdienst in der Garnisonskirche, wo sein Sarg in der Gruft hinter dem Altar neben dem seines Vaters steht. Kögel hielt eine vortreffliche Rede. Der Kaiser legte Kränze am Sarg nieder. Vorher hatte er uns (Maybach und mich) freundlich begrüßt. Nach dem Gottesdienst war Dejeuner im Stadtschloß, dann Kirchenparade, welche Se. Majestät mit gezogenem Degen selbst kommandierte. Alle Prinzen marschierten mit vorbei, an der Spitze der Kronprinz. Nach dem Vorbeimarsch, wobei die Sonne enorm brannte, hielt der Kaiser noch eine kurze Ansprache an die Generäle und Minister. „Er freue sich, dieser Feier haben beiwohnen zu können an der Stelle, wo Vater und Sohn ruhten, wie Kögel so schön und treffend gesagt habe.“ Er dankte ihm selbst dann noch lebhaft und wiederholt. Die Stimme versagte ihm etwas dabei, er fand aber den Faden und die Konstruktion immer wieder. Es freute mich umso mehr, der Feier noch beizuwohnen, als ich auf diese Weise Se. Majestät vor meiner Abreise noch einmal sah und mich persönlich verabschieden konnte. 4. Oktober. Goßler teilt mit, daß Bismarck die in Aussicht gestellte weitere Revision der Maigesetze bald vornehmen wolle, und trug die noch rückständigen Punkte vor. Abgesehen von der Verfügung über die angesammelten 16 Millionen Sperrgelder und die Wiederzulassung der Orden, handelt es sich nur um untergeordnete Punkte. Das Gegebene soll natürlich möglichst groß erscheinen. Goßler will nächstens nach Varzin, um endgültig Instruktionen zu holen. 17. Oktober. Goßler, von Varzin zurückgekehrt, hat Bismarck sehr wohl, aber präokkupiert mit der äußeren Politik gefunden, weniger geneigt, sich mit Fragen der inneren Politik zu beschäftigen. Er hat jetzt keine Eile mit der weiteren Revision, dagegen denkt er an die Erneuerung des militärischen Septennats. Dem gleichzeitig in Varzin anwesenden Botschafter 320

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Schweinitz gegenüber hat er stark seine Sympathien für Giers betont. Giers begünstigt die deutsche Allianz und wird daher von der panslawistischen Presse angegriffen, ebenso von der Umgebung des Kaisers. Giers ist noch nicht im Besitz der seiner Stellung entsprechenden russischen Orden, während Katkow bei jeder Gelegenheit ausgezeichnet wird. (Erhielt kürzlich den Wladimir.) Das Wort Bulgarien ist in Goßlers Gegenwart gar nicht ausgesprochen worden, wie Bismarck überhaupt nicht die auswärtige Politik berührt hat. Schweinitz ist der Meinung, daß unsere Ausweisungen russischer Untertanen in Rußland viel böses Blut gemacht haben und sicher zu ähnlichen Maßregeln gegen die Deutschen später führen werden. Die kirchenpolitische Unterhaltung hat nur drei Viertelstunden in Anspruch genommen, nicht ohne daß Bismarck nach der Uhr gesehen hat. Der Kaiser würde sich nach Bismarcks Ansicht wohler befinden, wenn die Damen ihm mehr Ruhe ließen. Der Kriegsminister sieht auch die Verhältnisse als sehr friedlich an, wir seien in Bezug auf Infanteriebewaffnung (Repetiergewehr) den Franzosen mindestens ein Jahr voraus, was diese auch ganz gut wüßten. 21. Oktober. Se. Majestät ist heute in gutem Befinden hier eingetroffen und nimmt Vorträge entgegen. 28. Oktober. Diner bei Sr. Majestät, wozu alle Minister und Graf Herbert geladen waren. Er war guter Dinge und „meldete sich“ bei seinen Ministern zurück, er sei am längsten weg gewesen und fragte jeden nach seinen Urlaubstouren. „Sie waren im Norden, das ist jetzt sehr Mode geworden, seitdem meine Enkelin (Kronprinzeß von Schweden) dort ist?“, sagte er mir. Prinz Heinrich berichtete, er sei bei seinem Bruder Wilhelm gewesen und habe ihn am Tisch sitzend und zeichnend gefunden. Man habe einen Stich ins Trommelfell gemacht, was Erleichterung gegeben habe. In Blankenburg hat Prinz Heinrich den Kaiserstand gehabt und entsprechend viel geschossen. Der Kaiser erkundigte sich auch nach der gestern eröffneten Gradmessungskonferenz und, ob er mit den Herren Französisch reden müsse, was ihm mit dem Alter weniger leicht zu werden scheint. Rechts von Sr. Majestät saß Prinz Heinrich und Maybach, links Puttkamer, gegenüber Perponcher, rechts Graf Goltz, links ich; außer den Adjutanten waren sonst keine Militärs anwesend. 31. Oktober. Sonntag. Auf der gestrigen Jagd in der Schorfheide waren der Kaiser, der König und Prinz Georg von Sachsen, die Prinzen Heinrich und Albrecht. Se. Majestät sehr munter und gesprächig, ich saß bei Tisch ihm gegenüber, neben dem Fürsten Pleß. Wetter prachtvoll, sonnig, Boden leicht 321

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gefroren. Für Se. Majestät war ein besonderes Treiben nahe dem Jagdschloß eingerichtet, und er schoß einige zwanzig Hirsche ganz glatt. Es ist merkwürdig, wie sicher er noch schießt und wie viel Vergnügen es ihm macht. Es war von der österreichischen Kronprinzeß die Rede, welche anfängt, stark zu werden, und kein Kind mehr zu bekommen scheint. Es ist bisher nur eine Prinzeß vorhanden. Über das Ohrenleiden des Prinzen Wilhelm ist man sehr unglücklich, obschon behauptet wird, er höre jetzt auf dem bisher tauben Ohr besser wie je. Das wird leider ausgewogen durch den Nachteil, daß das bisher gesunde Ohr nun leidend ist und das Trommelfell durchbohrt. Kriegsminister Bronsart, mit welchem ich zur Jagd fuhr, meinte, wir seien den Franzosen mit dem Infanteriegewehr um drei Jahre voraus und auch in der Artillerie überlegen durch unsere neuen Granat- und Schrapnell­ munitionen. Auch unsere Haubitzbatterien, welche die kleinen Sperrforts in vierundzwanzig Stunden völlig in Trümmer schießen würden, seien überlegen. Für uns sei somit ein baldiger Krieg vorteilhaft. Der künftige Militäretat, welcher 1887 in Kraft treten soll, enthält 30 Millionen Mehrforderungen. Man ist auf der Suche nach einem neuen Reichsschatzsekretär; der Unterstaatssekretär Jacoby scheint der wahrscheinlichste Kandidat, nachdem der Gesandte von Marschall und Unterstaatssekretär Herrfurth abgelehnt haben. 7. November. Gestern Jagd in Springe, welcher leider Se. Majestät wegen leichter Heiserkeit auf dringendes Abraten der Ärzte nicht beiwohnte. Das nimmt der Sache stets den Hauptreiz, so schön sonst auch die Jagd verlief. Die Bahnhöfe in Stendal und Hannover, wo der Extrazug kurz hielt, waren voll Menschen, die den Prinzen Heinrich mit Hurra begrüßten. 14. November. Sonntag. Gestern Jagd in Letzlingen. Se. Majestät erschien erst am Abend des zweiten Tages zum Diner aufgeräumt und munter. Der Kronprinz machte die Honneurs für den Großfürsten Wladimir und den Prinzen Ludwig von Bayern. Letzterer, der präsumtive Thronfolger, ist zum ersten Male hier. Duzt sich mit dem Kronprinzen und stellt sich offenbar sehr freundlich. Ein rotblonder, untersetzter, starker Herr, 1845 geboren, klug und bescheiden auftretend, verbindlich gegen jedermann. Se. Majestät verkehrte mit beiden Prinzen herzlich und diese erwiderten das mit großer Aufmerksamkeit; das Wetter war während beider Jagdtage günstig, während es nachts gestürmt hatte. 15. November. In der gestrigen zweistündigen Staatsministerialsitzung äußerte Bismarck sich nur beifällig über den Stand der Verhandlungen mit Rom und über eine vom Papst an Bischof Thiel gehaltene Ansprache, welche er nach eingeholter Genehmigung publizieren wolle. Thiel habe ihm den Eindruck eines geriebenen Mannes gemacht. Betreffs der auswärtigen 322

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Politik meinte er, seine Bemühungen seien auf die Erhaltung friedlicher Beziehungen überall gerichtet und auch von Erfolg gewesen. So auch sei die Spannung zwischen England und Frankreich beigelegt. Ein Krieg zwischen beiden sei sehr unbequem, denn man werde England schließlich nicht völlig unterliegen lassen dürfen, sondern müsse ihm zu Hilfe kommen. In Rußland mache Alexander III. eine ganz persönliche Politik, ohne dem Minister Giers auch nur Mitteilungen darüber zu machen. Das Auftreten von General Kaulbars dränge Bulgarien in die Gegnerschaft zu Rußland. Uns könne es gleichgültig sein, wer in Sofia und selbst in Konstantinopel regiere. Rußland werde im Besitz von Konstantinopel uns gegenüber schwächer dastehen, wie es jetzt sei. Andrassy habe jetzt Kalnoky beseitigen wollen, es sei aber nicht geglückt. Von dem phantastischen ungarischen Parlament könne man keine vernünftige auswärtige Politik erwarten. Sie richteten alles nach den bevorstehenden Wahlen ein. Er klagte dann über seine Gesundheit und über das Überlaufensein von Prinzen und Bischöfen u. s. w. und will gleich weiter nach Friedrichsruh. Allein er war im Ganzen doch frisch und gesprächig. Die Franzosen (Botschafter Herbette) haben ihm die von russischen Interlopers gemachten Allianzvorschläge mitgeteilt, freilich kamen diese Vorschläge durch Persönlichkeiten, welche leicht desavouiert werden können. Betreffs der Durchführung des Unfallsgesetzes protestierte er gegen jede Belastung der Amtsvorsteher, sonst läßt er der Sache freien Lauf und bekümmert sich nicht um Details. Das Vorgehen Rauchhaupts gegen den Antrag Kleist-Hammerstein lobte er. Die Basis der evangelischen Kirche sei die Gemeinde, die der katholischen das Priestertum. Die protestantische Kirche könne ohne Priester, die katholische ohne Gemeinde bestehen. Der Versuch, in der protestantischen Kirche eine Priesterherrschaft zu etablieren, sei ganz verfehlt, auch die Beseitigung des landesherrlichen Kirchenregiments zu Gunsten herrschsüchtiger Priester könne man sich nicht gefallen lassen. Er wurde sehr lebhaft in seinen Ausführungen, welche er vermutlich nächstens öffentlich macht. 16. November. Bismarck ist nach Friedrichsruh abgereist, nachdem er noch mit allen möglichen Leuten konferiert hat. Inzwischen hat Graf Kalnoky in den ungarischen Delegationen Reden über auswärtige Politik gehalten, welche den Ausführungen Bismarcks völlig entsprechen. Er betont die Aufrechterhaltung des Berliner Friedens, Selbständigkeit Bulgariens und den Entschluß, zu Gunsten Rußlands keinerlei Abmachungen zuzulassen. Das Einverständnis mit England wird stark betont, was einer Zurückweisung Rußlands gleichkommt und dort als solche stark empfunden werden wird. 323

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Klar wird daraus, daß es Bismarck gelungen ist, England in den Vordergrund zu bringen und stark gegen Rußland engagiert zu haben. Dabei behält er die Hände gegen Rußland und Frankreich als Friedensstifter völlig frei. 23. November. General Kaulbars ist von Sofia abgereist und hat den Schutz seiner Landsleute dem französischen, nicht dem deutschen Generalkonsul übergeben. Es scheint, daß der deutsche nur den Schutz der Russen, nicht aber den der Tscherkessen, Albanier und russophilen Bulgaren übernehmen wollte. Ein bezeichnendes Symptom! 28. November. Sonntag. Gestern zur Hofjagd in der Göhrde, welche Prinz Wilhelm abhielt. Sonst anwesend: die Prinzen Heinrich, Albrecht, Herzog Max Emanuel in Bayern. Es war sehr animiert und jeder amüsierte sich. Prinz Wilhelm sprach viel von seiner naturwissenschaftlichen Lektüre während seiner Krankheit und bewies wieder seine große geistige Regsamkeit und Fähigkeit, Dinge richtig aufzufassen. Er sprach viel von Winchells Schöpfungsgeschichte, ein Amerikaner und Schwager des Dentisten Sylvester. Graf Waldersee, mit dem ich meist fuhr, äußerte sich kriegerisch über die Lage und sonst im Sinne wie neulich der Kriegsminister Bronsart über unsere Kriegsbereitschaft. Die Franzosen seien fest überzeugt, daß wir Krieg mit ihnen nicht anfangen, sondern ihnen die Wahl des Zeitpunkts dazu überlassen würden. Er habe Bismarck vor Kurzem ein Promemoria über die Verfassung unserer Armee überreicht, was Bismarck offenbar willkommen gewesen sei. Als er vor zwei Jahren mit dem Prinzen Wilhelm in Petersburg gewesen sei, habe dieser die Mission gehabt, bezüglich des Bulgaren (Alexander von Battenberg) die völlige Indifferenz Deutschlands zu versichern. Das sei dem Kaiser sehr angenehm gewesen, welcher den Prinzen Wilhelm überhaupt sehr gern habe. In der Petersburger Gesellschaft gehe die nihilistische Gesinnung bis in die höchsten Hof- und Beamtenkreise. Am Tisch des Kaisers haben sich Wannowski und Obrutscheff über die Entbehrlichkeit der Dynas­tien und des Kaisertums für Rußland unterhalten. Der Boden dafür liege im gemeinen Russen und in der großen Masse. Die Leistungen der russischen Armee sind nach Meinung Waldersees und Caprivis nicht zu unterschätzen. Die Truppen sind folgsam und sehr genügsam, marschieren vorzüglich, stehen fest und schießen, solange sie Munition haben. Beim nahen Feuergefecht würde doch nach wie vor ohne Zielen geschossen, und da seien Truppen, welche festständen, gleichwertig. Die österreichische Armee sei auch so schlecht nicht, den Russen wohl ebenbürtig, wenn sie nur den richtigen Führer hätten. Wahrscheinlich 324

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werde Erzherzog Albrecht das Ganze kommandieren, der sei aber fast blind, und es sei nicht dasselbe, durch andere Augen zu sehen. Nach alledem wäre für uns das nächste Jahr keine schlechte Zeit zum Losschlagen. Der Reichstag ist beschlußfähig und hat das alte Präsidium wiedergewählt. Die Thronrede hat einen über Erwarten friedlichen Eindruck gemacht. 5. Dezember. Sonntag. Gestern bei schönem, aber kühlem Wetter Jagd im Grunewald, die letzte der Saison. Se. Majestät war fortgeblieben, um sich für die bevorstehenden anstrengenden Tage des Besuchs des Prinzregenten von Bayern zu schonen. Anwesend der Großherzog von Weimar und der Herzog von Altenburg. Der Kronprinz repräsentierte ‒ wie meist ‒ unlustig und sein Mißfallen an dieser Art Jagd und der lärmenden Tischunterhaltung aussprechend. Bezüglich der Besetzung einiger Pfarrstellen in Öls bemerkte er, er wolle sich noch erkundigen, ob die Kandidaten nicht zu extrem seien. Er sprach das sehr mild, aber entschieden aus. Gleichzeitig wurde im Reichstag die zweitägige Beratung über die Militärvorlage zu Ende geführt. Moltke hat sehr wirksam mit taciteischer Kürze gesprochen; Bronsart geistvoll und übersprudelnd. Die Vorlage geht wahrscheinlich ‒ nach Bronsarts Ansicht ‒ ohne Anstand und ohne erhebliche Änderungen durch. Bismarck hat sich ferngehalten, was in diesem Falle nicht schädlich. 8. Dezember. Seit gestern ist der Prinzregent von Bayern hier. Heute Galadiner bei den Majestäten, abends Soiree beim Kronprinzen. Morgen Soiree bei den Majestäten. Er ist mit allen königlichen Ehren empfangen worden, in seiner Begleitung Minister von Crailsheim, Obersthofmeister von Malsen und drei Adjutanten. 13. Dezember. In Friedrichsruh zur Besprechung über das Ansiedlungsgesetz. Bismarck empfing mich vor der Tür. Beim Frühstück brach er in Vorwürfe aus über die Reichstagsschwindler und über die Minister, welche sie ernst nähmen und vertraulicher Mitteilungen würdigten. Es wäre ja recht gut, wenn sie die Militärvorlage ablehnten und so Grund zur Auflösung gäben. Gefahr eines Krieges mit Rußland sei jetzt weniger wie je, wir seien völlig einig mit Bezug auf Bulgarien. Die Österreicher machten törichte Politik und er stehe zwischen ihnen und den Russen wie zwischen zwei bissigen Hunden, welche aufeinanderstürzen würden, wenn er das Halsband loslasse. Wenn wir einen Krieg mit Frankreich bekämen, würde das sicher geschehen. Auch würden die Russen schwerlich dulden, daß wir die Franzosen völlig vernichteten. Er sei des Kaisers ganz sicher, freilich seien da Zufälle möglich. Der Battenberger habe sich dem Zaren gegenüber so falsch und treulos 325

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wie möglich benommen, wie ein echter Pole. Wenn der als Schwiegersohn des Kronprinzen einmal Statthalter von Elsaß-Lothringen werden würde ‒ werde er Deutschland auch verraten und abfallen wie ein echter Rheinbundfürst. Er sei ja brillant, ein schöner Mann, aber ganz unzuverlässig. ‒ Caprivi müsse in eine gewichtigere Stellung in der Landarmee kommen. Waldersee sei ein feiner, gescheiter Mann, aber Sanguiniker im Schwarz- wie im Rotsehen! Wenn Caprivi neben Albedyll nicht als Kriegsminister oder als Stabschef dienen wolle, so müßte Albedyll weichen. „Wenn man das ernst versuche, werde es schon gehen“ ‒ auf den Einwand, daß Se. Majestät sich schwerlich von Albedyll trennen werde. Über den Kronprinzen redend, fing er mit Rücksicht auf den Kutscher (wir fuhren stundenlang im Forst) an, Englisch zu reden: „Er würde mich mit seiner Empfindlichkeit, seinen Prätensionen, unmotivierten Wünschen und Mißtrauen aller Art in kürzester Zeit totmachen. Der alte Herr dagegen hält fest an dem einmal gegebenen Wort und vertrete seine Minister auch dann, wenn sie einen falschen Rat gegeben hätten, der Übel ausschlüge.“ Er wurde sehr lebhaft bei diesen Äußerungen, bei Tisch dagegen wurde die Unterhaltung mehr allgemein und indifferent, da noch andere Gäste anwesend waren, darunter ein sehr liebenswürdiges Ehepaar, von Merck, nahe Nachbarn. Er fragte mich einmal plötzlich, wo wir uns zuerst begegnet seien? Ich sagte: Am Abend der Schlacht bei Königgrätz, dann im Reichstag 1871 bei Gelegenheit meiner Interpellation über die Postpaketsendungen an die in Frankreich stehenden Truppen. „Den Leiden der Landwirtschaft sei nicht abzuhelfen durch die Silberwährung. Es sei verkehrt, daß Mirbach und Kardorff diese heftige und unnütze Agitation machten. Weder andere Eisenbahntarife, noch höhere Zölle würden viel daran ändern.“

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1887 1. Januar. Klarer, schöner Wintertag, um 1 ½ Uhr Gratulation bei Sr. Majestät, welcher zugleich sein achtzigjähriges Militärjubiläum feiert. Er empfing uns in gewohnter Huld und Freundlichkeit in großer Uniform mit Band und Schärpe. Vor uns hatte er die Generale empfangen und ihnen eine längere Ansprache gehalten. Er dankte für die treue Unterstützung, welche wir ihm alle gewährten. Er wisse, daß das nicht leicht sei, wir bereiteten die Dinge so vor, daß sie ihm wie die gebratenen Tauben in den Mund flögen. Auch die beiden Kabinette erleichterten die Geschäfte sehr. Es sehe jetzt etwas ruhiger in der Welt aus, der Zar sei über die bulgarischen Verhältnisse jetzt beruhigter, warum das eigentlich, wisse er nicht. Wahrscheinlich der Effekt des Besuchs des Prinzen Wilhelm! Den General Kaulbars habe der Zar zwar zuerst freundlich empfangen, dann aber weder befördert noch dekoriert. Bei der ersten Parade habe sich alles um Kaulbars gedrängt, bei der nächsten habe man ihn gemieden. Es sei gut, daß der Zar so gehandelt habe. Der Tag versetze ihn lebhaft achtzig Jahre zurück, wo ihn der König in Königsberg mit der Offiziersuniform eingekleidet habe, drei Monate vor dem gewöhnlichen Termin. Er habe ihm gesagt, es werde ihm eine ernste Erinnerung für das Leben sein, unter welchen trüben Verhältnissen er die Epauletten empfing. Ihm selbst habe diese frühe Einkleidung sehr genützt, denn er sei auf diese Weise immer etwas früher und schneller avanciert wie sonst. So sei er später in einem Jahr vom Major zum General und Brigadekommandeur befördert worden. Der König (so nannte er immer seinen Vater) sei stets so gnädig und vertrauensvoll für ihn gewesen. ‒ Ob er das neue Jahr noch vollenden werde, stehe bei Gott, er habe schon bei seinem fünfzigjährigen Militärjubiläum geglaubt, sein Ziel erreicht zu haben, und nun begehe er das achtzigjährige. Er dankte wiederholt und reichte jedem herzlich die Hand. Wir waren alle bewegt über diese schlichte Herzlichkeit des Empfangs und seine große geistige Frische. Man möchte immer ein Stenogramm solcher zwanglosen und doch so schönen, würdigen Aussprachen haben. Es ist alles bei ihm Natur, Einfachheit, Wohlwollen ‒ alles echt und gar keine Pose. Jeder Zoll ein Monarch und ein edler Mensch! 327

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Anwesend waren alle kommandierenden Generale, auch Prinz Georg von Sachsen und Prinz Albrecht, nach der Nummer der Korps aufgestellt; der Kronprinz führte und sprach. 3. Januar. Lange Staatsministerialsitzung wegen der dem Landtag zu machenden kirchenpolitischen Vorlagen. Goßler leitete die Verhandlung im Beisein des Unterstaatssekretärs Lucanus mit einem langen historischen Vortrag ein, welcher bestätigte, daß eben nicht mehr viel zu revidieren übrig ist. 1. Zulassung der beschaulichen Orden und der seelsorgerischen (exklu­ sive Jesuiten) und Schulorden. Dagegen stimmten Maybach, Friedberg, Goßler und ich. Dafür Puttkamer, Bronsart, Bötticher, Scholz. 2. Einrichtung von Klerikalseminarien ‒ also ein Hinausgehen über die Bulle de salute animarum von 1821. Dagegen die Früheren und Puttkamer. 3. Freigabe des Spendens der Sakramente für Ausländer ‒ stimmten alle gegen. Rottenburg plädierte sehr sachlich und höflich für die Proposition des Ministerpräsidenten, welcher die Zufriedenheit der katholischen Untertanen erstrebe, ohne Gegenleistungen von Rom. Der Fürst tut zwar in diesen Fragen schließlich doch, was er will, es wird ihm aber doch einigermaßen zu denken geben, daß seine Kollegen in ihrer Konnivenz eine Grenze finden. In seinen Instruktionen an Schlözer hat er eigentlich schon alles preisgegeben, und da dieser für seine Person immer noch einen Schritt weitergeht, so wird von römischen Gegenkonzessionen nicht die Rede sein. Ganz naiv vertrauensselig auf die Loyalität des Zentrums war Bronsart. Putt­kamer gab wenigstens zu, daß den strengen Protestanten die Zulassung der beschaulichen Orden zuwider wäre. 4. Januar. Zum Tee bei den Majestäten. Von den kirchen-politischen Verhandlungen des Staatsministeriums scheint noch nichts transpiriert, wohl aber sagt ein Artikel der Post „Zum Wiederbeginn der parlamentarischen Verhandlungen“: Das Zentrum werde bessere Geschäfte mit der Regierung machen und weitgehende Berücksichtigung erlangen, wenn es sich als staatstreue Partei bei den Verhandlungen über die Militärvorlage erweise. Die Germania zitiert den Artikel als bemerkenswert und als Versuch, durch Schweigen zu erreichen, was durch den „Entrüstungsschwindel“ nicht zu erzielen sei. Sehr hellhörig! Über Bismarcks Ankunft noch nichts bekannt. Das Protokoll über die letzte Sitzung ist sehr ausführlich und stellt das jedenfalls klar, daß es lediglich Bismarcks eigenster Wille ist, wenn so weit328

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gehende Konzessionen an die Kurie gemacht werden. Es kann auch wieder die Zeit kommen, „wo er nicht hat so weit gehen wollen wie die lieben Kollegen“. Beim Tee wurde Puttkamer gratuliert zur Verlobung seiner Tochter mit dem sehr musikalischen Leutnant von Chelius, Katholik, Wagnerschwärmer. Beide Majestäten sehr affabel, er etwas geniert durch Hexenschuß, aber doch beweglich und herzlich wie gewöhnlich. Konversation bewegte sich um die Berliner Feste und Geselligkeit. Die Kaiserin freute sich, zu hören, daß es Leute gebe, welchen die Mikadomusik besser gefiele wie Wagner. 9. Januar. Sonntag. 3 Uhr Staatsministerialsitzung bei Bismarck, der erst um 1 Uhr von Friedrichsruh angekommen war. Sehr frisch erzählte er, er habe uns so spät gebeten, weil er vorher eine wichtige und auch erfolgreiche Unterredung mit dem Grafen Peter Schuwaloff gehabt habe. Dieser sei wieder zu einer einflußreichen Stellung berufen, was uns willkommen sei. (Wahrscheinlich der Ausgangspunkt zum Abschluß des geheimen „Rückversicherungsvertrags mit Rußland“ ‒ neben dem Dreibund.) Dann gab er ein längeres, etwas künstliches Exposé, welches darauf hinauskam, daß jede Fixierung der Präsenzziffer die kaiserlichen Rechte beeinträchtige. So sei schon das zufällig durch Kompromiß vereinbarte Septennat eine Beschränkung der kaiserlichen Dispositionsfreiheit gewesen. Wenn nichts fixiert werde, trete die kaiserliche Befugnis der Selbstbestimmung in Wirksamkeit. Er zitierte Rönne und die betreffenden Verfassungsartikel, um sich selbst klar zu werden ‒ wie er sagte ‒ über die Lage im Fall des Scheiterns der Vorlage und über die Meinung der Kollegen. ‒ Diese äußerten allerlei Bedenken, denn bisher habe als Axiom gegolten, daß eine Fixierung auf längere Zeit der Stabilität der Heeresverhältnisse förderlich sei. Bismarck erklärte wiederholt, er wolle diese Deduktion im Reichstag nicht machen, um ein Kompromiß anzubahnen, sondern um zu beweisen, daß die Regierung ein Minus fordere und die Folgen des Scheiterns auf den Reichstag fielen. Es sei eigentlich eine Frage, für welche neu gewählt werden müsse, und das wolle er nach der zweiten Lesung mit Beschleunigung herbeifahren durch Auflösung. Er wünsche gar nicht, daß das Zentrum schwanke und für das Septennat stimme. Er verlas dann einen schlözerschen Bericht vom 4. Januar, welchem die Abschrift eines galimbertischen Erlasses vom 3. Januar beilag. Letzterer, an den Nuntius in München gerichtet, zitiert windthorstsche dahin gerichtete Vorstellungen aus der neuesten Zeit, worin er sich erbietet, die Verhandlungen im Reichstag über die Militärvorlage so lange hinauszuziehen, bis die preußische Regierung im Landtag durch eine Vorlage bewiesen habe, 329

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ob es ihr mit der weiteren Revision der Maigesetze ernst sei. Bismarck hat darauf in Rom vorstellen lassen, der Papst solle sich doch nicht das Verdienst des Friedenswerkes aus der Hand nehmen und Windthorst die Glorie lassen. Es sähe fast aus, als wolle man mit Windthorst um die Militärvorlage schachern, während er (Bismarck) freiwillig alles geben wolle, was für den kirchlichen Frieden erforderlich sei. Darauf hat der Papst prompt reagiert und in dem galimbertischen Erlaß das Ersuchen an den Nuntius ausdrücklich ausgesprochen, er solle darauf hinwirken, daß das Zentrum für das Septennat stimme. Bismarck ließ durchblicken, daß bei diesen guten Erfolgen in Rom der Welfenfonds nicht unbeteiligt sei. Er tat das mit einem Anschein von Unruhe, daß diese Mitteilung sehr diskret behandelt werde. Über die U n t e r h a l t u n g m i t P e t e r S c h u w a l o f f d e u t e t e e r nur wiederholt an, daß diese sehr ergebnisreich gewesen s e i . Sein ganzes Bemühen ginge dahin, den russischen Elefanten so zu leiten, daß er kein Unheil bei seinen täppischen Bewegungen anrichte. Er suche Rußland und Österreich auf friedlichem Fuß zu halten, was bei den Popularitätssüchtigen, parlamentarisch verrückten Ungarn schwierig sei. Er habe dem Kaiser von Österreich wiederholt auseinandergesetzt, ob nicht ein Rußland mit einem Fuß in Sofia oder in Konstantinopel schwächer sei als ein solches mit der Direktion auf Krakau. Es müßte denn sein, daß Österreich selbst Konstantinopel wolle. Das habe auch der Kaiser von Österreich militärisch begriffen und zugegeben. Es war eine höchst interessante Sitzung! Allerdings ein Gemisch von großartig konsequent festgehaltenen Gesichtspunkten in der auswärtigen Politik und von sehr künstlichen Kombinationen in der parlamentarischen Taktik. Ob er in letzter Beziehung seine letzten Gedanken ausgesprochen hat, bleibt freilich zweifelhaft. Das Septennat geht wahrscheinlich durch! Morgen soll zur Festsetzung der Thronrede wieder Sitzung sein. Bismarck sah gut aus und sprach so schnell und lebendig wie lange nicht mehr. 14. Januar. Nach dreitägiger Diskussion, in welcher der Kanzler täglich mehrfach sprach ‒ am 11. eine großartige zweistündige Rede ‒, ist gestern die Diskussion geschlossen worden und heute 1 Uhr findet Abstimmung und vielleicht demnächst die Auflösung statt. Bismarck war gestern geneigt, die Auflösung selbst vor der Abstimmung auszusprechen, besann sich aber eines Besseren. Der Kaiser soll betrübt und beunruhigt sein über den Gang der Verhandlungen, aber entschlossen zur Auflösung im Falle der Ablehnung. Gestern war Bismarck bei ihm und hat die Order wohl unterschreiben lassen. 330

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Bismarck hat sich wiederholt über die bulgarische Frage scharf ausgesprochen und betont, er werde sich kein Leitseil in der Orientfrage von irgendeiner Macht um den Hals legen lassen. Nachdem das Septennat mit 186 gegen 154 Stimmen abgelehnt war, publizierte Bismarck die Auflösungsorder zugleich mit dem Schluß der Session ‒ also unmittelbar, nachdem der Präsident das Resultat der Abstimmung erklärt hatte. Der Antrag Stauffenberg, welcher das Triennat bewilligte, war mit der gleichen Stimmenzahl angenommen worden. Ein anderer großer Satz war: Er werde nicht einen Krieg mit Frankreich anfangen deswegen, weil er doch unvermeidlich sei. Die Vorsehung lasse sich nicht in die Karten sehen. Freilich könne man darum doch ebenso gut in zehn Tagen wie erst nach zehn Jahren in einen Krieg mit Frankreich verwickelt werden. Frankreich sei sicher vor Angriffen unsererseits, aber es werde uns angreifen, sobald es sich stark genug dazu glaube oder durch innere Schwierigkeiten dazu gezwungen werde. Jedenfalls ist die Militärfrage die beste Auflösungsfrage, an welche sich eventuell eine Revision des Wahlsystems und der Verfassung anknüpfen läßt. 30. Januar. Gestern dem Prinzen Wilhelm der vierte Sohn geboren! Beim Salutschießen hat vor dem Palais des Kaisers eine ganz spontane, großartige Volksovation stattgefunden. In anderthalb Stunden ist alles erledigt gewesen, wie der Prinz freudestrahlend dem Fürsten mitteilte. Nachmittags Sitzung beim Fürsten. Er erzählte von einer langen, am Tage vorher mit Herbette gehabten Konversation, worin ihn dieser über Boulangers Stellung und Einfluß zu beruhigen versucht hat. Bismarck habe ihm erst Relief gegeben, indem er ihn erwähnte u. s. w. Bismarck erwiderte: Boulanger c’est la guerre. Einmal an der Spitze, kann er gar nicht anders, die Verhältnisse würden sich stärker erweisen als sein Wille, wenn er den überhaupt hätte, Frieden zu halten. Bismarck hat offenbar Herbette stark eingeheizt, und man hat den Eindruck, als ob sich die Sachen jetzt wieder friedlicher gestalteten. Freilich sprach Bismarck im selben Atem von der Möglichkeit des Ausbruchs des Krieges in den nächsten Wochen. Eine kaiserliche Proklamation will er vor den nächsten Wahlen nicht erlassen, das müsse man reservieren für eine etwaige zweite Auflösung. Dagegen soll in nächster Woche beim Landtag ein Kreditgesetz eingebracht werden, welches die Aufnahme einer Anleihe von 300 Millionen zur Bestreitung des ersten Kriegsbedürfnisses bereitstellen soll. Eine Maßregel, welche wie ein Donnerschlag wirken wird. Daß Bismarck diese einschneidende Maßregel nur als Wahlmanöver anwenden sollte, scheint kaum 331

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glaublich. Das bedeutet Krieg! Man wird wenigstens den ersten Schritt dazu hierin sehen. Beim Diner beim türkischen Botschafter saß ich neben Herbette, mit dem ich mich gut unterhielt. Er habe Bismarck gestern lange gesprochen, über eine Stunde. „Er spräche vortrefflich Französisch und wähle stets das passendste Wort. Er habe eine insinuante, karessierende Art ‒ ganz das Gegenteil von dem, was man sich gewöhnlich von ihm vorstelle.“ Dann erkundigte er sich über unsere Forstwirtschaft, Dankelmanns Vase4 etc., Lesseps sei sein intimer Freund, der habe als Achtziger noch Kinder erzeugt.“ Bismarck ist sehr ungehalten über Kleist-Retzow ‒ welcher zu töricht sei. Goßler solle ihn gar nicht mehr empfangen, sondern durch einen Diener die Treppe herunterwerfen lassen u. s. w. Das seien Friedensstörer, welche wieder Unfrieden unter die Majoritätsparteien brächten. Die neue kirchenpolitische Vorlage soll erst nach den Wahlen bekannt werden, da sie die Nationalliberalen verstimmen könne. Das ist eine sehr richtige Einsicht! Noch richtiger aber wäre es, diese Konzessionen gar nicht erst zu machen. Bismarck redete wieder viel über den friedliebenden Papst, mit welchem man sich verständigen müsse. Bis jetzt sind freilich seine Einwirkungen auf das Zentrum nicht bemerklich, auch wenn sie, wie ich annehme, ernstlich gemeint waren. Bismarck scheint angesichts des drohenden äußeren Konflikts à tout prix Frieden im Innern machen zu wollen. Anders ist es kaum zu deuten und zu erklären. Puttkamer klagte über den Terrorismus, welchen Kaplan Franz in Schlesien übe, wo von Nachgiebigkeit keine Spur zu bemerken sei. Im Gegenteil, die Zentrumsleute (die Grafen Nayhauß, Strachwitz, Henckel), welche dem Septennat günstig gestimmt seien, würden durch Intransigenten beseitigt. Majunke werde wieder kommandieren u. s. w. 4. Februar. Die Kriegsbesorgnisse wachsen! In Paris und gestern auf hiesiger Börse große Deroute infolge des Gerüchts, Preußen bringe eine Kriegsanleihe von 300 Millionen ein. Die Gerüchte sollen aus der Wilhelmstraße stammen. Das Anleihegesetz ist vom Ministerium, aber noch nicht von Sr. Majestät vollzogen. Auf dem Hofball wurde erzählt, in Paris kolportiere man: das französische Ministerium betrachte den Krieg als schon deklariert. Preußen wolle den Krieg, also möge es ihn haben. Diese Meinung, Bismarck wolle den Krieg, faßt auch hier immer mehr Boden ‒ ich glaube das nicht. 4

Dem Akademiedirektor Dankelmann war von der französischen Regierung eine prachtvolle Sevresvase dediziert worden, welche zerbrochen ankam und sofort ersetzt wurde.

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Vom Prinzen Wilhelm erging am 31. Januar 1887 folgendes Dankschreiben an das Staatsministerium: „Die mir vom Staatsministerium aus Anlaß der Geburt meines jüngsten Sohnes dargebrachten freundlichen Glückwünsche haben mich aufrichtig erfreut. Mit dem Ausdruck der herzlichsten Dankbarkeit für die mir von den Räten der Krone erwiesene Teilnahme an meinem Vaterglück verbinde ich die Versicherung, daß die Prinzessin, meine Gemahlin, und ich in der Erziehung unserer Söhne zu treuen Dienern des Königs und des Vaterlandes eine ernste und erfreuliche Aufgabe sehen.“ Die vom Breslauer Kapitel aufgestellte Liste enthielt nur unannehmbare Namen! Das ist die Antwort auf das feierliche Entgegenkommen der Regierung, und wir erleben schließlich, daß nicht Kopp oder Kayser, sondern eine Kreatur von Franz Fürstbischof von Breslau wird! 6. Februar. Nachdem am 3. eine große Börsenpanik in Paris und hier gewesen und infolge des Gerüchts über unsere Dreihundertmillionenanleihe die Papiere erheblich gefallen waren, ist jetzt wieder eine ruhige Stimmung und Steigen der Kurse eingetreten. Der betreffende Gesetzentwurf ist auch noch gar nicht an den Landtag gelangt, sondern es ist heftig dementiert worden, daß man mit einer solchen Absicht umgehe ‒ in der Kölner Zeitung. Die Alarmnachricht hat vielleicht den beabsichtigten ernüchternden Effekt bei den Franzosen getan. Es sieht demnach auch wieder friedlicher aus. Für ein Wahlmanöver wäre das Mittel zu stark und wahrscheinlich hat der Fürst Grund zu ernsten Kriegsbesorgnissen gehabt, wie es ja auch bei der Unberechenbarkeit der französischen Volksstimmung höchst begründet sein kann. Bismarck hat in seinen Parlamentsreden wiederholt betont, daß ihn der Ausbruch des Krieges 1870 völlig überrascht hat und daß er wenige Wochen vorher nicht daran dachte. Ganz ähnlich liegen die Dinge unter Boulangers Einfluß jetzt vielleicht wieder. Inzwischen schreiten die Etatsberatungen im Abgeordnetenhause schnell voran. Über die Wahlaussichten läßt sich natürlich Sicheres nicht voraussagen. Die päpstliche Note an das Zentrum in der Septennatsfrage ist jetzt publiziert worden, sie macht zwar einigen Eindruck, wird aber die Führerschaft nicht erheblich alterieren, da diese sie schon früher gekannt hat. 7. Februar. Eine interessante Staatsministerialsitzung in Abwesenheit Bismarcks. Es erschien der Unterstaatssekretär Graf Berchem und stellte die Forderung, eine bereits vollzogene Sekundärbahnvorlage zurückzuziehen und darin die aus militärischen Gründen erforderliche Erweiterung der 333

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Dirschauer Brücke aufzunehmen. Letzterer Bau hat bisher einen Teil der für den Reichstag bestimmten Vorlage gebildet, in welcher sich die zum Schutz des Westens und Ostens bestimmten Anlagen vereinigt befinden. Diese Forderung wurde motiviert mit dem Ernst der Lage und betont, daß die Empfindlichkeit Rußlands natürlich zu schonen sei. Maybach stellte die Unmöglichkeit der Verbindung dieser heterogenen Projekte dar und bewies, daß sie weder etatsmäßig noch eisenbahntechnisch vereinbar sei. Auch werde diese Maßregel durch den Versuch einer solchen Vereinigung erst recht auffällig und offensiv werden. Er schloß mit der Erklärung, er könne eine solche Vorlage nicht machen und vertreten, sei aber bereit, seinen Platz jeden Tag einem anderen zu räumen. Sämtliche Minister stimmten ihm zu und Bötticher übernahm es, dem Kanzler sofortigen Vortrag zu erstatten, da Berchem das nicht übernehmen wollte. Bötticher kam nach einer halben Stunde mit dem Bescheid zurück, die Sekundärbahnvorlage möge ihren Weg allein gehen, der Kanzler halte die Erweiterungsbauten an der Dirschauer Brücke überhaupt nicht für nötig noch dringlich. Für den Kriegsminister, welcher die Frage mit großem Eifer betrieben hatte, wirkte es höchst abkühlend. Unklar bleibt, warum Berchem die Sache so urgiert hatte. Dann referierte Scholz: Der Kanzler habe ihn am 3. rufen lassen und mitgeteilt, er habe in einer schlaflosen Nacht Bedenken bekommen gegen Einbringung der Dreihundertmillionenkreditvorlage. Ob es nicht mehr schaden wie nützen werde, ob man sich nicht begnügen könne, die Sache transpirieren zu lassen und den Effekt abzuwarten? Scholz riet auch d a v o n ab, inzwischen aber hatte Bismarck schon am Abend vorher die Sache mit Bleichröder besprochen und sie so publik gemacht. Während der Unterredung mit Scholz war schon die Börse in voller Deroute! Wir waren über den Entschluß, nicht weiter in der Richtung vorzugehen, alle einverstanden, da die Erregung und Unruhe im Lande bereits sehr groß waren. Die Bedenken waren schon allseitig bei dem ersten Verlautbaren des Projekts betont worden und man meinte, Scholz habe sie erst aufgebracht oder wenigstens sei zu bereitwillig darauf eingegangen, anstatt ihr von Haus aus zu widersprechen. Puttkamer brachte zur Sprache, ob nicht vor den Reichstagswahlen eine Kundgebung der Bischöfe zu bewirken sei im Sinne des päpstlichen Schreibens und ob nicht der Inhalt der Kirchengesetzvorlage bekannt zu geben sei. Von Goßler referierte mit gewohnter Gründlichkeit über den bisherigen Gang der Sache, woraus hervorging, daß Bismarck den Inhalt der Vorlage unmittelbar nach der betreffenden Staatsministerialsitzung nach Rom mitgeteilt hat. Von Goßler hatte das aus Mitteilungen des Moniteur de Rome 334

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bereits vor der letzten Staatsministerialsitzung geschlossen und Bismarck gegenüber in verständlicher Weise durchblicken lassen. Inzwischen scheint sich aber der Wind wieder gedreht zu haben. Bismarck wünscht keine weiteren Schritte vor den Wahlen und behält sich die Hand frei, die Vorlage eventuell an dem Widerspruch des Landtags scheitern zu lassen. Goßler befindet sich dabei in einer schwierigen Lage, „die ihm die Kehle zuschnürt und das Schwerste sei, was er bisher in diesen Fragen erlebt habe“. Ferner wurde erzählt, das letzte Staatsministerialprotokoll sei dem bayrischen Gesandten sofort mitgeteilt worden. Boulanger soll einen Brief an den Kaiser von Rußland oder den russischen Kriegsminister gerichtet haben, was zu einem lebhaften Protest von Flourens und dem französischen Kabinett geführt habe. Danach ist die Entwicklung der Dinge in Paris ganz unübersehbar und muß man in der Tat jeder Überraschung gewärtig sein. In dieser komplizierten Lage bleibt Bismarck eben doch der feste Pol und Trost. Se. Majestät ist etwas schonungsbedürftig und wird beim italienischen Botschafter heute nicht erscheinen. 11. Februar. Hofball, wobei Se. Majestät nicht erschien, sondern der Kronprinz die Honneurs machte. Er kam auf Friedberg und mich zu und sagte: „So, nun erzählen Sie mir etwas ‒ ich bin heiser.“ (Es war, wie sich später herausstellte, das erste Symptom seiner schweren Erkrankung.) Beide Häuser haben wegen der Reichstagswahlen Ferien gemacht, so daß wir in einer zu dieser Jahreszeit ganz ungewohnten parlamentarischen Stille leben. Fürst Bismarck benutzte die letzte Herrenhaussitzung zu einigen Reden über die Volksschulverhältnisse mit dem Hinweis, daß Besseres erst geschaffen werden könne, nachdem der Reichstag reichlich fließende Steuerquellen erschlossen haben werde. 17. Februar. Hofball beim Kronprinzen. Es ist bitter kalt und scharfer Ostwind. Der Kronprinz klagte, zu uns tretend, wieder über Heiserkeit, die sehr hörbar war. 21. Februar. Wahltag. Von Zedlitz soll Chancen haben, in Berlin gewählt zu werden. 22. Februar. Von Zedlitz kommt mit vier Septennatleuten in Berlin in die engere Wahl, was ein enormer moralischer Erfolg ist, auch wenn er schließlich unterliegt. Der Fortschritt scheint überall viel Stimmen eingebüßt zu haben, wird aber bei den engeren Wahlen durch Unterstützung der sozialdemokratischen und Zentrumsstimmen doch noch Sitze genug erhalten. 335

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Metzler hat in Frankfurt Sonnemann geschlagen, wird aber in der engeren Wahl doch dem Sozialdemokraten erliegen. Für Frankfurt als Erfolg zu betrachten. Mit diesem Wahlsystem wird aber auf die Dauer nicht zu regieren sein! 22. Februar. Heute Fastnachtsball im Schloß, bei welchem aber Se. Majestät nicht erscheinen wird. In diesem Winter hat er nur eine Jagd und die Cour mitgemacht. 23. Februar. Der Landtag tritt heute wieder zusammen ‒ Kultusetat. Die neue kirchenpolitische Vorlage ist vorgestern an das Herrenhaus gelangt. Die Nationalzeitung beurteilt sie nicht gerade abfällig ‒ nachdem so viel von den Maigesetzen aufgegeben sei, will sie Frieden haben. Die Wahlen scheinen sehr gut ausgefallen; die Volkspartei ist verschwun­ den, die Sozialdemokraten besonders in Sachsen erheblich geschwächt und der Fortschritt fast vernichtet! In der Hauptwahl haben sie nur drei Sitze bekommen und kommen nun bei den Stichwahlen nur mit fremder Hilfe ‒ Sozialdemokraten und Zentrum ‒ durch. Die Nationalliberalen erhalten starken Zuwachs. Bismarck meint zwar, das müsse noch ganz anders und viel besser kommen, aber er wird doch sehr zufrieden sein und den Kurs den Nationalliberalen nähern. Vielleicht hat er hiermit einen großen politischen Reinigungsprozeß eingeleitet, aber abgesehen von dem unverhofften Glück der so langen Regierung Sr. Majestät und seines eigenen Gesundens hat man dieses Resultat kaum mit großer Wahrscheinlichkeit erstreben können. Jedenfalls hat er recht behalten, jetzt aufzulösen und an das Land zu appellieren. Hoffentlich wird er nun Maß halten und nicht von einer neuen Auflösung reden. Auf dem gestrigen Hofball hat der Kronprinz Witze gegenüber den Konservativen gemacht, daß alle ihre aufgewendete Mühe nun den Nationalliberalen zugutekäme. Die russischen Zeitungen markieren wieder eine Frankreich freundlichere Haltung. Man dürfe es nicht ruinieren lassen, um nicht eine Präponderanz Deutschlands zu provozieren. Man müsse die Augen am Rhein, nicht auf der Balkanhalbinsel haben. 27. Februar. Der Reichstag ist auf den 3. März einberufen, an welchem Tage zum Teil erst die Stichwahlen stattfinden. 2. März. Sitzung bei Bismarck. Er erörtert die Thronrede in ruhiger Weise, ohne ein Wort zu sagen über den günstigen Ausfall der Wahlen, dagegen Verdruß aussprechend über die Freundlichkeit, welche Forckenbeck und Genossen seitens des Hofs durch Einladungen und Dankschreiben für Gra336

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tulationen etc. erwiesen würden. Er habe versucht, Se. Majestät zu einem veränderten Verhalten in dieser Beziehung zu bestimmen und auch völlige Bereitwilligkeit gefunden; bei der Kaiserin und dem Kronprinzen werde es vielleicht anders sein. Zur längeren Diskussion gab Anlaß der Passus in der Thronrede über das Steuerreformprogramm. Bismarck meinte anfangs, man müsse Steuerprojekte bringen, welche Spiritus, Zucker, Tabak, Bier umfaßten, wünschte aber die Meinung der Kollegen zu hören. Scholz ging anfangs bereitwillig auf den Gedanken ein, zog sich aber zurück, nachdem eingewandt worden war, daß sogenannte Steuerbuketts in der Regel kein Glück gehabt, sondern Gegenkoalitionen von allen Gegeninteressentengruppen hervorgerufen hätten. Man solle nur so viel fordern, als zur Deckung des Defizits erforderlich sei. Den Zucker schon wieder anzurühren, wurde gleichfalls widerraten. Bismarck wehrte sich etwas dagegen, meinte auch, es sei verfrüht, mit den Vertrauensmännern einzelner Fraktionen zu verhandeln, was sich erst für ein späteres Stadium eigne, ging aber schließlich doch auf den Vorschlag ein, sich auf eine Spiritussteuervorlage ‒ von Graß ‒ zu beschränken und das weitere einem späteren Zeitpunkt vorzubehalten. Der Papst findet in der Thronrede sehr lobende Erwähnung. Bismarck gab Darlegungen über die auswärtigen Beziehungen: Das Verhältnis zu Frankreich sei dasselbe gespannte und man müsse auf eine Invasion des Elsaß gefaßt sein, wenn Boulanger ans Ruder käme. Das schade aber nichts, sei sogar eher militärisch günstig, wenn die Franzosen aus ihren Verschanzungen herauskämen. Wenn das Elsaß verwüstet werde, so schade das nichts, nach den schlechten Wahlen verdiene es nichts Besseres und dürfe auch später mit besonderen Entschädigungen nicht bedacht werden. Sie hätten zwar aus Angst so gewählt, um sich später nicht der Rache der Franzosen auszusetzen, aber sie verdienten doch Strafe. Mit Rußland seien wir nach wie vor einig. Die letzte Preßkampagne habe ihren Ursprung in Jomini und Katkoff, welche ihre eigene Politik trieben. Wir hätten eine Allianz mit Österreich und Italien, falls Rußland uns oder Österreich angriffe. Wenn es nach Bulgarien gehe, so sei das kein Casus foederis. Bulgarien gehöre Rußland als Äquivalent für das von Österreich okkupierte Bosnien. Wolle Österreich-England den Russen Bulgarien nicht gönnen, so sei das ihre Sache. Italien sei bereit, überall mit loszuschlagen, auch gegen Frankreich. Auch Spanien wolle mitgehen, habe aber wenig Entgegenkommen gefunden. Nach alledem stehen die Verhältnisse in der auswärtigen Politik zwar unsicher, aber wir sind doch auf alle Eventualitäten so gut vorbereitet wie möglich. Freilich wird auch Frankreich in seiner Isoliertheit sich sehr überlegen, gegen uns loszuschlagen ‒ aber ‒ wer weiß! 337

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Bismarck erwähnte noch, es sei ein politisches Interesse, den Übertritt Bürgerlicher in den Adelsstand zu begünstigen. Das mache den Adel populär, wie es in England der Fall sei. Er habe einige schroffe Refus in der Richtung bekommen, welche er sich nicht gefallen lassen werde ‒ mögen sie vom Heroldsamt oder vom Zivilkabinett kommen. Er führte einige Fälle von Herren an, die im auswärtigen Dienst stehen. Diese Standeserhöhungen ressortieren eigentlich vom Minister des Innern und dem des Königlichen Hauses, aber vielfach wird regellos verfahren und direkt vorgegangen vom Militär- oder Zivilkabinett und von einzelnen Ministern. 10. März. Zum Tee bei den Majestäten mit Graf Stolberg und von Goßler. Se. Majestät noch etwas heiser, aber sonst behaglich und gesprächig. Es war aus Anlaß der Versetzung des gleichfalls anwesenden langjährigen Flügeladjutanten Graf Alten als Divisionskommandeur nach Trier von den dortigen Altertümern die Rede. Beim Abschied schüttelte er Alten lange die Hand und dankte ihm mit bewegter Stimme für alles, was er ihm hier in der langen Zeit gewesen sei. So wendet er alles in der gütigsten Weise, wo er den Betreffenden eben durch eine größere Beförderung schon sich zu Dank verpflichtet hat, als sei er der Verpflichtete. Die Bemerkungen von Goßlers über den heiligen Rock zu Trier goutierten die Majestäten anscheinend nicht. Er sprach von der bevorstehenden öffentlichen Ausstellung des heiligen Rocks, wobei das Kapitel etwa zwei Millionen „verdiene“, in nüchternem Geschäftston. Der Reichstag hat die Militärvorlage mit großer Majorität in zweiter Lesung, 227 gegen 31 Stimmen bei 89 Enthaltungen, angenommen. Ein großer Erfolg für den Fürsten. 12. März. Die Taufe des Prinzen August Wilhelm Heinrich Günther Viktor hat heute im Stadtschloß zu Potsdam stattgefunden in würdiger, stiller Weise. Beide Majestäten anwesend, er schien matt und machte nur kurz Cercle. Der Kronprinz hatte große weiße Atlasschleifen auf den Epauletten, eine englische Sitte, welche Sr. Majestät mißfällig sein soll. Nach der Taufe Defiliercour vor der jungen Mama, welche mit dem Baby im Arm, umgeben von den anderen Kindern, neben der historischen Holzwiege saß ‒ anmutig und frisch aussehend. Moltke vertrat den Erzherzog Albrecht von Österreich, Kutusoff den Großfürsten Nikolaus, Graf Lerchenfeld den Prinzen Luitpold von Bayern. 13. März. Sonntag. Auf Veranlassung des Fürsten ist eine schwarze Liste vom königlichen Hofmarschallamt aufgestellt worden von solchen, welche künftig wegen ihrer politisch oppositionellen Haltung zu Hoffesten nicht mehr eingeladen werden sollen. Diese ist den prinzlichen Höfen zur Kennt338

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nis und Nachachtung mitgeteilt worden. Prinz Wilhelm hat das bei dem neulichen Diner des märkischen Provinziallandtags mit großem Gusto erzählt und bemerkt: „Das wird an einem gewissen Hof große Freude erregen.“ Gestern Soiree bei Herbette zu Ehren des Herrn von Lesseps, ein rüstiger Zweiundachtziger, mittelgroß, mit gebogener Nase und kleinem Schnurrbart, ähnlich Renz, aber feiner und geistiger. Die bulgarische Krisis sieht man als noch nicht beendet an, die große Zurückhaltung Rußlands wird verschieden gedeutet. Die anhaltende Heiserkeit des Kronprinzen soll in einer Warzenbildung im Kehlkopf ihren Grund haben. Er würde jetzt gern deswegen nach Wiesbaden gehen, fürchtet aber, daß das bei der Nähe von Darmstadt zu Mißdeutungen Anlaß geben könne bezüglich einer Annäherung an den Bulgaren. 16. März. Gestern Sitzung des Staatsministeriums, welche Bismarck mit einem Schmerzensruf über die nicht enden wollende Battenbergerei beginnt. Um diese törichten Liebesgeschichten sich kümmern zu müssen, sei zu viel. Man bestritte überdem russischerseits sogar die Tapferkeit des hohen Herrn. Kirchenpolitisch will Bismarck so weit gehen, um auch die guten Staatskatholiken wie Ratibor, Frankenberg u. s. w. zu befriedigen. Er will demgemäß auch die weiblichen Schulorden für den Unterricht der höheren Stände zulassen, weitere Einschränkungen der Anzeigepflicht konzedieren, und ging leicht über entgegengestellte Bedenken fort. Den kleist-retzowschen Antrag dagegen, welcher auf Gewährung größerer Selbständigkeit der evangelischen Kirche gerichtet war, bezeichnete er als einen geradezu „verbrecherischen“, als ein Attentat gegen den summus episcopus, als den Versuch der Einführung einer herrschsüchtigen, intoleranten Priesterherrschaft, welcher gegen das Gemeindewesen, gegen die Grundlagen der evangelischen Kirche gerichtet sei. Das heiße die Staatsautorität völlig untergraben! Goßler solle mit der größten Nichtachtung dagegen vorgehen; auch verbat er sich sehr, daß Goßler irgendwelche Freundlichkeit für die evangelisch-kirchlichen Bestrebungen äußere. Er kupierte auch den einleitenden, erschöpfenden Vortrag, zu welchem Goßler sich anschickte, mit dem Bemerken, das sei alles bekannt. Genug, er behandelte Goßler mit einer gewissen Animosität, als konniviere er dem Antrag, welchen er mit intensiver Feindlichkeit erörterte. Dann kam eine lange interessante Unterhaltung über den Elsaß. Bismarck konstatierte das völlige Fiasko der bisherigen Verwaltung und motivierte seine seit Jahren beobachtete Zurückhaltung mit den von Baden-Baden fortgesetzt versuchten Einmischungen. Er erklärte sich für Wiedereinsetzung der Diktatur, Beseitigung des Landesausschusses, des Statthalters, der eigenen Ministerien. Eine Dreiteilung an Bayern, Baden, 339

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Preußen leuchte ihm mehr ein wie die Annektierung an Preußen. Obschon auch Letzteres im Bundesrat nicht auf besonderen Widerspruch stoßen werde. Die Bildung einer preußischen Provinz würde die einfachste Lösung sein. Als eventuell geeignete Oberpräsidenten wurden Studt, Handjery, Graf Zedlitz genannt. Den Minister Hofmann bezeichnete er wieder als das gesattelte Pferd, das jeder besteigen und beliebig wohin reiten könne. Darum habe er es unmöglich gefunden, mit ihm weiter zu regieren; Hofmann habe sich für ihn in alle möglichen Projekte engagiert ohne sein Vorwissen. 18. März. Gestern Soiree bei den Majestäten zu Ehren der bereits anwesenden Gratulanten: Kronprinz von Österreich, Großherzog von Baden, türkische Deputation etc. Se. Majestät blieb bis nach 11 Uhr. 22. März. Am neunzigsten Geburtstag Sr. Majestät fand für uns kein eigentlicher Gratulationsempfang, sondern nur Soiree statt, welche übervoll war. Puttkamer, Bötticher und ich erhielten das Großkreuz des Roten Adlerordens. Wie Bötticher berichtete, hat Se. Majestät uns ursprünglich den Schwarzen Adler verleihen wollen, allein es seien nur zwei Exemplare vorhanden gewesen, und man habe es ihm dann ausgeredet. Se. Majestät ist angegriffen und muß sich schonen. Er ist aber so elastisch, daß er sich immer wieder schnell erholt. 26. März. Bismarck klagte über die vielen zeitraubenden Besuche seitens der fürstlichen Gäste, welche nicht zu wissen scheinen, daß er mehr zu tun habe, als sich stundenlang mit ihnen zu unterhalten. Der Prinz von Wales sei über eine Stunde bei ihm geblieben. Die Kaiserin war nebst der Großherzogin von Baden im Landwirtschaftlichen Ministerium zur Versammlung des Vaterländischen Frauenvereins und bezeichnete das Unwohlsein Sr. Majestät als Übermüdung, Verkältung, Augenentzündung. 28. März. In der gestrigen Staatsministerialsitzung, welche drei Stunden dauerte, gab Bismarck ein höchst interessantes Resümee über die politische Lage und seine Begegnungen mit den verschiedenen Fürstlichkeiten. Die Erkrankung Sr. Majestät sei durch die Vergnügungssucht der höchsten Damen herbeigeführt, welche ihm zugemutet hätten, nach all den Anstrengungen des Tages noch in der Soiree zu erscheinen, wo die Menschen wie gespießte Insekten auf den goldenen Stühlchen balancieren müßten. Der Kaiser schlafe bei der Musik, aus welcher er sich gar nichts mache, gewöhnlich ein nach den ersten Takten und seine Nachbarn seien dann in der größten Beunruhigung, daß er vom Stuhl falle. Die hohen Damen beunruhigen 340

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ihn außerdem durch ihre häufigen Nachfragen nach seinem Befinden. Er sei zu höflich, um sich das zu verbitten. Er leide nun an denselben Beschwerden, welche er sich früher durch das Reiten zugezogen habe: Blutharn. Die Ärzte fürchteten jetzt besonders die Wirkung des Opiums, welches sie ihm zur Schmerzstillung geben müßten. Beide Augen seien geschwollen und bandagiert, so daß er auch keine Unterschriften geben könne. Die Berichte des Auswärtigen Amts allein, welche unerbrochen dalägen, bildeten einen anderthalb Fuß hohen Stoß. Ganz wütend war der Fürst auf die Frau Kronprinzeß und die Prinzeß Christian, welche den Kronprinzen von Österreich zwischen sich genommen hätten und ihm zugeredet, Österreich müsse den Battenberger nach Bulgarien zurückführen und ihn dort auch gegen Rußlands Willen wieder zum Regenten einsetzen. Unser Kronprinz habe sich bei dieser Konversation entfernt und den Österreicher seinem Schicksal überlasten, welcher ganz bestürzt und überwältigt gewesen sei. Überdem habe er auch gleich den Inhalt jener Unterhaltung dem Großfürsten Wladimir mitgeteilt. Der Erzherzog Rudolf habe ihm einen schwächlichen, ängstlichen Eindruck gemacht, wie ein Mann, der sich überall umsieht, ob ihm nicht ein Stein auf den Kopf von irgendwoher fällt! Gott meine es mit den Monarchien nicht gut, welchen er so schwächliche „chétive“ Sprößlinge gebe wie jetzt in Österreich und Rußland. So fest auch bei uns die Monarchie stehe, so werde sie doch solche Proben nicht aushalten, daß man der Liebschaft einer Prinzeß halber einen Krieg mache. Das habe er auch dem Prinzen von Wales gesagt, dessen Hauptfrage immer die sei, wie er sich am nächsten Tage am besten amüsieren werde. Er habe neulich bei Graf Herbert bis zum Morgen um 5 Uhr sich amüsiert. Jene Bemerkung über die Neigung der Prinzeß habe er „rather hard“ gefunden. Er (Bismarck) habe sie aber getan zu dem Zweck, daß er (Wales) sie seiner Frau Schwester, der Kronprinzeß, mitteilen möge. ‒ Friedberg schaltete hier ein: „Er wird sich hüten, das zu tun.“ Der Erzherzog habe sehr bedauert, daß Bismarck so entschieden betont hat, der Orient ginge uns nichts an. Sie würden von Rußland allein geschlagen, denn das habe einen so enormen Nachschub, während Österreichs Kräfte schnell erschöpft seien. Bismarck entgegnete: Hunderttausend Österreicher seien ebenso viel wert wie hunderttausend Russen und ihr Offizierkorps sei besser. Man müsse nur energisch vorgehen und nötigenfalls Russisch-Polen insurgieren. Mit dem Großfürsten Wladimir, einem notorisch deutschfreundlich gesinnten Herrn, hat Bismarck eine sehr eingehende Unterhaltung gehabt. Der 341

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Großfürst Wladimir sei zur Vertretung der politischen Seite der Mission mitgekommen, ein loyaler, verständiger Mann, welcher gar kein Hehl daraus mache, daß er p e r s ö n l i c h e Sympathien für Frankreich habe, gern Französisch spreche und sich in Paris gut amüsiere. Mit der französischen Regierung habe er nicht viel gemein, allein man wolle Frankreich nicht aus der europäischen Politik ausscheiden sehen und wünsche dessen Machtstellung erhalten zu sehen, werde also einen Krieg bis zur Vernichtung nicht untätig ansehen. Auf der anderen Seite wolle man noch weniger Deutschland vernichten lassen und etwa direkter Nachbar der unruhigen Franzosen werden, welche so schon Rußland mit Umsturzideen gesättigt hätten. Im Fall eines unglücklichen Krieges sei die Dynastie Romanoff verloren, darüber mache er sich keine Illusionen. Es sei e i n B ü n d n i s m i t R u ß land soweit möglich, daß man sich Neutralität garantiere für den Fall eines russisch-türkischen und eines deutsch-französischen Krieges. Bismarck sagte ihm: „Deutschland könne auch nach zwei Seiten Krieg führen. Es werde eine Million in defensive Stellungen an die Ostgrenze bringen können. Es werde sich schlagen bis zum letzten Blutstropfen und ihm werde dann im Fall der Niederlage eine anständige Grabschrift lieber sein wie das Leben.“ Er scheint famos operiert zu haben, sprach aber selbst die Befürchtung aus, daß die gefährlichen Äußerungen der Kronprinzeß betreffs Bulgariens die Sache wieder verderben und das Mißtrauen des Zaren geweckt haben könnten. Man werde vielleicht in Rußland seinen Versicherungen Glauben schenken, aber in Rücksicht auf die neunzig Jahre Sr. Majestät doch mißtrauisch sein über das, was folgen könne. Der König von Rumänien sei kein Adler, aber er sei Soldat und ein pflichttreuer Herr. Er habe erklärt, zwar nicht besonders fest an seiner Krone zu hängen, aber er habe nun zwanzig Jahre regiert, die Armee gut organisiert und wolle den Staat zu erhalten suchen, welchen er gebildet habe. Den Battenberger wünsche er nicht als Nachbar. Der sei geeignet, Feuer anzuzünden, aber nicht es zu löschen. Damit meint er wohl den serbischen Krieg und die ostrumelische Bewegung ‒ obschon das Bismarck nicht ausdrücklich sagte. Seine (Battenbergs) Tapferkeit attestierte Bismarck nicht in unbedingter Weise: „So feig, sich im Krieg schlecht zu benehmen, seien wenig Leute.“ Das Bemerkenswerteste waren wohl seine Ausführungen dem Großfürsten Wladimir gegenüber, welche ebenso wie die früher erwähnte Unterhaltung mit Peter Schuwaloff vermutlich der Ausgangspunkt des ganz ge342

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heim gehaltenen (bis 1892) Rückversicherungsvertrags gebildet haben. Ich schrieb wörtlich damals: „Er will einen neuen Vertrag mit Rußland abschließen.“ Daß er Frankreich nicht angreifen werde, betonte er wiederholt. Dabei sagte er noch: „Wenn Leute unbequeme Fragen stellten, wie Herbette öfter tue, und er werde zwischen die Alternative gestellt, sein Vaterland durch die Antwort zu schädigen oder die Unwahrheit zu sagen, so ziehe er Letzteres vor.“ ‒ Der Ingrimm über die Äußerungen der Frau Kronprinzeß war aber das stärkste Gefühl, das in der ganzen hochinteressanten Ausführung zum Ausdruck kam. Dieselben sind allerdings geradezu kriminell! Echt koburgisch! In Bezug auf den Vorschlag von Änderungen in der elsaß-lothringischen Verwaltung hat Se. Majestät die entschiedenste Abneigung kundgegeben, dergleichen vorzunehmen ‒ angesichts der ausgezeichneten Aufnahme, welche er dort gefunden habe. Das sei nichts Gemachtes gewesen, wie er seinen Erfahrungen nach auf diesem Gebiet wohl sagen könne. Diese Eindrücke wolle er mit ins Grab nehmen! Wieder ein hübscher und bezeichnender Fall, wo Se. Majestät, seiner natürlichen, richtigen Auffassung folgend, eine bestimmte Willensmeinung hat und aufrechterhält ‒ selbst Bismarcks Rat gegenüber. Diese will Bismarck auch respektieren und sich begnügen, die Personal- und sonstigen Änderungen vorzunehmen, welche im Verwaltungswege möglich sind, eventuell eine Gesetzvorlage, welche das Elsaß mehr entstaatlicht und mehr zur Reichsprovinz macht. Eine sehr merkwürdige Sitzung mit viel sachlicher Diskussion. Galimberti hat die Erwartung ausgesprochen, daß dem Papst zu seiner Sekundizfeier eine Dose, Ring oder Tiara geschenkt werde. Ein Porträt sei zu persönlich! Dergleichen lasse sich aus dem Welfenfonds bestreiten, welcher seit dem Dreikaiserbündnis weniger in Anspruch genommen sei, und da es sich um Maßregeln gegen Windthorst handle, sei das auch sonst gerechtfertigt. Die Äußerungen auf diesem Gebiet waren weniger triumphant; vielleicht hat er den Eindruck, daß seine zuletzt im Herrenhaus nach dieser Richtung gehaltene Rede weniger Effekt gemacht hat, als er erwartete. Galimberti sei schon mit der Regierungsvorlage zufrieden gewesen, Kopp aber sei darüber hinausgegangen mit seinen Anträgen. Goßler bemerkte dazu: Galimberti rede auch mit zwei Zungen und habe Kopp erst in Aktion „gepeitscht“. Das wird wohl seine Richtigkeit haben. Bismarck will erklärtermaßen Frieden schließen à tout prix, und Positionen, welche er einmal aufgegeben hat, können natürlich Staatskatholiken, 343

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gemäßigte Nationalliberale und Konservative auch nicht mehr halten. Auch Goßler hat gezwungenermaßen jeden Widerstand in der Beziehung aufgegeben, obschon er gerade gestern wiederholt von „seiner Politik“ sprach! Bismarck erwähnte noch: In Rußland glaube man, daß Großfürst Konstantin an dem letzten Attentatsplan nicht unbeteiligt sei. Derselbe bewerbe sich um die Volksgunst mit Versprechungen, den Bauern nachmals große Ländereien zuzuteilen. Wladimir habe gesagt, das Hauptinteresse des Zaren ginge auf Zentralasien und auf den Besitz der Dardanellen, welche er als seinen Hausschlüssel betrachte. Sr. Majestät geht es wieder gut, er ist gestern wieder aufgestanden und hat Unterschriften geleistet, Letzteres war dringlich wegen des Etats und des Eisenbahngesetzes. 31. März. Vortrag beim Kronprinzen in Ölser Angelegenheiten. Se. Kaiserliche Hoheit beschrieb dann mit großer Anerkennung für Professor Gerhardt die täglichen Operationen, welche derselbe mit Kokain, Kehlkopfspiegel, Galvanokaustik und Kneifzange an ihm vornehme. Er sprach dabei recht heiser. Der Landtag hat sich gleichfalls bis nach Ostern vertagt, so daß nun allgemeine Ferien sind. 10. April. Ostersonntag. Gestern bei Bismarck Sitzung. Er sprach zunächst von einem an den Staatsanzeiger gerichteten Ukas, welcher vorzeitig auf Moltkes Veranlassung die Verleihung des Schwarzen Adlers an Robilant publiziert hatte. Moltke hatte das als Ordenskanzler verfügt, während Bismarck gewollt hatte, daß es erst am Geburtstag des Kaisers erfolge. Wie es geschah, mußte es als Anerkennung des erneuten Bündnisses mit Italien angesehen werden, während Bismarck es als Gnadenakt aus Anlaß des neunzigjährigen Geburtstags gedeutet haben wollte. Sicher stand ihm als Minister des Äußern hier die Entscheidung zu! Ob aber dieser vereinzelte Fall, welcher in seiner Lebenszeit schwerlich wiederkehrt, Anlaß zu einem allgemeinen Erlaß bietet mit retrospektivem Tadel für eine ganze Menge von Personen, ist doch fraglich. An der Beurteilung des Falles ändert es auch nichts und macht ihn höchstens noch auffälliger. Bismarck betonte dabei, daß Se. Majestät ihm in diesen Beziehungen nicht überall den Willen tue und sich gewisse Souveränitätsrechte vorbehalte. So behandle er die Generalordenskommission als eine Art Annex des Militärkabinetts, während sie ressortmäßig ihm, dem Ministerpräsidenten, unterstellt sein müßte. Ebenso betrachte Se. Majestät die Militärbevollmächtigten 344

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als seine Spezialgesandten, während er (Bismarck) dafür gesorgt habe, daß ihm, dem Kanzler, Abschriften ihrer Berichte zugingen. Zuweilen enthielten dieselben die wichtigsten Mitteilungen, welche er sonst verspätet oder gar nicht erführe. Als Beleg las er uns einen Bericht des Oberst von Villaume aus Petersburg vor, welcher ausspricht, daß er sich vergeblich bemühe, dieselbe intime Stellung beim Zaren zu gewinnen, welche General von Werder bei Alexander II. gehabt habe. So werde er nicht wie jener regelmäßig zur Messe befohlen, obschon seine Gönner es zu veranlassen gesucht hätten. Wannowski, Kriegsminister, und Obrutscheff, Chef des Stabs, Lehrer des Kronprinzen und Gemahl einer in Südfrankreich begüterten Französin, seien beide Panslawisten und Feinde Deutschlands. Sie wirkten für die französische Allianz. Bismarck werde für den letzten Attentatsversuch in Rußland verantwortlich gemacht, als habe er Rußland durch innere Schwierigkeiten von der äußeren Politik abziehen wollen. Thielmann gebe man schuld, die Exekution der bulgarischen Insurgenten nicht verhütet zu haben, obschon der erst davon gehört habe, nachdem sie bereits vollstreckt gewesen sei. Er (Bismarck) habe den Russen wiederholt selbst empfohlen, die Vertretung der russischen Interessen dem französischen Generalkonsul anzuvertrauen, wir hätten in Bulgarien nichts zu suchen ‒ das aber wolle man auch nicht. Katkoff habe über Giers gesiegt, welcher als von Deutschland gewonnen angefochten werde. Genug ‒ unser Verhältnis zu Rußland erschien nach diesem Bericht äußerst trübe, und Bismarck teilt diese Empfindung und wünscht nicht, sie uns vorzuenthalten. Boulanger und Obrutscheff konspirieren gegen uns, das ist klar, und so sieht Bismarck die Lage an. Dann Beratung des neuen Branntweinsteuergesetzentwurfes. Derselbe war zwischen Bismarck und Scholz und dann separat zwischen Bismarck und den Vertretern der Kartellparteien verhandelt worden. Zu letzterer Beratung war Scholz nicht zugezogen worden, um die Verhandlungen nicht zu stören. Bismarck war besonders gegen die vorgeschlagenen Erleichterungen für die kleineren Brennereien und rechnete immer schnell im Kopf aus, wie viel die Vorteile und Nachteile für seine eigenen Brennereien betragen würden, um sich praktische Rechenschaft zu geben über die Tragweite der vorgeschlagenen Sätze. Es wurde nichts Wesentliches am Entwurf geändert. Wie sich im Plenum der Entwurf gestaltet, ist noch nicht zu übersehen. Bötticher meinte, Bennigsen wolle die Sache auf die nächste Session verschieben. 16. April. Bismarck ist in Friedrichsruh, seine Wirtschaft zu revidieren. Sein Oberförster Lange hätte für Holzpflasterungslieferungen nach England zu viel Kredit gegeben und jetzt ständen vierzigtausend Mark auf dem Spiel, 345

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welche im gerichtlichen Wege schwer zu erstreiten sein würden. ‒ Konzessionen bezüglich des Viehverkehrs mit Ungarn wies er entschieden zurück. Ein Brief des Erzherzogs Rudolf an unseren Kronprinzen, welchen dieser mir übergeben hatte, um eine Antwort zu entwerfen, gab Anlaß zu dieser Konversation. Bismarck wußte schon durch Radolinski von diesem Briefwechsel, und es war somit doppelt richtig, daß ich ihn über die Sache fragte und orientierte. Wie Rottenburg mitteilte, will Bismarck jetzt, nachdem ihm klar geworden sei, daß die Berliner „Geheimräte“ dem Grafen Zedlitz in der Ansiedlungskommission Schwierigkeiten machten, dieselben möglichst aus derselben entfernen. Dabei übersieht er, daß es wesentlich sein eigener Kommissar ist, welcher die Schwierigkeiten veranlaßt. Im Abgeordnetenhaus haben sich alle Redner der zustimmenden Parteien gegen das von Bismarck aufgestellte Prinzip ausgesprochen, nur „Kuhbauern“, also sehr kleine bäuerliche Stellen, zu etablieren. Ein Gedanke, gegen welchen auch Graf Zedlitz ist ‒ soviel mir bekannt. Vorgestern zum Tee bei den Majestäten, sehr behaglich. Se. Majestät kam aus der Oper höchst frisch. Es wurde vom Chirurgenkongreß, Augustastift, Puttkamers Reise nach Rom gesprochen, wobei der gute Witz des Kladderadatsch erwähnt wurde: „Puttkamer sei nach Rom gereist, um den Heiligen Vater zu bestimmen, den großen Einfluß, welchen er bei Bismarck besitze, geltend zu machen, um ihn für die puttkamersche Orthographie zu gewinnen.“ Die Majestäten goutierten das sehr. 21. April. Soiree bei den Majestäten. Beide sehr munter, auch Ihre Majestät blieb zum Souper und hatte die Botschafter an ihrem Tisch. Er machte sehr lange und wiederholt Cercle, mit jedem freundlich und apropos redend. Nachdem er mich schon beim Eintritt herzlich begrüßt und angesprochen hatte, kam er nochmals gegen Ende quer durch den Saal auf mich zu und unterhielt sich sehr lange und gütig mit mir. „Es sei das erste Mal, daß er mich mit dem neuen Orden (Großkreuz des Roten Adlers) sehe. Es habe ihm große Freude gemacht, mir seine Zufriedenheit beweisen zu können. Er sei so ‚zufrieden‘ mit seinen jetzigen Ministern, daß er gar nicht dankbar genug sein könne. Er habe uns ja nicht alle früher gekannt und uns nicht selbst aussuchen können, aber er sei sehr glücklich in der Wahl gewesen und wünsche nur keine Änderungen mehr zu erleben. Wir bereiteten ihm alles so gut vor, daß er sich immer ruhig schlafen legen könne, was bei uns vielleicht nicht immer der Fall sei. Er habe bei seinem Regierungsantritt nur auf sechs bis acht Jahre gerechnet und nun sei es eine so lange und glückliche Regierungszeit geworden. Das danke er freilich alles dem da oben.“ 346

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Ein seltener, herrlicher Mann. Er gab mir wiederholt die Hand und sprach die Hoffnung aus, mir noch eine höhere Dekoration (Schwarzer Adler), wie er es eigentlich jetzt schon gewollt habe, verleihen zu können. Trotz der großen Anzahl der Gäste hatte die Soiree doch einen sehr familiären Charakter und sie ersetzte gewissermaßen den intimen Empfang, welcher am neunzigsten Geburtstag ausgefallen war. Die kronprinzlichen Herrschaften waren nicht anwesend. Bismarck hat bei Beratung des kirchenpolitischen Gesetzes im Abgeordnetenhaus wiederholt und sehr aggressiv gegen Windthorst, Richter, Brül (Welfe) gesprochen. Letzterer hielt eine äußerst giftige Rede. Bismarck ließ dem Abgeordneten von Zedlitz-Neukirch, welcher gegen die Vorlage sprechen wollte, durch Minister von Bötticher sagen, er könne es sich nicht gefallen lassen, daß ein vortragender Rat und Mitglied der ihm am nächsten stehenden Fraktion, welcher seine eigenen Söhne angehört hätten, gegen die Vorlage rede. Das werde als geheime Konnivenz gedeutet werden. Zedlitz hat infolgedessen geschwiegen und die freikonservativen Gegner werden sich der Abstimmung enthalten. Das ist auch korrekt, nachdem Bismarck in der denkbar schärfsten Form die Kabinettsfrage gestellt hat. Er drückt damit die Vorlage in einer Form durch, welche der Kurie größere Konzessionen macht, als es notwendig gewesen wäre. Man hätte sich dort mit weniger zufrieden gegeben. Die Zulassung der Orden in die höheren Töchterschulen und der seelsorgerischen Orden in den polnischen Landesteilen wird bald wieder zu neuen Konflikten führen, jedenfalls trägt Bismarck allein die Verantwortung für diese Reglung der Frage, und er allein ist stark genug, solche Konzessionen machen zu dürfen, ohne sich dem Vorwurf der Schwäche auszusetzen. Ein versöhnlicher Gesichtspunkt der Lösung ist die persönliche Niederlage, welche Windthorst dabei erfährt und welche er tief empfindet. 28. April. Die letzte entscheidende Abstimmung über die kirchenpolitische Vorlage hat gestern im Abgeordnetenhaus stattgefunden. 243 dafür, Konservative, Zentrum, Polen, 99 dagegen, Nationalliberale und Fortschritt. 34 Enthaltungen, Freikonservative und einige Konservative, von Zedlitz, von Rauchhaupt, Graf Stirum, von Minnigerode. Da unter den Gegnern die sämtlichen Nationalliberalen, die Freikonservativen und die vernünftigsten Konservativen sind, so ist der moralische Sieg nicht groß. Die Stimmen des Zentrums waren entscheidend, und auch in der Majorität befindet sich sicher eine große Anzahl innerlicher Gegner, welche nur der Autorität Bismarcks gefolgt sind. In Bismarcks wuchtigen Reden waren großartige Momente. Die Verstimmung in den sonst Bismarck nahestehenden Parteien ist denn in der Tat auch eine sehr große und sie äußert sich nun darin, daß alle 347

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sonstigen Vorlagen abgelehnt oder vertagt werden. So ist das Gesetz über die Rheinische Provinzialhilfskasse an die Kommission zurückverwiesen worden und das Gesetz über Teilung westpreußischer Kreise abgelehnt. Da noch ein Nachtragsetat notwendig zu erledigen ist, kann die Session leider noch nicht geschlossen werden. (Der Schluß erfolgte erst am 14. Mai.) 4. Mai. Gestern eine höchst interessante Sitzung bei Bismarck. Er teilte zunächst die erfolgte Lösung des Falls Schnäbele mit. Er habe ihn entlassen, um den Grundsatz gelten zu lassen, daß in solchen Fällen dienstlicher Konferenzen unter zivilisierten Nationen unbedingt freies Geleite gewährt werden müsse. Im Übrigen sei die französische Regierung im höchsten Maß kompromittiert, und er werde dafür sorgen, daß der Fall weiter fruktifiziert werde. General Boulanger habe den Fall als Casus belli behandeln wollen, habe den Präsidenten Grévy in diesem Sinne bestürmt und die Truppen konsigniert gehalten, allen Urlaub eingestellt und Vorbereitungen zum Truppentransport nach der Grenze gemacht. Dann las er einen Brief des Generals Albedyll vor, worin dieser die Absicht Sr. Majestät ausspricht, durch einen feierlichen Akt die Ehe zwischen der Prinzeß Viktoria und dem Prinzen Alexander Battenberg zu v e r b i e t e n . Er habe hierauf mit Sr. Majestät wiederholt konferiert und ihm den Entwurf eines Schreibens an den Kronprinzen vorgelegt, worin in motivierter Weise mit scharfen Spitzen gegen England und den Battenberger das Verbot im Interesse der preußischen Dynastie und der Erhaltung des friedlichen Verhältnisses zu Rußland ausgesprochen wird. Zweifelhaft sei es, ob das Schreiben dem Kronprinzen jetzt oder nach seiner Thronbesteigung vorzulegen, ob es von Sr. Majestät allein oder vom gesamten Staatsministerium zu kontrasignieren sei oder auch nur von Sr. Majestät zu zeichnen und an das Staatsministerium zu richten sei. Er wolle in diesem Fall nicht ohne den Rat und die Mitwirkung der Kollegen handeln. Nach längerer Unterhaltung einigte man sich dahin, daß das Schreiben von Sr. Majestät eigenhändig geschrieben und dem Kronprinzen direkt zugestellt werde. Ferner sollte das Schreiben von Bismarck kontrasigniert und dem Staatsministerium notifiziert werden. Es sei eilig, weil man sonst vielleicht einem bei Gelegenheit des Regierungsjubiläums der Königin von England herbeigeführten Fait accompli gegenüberstehen würde. Auch sei er (Bismarck) überzeugt, daß es dem Kronprinzen willkommen sein werde, diese Rückenstärkung seiner Gemahlin gegenüber zu erhalten. Diese weiche ihm immer aus, schlage bei den wiederholt gehabten Unterredungen Volten mit dem Hinweis, sie denke gar nicht an eine solche Verbindung. Das Schreiben ist brillant abgefaßt, mit großer Schärfe und Entschiedenheit. 348

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Dann erklärte Bismarck sich nach einigem Sträuben damit einverstanden, daß Graf Zedlitz ermächtigt werde, auch größere Bauerngüter als 25 Hektar auszugeben. Er hielt zwar die Maßregel für falsch, die Motivierung dafür im Abgeordnetenhaus für töricht, wolle es aber als Vertrauensvotum für Zedlitz zugeben. Dem Antrag Minnigerode gegenüber auf weitere Erhöhung der landwirtschaftlichen Zölle solle man sich zustimmend verhalten, mit dem Vorbehalt, daß im Bundesrat und im Reichstag die Majorität dafür zu finden sei. Ob die Verhandlungen die Zirkel der Steuervorlage stören werden, könne er nicht übersehen; das müsse der Finanzminister beurteilen können, welcher mit Bennigsen verhandelt habe. Finanzminister Scholz erklärte etwas gewunden: Das brauche die Steuervorlage nicht zu stören, weil es sich nicht um Finanz-, sondern um Schutzzölle handle. Man müsse sie im Interesse der heimischen Landwirtschaft erhöhen, auch wenn finanzielle Ausfälle die Folge wären. Das war eine billige Dialektik, da die landwirtschaftlichen Zölle schon jetzt über 100 Millionen abwerfen, also sehr angenehme Finanzresultate ergeben. In einer am Abend stattgefundenen Soiree traf ich den Freiherrn von Schorlemer-Alst, welcher mir mitteilte, seine Fraktion habe soeben beschlossen, eine motivierte Tagesordnung beim Antrag Minnigerode einzubringen, welche das Vertrauen aussprechen wird, daß die königliche Staatsregierung aus eigenem Antrieb das im Interesse der Landwirtschaft Notwendige tun würde. Das ist eine überraschend loyale und rücksichtsvolle Behandlung der Sache seitens des Zentrums. Da für einen solchen Antrag auch alle Gegner des Antrags Minnigerode stimmen können, so ist seine Annahme sehr wahrscheinlich. Für Minnigerode in seiner Wichtigtuerei eine ganz nützliche Lektion! 9. Mai. Der Verlauf in Pleno war, daß nach Abgabe meiner Erklärung alle Anträge zurückgezogen wurden und nur eine Abstimmung stattfand über den Antrag auf einfache Tagesordnung, welchen Rickert törichterweise gestellt hatte. Meine zustimmende Erklärung dekontenancierte Minnigerode und Genossen umso mehr, als die von Schorlemer-Windthorst schon vorher eingebrachte motivierte Tagesordnung die Ablehnung des Antrags selbst ganz sicher machte. Die Sache, welche wie eine gegen mich gerichtete Aktion eingefädelt war, endete mit einer Art Vertrauensvotum für mich. Später besuchte mich Schorlemer, welcher in der ganzen Sache höchst loyal und rücksichtsvoll gegen mich verfahren hatte, und erzählte: Auf Rottenburgs Einladung sei er gestern Nachmittag 2 Uhr bei Bismarck gewesen, welcher ihm gesagt habe, ich (Lucius) sei in meinen Erklärungen weiter gegangen, wie ihm lieb sei, er stehe mehr auf seinem (Schorlemers) Standpunkt, noch 349

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etwas abzuwarten; was seiner Meinung nach richtig sei: jetzt schon oder erst im Herbst mit einer Zollvorlage zu kommen? Schorlemer erwiderte: meine Erklärung sei in dieser Beziehung vorsichtig verklausuliert gewesen, insofern, als ich zur Voraussetzung aktiven Vorgehens in der Frage die Zustimmung der Mehrheit des Bundesrats und des Reichstags gemacht habe. Es werde schwierig sein, außer den Steuervorlagen auch noch eine Zollvorlage durchzuberaten, umso mehr, als sich zu dieser die Parteigruppierungen anders gestalten als bei jener. Bismarck habe dann das Ergebnis der Konferenz dahin präzisiert, daß mit Zollvorlagen erst vorzugehen sei, nachdem die Zustimmung zu den Steuervorlagen gesichert respektive wenn noch Zeit übrig sei. Eventuell werde man bis zum Herbst warten. Inzwischen wird ihm die ablehnende Meinung Bennigsens auch zur Kenntnis gekommen sein, und er hat sondieren wollen, ob mit dem Zentrum allein die Sache zu machen sei. Schorlemer hat ihm weiter gesagt, wenn bis zum Herbst die Getreidepreise steigen dürfen, werde man sich auch so beruhigen. Amüsant ist Bismarcks Behauptung, ich sei mit meinen Erklärungen weitergegangen, wie er gewollt habe, während das Staatsministerialprotokoll vom 4. Mai gerade das Gegenteil ergibt. 14. Mai. Schluß des Landtags, nachdem alle Vorlagen meines Ressorts glatt erledigt und der agrarische Ansturm im Sand verlaufen war. Windthorst teilte mir bei einem Diner mit, die Anträge der Konservativen hätten mich allerdings streifen sollen, Rauchhaupt selbst habe den minnigerodeschen Antrag als einen bestellten bezeichnet. 22. Mai. Sonntag. Ich traf heute bei Friedberg den Kriegsminister Bronsart, beide tief erschüttert von der Nachricht, daß sich der Kronprinz vielleicht in aller Kürze, schon morgen, einer lebensgefährlichen Operation unterziehen müsse. Es hat gestern oder vorgestern eine Konsultation von sieben Ärzten stattgefunden: Lauer, Wegner, Bergmann, Tobold, Gerhard, Birchow und dem englischen Spezialisten Mackenzie, welche mit diesem Verdikt geendet hat. Der englische Arzt hat von oben her, vom Mund aus operieren wollen, Bergmann durch den Kehlkopfschnitt, weil man sonst ungewiß bleibe, welche Ausdehnungen das Übel genommen habe. Minister Friedberg, welcher den Prinzen kurz nachher sah, fand ihn ganz munter und sogar scherzhaft über die Operation sprechend. Man wolle ihm den Hals aufschneiden, er habe guten Schlaf und Appetit, fühle auch keine Schmerzen, sondern habe nur ein taubes oder wundes Gefühl in den Drüsen auf einer Seite des Halses. Offenbar hat er von dem Ernst der Situation keinen Begriff oder gibt sich nur den Anschein der Sorglosigkeit, aus Rücksicht für seine Umgebung. Inzwischen sei Prinz Wilhelm designiert, zum Jubiläum 350

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nach England zu gehen mit großem Cortege. Während wir im Begriff waren, zu gehen, kam Geheimrat Rottenburg vom Kanzler mit der Frage an Friedberg, ob der Kronprinz wohl die Gefahr und die Tragweite der Operation übersehe, ob man ihn im Unklaren über die Gefahr lassen dürfe. Es haben nämlich die Ärzte schleunige Vornahme der Operation anempfohlen und geraten, ihn nicht ängstlich zu machen, weil das den Erfolg in Frage stelle. Wir waren einig in der Meinung, daß man dem Kronprinzen reinen Wein einschenken müsse und daß ihm in dieser ernsten Frage die alleinige und letzte Entscheidung zustehen müsse. Damit ging Friedberg zum Kanzler. Auf der Straße trafen wir den Hofmarschall Graf Eulenburg, welcher ganz au fait und unserer Ansicht war. Das ist ein entsetzlich tragisches Ereignis, dessen Tragweite gar nicht zu übersehen ist! Die Ärzte sollen erklärt haben, nach der Operation werde der Kronprinz im besten Fall halblaut, vielleicht nur flüsternd sprechen können. Also ein völliger Invalide bleiben! Vorgestern hat er den Kanzler empfangen, da scheint aber die Sache noch nicht deklariert gewesen zu sein. Die entscheidende Konsultation hat demnach gestern stattgefunden. Mir kam alles völlig überraschend, da vorher absichtlich nicht viel über die drohenden Gefahren gesprochen war. Jetzt natürlich kann es nicht mehr Geheimnis bleiben. 24. Mai. Mein Bruder Eugen, welcher gestern beim Fürsten dinierte, erzählt: Mackenzie erkläre die Schleimhautwucherungen für absolut gutartig und mache sich anheischig, sie durch eine Kur von sechs Wochen völlig zu entfernen und den Kronprinzen zu heilen. In den gestrigen Abendzeitungen waren die alarmierenden Nachrichten erwähnt, aber zugleich kräftig dementiert. ‒ Die Kronprinzeß scheint die Mutter der Idee, die Operation an dem Prinzen vollziehen zu lassen, ohne ihn über die Tragweite vorher unterrichten zu lassen. Die gefälligen Ärzte hätten das ausführen wollen! Möge Mackenzie recht behalten und es sich nur um unschuldige Polypen handeln! Rottenburg berichtet: Bismarck habe anfangs beabsichtigt, den Schatzsekretär Jacoby zu beauftragen, in Gemeinschaft mit mir eine Getreidezollvorlage auszuarbeiten, es dann aber nach der mit Bennigsen und Schorlemer gehabten Unterredung wieder aufgegeben. 25. Mai. Bötticher erzählte heute ausführlich den Hergang der Krankheit des Kronprinzen. Der Emser Arzt habe darauf aufmerksam gemacht, daß hier mehr als ein gewöhnliches Halsleiden vorliege. Hiervon hat Radolinski dem Fürsten am 18. Mai Mitteilung gemacht. Die große ärztliche Konsultation unter Zuziehung Mackenzies habe am 20. stattgehabt. Der Kronprinz sei ganz heiter zu der Konsultation erschienen und habe die anwesenden Ärzte gezählt und gesagt: „Es sollen acht sein.“ Den Ministerialdirektor von 351

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Bötticher vom Hausministerium sehend, habe er gefragt: „Nun, soll ich auch mein Testament machen?“ Bötticher erwiderte: Er sei in Vertretung des Grafen Stolberg, des abwesenden Hausministers, anwesend, der Konsultation beizuwohnen und eventuell ein Protokoll aufzunehmen. Das Ergebnis ist gewesen, daß Bergmann und sämtliche deutschen Ärzte die Gefahr für groß und eine schleunige, gründliche Operation ‒ also Tracheotomie und eventuell Exstirpation des Kehlkopfs ‒ für nötig erklärt hätten. Mackenzie aber habe das Übel für kurabel ‒ durch einfachere und ungefährlichere Operationen ‒ erklärt, und zwar in sechs bis acht Wochen, wenn der Kronprinz wie andere Pattenten in seine Klinik käme. Der Kaiser habe verlangt, genau über alles unterrichtet zu werden, und daß nichts Entscheidendes geschehe, ohne sein und des Kronprinzen Wissen und Willen. Am 23.  Mai hat Mackenzie ein größeres Stück der Schleimhautwucherungen entfernt und hat sich in seiner Ansicht durch die Untersuchung desselben bestätigt gesehen. Bergmann dagegen beharrt bei seiner Ansicht, soll ein großes Exposé darüber gemacht und dem Hausminister überreicht haben. Er hat Bismarck auf Befragen erklärt, das Übel könne schnell weiteren Umfang annehmen und dann Erstickungsgefahr herbeiführen. Es müsse operiert werden und bald. Bismarck hat auch mit der Frau Kronprinzeß darüber konferiert und sie dabei zwar sehr bewegt, aber von enormer Selbstbeherrschung gefunden. „Wenn ein Lakai eingetreten sei, habe sie sofort die königliche kühle Miene aufgesetzt.“ Danach liegt die Sache doch sehr ernst! Bronsart meinte: Der Prinz Wilhelm bedürfe bei seinen vortrefflichen Anlagen doch noch sehr der Erziehung und der Reife, um vor Übereilungen bewahrt zu werden. Die alten Prophezeiungen werden wieder aufgewärmt. Es wird erzählt, der Kronprinz habe bei der Feier des neunzigjährigen Geburtstags dem König von Sachsen gesagt, er werde nie zur Regierung kommen. Der Kaiser habe scherzend damals gesagt: „Er sterbe nicht, da der Kronprinz noch lebe.“ Diese Äußerungen gewinnen nun nachträglich eine ernste Bedeutung. 27. Mai. Gestern große Parade und das übliche Diner, bei welchem wir (Bötticher, Goßler und ich) in Landwehruniform erscheinen, stets zum besonderen Wohlgefallen Sr. Majestät. ‒ Anwesend Se. Majestät, Großherzogin von Baden, Prinz und Prinzeß Wilhelm, Großherzog von Toskana in österreichischer Generalsuniform ‒ weißer Rock und rote Hosen. 352

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Se. Majestät erzählte, er habe nach der Parade zwei Stunden geschlafen und fühle sich sehr wohl danach. Fragte: ob der Herr Major auch zur Parade gewesen sei, was ich bejahte. Die Großherzogin sprach von der schweren Woche, welche sie hinter sich hätten. Gottlob sehe es aber jetzt beruhigender aus. Möchte es so bleiben! Sie ist stets gleichmäßig schlicht und freundlich in ihrem Auftreten. Der Großherzog von Toskana, 1835 geboren, untersetzte Figur, mit ganz kurzgeschnittenem grauem Haupt- und Barthaar, welchem ich durch den Prinzen Wilhelm präsentiert wurde, floß über von Sympathieversicherungen Österreichs gegen Deutschland, den Kaiser, die Armee u. s. w. Der Kaiser von Österreich, welchen er noch vorgestern gesehen habe, habe ihm empfohlen, diese Gefühle hier zum Ausdruck zu bringen. Offenbar ein sehr guter, wohlmeinender Herr, welcher diesen Auftrag sehr eifrig und gern ausführt, was seine Äußerungen gerade mir gegenüber bewiesen. Es tritt das Anlehnungsbedürfnis an Deutschland bei allen Österreichern in charakteristischer Weise hervor. 28. Mai. Minister Friedberg, welcher mit Mackenzie gestern bei Radolin dinierte, erzählte: Dr. Mackenzie habe auf seine direkte Frage, ob er überzeugt sei, den Kronprinzen heilen zu können, gesagt: „Ich bin nicht nur überzeugt, sondern ich weiß es gewiß! Wenn der Prinz jetzt wie ein anderer Sterblicher mit nach London in meine Klinik käme, so würde er in vier bis sechs Wochen völlig geheilt sein.“ Die erste große Konsultation hat am 20. in Potsdam stattgefunden, welche mit dem Verdikt Bergmanns endete: der späteste Termin für die Operation sei der 23.! Am Abend kam dann Mackenzie, welcher seine völlig abweichende Diagnose stellte. Die Blamage für die deutschen Ärzte, wenn Mackenzie recht behält, ist sehr groß, umso mehr, als sie sogar bereit gewesen sein sollen, die Operation ohne die volle Kenntnis des Patienten selbst auszuführen. Die Kronprinzeß habe sich schon damit einverstanden erklärt und im hiesigen Palais war alles bis zum Operationstisch bereitgestellt für die Operation. 3. Juni. Kieler Kanalfeier bei Holtenau durch Legen des Grundsteins zur ersten Schleuse. Eine prachtvoll verlaufende Feier bei schönstem Wetter, welcher Se. Majestät und alle Minister exklusive Bismarck beiwohnten. Es war ein klarer, sonniger Tag mit gerade genug Brise, um die See etwas bewegt und die Flaggen flattern zu machen. Der Festplatz war landschaftlich hübsch gelegen und entsprechend dekoriert. Den Hintergrund und Mittelpunkt bildete ein Schiffskörper mit voller Takelage, unter welchem der Thronsessel stand, welchen aber Se. Majestät nicht benutzte, sondern die 353

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ganze Zeit strammstand und umherging. In seiner Suite die drei jungen Prinzen Wilhelm, Leopold, Heinrich, der Letztere eben von seiner Weltreise zurückgekehrt. Die von Bötticher, Lerchenfeld, Wedel, Kögel gehaltenen Ansprachen waren alle kurz und markig. Ebenso die Gesänge kurz, so daß die ganze Feier nicht über drei Viertelstunden währte. Bei dem 2 Uhr mittags in Bellevue stattfindenden Festdiner hielt der Vorsitzende des Provinziallandtags, Graf Rantzau, eine wahrhaft ergreifende, tief empfundene patriotische Ansprache an den Kaiser, welche großen Eindruck machte. Se. Majestät antwortete schlicht und einfach mit kräftiger, vernehmlicher Stimme. 7. Juni. Sah ich den Fürsten, welcher auf dem Sofa lag und über Rheuma in verschiedenen Körperteilen klagte, jetzt Wade und Gesicht, früher Schulter und Rücken. Dr. Schweninger empfahl völlige körperliche und geistige Ruhe. Die Ansiedlungskommission solle mit der Parzellierung nicht so eilig vorgehen, das sei nur in das Gesetz gebracht, um es den Liberalen mundgerecht zu machen, die Hauptsache bleibe der Auskauf des polnischen Adels; im Übrigen solle man die Güter als Domänen verpachten. Auf die Bemerkung, es seien erst fünf Güter parzelliert, der Zudrang der Kolonisten sehr groß, sie hätten gegen sieben Millionen Barvermögen nachgewiesen, eigene Administration sei teuer und schwierig, weil meist kein brauchbares totes und lebendes Inventar vorhanden sei, ebenso fehle es an Gebäuden zu einem geregelten Domänenbetrieb ‒ beruhigte er sich bald und billigte das weitere Vorgehen in der bisherigen Weise. Über die Gesundheit des Kronprinzen sprach er sehr ernst wie über einen hoffnungslos kranken, aufgegebenen Mann. Er habe ihn kürzlich nicht wiedergesehen, um den Anschein zu vermeiden, als wolle er sich von seinem Befinden überzeugen. Eine große Operation dürfe unter keinen Umständen vorgenommen werden ohne die eigene Zustimmung. Wenn er sich in die gleiche Lage versetze, würde er alles andere eher versuchen und nur im äußersten Fall sich dazu verstehen. Er enthalte sich aber auch entschieden, zu einer Kur unter dem englischen Arzt zu raten, um nicht auf sich die Verantwortung zu nehmen, welche jetzt die Königin von England trage. Diese habe den Arzt empfohlen und geschickt. Es wäre ein besonders tragisches Schicksal, wenn der Kronprinz unter dieser Behandlung in England sterben müßte. Über Sr. Majestät Unwohlsein sprach er beruhigt, es sei ohne Belang. Über die Kornzollfrage äußerte er sich nicht. Ein Flügeladjutant erzählte heute früh, es ginge dem Kaiser nicht gut, er liege seit zwei Tagen zu Bett und fühle sich matt. Die Blase mache ihm Beschwerden, die sich aber beim Liegen erleichterten. 354

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Der Kronprinz soll in den nächsten Tagen nach England reisen. Prinz und Prinzeß Wilhelm folgen später. Es ist ein Aufenthalt auf der Isle of Wight projektiert. 19. Juni. Von einer Dienstreise nach den hohenzollernschen Landen zurückgekehrt, sah ich Minister Friedberg, welcher den Kronprinzen in den letzten Tagen vor seiner Abreise nach England wiederholt sah. Derselbe sei recht ernst und deprimiert gewesen, halte sich bei dauernder Stimmlosigkeit nicht für regierungsfähig, eine Anschauung, welche er bekämpft habe mit Gründen aus der Goldenen Bulle und aus der Verfassung. Es habe das auf den Prinzen offenbar einen beruhigenden Eindruck gemacht. Mit Herrn von Normann steht der Prinz in einem intimen Briefwechsel. Er zeige sich moralisch sehr stark, ja heldenmütig. Er kann jetzt nur flüsternd, fast unvernehmlich sprechen. Die virchowsche Diagnose sei auch nicht völlig beruhigend, vor allem läßt sie die Frage der Ausdehnung der Wucherung im Innern des Kehlkopfs ganz unentschieden. Dagegen bestätigt sie den gutartigen Charakter der Wucherung, insofern als Karzinomzellen nicht konstatiert sind. Friedberg hat einige Scharmützel mit der Kronprinzeß gehabt wegen der Frage der Beteiligung des Kronprinzen bei den Londoner Jubiläumsfeierlichkeiten. Sie hat es als selbstverständlich hingestellt, daß er an dem Festzug und an den Feierlichkeiten in Westminsterabtei teilnähme, während Friedberg scharf betont hat, er dürfe in England nur seiner Gesundheit und der Kur leben. Es werde das schon hier als kompromittierend für Deutschland empfunden; daß er aber aus Courtoisie sich noch besonderen Gefahren aussetze, werde niemand verstehen. „Sie habe den Teufel im Leibe und England gehe ihr doch über alles.“ Das Fest nimmt auch, was die Beteiligung von auswärts betrifft, einen sehr großartigen Verlauf ‒ wenn es nur ohne Unfälle und Dynamitattentate verläuft! Ein von New York eingetroffener Fenier, mit Sprengstoffen versehen, ist bereits verhaftet worden. Bismarck soll sich in Friedrichsruh leidlich wohl befinden und will Berlin möglichst lange, womöglich bis Neujahr, fernbleiben. Er hat kürzlich häufig Morphium genommen, bis Dr. Schweninger es untersagt hat. Dieser ist der erste Arzt, dem er folgt und welcher einige Gewalt über ihn hat. In einem Brief an den großen Pomologen Ladé in Geisenheim hat Bismarck es als einen Traum seiner Jugend bezeichnet, „sich als Greis mit dem Okuliermesser im Garten tätig zu sehen“. Er hat viel Sinn für Einsamkeit und stillen Naturgenuß. 20. Juni. Soeben erzählte Bötticher, welcher mich von der Straße mit zu sich nahm, allerlei Interessantes. 355

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Se. Majestät hat ihm in Antwort auf die Meldung über den erfolgten Schluß des Reichstags in einem längeren Bleistiftschreiben seinen Dank ausgesprochen für die passenden Worte, mit welchen er den Reichstag geschlossen habe. Dann spricht er ferner wiederholt seinen Dank und seine Anerkennung aus für das würdige und gelungene Arrangement der Kieler Feier. Er trage das Unwohlsein, das er sich bei der Gelegenheit zugezogen habe, gern und leicht in der Erinnerung daran. Alles sehr hübsch gefühlt und ausgedrückt. Bötticher hat mit Bergmann neulich eine längere Unterhaltung gehabt über den Kronprinzen, wobei derselbe seine Diagnose über den Fall völlig aufrechterhalten hat. Birchow sei ein Mann des Widerspruchs, und gerade die positive Weise, mit welcher er (Bergmann) seine Meinung geäußert habe, habe jenen veranlaßt, das Gegenteil zu behaupten. Gutartige Wucherungen der Art seien ihm in jener Gegend überhaupt noch nicht vorgekommen u. s. w. Mich überzeugt das noch nicht, und ich bin der Ansicht, der Kronprinz hat recht getan, so wie geschehen zu handeln. Freilich klingt danach die Sache doch sehr bedenklich, da Bergmann unzweifelhaft eine der ersten Autoritäten auf diesem Gebiet ist. Über seine Besuche beim kronprinzlichen Paar hat Bergmann noch merkwürdige Dinge erzählt. Er sei überzeugt, die Kronprinzeß mache sich gar nichts daraus, Kaiserin zu werden, und würde es vorziehen, ihren Privatliebhabereien zu leben. Sie lasse sich von … schlecht behandeln, weil er ihr sympathisch und geistig überlegen sei, möglicherweise von ihr gefürchtet, weil er unangenehme Dinge wisse. Bismarck habe ihr mit Bezug darauf einmal gesagt: „Sie stehe so hoch, daß sie sich um Klatsch und Verleumdung nicht zu kümmern brauche.“ Sie schien jene Andeutungen auch richtig gedeutet zu haben. … sei bei Bergmanns Besuchen der einzige gewesen, welcher einen völlig sorglosen Eindruck zu machen geschienen habe, als wenn alles ihn gar nichts angehe. Nach Bismarcks Ansicht sei der Kronprinz nicht regierungsfähig, wenn stimmlos. Es wird aber jedenfalls auf die Ansicht der Hauptpersonen ankommen und diese sind verfassungsmäßig sicher imstand, die entgegengesetzte Meinung geltend zu machen. Übrigens hat Bismarck amtlich und persönlich stets die Meinung der unbedingten Regierungsfähigkeit aufrechterhalten. Er mag andere Meinungen konversationsweise geäußert haben, um Widerspruch zu provozieren. Die englischen Feierlichkeiten sind sehr glänzend, ohne jede Störung und ohne Zwischenfälle verlaufen. Der Kronprinz hat sich vielfach, auch im Festzug, zu Pferd gezeigt und ist enorm gefeiert worden. Mackenzie soll nach wie vor sehr zuversichtlich auftreten, während die deutschen Ärzte umso pessimistischer sind. 356

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14. Juli. Gestern Bismarck gesprochen, welcher auf der Durchreise nach Varzin hier einige Tage war. Er sah wohl und sonnengebräunt aus, klagte aber über permanenten Gesichtsschmerz, besonders beim Sprechen, Kauen, Gähnen. Kam jedoch sehr in Fluß beim Gespräch über den Kronprinzen. Er habe von sehr weitgreifenden, aber darum nicht ganz zuverlässigen Quellen die Meinung gehört, Mackenzie sei dafür gewonnen worden, die Krankheit des Kronprinzen als eine ungefährliche erscheinen zu lassen. Für die englische Politik sei die Meinung, der Kronprinz werde einst eine russenfeindliche und innerlich liberale Politik machen, von einer unschätzbaren Bedeutung, und darum erhielt man diese Meinung aufrecht. Auch am russischen Hof sei dieselbe vertreten. Übrigens irre man sich in dieser Beurteilung des Kronprinzen. Der Kronprinz habe ihm noch jetzt vor seiner Abreise nach England in Gegenwart der Kronprinzeß erklärt, er wünsche ihn als leitenden Minister zu behalten im Falle des Thronwechsels. Bismarck hat darauf geantwortet: Das könne nur sein, wenn er eine deutsche und nicht eine fremde (englische) Politik machen wolle. Die Kronprinzeß sei keine Katharina II., ebenso wenig wie der Kronprinz ein Peter III. Sie sei in erster Linie „feige“, sie wolle populär sein, in der Konversation glänzen, habe aber keinen eigentlichen Ehrgeiz, zu herrschen. Sie habe künstlerische Neigungen und werde in der Richtung suchen, tätig zu sein. Sie wolle liberal erscheinen, Leute durch Paradoxen in Verlegenheit setzen, aber mehr nicht. Sie habe ihm einmal vor zirka zwanzig Jahren gesagt, er möchte wohl König oder Präsident einer Republik sein. Der preußische Adel diene, weil er arm sei, in Birmingham existiere allein mehr silbernes Tafelgerät wie in ganz Preußen u. s. w. Er habe ihr ruhig geantwortet: Gewiß sei England viel reicher als Preußen, dafür hätte dieses aber manche andere sehr wertvolle Eigenschaften. In Deutschland liege die Gefahr einer Republik noch weit, vielleicht würden sie unsere Kinder oder Enkel erleben ‒ aber nur dann, wenn die Monarchie sich selbst aufgebe. Die Prinzessin sei bei ihrem Kommen nicht feindlich ausgenommen worden, habe aber eine gewisse Überhebung und Abneigung gegen deutsches Wesen gezeigt, welche ihr geschadet haben. Nachher war ich bei Friedberg, welcher von Radolin einen Brief hatte, wonach die Stimme sich wieder einfindet und eine entschiedene Besserung eingetreten sei. Dr. Mackenzie wolle ihn selbst einige Zeit nicht sehen und habe ihn nach der Insel Wight geschickt. Alles sei jetzt hoffnungsvoll. Goßler erzählte: Die Armee sei skandalisiert darüber, daß der Kronprinz vor dem Wagen der Königin in dem Festzug geritten sei neben dem Battenberger und dem Marquis of Lome und sich mit Achselschleifen habe 357

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photographieren lassen. Die Prinzeß habe große Baupläne, am großen Stern soll ein großes Schloß im Bellevuepark gebaut werden, während das alte als Kavalierhaus stehen bleiben solle. Sie werde jeden Türdrücker selbst zeichnen. Bei Gelegenheit der Einweihung der neuen englischen Kapelle habe er eine lange Konversation über kirchliche Fragen mit ihr gehabt, wobei der Kronprinz die Hände über den Kopf zusammengeschlagen und gesagt habe: „Das ist ja die reine Inquisition!“ Diese Unterhaltung habe das nützliche Ergebnis gehabt, daß sie sich als zur evangelischen Landeskirche gehörig bezeichnet habe. 13. Juli. Mit Schlözer diniert, welcher viel Interessantes über Rom erzählte. Niemand hier versteht die dortigen Verhältnisse, auch Bismarck habe damals im Zorn den Kulturkampf angefangen und seine Bedeutung völlig unterschätzt. Er habe damals selbst die Bulle de salute animarum außer Kraft setzen wollen. Die römischen Prälaten seien große Klatscher, hielten, zumal nach außen, das Dekorum stets aufrecht und vergäßen sich vor Fremden nie. Der Papst sei von der konservativen Bedeutung seines Bundes mit Deutschland überzeugt und setze proprio motu gegen den Widerstand der Jesuiten seinen Willen durch. Die Letzteren seien reicher wie wir, also im Geldspenden uns auch überlegen. Der Papst sei sittenstreng und spreche sein „molto dispiace“ öfter darüber aus, daß Signorinas im Vatikan verkehrten. Er lasse ihn oft rufen, um ihm diese und jene Erklärung zu geben und künftige Intentionen anzukündigen. Später sah ich Bismarck an der Station auf der Durchreise nach Kissingen. Er hatte am Abend anderthalb Stunden bei Sr. Majestät zugebracht und ihn munter und völlig au fait gefunden. Er war rückwärts hingefallen, als er sich an einen Tisch lehnte, welcher fortrollte, und hat sich kontusioniert, scherze aber darüber. Über sein Zusammentreffen mit dem Kaiser von Österreich habe er ihm einen seitenlangen Brief geschrieben, klar und präzis und die Hauptsachen wiedergebend, besser wie mancher Botschafter. Über das Befinden des Kronprinzen seien die Berichte verschieden. Hatzfeldt finde die Stimme wenig vernehmlich und schwach, das Allgemeinbefinden sei gut. 15. August. Vortrag in Babelsberg, wobei es sich um die Ernennung des Grafen Lehndorff zum Oberlandstallmeister und Rat erster Klasse handelte. ‒ Se. Majestät wünschte mir gute Reise nach England und erzählte von seinem eigenen Aufenthalt dort, besonders von der Insel Wight, von deren schönen Parks und Rasen er mit Bewunderung sprach. Bei uns habe sein Bruder Prinz Karl diese Pflege und Liebhaberei eingeführt. 18. August. Friedberg, welcher von seiner gewöhnlichen Kur in Ems ganz erfrischt zurückkam, brachte die letzten Nachrichten über das Befinden des 358

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Kronprinzen. Es habe sich wieder ein Wachsen der Wucherung gezeigt, welche durch Kauterisieren beseitigt worden sei. Mackenzie sei von der Gutartigkeit des Übels völlig überzeugt und vom Gang der Behandlung befriedigt. Der Kronprinz dürfe eine Viertelstunde laut sprechen, er würde wahrscheinlich den Winter nach Tirol gehen, was wohl Italien heiße. Windthorst sei in Ems ein ganz gebrochener Mann gewesen, fühle sich durch den kirchlichen Frieden ganz in die Ecke gestellt und sei jetzt auch weniger von Bewunderern umgeben und gefeiert worden wie in früheren Zeiten. Er hat also das Spiel gegen Bismarck verloren oder empfindet es wenigstens so. 20. August. In London Hatzfeldt gesprochen, welcher sich nicht ungünstig über das Befinden des Kronprinzen äußert. Er habe „ups“ und „downs“, aber Dr. Mackenzie sei, nachdem der letzte Rückfall überwunden, sehr zufrieden. Der Kronprinz fühle sich ganz wohl, spreche aber mehr, als erlaubt sei. 10. Oktober wieder in Berlin. Mit Rottenburg die Frage der Erhöhung der Getreidezölle besprochen. Bismarck sei zwar über die agrarische Begehrlichkeit stutzig geworden, werde es auch den Nationalliberalen nicht übelnehmen, wenn sie dagegenstimmten, ist aber einverstanden, daß man sie bringen müsse. Ebenso ist es ihm recht, sich auf die Erhöhung der Getreide- und Holzzölle zu beschränken. Damit wäre meine bei Besprechung der minni­gerodeschen Anträge gegebene Erklärung eingelöst und alles korrekt. Das Reichsschatzamt ist mit den nötigen Vorbereitungen beauftragt unter möglichster Geheimhaltung. 24. Oktober. Diner bei Sr. Majestät ‒ alle Minister und die kommandierenden Generale. Maybach links, Pape rechts von Sr. Majestät, ich ihm gegenüber, rechts von Perponcher. Se. Majestät fragte, wo ich gewesen sei, und ließ sich vom Aufenthalt der Kaiserin von Österreich in Cromer erzählen. Lachte über ihre exzentrische Lebensweise und meinte, das könnten wenig Leute vertragen, dreimal an einem Tage eine halbe Stunde lang in der See zu baden. Bei ihm sei der Arzt immer mit der Uhr in der Hand am Ufer gestanden und habe ihn herausgerufen. Einmal sei er ohnmächtig geworden, weil er zu lange geblieben sei. ‒ In Frankreich wolle man jetzt einen Zivi­listen zum Kriegsminister machen, wozu ich bemerkte: „und diese Zivilisten sind nicht einmal Landwehrmajore“, was ihn sehr amüsierte. Er war überhaupt sehr munter und geistig frisch. Sprach von Provinzialsynode und Landtag, über die Kunstausstellung. Daß auch Maybach gedient habe, freute ihn sehr. Über das Befinden des Kronprinzen sprach Se. Majestät nicht. Graf Perponcher bemerkte aber: Er wisse zwar auch nicht mehr wie andere Leute, 359

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aber nach der Meinung der Berliner Ärzte sei er überzeugt, die Sache sei bösartig und der Kronprinz habe nur noch bis nächsten Juni längstens zu leben. (Ein Ausspruch, der leider sich völlig und wörtlich bewahrheitet hat. Kaiser Friedrich starb am 15. Juni.) Ich zweifle, daß Perponcher recht hat, die Äußerung bezeichnet aber die Stimmung und Ansicht der Hofkreise. Der Kabinettsrat Wilmowski erzählte: Man habe die Trennung des Kronprinzen von seiner Familie empfohlen, worin die Kaiserin zugestimmt habe. Allein die Großherzogin von Baden habe gesagt: „Das tut Fritz nicht und hält es auch nicht aus.“ Die Stimmung über Mackenzie ist in hiesigen Hofkreisen nicht günstig. Als Sr. Majestät Herr von Levetzow als Vorsitzender der Märkischen Provinzialsynode bezeichnet wurde, der frühere Präsident des Reichstags, meinte er sich erinnernd: „Ach der, der in der alten Landwehruniform bei der Grundsteinlegung des Reichstagsbaus erschien!“ Er hatte sich nicht einmal eine neue dazu machen lassen. 27. Oktober. Se. Majestät ist zur Jagd zum Grafen Stolberg nach Wernigerode gefahren und hat da 26 Stück Hochwild geschossen. Wetter dabei klar, kalt und windig. Graf Stolberg erzählte nachher verschiedene hübsche freundliche Züge von diesem Besuch. Seine Dankbarkeit für das Gebotene, das unbedingte Fügen in alle getroffenen Arrangements, seine große Einfachheit und Anspruchslosigkeit wußte er nicht genug zu rühmen. Gegen die Überlassung der eigenen, sonst von den gräflichen Herrschaften bewohnten Räume hatte er mild protestiert, nahm es aber doch an und bekannte beim Weggehen: „Es ist doch angenehm, daß ich keine Treppe mehr zu steigen habe.“ ‒ Beim Zubettgehen fragte der Lakai, wann er wecken solle? „Acht Uhr.“ „Morgen ist Rasiertag.“ ‒ „Braucht nicht zu sein, der Barbier ist ja auch gar nicht hier.“ ‒ „Doch, Majestät.“ ‒ „Das habe ich nicht befohlen und hätte nicht geschehen sollen. Der Graf hat sein Haus so schon voll genug.“ Zur Jagd in der Schorfheide erschien Se. Majestät nicht, sondern Prinz Wilhelm machte die Honneurs. Er wünschte, der Ankauf der Schmalkalder Forste vom Herzog von Gotha werde perfekt, das sei etwas für ihn. Vom Kronprinz lauten die Nachrichten günstiger, das Allgemeinbefinden sei gut und neue Wucherungen hätten sich nicht gebildet. Er hat einen zehn Seiten langen Brief an den Justizminister gerichtet, vom 18. Oktober, seinem Geburtstag, datiert, und die Besorgnis ausgesprochen, das Zivilgesetzbuch werde zu früh für seine Regierungszeit zustande kommen. Friedberg hat mit dem Hinweis geantwortet, daß hierüber sicher noch zwei bis drei Jahre hingehen würden. 360

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Die Kreuzzeitung bringt wütende Ausfälle gegen den Staatsmann, welcher der leidenden Landwirtschaft die Hilfe der Getreidezölle versage. 7. November. Unseren höchsten Herrschaften geht es nicht gut. Die Kaiserin soll ganz hinfällig sein, phantasieren und das Schlimmste befürchten lassen. Se. Majestät hat eine mehrtägige Attacke seines Blasensteinleidens gehabt, erholt sich nur langsam und das Gehen und Stehen wird ihm immer schwerer. Der Kronprinz, welcher sich eben in Baveno erholt hatte von der in dem kalten, schattigen Toblach erworbenen Halsentzündung, soll sich neuerlich auch wieder weniger wohl befinden. Er hat jetzt überhaupt keinen zuverlässigen Arzt bei sich. Die ganze Pflege ist in den Händen der Frau Kronprinzeß. Man spricht viel von den in dieser Beziehung in bester Absicht, aber in verkehrter Weise getroffenen Dispositionen. Der Besuch des Zaren auf seiner Reise von Kopenhagen nach St. Petersburg ist nun offiziell angekündigt und wird zirka den 20. stattfinden. 9. November. Prinz Wilhelm ist nach San Remo gereist, wo Dr. Mackenzie schon seit einigen Tagen ist. Ebenso sind Dr. Schrötter aus Wien, Krause von hier, Moritz Schmidt aus Frankfurt a. M. dahin gereist zu gemeinsamer Konsultation. Es sind neue Wucherungen tief im Kehlkopf konstatiert, deren Charakter noch nicht festgestellt ist, welche aber wahrscheinlich einen gefährlichen operativen Eingriff erfordern. Das ist eine sehr ernste Wendung der Dinge. Es ist demnach große Lebensgefahr vorhanden und im günstigsten Falle gänzlicher Verlust der Stimme zu befürchten. Der arme Herr! Dabei ist der Kaiser sehr hinfällig, erholt sich äußerst langsam und die Kaiserin scheint sterbend. Welche schweren Ereignisse können sich demnach in den nächsten Wochen vollziehen! Über den Besuch des Zaren verlautet nichts Neues ‒ er wird wohl in den nächsten Wochen stattfinden, wenn keine neuen Zwischenfälle eintreten. Prinz Wilhelm scheint die Mission zu haben, den Kronprinzen nach Hause zu geleiten, um, wenn nötig, die Operation hier vornehmen zu lassen. In diesem Sinne wenigstens soll er sich geäußert haben. 10. November. Vom Kronprinzen lauten die Nachrichten sehr ernst. Die Ärzte sollen ihn auf die Bedenklichkeit seines Zustandes aufmerksam gemacht haben. Er habe Abschiedsbriefe an den Kaiser und die Kaiserin gerichtet. Die Mitteilung über seinen gefährlichen Zustand hat er mit großer Fassung, ja mit Heldenmut entgegengenommen. So erzählte der Justizminister. ‒ Die Telegramme über den ungünstigen Befund sind sofort an die Majestäten und an Fürst Bismarck gerichtet worden. 361

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Die Morgenblätter (Tageblatt, Börsencourier etc.) enthalten einen Bericht über einen Vortrag, welchen Professor Stoerk in Wien gehalten hat, worin er den Dr. Mackenzie geradezu als Schuldigen für den üblen Ausgang hinstellt. Der bösartige Charakter der Neubildung sei erst durch die falsche Behandlung Mackenzies verursacht! Alle Ärzte sind außer sich über die planlose Nachbehandlung, über die Schlepperei des Patienten von einem unpassenden Ort zum anderen und über die Geheimnistuerei. Es fallen sehr harte Urteile über ‒ ‒ ‒ ‒. 11. November. Heute sind von San Remo nur Nachrichten eingegangen, welche den Status quo von gestern bestätigen. Die im Kehlkopf vorhandene Schwellung verhindere die genaue Untersuchung und müsse beseitigt sein, ehe über die Zulässigkeit einer Operation Entscheidung getroffen werden könne. Die Stimmung des Kronprinzen selbst und sein Allgemeinbefinden lasse nichts zu wünschen übrig. Generalarzt Leuthold hatte eine Depesche zur Besprechung des Inhalts mit Professor von Bergmann erhalten, welche sehr ernst lautete. 12. November. Heute wird im Reichsanzeiger konstatiert, daß das Leiden des Kronprinzen karzinomatischer Natur sei. Eine Operation wird nicht versucht, weil der Kronprinz sie nicht will und weil es wahrscheinlich schon zu spät sei. Die Drüsen sind geschwollen und im Kehlkopf ist Entzündung. Die Rückreise nach hierher soll angetreten werden, nachdem der Zar passiert ist, was am 18. geschehen soll. Es kann nun nur noch Wochen, höchstens Monate dauern und man kann dem armen Herrn nur noch ein leichtes Ende wünschen. Eine Regentengestalt edelster Art, mit den besten Intentionen, und nun dieses Ende! Am 18. Oktober ist er sechsundfünfzig Jahre alt geworden. 14. November. Prinz Wilhelm ist heute früh zurückgekommen und hat für 8 ¾ Uhr vormittags den Justizminister und die Generale Mischke und Hahnke zu sich aufs Schloß beschieden, um ihnen die Grüße des Kronprinzen zu übermitteln und über seinen Befund zu berichten. Die Kronprinzeß habe ihn bei seiner Ankunft in San Remo auf der Treppe abweisen wollen, was sein Vater, auf der Veranda stehend, von ihr ungesehen, lächelnd beobachtet habe. Professor Schrötter, ein Mann von einer brutalen Offenheit und Sicherheit, sei beauftragt gewesen, dem Kronprinzen das Resultat der ärztlichen Konsultation mitzuteilen. Er habe dem Prinzen geradezu gesagt: „Sie haben den Krebs! Eine Operation kann noch gemacht werden, aber ihr Ausgang ist zweifelhaft. Also muß der Wille des Patienten entscheiden.“ Der Kronprinz, welcher ganz stimmlos sei, habe sich hierauf in ein Nebenzimmer zurückgezogen und habe dann schriftlich erklärt: „Ich wünsche 362

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keine Operation.“ Dr. Schmidt sei gestern in Berlin angekommen und habe beim Hausminister Graf Stolberg einen Status seines Befundes niedergelegt. Der Kaiser hat den Prinzen Wilhelm auf heute 1 Uhr zu sich befohlen und sei durch den bevorstehenden Besuch des Zaren sehr präokkupiert. Die Kaiserin, sehr leidend, werde nur mit Mühe in Koblenz zurückgehalten; wenn sie komme, verliere der Kaiser die wenige Ruhe, welche er sich jetzt gönnen könne, sagte Prinz Wilhelm. Die Frau Kronprinzeß wolle in Italien bleiben. Bei dem hohen Alter und der Hinfälligkeit des Kaisers können in Abwesenheit des Thronfolgers, welcher der verfassungsmäßige Vertreter des Souveräns ist, schwierige staatsrechtliche Fragen auftauchen, und darum hält man seine Rückkehr hierher für geboten, selbst wenn es für die Gesundheit nicht ratsam wäre. Auch die letztwilligen Verfügungen Sr. Majestät bedürfen der Zustimmung des Thronfolgers, welcher auch in diesem Fall souverän in seinen Entschließungen ist. Die Kronprinzeß glaubt selbst noch nicht an den Ernst der Krankheit oder gibt sich wenigstens den Anschein. So hat sie ihren Töchtern noch keine Mitteilung über den Zustand des Vaters gemacht. Sie ähnelt darin ihrer Mama, der Queen, welche am Morgen des Todestags ihres Gemahls, des Prinzen Albert, hierher telegraphiert hat: „Prinz Albert sei gar nicht ernstlich krank, e s s e i P i m p e l e i .“ Graf E. kenne den Wortlaut dieses Telegramms. Sie sei dann ausgefahren und habe bei der Rückkehr den Prinzen Albert tot gefunden. 16. November. Fürst Bismarck ist „auf. Befehl Sr. Majestät“ nach Berlin gekommen, wie in der Zeitung steht. Als ich heute Nachmittag zu ihm ging, traf ich Prinz Wilhelm vor der Tür, welcher mir die Hand gab und Grüße vom Kronprinzen bestellte. „Ihn hätte das nicht überrascht, er habe schon lange Schlimmes befürchtet.“ Der Kronprinz bleibe den Winter in Italien. Prinz Wilhelm hatte mit dem Kanzler wegen des Besuchs des Zaren gesprochen. Eben erhielt ich ein Schriftstück aus San Remo, vom 10. November gezeichnet; die Handschrift ist verändert, aber fest. 17. November. Eben ist eine Order Sr. Majestät, gezeichnet Bismarck, an das Staatsministerium in Umlauf gesetzt, worin die Vertretung des Kaisers in Behinderungsfällen und in Rücksicht auf den schwankenden Gesundheitszustand Sr. Majestät und auf die entfernte Abwesenheit des Kronprinzen ‒ dem Prinzen Wilhelm übertragen wird. Die Sache ist ohne vorgängige Beratung des Staatsministerii ‒ aber wie ich annehme, mit Vorwissen des Kronprinzen gemacht. Ob die Publikation erfolgen soll, ist noch vorbehalten. Morgen kommt der Zar. 363

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19. November. Der Besuch des Zaren ist programmmäßig verlaufen, kam 10 ½ Uhr vormittags und reiste 9 ½ Uhr nachmittags weiter. Zum Galadiner waren die Minister nicht befohlen. Bismarck sprach den Zaren über eine Stunde und soll bald wieder abreisen. Die Stellvertretungsorder ist ohne Wissen des Kronprinzen und ohne Rücksprache mit dem Justizminister vollzogen ‒ aber noch nicht publiziert worden. Der Justizminister fand die Sache an sich motiviert. Er hat Abschrift genommen und wies darauf hin, daß es sich um eine besondere Art der Stellvertretung handle, wo in jedem einzelnen Fall der Auftrag von dem Vollmachtgeber erfolgen oder auch generell für gewisse Kategorien von Regentenakten gegeben werden könne ‒ zum Beispiel Zeichnung von Offizierspatenten, Beamtenernennungen, Eröffnung des Reichstags und dergleichen mehr. In der am selben Tage stattfindenden Sitzung des Staatsministeriums erzählte Bismarck den Ursprung der Stellvertretungsorder, welche den Kronprinzen verschnupfen würde; sie sei ihm vorgestern durch Feldjäger mitgeteilt worden. Das Militärkabinett habe auf die Notwendigkeit hingewiesen, Se. Majestät von den vielen Unterschriften zu entlasten. Es beunruhige ihn, sie unerledigt zu wissen, und veranlasse ihn, noch halb unwohl, früher aufzustehen, um sie zu leisten. Er habe erst einen an das Staatsministerium gerichteten Entwurf bei Sr. Majestät mit Bleistift gemacht, ihn dann geändert, so unbestimmt gefaßt wieder vorgelegt. Darauf habe ihn Se. Majestät vollzogen, bemerkend, es seien entsprechende Orders an die Kabinette und an das Hausministerium zu richten, das sei dann geschehen. Mit dem Zaren habe er eine anderthalbstündige Konversation gehabt. Durch seinen viermonatlichen Aufenthalt in Dänemark in ganz welfischer Umgebung, die Königin Luise an der Spitze ‒ sei dieser sehr gegen ihn (Bismarck) eingenommen worden und habe gesagt, seinen alten Großonkel wolle er wohl besuchen, aber ihn (Bismarck) nicht sehen. Man habe ihm unter Vorlegung von Falsifikaten eingeredet, Deutschland habe die Kandidatur des Koburgers in Bulgarien begünstigt, sogar gemacht. Er (Bismarck) habe ihm aber bewiesen, daß er vielmehr auf einen bezüglichen Brief des Herzogs von Koburg das Gegenteil getan und als im höchsten Maß unerwünscht bezeichnet habe, daß überhaupt ein deutscher Prinz dorthin ginge. Er stehe auf dem Boden der für Rußland günstigen Verträge. Es werde Deutschland durch die Haltung der russischen Presse und der Generale schwer gemacht, freundlich zu sein. Er müsse mit aller Offenheit reden (wobei der Zar „avec un rire jaune“ gesagt habe „allez ‒ allez“), es würde 364

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ein Mangel an Respekt vor der russischen Macht sein, wenn sich Deutschland nicht überall nach Alliierten umsähe gegenüber der feindlichen Haltung Rußlands. Der Vertrag mit Italien sei alt, darin habe Crispis Besuch gar keinen Unterschied gemacht. Wenn man wisse, was der russische Kaiser i h m sagte: er werde Deutschland nicht angreifen, so sei der Frieden gesichert. Der Zar habe eine Allianz mit Frankreich et avec cet animal, dem Boulanger, weit von sich gewiesen, aber auf die Österreicher geschimpft. Bismarck hat dem Zaren den geheimen Vertrag mit Österreich mitgeteilt, wonach wir verpflichtet seien, Österreich beizustehen, wenn es von Rußland angegriffen werde. Österreich und Rußland „zerchten“ sich wie der General Grumbkow und Barfus zur Zeit der strengen Duellgesetze Friedrich Wilhelms I., die bis zu Tätlichkeiten mit den Stöcken gegangen seien, um den anderen zu zwingen, den Degen zu ziehen. Der Zar habe ihm versprochen, für Ordnung in der Presse zu sorgen, wenn er zurückkäme. Er habe die ganze Zeit eine Zigarette nach der anderen geraucht, ihm wiederholt freundlich die Hand gegeben, auch bei Tisch zugetrunken. Dummerweise sei er nicht dem Zaren gegenübergesetzt worden, wie sein Recht bei einem politischen Diner sei, sondern habe den dreizehnten Platz links vom Kaiser unter den Fürstlichkeiten erhalten. Er habe erst weggehen wollen, wie man ihm das gesagt habe. Man habe dagegen die Fürstin in die Nähe des Zaren gesetzt, was Unsinn sei. Vielleicht habe der Zar bemerken sollen, daß Stolberg noch keinen russischen Orden habe. Das hätte er ihm in fünf Minuten besorgen können. Über den Kronprinzen sprach Bismarck kein Wort, er rechnet offenbar schon nicht mehr mit ihm. „Friedrich II. sei mit achtundzwanzig Jahren zur Regierung gekommen, also im Alter des Prinzen Wilhelm, der Große Kurfürst mit zwanzig Jahren, Friedrich Wilhelm III. mit siebenundzwanzig Jahren.“ Wenn der Kaiser uns genommen würde, so sei der Kronprinz eo ipso Kaiser. Freilich könne ein Vakuum von einigen Tagen eintreten, wo die jetzigen Minister nur als negotiorum gestores ihr Amt führen würden. Weiter reiche also die Stellvertretungsorder auch nicht.“ Bismarck will in den nächsten Tagen wieder abreisen, er habe infolge der Kissinger Kur starke Blutabgänge gehabt, drei Wochen lang, was aber Dr. Schweninger gewünscht habe. Er fühle sich kaputt und schlafe nur mit Opium, die letzten drei Tage seien auch für ihn zu viel gewesen. Bismarck erzählte, er habe schon von Friedrichsruh aus Sr. Majestät als Gegenstand der Unterhaltung mit dem Zaren neun Seiten Französisch unterbreitet. Davon habe auch Se. Majestät Gebrauch gemacht und ihm noch 365

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außerdem gesagt: Die Zügellosigkeit der Presse habe bei uns die Wirren des Jahres 1848 herbeigeführt. Friedrich Wilhelm IV. sei in der Beziehung zu nachsichtig gewesen, habe Konzessionen gemacht und das Resultat seien die Märztage gewesen. Das habe, wie er glaube, einigen Eindruck auf den Zaren gemacht. Ein neuer Beweis der Klarheit und Umsicht unseres Herrn. Bismarck will noch einen die auswärtige Politik betreffenden Schlußpassus für die Thronrede entwerfen, die ihm einige Schwierigkeiten macht, weil er in seinen Friedenshoffnungen doch auch nicht zu zuversichtlich scheinen will. ‒ Die Stellvertretungsangelegenheit steht bereits in der Kreuzzeitung. 24. November. Der Reichstag ist soeben durch Bötticher eröffnet worden mit einer Thronrede, von welcher nur der die auswärtige Politik betreffende Schlußpassus mit Beifall begleitet wurde. Es wird darin der friedliche Charakter der Bestrebungen des Deutschen Reichs betont sowie die christliche Abneigung, Nachbarvölker mit Krieg zu überfallen. Sonst wird der Wunsch, nicht aber die Sicherheit der Erhaltung des Friedens betont. Bismarck hat inzwischen seinem Ingrimm über das falsche Placement beim Galadiner freien Ausdruck gegeben und durch die Kölnische Zeitung verkünden lassen, er sei beim Zaren bezüglich seiner bulgarischen Politik verleumdet worden, man habe demselben gefälschte Depeschen, welche zwischen ihm (Bismarck) und den Botschaftern gewechselt sein sollten, vorgelegt und dergleichen mehr. Auch die Insinuation wird ausgesprochen, daß eine kleine, aber einflußreiche Partei dem Zaren zu verstehen gebe, die bismarcksche antirussische Politik habe gar nicht die Zustimmung des Kaisers. Diese letzte Insinuation wird jetzt vielfach diskutiert und gedeutet als gegen die Frau Kronprinzeß gerichtet. Bismarck ist nach Friedrichsruh zurückgegangen. Die Erhöhung der Getreidezölle kommt in etwa acht Tagen zur Diskussion. Die Thronrede enthält einen kräftigen, sie betreffenden Satz. 27. November. Der Justizminister erhielt einen langen eigenhändigen Brief vom Kronprinzen, worin er über sein Befinden sehr Günstiges berichtet und von einer Rückbildung des Leidens spricht. Sehr gefaßt und gerührt von der allgemeinen „ehrlichen“ Teilnahme. Dagegen ist er sehr verletzt, daß die Stellvertretung des Prinzen Wilhelm eingesetzt worden sei, ohne daß er davon vorher unterrichtet respektive gefragt worden sei. Er sei doch nicht blödsinnig oder indispositionsfähig. Er würde ja seine Zustimmung zu diesem Schritt ohne Weiteres gegeben haben u. s. w. Er hat in dieser Beziehung völlig recht und mein erster Eindruck bei der Mitteilung der Stellvertretungsorder war auch, daß es eine große Rücksichts366

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losigkeit gegen den Kronprinzen und gegen das Staatsministerium war, so ohne alle vorherige Verständigung über die Notwendigkeit des Schrittes zu prozedieren. 3. Dezember. Gestern und vorgestern Getreidezolldiskussion im Reichstag, welche ziemlich ruhig und sachlich verlief. Da die Annahme wohl sicher ist ‒ vielleicht mit etwas reduzierten Sätzen ‒, so echauffieren sich die Herren nicht besonders. Dabei geht ein Intrigenspiel vor zwischen Freunden und Feinden der Vorlage. Windthorst-Bennigsen sind einig, sie zu Fall zu bringen, und Mirbach-Kardorff suchen die Identitäts- und Goldwährungsfrage dabei anzubringen. Manchen angeblichen Freunden scheint die Sache inopportun und sie würden zufrieden sein, sie in der Kommission stecken zu lassen. Ich hatte die Vorlage in Vertretung des erkranken Reichsschatzsekretärs Jacoby allein zu vertreten und tat das in ausführlicher, objektiver Weise unter Beifall der Mehrheit. Von San Remo lauten die Nachrichten sehr gut, sowohl über den Stand des örtlichen Leidens wie über das Allgemeinbefinden. Die Kronprinzeß soll überzeugt sein, daß der Kronprinz sich in voller Rekonvaleszenz befinde. Ebenso erwidert er Beileidsadressen im selben Sinn. Er soll aber doch oft ernst und trübe gestimmt sein. 4. Dezember. Bergmann beklagt sich über die Frau Kronprinzeß, welche den zur eventuellen Vornahme der Tracheotomie abgesandten Dr. Bramann loszuwerden versuche ‒ man beunruhige mit dieser und anderen Maßregeln den Kronprinzen. Bergmann hat aber Bramann dahin instruiert, unter allen Umständen wie ein Soldat auf dem ihm angewiesenen Posten zu bleiben. Er habe sich nicht aufzudrängen, aber mit seinen dortigen Kollegen Fühlung zu halten und zur Stelle zu sein, sobald er requiriert werde. Der Kronprinz habe ihn einmal zu Tisch geladen und den Hals von freien Stücken gezeigt, auch sich sonst von ihm wiederholt untersuchen lassen. Dr. Bramann meine die Spuren des fortschreitenden Übels auch schon von außen fühlen zu können. Es sei möglich, daß sich der Kronprinz noch sechs bis acht Monate relativ wohl fühle, das sei beim Krebs sogar meist der Fall. Dieses Leiden sei überhaupt schon meist jahrelang vorhanden, ehe es der Patient oder der Arzt entdecke. Nur bei den im Auge, Brust und Hals vorkommenden Arten des Karzinoms sei der Arzt öfters in der Lage, das Übel frühzeitig zu entdecken und dann auch mit bestem Erfolg operieren zu können. An allen sonstigen Körperteilen merke man die Sache erst zu spät, um rechtzeitig handeln zu können. In dieser interessanten Äußerung Bergmanns lag auch die Motivierung seines früheren Auftretens in der Sache. Er wollte sofort operieren und damit die völlige Heilung sichern, soweit das der menschlichen Kunst 367

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möglich ist. Er hat aber damals zugleich selbst die Zuziehung der ersten Spezialisten empfohlen, Schrötter-Wien, Mackenzie-London und eines französischen Arzts. 9. Dezember. Gestern zur Jagd in Spandau, wo Prinz Wilhelm die Honneurs für seinen Vater machte. Prinz Ludwig von Bayern anwesend, sehr munter und gesprächig, gewagte Jagdscherze erzählend und con gusto hörend. Für die Erhöhung der Getreidezölle war er offenbar nicht, hätte lieber die Aufrechterhaltung des jetzigen Zustandes gesehen, besonders auch hinsichtlich der Forderung des Identitätsnachweises. Er ist übrigens ein hochgebildeter Mann, welcher sich gerade mit landwirtschaftlichen Fragen eingehend und mit großem Verständnis beschäftigt hat. Prinz Wilhelm schien die Sache ähnlich anzusehen. Ich deutete an, daß es sich möglicherweise nur um eine gegen Rußland gerichtete Maßregel handle, welche man jederzeit wieder aufgeben und dann zugleich als Kompensationsobjekt benutzen könne, um von dort Konzessionen zu erhalten. Es war ein sehr schöner Jagdtag, wie ich ihn manches Mal mit dem Kronprinzen da mitgemacht hatte. Es werden jetzt lebhafte Versuche gemacht, den Prinzen Wilhelm in das hochkonservative und orthodoxe Lager zu ziehen, welches Bismarck sehr scharf verurteilt und mißbilligt. Was lange Röcke trage (Frauen, Pfaffen, Richter), tauge nichts in der Politik, und wer diese Richtung begünstige, mit dem sei das Tischtuch zerschnitten. Stöcker müsse sich vom Prinzen und von der Politik zurückziehen. Der Prinz Wilhelm habe die reaktionärsten Anwandlungen und wolle zum Beispiel den Juden verbieten, in der Presse tätig zu sein. Er werde in die bedenklichsten Konflikte geraten und müsse einen vernünftigen Ziviladlatus erhalten, welcher ihn gehörig informiere und beeinflusse. 11. Dezember. Die Zeitungen enthalten ein Schreiben vom Kronprinzen an Hintzpeter, worin er die Hoffnung auf völlige Genesung, das vollste Vertrauen auf die ihn behandelnden Ärzte und rührende Dankbarkeit ausspricht für die Beweise von Teilnahme und von Vertrauen auf seinen Charakter. 18. Dezember. Gestern ist die Zollvorlage in dritter Lesung unter Erhö­ hung des Haferzolls auf vier Mark angenommen worden und damit endgültig für längere Zeit zur Ruhe gebracht, obschon die agrarischen Heißsporne neue Wunschzettel angekündigt haben. Der Landtag tritt Mitte Januar zusammen und außer dem sehr befriedigenden Etat habe ich ihm keine weiteren Vorlagen zu machen. Zum Tee bei den Majestäten. Beide überraschend frisch, begrüßten mich sehr herzlich. Er schüttelte mir lange die Hand und bedauerte, mich so lange nicht gesehen zu haben. Der Großherzog von Baden sprach über das Be368

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finden des Kronprinzen sehr beruhigt, dagegen über die äußere Lage sehr ernst. Es werde in den nächsten Tagen eine Manifestation erfolgen Rußland gegenüber auf Grund eines Kriegsrats, welcher am 17. stattgefunden habe. Die Österreicher hätten zu wenig Selbstvertrauen und verlangten in allem Direktiven von hier. 25. Dezember. Über die Beteiligung des Prinzen Wilhelm an einer beim Grafen Waldersee stattgehabten Versammlung zu Gunsten der Stadtmission, an deren Spitze Stöcker steht, hat sich eine große Zeitungspolemik erhoben. Die Kreuzzeitung hat versucht, den Prinzen Wilhelm damit ins christlich-soziale Lager zu ziehen, während in liberalen Kreisen eine förmliche Bestürzung über diese Stellungnahme des Prinzen sich zeigt. Bismarck ist wütend über diese Beteiligung gewesen und hat es auch direkt oder durch den Grafen Herbert dem Prinzen zu erkennen gegeben. Ebenso hat die Kaiserin sich mißbilligend darüber geäußert, was ihrem politischen Takt alle Ehre macht. Auch der Kronprinz ist wund darüber und hat es in einem an Friedberg gerichteten Brief ganz offen ausgesprochen. Diese verschiedenen Äußerungen sickern nun in der Presse durch. Die des Kronprinzen in der fortschrittlichen, die des Kanzlers in der Post und der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung. Es wird darin gesagt: Es betrübe den Kronprinzen, daß in dieser schweren Zeit sich Persönlichkeiten und Einflüsse an den Prinzen Wilhelm herandrängten, welche ihm im Grunde der Seele zuwider seien. Jetzt schreibt nun das Deutsche Tageblatt: Prinz Wilhelm sei sich völlig bewußt, daß er als künftiger Thronfolger keiner Partei angehören dürfe. Er sei kein Antisemit. Das stimmt zwar zu seinen sonstigen Äußerungen nicht, aber es ist gut, daß er eine solche Kundgebung veranlaßt hat. In Letzlingen hat er selbst Puttkamer mit der Äußerung chokiert: „Wenn er einmal dran komme, werde er nicht dulden, daß Juden in der Presse tätig seien!“ Auf Puttkamers Bemerkung: Das sei wegen der geltenden Gewerbeordnung nicht zu verhindern: „Dann schaffen wir die ab.“ Bötticher hat die Idee, dem Prinzen in Herrfurth einen Ziviladlatus zu geben, welcher ihn regelmäßig unterrichten und in Zivilangelegenheiten beraten solle. Das wäre, ordentlich durchgeführt, eine sehr gute Schule. Für einen künftigen Thronfolger hat Prinz Wilhelm zu lange in den beschränken Ideen und dem Anschauungskreis der Potsdamer Gardeleutnants gelebt. Übrigens ist er so begabt und tüchtig, daß er vermutlich nach einigen schweren Erfahrungen auch darüber hinwegkommen wird. Graf Herbert influiert ihn nach Rottenburgs Meinung im guten Sinn. Das wird gewiß der Fall 369

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sein, soweit er der Instruktion seines Vaters folgt. Seine eigenen Neigungen liegen wohl auch mehr in junkerlicher Richtung. 27. Dezember. Graf Münster hat über seine Eindrücke beim Besuch des Kronprinzen das Allergünstigste berichtet. Er sehe gut aus, habe vorzüglichen Appetit und Schlaf, schlucke selbst harte Sachen ohne Beschwerde, spreche leise, um sich zu schonen, könne aber auch laut reden, jedoch heiser. Dr. Mack­enzie halte die Sache nicht für Krebs; die anderen Ärzte seien schwankend, haben aber auf seine (Münsters) bestimmte Frage doch zugegeben, die größere Wahrscheinlichkeit sei für Krebs. Der bisherige Verlauf scheint die Richtigkeit der Unterlassung der großen Operation sonach zu bestätigen. Es soll eine nochmalige Untersuchung durch den Wiener Spezialisten Professor Schrötter stattfinden, was allerdings allseitig einen beruhigenden Eindruck machen würde. Hier ist man nach wie vor erbittert über die widersprechenden und tendenziösen Nachrichten, welche fortschrittliche Blätter bringen und welche auf gewisse Quellen zurückgeführt werden. Auch die Insinuationen jener Blätter, welche Gefühle gewisser Kreise bei den wechselnden Nachrichten zu bemerken seien, haben sehr böses Blut gemacht. An die heutige Sitzung des Ministeriums, in welcher wie gewöhnlich um diese Zeit die Vorschläge für das Ordensfest festgestellt wurden, schloß sich eine Konversation über die gegenwärtige Lage. Se. Majestät hat geäußert: Der Kronprinz habe die Einsetzung des Prinzen Wilhelm zum Stellvertreter in gewissen Fällen übel vermerkt, und jetzt müsse er es dem Fürsten ausreden, dem Prinzen einen Ziviladlatus zu geben. Er erinnere sich noch, wie dasselbe bei ihm geschehen sei, als er Prinz von Preußen geworden. Jeder habe darin seine Erklärung zum Thronfolger gesehen. Das würde den Kronprinzen noch mehr erregen. Der Finanzminister erzählte die Art, wie er den Prinzen Wilhelm unterrichte. Er komme nur ein- bis zweimal wöchentlich, dann aber für einige Stunden. Der Prinz fasse sehr schnell auf und erinnere sich des Gehörten, aber allerdings sei sein Wissen von allgemeinen staatlichen Dingen sehr gering und beweise er durch gelegentliche Äußerungen und Fragen, in welchem diesen Dingen völlig fremden Ideen- und Anschauungskreis er bisher gelebt habe. Der Kaiser will ihm noch bis zum Sommer die Husaren lassen, dann soll er auf kurze Zeit das erste Garderegiment bekommen, sodann eine Brigade. In Berlin habe er kein passendes Unterkommen, darum müsse er in Potsdam bleiben. Das Kieler Schloß habe über 1.200.000 Mark Einrichtungskosten für den Prinzen Heinrich erfordert, darum könne für jetzt nichts Weiteres geschehen. Der Finanzminister hat Ende November bei Gelegenheit eines anderen Berichts dem Kronprinzen von dem ihm übertragenen Kommissorium Mitteilung ge370

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macht. Der Kronprinz hat aber nicht weiter darauf reagiert, was Friedberg auf Empfindlichkeit deutete, darüber, daß er nicht vorher deshalb gefragt worden sei. Die Nachrichten über das Befinden des Kronprinzen lauten nach wie vor widersprechend. Bötticher behauptete, Bergmann habe schon für Februar eine üble Wendung prognostiziert, was Goßler bestätigte. (Tatsächlich fand im Februar die Tracheotomie durch Dr. Bramann statt, um der Erstickungsgefahr zu begegnen.) Die Kronprinzeß habe in Briefen geklagt, wie schwer es ihr werde, dem Pattenten immer eine sorgenfreie Stirn zu zeigen und seine Stimmung aufrechtzuerhalten. Radolin berichtet überall über Aussehen und Befinden des Kronprinzen nur Günstiges. Es ist schwer, daraus klug zu werden! 31. Dezember. Gestern zum Tee bei den Majestäten. Beide munter. Er sehr gesprächig, äußerte sich abfällig über ein von der Stadt aufgestelltes Projekt, die Reitwege Unter den Linden eingehen zu lassen, die Trottoirs zu verbreitern und die Baumreihen zu verpflanzen. Die Bäume ständen jetzt gerade richtig, man dürfe daran nichts verändern. Die Nachrichten vom Kronprinzen klängen ja sehr gut, aber man traue ihnen nicht recht. Der anwesende Fürst Windischgrätz erzählte von den schnellen Veränderungen, welche Wien erfahre, Se. Majestät von dem enormen Wachstum Berlins, das jetzt 1.400.000 überschritten habe. Er komme mit dem Staatsministerium in einen Konflikt wegen Bewilligung einer Lotterie für einen Museumsbau in Weimar. Beim Abschied sagte er, nachdem er die Damen genötigt hatte, vor ihm den Salon zu verlassen: „Wünsche euch ein neues Jahr, Gesundheit bis zum Silberhaar.“ Das habe sein Vater ihnen immer gewünscht, dieser Verse erinnere er sich noch, die anderen habe er vergessen. Um 9 ½ Uhr gab Graf Goltz das Zeichen zum Aufbruch. Se. Majestät erzählte, er habe gestern Abend gegen die ärztlichen Vorschriften gehandelt und nach dem Theater noch bis gegen 11 Uhr gearbeitet. Aber sehr gut geschlafen, darum wolle er heute folgsam sein. Prinz Wilhelm hat gegen Finanzminister Scholz geäußert: den Fürsten Bismarck brauche man natürlich noch einige Jahre sehr dringend, später würden seine Funktionen geteilt werden, und der Monarch selbst müsse mehr davon übernehmen, worauf Scholz erwiderte: man werde den Fürsten noch recht lange brauchen und ihn nie ganz ersetzen können. Das vom englischen Maler Richardson gemalte Porträt Bismarcks soll sehr gut geworden sein, es stellt ihn in gemütlich zwangloser Haltung am Teetisch dar. Sir Edward Malet besitzt es. Es schneit stark und liegt so viel Schnee, daß alle Kommunikationen erschwert, zum Teil unterbrochen sind. 371

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1888 1. Januar. Ein schöner klarer Wintertag, drei Grad Kälte. Um 1 Uhr empfing uns Se. Majestät zur Gratulation mit Band, Helm in der Hand, auf den Glockenschlag eintretend: „Ich erwidere Ihre Wünsche mit douce réciprocité und bitte Sie fortzufahren wie bisher. Ich bin noch nie mit einem Ministerium einträchtiger und zufriedener gewesen wie mit Ihnen. Das ist keine Redensart, denn ich mache keine Redensarten. Das Jahr fange ja recht ernst an, aber es gestalte sich wieder ruhiger. Es scheint, daß in der dreimonatlichen Abwesenheit des Zaren, weil er keinen Militär- oder Zivilbeamten bei sich hatte und alles nur mit Handschreiben leitete, eine Decadence der Verhältnisse eingetreten ist, wo die Leute (er verbesserte sich), die Herren, welche zum Krieg drängen, auf eigene Faust ihre Maßregeln getroffen haben. Die russischen Truppen stehen nun eng disloziert in den litauischen und polnischen Orten und leiden furchtbar von der Kälte und vom hohen Schnee. Besonders die Kavallerie, deren Pferde zum Teil im Freien stehen. Nach dem, was mir der Zar gesagt hat, will er keinen Krieg, wenigstens jetzt nicht. Ebenso lauteten die Nachrichten, welche von St. Petersburg nach Wien gelangten, sehr beruhigend. Auch die Nachrichten vom Kronprinzen lauten besser. Ich wünsche Ihnen ein gutes neues Jahr, mit aller Animation.“ Er klagte, daß er sich nur langsam von seinem letzten Unwohlsein erholt habe, jetzt aber fühle er sich recht wohl. Dem Kriegsminister drohte er, weil der ihm nicht gleich gesagt habe, wie viel Geld das neue (Landsturm-)Gesetz kosten werde. Er habe das jetzt erst erfahren und sei erschrocken darüber. Nachher empfing uns die Kaiserin und wünschte uns alles Gute, die wir dem Kaiser so treu hülfen. Wenn man sich in Europa umsehe, so sehe es doch nirgends besser aus wie hier bei uns. Sie könne aber auch sagen, der Kaiser arbeite gewissenhaft und oft mehr, wie ihm gut sei. Sie versuche zuweilen, ihn zu bereden, ins Theater zu gehen, oder rate ihm auch ab, er tue aber immer, was er wolle. Es gehe ihm jetzt recht gut, Gott behüte es, sagte sie dreimal. Ebenso ginge es dem Kronprinzen jetzt besser. Sie habe einen sehr freundlichen Brief von ihm gehabt. General Albedyll habe sehr schlecht ausgesehen; wäre sie seine Frau, so würde sie ihn hermetisch verschließen. Kriegsminister Bronsart sagte: „Das 372

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tut sie auch.“ ‒ Ihre Majestät: „Ja, die Männer folgen aber nicht immer; ob er kürzlich auf der Jagd gewesen sei?“ ‒ Bronsart: „Euer Majestät meinen wahrscheinlich, ich wäre immer auf der Jagd, zuweilen aber bin ich auch in Berlin.“ ‒ Ihre Majestät: „Ja, Sie haben ja auch gar nichts zu tun und können sich gar nicht im Reichstag der Angriffe erwehren.“ Den Finanzminister Scholz beglückwünschte sie zum Erwerb seiner schönen Besitzung am Bodensee, welchen sie sehr liebe. Sie werde dort immer so gastfreundlich aufgenommen, daß sie die angenehmsten Erinnerungen von dort habe. Nun dürfe sie uns aber nicht länger aufhalten und wünsche uns ein glückliches, friedliches Jahr. Ihre Majestät war ausgezeichnet disponiert und ganz scherzhaft in ihrer Konversation. Der Kaiser bemerkte noch betreffs des Landsturmgesetzes, es sei ja sehr gut im Reichstag aufgenommen worden und Bennigsen habe dabei eine wirklich vorzügliche Rede gehalten. Es beweist, mit welchem regen Interesse und mit welchem guten Gedächtnis er alle Verhandlungen verfolgt. Vermutlich hat ihn Bismarck auch noch besonders auf Bennigsens Rede aufmerksam gemacht. 8. Januar. Se. Majestät ist seit drei Tagen nicht an dem historischen Eckfenster erschienen wegen Blasenleidens. Das Botschafterdiner wurde abbestellt, die Börse ist beunruhigt. Auch von San Remo sollen die Nachrichten, welche Schrötter an Generalarzt Leuthold in einem chiffrierten Telegramm hat gelangen lassen, wieder ungünstiger lauten. Prinz Wilhelm hat den Professor Bergmann darüber konsultiert. Virchow hat eine große interessante Abhandlung über Karzinom geschrieben, durch welche er offenbar alle Verantwortung für Mackenzies Diagnose von sich abzuschütteln sucht. Er geht im Februar mit Schliemann nach Ägypten, um „zu buddeln“, wie Goßler sagt. Wir hatten gestern eine Staatsministerialsitzung zur Feststellung der Thronrede. Bismarck hatte im Entwurf einige Superlative moniert, die Erwähnung der Verhältnisse in der Provinz Posen und der auswärtigen Politik abgelehnt. Das ist sehr bezeichnend. Er ventiliert wieder die Möglichkeit eines selbständigen polnischen Reiches unter einem österreichischen Erzherzog, natürlich ohne Abtretung preußischer Gebietsteile. Den Frieden hält er nicht für so gesichert, um eine Erwähnung in der Thronrede zu wünschen, welche durch die Ereignisse widerlegt werden könnte. Über die in dem neuen Sozialistengesetz enthaltene Bestimmung der Ausweisung, welche auf Puttkamers Vorschlag hineingekommen ist, verbreiten die Zeitungen bereits den Ursprung und bekämpfen sie als Puttkamers Werk. So führte diese Bestimmung zu einer Spaltung unter den Anhängern des Gesetzes. 373

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Die einfache Prolongation des alten Gesetzes vom 28. Oktober 1878 hätte leichter zum Ziel geführt. Zum Entwurf der Thronrede hat Se. Majestät, datiert vom 12. Januar 1888, folgende Bemerkung gemacht: Vollkommen erstellt und einverstanden, wie ich das dem Finanzminister Scholz auf seinen mündlichen Vortrag aussprach. Wilhelm. 16. Januar. Graf Radolinski erzählte: Der Kronprinz habe seine Gemahlin bevollmächtigt, alle an ihn gerichteten Briefe zu erbrechen, um ihm zu ersparen, daß er ihn peinlich berührende Dinge unvorbereitet erfahre. So habe die Kronprinzeß den Brief Bismarcks, worin kurz die Mitteilung über die beabsichtigte Einsetzung des Prinzen Wilhelm als Stellvertreter gemacht wurde, ihm nicht mitgeteilt, sondern ihm (Graf Radolin) gegeben, weil diese Nachricht den Kronprinzen erregen würde. Er möge den Kronprinzen darauf vorbereiten. Inzwischen sei, ehe das geschehen konnte, der Prinz Heinrich eingetroffen und habe seinem Vater einen Brief des Prinzen Wilhelm überreicht, worin jene Mitteilung ohne Umschweife als vollendete Tatsache gemacht sei. Das habe den Kronprinzen im höchsten Grad erregt und ihn förmlich atemlos gemacht. Prinz Heinrich habe ganz erschrocken gesagt: Fürst Bismarck müsse das doch schon durch einen Brief gemeldet haben. Die Prinzeß habe das auf eine Frage ihres Mannes aber geleugnet. Er (Graf Radolin) habe dann später dem Kronprinzen den Brief des Fürsten überreicht, ohne gerade zu sagen, wer ihn eröffnet habe, aber die Sache so auf sich genommen. Der Kronprinz habe sich zwar schnell begütigen lassen, aber nachher doch einen Brief an Bismarck geschrieben, in welchem er seine Empfindlichkeit nicht verhehlt habe über diesen ohne seine vorherige Zustimmung unternommenen Schritt. Er sei ihm stets mit der größten Offenheit und Loyalität begegnet und erwarte dasselbe auch von ihm. Gleichzeitig habe die Kronprinzeß an Bismarck einen begütigenden Brief geschrieben. Prinz Heinrich habe dann ihm Vorwürfe gemacht, daß er diese Mitteilung unterlassen habe, was Radolin zurückgewiesen habe. Komplizierte Zustände! Die Tour nach Toblach sei ohne Wissen und Willen irgend­ eines Arztes und der Umgebung des Kronprinzen erfolgt. Es sei eine Abmachung gewesen, um dort Skizzen zu machen. Dr. Krause mache keinen besonders günstigen Eindruck, dagegen sei Dr. Hovell ein sehr tüchtiger Arzt, ebenso Dr. Bramann, welchen man nur darum nicht leiden könne, weil er ebenso wie Dr. Moritz Schmidt ohne Wissen und Willen der Kronprinzeß geschickt worden sei. Dr. Mackenzie sage: Krebs sei nicht erwiesen, die Sache könne noch drei bis vier Jahre dauern. Jedenfalls sei kein Anlaß zu der lebensgefährlichen Operation gewesen!! Aus einem Schreiben des Kron374

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prinzen teilte Graf Radolin noch mit, die Frage, ob dem Prinzen Wilhelm ein Ziviladlatus beizugeben sei, müsse noch weiter überlegt werden, damit nicht noch ein ungünstiges Element mehr in den Hofstaat des Prinzen komme. Herrfurth sei durch Puttkamer in das Ministerium des Innern gekommen. Radolin meinte: Es ginge hier gerade so wie mit der braunschweigischen Frage, da habe sich auch der Kronprinz so lange besonnen und habe es nicht passend gefunden, daß Prinz Heinrich Regent würde. Nachher, als der Prinz Albrecht die Regentschaft übernahm, sei es ihm dann leid gewesen. 17. Januar. Der Botschafter in London berichtet: Der französische Botschafter Waddington habe ein zufälliges Zusammentreffen auf dem Foreign Office benutzt, ihn der friedfertigen Dispositionen des neuen Präsidenten der Republik zu versichern. Frankreich beschäftige sich jetzt und in den nächsten Jahren nur mit seiner Ausstellung. Bismarck schreibt aber an den Rand: „Aber dann.“ Die Pulver- und die russische Frage bedinge auch weiteren Aufschub. Rußland sei erst in einigen Jahren kriegsbereit. Boulanger sei ganz von der Bildfläche verschwunden und habe weder in parlamentarischen noch in militärischen Kreisen Anhang. 9. Februar. Die Tracheotomie ist heute in San Remo von Bramann vollzogen worden, nachdem seit einigen Tagen die Erstickungsgefahr groß war. Ein offizielles Bulletin ist noch nicht publiziert, während die gestrigen Abendzeitungen die Wahrscheinlichkeit der drohenden Gefahr bereits ankündeten. Die Nachricht von der stattgehabten Operation teilte Hofmarschall Graf Eulenburg eben nach einem bei dem Minister Goßler stattgehabten Diner mit. Das Diner fand zu Ehren der neuen Bischöfe Weiland und Dinter statt. Ich saß neben Graf Eulenburg, welcher schon bei Tische von der drohenden Gefahr gesprochen hatte. Gestern Abend war ich bei den Majestäten zum Tee, wo auch Prinz und Prinzeß Wilhelm. (Es war das letzte Mal, daß ich den alten Herrn s p r a c h .) Die schlimmen Nachrichten waren natürlich schon dort eingetroffen, und Prinz Wilhelm empfing nachher den Generalarzt Leuthold, welcher die ärztlichen Depeschen erhalten hatte. Professor Bergmann und Graf Radolin reisen heute Abend nach San Remo ab, nachdem an Ersteren das bestimmte Ersuchen von den drei behandelnden Ärzten ergangen war. Heute ist Opernball, welchen der Hof besuchen sollte, was nun wohl ausfällt. Bei einem heutigen Diner zu Ehren des Präsidiums des Abgeordnetenhauses saß ich zwischen Windthorst und Virchow. Letzterer sagte: Er halte die Sache nicht für Karzinom, sondern für Knorpelhautentzündung oder für eine Nachkrankheit nach den Masern. Er habe sein Votum nach San Remo mit dem Resultat der letzten Untersuchung abgeschickt und zugleich seine 375

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beabsichtigte dreimonatliche Reise nach Ägypten angemeldet. Darauf sei ein sehr freundliches Schreiben im Auftrag des Kronprinzen gekommen, worin ihm glückliche Reise gewünscht werde. Er mißbilligte die Publikation der ungenügenden und unvollständigen Telegramme über den Krankheitsverlauf im höchsten Maße. Er habe Entwürfe zu Bulletins hingegeben, welche aber nicht benutzt worden seien. Wenn der Kronprinz wirklich diese schwere Krankheit überlebt, so wird es nur ein mehr oder weniger schweres Siechtum sein, was zurückbleibt. Windthorst meinte, er bete jeden Tag für die Genesung des Kronprinzen; wenn er auch nur ein Jahr regiere, so sei das schon ein großer Gewinn. Er habe für die katholische Kirche die freundlichste Gesinnung gegenüber den katholischen Bischöfen geäußert, welche ihn in San Remo besucht und ihre Teilnahme ausgesprochen hatten. Am 6. Februar hielt der Kanzler im Reichstag eine großartige zweistündige Rede über die Gesamtlage der europäischen Politik zur Begründung der Wehrvorlage. Nachdem er geendet hatte, erklärten die Fraktionschefs kurz ihre Zustimmung und die Vorlage wurde mit Akklamation einstimmig angenommen. Es war ein großer Moment, wie der 1870 bei der Verkündung der französischen Kriegserklärung; ihn als Augenzeuge miterlebt zu haben, ist ein großer Gewinn. In diesen schweren Zeiten ist das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Vertrauen, die politische Leitung der Nation in den festen Händen des Kanzlers zu wissen, ein unberechenbarer Vorteil. Das Leben des Kronprinzen und die Erhaltung des Friedens, das sind die beiden bewegenden Momente, und eines scheint so unsicher wie das andere. Bismarck, welcher uns gestern zu einer Sitzung bei sich versammelte, war sehr befriedigt über den Eindruck seiner Rede. Er hatte von allen europäischen Höfen und auch von San Remo die günstigsten Berichte über den Eindruck, welchen seine Ausführungen gemacht hatten. Der Zar habe mit Befriedigung konstatiert, daß er zwischen ihm und der russischen Presse unterscheide und daß Bismarck sein Recht anerkenne, seine Truppen zu dislozieren, wie es ihm beliebe. Er habe ihm ein großes Faß Kaviar geschickt, was noch gefroren sei. Ferner habe er einen politischen Agenten bestellt beim Regenten von Braunschweig, was ein großer politischer Akt sei gegenüber dem Herzog von Cumberland. Crispi habe ihm ein seitenlanges überschwängliches Telegramm geschickt, voll Befriedigung über seine Rede. Was er gar nicht überbieten oder auch nur im gleichen Ton erwidern könne. In Wien habe seine Rede auch die größte Befriedigung erregt. Er habe hinsagen lassen, so wie er im Parlament habe reden müssen, sei nicht alles gemeint gewesen. Wahrscheinlich 376

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hatte er die Empfindung, daß das, was er über die Entstehung des österreichischen Bündnisses sagte, nicht warm genug gewesen sei. Er hatte es im Wesentlichen hingestellt als ein Resultat der schlechten Behandlung, welche uns Rußland damals hatte zuteilwerden lassen. Bismarck meinte; er habe doch bei der Rede das Gefühl des Altwerdens gehabt. Es zünde nicht mehr so schnell bei ihm mit den Ideenverbindungen wie früher, er müsse erst suchen. Ich sagte, der Zuhörer habe diesen Eindruck nicht gehabt, und sprach damit sicher meine und der anderen Meinung aus. Über die Verhandlungen mit dem Papst sprach er kühl. Der Papst fühle sich seit Crispis Besuch nicht mehr entgegenkommend genug behandelt und verlange immer neue Konzessionen. Den Ausführungen Goßlers über seine bevorstehenden Verhandlungen mit den Bischöfen über Seminar- und Schulfragen folgte er nicht weiter. 12. Februar. Die Nachrichten über des Kronprinzen Befinden lauten nicht ungünstig, aber es scheint doch der Anfang vom Ende. Er soll schmerzlos fieberfrei sein und Appetit haben. Aber wenn es wirklich Karzinom ist, so handelt es sich doch nur um eine Galgenfrist. Es ist nur eine Zeitfrage, wann die Schluck- und Atembeschwerden eintreten. In wenigen Monaten ein qualvoller Tod. Ein hochtragisches Schicksal ohne Beispiel in der Geschichte. Diese schöne ritterliche Erscheinung! Der Nächste zum Thron seit fast dreißig Jahren, Feldherr in drei siegreichen Feldzügen, tapfer, mild, menschlich edel, und dieses Ende! Jetzt kommen einem seine häufigen deprimierten Äußerungen wieder ins Gedächtnis. „Er werde doch nicht zur Regierung kommen, es sei besser, wenn er auf die Krone verzichte“ und dergleichen mehr. Das scheint nun alles wahr werden zu sollen. Mit dieser Gewißheit lenkt sich natürlich die Aufmerksamkeit stark auf den Prinzen Wilhelm, welcher hochbegabt, voll Temperament, doch auch seine eifrigsten Bewunderer mit einiger Sorge erfüllt. So sprach noch gestern Herr von Rochow-Plessow, der Inbegriff des Hochtory und märkischen Junkers, seine Besorgnisse aus über seine mangelnde Reife, ungenügende Vorschule und zu frühe Heirat. Alle Beobachter betonen immer seine mangelnde Reife, was allerdings bei einem Alter von neunundzwanzig Jahren auffallend. Übrigens hat er kürzlich bei einem Festmahl des märkischen Provinziallandtags eine sehr zündende und auch politisch taktvolle Rede gehalten, worin er sich ausdrücklich davor verwahrte, als denke er daran, sich aus Ruhmbegierde in Kriege zu stürzen, das sei verbrecherisch und leichtsinnig, aber Soldat und guter Brandenburger sei er allerdings. Professor Bergmann ist gestern in San Remo angekommen. Übermorgen soll der Kronprinz wieder aufstehen, wenn alles bleibt wie bisher. Die 377

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hiesigen Gesellschaften nehmen ihren Fortgang, ohne daß der Hof dabei erscheint. 20. Februar. Die Nachrichten von San Remo lauten zweifelhaft. Der Kronprinz soll schmerz- und fieberfrei sein, dabei dauern aber Husten und eitriger Auswurf an. Mackenzie bleibt noch in San Remo und hält seine Prognose auf völlige Genesung aufrecht. Vielleicht, um das Vertrauen des Patienten zu erhalten, und auf Instanz der Prinzeß. Gegen sie herrscht große Erbitterung, und zwar genährt von ihrer nächsten Umgebung. So soll der Kronprinz schon neun Tage vor der Operation an steigender Atemnot gelitten haben, in den letzten zwei Tagen so, daß man das Röcheln zwei Stuben weit hörte! Trotzdem ließ man Bramann erst am Morgen der Operation zu ihm ‒ offenbar im letzten Moment. Die anderen Ärzte hatten nicht einmal für diesen lange vorhergesehenen Fall Instrumente zur Stelle. Diese Nachrichten stammen aus ganz zuverlässiger Quelle. 23. Februar. In der gestrigen Sitzung des Staatsministeriums war längere Zeit die Rede über die Zustände in San Remo. Bismarck erzählte: es gelange weder ein Brief sicher in die Hände des Kronprinzen, noch dürfe außer der Kronprinzeß und der Prinzeß Viktoria jemand zu ihm. Auch nicht der Prinz Heinrich oder die anderen Kinder. Unter den Ärzten herrsche eine Feindschaft, die sich in nicht zu glauben roher Weise äußere. Er könne daher auch nicht über die Frage, dem Prinzen Wilhelm einen Ziviladlatus zu geben, korrespondieren, sondern werde die Mitteilung erst machen, nachdem sie zu einem Abschluß gelangt sei. Prinz Wilhelm habe den Gedanken von Haus anders, aber nicht übel aufgefaßt. Er wolle keinen älteren Präzeptor wie Herrfurth, welchen er neulich bei einem Diner getroffen habe, sondern einen Hausgenossen, welcher mit ihm plaudere, jage, spiele. Er habe Herrfurth ‒ der ihm wie Rübezahl vorgekommen sei ‒ im Äußern zu alt und zu langweilig gefunden, ohne gerade sich zu weigern, ihn zu nehmen, wenn es nicht anders sei. Man dürfe ihn aber nicht disgustieren und müsse vielmehr in der Sache auf seine Wünsche eingehen. Er habe sein Auge auf den Regierungsrat von Brandenstein geworfen, welcher jetzt beim Oberpräsidenten Wolff arbeitet. Er habe ihm auf Jagden, wo er ihn sah, gefallen. Puttkamer gab Brandenstein das Zeugnis eines sehr fähigen, tüchtigen Menschen, aber mit starker Neigung zu kneipen und sich zu amüsieren. Bismarck meinte, das tue nichts, wenn er nur fähig und tüchtig sei. Der Prinz habe noch sehr wenig Begriff und Respekt vor dem Gesetz. Gneist habe sich erboten, ihm zwei bis drei Vorlesungen wöchentlich zu geben. Der Kaiser finde zwei genug. Diesen Lektionen müsse Brandenstein beiwohnen und 378

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dann die Lücken ergänzen, die Dinge erklären und mit ihm durchsprechen. Das ist ein recht guter Plan. Über den Krankheitszustand des Kronprinzen berichtete Goßler wie ein Arzt. Durch den langen Aufschub der Operation sei der Zustand der Kehle und des Kehlkopfes sehr verschlimmert worden. Der Kronprinz habe seit neun Tagen schwere Atemnot erlitten, welche an Erstickungsgefahr gegrenzt habe. Jetzt sei zu entscheiden, ob schon eine Lungen- oder Bronchialentzündung vorliege. Da kein Fieber vorhanden, so scheine das weniger wahrscheinlich, möglich sei es aber, und für diese Untersuchung sei eine Autorität wie Gerhardt oder Schrötter erwünscht. Mackenzie lehne es ab, die von Bergmann hergestellten Präparate zu untersuchen ‒ weil Mikroskopieren nicht sein Fach sei. Bergmann glaube, deutliche Krebszellen darin zu finden. Neben den dunklen Sputis, welche von den Geschwüren des Kehlkopfs herrührten, erscheinen auch himbeerfarbige, welche aus den Lungen stammten. Die eingesetzte Kanüle habe auch eine Mündung nach oben, wodurch also die Verbindung mit Mund und Kehlkopf hergestellt sei. Der Kronprinz, welcher alle Untersuchungen mit heroischem Gleichmut über sich ergehen lasse: „Nun ’rin ins Vergnügen,“ versuche seine Stimme, indem er selbst die äußere Öffnung der Kanüle zuhalte. Er könne so ganz gut sprechen. In acht bis zehn Tagen müsse sich entscheiden, ob eine Lungenentzündung eintrete, ob nicht. Letzterenfalls könne dann wieder ein mehrmonatlicher Stillstand eintreten. Für die Krankheit sei es ganz gleichgültig, ob der Patient in St. Petersburg oder San Remo wohne. Graf Stolberg müsse, mit den nötigen Vollmachten ausgestattet, beauftragt werden, den Kronprinzen, sobald er irgend transportabel sei, nach Berlin zurückzubringen. Er sei kein Privatmann, über welchen seine Familie disponieren dürfe, sondern nach dem Kaiser der wichtigste Mann im Reiche. Es liege ein großes Interesse vor, den Kronprinzen hier im Vaterland unter sicherer Obhut guter Ärzte zu haben. Bronsart und Friedberg versicherten, daß sich der Kronprinz nach Berlin sehne und dem General Winterfeld das Wort abgenommen habe, er solle ihn nach Berlin geleiten, wenn es zum Ende ginge. Bismarck bestätigt das durch Äußerungen, welche der Kronprinz vor seiner Abreise ihm gegenüber wiederholt und ausdrücklich gemacht habe. Zwischen R. und S. herrsche die größte Animosität, welche bis zur Forderung geführt habe. Der Kaiser werde aber einen solchen Befehl zur Rückkehr nicht geben mögen, er habe ihm auf solche Andeutungen geantwortet: „Das kann ich nicht.“ Der Kronprinz habe ihm gesagt, wenn er stimmlos werde, wolle er die Regierung gar nicht antreten. Bezüglich der Vereidigung der Truppen bemerkte 379

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er, der Kronprinz wolle den Namen Friedrich führen und sei nur zweifelhaft, ob er nach den alten deutschen Kaisern sich IV. oder V. nennen dürfe, während Bismarck meinte, daß zwischen jenen Kaisern und ihm nicht der geringste Zusammenhang bestehe, das neue Kaisertum sei etwas ganz Verschiedenes vom alten. Er müsse sich Friedrich III. nennen, da die früheren preußischen Könige sich nicht in der Nummerfolge der früheren Kurfürsten benannt hätten. Von einem Regentschafts- oder Stellvertretungsgesetz zu reden, sei völlig müßig. Ein Vakuum trete nicht ein, die Krone schlüpfe durch das Schlüsselloch des Krankenzimmers. Inzwischen führe das Ministerium die Geschäfte fort bis auf weitere Bestimmung des Souveräns. Prinz Wilhelm verlange stürmisch, nach San Remo zu reisen, weil es unnatürlich sei, daß er allein von allen Kindern in dieser Zeit fern vom Vater sei. Man deute das einerseits als Gleichgültigkeit und Herzenshärte, während man anderseits sage, er reise hin, um sich zu überzeugen, wie lange der Vater noch leben werde. Bismarck schien die Reise nach San Remo für richtig zu halten und die Abwesenheit des Sohnes vom Sterbebett des Vaters für unnatürlich. Er war überhaupt besonders ruhig und bestimmt in allem, was er sagte, und ist offenbar in seinen Entschlüssen für alle Eventualitäten vorbereitet. 25. Februar. Prinz Ludwig von Baden, Enkel der Majestäten, hoffnungsvoller, liebenswürdiger Mensch von dreiundzwanzig Jahren, ist nach kurzer Krankheit in Freiburg an Lungenentzündung gestorben. Die Eltern sind erst einige Stunden nach seinem Ableben dort eingetroffen. Sie kamen von Cannes und San Remo, wo sie den kranken Sohn, den Erbgroßherzog, und den Bruder, den Kronprinzen, besucht hatten. Ein sehr trauriger Fall! Die Nachrichten von San Remo lauten sehr ernst, so daß man jeden Tag das Ende erwarten kann. Die Telegramme lauten natürlich viel besser wie Bergmanns Privatbriefe. Mackenzie verbreitet Nachrichten, als habe die unpassende Kanüle alles verschuldet. Die Ärzte sollen sich streiten wie Hund und Katze! 7. März. Se. Majestät leidet seit dem 3. an Blasenbeschwerden und ist seit gestern Abend so elend, daß sein Ableben befürchtet wird. Bismarck ist heute von 11 bis 3 Uhr im Palais gewesen, wo eine kleine Besserung insofern eintrat, als etwas Nahrung eingenommen werden konnte. So lange man auf diese Möglichkeit hat gefaßt sein müssen, so erschütternd wirkt doch ihr Eintritt. Man fühlt sich doppelt bestürzt durch den Gesundheitszustand des Kronprinzen. Prinz Wilhelm war heute früh von San Remo zurückgekehrt und hat seitdem das Palais nicht verlassen. Er ist so von einem Totenbett zum anderen geeilt, nachdem er noch dem Leichenbegängnis des Prinzen Ludwig 380

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von Baden beigewohnt hat. ‒ Die Aufregung im Reichstag und Landtag, welche beide saßen, ist enorm groß geworden. Die beiden wichtigsten Leben im Reiche sind im Erlöschen, und solange man auch Zeit gehabt hat, sich mit diesem Gedanken zu beschäftigen, so überwältigend bleibt es in dem Moment, wo man dem Ereignis nahetritt. Ich war am 27. Februar zum letzten Male zum Tee bei den Majestäten, am Abend vor der Abreise des gleichfalls anwesenden Prinzen Wilhelm nach Karlsruhe. Se. Majestät war wie immer und sprach davon, daß er noch nicht habe an seine Tochter schreiben können nach dem Todesfall. Nachher wurde er heiterer und hörte die Erzählungen der Prinzeß Wilhelm und des Kriegsministers über kleine Schmuggelgeschichten lächelnd mit an. Das ist vielleicht das letzte Mal, daß ich den alten würdigen Herrn gesehen habe. (Es war das letzte Mal!) 8. März, 8 Uhr morgens. Se. Majestät liegt im Sterben. Um 2 ½ Uhr mittags hatten wir im Reichstag eine Staatsministerialsitzung, in welche Bismarck direkt vom Palais kam. Der Kaiser habe mit offenen Augen dagelegen, ihn aber nur zeitweise erkannt. Er habe sich dicht an sein Ohr gebeugt und Se. Majestät habe das Gesagte verstanden, sei aber davon abgeirrt. Habe von seiner Unterredung mit dem Kaiser von Rußland gesprochen und ihn dann wieder für seinen Enkel gehalten, indem er gesagt habe: „Ich bin immer mit dir zufrieden gewesen, du hast alles gut gemacht.“ Bismarck sprach dann von den nun zu unternehmenden Schritten. Er habe vorgestern dem Kronprinzen dringend empfohlen, wenn sein Zustand es nur irgend gestatte, hierherzukommen. Darauf sei ein Telegramm vom Prinzen Heinrich an den Prinzen Wilhelm eingegangen, welches er uns verlas und welches sagte: Der Kronprinz werde nach Wiesbaden und äußerstenfalls nach Berlin kommen, wenn die Katastrophe eintrete. Die laufenden Geschäfte möge das Ministerium besorgen, ebenso die Vereidigung der Truppen. Eine Stellvertretung sei nicht erforderlich. Bismarck ging die in dieser Äußerung enthaltenen Irrtümer durch, und wir kamen zu dem Entschluß, qua Staatsministerium ein Telegramm an Se. Kaiserliche Hoheit zu richten, worin ihm die sofortige Rückkehr hierher im Interesse des Staats und der Dynastie dringend empfohlen wird. Sei das nicht möglich, so sei er in San Remo ebenso erreichbar wie in Wiesbaden. Ein Telegramm von Lynckers, das Schloß in Wiesbaden herzurichten, verwies er an den Hausminister, welcher inzwischen selbst kam, um zu fragen, wie er handeln solle. Bismarck kam nach einer kurzen Besprechung mit Graf Stolberg zurück mit der Bemerkung: das Hofgesindel ‒ ohne L., wie er einschaltete ‒ habe 381

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kein Rückgrat, um eine Verantwortung auf sich zu nehmen und einen abschlägigen Bescheid zu geben; ihm komme die Erfüllung dieser Order so vor, als ob man hie Zimmer ausräume, ehe der Sterbende das zweite Auge geschlossen habe. Es wurden die Entwürfe zu den nötigen Proklamationen vorgelesen und von Bismarck modifiziert. Über die Kronprinzeß meinte er, sie habe nicht den Ehrgeiz, Herrscherin zu sein, sie sei vorwiegend selbstisch und genußsüchtig. Ihr konveniere der Witwenstand als Kaiserin am besten. In der kurzen Regierungszeit könne materiell reichlich für sie gesorgt werden. Sie gebe sich noch den Anschein, als sei der Kronprinz gar nicht krank. Inzwischen war es nach 5 Uhr geworden und es trat ein Major mit der Meldung ein: Se. Majestät liege in den letzten Zügen! Bismarck fuhr mit dem Kriegsminister nach dem Palais. Es war ein trüber, regnerischer, naßkalter Tag und ich fuhr noch nach dem Palais, um mich bei den badischen Herrschaften einzuschreiben. Es promenierte ein breiter Menschenstrom mit Regenschirmen auf den Trottoirs, wo niemand stehen bleiben durfte. Man ließ mich ungehindert in das Niederländische und dann in das Königliche Palais eintreten, nur Gruppen von Bedienten standen umher. Einer sagte mir: Es kann jeden Augenblick zu Ende sein! Mit ihm ist dann ein Monarch im edelsten und höchsten Sinn entschlafen. Ihm gedient zu haben, wird der Höhepunkt des Lebens für jeden gewesen sein! 9. März, 9 Uhr Vormittag. Soeben, 8 ½ Uhr, ist Se. Majestät verschieden! Die Nachricht wurde mir von dem nach dem Palais entsendeten Kanzleidiener Rahn in der Bahn des Kriegsministerii mitgeteilt, wo ich mit General von Caprivi ritt. Ich fahre nachher zum Palais. Um 9 ¾ Uhr war ich im Palais, wo der Eintritt ungehindert stattfand. Im Flur begegnete ich Leuthold, Perponcher, Eulenburg, Wilmowski, welche zusammenstanden. Ich ging durch das Adjutanten- und ein kleines klosettartiges Vorzimmer in das einfenstrige, nach dem Hof zu gelegene Schlafzimmer. An der Rückwand in einem grau drapierten Teil stand das kleine eiserne Feldbett, in welchem Se. Majestät halb sitzend mit vorgebeugtem Haupt und ausgestreckten Armen friedlich wie schlafend lag. Gesicht und Schädel waren fast glänzend wie im Leben. Die Augen geschlossen. Er war ruhig, ohne Todeskampf entschlafen, nur der letzte Atemzug war röchelnd gewesen. Nach mir war eine Gruppe Hofdienerschaft eingetreten, lautlos, still, ohne daß jemand Ordnung zu halten brauchte. Anton von Werner saß am Fußende des Bettes und machte eine Zeichnung. An der Tür stand ein Gardeducorps mit gezogenem Pallasch. 382

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Man ging aus und ein, ohne daß irgendwelche Aufsicht oder Kontrolle geübt wurde. Von hier fuhr ich zum Minister Friedberg, welcher ein über sechs Seiten langes Schreiben vom 6. März vom Kronprinzen ‒ nun Kaiser ‒ erhalten hatte, welches er mir vorlas: Er schrieb über sein besseres Befinden und das rückkehrende Gesundheitsgefühl, wenn er auch seit der Operation ohne Geruch und Geschmack die Nahrung zu sich nehme. Er dankte für die Zusendung einer Abhandlung, welche Friedberg über die Hofdame Eleonore d’Olbreuse geschrieben hatte. (Sie heiratete einen hannoverschen Kurprinzen und wurde so die Stammmutter des jetzt regierenden englischen und preußischen Königshauses, ohne auch nur entfernt ebenbürtig zu sein. Sogar ihr niederer französischer Adel ist bestritten. Ihre Tochter war die Gefangene von Ahlden.) ‒ Er sprach ferner die Besorgnis aus, daß die Rheinische Grundbuchordnung nicht durchgehen würde. Endlich bat er um Kritik seiner Entwürfe von Grabschriften für die verstorbenen preußischen Könige. Über das Befinden seines Vaters und über seine eventuelle Rückkehr schrieb er kein Wort. Wir gingen zusammen zum Abgeordnetenhaus, wo Puttkamer als Vizepräsident des Staatsministeriums dem Hause die amtliche Nachricht vom Ableben Sr. Majestät mit tief bewegter Stimme machte. Präsident von Köller antwortete mit dem Vorschlag, das Haus auf unbestimmte Zeit zu vertagen und ihm die Anberaumung der nächsten Sitzung zu überlassen. ‒ Das Haus willigte schweigend ein. Der Kriegsminister, welcher gestern noch stundenlang am Sterbebett im Palais gewesen war, erzählte: Der Kaiser habe sich noch lange mit lauter Stimme ‒ halb phantasierend ‒ mit der Kaiserin und der Großherzogin von Baden unterhalten, über die französische und russische Armee sprechend, über ihre Reglements und Minister, er habe Campénon als den besten bezeichnet. Auf die Äußerung der Großherzogin, er habe so viel Interessantes erzählt, habe er geantwortet: „Das wollte ich auch.“ Auf die Bemerkung der Kaiserin: „Er möge sich nun ausruhen,“ sagte er: „Zum Ausruhen habe ich hier keine Zeit mehr.“ Kögel, welcher ihm eine Reihe von Bibelsprüchen vorsagte, erwiderte er: „Ja, wir wollen eine Erbauungsstunde halten.“ Nach dem Abendmahl äußerte er kein Verlangen, was er früher, wenn er Todesgedanken hatte, häufig getan hat. Den Spruch: Ich habe meinen Heiland gesehen, erwiderte er mit fester Stimme: „Ja, ich habe meinen Heiland gesehen.“ Er nahm einen Schluck Champagner und wischte sich den Schnurrbart mit beiden Händen, ganz nach seiner gewöhnlichen Weise. Auf die Frage, ob es ihm geschmeckt habe: „Das nicht.“ 383

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Ob er wisse, daß er die Hand der Kaiserin halte? „Freilich.“ Auf die zahlreichen Anwesenden deutend, sagte er: „Warum diese große Runde?“ Wahrscheinlich wäre er lieber allein gewesen! Vom Abgeordnetenhaus fuhren wir in regnerischem, weichem Wetter nach dem Reichstag, wo die Mitglieder des Bundesrats in dem hinteren Foyer die Ankunft des Kanzlers erwarteten. Gegen 12 Uhr erschien Bismarck in Uniformüberrock, mit Großkreuz des Roten Adlers um den Hals. Im Bundesratssaal hielt er dann eine längere, ihn selbst durch innere Bewegung übermannende Rede: Er habe die Ehre, hiermit amtlich die Nachricht vom Ableben Sr. Majestät des Kaisers Wilhelm mitzuteilen, welches allen bereits bekannt sei. Die Kaiserwürde gehe auf den jetzigen König von Preußen über, welcher als Friedrich III. die Regierung hier angetreten habe. Er selbst habe keinen Grund zur Annahme, daß er nicht in seiner Stellung verbleiben und die Politik fortfahren werde, welche auf gegenseitiges Vertrauen basiert sei und bleiben müsse. Die vertragsmäßigen Rechte der verbündeten Fürsten und freien Städte würden wie bisher respektiert werden, dafür bürge er. Als letzten Regierungsakt habe gestern Se. Majestät die Vollmacht zum Schluß des Reichstags vollzogen. Er habe ihm geraten, nur mit einem „W.“ zu zeichnen ‒ aber Se. Majestät habe gesagt: „Nein, ich werbe den ganzen Namen zeichnen!“ und habe das auch getan, obschon seine Augen wohl nicht mehr bis zum Papier gedrungen seien. Der Zug sei nicht mehr ganz vollständig! Er halte aber dafür, es entspräche der Rücksicht gegen den jetzigen Monarchen und gegen den Reichstag, von dieser Order keinen Gebrauch zu machen und die Befehle des Kaisers und die Wünsche des Reichstags abzuwarten. Der Kaiser werde morgen die Reise hierher über den Brenner von San Remo antreten und in Charlottenburg residieren. Graf Lerchenfeld sprach als Wortführer des Bundesrats dessen Beileid aus. Um 3 ½ Uhr Staatsministerialsitzung beim Fürsten. Es waren Telegramme eingegangen vom Kaiser Friedrich: 1. Worin er dem Staatsministerium dankt für die treuen Dienste, welche es seinem Vater erwiesen habe, und auf die Mitwirkung a l l e r rechnet bei Erfüllung der schweren ihm beschiedenen Aufgaben. 2. Er wolle keine Landestrauer anordnen, sondern vielmehr es dem Gefühl aller Deutschen überlassen, wie sie das Andenken des heimgegangenen Monarchen ehren wollten. 3. Er wünschte das Staatsministerium auf der Heimreise in Halle zu empfangen, wo er Sonntagnachmittag einzutreffen gedenke. Er wolle in Charlottenburg residieren. 384

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Das sind, abgesehen von der Bestimmung über die Landestrauer, durchweg richtige Dispositionen. Die geäußerten Bedenken, auch diese kaiserlichen Erlasse sofort zu publizieren, wies Bismarck zurück. Man dürfe diese ersten selbständigen Kundgebungen Sr. Majestät nicht bekämpfen. Sie seien ganz aus eigener Initiative entsprungen und er habe allein die Verantwortung dafür, wenn ihre Wirkung später eine ihm peinliche sein sollte. Die Dissentierenden pflichteten schließlich bei. Es war dann von den letzten Momenten Sr. Majestät die Rede, und Puttkamer hielt für besonders wichtig, die Bekenntnistreue, welche sich in einigen Äußerungen in Kögels Anwesenheit ausgesprochen habe, publik zu machen. Bismarck wehrte mild ab und meinte: Se. Majestät sei ein echter Christ gewesen, aber diese Manifestation sei doch mehr nur eine murmelnde Zustimmung gewesen. Auch die Damen seien ihm mit ihren lauten Fragen, ob er Schmerzen habe, ob er gut liege, ob er wisse, daß er die Hand der Königin halte, lästig gewesen. Man hätte sehen können, wie er durch diese liebevolle, gut gemeinte Pflege auch in den früheren Krankheiten geplagt worden sei. Seine Antworten hätten Ungeduld verraten. Merkwürdig ist auch eine noch in den letzten Stunden getane Äußerung: „Er habe immer den Frieden gewollt und halte ihn auch für gesichert, wenn man ihn aber zum Kriege zwänge, so werde er ihn führen.“ Der alte Feldherr auf dem Totenbett! 11. März. Sonntag. Gestern Abend fand eine Sitzung im Abgeordnetenhaus statt, wo ein Schreiben des Staatsministeriums mitgeteilt wurde und das Telegramm des Kaisers Friedrich an das Staatsministerium, worin er für die bisherigen treuen Dienste dankt und auf a l l e r Unterstützung bei den weiteren ihm gewordenen Aufgaben rechnet. Die freisinnigen Zeitungen hatten das Omissum der Mitteilung Putt­kamers am 9. moniert, indem er die Notifikation der Thronbesteigung Kaiser Friedrichs unerwähnt ließ. Das bot den Anlaß, jene Mitteilung mit besonderer Feierlichkeit nachzuholen. Die Freisinnigen sollen sehr anmaßlich und hoffnungsvoll sein bezüglich des Eintritts eines sofortigen Wechsels im Ministerium. Nach dieser Ansicht würde ein Eisenbahndirektor Schrader, welcher eine englische Frau hat, eine große Rolle spielen. Wir werden ja bald sehen, wie weit sie sich hierin täuschen. Bezeichnend ist ihr Auftreten jedenfalls. Die Abendsitzung im Abgeordnetenhaus verlief ganz programmmäßig, ohne Störung. Sie endete mit einem vollstimmigen, ernsten Hoch auf den Kaiser und König Friedrich III. Wir blieben dann noch anderthalb Stunden im Ministerzimmer vereinigt und berieten den Entwurf einer von Sr. Majestät zu erlassenden 385

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Proklamation. Puttkamer hatte eine von Bosse in etwas zu pastoraler Form abgefaßte eingebracht, welche besonders Friedberg (der nächste langjährige Vertraute des jetzt regierenden Herrn) bemängelte als eine dem schlichten Sinn des jetzigen Herrschers nicht entsprechende. Ihm sei jede frömmelnde Ausdrucksweise von Grund aus zuwider. Puttkamer fand den Entwurf wundervoll, gab aber zu, er müsse dem Sinn des Urhebers entsprechend sein und man müsse den Eindruck, welchen die Proklamation auf das Publikum machen werde, auch erwägen. So wurden denn verschiedene „christliche Wendungen“ gestrichen. Goßler erzählte von seinen Unterhaltungen mit den von San Remo zurückgekehrten Ärzten. Bergmann, Waldeyer, Kußmaul ‒ sie alle erklärten das Vorhandensein hochgradigen Karzinoms und haben sich in diesem Sinn gegen die Kronprinzeß geäußert. Diese lehne es aber rund ab, ihnen zu glauben, weil die deutschen Ärzte alle zusammenhingen. Ebenso erklärt Mackenzie sich nicht für überzeugt, er könne übrigens weder operieren noch mikroskopieren noch verstehe er etwas von innerer Behandlung. So habe ihm Bergmann vorschlagen müssen, eine andere Diät einzuführen, Bismut anzuwenden bei eintretendem Durchfall. Er könnt nicht ein Rezept schreiben und begnüge sich, Mich und Whisky als Diät zu empfehlen. Es seien unleidliche Zustände unter den behandelnden Ärzten, die deutschen hätten sich gänzlich zurückgezogen. Die Dienerschaft sei über die Behandlung des Patienten ganz außer sich und besonders gegen Hovell erbittert. Wunderbare, traurige Zustände, welche hier sich weiterentwickeln werden. Die schlimmsten Geschichten scheint Prinz Wilhelm zu erzählen. Er habe selbst die blutigen Taschentücher, welche die frischen Sputa enthielten, aus dem Eimer ziehen müssen, um sie den Ärzten zur Untersuchung zu geben. Um 2 ¾ Uhr mittags fahren wir mittels Extrazug nach Leipzig dem Kaiser entgegen. Ob er uns wirklich nach der langen, ermüdenden Reise noch sehen wird, scheint zweifelhaft. Daß er aber selbst sofort kommt und diesen Befehl hat an uns gelangen lassen, macht den besten Eindruck. Das Testament Sr. Majestät mit fünf Kodizillen ist gestern in Gegenwart vom Haus-, Justizminister und vom badischen Gesandten eröffnet worden. Es scheint keine unerwarteten Dispositionen zu enthalten. Näheres habe ich aber noch nicht gehört. Von morgen 11 bis 5 Uhr wird der Katafalk im Dom öffentlich ausgestellt sein. Über das Leichenbegängnis, das mit der Beisetzung im Charlottenburger Mausoleum endet, ist noch keine nähere Bestimmung getroffen. Wahrscheinlich findet es am Sonnabend statt. 386

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12. März. Die gestrige Tour nach Leipzig verlief programmmäßig. Der kaiserliche Zug lief etwas verspätet ein und Se. Majestät empfing uns sofort in seinem erleuchteten Salonwagen, neben seiner Gemahlin stehend. Er trug offenen Militärüberrock, das Eiserne Kreuz und Pour le Mérite um den Hals. Der Rockkragen stand offen, war aber durch den Vollbart gedeckt. Mienenspiel, Gesichtsausdruck, Gestikulation war lebhaft, so daß man, in einiger Entfernung gesehen, den Eindruck eines lebhaft Sprechenden hatte. Die Gesichtsfarbe erschien bei dem Gaslicht gut, etwas echauffiert, Haar und Bart unverändert ‒ nicht ergraut ‒, Figur und Gesicht etwas gemagert, aber keineswegs abgezehrt oder gar elend. Allein er ist völlig stimmlos und schrieb, was er sagen wollte, auf einen Papierblock, wovon er die einzelnen Blätter abriß. Er begrüßte den Fürsten und Friedberg mit Umarmung und dreimaligem Kuß, besonders als er Letzteren sah, strahlte sein Auge förmlich. Uns anderen gab er freundlich die Hand und hielt uns ein Blatt vor: Haben Sie etwas Besonderes vorzutragen? Bismarck hielt ihm sofort Vortrag über verschiedene dringliche, sofort zu erledigende Geschäfte, Termin des Leichenbegängnisses, welches er auf Freitag fixierte, vorläufige Akkreditierung der Gesandten, damit ihre Äußerungen legitimiert seien bis zur Ausstellung neuer Beglaubigungen. Se. Majestät vollzog willig alle Vorschläge, nachdem mit einiger Schwierigkeit Tinte und Feder gefunden war. Abgesehen von der Stimmlosigkeit, war das gurgelnde, pfeifende Geräusch der aus der Kanüle strömenden Luft peinlich und fast erschreckend. Der Kaiser selbst aber und seine Umgebung scheinen vollkommen daran gewöhnt zu sein. Wir küßten beiden Majestäten die Hand. Hofmarschall Graf Eulenburg tat dasselbe, indem er sich auf das rechte Knie niederließ. Se. Majestät begrüßte ihn sehr freundlich. Den Grafen Herbert, welcher seinen Vater ohne besondere Order begleitet hatte, sah er erst etwas befremdet an, gab ihm dann aber auch die Hand. Die ganze Entrevue dauerte etwa fünfzehn Minuten. Bismarck, Albedyll, Stolberg blieben gleich in dem kaiserlichen Zug, während wir in unserem eine halbe Stunde später folgten und 10 ¼ Uhr wieder in Berlin eintrafen. Die beiden Leipziger Bürgermeister Georgi und Tröndlin sowie der Divisionskommandeur von Tschirschky waren anwesend, sahen den Kaiser aber nur vom Perron. 13. März. Die gestrige Abendzeitung brachte die Nachricht, Se. Majestät habe seiner Gemahlin und dem Justizminister Friedberg den Schwarzen Adler verliehen. Friedberg bestätigte die Nachricht mit dem Bemerken, Se. Majestät habe ihn in Leipzig nochmals ins Coupé rufen lassen und ihm sein eigenes altes Band und Kreuz umgehängt. Er habe es als sein alter Berater und Vertrauter seit sechsundzwanzig Jahren erhalten, nicht als Minister. 387

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Die Auszeichnung überwältige ihn, sie sei zu überraschend gekommen. Jetzt drücke es ihn nur, daß Maybach dieselbe Dekoration erhalte, was, wie er vermute, wohl schon heute der Fall sein werde. Friedberg hat diese hohe Auszeichnung wohl verdient. Seit von der Heydt hat meines Wissens kein bürgerlicher oder Zivilminister diese höchste Auszeichnung erhalten. Heute sind in den Morgenzeitungen zwei Manifeste Sr. Majestät erschienen, welche das politische Glaubensbekenntnis, Programm und Testament enthalten. Es sind schön geschriebene Schriftstücke und besonders wird der Absatz, welcher religiöse Toleranz stark betont, und ein anderer, welcher das Besteuerungsrecht von Kommunen und Verbänden einschränken will, stark beachtet werden. Es sind offenbar eigenste Gedanken und besonders keine Spur von Frömmelei. Wir besuchten heute die Paradeaufstellung der Leiche Sr. Majestät im Dom. Es ging alles ruhig und ordentlich zu, allerdings war es noch ein sehr gewähltes Publikum, das mit Karten zugelassen wurde. Eine Prozession bewegte sich ruhig an dem Katafalk vorüber, durch das Nordportal eintretend und durch das südliche austretend. Dazu gedämpftes Orgelspiel. Das Gesicht noch ganz unverändert. Um 3 Uhr mittags empfing uns der Kanzler zur Sitzung, offenbar sehr erleichtert durch seine wiederholten Unterredungen mit dem Kaiser. „Er fühle sich von der großen Besorgnis, mit einem todwunden Mann gegen unzweckmäßige Absichten kämpfen zu müssen bis zur Forderung der Entlassung, sehr erleichtert. Alles gehe leicht und angenehm mit dem hohen Herrn, wie ein jeu de roulette. Dabei sei Se. Majestät körperlich so beweglich gewesen, so unermüdlich freundlich, es ihm selbst bequem zu machen, daß er wahrhaft überwältigt gewesen sei. Se. Majestät habe nicht geruht, bis er sich auf eine Coucheuse gelegt habe, und habe jedem Versuch, sich aufzurichten, heftig widerstanden. Die beiden Proklamationen habe er ihm schon fertig im Coupé überreicht und er habe sich Zeit ausgebeten, sie ruhig durchzulesen. Dabei habe er dieselben nach Form und Inhalt so schön und richtig gefunden, daß die unveränderte Publikation erfolgt sei. Die Betonung der Gleichheit der Rechte der Fürsten und des Reichstags finde er ganz richtig, auch sonst nichts auszustellen. Der Kaiser wünsche in dem Ministerium keinerlei Personalveränderungen wie er auch nicht. Man dürfe jetzt nicht in andere Geleise fahren. Nach früheren Äußerungen in jüngeren Tagen habe man ja befürchten müssen, daß er allerlei abweichende Ziele verfolgen wolle ‒ d a s f ü r c h t e e r n i c h t m e h r !“ Genug, Bismarck sprach ganz con amore, wie ein von schwerer Besorgnis befreiter Mann. Beiläufig bemerkte er: Er habe Mackenzie gesprochen, 388

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welcher ein ganz gerissener Junge zu sein scheine. Mackenzie sehe offenbar die Krankheit nicht anders an wie die anderen deutschen Ärzte. Er fürchte jetzt nicht mehr „suffocation, but starvation“ sowie Perforation nach dem Ösophagus. Man müsse Se. Majestät vor Gemütsbewegung, Aufregung, Ärger hüten, aber genug zu tun geben, „to feel himself occupied“. Über die mögliche Lebensdauer äußerte sich Bismarck nicht ‒ obschon er sicher danach gefragt hat. Ich habe den Eindruck, daß Bismarck nicht auf längere Dauer rechnet und schon darum alles lassen will, wie es ist. Den Hauptgegenstand der Beratung bildete dann die Frage, wie Sr. Majestät die Eidesleistung vor den versammelten Kammern erspart werden könne. Er habe erst an eine Sitzung in Charlottenburg gedacht, wo Se. Majestät sie mündlich leisten könne ‒ damit sei er auch einverstanden gewesen. Nachher sei ihm in schlechter Nacht der Gedanke gekommen, die dauernde Aphonie Sr. Majestät nicht so öffentlich zu konstatieren und an deren Stelle eine schriftliche Botschaft zu setzen, welche den Kammern in vereinigter Sitzung mitgeteilt werde und welche das Gelöbnis, die Verfassung unverbrüchlich zu halten, enthalte. Dabei bleibe offen, ob, wo und wann der eigentliche Schwur erfolge. Es wurde über diese Frage lange hin und her geredet, bis Bismarck ungeduldig wurde. Er hält weder diesen Eid noch die Vereidigung der Minister noch der übrigen schon einmal vereidigten Beamten und Abgeordneten für nötig. Er selbst habe seines Wissens nur den Fahneneid als Gardejäger geleistet. Nachher gab er zu, auch den Homagialeid als Landstand und den Eid als Abgeordneter geleistet zu haben. Er wolle aber die Verkündung der Botschaft möglichst wenig feierlich, sicherlich nicht im Weißen Saal haben. Dagegen im Abgeordnetenhaus in vereinigter Sitzung beider Häuser. Die Botschaft würde dann verlesen ‒ eine für den Landtag, eine für den Reichstag. Letztere noch endgültig zu redigieren, behielt er sich vor; sie sei kein Gegenstand der Beschlußfassung des Staatministeriums. „Je größer die Verhältnisse, in welchen man sich bewege, umso einfacher müsse die Diktion sein.“ Die Äußerungen, welche er über die Notwendigkeit der Erfüllung dieser von der Verfassung vorgeschriebenen Dinge tat, waren nicht ganz unbedenklich und machten den Eindruck, als sei er geneigt, sich über dieselben hinwegzusetzen oder sie lediglich als Formalien ohne besondere Bedeutung zu behandeln. An dem Leichenbegängnis will er sich in Rücksicht auf seine Gesundheit und auf das naßkalte Wetter ‒ es liegt noch viel Schnee ‒ nicht beteiligen, und das ist sicher berechtigt. Er hätte die Krone tragen sollen, man habe aber gleich angenommen, daß er nicht imstande sein werde, das zu übernehmen. 389

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Es sind zweitausendfünfhundert Schritt zu gehen vom Dom bis zur Siegesallee, was bei dem jetzt wechselnden Wetter und enormen Schneegestöber für ältere Herren zu viel sei. Moltke habe auch abgelehnt, in dieser Weise zu funktionieren. Wegen der Form der Botschaft habe er mit Köller und Miquel konferiert und dabei größtes Entgegenkommen und die Meinung gefunden, der Landtag werde mit jeder Form zufrieden sein. Es liegt eine Kabinettorder vor, worin das Staatsministerium angewiesen wird, wegen der Eidesleistung der Beamten das Nötige zu veranlassen. Das wird nun demnächst geschehen. Se. Majestät hat gestern Abend Fieber gehabt und sich weniger wohl befunden nach dem Empfang Forckenbecks und der städtischen Deputation. Die Herren seien, obschon abbestellt, doch erschienen, weil der Absagebrief sie nicht mehr erreicht habe. Bei der stummen Unterhaltung seien einige übergemütvolle Väter der Stadt in Tränen und Schluchzen ausgebrochen, was wiederum Se. Majestät sehr bewegt und erregt habe. Caprivi meinte, die Ernennung Albedylls zum Hausminister sei eine ausgemachte Sache, auch la maison militaire werde neu ernannt weiden, die Publikation aber erst nach der Bestattung erfolgen. Man sieht in General von Winterfeld den künftigen Chef des Militärkabinetts, einen höchst zuverlässigen, kenntnisreichen Mann. Allerdings bedarf die Stellung des Militärkabinetts zum Kriegsminister wohl einer gründlichen Veränderung, aber sie wird wohl kaum eintreten. 16. März. Die Anordnung des Trauerzuges ist gestern bekannt gegeben. Da starker Ostwind und 8 Grad Kälte, ist anbefohlen, daß alles in Mänteln und Paletots erscheint. Stolberg trägt die Krone, Puttkamer das Szepter, Maybach Reichsapfel, ich Schwarze Adlerkette, Friedberg das Siegel, Bronsart das Schwert, Bötticher den Kurhut, Goßler-Scholz das Kurschwert abwechselnd. Scholz hat sich krankgemeldet, ist auch oft halsleidend. Bismarck und Moltke fungieren nicht im Zug. Maybach hat den Schwarzen Adler erhalten. Um drei Uhr mittags war ich vom Leichenbegräbnis zu Hause. Das Wetter war windig und kalt, aber klar. Alles ging geordnet und würdig vonstatten. Fürstlichkeiten waren in großer Anzahl zugegen. Am Brandenburger Tor stand die ernste sinnige Inschrift: Vale senex imperator! An der Siegesallee löste der Zug sich auf, die Kroninsignien wurden uns hier von Gardesducorps abgenommen, die Fürstlichkeiten stiegen in Wagen, die Adjutanten zu Pferd, um den Zug bis zum Mausoleum in Charlottenburg zu geleiten. Kaiser Friedrich sah ihn vom Schloßfenster aus passieren. So ist dieser Trauerakt und damit die große Periode der deutschen Geschichte zu Ende! 390

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Graf Blumenthal ist zum Feldmarschall ernannt worden. So hat der neue Monarch seine nächsten alten Freunde und Berater schön bedacht. 19. März. Der Winter nimmt in diesem Jahr gar kein Ende. Es schneit wieder seit vierundzwanzig Stunden und der Schnee liegt meterhoch in den Straßen. Heute werden die Antrittsproklamationen im Landtag und im Reichstag verlesen werden und Letzterer wohl bald geschlossen. Friedberg fürchtet, daß Se. Majestät Herrn von Puttkamer demnächst beseitigen und überhaupt einige seinen Liberalismus betätigende Demonstrationen machen wird. Bismarck wundert sich, daß die vom Staatsministerium entworfenen Proklamationen noch nicht durch Anschlag bekannt gemacht sind. Der hochselige Kaiser Wilhelm scheint neuerlich keine weiteren Testamentsbestimmungen getroffen zu haben. 19. März. Bismarck hat soeben vor den dicht besetzten Häusern des Landtags die kurze königliche Proklamation verlesen. Der Herzog von Ratibor präsidierte der vereinigten Sitzung und brachte etwas stolpernd das Hoch auf Se. Majestät aus. Bronsart meinte, Se. Majestät habe ungemeine Eile, durch neue Anordnungen seinen Namen zu verewigen, so habe er bereits die Abschaffung der Epaulettes dekretiert. Demzufolge erschien auch Bismarck und er im Waffenrock mit Schulterstücken, was ein ungewohnter Anblick. Der nächste Schwarze Adler wird an den früheren Reichstags-Präsidenten Simson verliehen werden, welcher damals die Kaiserdeputation in Versailles anführte. Es ist das, wie Friedberg sagt, eine alte Idee des jetzigen Monarchen, welcher sich zurzeit ziemlich wohl fühlt, während im Abgeordnetenhaus erzählt wurde, er befinde sich in extremis. 22. März. Ein trüber kalter Tag, halb Schnee, halb Regen geht herunter und die Straßen sind durch hohe Schneehaufen fast gesperrt. Es fand Trauergottesdienst am Geburtstag unseres alten Herrn statt, welchem ich mit Maybach in der Hedwigskirche beiwohnte. Danach in der Singakademie eine würdige Trauerfeier ‒ Rede des Geheimrat Jordan. In der später stattfindenden Sitzung des Staatsministeriums teilte Bismarck mit: Es hätten inzwischen Vorfälle sich ereignet, welche den Bestand des Staatsministeriums aufs Ernsteste in Frage stellten. Se. Majestät habe Wilmowski gegenüber die Vollziehung sowohl des Sozialistengesetzes wie desjenigen betreffs der Verlängerung der Legislaturperioden abgelehnt und auf einem Umschlag alle die Gründe der Fortschrittspartei sich angeeignet, welche diese gegen jene Gesetze vorgebracht habe. Er (der Kaiser) besorge 391

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außerdem, daß seitens der Regierung für das Zustandekommen dieser Gesetze ein Druck angewendet worden sei, welchen er nicht billige. Er habe darauf gestern sich zum Vortrag bei Sr. Majestät gemeldet. Vorher sei ihm durch Wilmowski und General von Winterfeld der Wunsch Sr. Majestät ausgedrückt worden, von einer möglichst großen Zahl von Geschäften entlastet zu werden und die Stellvertretung dem Prinzen Wilhelm zu übertragen. Er (Bismarck) habe dagegen verlangt, in dieser Sache keinen Schritt aus eigener Initiative zu tun, sondern erklärt, mit Vorschlägen dieser Art nur auf ausdrücklichen Befehl Sr. Majestät hervortreten zu wollen. Zunächst ist Bismarck gestern bei Ihrer Majestät gewesen, von welcher sich bei seinem Eintritt eiligst drei Damen (von Helmholtz, von Stockmar, Schrader) empfahlen. Bismarck hat Ihrer Majestät vorgestellt, daß die Nichtvollziehung jener beiden mit großer Majorität angenommenen Gesetzentwürfe eine völlige Umkehrung der bisherigen Regierungspolitik bedeuten würde, welche das jetzige Staatsministerium nicht mitmachen könne. Zudem sei der Kaiser, welchem nicht ein Veto, sondern nur ein Verkündigungsrecht der ordnungsmäßig zustande gekommenen Reichsgesetze zustehe, gar nicht in der Lage, seine Unterschrift zu versagen, nachdem die preußische Stimme im Bundesrat dafür abgegeben worden sei. Die Kaiserin habe sehr erstaunt getan, gemeint, es solle ja alles in den bisherigen Geleisen bleiben, und sei dann fortgelaufen, nicht zu den Damen (wie sie gesagt habe), sondern in das Kabinett des Kaisers. Sie sei nach einigen Minuten zurückgekehrt und der Kaiser habe ihm dann beide Gesetze, mit noch nassen Unterschriften versehen, überreicht. Vorher habe er (Bismarck) noch mit Ihrer Majestät die Stellvertretungsfrage besprochen und sie durch die Frage perplex gemacht, ob sie denn wisse, daß der Kronprinz dieses Kommissorium übernehmen wolle. Sie habe gemeint: Natürlich wird er wollen. Bismarck: Das werde doch nur von solchen Regierungshandlungen gelten können, mit welchen der Kronprinz einverstanden sei; er werde sich schwerlich mit einer Politik identifizieren, welche seinen Anschauungen entgegenginge. Er erinnere daran, daß sich ja Se. Majestät, der jetzt regierende Herr, 1863 in Danzig in einer ähnlichen Lage befunden habe, wo er hautement die Politik seines Herrn Vaters desavouiert habe. Ihre Majestät sei davon vollständig umgeworfen worden und habe sich zu allem bereit erklärt. Bei Sr. Majestät sei dann alles glattgegangen, er habe ihn ungezwungen freundlich empfangen und seinen Ausführungen zwar nicht lebhaft zugestimmt, aber sie doch billigend ruhig angehört. Er habe ihn besonders aufmerksam gemacht, daß es doch kein Grund gegen die Vollziehung eines Gesetzes sein dürfe, daß sich die Regierung lebhaft für das Zustandekommen interessiert habe. Das 392

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durchlöchere ja die Basis der ganzen seit zwanzig Jahren befolgten Politik. Er habe dann Sr. Majestät die Stellvertretungsorder vorgelegt, welche der vom 17. November 1887 für den Prinzen Wilhelm vom hochseligen Kaiser ausgestellten im Wesentlichen entspreche, und habe die Worte I. A., I. B., I. Namen zur Auswahl gestellt, und habe sich Se. Majestät für I. B., also für die weitgehendste Fassung entschieden, und demgemäß die Order vollzogen. Prinz Wilhelm habe sich für die Übernahme des Kommissoriums bereit erklärt unter der Voraussetzung, daß ihm nicht Dinge zugemutet würden, mit welchen er nicht einverstanden sei. So sei zwar vorläufig alles wieder eingerenkt, aber er fühle, man stehe auf einem unsicheren Grund, auf einem Schneehaufen, welcher jeden Tag zusammenschmelzen könne. Wer Frau von Stockmar sei? Friedberg: Eine Schwester des Gesandten von Schmidthals in Lissabon. ‒ Ah, daher die Ernennung. In der Hoforganisation soll alles auf den Kopf gestellt werden. Graf Stolberg stehe nicht in hoher Gunst, zwischen Stosch und Ihrer Majestät müsse ein tiefer Riß bestehen, denn sie habe eine Ernennung abgelehnt, weil sie als durch Stoschs Einfluß veranlaßt gedeutet werden könne. Stosch müsse ungeschickt operiert haben, denn man nahm früher an, er werde Hausminister unter dem jetzigen Herrn werden. (Das war Bismarck evident nicht unlieb.) Die ganze Vermögensverwaltung soll dem Hausministerium abgenommen werden und auf das Hofmarschallamt übertragen werden. Radolinski protestiere vergeblich dagegen, weil er seine volle Inkapazität dafür einsehe. Dann blieben dem Hausminister nur noch die Kurialien u. s. w. Se. Majestät wolle morgen die Vereidigung der Minister in einem Kronrat (früher Conseil genannt) vornehmen, und Bismarck schlug als Tagesordnung vor: 1. Errichtung eines Denkmals für Se. Majestät. 2. Exposé über die innere deutsche und über auswärtige Politik. 3. Fall Stöcker. Letzterer Fall liege Sr. Majestät sehr am Herzen, er habe gemeint, ihn beliebig strafversetzen zu können. Stöcker sei aber nicht anders amovible als im Disziplinarverfahren. Dazu scheinen auch Schritte vom Oberkirchenrat eingeleitet worden zu sein, welchen dann ein weiterer Fortgang nicht gegeben sei. Bismarck bewunderte Stöckers Eifer und Beredsamkeit in der inneren Mission und würde ihn nicht gerne hart behandelt sehen. Aber seine sonstige Agitation passe weder für einen Dom- und noch weniger für einen Hofprediger. Goßler möge den Fall morgen vortragen, und der erklärte sich sauersüß dazu bereit. Bismarck sprach dann noch über die Schwierigkeiten, welche in der inneren deutschen Politik entstehen könnten ‒ Sachsen, Bayern gegenüber, wenn 393

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man hier die Souveräne verletze. Ebenso zu Österreich und Rußland, wenn die Beziehungen einmal kühler würden. Friedberg deutete auf den von Sr. Majestät wiederholt geäußerten Wunsch hin, eine Amnestie zu erlassen, und legte einen Entwurf vor, welchen er auf Grund der ihm wiederholt gegebenen Anregungen hin aufgestellt habe und welcher dieselben in einem unschädlichen Rahmen hielt. Bismarck wehrte sich lebhaft gegen einen solchen Schritt, obschon er nicht in Abrede stellen konnte, daß bei der Thronbesteigung der letzten drei Könige Amnestien erlassen worden seien und daß der letzte Monarch 1861, 1867 und 1871 solche erlassen habe. Man einigte sich dahin, gegen den Erlaß anzugehen, sich aber den friedbergschen Entwurf abhandeln lassen zu wollen. „Es sei ein sonderbarer Gnadenerweis, eine Verbrecherschar über das Land loszulassen, insbesondere dürfe von einer Begnadigung der Sozialdemokraten, von Hochund Landesverrätern nicht die Rede sein. Eine von Frau von Hansemann auf Betrieb der fortschrittlichen Damen Helmholtz, Schrader, Stockmar kolportierte Ergebenheitsadresse an Ihre Majestät soll amtlich nicht unterstützt respektive die Beteiligung unserer Damen abgelehnt werden.“ 23. März. Caprivi meinte, Stosch habe die Stellung als diensttuender Generaladjutant beim jetzigen Kaiser seit Jahren ambiert. Eine Stellung, welche je nach der Persönlichkeit des Betreffenden die einflußreichste im Staat gewesen sei unter Friedrich Wilhelm III. und IV. Sie könne das auch wieder jederzeit werden. Daß Stosch als letztes Ziel auf den Kanzler gesteuert habe, hielt er für sehr möglich. Mit der Kronprinzeß habe er es schon vor Jahren verdorben durch Heftigkeit, welche über sein berechnendes Wesen gesiegt habe bei Gelegenheit einer Flottenrevüe, wo sie eine Bevorzugung englischer Korrespondenten vor den deutschen verlangt habe. Also auch hier: kleine Ursachen, große Wirkungen! Bismarck war gestern offenbar befriedigt, seinen alten Gegner außer Gefecht gesetzt zu wissen, er bleibt der überlegene Meister in allen Transaktionen ‒ so ist die Vorsicht, mit welcher er jetzt gegenüber Kaiser, Kronprinz, Kaiserin operiert, unübertrefflich. Wir werden im heutigen Kronrat ein weiteres Stück davon erleben, worauf ich sehr gespannt bin. Es ist endlich wieder ein klarer, sonniger Tag! Das Charlottenburger Schloß macht selbst im Schnee gesehen mit seinen enorm langen, rokokomöblierten Zimmerreihen, blank und sauber gehalten, gut geheizt und mit blühenden Blumenstöcken besetzt, einen stattlichen und zugleich behaglichen Eindruck. Wir waren alle reichlich früh gekommen und hatten Zeit, uns im unteren Stock umzusehen, wo auch eine große Menge Porträts interessanter Persönlichkeiten die Wände schmücken. 394

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Der obere Stock ist der von den Majestäten bewohnte Teil. Außer uns Ministern war auch Graf Stolberg als Minister des Königlichen Hauses und Unterstaatssekretär Homeyer als Protokollführer erschienen. Bismarck ging zuerst hinauf zu Sr. Majestät, um über die Form der Eidesleistung sich zu verständigen. Er kam mit der Direktive, das Gelöbnis der Treue und des Gehorsams mittels Handschlag an Eides statt abzugeben. Wir arrangierten uns nach dem Dienstalter in einer Reihe. Se. Majestät erschien mit Schleppsäbel, Band, am Hals offenem Waffenrock, begleitet von den Prinzen Wilhelm und Heinrich im gleichen Anzug. Bismarck trat vor, verlas das im Voraus abgefaßte Protokoll, welches genau wie das von 1861 abgefaßte war, was Bismarck mit dem Bemerken konstatierte, daß das allerhöchste Vertrauen darin zu den gegenwärtigen Herren ausgesprochen sei, was Se. Majestät lächelnd zustimmend billigte. Bismarck sprach dann eine Gelöbnisformel aus und küßte ihm die Hand, was wir dann auch alle der Reihe nach taten. Dann nahmen wir an einer langen Tafel Platz, an deren einer Seite Se. Majestät mit beiden Söhnen mir gegenüber saßen. Bismarck führte den ersten Gegenstand ein mit dem Bericht über den Beschluß des Reichstags, Sr. Majestät dem Kaiser Wilhelm ein Nationaldenkmal zu setzen. Se. Majestät hörte ihn ernst, mit zustimmenden Bewegungen an und schrieb dann auf einen Zettel, er wolle selbst seinem Vater ein Denkmal setzen. Das decontenancierte den Fürsten etwas, er resümierte aber schnell diese allerhöchste Entscheidung dahin: der Kultusminister werde mit den Vorbereitungen zur weiteren Ausführung beauftragt. Dann gab Bismarck ein großartiges Resümee seiner bisher unter Zustimmung des hochseligen Kaisers verfolgten Politik. Nachdem Deutschland durch glückliche Kriege die Machtstellung erreicht habe, welche es nötig habe, sei unsere Politik darauf gerichtet gewesen, die Koalitionen zu verhüten, welche seine fernere Existenz gefährden könnten. Das seien die Koalitionen des Siebenjährigen Krieges, von Österreich, Rußland, Frankreich zusammen oder auch von einigen dieser Mächte gegen uns. Wir seien nicht wie Frankreich unter Louis XIV., wo der König selbst oder einer seiner Minister alljährlich das Bedürfnis gefühlt habe, über seine Nachbarn herzufallen. Wir hätten jetzt unsere richtigen Grenzen und könnten bei der allgemeinen Wehrpflicht überhaupt keine Eroberungs- oder sonst frivole Kriege führen. Wir hätten mit Rußland keine kollidierenden Interessen, auch nichts von einem glücklichen Krieg mit Rußland zu erwarten. Rußland habe 1875 gefragt, ob wir bei einem Angriff auf Österreich neutral bleiben würden. Er habe sich vier Wochen hindurch dem entzogen, eine Antwort 395

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zu geben und geraten, den General von Werder, welcher in Livadia war, von dort zurückzurufen. Schließlich habe er mit Sr. Majestät Zustimmung geantwortet: „Nein.“ Denn wir könnten Österreich nicht als mächtigen Staat verschwinden lassen und Rußland preisgeben. Darauf habe Rußland 1876 in Reichstadt einen Vertrag mit Österreich geschlossen, um freie Hand im Orient zu bekommen. Österreich habe das hinterher hier mitgeteilt und damit den Beweis geliefert, daß es sich Deutschland als Freund aufrichtig genähert habe. Daraus sei 1879 das Bündnis hervorgegangen. Er habe dann dem Kaiser von Österreich klarzumachen versucht, daß Rußland, in Bulgarien und selbst in Konstantinopel stehend, in einer schwächeren Position sei ‒ militärisch betrachtet ‒, als wenn es vor dem Einfall in Galizien stehe. Der Kaiser habe ihm auch hierin recht gegeben. Österreich dürfe gegen Rußland nicht eher losschlagen, als bis England aus seiner Passivität herausgedrängt sei und seine Interessen im Orient aktiv betätige, bis seine Kanonen im Bosporus knallten wie im Krimkrieg. Das sei der Moment ‒ wenn England nicht mehr wie in den letzten zehn Jahren, durch Gladstones falsche Politik verleitet, sich nur um häusliche Dinge kümmere. Wir könnten es auch nicht ruhig mit ansehen, wenn Österreich, auch ohne daß casus foederis vorliege, mit Rußland in einen Krieg geriete; wir müßten dann anfangs faire le mort, den Toten spielen, aber nicht so lange, um Österreich vernichten zu lassen. Wir könnten auch nicht ruhig England von Frankreich angreifen und vernichten lassen, wir müßten auch England in seiner europäischen Stellung erhalten. Auf die Hilfe Italiens, mit welchem wir einen sehr ausgiebigen Vertrag geschlossen hätten, dürften wir zwar militärisch nicht erheblich rechnen, weil kein Verlaß sei auf ein Land, wo das Parlament mitrede, ob Truppen marschieren sollten. Aber die Allianz habe doch ihren Wert. Er erbitte die Erlaubnis, diese äußere Politik auch ferner verfolgen zu dürfen. Se. Majestät und beide Prinzen folgten diesem interessanten Vortrag mit gespannter Aufmerksamkeit, ohne daß die Prinzen Zeichen von Zustimmung gaben, während Se. Majestät wiederholt zustimmend nickte. ‒ Bismarck betonte wiederholt: „Er könne nur eine deutsche, nicht aber eine fremde (englische) Politik machen!“ Dann berichtete der Finanzminister Scholz über die Notwendigkeit der Ausprägung von zehn bis zwölf Millionen neuer Goldmünzen und ebenso viel Silbermünzen, die technischen Schwierigkeiten darstellend, damit schneller als wie in etwa sieben Wochen zustande zu kommen. Es erregte dies Sr. Majestät lebhaftes Interesse, aber bei den Worten: „Es werde wahr396

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scheinlich Pfingsten herankommen darüber, bis die neuen Münzen heraus seien,“ schlug Se. Majestät die Hände mit schmerzlichem Ausdruck zusammen, als werde das zu spät sein, es zu erleben. Er bestätigte aber schriftlich die von Scholz ausgesprochene Meinung: die Stempel müßten doch auch künstlerisch tüchtig und vollkommen hergestellt werden. Diese Angelegenheit beschäftigte Se. Majestät offenbar lebhaft. Dann kam Goßler mit einem hölzernen aktenmäßigen Vortrag über die Lage, in welcher der Fall Stöcker sich beim Oberkirchenrat befinde. Die Sache ist anhängig beim Oberkirchenrat und ruht da seit anderthalb Jahren. Stöcker habe sich bereit erklärt, sich mit einem Ruhegehalt von dreitausend Mark zurückzuziehen, und ebenso sei der Finanzminister bereit, diese Mittel zu beschaffen. Bismarck schlug dann vor, den Kultusminister zu beauftragen, die Sache wieder in Fluß zu bringen und seinerzeit, mit einem Votum des Justizministers versehen, weiter in der Sache zu berichten. ‒ Bismarck sagte dabei etwa dasselbe wie in der gestrigen Sitzung des Staatsministeriums. Er bewundere Stöckers mutiges, beredtes Auftreten ‒ er habe ein Maul wie ein Schwert ‒ umso mehr, als er so viel Lauigkeit und Rechnungsträgerei finde bei denen, welche ihm sonst politisch beiständen, aber diese Kampfesart schicke sich nicht für einen Dom- oder gar Hofprediger. Stöcker stehe auch politisch weiter rechts wie er, etwa auf dem Boden der Kreuzzeitung, von welcher er seit zehn Jahren bekämpft werde. Vielleicht stehe er auch kirchlich weiter rechts ‒ er wisse das nicht. Die Prinzen lächelten dabei, während Se. Majestät ernst aussah und seinen inneren Grimm beherrschte; er erklärte aber auch hier sich einverstanden durch Kopfnicken mit dem vorgeschlagenen modus procedendi. Damit endete der Kronrat fünf Minuten vor 3 Uhr, nachdem er nicht voll eine Stunde gedauert hatte. Se. Majestät gab dann uns allen die Hand ‒ Puttkamer, wie mir schien, kürzer und sich schneller wegwendend. Se. Majestät sah bei Tageslicht gelber und matter aus wie neulich in Leipzig, aber in Bewegung und Mienenspiel lebhaft und nicht wie ein sterbender Mann. Fest und würdevoll im Auftreten. Es war ein feierlicher, ernster Akt, und man kann nur immer wieder bedauern, diesen schönen, edlen Mann in seiner neuen Würde so krank und stumm zu sehen. Am 25. März hatten wir ‒ das Staatsministerium exklusive Bismarck ‒ Audienz bei der Kaiserin-Witwe. Sie empfing uns im Rollstuhl sitzend, in tiefe Trauer gekleidet, mit der Großherzogin von Baden hinter ihrem Stuhl. Sie hielt uns eine warme, hübsch gefühlte Ansprache. Sie müsse uns wiederholt ihren Dank sagen für die Treue, mit welcher wir dem Kaiser gedient und 397

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ihm sein schweres Amt erleichtert hätten. Er habe sich selbst auch nie Ruhe gegönnt und immer gesagt, wenn sie ihm geraten habe, sich mehr zu schonen: er habe keine Zeit zum Ausruhen. Seine Minister arbeiteten auch tüchtig und machten es ihm leicht. Er sei so zufrieden mit uns allen gewesen, und habe das oft und gern ausgesprochen; sie danke uns auch dafür und werde sich immer für uns und unsere Familien interessieren. Wenn wir sie zu sprechen wünschten, möchten wir uns nur melden. Dann gab sie uns allen zum Abschied die Hand, ebenso die Großherzogin. Wir waren alle bewegt von ihrem schlichten, herzlichen und doch königlichen Wesen. Am Tage vorher war die Trauerdefiliercour vor der Kaiserin Friedrich. Die Damen kohlschwarz und völlig unkenntlich durch die langen, dichten Schleier vor dem Gesicht. Die Kaiserin stand auf der gleichfalls ganz schwarz ausgeschlagenen Thronestrade und erwiderte jede Verbeugung. Die Sache dauerte knapp eine Stunde. Die Galerien waren gegen das Tageslicht verhängt und mit Kerzen erleuchtet. Sr. Majestät soll es sehr gut gehen. Es habe sich ein starkes Knorpelstück gelöst, was bei Krebs nie vorkäme. Auswurf und Husten seien ganz gering. Die Zeitungen sprechen wieder so, als stehe eine völlige Rekonvaleszenz in Aussicht, während die deutschen Ärzte an ihrer pessimistischen Auffassung festhalten. Se. Majestät hat drei Schwarze Adlerorden bisher an Bürgerliche gegeben, an Maybach, Friedberg und Simson. Ferner an General von Schlotheim und zwei Prinzen. An Standeserhöhungen sollen fünf Fürsten- und zweiundzwanzig Grafen- und Freiherrntitel beabsichtigt sein. Sechs bis acht Regimenter, deren Chef der Kronprinz war, haben neue Bezeichnungen und Namenszüge erhalten. 1. April. Wetter wieder rauer, aber kein Frost. Zu Bismarcks Geburtstag eine förmliche Gratulationscour von Prinzen, Botschaftern und Ministern. Die Damen des Hauses und sonstige Eingeweihte erschienen in heller Toilette, nicht in Trauer. Bismarck empfing selbst sehr munter, rechts und links Hände schüttelnd. Die beabsichtigte Amnestie, welcher Bismarck nicht weiter widerstrebt hat, ist gestern herausgekommen und bewegt sich in bescheidenen Grenzen. Nach Bismarcks Äußerungen mehren sich indessen die Schwierigkeiten. Die Battenberger Heirat scheint wieder betrieben zu werden. Bismarck droht mit Demission, und die öftere Wiederkehr solcher Friktionen könnte doch zum Bruche führen. Eine Kabinettsorder bestimmt, das Neue Palais solle künftig „Friedrichskron“ heißen, ein wunderlicher, pietätloser Einfall, dem alten Bau Friedrichs des Großen einen dänischen modernen Namen zu geben. Eine andere Order befiehlt in kategorischem Ton, den Ausbau und die Vergrößerung des Doms zu projektieren und zur 398

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Vorlage zu bringen. Im Moment, wo durch große Überschwemmungen ausgedehnte Landschaften verarmen, etwas mal à propos. 5. April. Das Befinden Sr. Majestät ist in den letzten Tagen wieder weniger zufriedenstellend gewesen, indem ein größeres Knorpelstück ausgestoßen wurde. Dabei ist aber das Allgemeinbefinden nicht schlecht und Appetit vorhanden. Das Körpergewicht zunehmend! Von den Demissionsdrohungen scheint etwas transpiriert ‒ Wiener Zeitungen bringen es als Gerücht. In Paris ist inzwischen ein radikales Ministerium Goblet-Freycinet ans Ruder gekommen. Man sieht darin einen Sieg Boulangers. Diese Dinge sind aber schwer zu taxieren und reflektieren auf die russischen Beziehungen. Die Rüstungen und Truppenbewegungen dauern dort immer noch an. Der Horizont ist somit nicht unbewölkt. Das Schlimmste aber wäre, wenn hier die Verhältnisse ins Schwanken gerieten, wo bisher der sicherste Pol für die Erhaltung des Friedens war. Die Inaugurierung einer englischen und Rußland feindlichen Politik würde ihre üblen Früchte schnell genug tragen. Bennigsen hat den Roten Adler 1. Klasse erhalten! Ein bisher unerhörtes Novum, daß eine Nichtexzellenz, ein Landesdirektor, Rat 3. Klasse, diese hohe Dekoration erhält. Der Persönlichkeit aber wohl zu gönnen ‒ Bismarck hat sicher gern zugestimmt. 8. April. Die Kanzlerkrisis ist noch nicht zu Ende. Nachdem Bismarck glaubte, sich in einer zweistündigen Konversation mit Ihrer Majestät verständigt zu haben, sind die bisherigen Schwierigkeiten wiederaufgetaucht. So hat Bismarck gestern Friedberg gegenüber die Absicht ausgesprochen, sich zurückzuziehen, und Sr. Majestät empfohlen, das Ministerium in seinem bisherigen Bestand zu erhalten. Er hat dann gestern noch eine lange Unterhaltung mit dem Kronprinzen gehabt, welcher gleichfalls fest ist in seinem Widerstand. Inzwischen bringt die Kölnische Zeitung lange Auseinandersetzungen über die bestehende Krisis, welche nur in der Wilhelmstraße ihren Ursprung haben können, voll Polemik gegen die Versuche, Deutschland in den Dienst von Englands Politik zu stellen. Die Sprache ist sehr scharf und deutlich. Roggenbach, der frühere badische Premier, welchen ich bei Friedberg traf, meinte, man solle sorgen, die Tragödie nicht in einer Tragikomödie enden zu lassen. Das Befinden Sr. Majestät verschlechtert sich offenbar. Es sollen Schwellungen am Hals erschienen sein, außerdem Mattigkeit und Schlaflosigkeit zunehmen. Er habe neulich bis morgens 5 Uhr schlaflos gelegen. Schlaf, guter Appetit, viel körperliche Bewegung in frischer Luft waren sonst sein Lebenselement. 399

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Friedberg meinte: Die Ärzte glaubten, Se. Majestät werde die auf Mitte Mai fixierte Hochzeit des Prinzen Heinrich nicht erleben. Gestern Abend war ich zum Tee bei der Kaiserin-Witwe, wo die badischen Herrschaften, Kronprinzeß von Schweden, Graf Stolberg und General Graf Goltz. Ein ganz behaglicher Plauderabend in allerdings recht gedämpfter Stimmung. Die Kaiserin befahl beim Wegfahren im Rollstuhl: „Niemand rührt sich.“ Was natürlich beachtet wurde. Sie wird rückwärts sitzend aus dem Salon auf ihrem Rollstuhl weggefahren. Die Großherzogin sprach nachher noch viel von ihrem Vater und seinen letzten Stunden. Auf die Frage, ob er sich recht krank fühle, habe er geantwortet: „Krank nicht, aber sterbend.“ Der alte Goltz war ganz außer sich über die vielen, überstürzten Änderungen, welche Se. Majestät vornehme. Er weiß vielleicht von mehr, was noch in petto ist, denn in den letzten Tagen ist in der Beziehung Besonderes nicht geschehen. Die Lage ist so, daß jeder am besten an seinem Posten ruhig seine Pflicht tut und im Übrigen abwartet, was geschieht. 12. April. Sitzung beim Fürsten. Er ist gestern bei Sr. Majestät gewesen, welcher ihn schriftlich fragte: Ob er die Krisis als beendet ansehe, was er mit Rücksicht auf diese Frage bejaht habe. Hierauf habe Se. Majestät einen vorher geschriebenen Zettel herausgezogen, in welchem er den Wunsch aussprach, die Sache, Battenberger Heirat betreffend, im Sinne Bismarcks beigelegt zu sehen. Bismarck meinte, damit sei seines Erachtens die Sache erledigt, er könne das aber nicht verlautbaren, weil es sonst wie ein Triumphgeschrei seinerseits ausgelegt werde. Er habe inzwischen nach Breslau und Leipzig Winke gegeben, die Adreßbewegung einzustellen, welche ihm unangenehm sei. Diese Adreßbewegung, welche auf Bismarcks Verbleiben im Amt gerichtet war, war in der Tat, wenn auch gut gemeint, ebenso ungehörig wie die scharfe Polemik gegen die Kaiserin Friedrich. Er erzählte dann seine Konversation mit der Kaiserin, welche voll scharfer Pointen war: Es sei eine Verbindung, welche der königlichen Familie nicht zur Ehre gereichen könne, er zweifle auch an der Uneigennützigkeit des Battenbergers. Er möge unter anderen Umständen, vielleicht nach einem Thronwechsel, heiraten und in Darmstadt leben, das sei eine andere Sache. Sie habe sich dabei ausweichend verhalten. Von Schorlemer, welcher mich heute früh in geschäftlichen Dingen besuchte, erzählte, es sei Tatsache, daß die Kaiserin in steter Verbindung mit Eisenbahndirektor Schrader stehe, welcher durch seine Frau, eine zur Gouvernante erzogene Deutsch-Engländerin, in große Intimität gelangt sei. Ihre Majestät sprach es aus, daß sie in keiner wichtigen Sache handle, ohne sich 400

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mit ihm beraten zu haben. Die Fortschrittler seien überzeugt gewesen, jetzt zur Regierung zu kommen, und hätten das ganz offen ausgesprochen in den ersten Tagen nach der Katastrophe. „Rickert sei umherstolziert, wie der Storch im Salat!“ 16. April. Um 3 Uhr mittags Sitzung beim Fürsten. Er sagte: Es geht zu Ende! Ich komme eben von Charlottenburg, wo ich den hohen Herrn in Uniform leidlich aussehend fand, aber mit glühend heißen Händen! Erst als er aufstand und mir voraus nach der Tür eilen wollte, sah ich, wie schwach und schwankend sein Gang war, so daß ich die Arme ausstreckte, ihn aufzufangen. Er hatte den Wunsch, verschiedene Standeserhöhungen vorzunehmen. Er wollte meinen Sohn zum Prinzen und mich zum Herzog machen. Ich sagte ihm, so dankbar ich für diese gnädigen Intentionen sei, so dringend bäte ich, es zu unterlassen, wenn er mir nicht ein crèvecoeur antun wolle. Ja, wenn ich zwei Millionen Taler hätte, ließe ich mich zum Papst machen, aber ‒ ‒ Zu Fürsten will er machen und erklärte ich mich damit einverstanden: Radolinski und Solms-Baruth. Ferner Graf Eltz, wovon ich abriet. Zu Grafen: Mirbach-Sorquitten, Fleming-Bens, Bülow, Scheel-Plessen. Fraglich sei Douglas. Zu Freiherren: Lucius, Krupp, Stumm. Zu adeln: Dietze, Wätgen u. s. w. Bismarck erwartet das Ableben innerhalb vierundzwanzig Stunden! Die englischen Ärzte benehmen sich faul und frivol. Schicken den erprobten Pfleger fort und stehen nachts nicht auf, wenn sie gerufen werden. Telegraphieren nach Bergmann erst nach längerem Zögern. Der Kronprinz, nach welchem General von Winterfeld telegraphierte, ist pleine chasse hinausgeritten, was natürlich viel Aufsehen machte. Friedberg, welchen ich am Abend sprach, hatte dieselben Eindrücke. Se. Majestät habe augenscheinlich die Empfindung gehabt, ihn zum letzten Mal zu sehen. Dr. Senator, welcher den Kaiser heute untersucht habe, hat gemeint, die Sache könne noch einige Tage dauern, da die Lungenerscheinungen noch nicht ausgedehnt seien. Die alten Diener aber hätten gemeint, es werde ein Segen sein, wenn der hohe Herr, welcher unsägliche Schmerzen ausstehe, bald erlöst werde. Über die Roheit der englischen Ärzte sind alle empört. Mackenzie hat heute die sofortige Auszahlung von sechzigtausend Mark verlangt, welche ihm von seiner letzten Reise nach San Remo noch zuständen. Er hat wohl das Gefühl, auf heißem Boden zu stehen.“ 20. April. In Charlottenburg, wo ich heute Morgen beim Reiten vorsprach, sagte mir Herr von Vietinghoff: Die Nacht sei ruhiger, das Fieber geringer gewesen, aber die Schwäche nehme zu. Er nicke ein beim Essen und in der Unterhaltung. Gestern sei die Familie und die Pflege bis 2 Uhr an seinem 401

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Bett gewesen, und er werde auch heute zu Bett bleiben. Die schlimmste Nacht sei die vorgestrige gewesen. Man habe nicht geglaubt, daß er sie überleben werde. Mackenzie habe den heutigen als wahrscheinlich letzten Tag bezeichnet. Zu klarem Bewußtsein wird er kaum noch kommen. 22. April. Sonntag. Gestern Sitzung beim Fürsten, welcher sich über die Notwendigkeit klar redete, die Stellvertretung des Kaisers durch den Kronprinzen in weitem Umfange herbeizuführen. Es ist in diesem Sinne eine Order durch den General von Winterfeld ergangen, deren Umfang und Gültigkeit seine Zweifel erregten. Er beweist darin wieder, wie korrekt und gewissenhaft er in dieser Beziehung sich zum Träger der Krone verhält. Er deutete die Schwierigkeiten an, welche dadurch entstehen könnten, wenn der Kronprinz in der Besorgnis, sich Dinge anzumaßen, welche ihm nicht zukämen, sich weigere, Stellvertretungsakte von Belang vorzunehmen. Diese Schwierigkeiten aber glaubte er überwinden zu können. Wir verständigten uns dahin, daß von der Extrahierung einer neuen Order abzusehen sei, weil das Se. Majestät in seinem schwerkranken Zustande nur beunruhigen könne und von einer auch nur vorübergehenden Genesung doch nicht mehr die Rede sei. Er will via facti die Frage so lösen, daß er einen ausgedehnteren Gebrauch von der früheren vom Kaiser selbst erlassenen Order und von der winterfeldschen macht. Auch wollte er am Nachmittag nach Charlottenburg fahren und sich nach dem Ergehen erkundigen. Die Standeserhöhungen sind noch nicht vollzogen, obschon mir Puttkamer in einem vom 19. datierten Schreiben mitteilt, Se. Majestät habe mich in den Freiherrnstand erhoben und dem Staatsministerium aufgegeben, ihm die nötige Urkunde vorzulegen. Daraufhin habe ich mich schriftlich bei Sr. Majestät und mündlich beim Fürsten bedankt. Letzterer bestätigte das Faktum, daß Se. Majestät mit Lebhaftigkeit auf seinen bezüglichen Vorschlag eingegangen sei. Danach ist auf Bismarcks Initiative der Vorschlag gemacht worden, was mich freut und interessiert. Friedberg, zu dem ich von Bismarck ging, gratulierte und erzählte, er habe Bismarck vor der Fahrt nach Charlottenburg gesprochen, und dieser habe ihm eine Liste gezeigt, an deren Spitze „Lucius“ stand. Krupp hat auf eine Anfrage lebhaft abgelehnt. Er schädige sein Geschäftsrenommee, das amüsierte und imponierte dem Fürsten. Er meinte, um den Haß zwischen Adel und Bürgertum abzustellen, möge Se. Majestät sein ganzes Volk adeln. Die Frage, ob die neuen Fürsten Durchlauchten seien, bejahte der Fürst unbedingt ‒ man dürfe nicht zwei Klassen schaffen. Stolberg habe früher für Annahme der Fürstenwürde ungeheuerliche Bedingungen gestellt und verlangt, daß es nur eine Bestätigung der alten Fürsten Stolberg-Gedern sein 402

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müßte, und demzufolge alle Stolbergs es würden. Dabei sei die Sache bisher geblieben. 25. April. Bußtag. Wir fuhren 5 Uhr nach der Englischen Kapelle, um die Königin von England zu sehen. Um an eine passende Stelle zu kommen, schickte ich dem Vorstand Greve meine Karte, welcher uns nahe dem Eingang placierte, da nach Sir E. Malets Order niemand in das Innere der Kapelle sollte; nachher nötigte er uns doch in die Kirche. Queen Viktoria kam bald danach an, sich sehr langsam und vorsichtig bewegend; ihre sehr volltönende, starke Stimme, welche sehr der ihrer Töchter ähnelt, hörten wir früher, als wir sie sahen. Die Kaiserin winkte uns, die wir uns in bescheidener Entfernung gehalten hatten, heran und stellte uns Her Majesty vor. Sie gab meiner Frau die Hand und machte einige verbindliche Bemerkungen. Nachdem sie sich den Altar angesehen und in der Vestry ihren Namen in das Fremdenbuch eingezeichnet hatte, kam sie wieder auf uns zu und unterhielt sich einige Minuten sehr freundlich mit uns, Deutsch mit Koburger Akzent, wie der regierende Herzog sprechend, mit auffallend starker, wohllautender Stimme. Sie ist kleiner als unsere Majestät, von bräunlicher Farbe, weißem Haar, macht einen klugen und sehr dezidierten Eindruck. Sie meinte: „Sie fände das Aussehen ihres Schwiegersohns überraschend gut, kaum mager, man könne kaum glauben, daß er so krank sei.“ Unsere Kaiserin sagte: „Ihr Mann sei mir so dankbar für die Ölser Verwaltung, leider sei alles so spät gekommen, daß er nur wenig Freude davon gehabt habe. Er sei wieder viel besser, gar nicht so entkräftet, wie man nach dem langen Fieber glauben würde. Er könne ganz laut sprechen, wenn er die Kanüle zuhielte. Er tue es aber nicht, um seine Stimme zu schonen. Wenn man nur seine Kräfte aufrechterhalten könne ‒ das sei ihre Sorge.“ Sie sprach sehr natürlich, einmal brachen ihr die hellen Tränen aus, sie beherrschte sich aber wieder schnell und fixierte mich scharf während der kurzen Unterredung. Die sie begleitende Prinzeß Battenberg ist recht hübsch, auch schon ziemlich stark und der Prinzeß Christian ähnlich. Er weniger bestechend. Die Ordensverleihungen aus Anlaß des Thronwechsels werden etwa den Umfang des Ordensfestes haben. Unter den Nobilitierten befinden sich zahlreiche hohe Beamten und Militärs, so Marcard, Lucanus, Achenbach. 4. Mai erhielt ich das Porträt Sr. Majestät, Radierung nach dem Angelischen Bild, Kniestück in Kürassieruniform, mit eigenhändiger Unterschrift: Dem Staatsminister Lucius zur freundlichen Erinnerung Friedrich Wilhelm I. R. Er hat also gezeichnet, wie er es als Kronprinz zu tun pflegte. Eine große Freude und Auszeichnung! 403

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7. Mai. Graf Herbert Bismarck ist zum Staatsminister ernannt worden. Die Standeserhöhungen sind nunmehr publiziert worden. 10. Mai. Himmelfahrtstag. Um 3 Uhr hatte ich eine Audienz bei Sr. Majestät. Er lag zu Bett, Hand, Hals mit Florbinde bedeckt. Sah abgemagert, aber nicht gerade elend aus. Er streckte mir lebhaft beide Hände entgegen, lebhaft gestikulierend auf seinen Hals zeigend. Er artikulierte auch mit den Lippen, ich konnte aber nur das Wort „Luft“ verstehen. Ich deutete das so, daß er sich sehne, an die Luft zu kommen, was er auch bestätigte. Meinem kurzen Bericht über die Reise in das Überschwemmungsgebiet der Elbe bei Wittenberge-Hitzacker folgte er mit lebhaftem Interesse und lächelte freundlich, als ich erwähnte, daß der Besuch der Kaiserin in dem hannoverschen Gebiet einen sehr guten Eindruck gemacht habe. Er entließ mich sehr herzlich und wehrte ab, als ich ihm die Hand küssen wollte. Sein Bestreben, zu sprechen, war sehr peinlich, und da er offenbar zu matt ist, um viel Bleistiftnotizen zu machen, so muß man die Unterhaltung allein fortspinnen. Es ist ein trauriges Bild, diesen schönen, früher so kräftigen Mann so siech und schwach zu sehen. 13. Mai. In der heutigen Sitzung gab Fürst Bismarck ein längeres Exposé über die äußere politische Lage, welches recht ernst klang. Die Dinge ständen so, daß man einem Krieg mit Frankreich nicht mehr mit so besonderem Eifer aus dem Wege zu gehen habe. Man würde weder provozieren noch angreifen, aber wenn man Dinge wie den Schnäbele-Fall gehen ließe, so sei der Krieg leicht da. Man sei gewiß, wenn man mit Rußland in Krieg verwickelt werde, auch Frankreich auf den Leib zu bekommen, während bei einem Konflikt mit Frankreich es keineswegs gewiß sei, daß auch Rußland sich beteiligen werde. Es sei wahrscheinlich richtiger, erst Frankreich abzuklopfen, ehe der Krieg mit zwei Fronten da sei. Mit dem alten Kaiser habe man nicht mehr in einen Krieg hineintreiben dürfen, mit dem jetzigen friedlichen, schwerkranken Herrn sei die Sache ähnlich, wenn aber der junge kriegslustige Herr erst auf den Thron gelange, so sei die Sache anders. Er sage das nur als eine naturgeschichtliche Bemerkung, wenn er annehme, daß der Kronprinz leicht zu einem Krieg entschlossen sein würde, und der sei da, wenn man ihn nicht wie bisher ängstlich und geflissentlich vermeide. Wenn der schwerkranke König von Holland sterbe, so trete die Frage der Sukzession des Herzogs von Nassau in Luxemburg hervor. Man könne mit mehr Recht als nötig behaupten, die Sukzession in Luxemburg gebühre dem Träger der Nassauischen Krone. Es sei an sich bedenklich, einen Kronprätendenten zum Souverän eines Grenzlandes zu machen, etwa wie es 1815 ein Fehler gewesen sein würde, wenn man dem König von Sach404

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sen Elsaß-Lothringen gegeben hätte. Man könne auch mit dem Nassauer Frieden machen, indem man ihn bestimme, in das Deutsche Reich zu treten, die Garantie der Mächte für die Neutralität von Luxemburg sei eine bedeutungslose Sache nach der Interpretation, welche Palmerston dieser Garantie für Belgien gegeben habe ‒ wonach sie nur geltend sei, solange alle Mächte ihr anhingen. Das Refus des Statthalters Hohenlohe, an der französischen Grenze eine strengere Paßkontrolle einzuführen, werde er sich nicht gefallen lassen, sondern seinerseits die Kabinettsfrage stellen. Ginge Hohenlohe, so sei ein Militär mit steifem Kreuz ‒ etwa Caprivi ‒ der gegebene Mann. General Pape sei zu alt. Vorher verlas er ein Schreiben Radolins, worin er im Auftrag Sr. Majestät den Wunsch ausspricht, daß Fürst Biron und Hatzfeldt, Birchow, Pindter, Bunsen, Schrader dekoriert werden möchten. Gelegen sei ihm offenbar nur an Birchow, Bunsen, Schrader ‒ während die anderen Namen nur zur Folie dienten. Gegen Birchow habe er nichts, mit Rücksicht auf seine wissenschaftliche Bedeutung und auf den Umstand, daß er bei der Diagnose zugezogen worden sei, während die Dekorierung von Bunsen und Schrader unbedingt und scharf abzulehnen sei. Er verlas den Entwurf einer sehr scharf gefaßten motivierten Ablehnung seitens des Staatsministeriums, worin auf den Fall Gruner hingewiesen wurde und die völlige Unmöglichkeit für das jetzige Staatsministerium, diese Leute ohne alles öffentliche Verdienst, wenn nicht die scharf oppositionelle Haltung dahin zu rechnen sei, auszuzeichnen, dargetan war. Ihre Majestät, deren Werk das sei, beachte allerdings dergleichen nicht, sondern alle solche Argumente liefen von ihr ab wie Wasser vom Entenflügel. Er stelle anheim, ob man ohne oder mit jener Motivierung ablehnen wolle, Ihre Majestät beachte nur das „Ja“ oder „Nein“. Es sei eine reine Fiktion, daß er regiere, die Regierung werde durch ihn und die zwei Kabinettchefs ermöglicht. Se. Majestät sei jetzt nicht regierungsfähig. Er knüpfte hieran die Bemerkung, daß er in den nächsten Tagen nach Varzin wolle, um der Abstimmung über das Schulgesetz (Verfassungsfrage) aus dem Wege zu gehen sowie der Hochzeit des Prinzen Heinrich. Er war dabei sehr ernst gestimmt und nicht wie sonst zu Kauserie geneigt. Er hatte nachher noch eine geheime Unterredung mit dem Kriegsminister über große Pulverlieferungen von England nach Rußland. Diese Sitzung entwirft sehr ernste Perspektiven für die äußere und innere Lage: Krieg und eine innere ernste Krisis. Seine Reise würde unter diesen Verhältnissen doppelt bedenklich sein. Er steht auf dem Punkt, die Dinge biegen oder brechen zu lassen. Der Eigensinn Ihrer Majestät steuert 405

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rücksichtslos und anscheinend bewußt in den ernsten Konflikt. Die Lage kann sehr schnell bedenklich werden, aber Bismarck wird sie voraussichtlich doch beherrschen. Mit dem Kronprinzen hat er auch längere Unterhaltung gehabt. 18. Mai. Audienz bei der Kaiserin Friedrich. Sie empfing uns (meine Frau und mich) im runden Mittelsalon des Charlottenburger Schlosses und ließ Platz nehmen. „Der Kaiser leide an Perichondritis ‒ K r e b s s e i n i c h t n a c h g e w i e s e n , auch nicht durch Virchows letzte Untersuchung. Se. Majestät habe nie Schmerzen noch Drüsenanschwellungen gehabt noch die graue, gelbe Gesichtsfarbe, welche diesem Leiden eigentümlich sei. Ich hätte als halber Arzt doch auch ein eigenes Urteil darüber, mehr wie ein Laie. Sie wünscht nun einen Orts- und Szenenwechsel zu haben und nächstens nach dem Neuen Palais oder, wie sie sich korrigierte, nach Friedrichskron überzusiedeln. Ein solcher Wechsel sei immer eine Zerstreuung und Abziehung. Zu Prinz Heinrichs Hochzeit könnten leider die Minister- und Generalsdamen nicht eingeladen werden, weil es an Raum mangle. Später gehe man vielleicht nach Homburg. Wilhelmshöhe liege von 3 Uhr mittags ab im Schatten des dahinterliegenden hohen Berges. Sie wünschte bei der Englischen Kapelle auch ein Predigerhaus zu bauen, mit dem ein Governess Home verbunden werden könne u. s. w. Der Kaiser würde mich sehr gern gesehen haben, allein er sei müde vom Aufenthalt im Freien gewesen und habe den Nachmittag geschlafen.“ Sie behielt uns wohl eine halbe Stunde und war höchst ämabel. 20. Mai. Friedberg erzählte: Die Kaiserin habe dem Fürsten bei dem letzten Empfang selbst ihre Wunschliste bezüglich der weiteren Dekorationen (Virchow, Schrader, Bunsen) überreichen wollen und hätte auf Widerspruch sicher die Beanstandeten ohne Weiteres gestrichen, allein der Fürst sei so lange beim Kaiser geblieben, daß sie habe ausfahren müssen und ihm die Liste durch Radolin überreichen ließ. Bismarck habe sie durchgesehen und gesagt: „Nachdem ich Forckenbeck im Staatsministerium durchgebracht habe, zweifle ich nicht, daß sich die Sache machen lassen werde.“ Trotzdem hat er später diese Liste mit dem von ihm entworfenen scharfen Immediatbericht bekämpft ‒ in Übereinstimmung mit der Meinung des Staatsministeriums ‒ und die Streichung der Beanstandeten durchgesetzt. Ob er sich erst übereilt und dann nach weiterer Überlegung die Unrichtigkeit des ersten Engagements empfunden hat, ist nicht recht klar, aber wahrscheinlich. 31. Mai. Der Landtag ist am 26. Mai geschlossen worden, nachdem das Schulgesetz (Übernahme eines Teils des Volkslehrergehalts auf den Staat) 406

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durch den Umfall von zirka siebzig Konservativen mit großer Majorität in der vom Herrenhaus beschlossenen Fassung angenommen worden war. Am letzten Tag fand noch eine sehr erbitterte Diskussion über die Wahl Puttkamer-Plauth statt (Marienburg-Elbing), wobei Herr Richter sich in unflätigen Angriffen gegen die Regierung und die Kartellpresse erging, welche die Kaiserin in gehässiger Weise angegriffen habe. Letztere war leider wahr. ‒ Am Regierungstisch war bei dieser Diskussion niemand, und der Mißklang, mit welchem die Session abschloß, ein sehr fühlbarer. Man hatte gleich das Gefühl, daß diese Szene noch ein Nachspiel haben werde. Nachdem Herr von Puttkamer das vom Landtag beschlossene Gesetz über die Verlängerung der Legislaturperioden wochenlang geflissentlich zurückbehalten hatte, legte er es vorgestern in Charlottenburg zur Unterschrift vor ‒ allein Se. Majestät verweigerte die Vollziehung. Darauf ließ sich Friedberg am 27. bei Sr. Majestät melden und erlangte die Unterschrift nach einstündigem Zureden. Se. Majestät war abgeneigt, es zu vollziehen, weil er darin eine Beschränkung der Wahlfreiheit sah und weil seiner Meinung nach schon bei den letzten Wahlen seitens des Ministers von Puttkamer ein unzulässiger Einfluß geübt worden war. Bismarck, welcher dann am 28., als er zum Vortrag bei Sr. Majestät erschien ‒ also ehe noch die Publikation erfolgt war ‒, hat Sr. Majestät anheimgegeben, „einmal zu zeigen, daß er der König sei und daß ihn weder Ministerium noch Kammern etwas angingen. Er solle, wenn ihm das richtiger schiene, noch jetzt die Publikation inhibieren!“ Darauf hat Se. Majestät auf einen Zettel geschrieben: „Dann möge man das Gesetz nicht publizieren.“ Friedberg war hierüber ganz starr und sagte: Er habe sich gefragt, ob er altersschwach geworden sei oder jemand anders! Bismarck habe dann auch gleich brühwarm, lustig wie ein Fähnrich, scherzend und Kognak trinkend, den Hergang im Adjutantenzimmer in Charlottenburg erzählt. So stehe nun die Sache. ‒ Friedberg war zweifelhaft, ob hier ein tief angelegter Plan vorliege oder ein plötzlicher, unüberlegter Einfall. Man könne Ersteres annehmen, wenn er eine Gesamtkrisis des Staatsministeriums wünscht, um Sr. Majestät die freie Entschließung zu geben, einen ganzen oder teilweisen Wechsel der Persönlichkeiten herbeizuführen. Die morgige Sitzung wird darüber Aufklärung bringen. Ich konnte dieser Sitzung nicht beiwohnen wegen einer Dienstreise in das Überschwemmungsgebiet der Oder-Warthe. Friedberg telegraphierte mir aber, daß keine akute Krisis, sondern vorläufige Lösung durch Aufschub das Resultat gewesen sei. 407

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3. Juni. Nach Berlin zurückgekehrt, hörte ich Folgendes: Bismarck sei in der Sitzung auffallend unbehaglich, selbst verlegen gewesen. Er habe offen erzählt, Sr. Majestät geraten zu haben, einmal seinen Willen gegen Ministerium und Volksvertretung durchzusetzen. Darauf habe Se. Majestät auf einen Zettel geschrieben: „Dann wäre es am besten, das Gesetz nicht zu publizieren.“ Darauf sei er ohne Weiteres eingegangen und er wünsche nun die Meinung der Kollegen darüber zu hören. Hierauf haben Friedberg und Scholz sich mit Entschiedenheit für die Notwendigkeit der Publikation ausgesprochen, das Ansehen des Ministeriums müsse empfindlich leiden unter dieser Behandlung der Sache. Diese Wirkung sei schon jetzt durch die stadtkundige Verzögerung der Angelegenheit eingetreten5, welche Wirkung sich bei weiterem Aufschub steigern müßte und auch die bevorstehenden Wahlen ungünstig beeinflussen werde. Bismarck dagegen habe auf die agitierenden Richter geschimpft und allerlei von der Sache abschweifende Dinge geredet. Auch Puttkamer vorgeworfen, daß er das Gesetz erst so spät zur Vollziehung vorgelegt habe, was vor Wochen hätte geschehen sollen. Er würde den Rat, welcher sich einer solchen Versäumnis schuldig mache, disziplinieren. Die Kaiserin habe als ihre Hauptgegner Stöcker, Waldersee bezeichnet. Kein Minister hat Bismarck zugestimmt, sondern alle haben sich in Friedbergs Sinn ausgesprochen. Bismarck hat dann gemeint, das Gesetz könne ja noch später publiziert werden; da kein Termin dafür vorgeschrieben sei, könne es Jahr und Tag dauern. Formell richtig, aber doch gegen allen Brauch und Herkommen! Wahrscheinlich zieht Bismarck es vor, diese Sache lieber am Beschluß der Kollegen scheitern zu lassen als an seinem eigenen Widerspruch; wie er ja bei anderen Gelegenheiten, zum Beispiel dem Papst gegenüber, es getan hat wie der Wucherer, welcher sagt: „Ich habe das Geld nicht, aber der Herr, von dem ich es nehme, stellt die harten Bedingungen.“ Dadurch gewinnt er bei den Majestäten naturgemäß an Geltung. Die Kölnische Zeitung schreibt: „Minister können nicht weiter dienen, welche in Grundfragen anderer Ansicht sind wie der königliche Herr!“ 4. Juni. Eben bei Bismarck gewesen. Er meinte: Unter jetzigen Verhältnissen müßten wir alle fest zusammenhalten und auch einen Einzelnen nicht herauspellen lassen. S i e wolle ihren fortschrittlichen Freunden ein Opfer bringen, weil sie in gewissen Dingen nicht compos mentis sei. Er sei so völlig schwach und willenlos, daß man ihn sich nicht überlassen dürfe. 5

S. Kölnische Zeitung 1. Juni 1888.

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Man dürfe sich in solchen Lagen nicht damit trösten: es sei schon recht, wenn alles schiefginge, warum habe man uns schlecht behandelt und aus dem Amt gehen lassen! Er würde sich fest an seinen Stuhl halten und nicht gehen, selbst wenn man ihn herauswerfen wolle. Er würde auch nicht gehen, wenn man ihm seinen Abschied ins Haus schickte, weil er ihn nicht kontrasigniert habe. Wenn er sich so leicht hätte zum Gehen bestimmen lassen, so würde er nie etwas durchgesetzt haben, nicht einmal den österreichischen Krieg. Er habe viele heftige Kämpfe mit dem hochseligen Herrn gehabt, man dürfe nicht so leicht gehen. Zudem handle es sich um ein Gesetz, welches aus Initiative des Landtags hervorgegangen sei, demgegenüber sich man zwar wohlwollend verhalten, es aber nicht für notwendig gehalten habe. Ürigens könne es immer noch zu beliebiger Zeit publiziert werden. Inzwischen werde schon jetzt Se. Majestät erschrocken sein über die Tragweite, welche sein Refus bekommen habe. Es dauere höchstens noch bis August. Bergmann habe prognostiziert, wenn er den Mai erlebe, werde in dieser Zeit eine Besserung eintreten, welche aber bald neue schwere Leiden im Gefolge haben werde, die sehr peinlich sein würden. ‒ Bismarck will offenbar die Sache wieder einrenken, räsonierte dann noch auf die Kartellparteien, welche sich untereinander herumbissen und der Regierung gegenüber keinen Appell hätten. 5. Juni. Die Zeitungen behandeln den Verlauf der Krisis mit großer Ernsthaftigkeit und drängen auf klare Beendung derselben durch die Publikation des bestrittenen Gesetzes. Das Ansehen der Krone und des Ministeriums gewinnt dabei nicht. Wenn Bismarck weder eine partielle noch eine allgemeine Krisis wünscht, hätte er nach erfolgter Unterschrift der Sache ihren Lauf lassen sollen, aber allerdings ist er nie ein Freund der Verlängerung der Legislaturperioden gewesen. Er sieht eine Kräftigung des Parlaments darin, während wir anderen umgekehrt eine größere Stabilität und Kontinuität für die Regierung darin sehen. Inzwischen geht es Sr. Majestät nach der Übersiedlung nach dem Neuen Palais wieder weniger gut. Er hat wieder Kopfschmerzen und größere Mattigkeit, was der Anfang einer neuen akuten Verschlechterung sein kann. 6. Juni. Friedberg erzählte: Es habe ihm eine Stunde eindringlichen Zuredens gekostet, Se. Majestät zur Unterschrift des Legislaturgesetzes zu bewegen. Se. Majestät habe zunächst auf seine Deduktionen mit einem Zettel geantwortet: „Das wird eine bittere Enttäuschung für die Freisinnigen sein!“ Auf die Vorstellung: Auf diese Minoritätspartei könne er sich doch nicht stützen wollen und er habe doch dem gleichartigen Reichsgesetz seine Sanktion erteilt, antwortete er: „Im Reich habe ich kein Veto!“ 409

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Letztere Bemerkung beweist, daß er Bismarcks und Hänels Doktrinen gefolgt ist. Schließlich schrieb er, als er den Kampf gegen die eindringlichen Deduktionen aufgab, auf einen Zettel: „Sprechen Sie mit meiner Frau!“ Hierauf erfolgte die Zeichnung! Friedberg sagte: Nach dem weiteren Verlauf der Dinge sei er zweifelhaft geworden, ob er richtig gehandelt habe; nach weiterer Überlegung glaube er es aber doch. Bismarck habe mit seiner leichtsinnigen Intervention einen reinen Fähnrichsstreich gemacht, welchen er jetzt vermutlich bedauere. Er (Friedberg) habe durch den Vorgang bei Ihren Majestäten natürlich an Kredit verloren, denn Ihre Majestät habe gesagt: „Sie begreife gar nicht, warum Friedberg in der Sache so dringlich geworden sei, in welcher der Fürst eine ganz andere Auffassung habe.“ Auf dem Heimweg von Friedberg begegnete ich Puttkamer, welcher vom Fürsten kam. Er sei im Begriff, die Flinte ins Korn zu werfen. Bismarck habe ihm zwar zugeredet, zu bleiben, er müsse aber alles abhängig machen von dem Bescheid Sr. Majestät auf einen ganz konkludenten Bericht, welchen er über die Wahlangelegenheit Elbing-Marienburg an den Kaiser gemacht habe. Fiele die Antwort unbefriedigend aus, so müsse er gehen. Den Bericht habe er schon vor drei Tagen erstattet, doch habe er Sr. Majestät noch nicht vorgelegen, müßte also irgendwo angehalten sein. Bei seinem neulichen mündlichen Vortrag habe Se. Majestät ihm gegenüber eine vollständige ablehnende Apathie gezeigt. Er habe nichts erreichen können. Ich bestätigte Puttkamer in seiner Auffassung, es liegt eine beabsichtigte schlechte Behandlung vor, welche er nur mit einem Demissionsgesuch erwidern kann. Puttkamer wollte sich noch bei Friedberg Rats erholen. Die Kaiserin hat Bismarck gestern rund heraus erklärt, Puttkamer müsse unter allen Umständen gehen ‒ was Bismarck heute Puttkamer bestätigte. Die Krisis endet sonach mindestens mit Puttkamers Rücktritt. Damit hat Ihre Majestät einen weiteren Punkt ihres Programms verwirklicht. Über die Nationalliberalen spricht sie abfällig, weil sie sich mit Stöcker identifiziert (Benda!) hätten. 7. Juni. Die regierungsfreundliche Presse bestärkt sich in dem Ausdruck der Meinung, daß der Dissensus, welcher bei Nichtpublikation des Gesetzes zwischen Krone und Ministerium hervortrete, notwendig zum Rücktritt der Gesamtheit führen müsse. Da gerade die von der Wilhelmstraße inspirierte Kölnische Zeitung sich jetzt so ausspricht, so ist anzunehmen, daß Bismarck diese Auffassung akzeptiert wünscht. Puttkamer weicht dem bekannten stärksten Einfluß. Das Berliner Tageblatt resümiert das Ergebnis von der Konferenz am 5. Juni dahin: keine Proklamation des Gesetzes und des Wahlerlasses. Keine 410

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Demission des Ministerii, Puttkamer bleibt vorläufig im Amt, aber sein Rücktritt ist im Prinzip festgestellt und vom Kanzler zugestanden. Zeitpunkt des Rücktritts und Art der Begründung bleibt dem Kanzler überlassen. In diesem sonderbaren, aber nur teilweise richtigen Resümee ist offenbar die Auffassung des Neuen Palais ausgesprochen. Die Folge der Tatsachen war so: 26. Mai. Schluß des Landtags nach erregter Diskussion und Richters unflätigen Angriffen. Am selben oder am Tage vorher präsentierte Puttkamer das Legislaturgesetz vergeblich zur Unterschrift. 27. Mai erwirkte Friedberg die Unterschrift nach längerer Verhandlung. 28. Mai kommt Bismarck von Friedrichsruh zurück und fragt wahrscheinlich Puttkamer, ob er das Gesetz publizieren soll. Puttkamer hatte am 27. das die Wahlfreiheit betreffende ungnädige Handschreiben Sr. Majestät erhalten. 29. Mai konferiert Bismarck in Charlottenburg und stellt Nichtpublikation anheim oder vielmehr empfiehlt sie. 1. Juni Sitzung des Staatsministeriums, in welcher Bismarck mit seiner Auffassung, die Publikation sei zweifelhaft, isoliert bleibt. 3. Juni sprach ich den Justizminister. 4. Juni Bismarck in Friedrichskron. Ergebnis der stundenlangen Konferenz, welche mit Lunch bei Ihrer Majestät endete, nach Puttkamers Mitteilung die bestimmte Forderung von Puttkamers Rücktritt. 7. Juni erfolgt die Publikation des Gesetzes im Staatsanzeiger. Für mich und andere eine Überraschung. Die gleichzeitig ausgegebenen Abendzeitungen inklusive der freisinnigen enthielten noch Spekulationen über die Nichtpublikation und behandelten sie als eine naheliegende Möglichkeit. Die Post enthält einen in ihrer Spitze stark gegen Puttkamer gerichteten Artikel. Graf Lerchenfeld, mit welchem ich heute ritt, hatte ihn sehr bemerkt und die Publikation auch nicht so schnell erwartet. In der später am Tag stattfindenden Sitzung erzählte Bismarck: Puttkamer habe infolge eines gestern erhaltenen sehr unfreundlichen Handschreibens Sr. Majestät seinen Abschied eingereicht. Er habe noch gestern Abend versucht, ihn davon abzuhalten, und ihm vorgeschlagen, ein weiteres Rechtfertigungsschreiben einzureichen, aber Puttkamer habe sich nicht bewegen lassen. Er begreife das, bedauere es aber sehr. Wir dürfen aber daraus nicht die Konsequenz ziehen, nun auch zu gehen; das wäre ein Verbrechen am Staat, welcher jetzt nur ein Caput mortuum habe. Wir hätten jetzt alle die Pflicht, zu bleiben, um weiteres Unheil zu verhüten. Historisch schilderte er den Hergang so: Als er am 5. in Charlottenburg gewesen sei, habe er Se. Majestät sehr schwach und apathisch gefunden. Die Unterhaltung sei auf 411

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Punkten, wo sie Se. Majestät gemütlich affiziert hätte, durch heftige Hustenanfälle unterbrochen worden. Er sei das erste Mal herausgegangen und habe dann den Vortrag an dem Punkt wieder aufgenommen, wo er ihn unterbrochen habe. Er habe Sr. Majestät erzählt, wie oft er mit seinem hochseligen Vater in ernsten Meinungsverschiedenheiten gewesen sei, ohne an den Abschied zu denken oder ihn gar einzureichen. Er habe es nur zweimal getan, 1877, als er sich beleidigt gefühlt habe durch die Teilnahme des Hofes an der durch die Reichsglocke gegen ihn geführten Preßkampagne, sodann 1870, als der König von Ems nicht habe zurückkehren wollen. Da habe er zweimal telegraphisch um seinen Abschied gebeten. Es sei somit auch für Puttkamer kein Anlaß zum Gehen, welcher seinem Vater fast neun Jahre treu und zu dessen Zufriedenheit gedient habe. Se. Majestät habe angedeutet, daß er die puttkamersche Denkschrift noch nicht fertig bis zu Ende gelesen habe und daß er sich anscheinend mit einem Zeitungsartikel hätte beruhigen wollen, welcher die gegen Puttkamer gerichteten Beschuldigungen als nicht völlig begründet bezeichnet habe. Zugleich habe er den entschiedenen Willen ausgesprochen, künftig jede Wahlbeeinflussung zu vermeiden. Bismarck blieb dann noch zu Tisch bei Ihrer Majestät, sich lange und gut mit ihr unterhaltend. Er hält sie für eine überwiegend genuß- und vergnügungssüchtige Dame, von wenig oder zur Schau getragenem geringem Verständnis für politische Fragen. Sie wolle den Freunden Freude, den Feinden Ärger bereiten, ohne Rücksicht und Begriff von dem angerichteten politischen Schaden. Herr und Frau Schrader seien die Hauptintimen, er wahrscheinlich Autor der Schriftstücke, welche Se. Majestät willenlos unterzeichne. Er sei dann mit Radolin fortgefahren, wiederholt betonend, daß er auf die Publikation des Gesetzes keinen besonderen Wert lege. Ein solches Gesetz könne man später immer noch machen. Gestern am 7. habe er dann von Radolin ein Telegramm erhalten, worin sich Se. Majestät mit der Publikation einverstanden erklärt habe, die dann sofort erfolgt sei. Gleichzeitig habe Puttkamer ein allerhöchstes Handschreiben erhalten, welches ausgesucht grob und geradezu unerhört beleidigend sei mit besonders zierlicher Unterschrift. Er las es uns vor: „Er habe mit Mißfallen die Wahlbeeinflussung bemerkt, welche bei der Wahl von Puttkamer-Plauth stattgefunden habe, und könne das auch durch die versuchte Rechtfertigung als beseitigt nicht erachten. Gegen die Publikation des Gesetzes habe er seine Bedenken zurückgezogen mit Rücksicht auf den bezüglichen Wunsch des Präsidenten und der ü b r i g e n Minister.“ Besonders der letzte Satz dieses Schreibens sei schwer und gesucht kränkend. 412

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9. Juni. Die heutige Morgennummer der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung verkündet bereits den Abschied Puttkamers unter Verleihung des Hohenzollern-Sterns. So hat Ihre Majestät noch alles in Ordnung gebracht vor ihrer Abreise in das westpreußische Überschwemmungsgebiet. In der Sitzung des Staatsministeriums teilte der Fürst uns das sehr gnädige Schreiben mit, welches Se. Majestät an Puttkamer gestern gerichtet hat. Es erinnert mit Wohlwollen an die Zeiten im Handelsministerium und an die Demminer Landratszeit, wo er als Kronprinz mit ihm in Berührung gekommen sei, auch der verdienstlichen Tätigkeit bei den Überschwemmungen, und versichert ihn ferner Huld und Gnade. Das ist ein aus dem eigenen Herzen kommendes Schreiben. Es will das andere ungnädige wiedergutmachen. Bismarck wies auf die Inkonsequenz der beiden Schreiben und meinte: er würde den Orden zurückgeschickt haben. Er erging sich dann in weiteren Wendungen über die Puttkamer zuteilgewordene schlechte Behandlung, als könne das anderen auch noch passieren. Dann wurde über den Nachfolger gesprochen. 10. Juni. Über die Frage, einen nationalliberalen Minister ‒ etwa Miquel ‒ vorzuschlagen, verhielt sich Bismarck sehr kühl, das sei ein sehr ideenreicher Mann, würde aber schnell in Differenzen mit den anderen acht kommen. Er sprach dabei von den früher mit Bennigsen gemachten Erfahrungen, der die ganze Fraktion habe mit hinein ins Ministerium nehmen wollen. Er behandelt diese Frage schon mehr mit Rücksicht auf den Thronfolger. Er hatte wohl früher sich für den Fall einer längeren Regierung Sr. Majestät auf einige nationalliberale Minister eingerichtet, bereitet aber jetzt wohl ein stramm konservatives, aber nicht orthodoxes Ministerium vor. Für die interimistische Leitung schlug er Friedberg vor, welcher jetzt seinen Einfluß üben solle. 12. Juni. Abschiedsdiner für Puttkamer beim Fürsten, welcher auf den König toastete, Maybach auf Puttkamer, Puttkamer auf Bismarck. Der letzte Toast war der wärmste und auch der am meisten vorbereitete, da Bismarck erst bei der Suppe Maybach bitten ließ, auf Puttkamer zu sprechen. Bismarck, neben welchem ich saß, sagte: er verkehre mit der Kaiserin Friedrich wie ein verliebter Greis. Sie habe die größte Feindschaft und Mißachtung gegen unsere politischen Verhältnisse und handle demgemäß. Sr. Majestät ginge es sehr schlecht, die Speiseröhre sei perforiert und es komme durch Luftröhre und Kanüle heraus, was er schlucke. Bergmann behält also recht. Sein eigener Vater sei an einem ähnlichen Übel zu Grunde gegangen, er habe nicht mehr schlucken können, oder es sei nicht in den Magen gelangt. Nach Tisch erzählte er von seiner Freundschaft mit dem alten Fürsten Metternich, welche er dadurch gewonnen habe, daß er ihm aufmerksam 413

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zugehört habe. Er habe vortrefflich erzählt, fließend in gewählten Worten wie einer, welcher dieselbe Geschichte schon öfters erzählt hat. Wir gingen alle a tempo ‒ er meinte: es brauchten doch nicht alle gleichzeitig zu gehen, einen Wink, welchen ich leider nicht beachtete, sondern mit Friedberg fortging. Friedberg meinte: er habe heute den Kaiser nicht gesehen, aber es stehe sehr schlimm, man lasse niemand zu ihm. Ihre Majestät habe sich zu Bismarck auf einen sehr guten Fuß gesetzt und halte ihn für ihren besten Freund. Friedberg hielt die Kombination, Bötticher zum Minister des Innern, Miquel zu Böttichers Nachfolger zu machen, für richtig, was ich auch Bismarck zur Erwägung empfahl. Bismarcks Andeutung, Graf Zedlitz zum Minister des Innern vorzuschlagen, ist sofort bei Ihrer Majestät auf Widerspruch gestoßen; das sei eine Fortsetzung der Stöckerei, der sei ebenso pietistisch wie Puttkamer und habe eine Tochter an einen Kleist-­ Retzow verheiratet. Darauf hat Bismarck von diesem Vorschlag abgesehen, vielleicht war er gar nicht ernst gemeint. Beim Rennen in Hoppegarten übergab der Kronprinz im Armeejagdrennen die Preise. Er macht sich nicht viel aus den Rennen und war überhaupt ernst. Die Nachrichten aus Potsdam lauten sehr schlecht. Man spricht von Schlingbeschwerden, welche die Ernährung stören und den Schwächezustand steigern. 14. Juni. Eine auf heute Nachmittag angesetzte Sitzung des Staatsministeriums ist abbestellt worden, weil Bismarck nach Friedrichskron fährt. Eine gleichzeitig ausgegebene Depesche sagt: „Der Zustand Sr. Majestät hat sich seit gestern Abend wesentlich verschlimmert. Die Kräfte sind im Sinken.“ Es geht also anscheinend schnell zu Ende, und das ist dem armen Dulder zu gönnen. General …, welcher den Kronprinzen jetzt täglich in einer Kommission, welche ein neues Exerzierreglement ausarbeiten soll, sieht, meinte: er spreche zu viel und unbesonnen. So sei er gestern mit wenig Stimmen in der Minorität geblieben, wo er Einrichtungen verfochten hatte, welche seit zwanzig Jahren von allen einsichtigen Militärs aufgegeben und nur mit Rücksicht auf den hochbetagten alten Herrn noch beibehalten worden seien. Friedberg fuhr heute 10 Uhr vormittags nach Potsdam, nachdem er am Abend vorher abtelephoniert worden war. Die Kaiserin bemerkte ihm: sie habe schon gestern ihn erwartet. Der Kronprinz begegnete ihm auf dem Perron vor den Fenstern und führte ihn sofort in das Krankenzimmer, das hell, luftig, alle Fenster offen, war. Der Kaiser erkannte ihn sofort und wehrte ab, als er die Hand küssen wollte. Tastete mit den Händen umher, als wollte er etwas schreiben. Friedberg blieb nicht lange und verließ das Zimmer mit 414

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dem Eindruck, einen Sterbenden vor sich zu sehen. Professor Bardeleben bestätigte das, meinte, er werde die nächste Nacht nicht überleben. Der Puls sei 105, wellig. Die Atemzüge verdreifacht. Eine Lungenentzündung sei nicht vorhanden. Se. Majestät sterbe an Entkräftung. Später kam Bismarck, und der Kaiser legte seine und der Kaiserin Hand ineinander, als wolle er sie seinem Schutze anempfehlen. Die Kaiserin habe dem Kronprinzen zwei Schreiben Sr. Majestät übergeben, welche er aber auf Friedbergs Rat erst nach der Thronbesteigung eröffnen wolle. Bismarck, welcher mit Friedberg zurückfuhr, erzählte, der Kronprinz habe ihm gesagt, er wolle die Regierung im Sinne seines Großvaters führen und Puttkamer reaktivieren. Bismarck bestätigte Friedbergs Ansicht, daß das ein Akt der Impietät sein würde gegen seinen Vater, welcher seiner Regierung einen falschen Stempel aufdrücken werde. Bismarck habe aber durchblicken lassen, daß er den jungen Herrn schwerlich von seiner Idee abbringen werde. Die Sache soll in der morgigen Sitzung weiter besprochen werden. 15. Juni. Se. Majestät Kaiser Friedrich III. ist heute kurz nach 11 Uhr (11 Uhr 12 Minuten) entschlafen. Die Nachricht kam, als wir 11 ½ Uhr beim Fürsten zur Sitzung versammelt waren. Bismarck las die eingehenden Telegramme vor und erzählte von seiner letzten Audienz. Nachdem er sich einige Zeit mit Ihrer Majestät unterhalten habe, sei sie in das Krankenzimmer gegangen und habe ihn dann gerufen. Se. Majestät habe ihn gleich erkannt und beide Hände freundlich entgegengestreckt. Dann die Hand der Kaiserin in seine gelegt und so mit seinen beiden Händen gedrückt, als wolle er sie seinem Schutze anempfehlen. Dann habe er beiden zugewinkt, zu gehen und seine Hand zum Gruß erhoben. Er sei dabei rot im Gesicht und fiebrig gewesen, habe wohl neunzig Atemzüge gehabt, Schmerzen anscheinend nicht. Am Tage vorher habe er ein langes Gespräch mit dem Kronprinzen gehabt, welchen er sehr eingehend und verständig gefunden habe. „Er wolle die Regierung im Sinne seines Großvaters führen, die Rechte der Souveräne und der Volksvertretung achten. Sich nicht auf die Extreme, sondern auf die Kartellparteien stützen. Die Hochkonservativen würden nie eine Mehrheit und meist eine Führung durch den extremen Flügel haben, welcher halbverrückt und zu borniert sei.“ Er schlug vor, den Reichstag und den Landtag zu berufen, um in Form von Thronreden diese Gesinnungen zu proklamieren. So würden sie die größte Publizität erlangen und den Wühlereien der Fortschrittler Eintrag tun. Die Kaiserin habe ihm vorgestern, als er sich über die schwere Kränkung beklagt habe, welche sie dem Ministerpräsidenten und dem Staatsministerium 415

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zugefügt habe durch die Mißhandlung Puttkamers, offeriert: „Wollen Sie Puttkamer wieder ernannt haben? Der Kaiser tut es gleich!“ Er sage das en faveur de la loi Salique und als einen Beweis der Wandelbarkeit und des gänzlichen Mangels an politischem Verständnis der hohen Frau. Er habe das abgelehnt als eine irreparable Sache und Graf Zedlitz vorgeschlagen, worauf er noch am selben Tage ein zustimmendes Telegramm erhalten habe, das er gleich publik gemacht habe. Zedlitz sei aber auf Reisen in Schlesien gewesen. Jedenfalls sei damit manifestiert, daß Kaiser Friedrich keinen Fortschrittler habe ernennen wollen. Puttkamer zu reaktivieren, was der Kronprinz als ersten Gedanken gewollt habe und Puttkamer selbst mitgeteilt, halte er nicht für tunlich. Es sei pietätlos dem Vater gegenüber und stemple seine Regierung unrichtig. Der Kaiserin habe er gesagt, sie könne ihn noch schwerer kränken, wie es in Puttkamers Fall geschehen sei, so dürfe er doch seiner Empfindlichkeit unter den jetzigen Verhältnissen nicht folgen. Es werde nun so gedeutet werden, als habe er Puttkamers Fall selbst gewollt oder ihn wenigstens nicht genügend fest verteidigt. Von diesem Verdacht könne er sich nicht frei machen und das müsse ihn schwer kränken. Darauf hat sie ihm jene Proposition gemacht, Puttkamer wieder zu reaktivieren. Ein starkes Stück! Bismarck erzählte weiter: Er habe dabei doch den Eindruck gehabt, daß sie ihm einen solchen Streich nicht zum zweiten Mal gespielt, sondern ihn künftig befragt haben würde. Diese Bemerkung läßt darauf schließen, daß Bismarck das Ziel fest verfolgt und beinahe erreicht hatte, ihr Vertrauen zu erwerben. Weiter hat sie geäußert, sie denke nicht daran, künftig im Auslande zu leben. Sie wünsche sich ein Schloß am Rhein als Witwensitz und hoffe, ihr Sohn werde das gewähren. Es müsse aber ein Haus sein, wo sie Wände einreißen und nach eigenem Geschmack bauen und wirtschaften könne, ohne den Hausminister zu fragen. Bismarck wurde aus der Sitzung nach Potsdam abberufen, und wir berieten noch die laufenden Geschäfte weiter ‒ Landestrauer bis zum zweiten Tag nach der Beisetzung. Sonst alles wie beim Tod des alten Herrn. Die Beisetzung erfolgt wahrscheinlich in der Friedenskirche zu Potsdam. 17. Juni. Sonntag. Wir waren heute 11 Uhr mittags in Friedrichskron und sahen den Kaiser Friedrich auf dem Paradebett in der Jaspisgalerie, wo vor sechs Jahren die Taufe des ältesten Sohnes des jetzt regierenden Herrn stattfand. Das Gesicht tief eingefallen, Augen tief in den Höhlen, friedlichen Ausdruck, marmorhaft! Haar und Bart voll und braun, nur im Bart einzelne weiße Streifen. Alles mit Blumen und Kränzen bedeckt. Ein friedliches Bild 416

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des Todes ‒ diese heldenhafte, echt königliche Erscheinung auf der Bahre in der Blüte der Jahre. Wir blieben lange, da nur sehr wenig Menschen anwesend. General von Winterfeld führte uns dann in das Sterbezimmer, was schon ausgeräumt und wieder zum Salon hergerichtet wurde. Daneben das Arbeitszimmer, wo Se. Majestät die letzten Regierungsakte unterzeichnet hatte. Wir begegneten hier der Gräfin Marie Münster, welche die letzten Tage hier zu Besuch gewesen war. Später in Berlin Sitzung. Bismarck erzählte: Die Sektion habe durch Virchow in Beisein der anderen Ärzte und auch Mackenzies stattgefunden. Sie sei erzwungen worden durch Befehl des Kaisers. Dr. Wegner habe den Eintritt verweigert, worauf Graf Stolberg im Namen des Kaisers Einlaß verlangt und durchgesetzt habe. Es sei ausgedehnter Krebs konstatiert worden, welcher die Lungen durchsetzt und faustgroße Kavernen gebildet habe. Eine Perforation von der Luft- zur Speiseröhre sei nicht konstatiert worden. Dagegen der Kehlkopf völlig zerstört, zu einer weichen Masse aufgelöst. Die Behauptung, die Lunge sei verletzt worden durch Bergmanns Einsetzung der Kanüle, habe sich als völlig unbegründet erwiesen. Graf Stolberg habe sich hierbei durchaus korrekt und energisch benommen. Man hat durch die amtliche Sektion offenbar dem weiteren Lügengewebe vorbeugen wollen, als sei der Kaiser Friedrich nicht an Krebs, sondern an der Ungeschicklichkeit der deutschen Ärzte gestorben. In jedem Wort der unmittelbaren Umgebung spricht sich eine unbegrenzte Erbitterung gegen Ihre Majestät aus, welche anderseits in persönlicher Pflege des Patienten Großes geleistet hat. Morgen Beisetzung in der Friedenskirche, in derselben Ordnung wie bei der letzten. Ich trage den Reichsapfel. Die Ordres zur Einberufung von Reichs- und Landtag sind gezeichnet. Graf Zedlitz macht Schwierigkeiten, das Ministerium des Innern zu übernehmen, er sei kein Redner und ermangle der juristischen Kenntnisse. 18. Juni. Die feierliche Beisetzung fand bei schönem Wetter in würdigster Weise statt. Der Zug ging durch den blühenden Park. Die alte Kaiserin und die jetzt regierende wohnten der Feier in der Galerie bei. Die Kaiserin-Witwe mit ihren Töchtern nicht. Der Prinz von Wales, König von Sachsen und andere Fürstlichkeiten folgten dem Sarg. Bismarck war von Sr. Majestät besonders dispensiert, weil langes Stehen und Gehen ihn angreift. Die Stimmung war ernst und getragen, mancher sprach das Gefühl aus, von Sorgen erleichtert zu sein. Das Leiden war ein zu grausames, um Verlängerung wünschen zu können, da Rettung ausgeschlossen und die Zustände in der Regierung lange nicht mehr haltbar gewesen wären. 417

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Man hätte dann an Einsetzung der Regentschaft denken müssen. Die Proklamation des jungen Herrschers, die Berufung der Parlamente machen im Inland und im Ausland einen guten Eindruck. Es sind nun viele Posten in der Armee und im Hofstaat neu zu besetzen, was einen Anhalt über die Denkweise des jungen Monarchen wie über den Einfluß seiner Ratgeber bieten wird. Man nennt General von Albedyll und Minister von Puttkamer als Kandidaten für das Hausministerium. 21. Juni. Bismarck war gestern durch die angekündigten Besuche des Großfürsten Wladimir und des Großherzogs von Baden in Anspruch genommen, so daß er sich auf die nötigsten Mitteilungen beschränkte. Er verlas den Entwurf der Schreiben, worin der Kaiser den verbündeten deutschen Fürsten seine Thronbesteigung notifiziert und Achtung der Verträge, Fortsetzung der von seinem Großvater beobachteten Politik verspricht. Eine gleiche dementsprechende Mitteilung soll in der heutigen Sitzung des Bundesrats durch Bötticher oder Bismarck selbst gemacht werden. Dann verlas er die Thronrede für den Reichstag. Die Eröffnung soll in feierlichster Weise, ähnlich wie 1871, geschehen und man erwartet das Erscheinen zahlreicher regierender Herren. Die Thronrede legt, wie Bismarck sagt, die Karten unserer auswärtigen Politik offen auf den Tisch. Sie betont unser Bündnis mit Österreich und Italien und bezeichnet das Verhältnis zu Rußland als ein freundliches. Bismarck ließ etwas wie Bedauern durchscheinen, daß wir Österreich zuliebe Rußland nicht mehr entgegenkommen könnten. Allein Gortschakoff habe 1878 das alte freundliche Verhältnis gelöst, und wir befänden uns Rußland gegenüber in einem Zustand der Notwehr, der notgedrungenen Verteidigung gegen den Panslawismus. Italien müsse man, solange es Königtum sei, stützen, auch den Prätentionen des Papsttums gegenüber, welches sein Patrimonium Petri reklamiere. Werde es aber Republik, so kämen selbst die Bourbonen wieder in Frage. England könne man von Frankreich nicht abschlachten lassen, wenn man auch in keinem Bundesverhältnis stehe. Es wurden nur wenige Veränderungen vorgeschlagen und von Bismarck adoptiert, welcher selbst immer wieder zu feilen beginnt. Jedenfalls wird der Frieden stark betont und die Kriegspartei beruhigt. 23. Juni. Sitzung, in welcher die Landtagsrede vorgetragen wurde, welche einige erhebliche Abänderung erfuhr. So wurde ein die Wahlen betreffender Passus gestrichen und ein anderer, welcher etwa lautete: Es ist uns nicht beschieden, in Ruhe die Güter unserer Vorfahren zu genießen. Dagegen auf Sr. Majestät eigenste Anregung als Schluß der Rede gesetzt: „Ich werde nie vergessen, daß der König der erste Diener des Staates ist.“ 418

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Scholz fand für einen von ihm entworfenen Finanzpassus weder bei Bismarck noch bei einem der anderen Kollegen Unterstützung, worüber er augenscheinlich höchst pikiert war. Bismarck äußerte sich abfällig über das politische Urteil und Verständnis des hochseligen Kaisers Friedrich. Er habe, als er von dem Abschluß eines geheimen Vertrags zwischen uns und Rußland gehört habe, worin wir Neutralität zusicherten für den Fall eines Konflikts zwischen Rußland und England, gefragt, ob England dabei zugezogen sei. Mit dem jungen Herrn arbeitet er augenscheinlich leicht. Etwas decontenanciert war er durch den Wunsch Sr. Majestät, daß die Ritter des Schwarzen Adlers bei der Eröffnung in Mänteln erscheinen sollten. Er für seine Person werde das nicht tun. Graf Herbert hat neulich einen zweieinhalbstündigen Vortrag gehabt. Se. Majestät hat sich als Kabinettschef den Unterstaatssekretär Lucanus gewählt, einen höchst qualifizierten Mann. Von einer Krönung in Königsberg ist gerüchtweise die Rede. Zur Reichstagseröffnung haben der Prinzregent von Bayern und der König von Sachsen sich bereits angemeldet, das gibt der Sache eine erhöhte politische Bedeutung. Bismarck erzählte: Der Herzog von Nassau habe durch den Botschafter Reuß in Wien einen Kondolenzbrief an den Kaiser gerichtet, ebenso hat Kardinal Melchers eine Kondolenzkarte bei Schlözer abgegeben. 25. Juni. Soeben die Vereidigung der Räte des Ministeriums vorgenommen. Die Eröffnung verlief sehr glanzvoll. Fast alle deutsche Fürsten waren anwesend. Die roten Samtmäntel des Schwarzen Adlers schmückten das Bild sehr. Die Thronrede wurde durch häufiges „Bravo“ unterbrochen und am Schluß war ein förmlicher Beifallssturm. Ebenso beim Hoch, das der bayrische Premier Lutz ausbrachte. Die leitenden deutschen Minister waren auch meist anwesend. Se. Majestät verlas die Thronrede etwas schnarrend, wie überhaupt die Stimme nicht volltönig ist, aber er machte den günstigen Eindruck der Entschiedenheit und Festigkeit. Die Kaiserin trug Stern und Band des Schwarzen Adlers und sah sehr stattlich aus, ein ganzer Schwarm kleiner Prinzen folgte. Am Schluß reichte der Kaiser Bismarck die Hand, welche dieser sich tief verneigend küßte. Das schien auch Sr. Majestät unerwartet, sonst hätte er wohl abgewehrt und ihn embrassiert. Diese Szene wurde mit einem besonderen „Bravo“ begrüßt. Der Saal war sehr voll. Neu war auch der Aufmarsch der großen alten Schloßgardisten, welche noch die fridericianische Uniform tragen. Nachher empfing uns (das Staatsministerium) der Kaiser und hielt eine kurze Ansprache, in welcher er uns für die bisher geleisteten Dienste dankte 419

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und seinerseits die Bereitwilligkeit betonte, die Geschäfte uns zu erleichtern. Die Vorahnung, welche sein Vater in Charlottenburg geäußert hatte, daß er die Ausprägung der neuen Münzen mit seinem Bilde wohl kaum erleben werde, habe sich bestätigt; er wolle aber, daß mit der Prägung fortgefahren werde, damit das Bild in viele Hände komme. Das Gelöbnis der Treue und des Gehorsams nahm er mittels Handschlags von uns entgegen. In dem später folgenden Kronrat bemerkte Se. Majestät zunächst, er werde eine Amnestie nicht erlassen, weil es eine eigentümliche Art der Feier eines solchen Ereignisses sei, daß man Verbrecher auf andere Leute loslasse. Von den letztbegnadigten militärischen Übeltätern seien mehrere sofort wieder rückfällig geworden und hätten mit neuen Strafen belegt werden müssen. In allen Zeitungen stehe, er werde sich in Königsberg krönen lassen, er denke gar nicht daran, es sei etwas durchaus Unnötiges, was außerdem viel Geld koste, das wir nicht hätten. Bismarck stimmte in beiden Punkten lebhaft zu. Es sei besser ohne weitere Formalitäten den Übergang der Krone als geschehen hinzustellen. Dann erzählte Se. Majestät den sehr unangenehmen Vorfall, daß der frühere Vorleser des Kaisers Wilhelm, der Hofrat Louis Schneider, Memoiren hinterlassen habe, welche von Taktlosigkeiten und Unrichtigkeiten wimmelten. Die Erben hätten den Ankauf des Werkes angeboten. Graf Stolberg aber habe die Sache dilatorisch behandelt, und so sei das Buch inzwischen publiziert worden und schon in buchhändlerischen Vertrieb gelangt. Es sei ihm das sehr unangenehm, denn im Auslande werde man den Unsinn glauben. Er werde sich von seinem Freund Stolberg trennen, welcher zudem wiederholt um Enthebung vom Hausministerio gebeten habe. Der Regierungspräsident von Wedell werde diesen Posten übernehmen. Diese Mitteilung war den meisten von uns ‒ exklusive Bismarck, Vater und Sohn ‒ völlig neu. Offenbar handelte Se. Majestät in diesen Dingen schnell und völlig selbständig. Von Albedyll wird er sich auch bald trennen, wie man hört. Als Se. Majestät sich entfernt hatte, warf Bismarck die Frage auf, ob wohl das Ministerium des Innern ein halbes Jahr unbesetzt bleiben könne oder ob man auf Besetzung dringen müsse, eventuell wer vorzuschlagen sei. Man war der Meinung, eine baldige Besetzung empfehle sich ‒ Studt und Herrfurth wurden genannt. Bismarck meinte: Se. Majestät halte an dem Gedanken fest, Puttkamer zu reaktivieren. Der Fürst hat versucht, ihm den Gedanken durch Graf Herbert ausreden zu lassen, aber, wie es scheint, ohne Erfolg. Es rächen sich jetzt vielleicht manche Lehren, welche Bismarck dem jungen Herrn in früheren Jahren gegeben hat, seine Souveränitätsrechte vor allem wahrzu420

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nehmen, die größte Rücksichtslosigkeit zu üben gegen Beschlüsse und Wünsche von Ministerien und Parlamenten. Ein Artikel der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung sagt: König Friedrich habe sich nicht für regierungsfähig gehalten, wenn er mit Krebs erklärtermaßen behaftet sei; darum habe man die Fiktion aufrechterhalten, es liege eine andere Krankheit vor und Mackenzie habe sich zum Träger dieser Fiktion gemacht. Mit dem Ausscheiden Albedylls hat es seine Richtigkeit, ebenso mit dem Abschied von Prinz Radziwill und Graf Lehndorff, den alten Generaladjutanten. Es wird also munter aufgeräumt. 28. Juni. Caprivi hat seinen Abschied eingereicht, weil verschiedene Befehle aus dem Kabinett ohne Rückfrage und mit Übergehung seiner an den Direktor im Marineministerium gegangen sind ‒ so auch Uniformänderungen. Das wird vielfach als ein Mißgriff betrachtet. Stolberg hat erst im September sein Amt niederlegen wollen und scheint von der prompten Neubesetzung überrascht zu sein. 30. Juni. Staatsministerialsitzung. Eine kritische Frage. Es handelt sich um Neubesetzung einer theologischen Professur, in welcher die Fakultät Harnack wünscht, während die Hofpredigerpartei ihn als Freigeist perhor­ resziert. Goßler steht aufseiten der Fakultät und will eine Kabinettsfrage daraus machen, worin ihn Bismarck bestärkt. Se. Majestät steht vor der schwierigen, aber sicher öfter wiederkehrenden Frage, ob er dem Ressortminister oder den Hofpredigern folgen will. Bismarck ist gestern längere Zeit zum Vortrag bei ihm gewesen und hat ihm auch auf meinen Vorschlag abgeraten, einen Ukas gegen den Unionklub zu erlassen, wodurch er den Offizieren die Mitgliedschaft verbieten will. Se. Majestät hat so weit nachgegeben, daß er erst noch mich darüber hören will. Caprivi, mit welchem ich öfters reite, klagte über die undienstliche Art, in welcher ihm Weisungen durch Hofmarschall und Adjutanten zugegangen seien, auch Fragen über seinen Kopf weg entschieden seien. Man wolle auch prinzipiell andere Organisationen treffen ‒ so Trennung des Oberkommandos von der Verwaltung ‒, Dinge, welche er nicht mitmachen wolle, und da hat er recht! Bismarck teilte uns mit, er habe die Zustimmung Sr. Majestät erlangt zur Ernennung Herrfurths zum Minister des Innern, wohl mit dem Hintergedanken, Puttkamer nach einiger Zeit wieder an seine Stelle zu setzen. Herrfurth selbst sei bereit, jederzeit seinen Platz zu räumen, wenn man ihm ein Oberpräsidium gäbe. Seine Gesundheit gestatte sowieso nicht, längere 421

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Zeit Unterstaatssekretär oder Minister zu sein. Es kann aber auch anders kommen ‒ wenn er einmal Minister ist. (Tatsächlich blieb Herrfurth bis August 1892 im Amt.) Dann wünschte Bismarck das Oberpräsidium in Hannover für Bennigsen frei zu machen, Leipziger soll nach Koblenz an Bardelebens Stelle kommen, der leicht zum Abgang zu bestimmen sein wird. Miquel sei wie eine schlecht gewickelte Rakete, welche zur Unzeit und am unrechten Fleck losgehe. Die Äußerung bezog sich auf eine Rede Miquels, wo er die Elsässer Paßscherereien verurteilt hatte. Se. Majestät ließ von Goßler Vortrag halten über das von Kaiser Friedrich mit großer Liebe ausgearbeitete Projekt eines großen Dombaus ‒ Mitte Festkirche, zu beiden Seiten Königsgruft und Predigtkirche ‒, alles durch einen Gang mit dem Schloß verbunden. Er wünsche das Projekt aus Pietät gegen seine Eltern ausgeführt zu sehen und auch um seiner Mutter ein Feld der Tätigkeit zu geben, jetzt, wo sie dessen beraubt sei. Auch scheine ihm gerade jetzt der Zeitpunkt geeignet, mit einer solchen Forderung ans Parlament zu gehen, wo gerade die Opposition eine besondere Verehrung für seinen Vater hege. Ein solcher Bau gebe den bedeutendsten Meistern der Gegenwart Gelegenheit, Schule zu machen und, in großen Gruppen verteilt, gemeinsam zu arbeiten, während er in letzter Instanz entscheidend darüberstände und durch sein Machtwort Eifersüchteleien und dergleichen abschneiden könne. Goßler hielt einen von viel Selbstgefühl durchhauchten Vortrag, worin er sich als Meister der auszugestaltenden Gedanken präsentierte und die Einsetzung einer Immediatkommission vorschlug. Hiermit war Se. Majestät einverstanden und ernannte ihn zum Vorsitzenden. Es soll eine Kabinettsorder entworfen werden, durch welche dieses Projekt in die Öffentlichkeit lanciert wird. Se. Majestät sprach ferner den Wunsch aus, die Todestage seines Herrn Vaters und Großvaters als schulfreie Gedächtnistage dauernd geehrt zu sehen. Den armen Jungen würden diese freien Tage nichts schaden. Bismarck betonte, daß, wenn ein solcher Gedächtnistag für den Kaiser Friedrich eingeführt würde, das in noch höherem Maß für Kaiser Wilhelm berechtigt sei. Kaiser Friedrich werde seiner kurzen auf dem Krankenbett zugebrachten Regierungszeit nach mehr als Kronprinz und als siegreicher Feldherr im Gedächtnis fortleben wie als Kaiser und König. 7., 8. Juli. Die Kaiserin Augusta hat an das Staatsministerium folgendes Schreiben gerichtet: „Unter den zahlreichen Mir aus Anlaß des Hinscheidens Meines geliebten Sohnes, des Kaisers Friedrich, gewidmeten dankenswerten Kundgebungen 422

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der Teilnahme hat mich diejenige des Staatsministeriums besonders bewegt. Sie trägt die Namen der Männer, in denen ich treue Ratgeber Meines teuren unvergeßlichen Gemahls erblickte, die ich in prüfungsreichen Tagen an der Seite Meines duldenden Sohnes gesehen, und die nunmehr mit ihrer bewährten Gesinnung Meinem teuren Enkel, unserem Kaiser und König, zur Verfügung stehen, im gemeinsamen Dienst des Vaterlandes. Gebeugt von den Gemütsbewegungen dieser wechselvollen Ereignisse, erkenne ich hierin eine Beständigkeit, welche mich wohltuend berührt, und aus vollem Herzen spreche ich Meinen Dank mit der Versicherung aus, daß das Wohl unseres Staates und unseres Volkes Mein erster Wunsch und Meine letzte Hoffnung bleibt. Augusta.“ 7., 8. Juli. Heute Vortrag bei Sr. Majestät. Betreffs der künftigen Stellung des Oberlandstallmeisters bemerkte er sofort: „Wenn Graf Lehndorff sich nicht von Graditz und dem Rennwesen trennen wolle, solle man ihn gehen lassen. Er wisse einen geeigneten Nachfolger, den Gestütsdirektor Fachmann.“ Er beruhigte sich aber ebenso schnell auf die Bemerkung, daß die Frage vorläufig glücklicherweise noch nicht akut sei. Beim Vortrag über den Unionklub wurde er wieder sehr lebhaft und meinte: Die Herren hätten ihn früher schlecht behandelt. Er wolle die jungen Offiziere aus dieser Gesellschaft, wo hohes Hasardspiel und enormer Luxus herrsche, heraushaben. Wenn einer eine Flasche Lafitte für zwölf Mark trinke, bestelle der andere eine für achtzehn Mark u. s. w. Das dürfe nicht so fortgehen, er wünsche für das Rennwesen andere Organe geschafft zu sehen, und dieses vom Klub, der gesellschaftlich fortbestehen möge, völlig getrennt. Da seien eine Anzahl Juden Mitglieder, das passe nicht für Offiziere. Er habe einen Befehl erlassen, welcher den Offizierkorps mitgeteilt würde und generell die Teilnahme an Spiel und Luxusklubs verbiete, aber keinen besonderen Klub nenne, also auch den Unionklub nicht. Er übereile sich nicht in solchen Dingen, das passiere ihm nicht! Er sagte das sehr sicher und voll Überzeugung. Bezüglich der Ölser Verwaltung wünschte er es beim jetzigen Verhältnis, daß ich die Geschäfte weiterführe, zu lassen und behielt die Kabinettsorderentwürfe, welche meinerseits die Übertragung auf den Hausminister vorschlugen, zurück. Auf meine beiläufige Bemerkung, ich sei als politischer Minister leichter einem Wechsel unterworfen wie der Hausminister, für mich könne über Nacht eine Krisis eintreten, sagte er: „Das wolle Gott verhüten ‒ Sie wollen doch nicht etwa in die Opposition gehen!?“ Der hohe Herr weiß offenbar, was er will, und ist in seinen Entschlüssen fest und schnell. In der Armee wird enorm aufgeräumt. 423

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Die Berufung von Professor Harnack scheint Se. Majestät nicht ohne Weiteres vollziehen zu wollen, er soll durch Hofprediger Kögel dagegen eingenommen sein. Für Goßler eine Kabinettsfrage. Es ist eine lange prunkvolle Seereise an die nordischen Höfe geplant, womit Bismarck nicht ganz einverstanden ist. 18. Juli. Auf der Rückreise von Erfurt fuhr ich mit General von Versen zusammen, welcher jetzt die Erfurter Division hat und als Vertrauensmann und Günstling Sr. Majestät gilt. Er ist ein forscher Reiter, vielgereister Mann, aber etwas exzentrisch und in Zivilangelegenheiten gar nicht orientiert. Er bezeichnete die hintzpetersche Charakteristik Sr. Majestät für ganz richtig und meinte, kirchlich und politisch werde er sich nicht in Extremen bewegen, obschon er zur äußersten Rechten neige. Selbstherrlichkeit sei ein prominenter Zug an ihm. Er habe für jeden Posten seine Remplaçants in petto und würde in Personalien jedenfalls seinem eigenen Judizium folgen. Er habe solide gelebt und nur über etwa sechstausend Mark Taschengeld jährlich verfügt, sonst sei alles durch das Hofmarschallamt gegangen. Auch er bezeichnete Jachmann als einen geeigneten Oberlandstallmeister ‒ also liegt hier wohl die Quelle des Gedankens. Von Versen meinte, Se. Majestät werde häufig Kronrat halten und selbst präsidieren, um selbst die Meinungen der Minister zu erfahren. Sonst würde er sich überhaupt nicht darüber belehren können, und es würde dann das Staatsministerium gegen ihn ausgespielt werden können. ‒ Das ging offenbar auf Bismarck! Das Geschwader Sr. Majestät hat gestern Memel passiert und soll morgen Peterhof erreichen. 22. Juli. Friedberg erzählte: Es seien drei große, bisher in Windsor deponierte Kisten von der Prinzeß Christian hierhergebracht und abgeliefert worden. Er und Hausminister Wedel haben die ganz musterhaft geordneten Papiere gesichtet und nur auf den letzten Krieg und staatliche Angelegenheiten bezügliche Dinge dem Staatsarchiv übergeben. Die Kaiserin Friedrich sei dabei von dem größten Entgegenkommen und charmanter Liebenswürdigkeit gewesen. Wedel sei ganz bezaubert gewesen und höchst taktvoll aufgetreten. Ihre Majestät hat selbst zugegriffen, eingeräumt und ausgepackt, selbst Hammer, Zange und Nägel aus einem eleganten Reisenecessaire gebracht, während die alten dicken Kammerdiener tunbehilflich und schwitzend dabeigestanden hätten. Sie sehe vortrefflich aus und sei auch in good spirits. So ist an dem Gerücht über die nach England geschafften Papiere doch etwas Wahres gewesen. Der jetzt regierende Herr hat Friedbergs Vermittlung in dieser Sache angerufen und ihn gebeten, der Sache nachzugehen 424

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und sie zu ordnen, was nun auch ohne Friktionen erfolgt ist. Übrigens haben der alte Kaiser und andere Glieder der königlichen Familie England gleichfalls in früheren Jahren als Depot für Papiere benutzt. Die meisten Sachen sind wirkliche Privatkorrespondenzen, welche Kaiser Friedrich als Kronprinz mit der größten Akkuratesse selbst geordnet gehalten hat und aktenmäßig sammelte und binden ließ. Er hatte selbst die Buchbinderei gelernt und eine gewisse bureaukratische Liebhaberei für eine geordnete Registratur. Er hatte auch die Begabung, im hohen Maße den Inhalt wichtiger Unterhaltungen genau behalten und fast wörtlich wiedergeben zu können. Unter den Papieren befanden sich zahlreiche Exposés, welche Friedberg ihm hatte über Tagesfragen machen müssen. Jedenfalls ein großes und interessantes Material der intimsten Zeit- und Familiengeschichten des Hofs in den letzten dreißig Jahren. 2. August. Se. Majestät ist gestern Nachmittag von seiner nordischen Reise glücklich nach Potsdam zurückgekehrt, nachdem er eine Nacht in Friedrichsruh geblieben war. Die Reise ist ohne Störung aufs Beste verlaufen und hat offenbar einen günstigen Eindruck hinterlassen. Nach den Anfeindungen und Verleumdungen, in welchen sich früher die auswärtige Presse ergangen hat, ist jetzt augenscheinlich eine günstige Reaktion in der Beurteilung des jungen Monarchen eingetreten, wie selbst die Times konstatiert. Bei uns geht die rauchhaupt-hammersteinsche Agitation jetzt ziemlich hoch, welcher durch die Ernennung Bennigsens und Miquels zu hohen Staatsämtern ein wirksamer Damm gezogen werden könnte. Bismarck selbst hatte in der letzten Sitzung die Ernennung Bennigsens zum Oberpräsidenten von Hannover angeregt und Kassel oder Koblenz wäre auch frei zu machen. Goßler empfahl sich vor der Abreise nach Tarasp. In der harnackschen Berufung ist noch keine Entscheidung erfolgt. Se. Majestät sei durch Kögel, welcher immer extremer werde, dagegen voreingenommen. Papst Leo sei durch Crispis Annäherung an Bismarck sehr erregt und verlange die Rückgabe des Patrimonium Petri durch Vermittlung des Deutschen Reichs ‒ was ein Leichtes sei. Bismarck habe folgedessen sehr kühle Saiten aufgezogen und behandle Se. Heiligkeit demgemäß. Schlözer ist gestern hier angekommen. 4. August. Gestern Staatsministerialsitzung, in welcher Graf Herbert die Ergebnisse der Reise dahin resümierte, daß sie zur Anbahnung freundlicher, persönlicher Beziehungen gedient haben solle und diesen Zweck auch erreicht habe. Instruktion sei gewesen, von äußerer Politik nicht zu reden aus eigener Initiative, dagegen seien Antworten vorbereitet gewesen für den Fall, daß sie von anderer Seite entriert würden. 425

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Der Zar, welcher offenbar das Gegenteil befürchtet habe, hätte erleichtert aufgeatmet, als er das bemerkt habe, und nur mit ihm (Graf Herbert) politisiert, etwa eine Stunde. Dabei aber nur seine Abneigung gegen den Battenberger geäußert und den Wunsch seiner Verwandten ausgesprochen, dem Herzog von Cumberland freie Reise und Aufenthalt in Deutschland zu sichern. Ähnliche Versuche seien von der Zarewna und später von der Königin von Dänemark gemacht, aber höflich kühl abgelehnt worden als Fragen der inneren deutschen Politik. Überall sei der Empfang herzlich gewesen und habe sich dieses Gefühl im Verlauf des Aufenthalts eher gesteigert. In Friedrichsruh habe Se. Majestät aus eigener Anregung den Wunsch ausgesprochen, durch eine eklatante Handlung seine Billigung der Kartellpolitik zu manifestieren. Als solche habe er selbst die Ernennung von Bennigsens zum Oberpräsidenten von Hannover vorgeschlagen. Seinem Vater sei das sehr angenehm gewesen und dieser wünsche, daß das Erforderliche schleunig in die Wege geleitet werde. Herrfurth war bereit dazu, machte aber auf die Bedenken aufmerksam, gerade die doch mehr liberalen Oberpräsidenten Achenbach und Ernsthausen zu beseitigen. Er will selbst nach Friedrichsruh fahren, die nötigen Verabredungen zu treffen. Ebenso wurde empfohlen, Rauchhaupt eine Reprimande zugehen zu lassen und ihm mehrjährige Enthaltung von der aktiven Politik zu empfehlen. Se. Majestät werde das selbst veranlassen durch Vermittlung seines Hofmarschalls. Um 2 Uhr mittags Diner bei Sr. Majestät zu Ehren der ägyptischen Prinzen im Stadtschloß zu Potsdam. Der jüngere dreizehnjährige, neben welchem ich saß, war ein sehr aufgeweckter, ungewöhnlich netter Mensch, über seine Jahre entwickelt. Er sprach mit gleicher Leichtigkeit Deutsch, Englisch und Französisch und, wie er sagte, Türkisch, Arabisch, Persisch etc. Seit einem Jahr ist er auf dem Theresianum in Wien, wo es ihm sehr gefällt. Nur die Ferien seien öde, wo alle Kameraden zu ihren Familien reisten. Se. Majestät war sehr munter und beurlaubte mich gern nach Bayreuth, sein Bedauern aussprechend, nicht selbst dahin gehen zu können. 19. August. Sonntag. Vorgestern zum Vortrag bei Sr. Majestät, welcher statt 1 Uhr, wie befohlen, erst um 2 Uhr stattfand. Außer mir warteten Unterstaatssekretär Graf Berchem und Major von Bissing. Se. Majestät hatte sich mit einem Marinevortrag festgelegt und auch diesen wohl etwas verspätet begonnen. Seine Adjutanten klagten entschuldigend, daß Se. Majestät noch keine richtige Zeiteinteilung einzuhalten wisse und mehr in einen Tag einzuschachteln suche, als möglich sei. Dabei beginnt er den Tag sehr früh, so war er an diesem Tage schon um 6 Uhr früh ausgerückt und hatte die Be426

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duinen und drei Regimenter auf dem Kreuzberg besichtigt, dann hier im Schlosse militärische Meldungen entgegengenommen und mit den Vorträgen begonnen. Er habe seit dem ersten Frühstück keinen Happen zu sich genommen. Als ich um 2 Uhr vorkam, war im Vorzimmer zum Dejeuner gedeckt und ich fand Se. Majestät offenbar sehr hungrig und gähnend. Er war aber ganz bereit, alle mögliche Konversation über die Bayreuther Spiele, die Sitzungen der Landespferdezuchtkommission, Kröchers Reden darin etc. zu machen. Auch nach meiner Frau erkundigte er sich, trug höchst verbindlich wiederholt Grüße auf. Ich wandte mich natürlich möglichst schnell zur Sache. Es war eine Petition ostpreußischer Züchter eingegangen zu Gunsten des Verbleibens des Grafen Lehndorff im Amt, welche Eindruck auf ihn gemacht hatte. Er war aber gleich bereit, mir die Bescheidung zu überlassen und eine Rektifikation einfließen zu lassen, daß man mit einer Petition in Personalien sich gleich an die höchste Stelle gewandt habe. Ebenso fand ich ihn gleich bereit ‒ im Gegensatz zu der früheren, schnellen Äußerung, Lehndorff gehen zu lassen und durch Fachmann zu ersetzen ‒, das Provisorium zu Gunsten Graf Lehndorffs zu verlängern. Mit dieser Lösung war ich sehr zufrieden, da ein geeigneter Ersatz für Graf Lehndorff zurzeit kaum zu finden ist, obschon die Vereinigung der Stellung des Oberlandstallmeisters mit der Graditzer Dirigentenstelle ihr Mißliches hat. Die sonstigen Sachen wurden schnell erledigt. Am Tage vorher hatte Se. Majestät bei Gelegenheit der Enthüllung eines Denkmals in Frankfurt a. O. für den Prinzen Friedrich Karl eine Rede gehalten, welche großes Aufsehen machte. „Man werde eher 19 Armeekorps und 42 Millionen Deutsche auf der Strecke liegen lassen, als einen Stein von dem Errungenen preisgeben!“ Motiviert ist das Wort als Abwehr gegen die dem Kaiser Friedrich fälschlich imputierte Absicht, deutsche Gebiete an Frankreich, Dänemark und die Depossedierten abtreten zu wollen. Von Bissing meinte: Se. Majestät neige gar nicht zur Muckerei, Frömmelei, er halte aber fest an der einmal eingenommenen Stellung, zumal in einem Fall wie der walderseesche, wo man ihn habe reinfallen lassen. Er habe die dort gepflegten Bestrebungen der Inneren Mission für gut und nützlich gehalten, sei nicht rechtzeitig gewarnt und nachher mit Tadel, starken Vorwürfen und Angriffen überschüttet worden. Das mache ihn aber gerade obstinat und bewirke gerade das Gegenteil, während er ruhigen, sachgemäßen Vorstellungen sehr zugänglich sei. Das klingt wie eine richtige Charakteristik und Beurteilung. Dem Westfälischen Bauernverein eine freundliche Antwort zu erteilen auf seine Adresse, war er sehr einverstanden. 427

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Bötticher ist zum Vizepräsidenten des Staatsministeriums ernannt worden. 1. September. Gestern Taufe des Prinzen Oskar Karl Gustav Adolf im Potsdamer Stadtschloß in üblicher Weise. 27. Oktober. Staatsministerialsitzung, in welcher Graf Bismarck über die Kaiserreise sehr interessant und befriedigend berichtete. In Süddeutschland ist der Empfang bei den Souveränen und beim Volk glänzend gewesen ‒ aufrichtig sympathisch. Der König von Württemberg hat seine Befriedigung besonders auch darüber ausgesprochen, daß dieser Besuch ihm Gelegenheit gebe, in seiner eigenen Hauptstadt zu erscheinen. Der Prinzregent von Bayern hat gesagt: Nach der Veröffentlichung des Tagebuchs Kaiser Friedrichs müsse er in Bismarck seinen Schutzpatron sehen. Die Großherzoge von Sachsen und Baden hätten sich ähnlich geäußert, so auch der König von Sachsen. Die jetzigen Verhältnisse stellten das alte Vertrauen wieder her. Der anfängliche Versuch, das Tagebuch als Fälschung zu bezeichnen, sei ganz verfehlt, weil sie alle die gleichen oder ähnlichen Äußerungen aus dem Munde des Kronprinzen vernommen hätten, während und nach dem Krieg. Die Publikation habe dem Andenken des Kaisers Friedrich sehr geschadet, aber den Empfang des Kaisers Wilhelm nicht nur nicht beeinträchtigt, sondern eher gehoben, ebenso die Gesinnung für Bismarck. In Österreich seien die Verhältnisse wenig befriedigend. Die Minister seien Postenkleber und keiner riskiere seine Stellung, um etwas Vernünftiges durchzusetzen. Unsere Freunde seien die Ungarn und die Deutschen. Letztere aber seien ihrem Kaiser Franz Joseph verdächtig wegen ihrer Hinneigung zum Deutschen Reich. Kalnoky sei nur dem Namen nach Ungar, spreche es kaum, seine Familie sei schon seit zweihundert Jahren in Mähren ansässig; so habe er weder in Österreich noch in Ungarn etwas hinter sich. Fühle sich nicht stark genug, die Kabinettsfrage zu stellen, um seinen Kaiser zu bestimmten Entschließungen zu bewegen. So verflüchtige sich die Basis des österreichischen Bündnisses, weil es an innerer Stärke verliere. Die Armee werde bald kein Deutsch mehr verstehen! In Italien sei Crispi unsere feste Stütze und die durch die ganze Nation gehende Erbitterung gegen Frankreich. In letzter Beziehung sei abzuwiegeln, um zu verhindern, daß die Italiener wegen Massoa oder Tunis Krieg mit Frankreich anfingen. Crispi habe dafür volles Verständnis, er könne aber durch die kaum berechenbaren parlamentarischen Kombinationen beseitigt werden. Der Papst habe, gezwungen durch seine intransigente persönliche Umgebung, ein förmliches Exposé über die Notwendigkeit der weltlichen 428

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Macht gegeben. Wie weit dabei Zeugen hinter den Gobelins gewesen seien, könne man natürlich nicht wissen. Die Jesuiten hielten ihn mit ihren großen Reichtümern an der Schnur. Sie ergänzten seine für die große Repräsentation ungenügenden Mittel. Die Republik in Italien sei gleichbedeutend mit dem Zerfall der Einheit, das sehen alle verständigen Politiker ein, insbesondere Crispi. Die Armee habe Sr. Majestät über Erwarten gut gefallen. In Summa ist die Reise gut verlaufen und Graf Herbert hat offenbar seinen Platz gut ausgefüllt. Se. Majestät hat heute den Berliner Magistrat, welcher ihm als Willkommgruß den begasschen Monumentalbrunnen errichten lassen will, sehr ungnädig angelassen. Weder Forckenbeck die Hand gegeben noch sich die Mitglieder der Deputation vorstellen lassen. Er hat sie verantwortlich gemacht für die schlechte fortschrittliche Presse, welche die intimsten Verhältnisse seiner Familie in einer Weise behandelt habe, die kein Privatmann sich gefallen lassen würde. Das müsse anders werden, und er erwarte das von der Stadt, wo er künftig leben werde. Aus diesem Anlaß wurde der Berliner Witz gemacht: „Seien Sie doch nicht so grob, ich habe Ihnen doch keinen Brunnen geschenkt,“ welchen Se. Majestät später gutlaunig selbst erzählte. Der Fürst setzte das Ministerium durch einige schriftlich erhobene Wünsche in Verlegenheit. Nachdem zwei Bischöfe die Wahlen betreffende Hirtenbriefe erlassen haben, müßte man die Kassation der Zentrumswahlen verlangen. Ferner sollten die Oberpräsidenten nun auch in gleicher Weise vorgehen zu Gunsten von regierungsfreundlichen Wahlen. Nachdem jahrelang über den Verkauf von Geheim- und Arzneimitteln verhandelt ist, will er jetzt von der ganzen Sache nichts mehr wissen, was für Reichsamt des Innern und Kultusministerium eine erhebliche Verlegenheit. Heute ist Zollanschlußfeier in Hamburg, welcher der Kaiser und zahlreiche Bundesräte beiwohnen. Auf der Rückreise will Se. Majestät in Friedrichsruh bleiben. 7. November. Die Wahlen zum Abgeordnetenhaus sind günstig verlaufen, die Konservativen und Nationalliberalen gehen verstärkt daraus hervor auf Kosten der Freisinnigen. In der letzten Sitzung wurde die Erhöhung der Zivillifte besprochen. Se. Majestät hat dem Finanzminister durch Wedel sagen lassen, auf weniger als 6 Millionen könne er sich nicht einlassen, während Wedel 3 Millionen als hinreichende Erhöhung bezeichnet habe. Er fürchtet das Drängen der ganzen Hofbeamtenschaft auf Gehaltserhöhung, welche zudem durch nichts zu rechtfertigen wäre. Eine Erhöhung um 25 bis 30 Prozent, also 3 bis 429

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4 Millionen, erscheine genügend. Scholz schien die Sache allein in die Hand nehmen zu wollen, auch ohne den Fürsten in die Sache zu ziehen. Wir anderen meinten, gerade dessen Sache würde es sein, die Führung zu nehmen und das entscheidende Wort zu sprechen. 18. November. Friedberg behauptet, Bismarck habe Se. Majestät wegen der ungnädigen Ansprache an den Magistrat beglückwünscht! Inzwischen ist die Annahme des offerierten Brunnenbaues in einem sehr verbindlichen Schreiben Sr. Majestät, begleitet von einem gleichen Goßlers, erfolgt. Die Berliner machen Witze darüber: Wer anderen einen Brunnen schenkt, fällt selbst hinein. In Breslau hat Se. Majestät allen Anwesenden die Hand gereicht außer dem fortschrittlichen Oberbürgermeister und Stadtverordnetenvorsteher. Ferner hat er sie beauftragt, seine Freude zu bezeugen über den günstigen (Kartellparteien) Ausfall der Wahlen. Der Geffckenprozeß nimmt seinen Fortgang ‒ er soll unbefugt Abschrift von dem kronprinzlichen Tagebuch genommen und es publiziert haben. 22. November. Soeben ist der Reichstag mit einer sehr friedlichen Thronrede eröffnet worden. Se. Majestät in Gardeducorpsuniform sprach langsam und deutlich. Bronsart hat, wie er erzählte, als Kriegsminister um den Abschied gebeten, scheidet aber vielleicht ganz aus der Armee aus, obschon er wünscht, ein Korps zu bekommen. Er ist noch jung und so geistesfrisch und dienstfähig wie möglich. Grund: Alle Welt rede in sein Ressort jetzt hinein und er wolle froh sein, wenn er nach dem Abgang nicht mit Schmutz beworfen würde. Das könne ja leicht passieren! Der Kaiser höre auf jeden und treffe Entscheidungen, ohne ihn zu fragen. Bismarck soll in Briefen an Se. Majestät und an Bronsart sehr dringend abgemahnt haben, im jetzigen Moment einen Ministerwechsel vorzunehmen. Das werde die Stellung der Regierung im Parlament sehr schwächen und Forderungen, welche Bronsart ohne Weiteres bewilligt würden, werde man einem anderen versagen. Es ist aber wohl zu spät zu einer Sanierung. Als Kandidaten werden genannt Hänisch, Blume, Waldersee, Verdy. Maybach hat auch seinen Abschied eingereicht wegen eines unhöflichen Schreibens des Hofmarschalls Pückler, das den Minister für rauchende Lampen und versagende Bremsen verantwortlich machte. 30. November. Beide Ministerkrisen sind durch Bismarcks Intervention gütlich beigelegt. Er hat beiden sehr zugeredet zum Bleiben im Interesse des Staats. Auch Se. Majestät hat beide mündlich und schriftlich begütigt. 430

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7. Dezember. Der Fürst steuert das Ministerium in eine Differenz mit Sr. Majestät in der Frage der Erhöhung der Zivilliste. Nachdem wir alle, inklusive Graf Herbert, einig waren, daß jetzt der geeignete Zeitpunkt sei, um sicher drei Millionen, vielleicht mehr Erhöhung zu erreichen, besteht Bismarck darauf, in einem Immediatbericht das Bedürfnis zu bestreiten und nur die Ermächtigung für Verhandlungen mit den Fraktionsführern über Zeitpunkt und das Maß der Erhöhung zu erbitten. Dabei soll Se. Majestät den Eindruck gewinnen, daß das Staatsministerium zum Äußersten bereit ist und nur die Zustimmung des Landtags unsicher erscheint. Ferner lehnt Bismarck es ab, daß Bötticher einen mündlichen Bericht in der Sache erstatte, und besteht auf schriftlichem Bericht. Dieses Widerstreben ist nicht recht klar, jedenfalls bespricht inzwischen Se. Majestät die Sache mündlich mit Graf Herbert und vielleicht auch mit anderen Leuten, und die Sache kann sich dann so drehen, daß das Ministerium als „pater dubiorum“ und Schwierigkeitsmacher erscheint ‒ nicht das Parlament. Graf Herbert, welcher ad hoc nach Friedrichsruh gefahren war mit der ausgesprochenen Zuversicht, die Zustimmung seines Vaters zu dem einstimmigen Vorschlag des Staatsministeriums zu erreichen, kam unverrichteter Sache zurück. 11. Dezember. Unter diesem Eindruck, daß wir in eine sehr mißliche Lage durch diese Behandlung Sr. Majestät und dem Parlament gegenüber geraten würden, machte ich dem Fürsten schriftlich eine dringliche Gegenvorstellung, welche er in einem ausführlichen, übrigens freundlich gefaßten Schreiben erwiderte, in welchem er seine Meinung aufrechterhielt. (S. Anlagen, S. 530 ff.) Bismarck schrieb um jene Zeit in einem Dankschreiben an die Gießener Theologische Fakultät, welche ihn zum D. theol. ernannt hatte, folgenden schönen Satz: „Wer sich der eigenen Unzulänglichkeit bewußt ist, wird in dem Maß, in welchem Alter und Erfahrung seine Kenntnis der Menschen und Dinge erweitern, duldsamer für die Meinung anderer!“ Auf politischem Gebiet war aber diese Duldsamkeit nicht immer erkennbar und in Kardinalfragen wohl auch nicht möglich. 16. Dezember. Auf der gestern und vorgestern in der Göhrde stattfindenden Hofjagd tat der Fürst von Lippe-Detmold einige sehr bemerkenswerte Äußerungen über den jungen Kaiser. Der Fürst ist ein angehender Sechziger, welcher durch Schwerhörigkeit und Kurzsichtigkeit einen vorzeitig greisenhaften Eindruck macht, obschon er ein offenbar sehr klar urteilender, heller Herr ist. Da er viel allein herumstand, widmete ich mich ihm etwas, so daß wir wiederholt längere Konversationen hatten. „Se. Majestät sei ein hochbegabter, feuriger, junger Herr, welcher alte besonnene Ratgeber, auf welche er höre und 431

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zu denen er Vertrauen haben müsse, nötig habe, damit nicht verhängnisvolle Übereilungen stattfänden. Jetzt höre er noch auf den Fürsten Bismarck ‒ aber wie lange werde das dauern?! Was für ein unermeßliches Unglück würde es sein, wenn er sich hinreißen ließe und in einen Krieg nach Westen sich stürzte, dem ‒ wenn von hier provoziert ‒ Verwicklungen im Osten folgen müßten. Se. Majestät habe keine Vorliebe für graue Köpfe und sage selbst, jetzt verjünge er die Armee, an die Minister und die Zivilverwaltung werde er später kommen. Es sei eine merkwürdige Mischung von sich widersprechenden Richtungen. Er habe fast despotische, absolutistische Neigungen und doch auch wieder sehr liberale Tendenzen, wie die Ernennung Bennigsens und sein Verhältnis zu Hintzpeter beweise. Der sei ein ganz gefährlicher radikaler Liberaler und stehe in fortwährendem vertrautem Verkehr mit dem Kaiser. Da könnten schlimme Dinge passieren. Se. Majestät habe ein ganz unglaubliches Gedächtnis und sehr schnelle Auffassung. Man müsse daher mit Äußerungen ihm gegenüber höchst vorsichtig sein, weil er die Dinge, welche er höre, sich sehr genau einpräge. Man dürfe daher keine schiefen, unüberlegten Äußerungen tun. Sie hafteten und könnten ungeahnte Folgen haben. Wenn er (der Fürst) immer Zeit genug gehabt hätte, sich die Dinge vorher zu überlegen, über welche er zufällig mit ihm konferiert habe, würde er manches ungesagt gelassen oder anders gesagt haben. Se. Majestät neige bei seinem jugendlichen Feuer und seiner schnellen Auffassung sehr zu Übereilungen. Das sei eine große Gefahr.“ Der Fürst machte, während wir sprachen, selbst darauf aufmerksam, daß Se. Majestät in unserer unmittelbaren Nähe stehe und ein sehr scharfes Ohr habe. Ich beruhigte ihn mit der Bemerkung, daß es nur nützlich sein könne, wenn Se. Majestät unsere übrigens ganz respektvolle Unterhaltung höre. Nachdem wir noch Whist zusammen gespielt hatten, machte Se. Majestät nochmals Cercle und sagte zu Bennigsen und mir: Er verstehe zwar von der sozialen Frage noch nicht viel, glaube aber, der Schwerpunkt, der Sozialdemokratie das Wasser abzugraben, bestehe in der Reform und richtigen Organisation der Volksschule. Ein Lehrer dürfe nicht über vierzig Schüler zu unterrichten haben, dann könne er tief einwirken und die Kinder widerstandsfähig gegen die sozialdemokratische Irrlehre machen. Bennigsen und ich stimmten nur halb zu, wiesen auf die enormen Schullasten hin, welche dadurch entstehen würden, auf die begonnene soziale Gesetzgebung und auf die Gefahr, daß die Lehrer selbst ein sehr unsicheres Element seien, wie Dänemark und Norwegen beweisen etc. Se. Majestät erwiderte: „Hintzpeter habe ihm erst kürzlich einen sehr interessanten Brief hierüber geschrieben.“ (Lupus in fabula!) 432

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Dann bewunderte er die Leichtigkeit, mit welcher die Franzosen die weitgehendsten militärischen Forderungen befriedigten trotz des unglücklichen Krieges, Boulangers und Defizits. Wir deuteten dagegen auf den drohenden Staatsbankerott und die fortschreitende Beamtenkorruption hin, wo jeder seine Tasche aus Staatsmitteln fülle und jedes Votum erkauft werde mit Summen, deren Ziffern öffentlich bekannt seien. Unsere parlamentarischen Verhältnisse seien dagegen auch mit ihren Schattenseiten noch glänzend und integer. Diese Unterhaltung war eine merkwürdige Illustration zu den wenige Minuten vorher gefallenen Äußerungen des Fürsten von Lippe. Fürst Radolin, neben welchem ich mehrfach saß, erzählte: Die Kaiserin Friedrich habe ihm noch kürzlich Vorwürfe darüber gemacht, daß er während der Regierungszeit ihres Gemahls die Verheiratung der Prinzeß Viktoria mit dem Battenberger verhindert habe. Radolin hat es verhütet, indem er drohte, daß Bismarck in diesem Fall die Dispositionsfähigkeit des Kaisers Friedrich bestreiten werde und dadurch eine Krisis von unberechenbarer Tragweite entstehen könne. Übrigens habe ein Brief des Prinzen Alexander Battenberg, an ihn (Radolin) gerichtet, bewiesen, daß er gar nicht so erpicht auf die Heirat gewesen sei und bereit war, sich der politischen Notwendigkeit zu fügen. Dieser Brief ist von Radolin an Bismarck weitergegeben worden. Daß wir so nahe an dieser Katastrophe gewesen sind, ahnen wohl nur wenige Leute, und Radolin hat sich durch sein energisches Verhalten hier ein großes Verdienst erworben. 23. Dezember. In der Zivillistenfrage ist die Bereitwilligkeit aller bisher sondierten Parteien zu konstatieren, etwa 4 Millionen zu bewilligen, dagegen wird es abgelehnt, die Initiative dafür parlamentarischerseits zu übernehmen. Eine für die Regierung sehr günstige Situation. Der Fürst scheint noch zu zögern, sie zu benutzen. 30. Dezember. Die Neujahrsgratulation soll in Form einer Defiliercour stattfinden, welche dem 9 ½ Uhr vormittags in der Schloßkapelle stattfin­ denden Gottesdienst folgt. Halbtrauer. Besonderer Empfang des Ministeriums findet nicht statt. Am 1. Januar 1889 fand in dieser Weise die Neujahrsgratulation statt.

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1889 5. Januar. Jagd im Grunewald, wobei der Großherzog von Weimar und Prinz Schaumburg-Lippe anwesend. Minister von Puttkamer hat den Schwarzen Adler erhalten. Se. Majestät bemerkte: „Über diese Verleihung werde wieder der größte Unsinn geschrieben und geredet, es freue ihn aber, daß es die Freisinnigen ärgere.“ 21. Januar. Mit einem „Friedrichsruh, 7. Januar“ datierten Schreiben teilt Bismarck die Anklageschrift kontra Geffcken mit „als Chef der Reichsjustizverwaltung“, damit die Bundesregierungen in die Lage gesetzt werden, sich über das Verhalten der Reichsjustizverwaltung ihr Urteil auf aktenmäßiger Unterlage zu bilden. Daraus erhellt, daß Geffcken, Großkreuz des belgischen Leopoldordens, Studiengenosse des Kronprinzen in Bonn war und mit ihm, Roggenbach, Morier intim befreundet geblieben ist. Geffcken hat schon 1885 die jetzt bei der Thronbesteigung Kaiser Friedrichs publizierten programmartigen Proklamationen verfaßt, als damals der bekannte Ohnmachtsanfall in Ems eine Thronvakanz befürchten ließ. Geffcken hat auch in näherer Beziehung zu Stosch und Gustav Freytag gestanden. Er hat auch das Tagebuch des Kronprinzen, welches über 710 eng und eigenhändig geschriebene Seiten umfaßt, drei Wochen in Besitz gehabt und sich 21 Seiten Exzerpte gemacht. Dabei hat er die bismarckfeindlichen Stellen mit Vorliebe extrahiert. Geffcken wußte, daß der Kronprinz überhaupt keine Publikation des Tagebuchs beabsichtigt hat, sicher nicht bei Lebzeiten. Geffcken beurteilte den Kronprinzen ungünstig insofern, als er seinen Sinn nicht auf die Macht selbst, sondern als mehr auf den Schein gerichtet darstellt. Geffcken erhielt 1873 im März, wo er nach Wiesbaden geladen war, das Tagebuch von 1870/71. Es existieren drei Exemplare, von Kanzleihand gemachte Abschriften (von dem Hausinspektor Krug im Reichstag). Gustav Freytag hat das Tagebuch auch gelesen, aber eine Veröffentlichung als schädlich für den Verfasser und für das Reich bezeichnet. Das Tagebuch enthält bedenkliche Stellen über die Entstehung des Reichs, welche das Verhältnis der verbündeten Staaten untereinander und zum Reich brouillieren, Mißtrauen wegen beabsichtigter Übergriffe und wegen Beein434

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trächtigung der vertragsmäßigen Selbständigkeit der Einzelstaaten wecken können. Auch die Stellung des Reichs zum Ausland würde gefährdet, als gäbe es infolge der inneren Uneinigkeit ihm einen Angriffspunkt zu Bündnisversuchen. Die Stellung zur Kurie würde in falsches Licht gestellt, während Bismarck beabsichtigt habe, das Infallibilitätsdogma völlig zu ignorieren. England werde vor Bismarcks Gegnerschaft fälschlich gewarnt und dergleichen mehr. Geffcken soll eine Denkschrift gegen Bismarck verfaßt und an Roggenbach zur Weitergabe an den Kronprinzen überreicht haben, welche Bismarck stürzen sollte. Roggenbach gab sie aber nicht weiter. ‒ Geffcken soll hochkirchlich konservativ und leidenschaftlicher Gegner Bismarcks sein. 14. Januar. Die Thronrede, mit welcher heute der Landtag eröffnet wurde, war sehr friedlich und konstatierte die günstige Finanzlage. 15. Januar. Gestern ist Lucanus, vom Fürsten kommend, bei Minister von Friedberg erschienen, um ihm vertraulich zu eröffnen, daß sich Se. Majestät von ihm zu trennen beabsichtigte. Friedberg habe hierauf sofort ein Entlassungsgesuch eingereicht, motiviert mit seinen 53 Dienstjahren und Abnahme der Kräfte. ‒ Ich besuchte ihn sofort und traf Radolin bei ihm. Er war natürlich sehr bewegt über diesen plötzlichen Abbruch seiner Dienstlaufbahn, aber völlig mit sich einig, richtig gehandelt zu haben, was ich nur bestätigen konnte. Mit ihm scheidet ein ausgezeichnetes Element aus dem Ministerium und für mich ein treuer Freund. Warum das so brüsk erfolgte, ohne irgendeinen äußeren Anlaß, ist nicht ersichtlich ‒ vielleicht weil zu alt, obschon er seinen Dienst noch vorzüglich leistete. Ob die geffckensche Sache hierbei mitgespielt hat? Se. Majestät ist heute nach Bückeburg zur Jagd gereist und kommt übermorgen wieder. 18. Januar. Friedbergs Abschied steht bereits im Staatsanzeiger. Am 13. hatte er noch keine Ahnung. Heute Investitur von sechzehn Schwarzen Adlerrittern mit neuem, pompösem Zeremoniell. Es waren Dragonertrompeterkorps in der Uniform Friedrich Wilhelms I. mit Lockenperücken im Saal und auf der Galerie postiert, welche schmetternde Fanfaren bliesen, daß einem die Ohren dröhnten. Friedberg, Maybach, Simson etc. traten paarweise ein und alle sechzehn neuen Ritter erhielten von Sr. Majestät die Akkolade: drei Küsse auf die Wangen. Vorher war erzählt worden, er weigere sich, die „Juden“ zu küssen, was sich also nicht bewahrheitete. 31. Januar. Nachricht vom Tod des Kronprinzen Rudolf von Österreich, wobei unklar, ob Mord oder Selbstmord vorliegt. 435

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Gestern Sitzung des Staatsministerii unter Bismarcks Vorsitz, worin die Dotationsfrage und Nachfolge Friedbergs durch Schelling geregelt wurde. In ersterer Frage ist es so gekommen, wie ich befürchtete. Das Ministerium ist mit seinen Schritten der direkten Verständigung zwischen Monarchen und Landtag nachgehinkt. Bismarck äußert: Se. Majestät habe schon am Todestage seines Vaters die Absicht geäußert, sich von Friedberg zu trennen, und sei seitdem mehrfach darauf zurückgekommen, ohne besondere Gründe anzugeben. Die Aufgabe, die Mitteilung zu machen, habe er auf Lucanus abgebürdet. 9. Februar. Ging das Dotationsgesetz in zweiter Lesung gegen fünf bis sechs Stimmen (Richter, Parrisius, Langerhans, Schneider) unverändert durch. Die Publikation der geffckenschen Anklageschrift hat vielfach Anstoß erregt. 14. Februar. Die Nationalzeitung dementiert ein an der Börse verbreitetes Gerücht, Bismarck habe seine Demission eingereicht. 17. Februar. Vortrag bei Sr. Majestät über das schlesische Notstandsgesetz, das er sofort vollzog. Bronsart hat seinen Abschied eingereicht und bekommt vielleicht das 1. Korps. 24. Februar. Nachtrag zum Reichsetat wurde in der heutigen Sitzung des Staatsministeriums durch Maltzahn, den neuen Reichsschatzsekretär, sehr sicher und sachgemäß vertreten. Nachdem er gegangen, äußerte sich Bismarck befriedigt über den mit dieser Wahl getanen Griff. Ein Landedelmann in unabhängiger Lage, welcher in den Staatsdienst trete, verdiene jede Anerkennung. In Österreich käme das nicht mehr vor. Er machte dann eine längere theoretische Ausführung über die Möglichkeit der Trennung der Geschäfte, welche im Fall seines Rücktritts eintreten könne. Der Reichskanzler könne in verschiedene Ministerien aufgelöst und auf den Vorsitz im Bundesrat und den Chef der Reichsämter reduziert werden, ohne daß er selbst und die Mitglieder des preußischen Ministeriums auch Mitglieder des Bundesrats sein müßten. Er machte die Wendung: „wenn mich der Schlag rührt, was jetzt die Zeitungen wohlwollend supponieren“. Die Instruktion könne dann durch den preußischen Minister des Auswärtigen geschehen. Er habe Sr. Majestät geraten, die Minister öfters zu sehen und womöglich alle Woche eine Conseilsitzung zu halten, damit er mit den Geschäften in Berührung komme und auch nach außen den Eindruck der eigenen Regierungstätigkeit mache. Darauf habe sich Se. Majestät bei ihm zu Tisch angesagt und die Anwesenheit von Damen nicht als erwünscht bezeichnet. Übrigens habe er gesagt, das soll künftig geschehen. Es 436

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mache aber Sr. Majestät mehr Vergnügen, nach Potsdam zu Offiziersdiners zu fahren und Regimenter zu alarmieren. 28. Februar. Das Ministerdiner bei Bismarck am 25. verlief ziemlich animiert und Se. Majestät blieb von 6 bis 10 ½ Uhr. Während wir nach Tisch rauchend um einen runden Tisch saßen, kam eine Depesche aus Darmstadt, welche die Vermählung des Fürsten Alexander von Battenberg mit der Schauspielerin Loisinger meldete. Se. Majestät rief: „Das ist eine gute Nachricht, da könnten wir gleich ein Glückwunschtelegramm absenden vom Verein Bismarck. Da wird das Lunch meiner Mutter gut geschmeckt haben!“ Mit Maybach unterhielt er sich über seine Dombaupläne, welche er als noli me tangere bezeichnete. Dem Grafen Bill teilte er mit, daß er ihn zum Major ernannt habe. Dieser (wohl vorher avertiert) verschaffte sich sofort die Epauletten und meldete sich dienstlich. Dann sagte er dem Grafen Herbert, er habe ihn zum Oberstleutnant gemacht. Dann hat er noch Goßler, welcher längst als Premier verabschiedet ist, zum Major und Scholz zum Leutnant ernannt. Scholz hielt das zunächst für Scherz. Gestern Abend Tee bei der Kaiserin Augusta, wo Gräfin Brockdorff, Werner, Goßler, General von Loën. Ihre Majestät wie immer gnädig und freundlich, aber sehr schwach in der Stimme. Sie ließ sich von allem, was vorgeht, erzählen und war erstaunt, daß im Weißen Saal auch Änderungen vorgenommen werden sollen. Werner soll die erste Reichstageröffnung durch Kaiser Wilhelm II. verewigen und 120 Porträts anbringen. 9. März. Die Ernennung des Feldwebels von Scholz steht jetzt wirklich in dem Militärwochenblatt und erregt allgemeines Gaudium. Die Germania sagt: „Es ist hart! Der Chef der preußischen Finanzverwaltung ist 55 Jahr und hat sich bisher mit der bescheidenen Würde eines Vizefeldwebels begnügen müssen. Jetzt hat er den Rang eines Sekondeleutnants erklommen!“ Nach Tisch bei … wurde neulich erzählt: Ein Bekannter habe kürzlich den Grafen Douglas mit Durchlaucht angeredet und habe auf die verwunderte Frage: Warum? geantwortet: „Ich bin sechs Wochen von Berlin abwesend gewesen, und da kann man doch nicht wissen, was inzwischen passiert ist.“ Gestern erhielt ich vom Militärkabinett (von Hahnke) die Mitteilung, Se. Majestät habe mir durch Kabinettsorder vom 25. Februar den Charakter als Oberstleutnant verliehen. 13. März. Kurze Sitzung bei Bismarck, in welcher er mitteilte, daß das Sozialistengesetz sine termino nun eingebracht werden sollte und auch Aussicht auf Annahme habe ‒ wie ein nicht Kreuzzeitungs-Konservativer versichere. 437

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Unser Strafgesetzbuch habe auch noch andere Lücken, so könne ein Deutscher für ein im Ausland begangenes Verbrechen hier nicht verantwortlich gemacht werden. Ebenso wenig könnten Ausländer, welche Deutsche im Auslande ermordet hätten, hier belangt werden, selbst wenn man ihrer hier habhaft werden könnte. So könne der Deutsch-Amerikaner Klein, welcher in Samoa deutsche Seeleute bekämpft und getötet habe, als amerikanischer Gesandter zu einer Konferenz hierhergeschickt werden, ohne daß man ihn hängen könne. 19. März. Gestern Ministerconseil, wie es wieder heißt, unter dem Vorsitz Sr. Majestät. Er begann mit längeren Ausführungen über die Schlechtigkeit der internationalen Presse, welche sich der deutschfreisinnigen völlig gleich stelle in Schmähungen der Regierung und seines Hauses. Die Volkszeitung habe in einem Artikel am 9. März, dem Todestag des alten Herrn, das Andenken seines Großvaters, welcher die ungeteilte Liebe seines Volkes in seltenem Maße gehabt habe, in der rohesten, empörendsten Weise verunglimpft. Ihm selbst habe man schon alle möglichen Schlechtigkeiten nachgesagt, als ob er nach der Krone und nach dem Leben seines Vaters gestrebt habe. Man lasse sich die Fabel von der Regentschaft nicht ausreden. Es sei ein Mangel des Preßgesetzes, daß ein Artikel wie der vom 9. März nicht verfolgt werden könne, weil es an einem Antragsteller fehle (Kind oder Gattin). Bismarck pflichtete dem bei und führte die Hauptschuld auf die Schulen zurück, welche den Tyrannenmord als verdienstliche ideale Handlung feierten. Er habe selbst als Atheist und Republikaner das Gymnasium verlassen. Herrfurth konstatierte, daß das Preßgesetz nicht genüge, diese Delikte zu fassen, wohl aber das Sozialistengesetz, und diesem könne man allerdings die Volkszeitung unterstellen wegen des heutigen zum 18. März geschriebenen Artikels. Die Beschlagnahme sei erfolgt und das sonstige Verfahren werde langsam eingeleitet, um die Sache über den 1. April, den Hauptabonnementstermin, hinwegzuschleppen. In dem Artikel vom 9. März sei eine Majestätsbeleidigung zu finden, da der Träger der Krone darin beschimpft sei. In der Tat ist jener Artikel der Ausdruck einer so giftigen Rohheit und Gemeinheit der Gesinnung, wie er selbst bei einem gebildeten Sozialdemokraten (Mehring) überraschen muß. Die Empörung ist allgemein. 24. März. Diner bei Graf Waldersee, wo die Majestäten. Der Kriegsminister Bronsart war nicht anwesend, weil er kürzlich nach einer erregten Szene den Abschied wiederum eingereicht hatte. Ich führte Frau von Bronsart, welche bestätigte, daß sie bereits mit Packen beschäftigt sei. 26. März. Zum Tee bei den Majestäten, wo Prinz Karl von Schweden und der holländische Gesandte de Weede anwesend. Ich saß neben Ihrer Majes438

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tät, welche erzählte, das Baby der Prinzeß Heinrich wiege 7 ½ Pfund und ihre hätten auch nie unter 6 Pfund gewogen. Sie führte uns in den neu eingerichteten Appartements umher, welche sehr wohnlich und glänzend zugleich sind. Besonders die Bibliothek und ihr Kabinett sind sehr geschmackvoll. An den Wänden die behmerschen Bilder der drei ältesten Prinzen. Se. Majestät unterhielt sich längere Zeit mit mir über Pferdezucht und Rennwesen und sprach von Personaländerungen, welche er eventuell auch gegen die Meinung des Kriegsministers durchsetzen werde. Im Herbst werde er fünf bis sechs lustige Leute mit sich auf das Schiff nehmen und einige Wochen umhersegeln, das sei besser wie Reichenhall, wo es ewig regne. Er hat jedenfalls ein klares Urteil und einen entschiedenen Willen. Er sprach nicht vom Kriegsminister, aber einige animose Äußerungen waren wohl auf ihn zu deuten. 20. März hat Se. Majestät ein scharfes Kabinettsschreiben an den Oberkirchenrat gerichtet, worin er die Disziplinierung Stöckers wegen seines agitatorischen Auftretens und seines Konflikts mit Witte verlangt. In jedem Fall müßte er aufhören, Hofprediger zu sein oder Führer der christlich-sozialen Agitation. Ersteres würde er im Interesse Stöckers und, um den Gegnern nicht den Triumph zu gönnen, bedauern. Es enthielt zugleich einen scharfen Tadel über die Schlaffheit und Langsamkeit des Oberkirchenrats in Behandlung der Sache. Vermutlich ist die Kundgebung von Bismarck oder Hintzpeter inspiriert. 8. April. Sitzung bei Bismarck, in welcher er mitteilte: Bronsart habe seinen Abschied eingereicht, worauf Se. Majestät schon längere Zeit vorbereitet sei und entschlossen, ihn zu gewähren. Die Sache datiere von länger her. Se. Majestät sei der ältere General und dem müsse der jüngere sich fügen. Se. Majestät wolle Verdy zum Nachfolger haben, und da es sich dabei um militärische Dinge handle, bei welchen das Staatsministerium weniger beteiligt sei wie bei anderen Ministerernennungen, so sehe er keinen Anlaß, Schwierigkeiten zu machen. Verdy sei ihm vom Krieg her bekannt, wo er die journalistische Leitung des Großen Hauptquartiers hatte. Er vollzog dann den Abschied Bronsarts und die Ernennung Verdys, welcher als Kandidat Waldersees gilt. Bismarck bemerkte, es wackle in Rumänien, wo die Bojarenpartei lieber unter russischem Schutze stehen als selbständig sein wolle. Inzwischen ist aber ein Thronfolger in einem Neffen des Königs ernannt worden. Dann folgte eine lange Diskussion über den scholzschen Einkommensteuerentwurf, welcher nun doch an den Landtag gelangen soll. Derselbe tritt jetzt 439

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in die Ferien, während der Reichstag noch mit dem Invaliditätsgesetz beschäftigt ist. 9. April. Soeben empfahl sich Bronsart, mit welchem ich stets auf dem freundschaftlichsten, kollegialen Fuß lebte. Se. Majestät hat ihm das Hohen­zollerngroßkreuz überreicht und eine sehr gnädige Kabinettsorder geschrieben, auch gesagt, er habe alles bestätigt gefunden, was sein Großvater ihm über ihn gesagt habe. Dabei sei er unbefangen freundlich gewesen; so sei er froh, mit Ehren aus dieser Stellung heraus zu sein, die ihm Peinliches genug bereitet habe und voraussichtlich immer schwieriger geworden wäre. Bismarck hat ihm gesagt, als er eine Art Apologie machte für etwa veranlaßte Friktionen: „Das sei unter dem gewöhnlichen Durchschnitt gewesen.“ (13. April traf ich Verdy und Bronsart bei der Trauerfeier für Generalarzt Lauer.) 17. April. Der Abgeordnete Berling-Lauenburg hat den Entwurf eines Wildschadengesetzes eingebracht, welcher den Fürsten im höchsten Maß irritiert. Der Antrag war im Plenum, ohne Beteiligung von Kommissaren der Regierung diskutiert und an eine Kommission verwiesen worden. Bismarck war entrüstet, daß man, anstatt den Antragsteller mit allen zu Gebote stehenden Nachttöpfen zu begießen, den Antrag einer Kommission überwiesen habe. Berling sei ein Diener der Gräfin Danner und werde in Lauenburg der erste Mann, wenn er hier einen Erfolg habe. Die Regierung müßte sich bei Initiativanträgen überhaupt bei der Diskussion nicht beteiligen, sondern schweigen oder den Antrag lächerlich machen. Dann müsse auch der durch Hasen veranlaßte Schaden vergütet werden, der Krieg gegen Sauen und Hirsche sei nur gegen den Waldbesitzer gerichtet. Der freie Tierfang sei ein Unsinn, ein Einbruch in jedes Jagdrecht, da könne jeder sich auf sein Feld stellen und unter dem Vorgeben, Sauen und Kaninchen nachzustellen, Wilddieberei ausüben. Er war sehr erregt und hatte den Entwurf genau gelesen. Die Regierung hat es übrigens völlig in der Hand, die Sache gleich scheitern zu lassen oder bei der günstigen Zusammensetzung des Hauses etwas Vernünftiges daraus zu machen. Die Einführung der Eskarpins als Hoftracht müßte man durch die Presse bekämpfen, das mache mehr Eindruck als die Gegenvorstellungen im Dienstweg. Die Kundgebungen gewisser hoher Kreise zu Gunsten der Volkszeitung führte er auf erbliche Anlage zur Verrücktheit zurück. Prinz Wilhelm erzählte: Die Volkszeitung habe stets auf dem Tisch seiner Eltern gelegen. 20. April. Im Staatsministerium wurde auf Bismarcks Vorschlag beschlossen, den Landtag am 30. zu schließen und somit von Einbringung des 440

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Einkommensteuer- und des Sperrgesetzes abzusehen. Der Fürst befürchtet, an beide Gesetze würden sich Diskussionen anschließen, welche die Reichstagswahlen schädlich beeinflussen könnten. Daneben sprach er aufs Neue, aber in mehr ruhiger Weise sein Mißvergnügen über den Antrag Berling betreffend Wildschaden aus, und daß derselbe unter passiver Assistenz der Regierung an eine Kommission verwiesen sei. Ohne Genehmigung Sr. Majestät sei weder das Staatsministerium noch der einzelne Minister seines Erachtens berechtigt, sich bei Diskussionen über Initiativanträge aus dem Haus zu beteiligen u. s. w. Der Antrag sei gegen ihn persönlich gerichtet, er werde übrigens sein Rot- und Schwarzwild ganz abschießen lassen. Bei Erwähnung einer neuen, scharfen gegen Stöcker gerichteten Kabinettsorder bemerkte er in einem sinnenden Ton, als ob er es sich selbst überlege, nicht als ob er uns irreführen wolle: „Ich vermute, Hintzpeter oder Güßfeldt steckt dahinter, soweit er es nicht selber tut“ Ein Hofschranze hat gesagt: Der Rücktritt Stöckers aus der Berliner Bewegung bedeute einen Sieg des Judentums über das Königtum. 25. April. Die heutige Nationalzeitung bringt die Nachricht über den am 30. erfolgenden Schluß des Landtags zur allgemeinen Überraschung. Man sucht nach Gründen und sieht in der Absicht, das Einkommensteuergesetz nicht mehr zu bringen, den nächstliegenden. Die Germania vermutet noch andere, ohne sie näher zu bezeichnen. Kuriosität der Ressortverhältnisse. Durch ein gemeinsames Schreiben des Handels- (Bismarck) und des landwirtschaftlichen Ministers an den preußischen Minister des Auswärtigen (Bismarck), worin dieser ersucht wird, dem Reichskanzler (Bismarck) von diesem Schreiben Mitteilung zu machen, zeichnet Bismarck mit der Randbemerkung: Der Reichskanzler hat dazu kein anderes Organ als den preußischen Gesandten in Baden und müßte, um diesen in Bewegung zu setzen, wiederum den preußischen Minister des Auswärtigen (Bismarck) requirieren. Der Kanzler schreibt also viermal an sich selbst. 29. April. In der heutigen Sitzung des Staatsministeriums zerpflückte Bismarck unter voller Zustimmung aller Anwesenden den Plan der Einführung der neuen Hoftracht ‒ kurze Hosen und Strümpfe ‒ und schlug vor, einen entsprechenden Immediatbericht zu erstatten. Er bezeichnet den Plan als einen höchst unzeitgemäßen, unpopulären, als eine politisch nachteilige Maßregel, welche durch diese auffällige Tracht eine Grenzscheide ziehe zwischen der Hofgesellschaft und allen übrigen Menschen. Es sei eine nur noch für Domestiken bei uns übliche Tracht, ungesund für den Träger, kostspielig etc. Er hoffe, Se. Majestät werde es sich noch ausreden lassen. 441

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Dann teilte er als Zweck der morgigen Conseilsitzung mit eine Kundgebung bezüglich Nutzbarmachung der Schule gegen die Sozialdemokraten (wahrscheinlich hintzpetersche Provenienzen) sowie gegen Initiativanträge aus den Häusern des Landtags. Se. Majestät sei darüber bedenklich geworden ‒ das hat Bismarck offenbar suppeditiert. 12. Mai. Sonntag. Während wir heute zur Sitzung bei Bismarck versammelt waren und er eben seine Ansicht dahin entwickelt hatte, daß es nicht im staatlichen Interesse liege, den westfälischen Kohlenstreik schnell zu beenden, sondern beide Teile die Nachteile der Sache fühlen zu lassen, also weder zu Gunsten der Arbeitgeber noch der -nehmer Stellung zu nehmen, sondern sich darauf zu beschränken, Gewalttaten zu verhüten und Eigentumsbeschädigungen streng niederzuschlagen ‒ erschien Se. Majestät plötzlich in der Sitzung. Bismarck rekapitulierte kurz seine Meinung, indem er nur auf die nebensächliche Frage weitläufiger einging, ob das Reich oder Preußen die Kosten zu tragen habe. Se. Majestät erklärte hierauf in lebhaften Ausdrücken, daß die Schuld hier lediglich aufseiten der Arbeitgeber liege, welche zum Teil ausländische Aktiengesellschaften seien, die mit der größten Rücksichtslosigkeit die deutschen Arbeiter ausnutzten und sich an den für Staat und Provinz entstehenden Ungelegenheiten weideten. Wir würden machtlos und kriegsunfähig dem Auslande gegenüber dastehen, wenn die Sache noch einige Zeit dauere. Wenn er russischer Kaiser wäre, würde er in diesem Moment der Hilflosigkeit über uns herfallen. Das dürfe nicht länger dauern. Die Verwaltungsbehörden hätten schon jetzt kostbare Zeit verloren, wo sie seit Wochen hätten eingreifen müssen, um den Streik zu verhindern. Er habe befohlen, der Sache ein Ende zu machen und die Arbeitgeber zu veranlassen, Lohnkonzessionen zu machen. Er werde seine Truppen nicht dazu hergeben, die Villen und Rosengärten der Fabrikanten zu schützen, welche womöglich Doppelposten vor ihren Betten verlangten. Bismarck hatte keine leichte Aufgabe, diesen stürmischen Erguß, welcher sich ganz in entgegengesetzter Richtung bewegte wie seine eben gemachten Ausführungen, zu beschwichtigen und in die richtigen Bahnen zu lenken. Es gelang ihm aber doch schließlich, zu demonstrieren, daß man ebenso wenig auf die Fabrikanten wie auf die Arbeiter einen Druck üben könne, höhere Löhne zu bewilligen oder für niedrigere zu arbeiten. Inzwischen hatte Se. Majestät jenen Befehl an den Oberpräsidenten bereits telegraphisch erlassen, auf welchen eine Antwort noch während der Sitzung an den Minister des Innern einging. Hagemeister hatte offenbar den 442

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Befehl cum grano salis verstanden und ihn als bereits ausgeführt betrachtet durch die am Tag vorher stattgehabte Versammlung der Besitzer, in welcher er gütliche Verhandlung und Nachgiebigkeit empfohlen hatte. Se. Majestät verließ dann die Sitzung, nachdem Bismarck eine Art beiderseitigen (allerdings nicht vorhandenen) Einverständnisses über die weitere Behandlung der Sache konstatiert hatte. Bismarck stellte dann noch einige Betrachtungen an, daß der junge Herr die Auffassung von Friedrich Wilhelm I. über seine Machtbefugnisse habe und es sehr nötig sei, ihn vor Übereilungen in dieser Beziehung zu schützen. Später meldeten Zeitungsdepeschen, es seien bei einem Zusammenstoß sechzig Tote auf beiden Seiten gewesen! (Es erwies sich das später als falsch.) 19. Mai. Sonntag. Gestern hielt Bismarck im Reichstag bei Gelegenheit der dritten Lesung des Invalidengesetzes eine große, scharfe Rede, worin er alle Gegner unter die Polen, Welsen, Franzosen, Sozialdemokraten verwies. Die Freunde bezeichnete er alle als konservativ. Er sprach sehr leise, aber erregt und so aggressiv wie in seinen besten Tagen. Diese Art der Vertretung übt natürlich einen großen moralischen Zwang auf die der Regierung näherstehenden Parteien. Leute wie der Abgeordnete von Zedlitz, welche wenigstens das Verbot der kontemplativen Orden retten wollten, wurden als indiszipliniert scharf rektifiziert und an ihre Beamtenqualität erinnert. Wenn sich später das Invalidengesetz in der Ausführung als undurchführbar erweist und das Gewollte nicht leistet, so wird es revidiert. Das Beste, was Bötticher, welcher das Gesetz ausgezeichnet vertrat, sagte, war der Hinweis, daß alle Bestimmungen desselben mit Ausnahme der Höhe der Renten revidiert werden könnten ohne Schwierigkeit. 21. Mai. Der Immediatbericht in der Eskarpinfrage ist gestern von uns allen unterschrieben in das Kabinett gegangen. Heute hielt der König von Italien bei herrlichem Wetter feierlichen Einzug, ernst und müde aussehend, neben ihm unser Kaiser etwas starr und unbeweglich. 22. Mai. Galadiner im üblichen Stil, die Tische reichlicher mit frischen Blumen geschmückt, als früher üblich. Die Tafelmusik spielte vorzugsweise recht dünn klingende italienische Märsche. Der König ist untersetzt, breitschultrig, sehr dunkle Gesichtsfarbe, großen, graumelierten Schnurrbart, rollende Augen, lebhaftes Mienenspiel und Gestikulation, tiefe rollende Stimme. Sprach mit mir über Pferde und Gestüte. Der Kronprinz, ein kleines, zart aussehendes Figürchen mit etwas großem, birnförmigem Kopf, tritt freundlich und bescheiden auf, spricht fließend Deutsch. 443

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Crispi macht den Eindruck eines gescheiten, selbstbewußten Mannes. Kahl, großen grauen Schnurrbart. 24. Mai. Das Invaliditätsgesetz ist mit 185 gegen 165 Stimmen angenommen worden; da der Reichstag 392 Abgeordnete zählt, so hat noch nicht die Hälfte für das Gesetz gestimmt. Der Reichstag wurde hierauf geschlossen. 26. Mai. Sitzung beim Fürsten. Der Streik ist noch nicht zu Ende, sondern überall noch im Aufflackern. Wir beschlossen auf Bismarcks Vorschlag eine abwartende Stellung dazu einzunehmen, jedenfalls nicht vorschnell vorzugehen mit Proklamation des Belagerungszustandes. Beide Teile sollten die schweren Nachteile und Schädigung fühlen, welche aus einer Verlängerung des Streiks folge, die Moxa soll bis auf die Knochen brennen. Am gewalttätigsten ist der Ausbruch im Waldenburger Revier gewesen, wo auch das schlechteste anarchistische Gesindel sein soll. Bismarck betonte, daß die liberale Bourgeoisie von der Meinung kuriert werden solle, sie ginge die Sache nichts an und es sei Aufgabe der Regierung, Ordnung zu schaffen. Die Schäden sollen belehrend wirken. Bismarck erzählte von seinen Unterhaltungen mit Crispi, welcher über die Absicht seines Königs, auf der Rückreise Straßburg zu besuchen, ganz außer sich gewesen sei. Er würde ihm einen Sturm des Unwillens im italienischen Parlament zuziehen. Der König habe gar nicht den Wunsch gehabt, aber geglaubt, die Einladung des Kaisers nicht refüsieren zu können. Die ganze Sache scheint der General von Heuduck eingerührt zu haben, welcher selbst halbtaub, Mißverständnissen ausgesetzt ist. Die Komödie der Irrungen ist aber durch Crispi und Bismarcks Intervention wieder ins Gleiche gebracht worden. Der König von Italien wird Straßburg nicht berühren. 27. Mai. Kronrat, in welchem Se. Majestät über neue Streikbewegungen Mitteilungen machte und sich im Sinn der neulichen Ministerialberatung dahin aussprach, keine vorzeitige Erklärung des Belagerungszustands vorzunehmen, vielmehr eine abwartende Stellung zu beobachten. Es wurde ein Bericht des Generals von Albedyll vorgelesen, welcher das Verhalten der Zivilbehörden scharf angriff, als der Situation nicht angemessen. Er äußerte sich gegen Erklärung des Belagerungszustands. Gleichzeitig lag die nicht chiffrierte Depesche des Oberpräsidenten vor, in welcher er in Übereinstimmung mit Präsident von Rosen und dem Staatsanwalt die Verhängung des Belagerungszustands vorschlug, obschon es zur Zeit an allen Voraussetzungen dafür fehlte. Se. Majestät sprach sich lebhaft in Albedylls Sinn aus und betonte wiederholt, Hagemeister müsse fort, er sei der Situation nicht gewachsen, wie auch der eben eingelaufene nicht chiffrierte Bericht beweise. Rosen müsse auch fort. 444

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Herrfurth meinte, schon die Ablehnung seines Antrags werde Hagemeister zur Demission veranlassen, gab aber dem Drängen Sr. Majestät nach, welcher sofort Studt in Straßburg oder Präsident von Berlepsch in Düsseldorf zum Nachfolger vorschlug. Letzterer wurde als unabkömmlich und als Kandidat für Koblenz bezeichnet; so wurde Studt akzeptiert und es soll noch heute alles in die Wege geleitet werden. 28. Mai. Hagemeister hat sofort seine Demission gegeben und wird sie unter Verleihung des wirklichen Geheimrats umgehend erhalten. Studt ist sein Nachfolger. 24. Juni. Hochzeit des Prinzen Friedrich Leopold. Am selben Abend Abreise nach England zur Windsor-Show. 29. Juni. Gast der Queen in Windsor. 14. August. Besuch des Kaisers von Österreich in Berlin. Galatafel mit sehr warmen, energischen Toasten der beiden hohen Herren. Se. Majestät, unser Kaiser, welcher inzwischen auch in England gewesen war, machte mir ein Kompliment über den in Windsor gehaltenen englischen Speech. Die Aufnahme sei dort sehr sympathisch gewesen. 17. August. Sitzung bei Bismarck, worin er uns sehr eingehend die augenblickliche allgemeine politische Lage auseinandersetzte: Der Kaiser von Österreich sei zufrieden gewesen mit seiner Aufnahme hier und mit dem neuerlichen Auftreten des deutschen Botschafters in Konstantinopel. Früher sei derselbe nicht antirussisch genug aufgetreten. Bismarck habe ihm gesagt: Das ganze Ziel und Objekt der deutschen Politik seit zehn Jahren sei, England für den Dreibund zu gewinnen. Das sei nur möglich, wenn Deutschland immer wieder seine Indifferenz gegen die orientalische Frage betone. Geschähe das nicht, brouilliere sich Deutschland deswegen mit Rußland, so werde England behaglich stillsitzen und sich nur die Kastanien aus dem Feuer holen lassen. Die Zeit für Österreich, mit England vereint loszuschlagen, sei damals 1878 gewesen, vor dem Berliner Kongreß. Damals sei Rußland geschwächt und England bereit gewesen. Österreich sei aber an Rußland gebunden gewesen durch die Reichstadter Abmachung, welche vor Deutschland geheim gehalten worden sei. Der jetzige Besuch unseres Kaisers in England sei vortrefflich verlaufen; daß er die Flotte mitgenommen hätte, sei seine Spezialität und Zutat. Es habe aber ganz gut getan, daß sich die Offiziere und Leute berochen hätten. Dazwischen komme aber der deutsche Kolonialschwindel, welcher die Kreise tölpelhaft störe. Er werde sich ganz davon losmachen, ein Kolonialamt einsetzen, von der Marine geleitet wie in Frankreich oder kaufmännisch von den Hanseaten. Er könne nicht die Verantwortung übernehmen für Dinge, welche er nicht 445

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übersehen könne. Er werde Ostafrika und Samoa ganz fallen lassen. Der Konsul Knappe müsse disziplinarisch belangt werden oder gerichtlich auf Grund des Arnimgesetzes. Er möge ein ganz braver Mensch sein, sei aber von furor consularis erfaßt worden und habe einige Dutzend Matrosen ganz ohne Not abschlachten lassen. Das ginge nicht. Wenn die Nationalliberalen sich verletzt finden und in der Kölner und anderen sonst wohlgesinnten Zeitungen ihn angriffen, so sei ihm das gleichgültig, er werde aber sie auch nicht schonen. Das Verhältnis zu England sei ihm wichtiger wie Herr von Cuny. Wenn England auf unserer Seite sei, so werde nicht nur Italien degagiert, sondern eine Menge von Truppen für die Küstenbewachung in Frankreich und Rußland festgelegt. England habe früher immer die Allianz Österreichs gesucht gegen Deutschland und Frankreich. Bedrohlich für England könne immer nur eine französische Landung in England werden. Ob der Kaiser von Rußland komme oder nicht, sei ganz gleichgültig. Die deutschen Zeitungen zeigten wiederum ihren Mangel an Urteil und Vornehmheit, indem sie so viel Wesens von der Sache machten. Der dicke, bequeme Herr reise ungern, steige nicht gern zu Pferd und Truppenbesichtigungen seien ihm gräulich. Wenn er mit einem Ballon direkt auf ein einsames Jagdschloß kommen und da acht Tage mit dem Kaiser zusammen sein könne, so werde das ihm wohl konvenieren. Schließlich werde er aber ja wohl kommen. Die münstersche Bischofswahl (Dingelstedt) könne man sich gefallen lassen. Der Mann habe auf deutschen Hochschulen studiert, sei in Oldenburg lange Lehrer gewesen, also mit der Welt doch in Berührung gewesen, und folglich keiner der Schlimmsten. Der Papst wundere sich, daß man auf das Kapitel zurückgekommen sei und habe wohl erwartet, hier eine Konzession irgendwie zu verwerten. Er zeige jetzt eine große Franzosenfreundlichkeit und drohe mit einer Reise dahin. Ohne Peterskirche und Kardinäle in einer französischen Provinzialstadt sei er aber der Papst nicht mehr und denke sicher nicht ernstlich an eine Verlegung seines Wohnsitzes. Er ängstige damit nur Crispi, uns könne es schon recht sein. Die Königin von England habe ihm ihr Porträt geschenkt. Das ist wohl der letzte großstaatliche Souverän, welcher ihm diese Gunst erweist. Nach Münster sei er auch eingeladen und habe bedingt zugesagt, das heißt, wenn seine Gesundheit es erlaube, den Kaiser zu begleiten. Das werde wohl aber nicht der Fall sein. Umso mehr, als der Kaiser selbst nicht dazu aufgefordert habe, während er ihn nach Hannover, zu seiner Verwunderung, zitiert habe. Diese Nüance ist sehr beachtenswert, wie er trotz seiner Abneigung zu dergleichen Reisen die allerhöchsten Wünsche beachtet. Unter dem alten Herrn hätte er das als ungebührliche Zumutung abgelehnt. 446

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Endlich kam er noch auf das Schweineeinfuhrverbot, scharf betonend, daß wir Rußland keine Gefälligkeiten zu erweisen hätten. Die Hauptsache sei, daß England wieder seine Grenzen dem holsteinschen Vieh öffne, sonst werde es große agrarische Verstimmung geben. Ob die Montanindustriebevölkerung billigeres Schweinefleisch habe, sei ihm gleichgültig; künftig sollten nur noch österreichische Schweine via Oderberg zugelassen werden. Last not least erwähnte Bismarck die Artikel der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung über Clausewitz, welche viel Staub aufgewirbelt hätten. Er müsse zu seiner Schande gestehen, von Clausewitz nichts gelesen und wenig mehr gewußt zu haben, als daß er ein verdienter General sei. Auch die Artikel habe er als langweilig weggelegt und erst nachträglich beachtet, als über sie so viel geredet worden sei. Er habe dann ermittelt, daß sie ein selbständiges Opus des Herrn Pindter gewesen seien, welcher das Ergebnis seiner Studien der Welt nicht habe vorenthalten wollen. Die seien also ohne irgendwelche Einwirkung zustande gekommen, und so habe er sich auch mit Waldersee auseinandergesetzt, welcher sich auf seine militärischen Dinge beschränke und in die allgemeine Politik nicht hineinpfusche. Daß er glaubte, uns diese Erläuterungen geben zu müssen, war auffallend, umso mehr in Verbindung mit den vorherigen Andeutungen, er werde sich von der Kolonialpolitik entlasten oder ganz nach Hause gehen. 6. Oktober. Das Tagesereignis ist eine kaiserliche Kundgebung im Staatsanzeiger, worin das Hetzen der Kreuzzeitung scharf verurteilt und das Kartell als der Politik Sr. Majestät entsprechend gekennzeichnet wird. Eine noch nicht da gewesene direkte Aktion, welche nur von Bismarck ausgegangen und von Sr. Majestät gebilligt sein kann. Die Kreuzzeitung vertritt die Christlichsozialen Stöcker u. Co. und gewisse Hofkreise mit einer großen gegen Bismarck gerichteten Schärfe und bringt jetzt, nachdem sie sich am Tage vorher laudabiliter subjecit, einen spitzen denunziatorischen Artikel, worin sie auf die 1887 stattgehabte Walderseeversammlung zurückkommt und konstatiert, die Norddeutsche Allgemeine Zeitung habe damals einen berichtigenden Artikel des Vizepräsidenten des Staatsministerii von Puttkamer nicht ausgenommen. Damit ist eine Preßkampagne eröffnet worden wie damals mit den Äraartikeln und dem Deklarantenwesen. Der Verlauf kann aber viel bedenklicher werden, weil Bismarck dem jungen Monarchen gegenüber nicht entfernt mehr die sichere, einflußreiche Stellung hat wie unter dem alten Herrn. Puttkamer ist die Sache sicher nicht angenehm. 8. September. Der Zar wird am 11. via Kiel erwartet und soll am 13. weiterreisen. 447

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Bismarck votiert in einem an das Staatsministerium gerichteten Schreiben vom 30. August gegen Errichtung eines Monuments für Kaiser Friedrich; jedenfalls müsse das für Kaiser Wilhelm die Priorität haben. Als kronprinzlicher Feldherr habe er Anspruch darauf, nicht als Kaiser. „Die Tatsache allein, daß Kaiser Friedrich während seiner kurzen Regierungszeit schwere Leiden mutig ertragen hat, läßt sich in einem monarchischen Denkmal nicht zum Ausdruck bringen. Ein Denkmal behufs Festlegung des Andenkens an Kaiser Friedrich hat meines Erachtens logischerweise nur in Verbindung mit einem solchen für Kaiser Wilhelm I. seine historische Berechtigung. Sollte dasselbe die Kaiserzeit Friedrichs III. ausschließlich zum Ausgangspunkt nehmen, würde es den geschichtlichen Tatsachen nicht entsprechen. Ich bin zunächst der Ansicht, daß den Denkmälern für Kaiser Wilhelm die Priorität vor jedem Versuch einzuräumen ist, die neunundneunzig Tage der Regierung Kaiser Friedrichs zu verewigen. Der Erbe Kaiser Wilhelms als Kronprinz ist eine große Figur in der deutschen Kriegsgeschichte ‒ als Kaiser Friedrich aber ist er nach Gottes Ratschluß nicht in der Lage gewesen, sich in eigenem Willen und eigenen Leistungen, welche sich zur monumentalen Darstellung eigneten, zu betätigen.“ 16. Oktober. Der Besuch des Zaren ist glücklich vonstattengegangen. Das Galadiner war steif, die Toaste kühl, unser Kaiser sprach Deutsch und endete Russisch, während der Zar Französisch und fast unvernehmlich leise sprach. Nach Tisch zog Bismarck unseren Kaiser in eine auffallend lange Unterhaltung, so daß keiner von uns dem Zaren präsentiert wurde. Ebenso ging es in der Galaoper. Später hat Bismarck noch eine anderthalbstündige Unterhaltung mit dem Zaren gehabt, deren Inhalt er dem Staatsministerium mitteilte. Danach hätte der Zar im Laufe der Unterredung achtmal den Namen Waldersee genannt und diesen als ein kriegerisches, ihm feindliches Element bezeichnet. Bismarck hat ihn zu beruhigen gesucht, daß wir in Frieden mit Rußland leben wollten und es uns völlig gleich sei, wer in Sofia und Konstantinopel herrsche. Allerdings seien wir mit Österreich und Italien zu friedlichen Zwecken verbündet und könnten nicht ruhig einer Vergewaltigung Österreichs oder auch Englands zusehen. Der Zar hat sich auch darüber zu belehren versucht, wer nach ihm kommen werde etc.!!! Danach richtet sich die Spitze dieser Mitteilung wohl gegen den Grafen Waldersee und auf Befestigung der Stellung des Grafen Herbert. Am 14. Oktober fand Galadiner und danach Cour statt für die scheidende Prinzeß Sophie, welche den Kronprinzen von Griechenland heiratet. Sie 448

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sah recht nett in ihrer Befangenheit aus, neben ihr die Kaiserin Friedrich in Trauer, lange Cercle machend und mit jedem sprechend; mit mir über Windsor. Die Kapitäne der in Kiel liegenden englischen Kriegsschiffe waren en gala anwesend. Bismarck hat vor der Abreise der Herrschaften auch der Kaiserin Friedrich noch einen Besuch gemacht, um sich zu entschuldigen, daß er nicht zur Soiree erschien. Die Kaiserin, bei welcher gerade ihr Sohn war, hat ihn eine halbe Stunde warten lassen und dann unten im Adjutantenzimmer empfangen. Bismarck hat sich inzwischen mit der Palastdame Gräfin Brühl unterhalten und sein Herz sehr offen ausgeschüttet über seinen Verkehr mit dem Zaren. Er habe ihn zuletzt völlig beruhigt und der Zar habe ihm schließlich versichert, er glaube ihm. Vom Kaiser meinte der Zar, er habe eine Einsicht weit über seine dreißig Jahre hinaus, aber in Reisepassionen sei er ein Zwanziger. Der Zar habe ihm sein ganzes Sündenregister vorgehalten, Allianz mit Österreich und Italien, Anbandeln mit England, jetzt gar die Reise nach Konstantinopel ‒ um gegen ihn zu intrigieren. Die Gräfin Brühl hat darin weniger einen Ausdruck persönlichen Vertrauens gesehen als die Absicht, diese Dinge ins Publikum und besonders zum Ohr der Kaiserin Friedrich zu bringen. Friedberg hat auch eine längere Audienz bei der Kaiserin Friedrich gehabt und sie immer noch verstimmt und verletzt gefunden über die Zeitungsangriffe gegen sich und ihren hochseligen Gemahl. Rottenburg, im Begriff nach Friedrichsruh zu gehen, erzählte: Bismarck sei doch nicht mehr der Alte und verliere an Frische und Energie. Er beschränke sich in seinem Einfluß auf das Nötigste und mache ihn seltener geltend. In Schönhausen ist die Klauenseuche ausgebrochen, was Se. Durchlaucht irritieren wird. 22., 23. November. Hofjagd in Letzlingen, wobei viel von der Tour nach Konstantinopel die Rede war. Die Hofjagduniform, eine neue Erfindung, wurde an Waldersee verliehen. Se. Majestät sprach viel über Streik und Arbeiterschutzgesetz. Da müsse noch ungeheuer viel geschehen, er müsse verhindern können, daß das Kapital die Arbeiter aussauge. Die Industriellen seien nicht alle wie Krupp und Stumm, welche gut für ihre Arbeiter sorgten. Die meisten beuteten sie rücksichtslos aus und ruinierten sie. Er betrachte es als seine Pflicht, sich hier einzumischen und dafür zu sorgen, daß keine Streiks und Bedrückung der Leute erfolge. Die Aktiengesellschaften sorgten gar nicht für ihre Leute, ja manche beständen aus Ausländern. 449

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Fürst Pleß und ich suchten die Gegenseite zu betonen, er hörte die Einwendungen wohl an, blieb aber bei seiner Meinung, welche sich vermutlich auf hintzpetersche Schilderungen begründet. Übrigens machte es ihm alle Ehre, daß er für diese schwierigen Fragen Interesse dokumentiert. Der Erzherzog Franz Ferdinand saß bei diesem langen Gespräch, welches auf der Rückfahrt von Letzlingen stattfand, als Vierter an unserem Tisch, vielleicht zum ersten Male eine ähnliche Unterhaltung hörend. Jedenfalls beteiligte er sich nicht dabei.

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1890 1. Januar. Die Gratulation fand wie im Vorjahr in Form einer Defiliercour statt nach dem Gottesdienst in der Kapelle. Die Generale und Fürstlichkeiten wurden noch besonders empfangen, die Minister nicht. Bismarck ist noch in Friedrichsruh. Bötticher berichtet: Die Anlegung der Eskarpins soll von 1892 ab erfolgen ‒ also ist die Gegenvorstellung des Ministerii ohne Wirkung gewesen. 24. Januar. Von der Beerdigung meiner Schwiegermutter aus Wiesbaden zurückgekehrt, wohnte ich 3 Uhr mittags der vertraulichen Besprechung des Staatsministeriums bei, welche bei Bismarck stattfand. Bismarck war erst zwei Stunden vorher von Friedrichsruh hier eingetroffen: Er wisse nicht, was heute im Conseil verhandelt werden solle. Es sei ohne vorherige Vorbereitung ihm von einem Flügeladjutanten mitgeteilt, daß ein Conseil gehalten werden solle. Was der Gegenstand der Verhandlungen sein werde, wisse er nicht, vermute aber, es handle sich um Arbeiterschutzfragen. Seines Erachtens dürfe das Staatsministerium nicht unvorbereitet in eine solche Diskussion eintreten, dürfe weder eine zustimmende noch eine ablehnende Haltung annehmen, sondern sich Zeit ausbitten zur Beratung entsprechender Vorschläge. Damit waren wir alle völlig einverstanden. Sollte das Sozialistengesetz zur Sprache kommen, so dürfe man sich nicht für Annahme desselben ohne den Ausweisungsparagraphen (§ 24) erklären. Man dürfe auch nicht durch Erklärungen im Reichstag das Zustandekommen ohne diesen Paragraphen erleichtern! Man habe schon bisher vielfach zu großes Entgegenkommen bei anderen Gelegenheiten geübt, um Gesetze zustande zu bringen. Komme nichts zustande, so werde der Wähler schon aufmerksam werden; der wolle geschützt sein, aber die Parteiführer seien dagegen. Bötticher bemerkte: Wenn die Regierung beim Schweigen beharre und keine Direktive gäbe, so werde eben nichts zustande kommen und die Session ohne Ergebnis schließen, das heißt, der Bundesrat würde gar nicht mehr in die Lage kommen, über die Annahme oder Ablehnung des Gesetzes zu votieren. Die Konservativen würden, wenn die Regierung ihre 451

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Bereitwilligkeit nicht durchblicken lasse, das Gesetz auch ohne den Ausweisungsparagraphen anzunehmen, gegen das Ganze stimmen. Der Fürst beharrte auf seiner Meinung, obschon wir alle Böttichers Ansicht als richtig bestätigten. (Anwesend: Lucius, Goßler, Scholz, Herrfurth, Schelling, Verdy, Bismarck Vater und Sohn, Homeyer. Maybach fehlte unwohl.) Er erging sich dann in animosen Äußerungen darüber, daß Minister (Maltzahn nannte er und Bötticher war gemeint) ohne Autorisation entgegenkommende Erklärungen abgäben, welche die Regierung vinkulierten. So sei es kürzlich in der Gehaltsaufbesserungsfrage geschehen. Bötticher verteidigte sich freundlich, aber entschieden und die Sitzung schloß 4 ½ Uhr in sehr gespannter Stimmung. Um 6 Uhr abends versammelten wir uns bei Sr. Majestät, welchen wir schon mit Bismarck konferierend antrafen. Se. Majestät gab ein längeres Exposé über die ungesunde Entwicklung der deutschen Industrie gegenüber der englischen. Die Deutschen hätten sich ‒ mit wenig lobenswerten Ausnahmen ‒ nicht um ihre Arbeiter gekümmert, sie ausgepreßt wie Zitronen und auf dem Mist verfaulen lassen. Er habe sich viel mit diesen Fragen beschäftigt und sein Urteil im Verkehr mit Hintzpeter, dem Maler von Heyden (früher Bergmann), Graf Douglas und neuerlich Präsident von Berlepsch gebildet. Es fehle alle Fühlung zwischen Arbeitgeber und -nehmer, wie es die letzten Streiks bewiesen. Die Frucht dieser Unterlassungen sei das Entstehen und Wachsen der Sozialdemokratie, welche wohl zu unterscheiden sei von den Anarchisten. Wie eine Kompanie verlottere, wo sich der Hauptmann nicht selbst um den Dienst kümmere, sondern alles den Unteroffizieren und dem Feldwebel überlasse, so sei es auch in der Industrie. Er habe seinem Adjutanten ein Promemoria diktiert, um die Grundzüge seines Gedankengangs klarer zu präzisieren, als er es in mündlich freier Rede könne. Die Revolutionen seien überall dadurch entwickelt worden, daß man nicht rechtzeitig die nötigen billigen und vernünftigen Konzessionen gemacht habe. So sei es bei uns auch zu befürchten. Er wolle der roi des gueux sein, die Leute müßten wissen, daß sich ihr König um ihr Wohl kümmere. Er müsse in diesen Fragen das Prävenire spielen und täte das am liebsten bald in Form eines feierlichen Manifestes ‒ noch vor den Wahlen. Man erwarte so etwas von ihm! Wir saßen mit steigendem Erstaunen dabei, wer ihm diese Ideen eingeblasen habe. Bötticher verlas nun jene Grundzüge, welche in Verbot der Sonntagsarbeit und in sehr weitgehender Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit gipfelten. 452

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Bismarck verhielt sich zunächst auf der verabredeten Linie, verbindliche Äußerungen vorzubehalten bis nach weiterer Überlegung und Prüfung dieser weittragenden Fragen. Den sofortigen Erlaß eines Manifestes widerriet er mit dem Hinweis, daß in den früheren Proklamationen und Thronreden Se. Majestät zu den Arbeiterschutzfragen und zur sozialen Gesetzgebung schon Stellung genommen habe. Ein solches Manifest sei die Ankündigung von Gesetzen, welches ebenso sorgfältig vorzubereiten sei wie die Gesetze selbst. Se. Majestät wehrte sich gegen jeden Aufschub, erinnerte, daß heute der Geburtstag Friedrich des Großen sei, welcher auch auf friedlichem Gebiet so viel für die Entwicklung des Landes getan habe. Es ging nicht ohne einige Erregung, aber doch noch eben friedlich ab, mit dem Beschluß, es sollten Vorbereitungen für entsprechende Vorlagen gemacht werden. Sehr peinlich gestaltete sich aber die nun folgende Diskussion. Bötticher fragte, ob Se. Majestät selbst die Session schließen wolle, was er nach einigen abmahnenden Bemerkungen von Bismarck Vater und Sohn, indem er mit dem Finger auf den Tisch schlug, bejahend entschied: „Ja, ich will diesen Reichstag, der sich doch sehr gut benommen hat, selbst schließen.“ Er blieb auch dabei, als Schwierigkeiten betreffs Zeit und Ort gemacht wurden. Der Schluß solle morgen Abend im Weißen Saal und zu möglichst früher Stunde geschehen, so daß die Herren noch am selben Abend abreisen könnten zur Geburtstagsfeier in der Heimat. Er wünschte, daß das Sozialistengesetz zustande komme und daß man den Ausweisungsparagraph 24 fallen lasse, weil der weniger wichtig sei wie der Fortbestand des Kartells, welches gefährdet werde, wenn die Session mit einem Dissensus in dieser Frage schließe. Bismarck widersprach immer erregter, zuletzt sagend: Er könne nicht beweisen, daß diese Nachgiebigkeit Sr. Majestät verhängnisvolle Folgen haben werde, glaube es aber nach seiner langjährigen Erfahrung. Wenn Se. Majestät in einer so wichtigen Frage anderer Meinung sei, so sei er wohl nicht mehr recht an seinem Platz. Bleibe das Gesetz unerledigt, so müsse man sich ohne dasselbe behelfen und die Wogen höher gehen lassen. Dann möge es zu einem Zusammenstoß kommen. Se. Majestät wies diese Auffassung ebenfalls erregt zurück: Er wolle ohne den äußersten Notfall solchen Katastrophen, soweit möglich, durch Präventivmaßregeln vorbeugen, nicht seine ersten Regierungsjahre mit dem Blut seiner Untertanen färben. Er bitte die anderen Herren um ihre Meinung. Offenbar wollte er sich selbst sammeln und für seine Meinung Unterstützung finden. 453

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Die zunächst zur Äußerung provozierten Ressortminister Herrfurth, Schelling und Bötticher gaben gewundene Erklärungen ab, indem sie die Ausweisungsbefugnis als eine zwar selten gebrauchte, aber schneidige Waffe bezeichneten, auf die man nicht verzichten dürfe. Eine Abstimmung und Fragestellung fand nicht statt, hätte sie stattgefunden, so würde sich im ersten Fall, Behandlung der Arbeiterfrage, die Mehrheit ebenso entschieden aufseiten des Fürsten, im zweiten Fall, Abgabe einer entgegenkommenden Erklärung, aufseiten Sr. Majestät gestellt haben. Man ging mit ungelösten Differenzen, mit dem Gefühl auseinander, daß ein irreparabler Bruch zwischen Kanzler und Souverän erfolgt war. Se. Majestät bemühte sich zwar, gegen den Fürsten freundlich zu sein, aber es kochte in ihm. Jedenfalls besitzt er eine große Selbstbeherrschung. Eine Krisis hat mit diesem Kronrat begonnen, welche einen ernsten Verlauf nehmen wird! Bismarck sagte in der vorhergehenden Staatsministerialsitzung: Von den Geschäften des Auswärtigen könne er sich nicht trennen, weil sich auf keinen anderen das Kapital an Vertrauen, welches er in London, Wien und selbst in Paris besitze, vererben ließe. Alle anderen Geschäfte aber, Präsidium, Handelsministerium, müsse er bei seiner unzulänglichen, geringen Arbeitskraft aufgeben. 25. Januar. Heute früh erschien Bennigsen sehr erregt in der Absicht, etwas Positives über die Stellung der Regierung zum Sozialistengesetz zu hören. Er wußte offenbar, daß Se. Majestät im Kronrat sich für Annahme des Gesetzes auch ohne den Ausweisungsparagraphen ausgesprochen hatte. Ich lehnte Mitteilung über die gestrigen Vorgänge ab und schloß mit dem bestimmten Rat: „An Ihrer Stelle würde ich die Annahme des Gesetzes in der Form, wie es aus der zweiten Lesung hervorgegangen ist, durchzusetzen suchen, die verbündeten Regierungen werden es sich zweimal überlegen, ehe sie es dann ablehnen. Die Session schließt dann in Harmonie der Kartellparteien.“ Ich glaube, er ging mit dem Entschluß, so zu handeln, aber zweifelnd, ob die Konservativen die Sache mitmachen würden. Diese hätten unter Helldorffs Führung erklärt, sie würden in dritter Lesung bei der Abstimmung über das ganze Gesetz gegen stimmen, wenn die Regierung nicht transpirieren lasse, daß das Gesetz auch ohne den Ausweisungsparagraphen ihr akzeptabel sei. Es wurde in der Beziehung nicht einmal eine positive Annahmeerklärung vom Regierungstisch verlangt, sondern es sollte das beschränkte Gesetz nur nicht als unannehmbar erklärt werden. Da nach Bismarcks Willen eine solche Geneigtheit von Bötticher nicht gezeigt werden durfte, so fiel bei der Spezialabstimmung erst der Auswei­ 454

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sungsparagraph gegen die Stimmen der Konservativen und eines Teils der Nationalliberalen, sodann das ganze Gesetz durch die Stimmen von Konservativen, Zentrum, Fortschritt. Ein großer, verhängnisvoller Fehler. Man hätte ein dauerndes Gesetz erlangt, welches die sozialdemokratischen Bestrebungen und Agitationen unter Strafe gestellt hätte. Es wäre dann jedenfalls leichter gewesen, die Ausweisungsbefugnis selbst aus dem Deutschen Reich in Form einer Novelle später nachzutragen, wenn sich der Mangel dieser Bestimmung als eine fühlbare Lücke erwiesen hätte, als wie das ganze Gesetz nochmals zu verabschieden. Die Ausweisungbefugnis aus einer deutschen Stadt in die andere hatte sich sogar als ein Nachteil insofern erwiesen, als hierdurch die sozialdemokratische Infektion in Orte getragen wurde, welche bisher davon ganz unberührt geblieben waren. Dagegen wäre allerdings die Verbannung dieser landesverräterischen Agitatoren aus dem Deutschen Reich eine durchaus gerechtfertigte und auch wirksame Maßregel gewesen, diesen Volksverderbern das Handwerk zu legen. In der zur Feststellung der Schlußthronrede nachmittags ohne Bismarck stattfindenden Sitzung erzählte Verdy, Se. Majestät sei wütend über die gestrige Sitzung und habe ihm mit der Faust gedroht, weil er ihn im Stich gelassen habe. Wir hätten alle so verprügelt ausgesehen; was der Fürst in der vorhergehenden Staatsministerialsitzung gesagt habe? Bismarck habe ihm den Stuhl vor die Türe gesetzt, was er dazu sage? Er werde die Thronrede nicht verlesen, wenn nicht ein Passus darin sei über den von ihm gewollten Arbeiterschutz. Letzteres gab Bötticher einen Schreck, da die Thronrede schon fertig vorlag und nur einen verschleierten Satz der Art enthält. Zum Verhandeln aber war keine Zeit mehr. Sonst ist die Thronrede sehr schön in der Form und einheitlich von Bosse entworfen und genügt vielleicht auch so Sr. Majestät. Er scheint ‒ man weiß nicht recht von wem (Hintzpeter?) ‒ angeregt, beabsichtigt zu haben, an seinem Geburtstag ein förmliches Manifest zu erlassen, ähnlich der kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 ‒ wozu kein rechter Anlaß vorliegt. Bismarck hat gleichfalls sehr verstimmt über die gestrigen Sitzungen mit Bötticher gesprochen und wiederholt die schon mehrfach geäußerte Absicht ausgesprochen, sich von allen seinen Ämtern exklusive der Leitung der auswärtigen Politik zu trennen. Der Kaiser wird ihm in dieser Beziehung keine Schwierigkeiten machen, freilich wird dann möglicherweise jeder seine eigenen Kandidaten haben für die Besetzung der dann vakant werdenden Posten. Graf Herbert hat die Befürchtung ausgesprochen, die Kaiserin Friedrich werde schließlich doch einen größeren Einfluß über ihren 455

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Sohn gewinnen und dann werde englische äußere und innere schradersche Politik gemacht werden. Merkwürdig, wie kaleidoskopisch die Bilder und Perspektiven wechseln! 26. Januar. Sonntag. Das Sozialistengesetz ist gestern im Reichstag abgelehnt worden, da die Regierung keine öffentliche Anregung mehr gab, das Gesetz anzunehmen. Das hat auf die Kartellparteien sehr verstimmend auch gegen Bismarck gewirkt. Etwas hat die freundliche, versöhnliche Thronrede die Stimmung wieder gemildert. Nachdem also gestern Abend der Schluß der Session und damit der Legislaturperiode erfolgt war, fand heute 2 ½ Uhr beim Fürsten eine Sitzung statt, in welcher er ganz verändert und im höchsten Maße konziliant auftrat: man müßte sich mit dem Monarchen einrichten wie mit dem Wetter. Er liebe ihn als Sohn seiner Vorfahren und als Souverän, bedauere, daß er, vielleicht von der Reise und von der Verhandlung erregt, neulich wohl etwas weiter gegangen wie nötig gewesen sei. Man dürfe eine Kamarilla von unverantwortlichen Ratgebern, wie sie unter Friedrich Wilhelm IV. in Gestalt von Gerlach, Bunsen, Goltz, Radowitz vorhanden gewesen, nicht dulden und müsse, soweit möglich, diese Persönlichkeiten in verantwortliche Stellungen bringen. Er müsse sich entlasten und wolle zunächst das Handelsministerium los sein, was jetzt einen wichtigen Geschäftskreis bekomme. Er wolle nur noch die auswärtige Politik führen und allenfalls Reichskanzler bleiben ‒ den preußischen Geschäften ebenso fremd werden wie den württembergischen oder bayrischen. (Ob er sich in diese Zurückhaltung finden würde?) Im Ganzen klang die Absicht durch, die neulichen über die richtigen Grenzen gegangenen Äußerungen zurückzunehmen und alles wieder einzurenken. Er tat das in liebenswürdiger, versöhnlicher Art und Weise. Alle atmeten erleichtert auf, pflichteten seinen Ausführungen bei und es wurde noch empfohlen, bei dieser Gelegenheit die Bergabteilung vom Eisenbahnministerium abzuzweigen und dem Handelsministerium zuzulegen. So verlief alles aufs Angenehmste und Bismarck war voll Courtoisie und Verbindlichkeit. 29. Januar. Am 27. zum Geburtstag hatten wir Gratulationsaudienz bei Sr. Majestät unter Bismarcks Führung. Der Fürst wünschte Glück und Freude bei Ausführung der großen Aufgaben, welche der Kaiser sich gestellt habe. Se. Majestät dankte und sagte, Bismarck herzlich die Hand schüttelnd: Er hoffe dabei noch lange die Mithilfe und Unterstützung der Fürsten zu haben. Bismarck akzeptierte das mit der Versicherung, es tun zu wollen, solange die alten Knochen zusammenhielten. Ob er schon die von ihm zu seiner Entlastung gemachten Vorschläge gelesen habe? Se. Majestät sagte sofort: „Ja! Ich habe sie eben gelesen und bin völlig damit einverstanden!“ 456

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Er hatte sie also unmittelbar vor unserem Eintritt gelesen, da sie ihm erst kurz vorher überreicht worden waren, wie Bismarck nachher sagte. Er hatte sich demnach sofort entschlossen, Bismarck vom Handelsministerium zu entbinden und Berlepsch zu seinem Nachfolger in diesem Ressort zu ernennen. Prompte Geschäftserledigung! Se. Majestät sprach dann über den nicht mit anwesenden Minister Maybach, welcher aufleuchte, wenn von wagnerscher Musik die Rede sei, sonst aber für nichts empfänglich sei als für seine Geschäfte. Bismarck erwiderte: „Doch! Majestät, er ist sehr empfänglich für eine freundliche Anerkennung seiner Leistungen. Dann arbeitet er selbst über das Mögliche hinaus.“ Se. Majestät begriff sofort die Andeutung und machte einige freundliche Äußerungen über die Gesamtleistungen der Bahnen und den schönen Salonwagen, welchen man ihm gestellt habe. Dann folgte allgemeine Konversation, er ließ die Kaiserin rufen und führte uns in das Geburtstagszimmer, wo einige Tische vollstanden von großen und kleinen Geschenken. Die Kaiserin Friedrich hatte ihm ein selbst gemaltes Ölbild ‒ Kostümporträt Sr. Majestät bei der silbernen Hochzeit der Eltern ‒ geschenkt. Er zeigte uns besonders einen mehr merkwürdigen als wie schönen Bernsteinbecher, welchen ihm Bronsart, der frühere Kriegsminister, jetzt kommandierender General des 1. Korps, von Königsberg geschickt hatte. Genug, es war ein förmliches Versöhnungsfest und offenbar auf beiden Seiten das Gefühl, zu weit gegangen zu sein und es wiedergutmachen zu wollen. Wir blieben über eine halbe Stunde, obschon andere Empfänge drängten. Dieser Sturm hatte luftreinigend gewirkt. Bismarck hatte gesehen, daß Se. Majestät in gewissen Dingen einen sehr bestimmten Willen hat, und Se. Majestät, daß es Punkte gibt, wo der Fürst ihm den Stuhl vor die Tür setzt. Das kann beiderseits nur nützlich sein. 31. Januar. Heute 2 Uhr nachmittags Sitzung bei Bismarck, in welcher das von Sr. Majestät beabsichtigte Manifest erörtert und beschlossen wurde, zu empfehlen, zwei Orders zu erlassen: 1. Eine an den Kanzler gerichtete, worin die Berufung einer internationalen Konferenz über die Arbeiterfrage befohlen wird. 2. Eine an den Minister des Handels und der öffentlichen Arbeiten gerichtete Order, worin Einsetzung einer Kommission befohlen wird, welche Vorschläge über die Arbeiterschutzfrage machen soll. Dagegen wehrte sich Bismarck und verlas Äußerungen, welche er 1889 bei Gelegenheit der Anträge Lieber-Hitze im Reichstag gegen dieselben getan hatte. Äußerungen, welche heute wie Majestätsbeleidigungen klingen 457

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würden. Er betonte wiederholt seinen Dissensus gegen diese Tendenzen, man müsse das Sr. Majestät ausreden. Wenn man nur lediglich seinen Willen in diesen und anderen Beziehungen tun wolle, seien acht Subalterne ebenso gut am Platz der jetzigen Minister. Plötzlich erschien unangemeldet, sporenklirrend Se. Majestät in der Sitzung, nahm Platz und erklärte sich nach einem von Bismarck erstatteten Resümee mit obigen Vorschlägen einverstanden. „Der König von Sachsen werde wohl einen bezüglichen Antrag bringen, den könne man aber bis nach den Reichstagswahlen liegen lassen.“ Inzwischen hatte Bismarck ‒ wie Bötticher vor der Sitzung erzählte ‒ eine lange Unterredung mit Hintzpeter gehabt, die in der Bemerkung Hintzpeters gegipfelt hatte: „Sie verachten ja meinen jungen Kaiser!“ Bismarck lehnte das ab und sagte ihm: „Unter diesen Umständen müssen Sie selbst Minister weiden, um die Verantwortung für Ihre Ratschläge zu tragen.“ Hintzpeter lehnte das seinerseits als eine „Verhöhnung“ ab. Bismarck hatte dann später mit dem sächsischen Gesandten Graf Hohenthal eine Unterredung, in welcher er ihm erklärte, seinen Abschied nehmen zu wollen, wenn der König von Sachsen einen Arbeiterschutzentwurf einbrächte. Im selben Sinn hat er mit dem bayrischen Gesandten Graf Lerchenfeld gesprochen. 2. Februar. Wir, das heißt Herrfurth, Scholz, Goßler, Berlepsch, kommen bei Bötticher zusammen, die Lage zu besprechen. Scholz und Goßler hatten den Eindruck, Bismarck wolle sich auch aus den inneren Reichsgeschäften zurückziehen, und redeten Bötticher zu, sich allen ihm gemachten Offerten zu unterziehen. Dagegen wurde geltend gemacht, das preußische Ministerpräsidium könne mit einer dem Kanzler im Reich untergeordneten Stellung kaum vereint werden. Der Kanzler werde nicht auf Geltendmachung seines Einflusses in inneren Reichs- und in preußischen Angelegenheiten verzichten und sicher mit dem preußischen Ministerpräsidenten, welcher die preußischen Stimmen zu führen habe, in Konflikt kommen. Der Gedanke, Herrn von Puttkamer das preußische Präsidium ohne besonderes Ressort zu übertragen, wurde auch zurückgewiesen. Inzwischen sind die Einladungen zu den Sitzungen des Staatsrats ergangen. Neu ernannt sind Fürst Pleß, Freiherr von Stumm, Krupp, die Generaldirektoren Jenke, Ritter etc., Douglas, von Heyden, Hintzpeter! Die Germania sagt dazu: lauter Gegner der Arbeiterschutzgesetzgebung. 4. Februar war ich und Staatssekretär von Stephan zum Tee bei den Majestäten. Se. Majestät erschien strahlend mit der letzten Nummer des Staats458

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anzeigers in der Hand, in welcher die beiden Erlasse standen ‒ ohne Kontrasignatur, wie ich gleich bemerkte. Se. Majestät fand das unwesentlich. „Die Arbeiter müßten wissen, daß man sich für sie interessiere.“ Stephan und ich äußerten, die Manifestation des guten Willens möge nützlich wirken, aber Positives werde bei der internationalen Konferenz wenig herauskommen. 9. Februar, Sonntag, teilte uns Bismarck in der Staatsministerialsitzung mit, er werde aus dem preußischen Ministerpräsidium ausscheiden, überhaupt aus dem Ministerium. Se. Majestät habe schweigend seine verschiedenen Vorschläge angehört und dann dem Ausscheiden sowohl wie dem Bleiben als Kanzler ohne weiteres Besinnen zugestimmt, der Kaiser sei sehr eilig gewesen! Der Fürst machte einen gedrückten Eindruck, als fühle er sich plötzlich abgetakelt. Gegen den Kriegsminister von Verdy, der mit einer Militärstrafprozeßordnung schwanger geht wie alle seine Vorgänger, machte er noch ein heftiges Rückzugsgefecht und warf ihm vor, der öffentlichen Meinung zu folgen und die Armee dem Parlamentarismus preiszugeben. Die öffentliche Meinung habe stets unrecht, er habe immer dagegen gekämpft und auch gesiegt. Daß wir diese Lösung billigten, war ihm nicht recht, obschon es die einzige mögliche scheint, um einen gänzlichen Bruch zu verhüten. Sein Ausscheiden soll am 20. Februar, dem Wahltag, publiziert werden, um einerseits die Wahlen nicht zu beeinflussen und um andererseits die Deutung auszuschließen, als sei er den Wahlen gewichen. Bötticher soll Ministerpräsident werden unter Beibehaltung seiner Funktionen im Reich, Graf H. Bismarck preußischer Minister des Auswärtigen. „Er wolle dem preußischen Ministerium so fremd werden wie dem bayrischen oder württembergischen und behalte sich vor, auch durch die Reichstür ganz abzugehen, wenn sich die Verhältnisse als nicht erträglich erwiesen.“ 16. Februar. In der Sitzung am 9. Februar waren die Ernennungen Nasses zum Oberpräsidenten der Rheinprovinz, Barckhausens zum Unterstaatssekretär etc. gutgeheißen worden unter Bismarcks Zustimmung, am 14. Februar wurden wir zu einer Staatsministerialsitzung bei Bötticher zusammengerufen, worin Herrfurth folgende Mitteilung machte: Se. Majestät habe, noch ehe jene Ernennungsvorschläge ihm hätten unterbreitet werden können, Lucanus zu ihm geschickt mit dem Wunsch, Miquel zum Oberpräsidenten der Rheinprovinz zu ernennen. Die Nationalliberalen seien verschnupft und zum Minister könne er noch keinen machen. Diese Mitteilung kam uns sehr überraschend, wir erkannten aber an, daß eine solche Initiative wohl der Stellung unseres Monarchen entspreche. Besondere Bedenken geltend zu machen gegen diese Willensmeinung, sei vielleicht kaum 459

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zweckmäßig, man verstimme damit Se. Majestät, welcher so schon in den Ministern patres dubiorum sehe. Inzwischen soll Herrfurth sich durch eine direkte Anfrage bei Miquel versichern, ob der überhaupt den Posten annehmen will. Sein Ausscheiden aus dem Parlament werde sich unangenehm fühlbar für die Regierung machen. Um drei Uhr mittags fand die Eröffnung des Staatsrats statt mit Verlesung einer kurzen Ansprache, welche etwa fünf Minuten dauerte. Nachher wurden die Mitglieder Sr. Majestät vorgestellt, die er meist schon kannte ‒ Huene, Schorlemer, Miquel, Krupp, Stumm, Hintzpeter etc. Die Sache verlief sehr kühl und nüchtern, die Leute sahen zum Teil verdutzt aus, da die meisten gleich wieder abreisen konnten, weil eigentliche Vorlagen noch nicht fertig waren. Im Privatgespräch wurde die Meinung laut, man dürfe die Sache nicht dilatorisch behandeln, sondern müsse etwas zustande zu bringen suchen und vielleicht kurze Enqueten über zweifelhafte Fragen veranlassen. Inzwischen hat Bismarck, wie neulich Bötticher mitteilte, wieder seine Ansicht wesentlich geändert und will nun doch preußischer Ministerpräsident bleiben. Er hat diesen Gedanken ohne besondere Aufforderung Sr. Majestät kürzlich entwickelt, derselbe hat wiederum schweigend zugestimmt, obschon ihm der Abgang wohl willkommen gewesen wäre. Das Staatsministerium kommt bei diesen schnell wechselnden Entschließungen in sonderbare unhaltbare Lagen. Es tritt die Alternative ein, daß sich das gesamte Ministerium von Bismarck oder mit Bismarck vom Kaiser trennt, das heißt resigniert. 18. Februar. Miquel hatte eine längere Audienz bei Sr. Majestät, welche mit der Ablehnung des angetragenen Oberpräsidentenpostens geendet hat. ‒ In der Nationalzeitung steht gleichzeitig mit dieser Nachricht eine Besprechung der aus der Wilhelmstraße lancierten Gerüchte, Bismarck wolle sich von den preußischen Geschäften zurückziehen. Die Nationalzeitung glaubt nicht daran und konstatiert nur, daß in Preußen wie im Reich alle Initiative lahmgelegt sei, weil kein Minister etwas tun oder lassen könne nach eigener Meinung. Sie begründet damit die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit des Rücktritts, während sie gar keinen Versuch macht, das Bleiben Bismarcks als wünschenswert zu betonen. Der Appell an die öffentliche Meinung hat somit nicht den geringsten Widerhall gefunden zu Gunsten Bismarcks. Bismarck hat inzwischen alle Immediatberichte des Staatsministeriums wie früher mitgezeichnet und wir haben keine amtliche Kenntnis erhalten von einer Änderung seines Entschlusses, am 20. den Rücktritt vom Präsidium zu publizieren. Vielleicht bleibt es also doch dabei und die Provokation 460

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von Protesten führt ‒ da sie keinen Widerhall findet ‒ doch zur Ausführung des Entschlusses. Übrigens ist bisher von diesen Fragen nichts transpiriert; das beweist, daß die Kollegen dichthalten. Die Wahlen sind übermorgen. 21. Februar, von Berlepsch erzählte: „Der Kaiser habe ihm gesagt, nicht er, sondern der Kanzler habe auf Anhörung des Staatsrats und auf dessen eilige Einberufung gedrungen. Wenn Bismarck nicht jetzt ginge, so würde es in wenig Wochen zu neuen Konflikten kommen und zu unheilbaren. Bismarck wolle jetzt gar nicht oder gänzlich abgehen. Er lasse Inventarien aufnehmen und habe eine Pensionsberechnung aufstellen lassen.“ Die Wahlen ergeben ein enormes Wachsen der sozialdemokratischen Stimmen. Sie haben schon zwanzig Mandate fest und kommen in über fünfzig Kreisen in die Stichwahl, so auch in Erfurt und Mühlhausen. 23. Februar. Unterhaltung mit Fürst Pleß, einem treuen Freund und einer politischen Stütze Bismarcks, welcher mit Vater und Sohn lange Konversationen gehabt hat in der Absicht, die Dinge womöglich wieder einzurenken. Graf Herbert hat immer mit „wir“ gesprochen, als seien sie amtlich unzertrennlich. „Wir müßten gehen, um nicht als Platzkleber zu erscheinen.“ Pleß hat in dem Sinn gesprochen, daß Bismarck Kanzler bleiben und die Leitung der auswärtigen Geschäfte behalten möge, während Graf Herbert einen Botschafterposten übernehmen möge. Pleß hatte den Eindruck, Bismarck wolle gar nicht ernstlich gehen, sondern im Besitz des Ganzen bleiben. Vom 28. Februar bis 7. März durch einen Gichtanfall ‒ den ersten ‒ ans Zimmer gefesselt, empfing ich Böttichers Besuch, welcher seit der Sitzung vom 9. Februar verschiedene erregte Unterhaltungen mit Bismarck gehabt hat. Bismarck warf ihm vor, daß niemand im Staatsministerium ihm zum Bleiben zugeredet hätte, vielmehr hätten wir alle erleichtert bei seinen Erklärungen, sich von den meisten Ämtern trennen zu wollen, aufgeatmet. Er habe es sich nun aber anders überlegt (vielleicht auf Zureden der Söhne) und werde nun erst recht nicht gehen. Er hat dann Bötticher noch scharfe Vorwürfe gemacht über seine Haltung in der Beamtengehaltserhöhungsfrage; wenn er es nicht wäre, würde er ihn zur disziplinarischen Verantwortung ziehen. Er hätte auch nicht das Gesetz vollziehen dürfen wegen Befreiung der Priester vom Militärdienst. Das sei sein Gesetz, welches er gegen den Widerspruch des Staatsministeriums durchgesetzt habe u. s. w. Den Kaiser hat er durch seinen Gesinnungswechsel auch höchlich befremdet, er hat sich allerdings gefügt, aber alles Vertrauen auf ihn verloren. Sr. Majestät ist es aufgefallen, daß er ihm gegenüber Helldorff und Marschall sehr gelobt habe, ob er sie zu Ministern machen wolle? 461

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Als Bismarck im Staatsrat bemerkt hatte: Die Minister stimmten nicht mit ab, fragte Se. Majestät Bötticher: Was er damit wolle, welchen Knüppel er damit auswerfe? Se. Majestät hat Bismarck sagen lassen: Er solle Bötticher besser behandeln, einen treueren Mitarbeiter finde er nicht. ‒ In einer jener Unterredungen hat Bismarck auch gesagt: Bötticher müßte sich nun schlüssig machen, ob er Ministerpräsident werden oder Staatssekretär des Innern bleiben wolle. Worauf Bötticher erwiderte: Letzteres. Bismarck sei dann wieder abgesprungen, er wünsche vielleicht einige Ministerposten neu zu besetzen. Dagegen habe Se. Majestät durch Hintzpeter wissen lassen, daß er jetzt nicht an irgendwelchen Ministerwechsel denke. Bismarck teilte neulich dem Staatsministerium mit, er habe mit Sr. Majestät das Menü für die nächste Reichstagssession vereinbart und zwar: Arbeiterschutz, Militärvorlage, Etat, neues verschärftes Sozialistengesetz, das heißt mit Expatriierung anstatt nur Ausweisung. Letzteres wollte Se. Majestät. Einige Tage darauf erließ Se. Majestät, dem dieser Vorfall wahrscheinlich mitgeteilt war, den bestimmten Befehl, das Sozialistengesetz solle vorläufig nicht wieder eingebracht werden. Se. Majestät ließ den Schweizer Gesandten Roch kommen und sagte ihm, er lege den höchsten Wert darauf, daß die Schweiz auf ihre Arbeiterschutzkonferenz verzichte zu Gunsten der Berliner. Roch tat die entsprechenden Schritte und erhielt darauf einige Tage später eine Einladung zu Bismarck, welcher ihm dringend empfahl, keine Schritte in dieser Richtung zu tun, die Schweiz habe die Priorität und am Zustandekommen der Berliner Konferenz liege ihm nichts. Das ist ein umso gefährlicheres Spiel, da doch alles Sr. Majestät bald bekannt und zugetragen wird. Vielleicht hat der junge Herr seine Antwort in der neulich bei dem märkischen Provinzialständefest gehaltenen Rede gegeben, in welcher er sagte: „Wer mir bei diesen Aufgaben hilft, ist mir willkommen, wer widerstrebt, den zerschmettre ich.“ 9. März. Bötticher schreibt mir eben, daß Se. Majestät ihm mit einem sehr gnädigen Handschreiben den hohen Orden vom Schwarzen Adler verliehen hat. Das ist sicher ohne Bismarcks Mitwirkung geschehen und ein neuer avis au lecteur. Der soeben für 2 ½ Uhr mittags einberufenen Staatsministerialsitzung konnte ich wegen meines Fußleidens noch nicht beiwohnen, hörte aber nachher, Bismarck sei ziemlich sanft gewesen. Der Absicht von Scholz und 462

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Maltzahn, zugleich mit der Militär- auch eine Steuervorlage einzubringen, widersprach er. Die Verleihung des Schwarzen Adlers an Bötticher hat er nicht vorher gewußt und hat sehr kühl dazu gratuliert. Der Kaiserin Friedrich hat er kürzlich einen Besuch gemacht. Der Kandidat Sr. Majestät für den Kanzlerposten sei General Caprivi, welcher kürzlich insgeheim hier gewesen ist und eine lange Unterredung mit Sr. Majestät gehabt hat. Caprivi gilt als ein gerader, loyaler General von festem, unbeugsamem Charakter ‒ keine üble Wahl! 12. März. Sitzung bei Bismarck, welcher ich beiwohnte. Bismark, sehr aimable, deutete wiederholt die Möglichkeit seines baldigen gänzlichen Ausscheidens an. Tüftelte längere Zeit über den Unterschied von preußischen und von Präsidialanträgen; Erstere müßten eigentlich die Regel sein, während durch die Macht der Umstände das Umgekehrte zur Regel geworden sei. Die Stellung des preußischen Ministeriums im Reich müsse wieder gehoben werden. Gegen Bötticher war er äußerst kühl und behandelte ihn wie Luft. Bötticher verhielt sich entsprechend still. Ich hatte den Eindruck, als ob Bismarck eine neue Evolution vorbereite wie etwa die Aufgabe der Kanzlerschaft und Übernahme des preußischen Ministerpräsidii. Dann wäre allerdings der Kanzler gründlich mattgesetzt. Nachher war von den Militärvorlagen lange die Rede. Sie sollen im Ordinarium einen Mehraufwand von 130 Millionen zur Durchführung erfordern. Scholz und Maltzahn waren der Meinung, das sei ohne Überbürdung möglich durch Erhöhung der Brau- und der Zuckersteuer sowie durch Einführung einer Erbschaftssteuer. Bismarck drängte den Kriegsminister, sein letztes Wort zu sagen, was dieser nur bedingt tat. Übrigens scheint in den Mehrforderungen eine bedeutende Erhöhung der Offiziersgehalte zu stecken für die Chargen bis zum Major. Zunächst sollen nur Arbeiterschutzgesetze eingebracht werden, mit welchen Bötticher und Berlepsch bereits fertig sind. Am 15. März tritt die Internationale Konferenz im Reichskanzlerpalais zusammen, wo sie tagen und mit Frühstück bewirtet werden soll. Das habe auch die Kongreßverhandlungen sehr gefördert. 16. März. Sonntag. In der Staatsministerialsitzung (welcher beide Bismarck, Verdy, Berlepsch nicht beiwohnten) hatten wir eine lange vertrauliche Besprechung über die jetzige gespannte Situation, welche durch das Verhältnis Sr. Majestät zu Bismarck und die absagende Stellung, welche alle parlamentarischen Parteien außer Windthorst jetzt zum Kanzler einnehmen, eine 463

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immer schwierigere, unhaltbare wird. Selbst Post und Deutsches Wochenblatt bringen kritische Artikel über die Haltung der Regierung, das ist Bismarck, welche geradezu einen Bruch signalisieren. Graf Stirum, Führer der Konservativen, ist zu Bötticher gekommen, er stelle sich zur Verfügung, um die Fühlung zwischen der konservativen Fraktion und dem Ministerium herzustellen; mit Bismarck könne man aber nicht mehr verhandeln. Grund dazu scheinen die wiederholten Konferenzen zwischen Windthorst und Bismarck gegeben zu haben, man fürchtet, Bismarck wolle in der Schul- und in der Jesuitenfrage dem Zentrum über den Kopf der Konservativen Konzessionen machen. Dieselbe Befürchtung teile Se. Majestät und habe seine Abneigung gegen solche Transaktionen auch schon lebhaft gegen Bismarck ausgesprochen. Se. Majestät soll fest überzeugt sein, Bismarck wolle ihn in einen Konflikt hineinreiten, aus welchem er allein ihn retten könne, das heißt vermeintlich, da er nicht mehr der Alte sei. Dieses Mißtrauen überträgt Se. Majestät auch auf die Militärfrage und soll die enormen Vorschläge Verdys zunächst auf die Artillerieforderungen herabgedrückt haben, was wieder ein erfreulicher Beweis seines gesunden Urteils und richtigen Instinkts sein würde. Die dringende Empfehlung der Wiedereinbringung eines verschärften Sozialistengesetzes und die plötzliche Aufgabe desselben, nachdem der Kaiser es bestimmt ablehnte, soll einen besonders üblen Eindruck auf Se. Majestät gemacht haben. Goßler und Bötticher waren voll solcher Mitteilungen. In der Begrüßungsrede an die Internationale Konferenz hatte Berlepsch einen Satz ausgenommen, welcher der Schweiz ein Kompliment machte über ihre Bereitwilligkeit, vor der Berliner die eigene Einladung zurücktreten zu lassen. Bismarck strich ihn als überflüssig. Se. Majestät befahl die Wiederaufnahme als sachgemäß und nötig. Das wäre unter früheren Verhältnissen eine Kabinettsfrage für Bismarck gewesen. Wir waren alle einig in der Meinung, bei erster Gelegenheit die Bereitwilligkeit des gesamten Staatsministeriums zum Rücktritt zu erklären, im Interesse der eigenen Würde und um Bismarck selbst einen Avis zu geben, in den Zumutungen an die Hingabe des Staatsministeriums eine Grenze zu finden. Die Zusammenkunft zwischen Bismarck und Windthorst habe auf Wunsch des Letzteren stattgefunden, der jetzt nichts mehr fürchte als den Rücktritt Bismarcks. Der Besuch sollte geheim bleiben, allein Windthorst fuhr von Bismarck zu Bleichröder, und Bismarck selbst sprach an seinem Tisch über den Besuch. So wurde die Sache sofort publik und durch Telegramme, welche im Pariser Figaro und in der Kieler Zeitung standen, be464

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kannt. Der Kaiser, welchen diese Nachrichten sehr intrigierten, soll besorgt über die Annäherung Windthorsts gewesen sein. Gestern (am 15.) hat Se. Majestät wieder eine längere Unterredung mit Bismarck im deckerschen Haus gehabt, welches Se. Majestät bei seinen Ritten und Spaziergängen gern als Absteigequartier benutzt. Diese endete sehr stürmisch und führte den definitiven Bruch herbei. 17. März. Heute 3 Uhr nachmittags teilte uns Bismarck mit, er habe seinen Abschied von Sr. Majestät gefordert und sei sicher, ihn zu erhalten. Es sei eine Reihe von Vorfällen, welche ihn zu der Überzeugung gebracht hätten, daß er Sr. Majestät im Wege sei. In der am Sonnabend stattgehabten Unterredung habe ihm Se. Majestät vorgeworfen, die Kabinettsorder von 1852 wieder ausgegraben und den Ministern verboten zu haben, ihm Vortrag zu halten. Wer sich beschwert habe, wisse er nicht, wie ja bisher ein festes Einverständnis und Zusammenwirken im Ministerio stattgefunden habe. Die Eintracht sei schon bei der Arbeiterschutzfrage gestört gewesen, wo Bötticher und Verdy anderer Meinung gewesen seien. Allein auch auf dem Feld der auswärtigen Politik sei er nicht mehr alleiniger Berater und genieße nicht mehr das Vertrauen, dessen er bedürfe, um die Verantwortung für die Leitung der Politik zu tragen. Se. Majestät insinuiere in einem (uns vorgelegten) Bleistiftschreiben, daß ihm wichtige Depeschen vorenthalten und unterschlagen würden. Se. Majestät halte die Situation Rußland gegenüber für eine höchst bedrohliche und habe die Reise zu den Manövern in Krasno Selo aufgegeben, während jetzt gerade Graf Schuwaloff von St. Petersburg mit den friedlichsten Versicherungen zurückgekehrt sei. Er sei der Meinung, an der Allianz mit Österreich und Italien festzuhalten, aber auch, daß man zwei Sehnen zum Bogen brauchen könne und eine Annäherung an Rußland immer offenhalten müsse. Ein Krieg mit Rußland habe gar keinen Zweck und sei im günstigsten Fall ein großes Unglück für beide Nationen. Der Kaiser beklage sich darüber, nicht alle Depeschen aus Kiew erhalten zu haben, während nur eine davon für ihn von Interesse gewesen sei. Ferner habe ihn der Kaiser gefragt: Ob es wahr sei, daß er durch Bleichröders Vermittlung eine Zusammenkunft mit Windthorst gehabt habe? Das hätte er ihm doch mitteilen müssen. Er (Bismarck) habe darauf geantwortet: „Seit fünfundzwanzig Jahren habe sein Portier die Instruktion, Minister und Abgeordnete jederzeit vorzulassen. Er müsse mit den parlamentarischen Führern in direktem Rapport stehen, um zu wissen, was vorginge. Die Arbeiterschutzfrage sei für ihn keine Kabinettsfrage, aber wenn er in den auswärtigen Angelegenheiten nicht mehr die Leitung haben solle, dann müsse er gehen, und er wisse, daß das dem Kaiser recht sei. Er habe 465

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Nadelstiche genug erfahren und dürfe sich nicht dem Vorwurf der Klebrigkeit aussetzen.“ Wir bedauerten diese Entwicklung der Verhältnisse und daß es nicht bei der früher versuchten Lösung geblieben sei, daß er sich auf den Kanzler und auswärtigen Minister zurückgezogen habe. Die Unterhaltung nahm schließlich einen herzlicheren Ton an und wir schieden unter Protesten. Inzwischen hören wir, daß Se. Majestät schon gestern das Abschiedsgesuch erwartet hat und daß General von Hahnke dem Kanzler wiederholte Besuche gemacht hat, um daran zu erinnern. Wir kamen abends bei Bötticher zusammen und beschlossen, ihn zu beauftragen, eine Audienz bei Sr. Majestät zu erbitten, um unser Bedauern über den Rücktritt des Fürsten auszusprechen und zugleich unsere Portefeuilles zur Verfügung zu stellen, um in dieser Beziehung Sr. Majestät völlige Freiheit der Entschließung zu bieten. Die Sache wurde schon am selben Abend bekannt durch Telegramme der Kölner Zeitung. Alle Blätter bringen je nach ihrer Richtung politische Nekrologe und billigen ausnahmslos den Rücktritt des Fürsten als richtig. Über die Nachfolge verlautet noch nichts Positives. Sämtliche kommandierende Generale sind hier versammelt. 19. März. In einer im Abgeordnetenhaus stattfindenden Sitzung des Ministeriums teilte uns Bötticher das Abschiedsgesuch des Fürsten mit, welches ziemlich ausführlich den Rücktritt motiviert, lebhaftes Bedauern über diese Notwendigkeit ausspricht, ja selbst den Wunsch äußert, in den Geschäften zu bleiben, da seine Gesundheit es ihm erlaube. Er spricht von der Kabinettsorder von 1852 wie von einer durchaus nötigen Sache zur Aufrechterhaltung der Einheit in der Regierung und der Verantwortlichkeit des Präsidenten. Geht dann zur auswärtigen Politik über, das Verhältnis zu Rußland sei nie besser gewesen, berührt den Vorwurf, wichtige Depeschen vorenthalten zu haben, und betont schließlich, daß er nach den Verhandlungen mit General von Hahnke einsehe, Sr. Majestät im Wege zu sein und um seinen Abschied bitten zu müssen. Das Gesuch ist so abgefaßt, daß es eigentlich eine eingehende Erwiderung provoziert und die Bereitwilligkeit, zu bleiben, durchblicken läßt. Bötticher berichtete: Se. Majestät habe auf die Andeutungen, man möge versuchen, Bismarck zum Bleiben zu bewegen, eine ablehnende Handbewegung gemacht und gesagt: „U n m ö g l i c h .“ Die Mitteilung, daß das Staatsministerium seine Portefeuilles zur Verfügung stelle, die Geschäfte aber fortzuführen bereit sei bis zur weiteren Entscheidung über die zu ernennenden Nachfolger, habe er billigend und 466

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erfreut entgegengenommen. Auf das Entlassungsgesuch Bismarcks hatte er mit Bleistift geschrieben: „Genehmigt. W.“ Bötticher las ferner den Entwurf eines Handschreibens vor, welches in warmer Weise, ohne auf die Motivierung des Entlassungsgesuchs einzugehen, den Abschied bewilligt. Se. Majestät hat ferner Bötticher mitgeteilt, daß er den General von Caprivi zum Reichskanzler und Ministerpräsidenten ernennen wolle. Eine Mitteilung, welche er bereits gestern Abend, wo Bismarcks Entlassungsgesuch noch kaum in seinen Händen gewesen sein kann, den kommandierenden Generalen gemacht hat. Graf Herbert Bismarck hat erklärt, er könne nicht Minister bleiben und seine Instruktionen von einem anderen als von seinem Vater annehmen. 23. März. Gestern war das ganze Staatsministerium zu Tisch bei Bismarck. Caprivi führte die Fürstin, von welcher links Bötticher saß. Maybach und ich saßen neben dem Fürsten. Die anfangs etwas steife, gedrückte Stimmung belebte sich allmählich. Fürst und Fürstin hatten sich bereits am Nachmittag von der Kaiserin Friedrich verabschiedet. Die Fürstin äußerte sich ziemlich laut und rückhaltlos über die Vorfälle der letzten Tage. Der Fürst war gegen Caprivi sehr herzlich, wünschte ihm beim Abschied alles Gute und bot ihm seinen guten Rat an, falls er ihn brauchen könne. 29. März reiste Fürst Bismarck unter ungeheuren Ovationen des Publikums mit seiner ganzen Familie vom Lehrter Bahnhof nach Friedrichsruh ab. Eine Eskadron Gardekürassiere mit Regimentsmusik und Standarte war auf dem Perron des Bahnhofs aufmarschiert. Alle Minister, Botschafter, zahlreiche Generale waren anwesend. Das Publikum schien auch den Kaiser erwartet zu haben. Es war ein betäubendes „Hurra“- und „Auf Wiedersehen“-Rufen. Während der Zug sich in Bewegung setzte, stimmte das Publikum die „Wacht am Rhein“ an. Damit ist also der Schlußakt beendet und ein Ereignis von unberechenbarer Tragweite hat sich vollzogen.

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I Promemoria des Abgeordneten Dr. Lucius bezüglich der bevorstehenden Abstimmung des Reichstags über das Militärgesetz von 1874. ‒ Abgekürzt6. Volles Haus 397 Mitglieder. Absolute Mehrheit 199. Für die Fixierung einer nach den maßgebenden Ansichten der Militärverwaltung dauernd genügenden Präsenzziffer stimmen sicher Freikonservative Konservative Wilde (Achenbach, Falk, Schillingsfürst, Bernuth, Bockum, Rabenau, Römer-Württemberg) Nationalliberale günstigenfalls

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fehlen somit 10 Stimmen an einer sicheren Majorität, welche schwerlich unter den Mitgliedern des Zentrums oder des Fortschritts zu finden sind. Diese Berechnung gilt m. E. für jede bestimmte Präsenzziffer, mag sie 360, 370, 385 oder 401 Mann heißen. Es ist somit ganz unwirksam, in der Zahl Konzessionen zu machen. Wer überhaupt die Bedenken, welche nach konstitutioneller Doktrin des Budgetrechts gegen die dauernde Fixierung irgendeiner Zahl sprechen, überwindet, stimmt auch für die von der Militärverwaltung als unumgänglich für die Schlagfertigkeit der Armee nötig erachtete Präsenzziffer. Das letzte Wort über diese Zahl sollte gleich beim Beginn der zweiten Be6

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ratung in pleno ausgesprochen werden, ehe sich Redner nach einer oder der anderen Richtung engagiert haben. Wird die Präsenzziffer abgelehnt, so ist das Gesetz für die Militärverwaltung nur hinderlich, denn wenn auch § 2 den Ober- und Unterstab der Cadres gewissermaßen fixiert, so sichert er doch nicht gegen alle möglichen Abstriche im Detail bei der jährlichen Budgetberatung. Es wird dann besser der ganze Versuch als vorläufig gescheitert behandelt, und man tritt im Herbst mit spezialisiertem Militäretat vor das Haus, welcher reichlich genügend bemessen ist ‒ natürlich ohne Überfluß. Dieser Etat erhält sicher die Mehrheit des Hauses, und wenn derselbe durch wiederholte Bewilligung im zweiten und dritten Jahr der Legislaturperiode als Ordinarium anerkannt ist, so bildet er an sich eine gesetzliche Grundlage für die Armee, welche einem eigentlichen Organisationsgesetz zwar an Sicherheit nicht gleichkommt, aber immer noch besser ist wie ein von Haus aus ungenügendes Organisationsgesetz, welches der Militärverwaltung die Hände bindet und finanziell nicht Genügendes bietet. Sollten bei den eventuellen Etatsberatungen Abstriche versucht werden, dann erst wäre der Moment, die Kabinettsfrage zu stellen. Ist der ordentliche Etat mehrmals bewilligt, so könnte dann im zweiten oder dritten Jahr dieser Legislaturperiode dasselbe Organisationsgesetz mit den dort gewonnenen Zahlen vorgelegt werden. Ein Provisorium ist weder von der Regierung noch von der rechten Seite unter keinen Umständen vorzuschlagen; wird ein solches von der liberalen Seite gebracht, so müßte es auf mindestens neun Jahre fixiert werden. * Die namentliche Abstimmung über das Reichsmilitärgesetz fand in der Sitzung des Reichstags vom 14. April 1874 über § 1 (einschließlich eines Amendements von Bennigsen) statt. Bei der Abstimmung waren zugegen 371 Mitglieder. 149 Nationalliberale, 33 Reichspartei, Mit Ja stimmten 20 Konservative, 13 Fortschrittspartei, 224 Mitglieder 1 Zentrum, 8 keiner Fraktion Angehörige

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88 Zentrum, 30 Fortschrittspartei, 12 Polen, Mit Nein stimmten 7 Sozialdemokraten, 146 Mitglieder 4 Welfen, 2 Elsässer, 3 keiner Fraktion Angehörige. Der Abstimmung enthielt sich ein Mitglied. In der Sitzung vom 17. April 1874 hat alsdann keine namentliche Abstimmung über die Militärvorlage mehr stattgefunden.

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II Abstimmung des Reichstags über den Antrag von Hoverbeck betr. die Verhaftung von Abgeordneten7. Über den Antrag von Hoverbeck vom 16. Dezember 1874: Der Reichstag wolle beschließen zu erklären: „Behufs Aufrechterhaltung der Würde des Reichstags ist es notwendig, im Wege der Deklaration resp. Abänderung der Verfassung die Möglichkeit auszuschließen, daß ein Abgeordneter während der Dauer der Sitzungsperiode ohne Genehmigung des Reichstags verhaftet werde“ wurde namentlich nicht abgestimmt. Dagegen wurde in der Sitzung vom 16. Dezember 1874 über einen Antrag Becker, nach welchem die durch den Fall Majunke angeregte Frage durch die Strafprozeßordnung Erledigung finden sollte, in namentlicher Abstimmung beschlossen. Der Antrag wurde abgelehnt mit 158 gegen 151 Stimmen (3 Stimmenthaltung). Alsdann wurde in einfacher Abstimmung der Antrag von Hoverbeck angenommen, welcher eine zweite Abstimmung erforderlich machte, da er nicht gedruckt vorlag. Diese Abstimmung erfolgte am Tage darauf, den 17. Dezember 1874. In dieser (33.) Sitzung wurde zwar (Dr. Lucius) namentliche Abstimmung beantragt, deren Zulässigkeit aber abgelehnt und sodann der Antrag von Hoverbeck in einfacher Abstimmung angenommen.

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III „Krieg in Sicht“-Artikel der „Post“ vom 8. April 18748. Ist der Krieg in Sicht? Seit einigen Wochen hat sich der politische Horizont mit dunklem Gewölk bezogen. Zuerst kamen die starken Pferdeankäufe für französische Rechnung, welchen die deutsche Regierung ein Ausfuhrverbot entgegensetzen mußte. Dann wurde man aufmerksam auf die starke Vermehrung der Cadres des französischen Heeres, welche die Nationalversammlung zu Versailles, wie absichtlich versteckt zwischen die Verhandlungen zur Begründung der neuen Verfassung, beschloß. Endlich kamen die französischen Kommentare zu der Reise des Kaisers von Österreich nach Venedig, der unverhohlene Jubel, dem sich die französische Presse bei diesem Anlaß hingab. Alle diese Momente hat nun ein Brief aus Wien, welchen die Kölnische Zeitung am 5. April an der Spitze ihres Blattes veröffentlichte, zu einem Gesamtbild der jetzigen Sachlage zusammengefaßt und ergänzt, das in sehr ernsten Farben gehalten ist. Danach unterliegt es keinem Zweifel, daß die französische Heeresorganisation ein Werk ad hoc, das heißt für einen baldigen Krieg ist, keineswegs aber eine auf die Dauer berechnete, auf die Dauer erträgliche Reform. Die Koalition der Orleanisten und Republikaner, deren Werk die französische Februarverfassung ist, hat nach demselben Gemälde zum trait d’union die unmittelbare Vorbereitung des Revanchekrieges. Was Österreich betrifft, so steht Graf Andrassy zwar unerschütterlich aufseiten der deutschen Allianz; aber eine mächtige Partei im Heere und am Hofe, vor allem in der hohen Geistlichkeit, arbeitet gleichzeitig an einem Revanchebündnis mit Frankreich und an einem Ersatz der jetzigen dualistischen Verfassung, sei es durch einen aristokratisch-hierarchischen Föderalismus, sei es durch eine höfisch-aristokratisch-hierarchische Zentralisation. So scheint denn die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß wenigstens von den Mitgliedern dieser Partei die Kaiserreise nach Venedig zur Sondierung der italienischen Regierung benutzt wird, inwieweit dort der Boden vorhanden zu einer unter päpstlicher Ägide gegen Deutschland gerichteten Tripelallianz. Der Boden aber ist nach dem Wiener Brief der Kölnischen Zeitung allerdings vorhanden, denn zahlreiche Kreise des offiziellen Italien ersehnen 8

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nichts lebhafter als eine Anerkennung des Letzteren durch das Papsttum, selbst um den Preis einer großen Undankbarkeit gegen Deutschland. So das Gemälde in der Kölnischen Zeitung. Wir sind weit entfernt, die Richtigkeit desselben im Ganzen in Abrede zu stellen. Wir vermögen dasselbe durch Züge zu ergänzen, die wir unserer eigenen Beobachtung entnehmen, während wir andere Züge allerdings für irrig halten. Wir halten für sehr wahrscheinlich, daß der bekannte Brief des Grafen von Chambord vom 27. Oktober 1873, welcher die zur Aufrichtung des legitimen Thrones bereite Majorität von Versailles zersprengte, wesentlich mit eingegeben war durch den Gedanken, daß die Annahme dieses Thrones der augenblickliche Krieg sei. Wir halten für sehr wahrscheinlich, daß Mac Mahons bald darauf ausgesprochene Forderung, seiner Präsidentschaft eine bestimmte Dauer zu verleihen, deren Umfang der Marschall anfangs auf zehn Jahre bemessen wollte, vor allem dem Wunsche Mac Mahons entsprang, den Revanchekrieg als Staatsoberhaupt zu erleben und zu leiten. Wir halten sogar für wahrscheinlich, daß in den einflußreichen Kreisen der französischen Armee der Gedanke vorherrschend ist, daß eine Krone auf dem Schlachtfelde erworben werden müsse oder doch am besten von einer siegreichen Armee vergeben werden könne. Woran wir dagegen nicht glauben, ist, daß die unmittelbare Vorbereitung auf den Revanchekrieg das Motiv zum Bündnis der Republikaner und Orleanisten bei der jüngsten Verfassungsbildung gegeben habe. Wir denken nicht so gering von der Einsicht der republikanischen Führer, um zu glauben, daß diese Männer sich nicht sagen, was ein unter klerikalen Auspizien durch klerikale Diplomatie und klerikale Generale zum Ziele geleiteter Revanchekrieg aus der Republik machen würde. Wir bleiben vorläufig bei unserer Ansicht stehen, daß das Motiv der Republikaner bei jedem Bündnis die Absicht gewesen, Mac Mahon an den Rechtsboden der Republik zu binden und die anarchischen Befürchtungen von der Republik, welche die Bevölkerung dem Bonapartismus in die Arme treiben, zu beseitigen. Wir halten es für fraglich, ob eine republikanische Majorität in der Wahlkammer der neuen Verfassung den Krieg unter Führung Mac Mahons und der Orleanisten-Prinzen zu beschleunigen bereit wäre. Wir glauben eben deshalb, daß die Kriegspartei in Frankreich den Ausbruch des Krieges sogar vor Auflösung der jetzigen Nationalversammlung ins Auge faßt. ‒ Den Ausführungen der Kölnischen Zeitung hinsichtlich Österreichs und Italiens haben wir nichts hinzuzusetzen. Wenn wir demnach unsere an die Spitze gestellte Frage: Ist der Krieg in Sicht? beantworten sollen, so müssen wir sagen: d e r K r i e g i s t a l l e r ­ dings in Sicht, was aber nicht ausschließt, daß die 474

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Wo l k e s i c h z e r s t r e u t . Ob es den ultramontanen Intrigen in Österreich gelingt, Andrassy zu stürzen, ist nur an sich fraglich, es ist auch fraglich, welche Wirkung dieser Sturz auf die Bevölkerung in Ungarn wie in Österreich haben würde. D e n n o c h k a n n m a n d i e M ö g l i c h k e i t n i c h t a b l e u g n e n , daß die Heereskreise, deren Stimmung der kürzlich veröffentlichte Brief des Erzherzogs Salvator abspiegelte, i m s t a n d e sein könnten, den Staat zu einer Aktion in ihrem Sinne f o r t z u r e i ß e n . Wa s I t a l i e n b e t r i f f t , s o w e i ß m a n , d a ß i m Si n n e d e r m e i s te n It a l i e n e r d a s Pap s ttu m b e i d e s i s t : e i n nationaler Feind und ein nationaler Stolz. Die heißesten Wü n s c h e d i e s e r I t a l i e n e r w ä r e n e r f ü l l t , w e n n d a s P a p s t tum, ohne den Nationalstaat zu hindern, nur noch der Stolz der Nation sein wollte. Das Papsttum ist doch im G r u n d e n i c h t s a n d e r e s a l s d i e We l t h e r r s c h a f t d e r i t a l i e n i s c h e n P r ä l a t u r, wie dies kürzlich der Abgeordnete Gneist ausdrückte. Um den Preis, daß das Papsttum zu Gunsten Italiens auf seinen italienischen Landbesitz verzichtet, um seine Weltherrschaft, ungestört von Italien, allein ins Auge zu fassen, wird der g r ö ß t e Te i l d e r h ö h e r e n K l a s s e n It a l i e ns z u e i n e m Bü n d n i s ge ge n D e ut s ch l an d v o l l k o m m e n b e r e i t s e i n . Und dennoch gehört viel dazu, einen solchen Entschluß zu fassen, da, wo er gefaßt werden muß, und e r i s t i n d i e s e m A u g e n b l i c k n o c h n i c h t g e f a ß t . Ob Frankreich, ohne die österreichisch-italienische Bundesgenossenschaft sicher zu haben, den Krieg beginnen würde, läßt sich nicht sagen. Die Vereitelung dieser Bundesgenossenschaft, der Sieg der republikanischen Partei könnte den Krieg hinausschieben. Vielleicht legt man uns die Frage vor, warum wir weitläufig eine Möglichkeit erörtern, die sich vielleicht nicht erfüllt und deren Nichterfüllung wir wünschen. Es gibt Leute mit der Ansicht, daß, wenn das Dach eines Hauses brennt und eine gute Feuerwehr in Sicht ist, kein Grund sei, die Schlafenden in den unteren Stockwerken zu wecken. Unsererseits sind wir nicht der Meinung, diesen Rat auf das deutsche Volk anwenden zu sollen. Wir halten es nicht für wünschenswert, die Gemüter zu beunruhigen und unter die Waffen zu rufen. Aber wir halten es auch nicht für angebracht, der deutschen Nation zu verschweigen, welches ihre Situation ist und welchen Gefahren ihre Staatsleitung zu begegnen hat. Es i s t n ö t i g , d a ß w i r a l l e lernen, unsere Lage zu würdigen und unser Benehmen j e d e n Ta g d a n a c h e i n z u r i c h t e n . 475

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IV Antrag Dr. Lucius an den Reichstag wegen des Terrains für das Reichstagsgebäude. 5. Februar 18769. Der Reichstag wolle beschließen: In Erwägung, daß derselbe den Grund und Boden des krollschen Etablissements am Königsplatz hierselbst nebst dem angrenzenden Terrain als die geeignetste Stelle für die Errichtung eines Reichstagsgebäudes nicht ansieht ‒ soll eine aus sieben Mitgliedern bestehende Kommission eingesetzt werden, welche unter dem Vorsitz des Präsidenten des Reichstags 1. eine Revision des Bauprogramms vom 18. November 1871 veranlaßt, 2. weitere Ermittlungen anstellt, ob nicht ein geeignetes Terrain in zentraler Lage für den definitiven Bau zu erwerben ist, 3. in der nächsten Session über das Ergebnis Bericht erstattet.

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V Thronrede zum Schluß des Reichstags. 22. Dezember 187610. Geehrte Herren! Bei dem Schlusse der vierten und letzten Session der zweiten Legislaturperiode des Reichstags darf Ich Sie auffordern, mit Mir einen befriedigenden Rückblick auf die Ergebnisse Ihrer Tätigkeit zu richten, um uns zu vergegenwärtigen, in welchem Maße Ihre und der verbündeten Regierungen gemeinsame Arbeit im Laufe der letzten drei Jahre den Ausbau der verfassungsmäßigen Grundlagen des Reichs gefördert hat. Durch das Reichsmilitärgesetz ist die Organisation des deutschen Heeres festgestellt und damit eine zuverlässige Gewähr für die Unabhängigkeit des Vaterlandes und für seine berechtigte Weltstellung geschaffen worden. Auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Interessen hat das Bankgesetz für die Regelung der Kreditverhältnisse und des Geldumlaufs einheitliche Ordnungen eingeführt, von deren Wirksamkeit Handel und Verkehr eine stetige und nachhaltige Förderung erwarten dürfen. Zugleich ist die Gesetzgebung darauf bedacht gewesen, ihre Fürsorge für die arbeitenden Klassen durch die Organisation der eingeschriebenen Hilfskassen zu betätigen. Von nicht geringerer Bedeutung ist das in der ablaufenden Legislaturperiode Geschaffene für die Pflege der geistigen Interessen der Nation. Die Rechte und Pflichten, welche sich an die literarische Tätigkeit knüpfen, sind durch das Gesetz über die Presse neu geordnet. Der Schutz des geistigen Eigentums hat durch die Gesetze über das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste, an Mustern und Modellen eine lange entbehrte Erweiterung erhalten. So wertvoll aber auch die Ergebnisse Ihrer früheren Sessionen in den genannten und in anderen Beziehungen waren, so werden sie doch an Bedeutung überragt durch die große Aufgabe, welche Ihnen auf dem Gebiete der Justizgesetzgebung gestellt war. Nachdem eine Revision des Strafgesetzbuchs in der vorigen Session stattgefunden hatte, fiel der heute schließenden die Erledigung der Gesetzentwürfe zu, welche die Gerichtsverfassung, die Zivil- und Strafprozeßordnung und die Konkursordnung regeln. Diese Entwürfe sind von Ihren Kommis10 S. o. S. 97.

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sionen mit angespanntestem Fleiß und mit der eingehendsten Sorgfalt geprüft worden, und der Reichstag hat die Beratungen über diese Gesetze mit dem Eifer und der Hingebung gepflogen, wie sie der großen nationalen Aufgabe würdig waren. Bei einem so umfangreichen und bedeutungsvollen Werke mußten in der ersten Beurteilung die Meinungen über viele und wichtige Punkte notwendig in dem Maße auseinandergehen, wie es der Verbreitung und der Vielseitigkeit juristischer Durchbildung in allen Teilen unseres Vaterlandes entspricht. Dennoch ist es zu Meiner aufrichtigen Freude gelungen, alle Meinungsverschiedenheiten im Wege der Verständigung unter Ihnen und mit den verbündeten Regierungen auszugleichen und die Verhandlungen zu einem befriedigenden Abschluß zu bringen. Das Gefühl des Dankes für die Bereitwilligkeit, mit welcher Sie, geehrte Herren, den verbündeten Regierungen zu dieser Verständigung entgegengekommen sind, ist in Mir um so lebhafter, je höher Ich den Gewinn anschlage, welcher aus dem Gelingen dieses Werks für unser nationales Leben erwachsen muß. Durch die stattgehabte Verabschiedung der Justizgesetze ist die Sicherheit gegeben, daß in naher Zukunft die Rechtspflege in ganz Deutschland nach gleichen Normen gehandhabt, daß vor allen deutschen Gerichten nach denselben Vorschriften verfahren werden wird. Wir sind dadurch dem Ziel der nationalen Rechtseinheit wesentlich näher gerückt. Die gemeinsame Rechtsentwicklung aber wird in der Nation das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit stärken und der politischen Einheit Deutschlands einen inneren Halt geben, wie ihn keine frühere Periode unserer Geschichte aufweist. Die Rechtseinheit auch auf dem Gebiete des gesamten bürgerlichen Rechts herbeizuführen, wird der Beruf der kommenden Session sein. Ich entlasse Sie, geehrte Herren, indem Ich Ihnen für Ihre angestrengte und erfolgreiche Arbeit wiederholt im Namen der verbündeten Regierungen den wärmsten Dank ausspreche, in dem festen Vertrauen, daß, auch wenn der Reichstag sich wiederum hier versammelt, es uns vergönnt sein wird, unsere Arbeiten ausschließlich den friedlichen Aufgaben der inneren Entwicklung des Reichs zuzuwenden. Der bisherige Fortgang der Verhandlungen der europäischen Mächte über die im Orient schwebenden Fragen berechtigt Mich zu der Hoffnung, daß es Meinen Bemühungen und den einander entgegenkommenden friedlichen Intentionen der an der Entwicklung der Dinge im Orient unmittelbar beteiligten Mächte gelingen werde, die schwebenden Fragen ohne Be478

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einträchtigung der guten Beziehungen zu lösen, welche gegenwärtig unter ihnen obwalten. Ich werde, gestützt von dem Vertrauen, welches Deutschlands friedliebende Politik sich erworben hat, im Wege freundschaftlicher und selbstloser Vermittlung mit Gottes Hilfe auch ferner dazu mitwirken.

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VI Memoire des Staatsministers Friedberg über die Regentschaft Wilhelms I.11. Im Sommer 1857 erlitt der König Friedrich Wilhelm IV. nach einer Kur in Marienbad an der Hoftafel in Pillnitz einen Schlaganfall. Der Ernst der Sache wurde verheimlicht. September 1857 blieb der König beim Festmahl in Merseburg mitten in einem Toast auf den König von Sachsen stecken, erholte sich aber wieder. 2. Oktober eine Conseilsitzung, in welcher nach damaligem Gebrauch dreizehn Todesurteile zum Vortrag kamen, von welchen er elf bestätigte und zwei in lebenslängliches Zuchthaus verwandelte. 4. Oktober wurde wegen Unwohlseins eine nach Schlesien zum Besuch der Augustenburger projektierte Reise aufgegeben. 8. Oktober. Erstes ärztliches Bulletin. 11. Oktober. Todesgefahr. 14. Oktober. Besserung. Der Geheime Kabinettsrat Illaire schreibt an das Staatsministerium, von Regierungsgeschäften könne nicht die Rede sein, auch sei der Zeitpunkt nicht nahe, wo über die Vertretung mit Sr. Majestät zu verhandeln möglich sein werde. 26. Oktober kommt in der Gesetzessammlung ein allen unerwarteter Erlaß, wodurch der Prinz von Preußen mit der Stellvertretung „in der oberen Leitung der Staatsgeschäfte“ beauftragt wurde. Der Prinz von Preußen verkündet gleichzeitig, daß er die ihm übertragenen Regierungsgeschäfte unter gewissenhafter Beobachtung der Landesverfassung und Gesetze nach den ihm bekannten Intentionen Sr. Majestät führen werde. Beide Erlasse sind vom Staatsministerium kontrasigniert. Der berüchtigte Redakteur Lindenberg wird vom Regenten in Posen auf Minister Westphalens Vorschlag angestellt, obschon er den Prinzregenten frech angegriffen hatte. Der Regent verkehrt nicht persönlich mit dem Ministerium, sondern nur mit Manteuffel. Die Stellvertretung wird auf drei Monate verlängert, das Wort „Regentschaft“ ist in Sanssouci streng verpönt. Es wird aber der Artikel 56 der Verfassung diskutiert: „Beauftragt durch den König“ und „Ergreifung der Regierung durch den Prinzen kraft eigenem agnatischen Recht.“ Der Fall der dauernden Verhinderung 11 S. o. S. 318.

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wurde noch nicht anerkannt. „Keine auch nur zeitweise oder bedingte Absetzung Sr. Majestät,“ hieß es in den Kreisen derer, welche mit Einsetzung der Regentschaft, also mit dem Ende der Stellvertretung einen Systemwechsel befürchteten ‒ die Führerin dieser Partei war die Königin Elisabeth, unterstützt von Raumer und Westphalen. „Die Rechtsfrage wurde zur Loyalitätsfrage umgefälscht.“ 8. August 1858 erhält das Staatsministerium ganz unerwartet ein Schreiben des Prinzen von Preußen aus Babelsberg, worin gesagt war: Am 23. Okto­ ber läuft die mir übertragene Stellvertretung ab. Ein Jahr ist verflossen, eine sichere Aussicht auf Wiederübernahme der Geschäfte seitens Sr. Majestät nicht vorhanden. Frage, ob dieser Zustand der Landesverfassung entspricht und ob er, ohne die unter Umständen zu befürchtende Initiative des Landtags zu provozieren, verlängert werden kann. Verlangt eine gutachtliche Äußerung des Staatsministerii. NB. Gleichzeitig war die Königin von England und der Prinz Consort in Babelsberg anwesend. 25. August fand im Staatsministerium die erste Beratung statt, ohne daß es zu einer klaren Aussprache kam. Einige Tage später eine zweite Beratung, bei welcher der Ministerpräsident und der Justizminister (Manteuffel und Simons) sich für Einsetzung der Regentschaft aussprechen, ebenso von der Heydt. Westphalen wollte Vertagung der Frage bis nach den Abgeordnetenwahlen. Manteuffel II. dagegen wollte gerade die Frage: König oder Regentschaft? mit zur Wahlfrage machen. Es wurde gegen Westphalens Stimme beschlossen, die Regentschaft aus dem doppelten Titel der Übertragung durch den König und der Ergreifung aus eigenem agnatischen Recht hervorgehen zu lassen. Der Staatsministerialbeschluß kam am 6. September in die Hände des Prinzen von Preußen und wurde sofort von ihm dem König übergeben. Eine Unterredung fand zwischen dem Prinzen und der Königin durch Zufall nicht mehr statt vor seiner am selben Abend stattfindenden Abreise nach Schlesien. Manteuffel begab sich zweimal nach Sanssouci zur Audienz, ohne von der Königin empfangen zu werden. Er reiste dann dem Prinzen nach Schlesien nach, welcher von schweren Zweifeln bedrückt war. Er hatte Gutachten von Uhden erfordert, welcher sich gegen die Regentschaft für Stellvertretung erklärt hatte, „wie etwa ein Gutsherr die Administration seines Rittergutes einem Verwalter übertragen könne“. 20. September. Conseilsitzung im Palais, wobei der Justizminister als Referent fungierte und die Regentschaft befürwortete, von Westphalen vertrat die entgegengesetzte Ansicht, die übrigen Minister stimmten nur ab. 481

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Der Prinz sprach keine Ansicht aus, meinte nur, die Verfassung habe wohl eine Lücke, als sie nur von einer dauernden, nicht von einer lang andauernden Verhinderung spreche. 22. September geht ein Schreiben der Königin an den Hausminister von Massow ein mit der Bitte, dasselbe seinen Kollegen, den Ministern, mitzuteilen. „Vorgestern hat mir der Prinz von Preußen das Ergebnis der letzten Ministerkonferenz: die Entscheidung für die Regentschaft des Prinzen, mitgeteilt. Ich werde die schwere Pflicht: den König auf eine ihm ganz unerwartete Entscheidung vorzubereiten und seine Zustimmung zu erlangen, gewissenhaft und nach Kräften erfüllen, wenn auch mit schwerem Herzen und mit großen Sorgen für sein Wohl. Niemand und vor allem mein Gewissen soll mir etwas vorwerfen können, aber ich verwahre mich feierlichst gegen die königliche Familie und den Staat vor jeder Verantwortlichkeit für die traurigen Folgen, die daraus für den Gesundheitszustand des Königs und für seine ohnehin schon trübe Stimmung entstehen können. Folgen, auf welche die Ärzte wiederholt und dringend aufmerksam machten. Die Räte der Krone, deren Stimmen in dieser Angelegenheit die Entscheidung gaben, müssen die Verantwortlichkeit tragen.“ Der Prinz hatte also seinen Entschluß für die Regentschaft gefaßt und ihn unmittelbar nach der Conseilsitzung am 20. September der Königin mitgeteilt. Damit war jeder Widerstand gebrochen. Es wurde der Königin eine Urkunde übermittelt, in welcher der König den Prinzen von Preußen ersuchte, „bei seiner noch immer fortdauernden Verhinderung die Regierung selbst zu führen … die königliche Gewalt in der alleinigen Verantwortlichkeit gegen Gott in seinem Namen als Regent auszuüben.“ Ihre Majestät übernahm es, den König zu gelegener Stunde zur Vollziehung zu bestimmen. Erst am 6. Oktober fand sich der Moment. Sie trug ihm vor, was von ihm verlangt wurde. Schweigend hörte der König zu, starrte auf das ihm vorgelegte Papier, unterschrieb es. Dann war er, beide Hände vor das Gesicht drückend, in bittere Tränen ausgebrochen und hatte das Zimmer verlassen. 8. Oktober besuchte der König die Kunstausstellung mit anscheinend lebhaftem Interesse. 9. Oktober erfolgte die Publikation ohne Westphalens Unterschrift. Flottwell trat an seine Stelle. 20. Oktober Eröffnung der Kammern durch den Regenten. 482

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25. Oktober wurde die Notwendigkeit der Regentschaft anerkannt mit beredtem Schweigen. 26. Oktober leistete der Regent den Eid auf die Verfassung. Ein Brief des Regenten vom 7. Oktober 1858 an seine Gemahlin lautet: „Der entscheidende Schritt ist also geschehen! Gott gebe seinen Segen zu dem ernsten Werk, was nun durch mich für das Vaterland beginnt. Du kannst denken, in welcher Aufregung ich bin und wie ich nur im Gebet mich stärken und kräftigen konnte und mich Gottes Barmherzigkeit anheimgeben. Am 5. Oktober konnte ich nicht nach Sanssouci, weil bis 3 Uhr die Bearbeitung des Abkommens dauerte wegen des Hofstaats und die Königin mich nicht sehen wollte, bis diese Angelegenheit geschlichtet ist. Am 6. überbrachte mir Massow die Einwilligung der Königin in einem Projekt, und so fuhr ich denn um 2 Uhr hinüber. Die Königin war wie immer herzlich und freundlich für mich. Sie findet den König seit mehreren Tagen nicht ganz nach Wunsch, indem er deprimierter wie früher ist und viel von seinem Tod sprechen soll, wissend, daß er einen Rückfall nicht überleben werde. Da es gerade jetzt die traurigen Jahrestage sind, so mag ihn dies doppelt beschäftigen. Die Königin fand ich nunmehr ganz entschieden, dem König die Vorlage zu machen, immer noch schlimme Folgen befürchtend. Ich sah darauf den König, den ich viel besser fand als die zwei letzten Male, indem er bei meinen Erzählungen von Hannover und Warschau nicht eine Konfusion machte und ganz klar folgte. Als ich nun aber um ½ 4 aus der Ausstellung komme, fand ich das merkwürdige Dokument vom König unterschrieben mit einem Billett der Königin. Sie schreibt, daß, als der König heute die Abreise auf den 12. festgesetzt habe, sie ihm gesagt, daß er nun auch an meine Stellung denken müsse und daß bei der langen Abwesenheit ich doch wohl größere Machtvollkommenheit bedürfe und auch der Name Regent nötig sei. Der König habe das sofort eingesehen und sich das Papier vorlegen lassen und unterzeichnet, ohne alle Aufregung. Nach dem Unterschreiben aber hat er sehr geweint und sich lange die Augen mit den Händen bedeckt, ein Beweis, wie richtig er aufgefaßt und welche Konsequenzen er selbst an den Akt knüpft. Gott segne ihn in seiner schweren, schweren Lage und sei ihm gnädig. Er segne die Königin, daß sie den Kampf siegreich mit sich gekämpft hat, sie hat den Dank der Nation sich erworben. So ist denn alles genau so gekommen, wie ich es seit dem Juni vorher483

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gesehen hatte, und in meinem Innern habe ich nie gezweifelt, daß Gott es so fügen würde, wenngleich manche bedenkliche Augenblicke sich einstellten. Wenn somit vielen ein Stein vom Herzen fällt, so beginnt für mich nun erst die wahre Sorge und Qual, die mir schwerlich wieder entnommen werden wird. Alle Äußerungen der Umgebung des Königs gehen doch eigentlich dahin, daß eine Abnahme der geistigen Kräfte im Allgemeinen stattfindet und das Stumpfwerden zunimmt. Eine schreckliche Lage für uns, was man unter solchen Umständen eigentlich wünschen muß. 1000 Dank für Deinen Brief No. 1. Ich schließe mit der Bitte, daß Du für mich und das Vaterland und das schmerzlich berührte Königspaar beten möchtest. Dein W. PS. Westphalen ist entlassen. Flottwell ad interim bestimmt.“

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VII Briefe und Belege. K i s s i n g e n 31. Juli 1879. Euerer Exzellenz geneigtes Schreiben vom 29. c. habe ich zu erhalten die Ehre gehabt und meinem Vater vorgelegt: derselbe war für diese Mitteilung Ihrer Ansichten sehr dankbar; er bemerkte dazu im Anschluß an das, was Euerer Exzellenz durch Graf Rantzau vorgetragen ist, daß er die Wahlkampagne in der Regierungspresse gerade jetzt begonnen sehen möchte, weil die ländliche Bevölkerung jetzt der Ernte wegen zu Hause wäre und Zeitungen lese: für diese gebe es keine sauere Gurkenzeit wie für die Städter, es käme auf sie aber am meisten an. Er meint auch, es wäre fehlerhaft, rein defensiv zu verfahren, gerade die Persönlichkeiten der Berliner Parteiführung dürften nicht geschont werden: man müßte sie ohne Unterlaß alle Tage angreifen und als Fortschrittler kennzeichnen, wie Euere Exzellenz das ja auch selbst empföhlen: er hätte es nie praktisch gefunden, Besiegte zu schonen, von denen man doch wüßte, daß sie niemals Freunde werden könnten: dadurch schwächte man sich nur selbst. Das Thema, welches von unserer Seite fortwährend vorgebracht und als Basis unserer ganzen Agitation genommen werden müßte, wäre, den Wähler (durch die Provinzialkorrespondenz voran) darüber aufzuklären, daß die Wahl von Leuten der Farbe Forckenbecks, Stauffenbergs, Laskers, Richters gleichbedeutend wäre mit Freihandel, wirtschaftlichem Elend und hohen direkten Steuern. Dies könnte gar nicht oft genug wiederholt werden. Das Einlenken der „Kölnischen“ und „Magdeburger Zeitung“ bewiese nur, daß die Liberalen sich schwach fühlten: diesen Versuchen gegenüber, die nationalliberale Partei als schuldlos darzustellen, müßte man immer nur auf den seit zwei Jahren in ihrer bedeutendsten Parteipresse herrschenden Ton nicht nur gegen die „anonyme“ Regierung, sondern gegen den Kanzler persönlich, hinweisen: dies Verfahren bliebe unvergessen. Für Euerer Exzellenz an meinen Vater gerichtetes Schreiben vom 28. c. ist derselbe gleichfalls sehr dankbar, und mit allem einverstanden, was Sie darin sagen. Die Jagdordnung behält er hier und wird sie gelegentlich gern durchlesen. (gez.) Graf H. B i s m a r c k .

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Va r z i n d. 26. Oktober 1879. Eurer Exzellenz an mich gerichtetes geneigtes Schreiben vom 24. c. hat dem Herrn Reichskanzler vorgelegen, welcher dazu Folgendes bemerkte: „Es ist dringend wünschenswert, daß die Regierung an die fraglichen Angelegenheiten ‒ Fraktionsbildung und Präsidentenwahl ‒ nicht zu nahe herangeht und dadurch optiert, da sie sich durch Optieren von denen, für die sie optiert, abhängig macht. Aus den bisherigen Nachrichten ist nur das zu entnehmen, daß die Altkonservativen brauchbare Bundesgenossen nicht werden oder doch nicht bleiben würden, da nicht Staats-, sondern Fraktionspolitik von ihrer Seite der Regierung zugemutet wird. Es würde sich daher nicht bezahlen, wenn wir ihnen eine Kombination, die wir für zweckmäßig halten, opfern wollten. Außerdem ist es wünschenswert, Angriffe gegen den Minister von Putt­ kamer in a c h t b a r e n Blättern nach Möglichkeit zu verhüten. Durch letztere Bezeichnung schließe ich fortschrittliche Blätter einschließlich der Nationalzeitung aus, und muß es uns gleichgültig bleiben, was die sagen. Die achtbaren aber müssen Puttkamer doch wenigstens Zeit lassen, in noch anderer Messe als durch Reisereden Stellung zu den Fragen zu nehmen. Auf der anderen Seite müßte man nach Kräften hindern, daß die Nationalliberalen en bloc von rechts her geschmäht werden. Die objektive Situation ist gegenwärtig, daß Nationalliberale, Zentrum und Konservative drei ziemlich gleich starke Fraktionen sind, über denen die Freikonservativen als ein ausschlaggebendes Element schweben. Dieses vorhandene Verhältnis sollte sich objektiv auch in der Präsidentenwahl widerspiegeln, indem ein Präsident aus jeder der drei Fraktionen genommen wird. Die Frage, wer die e r s t e Stelle bekommt, müßte sich nach der persönlichen Brauchbarkeit des Betreffenden normieren. Benda würde ich für eine sehr beklagenswerte Wahl halten ‒ aus Schwäche nach links gravitierend und ganz nutzlos. Die Präsidentenwahl ist in erster Linie nicht Regierungssache und wir wollen uns nicht die Finger daran verbrennen. Wenn wir jetzt schon optieren zwischen den verschiedenen Anlehnungen, die nützlich oder möglich werden können, so haben wir s p ä t e r keine Wahl mehr, sondern werden abhängig von der Seite, der wir jetzt das Übergewicht verschaffen, und diese Seite, mag es die konservative oder die liberale sein, wird dann die Regierung regieren wollen. Wir müssen uns vorderhand streng an die s a c h l i c h e und n i c h t an die p e r s ö n l i c h e Seite der Frage halten; dann bleiben wir stark durch das Gewicht der Sache, die wir vertreten. Ich werde dem Herrn Minister Lucius dankbar sein, wenn er mit Graf Stolberg und mit den übrigen Ministern, auch mit dem Geheimen Rat 486

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Tiede­mann in diesem Sinne sprechen will; mit Abgeordneten weniger. Daß uns Bennigsens Wahl erwünscht sein würde, ist bekannt. Für unsere Bedürfnisse genügt das, wenn wir uns nicht bestimmen lassen, eine andere Kombination regierungsseitig zu e m p f e h l e n und dadurch gegen Bennigsen einzutreten. Die ganze Präsidentenfrage ist in ihrem E r f o l g e n i c h t so sehr wichtig für die Regierung, wohl aber gefährlich, wenn die Regierung zu scharf zu derselben Stellung nimmt.“ Va r z i n 5. November 1879.

Geehrter Freund! Ich danke Ihnen verbindlichst, daß Sie sich des alten Ritsch erinnert haben; er ist einer solchen Anerkennung würdiger durch wirkliche Leistungen und Verdienste als viele andere und freut sich mehr darüber. Über die parlamentarische Situation bin ich nicht ohne Sorge. Der erste Anschnitt ist kein glücklicher, die Regierung wird aber wenig tun können, um ihn zu verbessern. Nach der durch die Präsidentenwahl gegebenen Verteilung werden die nihilistischen Fraktionen Fortschritt und Polen es in der Hand haben, der konservativ-klerikalen oder der freikonservativen-nationalliberalen Hälfte die Mehrheit zu geben. Der erste Fehler lag in der Fusion der konservativen; in jeder Flügelpartei verfällt die Führung immer den extremsten Elementen. Die prinzipielle Exklusion, welche die Freikonservativen dem Zentrum gaben, hat die Entscheidung über die Gruppierung verfrüht; es war besser, wenn dieselbe nicht durch theoretische, sondern durch sachliche Differenzen im Laufe der Sitzung erfolgte. Mit einer Majorität, deren Fortbestand von dem freien Willen des Zentrums abhängt, wird die Regierung nicht lange wirtschaften können, denn ich glaube kaum, daß das Zentrum durch irgendwelche Konzessionen jemals zu einer sicheren und dauernden Stütze irgendeiner Regierung gewonnen werden könnte, selbst wenn das Maß der m ö g l i c h e n Konzessionen für unsere Regierung ein größeres wäre. Auch zur Zeit Raumers und Mühlers hat die Fraktion Reichensperger jederzeit prinzipiell gegen jede Regierung in Preußen gestimmt, und doch war sie im Vergleich mit dem Zentrum patriotisch zu nennen, denn weder Mallinckrodt noch Reichensperger hätten damals mit Welfen und Polen ein gleich enges Bündnis zulässig gefunden. Eine Majorität, welche ohne das Zentrum keine mehr ist, bietet also der Regierung keine Sicherheit, eine andere ist aber nur möglich, wenn die 487

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konservative Partei ganz oder zu mehr als der Hälfte zu Kompromissen nicht nur mit der Reichspartei, sondern auch mit dem ehrlichen Teil der Nationalliberalen gebracht werden kann. Es wird das sehr schwierig sein, solange die jetzige konservative und die jetzige nationalliberale Fraktion ungeteilt bestehen. Die Fortschrittler unter nationalliberaler Maske, die Leute des Städtetages und der „großen“ liberalen Partei, mit anderen Worten die Republikaner, halte ich für ebenso unsichere und vielleicht noch gefährlichere Stützen als das Zentrum. Wenn die theoretischen Fraktionsgruppierungen, diese Art parlamentarischer Aktiengesellschaften, überhaupt nicht existierten, so würde sich an der Hand der Praxis die Gruppierung der Majoritäten besser und natürlicher machen. Es hängt die Heilung dieses Übels aber nicht von uns ab, vielleicht indessen die Milderung desselben, indem man die Differenzen zwischen den r e g i e r u n g s f ä h i g e n Fraktionen möglichst wenig akzentuiert und ihre Verbitterung durch die Presse vermeidet. Ich hoffe, daß die demnächstigen Abstimmungen über praktische Fragen den Landtag nach anderen Linien, als die der Fraktionsgrenzen sind, teilen werden und daß es dann vielleicht gelingt, die Wirkung der Fraktionskrankheiten zu mildern. Wenn die Sache im Sinne der Präsidentenwahl sich schroffer entwickelt, so fürchte ich, daß die Regierung schließlich zum Bruch mit einem Teil der köllerschen Majorität gegen ihren Willen gedrängt wird. Damit würden viele mühsam gewonnene Errungenschaften wieder verloren gehen und die „Laskerei“ von Neuem in den Vordergrund treten. Ich werde Ihnen, geehrter Freund, sehr dankbar sein, wenn Sie mich von Ihren Beobachtungen des Verlaufs der Krankheit auch ferner in Kenntnis halten wollen. Mit meiner Gesundheit geht es langsam besser, aber doch noch sehr schwach und nicht arbeitsfähig. In alter Freundschaft stets der Ihrige von Bismarck.

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Va r z i n 10. November 1879.

Euerer Exzellenz geneigtes Schreiben von vorgestern hat mein Vater erhalten und mich beauftragt, Ihnen seinen aufrichtigsten Dank dafür auszusprechen: Er hat sich gefreut, daraus zu sehen, daß Euere Exzellenz die Sachen im Allgemeinen günstig beurteilen, und hofft und wünscht, daß Sie recht behalten. Daß Herrn von Bennigsens Wahl zum Präsidenten nicht erfolgte, bedauert mein Vater nach wie vor, besonders weil es die gänzliche Abwesenheit von staatsmännischem Blick bei den Führern der konservativen Parteien bekundet und dies für die nächste Zukunft etwas Niederschlagendes hat. Mein Vater hätte gewünscht, daß Bennigsens Wahl unter allen Umständen erfolgte, und hatte geglaubt, daß sie vielleicht durchzusetzen gewesen wäre, wenn die Freikonservativen und Nationalliberalen einen Zentrumsmann hätten mitwählen wollen. Mit Euerer Exzellenz Antrag wegen der gänzlichen Aufhebung der Einfuhrbeschränkungen für holländisches Vieh im kommenden Frühjahr ist mein Vater im Sinne Ihrer diesbezüglichen Bemerkungen ganz einverstanden. Für die Landtagssession ist die Eisenbahnvorlage meinem Vater das Wichtigste, und er würde lieber jede andere Vorlage verschoben, als die Annahme dieser bis über Weihnachten verzögert sehen. ‒ Das Befinden meines Vaters hat sich gottlob so weit gebessert, daß meine Mutter nun morgen nach Berlin abreisen wird. Va r z i n , den 19. November 1879. Vertraulich! Ew. Exzellenz beehre ich mich das gef. Schreiben vom 17. d. M. unter Bezugnahme auf meine Marginalien beifolgend ergebenst zurückzusenden. Es wird für uns nicht tunlich sein, nach irgendeiner Seite hin den noch nicht vollständig in Kraft getretenen neuen Tarif schon jetzt zu Gunsten Österreich-Ungarns herunterzusetzen. Für das Allerbedenklichste auf diesem Gebiete halte ich die Schwankungen. Wir hätten schwerlich von den Kalamitäten des laufenden Jahrzehntes in dem Maße gelitten, wie es geschehen ist, wenn wir nicht in den vorhergegangenen zehn Jahren uns von unserer fünfzigjährigen Tradition losgesagt hätten und der Wendung der Sechzigerjahre verfallen wären. Das Einzige, was wir meines Erachtens Österreich-Ungarn in Aussicht stellen können, ist die Zusicherung, ihm gegenüber unsere Tarife nicht erhöhen 489

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und die Freiheit des Transit beibehalten zu wollen. Die Zölle auf Bodenproduktion werden meiner Ansicht nach in der Eigenschaft von Kampfzöllen gegenüber den Ländern des Prohibitivsystems, also namentlich Rußland und Nordamerika, w e s e n t l i c h e r h ö h t werden müssen. Ebenso halte ich für notwendig, die Freiheit der Durchfuhr, soweit Letztere die Wirkung einer Konkurrenz gegen gleichartige deutsche Produkte hervorbringt, gesetzlich aufzuheben. Wir können alsdann Österreich gegenüber ‒ und das wäre für dieses ein Vorteil von höchster Bedeutung ‒ die niedrigen Zölle des jetzigen Tarifs auf Bodenprodukte und die Transitfreiheit beibehalten, soweit die Sicherheit vor Rinderpest es zuläßt. Wenn wir Frankreich dann dasselbe einräumen müssen, so hat das für Bodenprodukte keine große Bedeutung. Ich beabsichtige einen Antrag auf Einführung von Kampfzöllen auf jene Produkte und auf Aufhebung der Transitfreiheit im obigen Sinne schon jetzt bei den Landesregierungen anzuregen und von deren Auffassung die Vorlage an den kommenden Reichstag abhängig zu machen. Ob wir außerdem der österreich-ungarischen Durchfuhr, ungerechnet der Konkurrenz, welche sie unseren gleichartigen Produkten im Westen Europas macht, noch Begünstigungen in den Eisenbahntarifen zuwenden können ‒ das muß von den Gegenkonzessionen abhängen, die uns Österreich bieten wird. Die österreichische Auffassung, daß unser Tarif nach unten hin, der österreichische aber nach oben hin beweglich sein solle, beweist nur die a n s p r u c h s v o l l e Ve r w ö h n u n g , mit welcher unsere Nachbarn auch hier ‒ wie in Rußland ‒ uns gegenüberstehen. Wir können demgegenüber nur erklären, daß wir außerstande sind, irgendwelche Abminderung unserer neuen Tarifsätze anzubieten, daß wir aber bereit sind, weitere Erhöhungen unserer Tarifsätze und die Besteuerung des Transit Österreich-Ungarn gegenüber außer Ansatz zu lassen, wenn uns von dort entsprechende Gegenkonzessionen gemacht werden. Erhöhungen der österreichischen Zölle auf unsere Industrieerzeugnisse müßten wir mit Erhöhung der Zölle auf österreichisch-ungarische Bodenprodukte beantworten, und ist darüber den Unterhändlern kein Zweifel zu lassen. Wenn Letztere etwa darauf rechnen sollten, daß wir dergleichen im Reichstage nicht durchbringen, so kann man sie darauf verweisen, daß die ähnliche Rechnung sich im vorigen Jahre als irrtümlich erwiesen hat und daß die öffentliche Meinung den Bestrebungen zum Schutze der deutschen Arbeit und Produktion auch ferner zur Seite stehen wird, auch fernere Wahlen würden beweisen, daß bei der Mehrheit der deutschen Nation die Freihandelskrankheit überwunden ist und daß nur 490

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noch die Publizistik und die Theorie mehr aus politischen als aus wirtschaftlichen Gründen daran leiden. Es ist n i c h t w a h r s c h e i n l i c h , daß ein für uns annehmbarer H a n ­ d e l s v e r t r a g mit Österreich-Ungarn j e t z t z u s t a n d e k o m m t , wir haben darauf erst dann Aussicht, wenn unsere Nachbarn längere Zeit hindurch gesehen haben werden, daß wir auf dem mit der diesjährigen Tarifgesetzgebung betretenen Weg fest beharren und vorwärtsgehen. Wenn ich mit dieser Überzeugung dennoch Unterhandlungen angeregt habe und deren freundnachbarliche Fortführung auch jetzt wünsche, so scheint mir diese Betätigung unseres guten Willens durch die Gegenwart und Zukunft unserer P o l i t i k geboten; aber einen Erfolg davon erwarte ich jetzt nicht, und überhaupt nicht, wenn wir nicht mit Einführung von Kampfzöllen gegen andere vorgehen und Österreich-Ungarn dann die Konzession einer Ausnahmestellung bieten können. (gez.) v o n B i s m a r c k . Va r z i n 24. November 1879. Verehrter Freund! Ich danke Ihnen verbindlichst für Ihre interessante Mitteilung vom 23. d. M. V. K. wird doch mit großer Vorsicht zu benutzen sein, denn ein deutschrussischer Staatsrat ist gewöhnlich noch russischer und freier von Skrupeln als ein echter Bartrusse. ‒ Arapow liebt uns nicht, und ich würde deshalb raten, den anderen russischen Staatsrat wenigstens zu verhindern, Trakehnen zu rekognoszieren und ihn ausweisen zu lassen, wenn er sich etwa dort umhertreibt. Zu den Zwecken, welche die russischen Kavalleriemassen an unserer Grenze in dem hoffentlich nicht bevorstehenden Kriegsfall haben, gehört namentlich auch der Überfall Trakehnens und sonstiger wertvoller Pferdebestände in dortiger Gegend; mit solchen Plänen trägt sich schwerlich das kaiserliche, aber doch das kriegsministerielle Rußland: Hoffen wir, daß der Einfluß des kaiserlichen der stärkere ist. Für die parlamentarischen Nachrichten bin ich Ihnen sehr dankbar und auch für deren geneigte Fortsetzung. In Bezug auf die e i n e fremde Sprache, Halbbildung u. s. w. teile ich ganz Ihre Ansicht; nur würde ich dann in der übrig bleibenden Sprache die bisherigen Ansprüche verdoppeln. Zwei und mehr fremde Sprachen vergessen die meisten Schüler nach dem Abgange vollständig; sollen sie aber von e i n e r für das Leben etwas behalten, so müssen sie in der auch mehr lernen als bisher. 491

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Ein Bericht über bayrisch-böhmischen Viehschmuggel ist mir n i c h t zugegangen, würde mich aber gewiß interessieren. In der Sonntagsnummer der „Post“ habe ich eine Korrespondenz aus Paris über den „Fall Gent“ gefunden, wie sie nach Ton und Inhalt in ein Blatt von der politischen Bedeutung der „Post“ nicht gehört. Die Redaktion sollte, ehe sie solche politische Korrespondenz an hervorragender Stelle abdruckt, sich fragen, ob sie damit die Politik der Regierung erschwert oder unterstützt. ‒ Unsere ganzen Bemühungen sind darauf gerichtet, die jetzigen französischen Staatsmänner am Ruder zu erhalten. Dies kann der „Post“ nicht unbekannt sein und sie unterschätzt ihre eigene Bedeutung, wenn sie glaubt, solche Angriffe auf Herrn Waddingtons Kabinett in ihre Spalten aufnehmen zu können. Mag die französische Regierung Mißgriffe begehen ‒ darum braucht die „Post“, die in Paris Eindruck macht, sie nicht anzugreifen. Unser Verhältnis zu Frankreich leidet durch solche Angriffe. Ich wäre sehr dankbar und Sie würden sich ein wahres Verdienst erwer­ ben, wenn Sie Ihren Einfluß benutzen wollten, um die Redaktion zur Unterstützung unserer auswärtigen Politik zu vermögen. Mit meiner Gesundheit geht es noch immer nicht besonders, und ich leide hauptsächlich an Mattigkeit und an neuralgischen Schmerzen. In freundschaftlicher Ergebenheit der Ihrige (gez.) v o n B i s m a r c k . Va r z i n 1. Dezember 1879.

Euerer Exzellenz geneigte Schreiben vom 28. und 30. v. M. hat mein Vater erhalten und mich beauftragt, Ihnen seinen verbindlichsten Dank dafür auszusprechen. Wegen des Entwurfs der Jagdordnung hat er bereits gestern ein längeres Schreiben an Euere Exzellenz gerichtet, welches wohl schon in Ihren Händen ist. Bezüglich eines Passus aus dem ersten Briefe wollte sich mein Vater noch eine Bemerkung erlauben: Er betrifft die Haltung, welche die Nationalliberalen bei der Präsidentenwahl nach Forckenbecks Niederlegung den Freikonservativen gegenüber eingenommen haben. Es würde ihm sehr lieb sein, wenn dasjenige, was Euere Exzellenz darüber schreiben, mehr als bisher in die Ö f f e n t l i c h k e i t träte und in der Erinnerung der Beteiligten aufgefrischt würde. Er stellt anheim, ob Sie das in einer geeignet scheinenden Form vielleicht veranlassen wollen. „Es würde 492

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das den Wünschen, welche ich mit der Präsidentenwahl Bennigsens verbinde, wenigstens einigermaßen entsprechen“ ‒ fügte mein Vater seinen obigen Bemerkungen dann ausdrücklich hinzu. Was die neuliche Lüge der „Post“ hinsichtlich der Jagdordnung und des Finanzministers etc. betrifft, so trug mein Vater mir noch auf, Ihnen zu schreiben, er hätte keinen Augenblick geglaubt, daß etwas daran wäre, er hätte nur beklagt, daß die „Post“ sich bei ihrer notorisch offiziösen Färbung dazu hergibt, solche Kuckuckseier aufzunehmen. Wenn Eure Exzellenz nun bemerken, daß Sie fast glauben mußten, es würden a b s i c h t l i c h verleum­ derische Gerüchte über Ihre Äußerungen etc. verbreitet, so sagte mein Vater, für ihn wäre das g e w i ß : er zweifelte nicht daran, daß F. in diesen Dingen einen berechneten Einfluß ausübte, um das Ministerium zu schädigen ‒ nicht etwa persönlich und unmittelbar, sondern nach seiner Gewohnheit durch die dritte Hand. „Ich fürchte,“ ‒ so schloß er ‒ „das alles ist weniger Taktlosigkeit von Kayßler als wissentliche Veranstaltung von F., der zu gewitzigt ist, um d i r e k t so etwas zu tun, aber doch die Mittel hat, um es, ohne kompromittiert zu werden, in geschickter Weise anzustiften.“ ‒ Es geht meinem Vater gottlob eine Kleinigkeit besser, aber er ist im Ganzen doch matter als seit Jahren und bedarf viel Ruhe! Va r z i n , 6. Dezember 1879. Euerer Exzellenz geneigtes Schreiben vom 3. d. M. hat mein Vater mit verbindlichstem Danke erhalten. Er ist leider nicht wohl genug, um Ihnen selbst darauf antworten zu können, und hat mich deshalb beauftragt, Ihnen zu sagen, daß er mit der von Ihnen beabsichtigten Trennung der Forst- und Domänenabteilung und der Selbständigmachung der Ersteren vollkommen einverstanden ist. Bezüglich des Schicksals der Eisenbahnvorlage will mein Vater gern hoffen, daß die optimistischen Anschauungen recht behalten ‒ er ist aber selbst immer nicht ohne Sorge, daß die Sache Verschleppungen unterliegen könnte, denn er kann nicht glauben, daß die Opposition in beiden Häusern des Landtags, gestützt von dem bis an höchste Stellen (Koblenz) reichenden Einfluß der Eisenbahndirektionen, irgend ein Mittel unversucht lassen sollte, um sie zu Fall zu bringen oder doch hinzuziehen. Euerer Exzellenz heute hier eingegangenes Schreiben über die Jagdordnung habe ich meinem Vater leider noch nicht vorlegen können, da er seit gestern infolge unerfreulicher geistiger Anstrengungen von Neuem erkrankt und heute sehr matt und voll Schmerzen ist. Ich hoffe auf baldige Besserung, 493

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aber Dr. Struck verlangt, daß er für die nächsten Tage überhaupt kein Aktenstück zu sehen bekommt, da es sonst gefährlich werden könnte. Ich bitte Euere Exzellenz dringend, von diesem schlimmen Rückfall aber zu niemanden in Berlin sprechen zu wollen, weil ich in der größten Sorge bin, daß meine Mutter etwas davon erfahren könnte, die jetzt ja doch in Berlin bleiben muß, und von mir nur befriedigende Nachrichten erhält, so schwer es mir wird, jetzt solche zu schreiben. In aufrichtiger Verehrung bin ich Euerer Exzellenz ganz gehorsamer H. B i s m a r c k . Va r z i n 8. Dezember 1879. Euerer Exzellenz sage ich meinen herzlichsten Dank für Ihren liebenswürdigen Brief von gestern. Die Hauptsorgen, welche mein Vater gegen einige Bestimmungen des Jagdordnungsentwurfes hatte, konzentrieren sich auf die Bestimmung über die Art und Weise, wie in „Gutsbezirken“ die Jagd geübt und gehandhabt werden soll. Er hat das ja des Weiteren in seinem langen Schreiben an Eure Exzellenz auseinandergesetzt und war heute etwas beruhigt, als ich ihm an der Hand Ihres Briefes sagen konnte, daß jeder Eigentümer von mehr als 100 Hektar einen eigenen Jagdbezirk für sich bilden könnte. Er meinte nur, wenn das nicht mit ganz minutiöser Klarheit in der Jagdordnung ausgesprochen würde, so würden unsere Richter und selbst Regierungskollegien teilweise zu einer Vermengung der Begriffe „G u t s bezirk“ und „J a g d bezirk“ das Ihre nach Kräften tun und die verschiedenste Auslegung den einzelnen Paragraphen mit der subtilesten Haarspalterei unterschieben, um, dem Zug der Zeit folgend, jede wohlgepflegte Jagd unmöglich zu machen und jeden großen Besitzer zu schädigen. Vielleicht könnte § 2 durch Scheidung in zwei Sätze noch schärfer präzisieren, daß jeder Besitzer von mehr als 100 Hektar einen selbständigen Jagdbezirk bilden könnte, w e n n er auch in seinem eigenen Gutsbezirk noch mehrere kleine Eigentümer hat und m i t diesen nach kommunalen Begriffen eben „zu einem selbständigen Gutsbezirk“ zusammengelegt ist. Der Fall in dem hiesigen Gute Seelitz ist ganz klar. Dort gibt es a) einen selbständigen Gemeindebezirk, groß genug, um einen eigenen Jagdbezirk zu bilden, b) einen selbständigen Gutsbezirk, zu welchem mein Vater mit 494

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4500 und zwei kleine Eigentümer, welche aber n i c h t enklaviert sind, mit zirka 180 Morgen gehören. ‒ Mein Vater war nun in der Besorgnis, daß er mit den beiden Letztgenannten, w e i l er mit ihnen einen Gutsbezirk formiert, auch in ein und demselben J a g d bezirk würde bleiben und beide zum Jagdvorstand‘ wählen müssen. Nach Ihrer Ansicht wäre dies aber n i c h t erforderlich; die Frage stellt sich hier also kurz folgendermaßen: „Kann mein Vater die beiden kleinen Eigentümer, welche jetzt auch für die Jagd zu dem G u t s bezirk Seelitz gehören, nach Einführung des neuen Jagdgesetzes einfach ausschließen und mit seinen 4500 Morgen einen eigenen Jagdbezirk bilden, während er mit jenen beiden Leuten in ein und demselben Gutsbezirk bleibt?“ und: „Wo bleiben dann die 180 Morgen der beiden Kleineigentümer in jagdlicher Beziehung, die mit dem Gemeindebezirk des Dorfes Seelitz nicht grenzen?“ Diese 180 Morgen sind auch nicht Enklaven, sondern liegen zwischen Seelitz und einem fremden Nachbargut, können also zum Gemeindebezirk nicht gelegt werden. Die Frage ist also wiederholt: „Was wird aus diesen?“ Ich wäre Euerer Exzellenz sehr dankbar, wenn Sie mir auf diese Frage eine ganz kurze für meinen Vater bestimmte Antwort geben wollten. Er fürchtet jetzt, daß er nach dem Wortlaut der Jagdordnung jene beiden Leute, die sonst nicht unterzubringen sind, auf dem Halse behält und sie sich als Jagdvorstand koordinieren muß. Ähnlich liegt die Sache aber bei vielen pommerschen Gütern. Ihren guten Rat, meinen Vater bald nach Berlin zu dirigieren, würde ich umso lieber befolgen, als er selbst das lebhaft wünscht. Er fragte heute schon in großer Beunruhigung den Dr. Struck, ob er wohl zu Weihnächten würde reisefähig sein; dieser hofft sicher darauf, verlangt aber absoluteste Ruhe, so daß ich nur drei- bis viermal am Tage auf wenige Minuten in sein Zimmer gehe, wo er still und traurig meist zu Bett, mitunter auf dem Sofa liegt! Ich fürchte, daß er bis Freitag kaum so weit sein wird, um Ihren Besuch wirklich genießen zu können ‒ sollte es mit Gottes Hilfe schneller gehen, als nach menschlicher Berechnung zu erwarten ist, so darf ich mir vielleicht Donnerstagvormittag eine telegraphische Mitteilung an Euere Exzellenz erlauben. Mit meinem herzlichsten Danke für Ihre guten Nachrichten aus Doro­ theenstraße 53 bleibe ich in ausgezeichneter Hochachtung Euerer Exzellenz ganz gehorsamster Herbert Bismarck. 495

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Eigenhändige Randbemerkungen Seiner Durchlaucht des Fürsten von Bismarck zum Entwurf des Feld- und Forstp o l i z e i g e s e t z e s (Drucksache Nr. 149 des Hauses der Abgeordneten vom 17. Januar 1880.) § 9.

Mit Geldstrafe wird bestraft, wer … genügt m. v. dem Verbot des Berechtigten zuwider ein Grundstück betritt.

§ 18. Das Sammeln von Pilzen auf nicht kein Bedenken künstlich angelegten … Weiden und Tristen unterliegt … § 26. Mit Geldstrafe wird bestraft … wer 3) tote Tiere liegen läßt, vergräbt, niederlegt oder aufhängt.

wie ist es mit toten Menschen? Das kommt vielfach vor, auch n a c h Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit, wo es h ä u f i g war, wegen der Kriminalkosten.

§ 40. (Erster Kommissionsbeschluß.) Mit Geldstrafe wird bestraft, wer auf Forstgrundstücken … 2) … oder gegen das Verbot des Waldeigentümers, Kräuter … sammelt.

genügt.

(Zweiter Kommissionsbeschluß.) Mit Geldstrafe wird bestraft, wer 2. unbefugt Kräuter sammelt. Wo das Sammeln der bezeichneten Walderzeugnisse nicht auf Berechtigung oder Herkommen beruht …

Das Wort unbefugt ist mit Blei unterstrichen. Die Worte „oder Herkommen“ sind gestrichen und mit Blei umklammert.

L ä n g e r e B e m e r k u n g S r. D u r c h l a u c h t . „Beide Kommissionsfassungen wollen vielleicht dasselbe, die in der ersten Spalte ist klarer, in der auf dieser Seite verdunkelt der Schlußsatz die Frage, ob der Eigentümer da, wo er das Sammeln bisher nicht verboten und dadurch die Bildung eines Herkommens gestattet hat, nun zu dem Verbot, sein Grundstück zu betreten, nicht mehr berechtigt sein soll. Das wäre unannehmbar 496

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und eine verfassungswidrige Beraubung des Eigentümers. ‚Berechtigung‘ ist selbstverständlich, also überflüssig zu erwähnen. ‚Herkommen‘ kann praecarie geduldet sein, gerade von gutmütigen Eigentümern, die es jeden Tag untersagen konnten, aber nicht untersagten. So wird es eine ablöspflichtige Servitut für jeden, der bisher nicht bös genug war, um es zu verbieten. Der preußische Richter würde natürlich in der Regel gegen den Grundbesitzer erkennen, und ‚Herkommen‘ überall finden, wo im Vorjahre gesammelt wurde. Das Wort ‚unbefugt‘, welches die Fassung der gegenüberstehenden gleichstellt, wird durch das Wort ‚Herkommen‘ nullifiziert. Ich halte das letzte Alinea nur annehmbar, wenn ‚Herkommen‘ fortfällt, sonst wird der Wald bummlerfrei unter diesem Vorwande. Es ist schade, daß von Beeren und Pilzen überhaupt die Rede ist in dem Gesetz. Es genügt vollkommen, wenn das Recht des Eigentümers, das Betreten seines Grundstücks zu verbieten, durch Strafandrohung geschützt wird. Dies geschieht meines Erachtens ausreichend durch § 9 in der letzten Fassung (II) und § 15 No. 1. Die Erwähnung der Pilze und Beeren hat nur zur Folge, daß die Vermutung erzeugt wird, der Vorwand, Beeren zu suchen, berechtige jeden Frevler, sich gegen den Willen des Eigentümers in dem Walde aufzuhalten. Kann man nicht § 41, 2 und § 18 den fettgedruckten Zusatz einfach streichen?? Die Gefahr für den Besitzer liegt nicht im Verlust der Beeren oder Pilze, sondern in der Herstellung eines gesetzlichen Titels für jeden Frevler, sich gegen den Willen des Försters oder Eigentümers dauernd im Walde aufzuhalten.“ B e r l i n , den 6. April 1880. Eurer Exzellenz danke ich ergebenst für die gefällige Mitteilung über die beabsichtigte Dienstreise. Bezüglich der Frage, ob die Einfuhr von Rindvieh aus Holland zu gestatten, bin ich der Ansicht, daß es sich empfiehlt, zunächst den Erlaß der Reichsseuchenordnung abzuwarten. Bei der späteren Behandlung der Angelegenheit ist meines ergebenen Erachtens das Prinzip festzuhalten, daß keiner fremden Regierung, also auch nicht der holländischen, G r a t i s konzessionen gemacht werden. Vor jedem entgegenkommenden Schritte unsererseits wird festzuhalten sein, welche Erleichterung für unseren Verkehr Holland zu gewähren geneigt ist. Wenn Holland kein Interesse daran haben sollte, bezüglich unserer Vieheinfuhr und -durchfuhr Reziprozität zu üben, so möchte es sich empfehlen, bevor die Ein- und Durchfuhr von holländischem Vieh freigegeben wird, vorerst bei unserer Zollverwaltung Erkundigungen darüber einzuziehen, auf 497

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welchem anderen Verkehrsgebiete Gegenkonzessionen von Holland zu erlangen wären. (gez.) v o n B i s m a r c k . K i s s i n g e n 3. August 1880. Euerer Exzellenz geneigtes Schreiben von vorgestern hat mein Vater erhalten und mich beauftragt, Ihnen mit seinem verbindlichsten Dank für die Übersendung der Jagdordnung zu sagen, daß er kein Bedenken gegen die Einbringung der Vorlage in der kommenden Session hätte. Zu dem mit 2) bezeichneten Passus in Eurer Exzellenz Briefe ‒ statistische Aufnahmen betreffend ‒ bemerkte er, daß er sehr dankbar für den Verzicht auf die nicht gesetzlich gebotenen Zahlungen wäre. Ad 3) stellt mein Vater Eurer Exzellenz ganz anheim, wegen Einfuhr von Schafen und Gänsen nach eigenem Ermessen zu verfahren, obschon er die Behauptung, daß die Rinderpest in Rußland erloschen sei, für unglaublich, und soweit sie auf der Angabe ausländischer Behörden beruhen sollte, für bewußt wahrheitswidrig hielte. Mit Bezugnahme auf Euerer Exzellenz 4)te Mitteilung, den kronprinzlichen Wunsch betreffs des Gutes Bornim anlangend, diktierte mir mein Vater Folgendes: „Das Streben des Kronprinzen nach Bornim und erweiterter landwirtschaftlicher Tätigkeit halte ich für sehr erfreulich und jede gesetzlich mögliche Ermutigung für politisch geboten. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt von der Landwirtschaft, und es ist im höchsten Grade wichtig, daß gerade der Landesherr persönliches Interesse dafür habe, da bei den sonstigen Faktoren der Gesetzgebung, den Regierungsbeamten und der Mehrheit der Parlamente ein solches Interesse entweder gar nicht oder statt dessen Feindseligkeit gegen den Grundbesitz vorwaltet. Seit Friedrich Wilhelm I. und Friedrich dem Großen haben wir leider auch auf dem Thron kein Verständnis für die Landwirtschaft und ihre Bedürfnisse gefunden, und die Landwirtschaft ist unter diesen Verhältnissen das Stiefkind der Gesetzgebung geworden. Ich halte es für sehr wichtig, daß der künftige Monarch den Traditionen seiner großen Vorfahren aus dem vorigen Jahrhundert wieder nähertrete. Für den Ankauf von Bornim wird schwerlich Geld da sein, und weiß ich nicht, ob der Verkauf altländischer Domänen von den früheren Hindernissen befreit ist, die aus der Verpfändung für Staatsschuldner hervorgingen; aber die Verpachtung der Domänengrundstücke aus freier Hand ist meines Wissens g e s e t z l i c h nicht verboten, oder irre ich mich darin? 498

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Wenn etwa Allerhöchste Genehmigung dazu erforderlich ist, so würde ich aus politischen Gründen gern bereit sein, mich einem Antrage Euerer Exzellenz anzuschließen, und halte die Sache auch für wichtig genug, daß das ganze Staatsministerium dies eventuell tue.“ Die hiesige Kur greift meinen Vater ziemlich an, besonders jetzt im Beginn, und er soll sich nach ärztlicher Vorschrift des eigenhändigen Schreibens möglichst enthalten: er hat sich deshalb meiner Feder bedienen müssen, um Euerer Exzellenz zu antworten. K i s s i n g e n 20. August 1880.

Verehrter Freund und Kollege! Mit verbindlichstem Dank für Ihre freundlichen Zeilen gestatten Sie mir die Bitte zu verbinden, daß wir vor irgendeiner auf den Ausfall der Ernte zu begründenden Maßregel denselben doch vollständig abwarten. Daß einzelnen Förstern die ganze Ernte verregnet ist, glaube ich gern, in größerem oder geringerem Maße wird dies auf ausgedehnten Flächen der Fall sein. Wir werden dem geschädigten Landwirt aber damit nicht aufhelfen, daß wir ihm die Preise dessen, was ihm zum Verkauf geblieben ist, herabdrücken. Auf das fortschrittliche Geschrei dürfen wir nichts geben, wenn wir uns nicht die Wahlaussichten bei der ländlichen Bevölkerung ruinieren wollen. Letztere erwartet von i h r e m Minister mehr wie von jedem anderen Schutz der landwirtschaftlichen Interessen und hat darauf auch wohl ein zweifelloses Recht; eine Erleichterung des i n l ä n d i s c h e n Verkehrs mit i n l ä n d i s c h e m Getreide würde ich gern befürworten, damit die bessere Ernte der meisten deutschen Länder den Notleidenden zugeführt werden kann; einer Begünstigung der ausländischen Einfuhr aber würde ich mich nicht anschließen können. Die Agitation gegen die Kornzölle wird sich, wie ich hoffe, in eine Agitation gegen die ungleiche Besteuerung der i n l ä n d i s c h e n Landwirtschaft umdrehen lassen, und ich hoffe hierbei auf Ihren freundlichen Beistand. Hier scheint mir der „Ressortpatriotismus“ zu Gunsten des landwirtschaftlichen Steuerpackesels nicht nur erlaubt, sondern geboten. Daß die Forstdienstländereien wegen Frostschaden Mißernte haben, ist bei ihrer Lage im Walde keine Seltenheit und darf Sie nicht erschrecken. Ich hoffe, Ende nächster Woche in Friedrichsruh zu sein, und würde mich freuen, wenn wir uns dort noch früher als in Berlin wiedersehen könnten. Der Ihrige von Bismarck. 499

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F r i e d r i c h s r u h den 4. Oktober 1880. Euerer Exzellenz gefällige Schreiben vom 13. September und 2. Oktober habe ich mit verbindlichstem Danke erhalten und bitte, meiner zeitweise ziemlich schweren und schmerzhaften Krankheit zugutezuhalten, daß ich auf das Erstere bis jetzt nicht geantwortet habe. Was das Erbgesetz für Bauerhöfe in Lauenburg betrifft, so habe ich mich erst nach meiner letzten Rückäußerung mit dieser Frage näher beschäftigt und dabei die Überzeugung gewonnen, daß es wichtiger ist, die Verschuldung als die Teilung der bäuerlichen Besitzungen zu erschweren. Die Belastung mit Erbanteilen in Kapital macht den großen wie den kleinen Besitz in wenig Generationen unhaltbar. Die Z a h l der Grundbesitzer aber ist bei uns im ganzen Lande und namentlich in Lauenburg noch lange nicht groß genug. Der k l e i n e Grundbesitz fehlt hier gänzlich. Die Größe der Bauernhöfe überschreitet meistens die Arbeitslust und Fähigkeit der Besitzer. Höfe von 200 bis 300 Morgen geben bei mehrfacher Teilung immer noch einen sehr auskömmlichen Besitz für bäuerliche Wirtschaft, während die leer ausgehenden Miterben die Zahl der Malkontenten im Lande vermehren. Wenn ich meinerseits ein Gesetz in dieser Richtung zu entwerfen hätte, so würde ich bestimmen, daß da, wo wirkliche Teilung überhaupt stattfindet, jeder Erbe auch seinen Teil Grundbesitz erhalten muß, solange der Stammhof noch spannfähig bleibt, wozu nach hiesigen Verhältnissen etwa 50 Morgen gehören, also ¼ bis 1/6 der vorhandenen Höfe. Bei Besitzungen, welche jetzt schon nicht spannfähig sind, hat der Staat meines Erachtens gar kein Interesse, die Teilung bis auf 1 Morgen hinunter zu hindern: im Gegenteil. Die jetzige Verteilung des Grundbesitzes in Lauenburg und der Mangel an k l e i n e n Besitzern bildet neben der harten Behandlung der Arbeiter durch die Bauern einen wesentlichen Grund der Vermehrung der Sozialisten in unseren einfachen Verhältnissen. Gegen den Aufschub der Einbringung der Jagdordnung werde ich meinerseits keine Bedenken erheben. Ihre Budgetforderung von 50.000 Mark für die Kultur ausländischer Forstbäume werde ich mit vollster Überzeugung unterstützen. Herrn Ulrici halte auch in rebus sic stantibus für den angezeigten Nachfolger des Herrn von Hagen. Ich bin in der Unmöglichkeit, den Gesetzentwurf betreffend die Viehseuchen selbst zu prüfen; Krankheit und Ressortgeschäfte hindern mich daran. Ich füge den Gesetzentwurf deshalb wieder bei und submittiere vollkommen auf Eurer Exzellenz Urteil. 500

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Über die Angelegenheit der bisher im Reichsgesundheitsamt beschäftigten beiden Veterinäre habe ich vom Reichsamt des Innern Bericht erbeten. (gez.) v o n B i s m a r c k . Sr. Exzellenz dem Königlichen Staatsminister Herrn Dr. Lucius Berlin. B e r l i n 9. Oktober 1880. Euerer Durchlaucht meinen verbindlichsten Dank sagend für die geneigten Mitteilungen vom 4. c. werde ich mir dieselben zur Direktive bei der weiteren Behandlung der meinerseits zu machenden Landtagsvorlagen dienen lassen. Nur in der Lauenburger Höfeordnungssache bitte ich um Erlaubnis, einige weitere Ausführungen machen zu dürfen. Läge res integra vor, so würde gewiß der Versuch einer gesetzlichen Reglung der ganzen Frage in dem von Euerer Durchlaucht bezeichneten Sinn zu machen sein, allein sowohl das Ministerium selbst als wie die große Majorität des Abgeordnetenhauses (alle Parteien exklusive des Fortschritts) wie des Herrenhauses hat bereits bei Gelegenheit der Beratung der Hannoverschen Höfeordnung als wie bei der des Antrags von Schorlemer zu Gunsten der Erhaltung der geschlossenen Bauernhöfe bei Intestatvererbung Stellung genommen. Es handelt sich um einen von den konservativen Parteien mit besonderer Vorliebe behandelten Gegenstand, welcher auch bei den von den Abgeordneten Miquel-Bennigsen geführten Nationalliberalen sowie selbst beim Zentrum in Rücksicht auf die westfälischen Verhältnisse lebhafte Zustimmung gefunden hat. Der Gesetzentwurf ist lediglich eine Reproduktion der Hannoverschen Höfeordnung und wird eventuell die Grundlage ähnlicher Entwürfe für diejenigen sonstigen Landesteile bilden können, in welchen der Volkssitte und Rechtsanschauung gleiche Erbgewohnheiten entsprechen. Der Entwurf gibt dem Erblasser lediglich die Fakultät, durch Eintragung seines Besitzes in die Höferolle die ungeteilte Vererbung seines Hofes zu sichern, falls er, ohne bei Lebzeiten oder durch Testament anderweit verfügt zu haben, stirbt. Er kann den Hof wieder jederzeit aus der Rolle streichen lassen, er kann inter vivos oder durch Testament nach wie vor frei verfügen. In Lauenburg wird durch das Gesetz lediglich bestätigt, was dort wie in Hannover und Westfalen feststehende Rechtsgewohnheit ist. Nachdem sich die Regierung in der letzten Session durch Einbringung der Ergänzung der Hannoverschen Höfeordnung und bei Beratung des 501

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schorlemerschen Antrags dieser Tendenz zustimmend geäußert hat, nachdem der Entwurf im Vorjahr bereits den Lauenburger Ständen vorgelegen und dort Zustimmung gefunden hat, würde es äußerst schwierig, kaum möglich sein, die Nichteinbringung des Entwurfs zu motivieren, und ich erlaube mir daher die Bitte, dem Gesetz Ihre Zustimmung nicht versagen zu wollen. Gerade auf die rechte Seite des Hauses würde die Nichteinbringung leicht verstimmend wirken müssen. (gez.) L u c i u s . F r i e d r i c h s r u h den 12. Oktober 1880. Euerer Exzellenz hochgeneigtes Schreiben vom 9. d. M. hat der Herr Reichskanzler mit verbindlichstem Danke erhalten und mich beauftragt, Hochdenselben gehorsamst zu erwidern, daß auch er früher an die Richtigkeit der Prinzipien geglaubt habe, welche der projektierten Lauenburgschen Höfeordnung zu Grunde liegen. Er habe jedoch durch weiteres Nachdenken über diesen Gegenstand eine andere Anschauung gewonnen und halte diese jetzt für die richtigere. Wenn Euere Exzellenz deshalb aus den in dem hochgeneigten Schreiben vom 9. d. M. entwickelten Gründen die Einbringung der Vorlage für nützlich hielten, so würde der Reichskanzler nicht umhin können, seiner Meinung Ausdruck zu geben; er würde selbstredend dabei Hochdenselben und den Herrn Kollegen keine Opposition machen, aber versuchen, seiner Ansicht bei der konservativen Partei Eingang zu verschaffen. Gf. R a n t z a u . Sr. Exzellenz dem Königlichen Staatsminister Herrn Dr. L u c i u s Berlin. Z u r E u l e n b u r g - K r i s i s .12

B e r l i n , den 22. Februar 1881. Während der Rede des Herrn von Kleist-Retzow trat ich ins Haus, sicherte mir resp. Herrn Geh. Rat Rommel für den Fall seines rechtzeitigen Erscheinens das Wort und wandte mich alsdann sofort an den Herrn Minister des Innern, indem ich ihn davon in Kenntnis setzte, daß Euere Durchlaucht mich in Abwesenheit des angemeldeten Kommissars beauftragt haben, zu 12 S. o. S. 185 ff.

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dem § 17 eine Hochdero Auffassung enthaltende Erklärung abzugeben. Ich übergab darauf das Schriftstück dem Herrn Grafen zu Eulenburg, welcher dasselbe durchflog und hiernächst mit den Worten zurückgab: „Tun Sie, was Ihnen aufgetragen ist.“ Der Vorgang nahm nur wenige Minuten in Anspruch. Kurze Zeit darauf schloß Herr von Kleist-Retzow seine Rede und es erhob sich alsdann der Herr Minister des Innern, um ihm zu erwidern. (gez.) Dr. S t ü v e , Geheimer Oberregierungsrat. An den Königlichen Ministerpräsidenten und Minister für Handel und Gewerbe Fürsten von B i s m a r c k Durchlaucht. Immediatbericht des Fürsten Bismarck über das Entlas­ sungsgesuch Eulenburgs. B e r l i n , den 21. Februar 1881. Auf den Allerhöchsten Befehl vom heutigen Tage, mich über das Entlassungsgesuch des Ministers des Innern zu äußern, berichte ich in Folgendem alleruntertänigst. Die Darstellung in der Denkschrift des Grafen zu Eulenburg entspricht dem Sachverhalt, nur muß ich bei der vorletzten Seite bemerken, daß nach Aussage meiner Kommissarien, der Geheimen Räte Stüve und Rommel, es n i c h t an Zeit und Gelegenheit gefehlt hat, die in meinem Namen abzugebende Erklärung vorher zur Kenntnis des Ministers des Innern zu bringen, sondern daß, bevor Graf Eulenburg das Wort ergriffen hat, der Geheimrat Stüve ihm von der bevorstehenden Erklärung Mitteilung gemacht hat, und daß es meines Erachtens angezeigt gewesen wäre, daß der Minister des Innern über einen seit Wochen zwischen uns verhandelten Gegenstand eine ihm angemeldete Erklärung des Ministerpräsidenten, bevor er selbst sich öffentlich aussprach, berücksichtigt hätte, umso mehr, als diese Erklärung von mir nicht zur Vorlesung, sondern nur zur Instruktion meines Kommissars für dessen Äußerungen bestimmt war. Der Minister des Innern hat dem Geheimen Rat Stüve geantwortet: „Tun Sie, was Ihnen aufgetragen.“ Ich habe nicht erwarten können, daß der Minister des Innern n a c h Kenntnisnahme von dem Inhalte der von mir beabsichtigten Erklärung so lebhaft, wie er es getan hat, für den Gegensatz zu derselben auftreten würde. Nachdem er dies dennoch getan, würde ich es für angezeigt gehalten haben, daß er meinem Kommissar gesagt hätte, die beabsichtigte Erklärung könne nach seiner Rede, so wie sie beabsichtigt, nicht abgegeben werden. Mein Kommissar würde sich dieser ministeriellen Weisung sicher gefügt und mir 503

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berichtet haben, daß seine Instruktion in einer so unvorhergesehenen Wendung der Diskussion nicht ausführbar gewesen wäre. Meine ehrfurchtsvollen Schreiben vom Sonnabend den 19. enthalten hierüber nähere Details, nach welchen ich die Anführung des Ministers des Innern, daß es an Zeit und Gelegenheit zu der von mir angeordneten Mitteilung gefehlt habe, für eine irrtümliche halten muß. Es wäre demnach für den Minister des Innern ein Leichtes gewesen, den von mir nicht vorausgesehenen Widerspruch beider Erklärungen, den Graf Eulenburg einen „schroffen“ nennt, zu verhindern. Ich kann aber diesen Widerspruch weder einen schroffen nennen noch sein Vorhandensein überhaupt anerkennen. Der ganze Vortrag der Denkschrift des Grafen Eulenburg beweist vielmehr, daß ich in einem mehrere Wochen hindurch vorhandenen Prinzipienstreit, in welchem, wie ich glaube, das Recht und das Staatsinteresse auf meiner Seite waren und den noch in den letzten Tagen von Neuem aufzunehmen ich mich in meinem Gewissen gedrungen fühlte, schließlich im Interesse des Friedens n a c h g e g e b e n , meine Überzeugung der des Ministers des Innern untergeordnet und ihm öffentlich zugestimmt habe. Daß ich diese Zustimmung mit dem Ausdruck der Hoffnung auf künftige Revision der meiner Ansicht nach unzulässigen Bestimmungen begleitet habe, wäre an sich mein Recht gewesen; aber ich habe dabei nicht an die Ausübung eines Rechts gedacht, sondern an die Sicherstellung oder doch Anbahnung der Revision, die ich aus rein sachlichen Gründen im Interesse des Staats und der Monarchie für erforderlich halte, bevor eine weitere Ausdehnung der Organisation der alten Provinzen auf die neuen erfolgt. In der ganzen Meinungsverschiedenheit habe ich die ursprünglich mit Euerer Majestät Genehmigung vom Staatsministerium und also auch vom Minister des Innern für richtig erkannte Vorlage auf m e i n e r Seite gehabt und sie vertreten gegen die vom Minister des Innern neuerlich adoptierte Auffassung des Abgeordnetenhauses. Ich glaube, daß ich damit als Euerer Majestät Ministerpräsident nur meine Pflicht getan und einen Akt der Selbstverleugnung und des kollegialischen Entgegenkommens vollzogen habe, wenn ich schließlich gegen meine ‒ wie ich glaube bessere ‒ Überzeugung mich der Ansicht meines Kollegen öffentlich anschloß und unterordnete. Ich kann daher das Abschiedsgesuch des Grafen Eulenburg, wenn er keine anderen Gründe dafür hat als die angeführten, nicht als ein sachlich motiviertes, sondern nur als ein Ergebnis der Eindrücke ansehen, die mein Kollege von einer ungünstigen, aber zufälligen Konstellation gegen meinen 504

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Wunsch empfangen hat. Ich weiß die Bedeutung des Grafen Eulenburg als eines hervorragenden Mitgliedes des Staatsministeriums zu schätzen und würde es im Interesse des Allerhöchsten Dienstes lebhaft bedauern, wenn er dabei beharrte, demselben seine fernere Mitwirkung zu versagen. Wie ich bereits mündlich Euerer Majestät ehrfurchtsvoll vorgetragen habe, ist mir sein Abschiedsgesuch ebenso unerwünscht wie unerwartet gewesen, und die Möglichkeit desselben ist mir überhaupt erst begreiflich geworden, nachdem ich am Sonnabendabend genauere Kenntnis von dem Verlauf der Diskussion im Herrenhause erhalten hatte. Graf Eulenburg ist selbst der alleinige Richter über seine Entschließungen, und ich weiß nicht, ob noch andere Motive ihm das Ausscheiden aus unserer gemeinsamen Tätigkeit wünschenswert machen. Daß mein Verhalten ihm aber keinen berechtigten Grund gegeben habe, dasselbe als Ursache seines Rücktritts anzuführen, glaube ich in Ehrfurcht. Ich habe im Gegenteil noch am Sonnabendmorgen auf seine kollegialische Dankbarkeit für mein Nachgeben gerechnet. (gez.) v o n B i s m a r c k . S einer Majestät dem Kaiser und Könige. Wä h l e n v o n B i s t u m s v e r w e s e r n . Heute ‒ 19. März 1881 ‒ fand eine vertrauliche Besprechung des S t a a t s m i n i s t e r i u m s statt, aus welcher Folgendes zu verzeichnen war: Der Herr Minister der geistlichen Angelegenheiten referierte im Anschluß an sein Votum vom 16. März d. J. über die von den Domkapiteln zu Osnabrück und Paderborn ‒ ohne eine von staatlicher Seite gegebene Anregung ‒ mit Autorisation des apostolischen Stuhles vorgenommenen Wahlen von Kapitularvikaren und zwar des Domkapitulars Dr. Höting behufs Verwaltung der Diözese Osnabrück und des Domkapitulars Drobe behufs Verwaltung der Diözese Paderborn. Er begründete des Näheren den in seinem Votum gestellten Antrag: Das Staatsministerium möge auf Grund des Artikels 2 des Gesetzes vom 14. Juli 1880, betreffend Abänderungen der kirchenpolitischen Gesetze, beschließen, daß den beiden Gewählten die Ausübung bischöflicher Rechte und Verrichtungen in den betreffenden Diözesen auch ohne die im § 2 des Gesetzes vom 20. Mai 1874 über die Verwaltung erledigter katholischer Bistümer vorgeschriebene eidliche Verpflichtung gestattet werde. Der Herr Ministerpräsident schloß sich diesem Antrage an, indem er hervorhob, die gedachten beiden Wahlen seien auf die friedliebendsten, 505

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den betreffenden Domkapiteln ungehörigen Prälaten gefallen. Die katholische Kirche habe hierdurch ein Entgegenkommen gezeigt, welches zu erwidern dem Staatsinteresse entspreche. Erlasse das Staatsministerium den gewählten Bistumsverwesern die eidliche Verpflichtung, so verlasse man dadurch den prinzipiellen Boden der bestehenden Gesetzgebung nicht und behalte die Machtmittel in der Hand, welche dieselbe dem Staate gewähre. Das Staatsministerium faßte demnächst einstimmig den von dem Herrn Minister der geistlichen Angelegenheiten in Antrag gebrachten, am Schlusse des Votums vom 16. März d. J. formulierten Beschluß. Seiner Majestät dem Könige wird mündliche Anzeige von diesem Beschlusse durch den Minister der geistlichen Angelegenheiten erstattet werden. Z o l l a n s c h l u ß v o n H a m b u r g .13

B e r l i n , den 23. März 1881. Nachdem Euere Exzellenz in der letzten Zeit in der Lage gewesen waren, mir annehmbare Eröffnungen der Hamburger Behörden bezüglich des beabsichtigten Zollanschlusses vertraulich mitzuteilen, hatte ich mich der Hoffnung hingegeben, daß die Regierung von Hamburg zu den Ansichten zurückgekehrt sei, welche in den Jahren 1867 und 1868 die gegenseitigen Verhandlungen geleitet hatten und nach welchen die Verwirklichung des Art. 33 der Verfassung, der nationale, das gesamte Reich umfassende Zollverein, auch in Hamburg als das verfassungsmäßige Definitivum, der Artikel 34 aber als ein Provisorium aufgefaßt wurde, bestimmt, die Zeit zu den für den Übergang nötigen Verhandlungen und Anlagen zu gewähren. Die Rede, welche der Herr Senator Versmann vor einigen Tagen im Reichstage gehalten hat, gibt mir die Überzeugung, daß jene Hoffnung eine irrtümliche gewesen ist, da sonst dieser amtliche Vertreter der Hamburger Regierung unmöglich die Ausführung der uns gewordenen vertraulichen Eröffnungen in der Weise hätte erschweren können, wie er es durch seine Rede getan hat. Ich muß aus dieser letzteren schließen, daß die Absicht der Hamburger Regierung, das Freihafenverhältnis als verfassungsmäßiges Definitivum festzuhalten, noch heute ebenso in Kraft steht wie zu der Zeit, als der Sena­ tor Kirchenpauer, vor etwa zwei Jahren, bei den Vorberatungen der Zollgesetzgebung sie im Bundesrate aussprach. Wenn dieser Schluß berechtigt ist, so wird es an der Zeit sein, die Beseitigung derjenigen Einrichtungen 13 S. o. S. 193.

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in Angriff zu nehmen, welche die Reichsgesetzgebung, der Zollverein und Preußen seinerzeit zugestanden und in Bremen beibehalten haben, um den Hansestädten das Übergangsstadium zu erleichtern, welche aber schwerlich zugestanden worden wären, wenn man damals hätte glauben können, daß die exzeptionelle Stellung, welche diesen beiden Hansestädten bewilligt war, von ihnen als eine definitive festgehalten werden würde. Zu diesen vorübergehend bewilligten Einrichtungen gehören, abgesehen von der bisherigen unzulänglichen Bemessung des gesamten Aversums: 1. die vereinsländischen Zollämter in den beiden Freihäfen. Dieselben sind unter verschiedenen Umständen und Voraussetzungen eingerichtet worden, ohne in dem Zollvertrage von 1867 und in der Reichsverfassung eine rechtliche Unterlage zu haben. Nach Artikel 38 der Verfassung gehören zu den Erhebungs- und Verwaltungskosten, welche laut 3a in Abzug gebracht werden können, nur die Kosten, welche an den gegen das Zollausland gelegenen Grenzen und in dem (binnenländischen) Grenzbezirke für den Schutz und die Erhebung der Zölle erforderlich sind. Unter diese Kosten fällt der Aufwand für die vereinsländischen Hauptzollämter nicht notwendig. Die vereinsländischen, seit 1872 ohne sachliche Begründung als „Kaiserliche“ bezeichneten Hauptzollämter sind zur Bequemlichkeit der Hansestädte nützlich, aber nicht im obigen Sinne für den Schutz und die Erhebung der „Zölle“ erforderlich. Sie sollten danach nicht zu den Einrichtungen gehören, für welche die Kosten von der Bruttoeinnahme der Zölle vor der Ablieferung an die Reichskasse abzuziehen sind. Selbst auf das Hauptzollamt in Bremen, welches durch den Vertrag mit Preußen, Hannover und Kurhessen vom 26. Januar 1856 errichtet ist, findet Artikel 40 der Reichsverfassung Anwendung, wonach die Bestimmungen des Zollvereinigungsvertrags vom 8. Juli 1867 nur insoweit Geltung behalten, als sie nicht durch die Reichsverfassung abgeändert sind. Die vorläufige Beibehaltung des Amtes in Bremen und die Errichtung desjenigen in Hamburg durch Beschluß des Bundesrats vom 27. Juli 1868 waren für die Sicherung der Zollgrenze an sich nicht erforderlich; sie haben den Freihäfengebieten zur Erleichterung der Zeit ihres Übergangs in den Zollverein vorübergehend gewährt werden können, für ihren dauernden Bestand aber fehlt die sachliche Berechtigung, und müssen dieselben daher, wenn nunmehr nach 14 Jahren die Aussicht auf den Beitritt der Hansestädte aufgegeben werden muß, als eine durch kein Bedürfnis des Zollvereins gebotene Anomalie in Wegfall kommen. Dieselben haben eine stärkere Berechtigung als die einer vorübergehenden Zweckmäßigkeitsmaßregel niemals gewinnen können. 507

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2. Die Bewilligung einer Zollvereinsniederlage innerhalb der Freihäfen ist aus gleichen Gründen eine hinfällige, sobald sie als eine definitive und nicht als eine Übergangseinrichtung aufgefaßt werden muß. Der Erleichterung des Verkehrs innerhalb der Freihäfen, solange die nötige Entrepoteinrichtung für ihren Eintritt in den Zollverein nicht getroffen war, konnte eine solche Konzession vorübergehend gemacht werden; sie als eine definitive, reichsverfassungsmäßige zu behandeln, dazu fehlt meines Erachtens jede Berechtigung. 3. Zu den Opfern, welche der Zollverein, namentlich aber Preußen, zu dem Zweck gebracht haben, den Hansestädten Hamburg und Bremen die Übergangsperiode für den Zollverein zu erleichtern, gehört namentlich auch die Hergabe preußischer Gebietsteile zur Abrundung des Freihafengebiets und der Beitrag, welchen Preußen für seine im Freihafengebiet wohnenden Untertanen bisher aus der Staatskasse zahlt, um die Möglichkeit ihres Verbleibens außerhalb des verfassungsmäßigen Zollvereins herzustellen. Diese Zahlung von jährlich jetzt 867.000 ℳ abzüglich des geringen Beitrags der Hansestädte konstituierte eine Prämie auf die Fortsetzung und die Verewigung der dem Artikel 33 der Verfassung widersprechenden und die nationale Vollendung der Zolleinheit hindernden Freihafeneinrichtung. Mit dem Anschluß der preußischen Gebietsteile an den Zollverein kommt diese Zahlung in Wegfall. Bisher aber hat dieser vom Bundesrate seit Jahresfrist endgültig beschlossene Anschluß seine praktische Ausführung noch nicht gefunden und ist bei weiterer dilatorischer Behandlung der Sache vonseiten Hamburgs auch die Sicherheit nicht gegeben, daß diese Angelegenheit bis zur Aufstellung des nächsten Etats erledigt sein werde. Ich kann es aber mit der Gerechtigkeit nicht verträglich finden, daß die preußische Regierung auf Kosten ihrer direkten und indirekten Steuerpflichtigen ferner einen Zuschuß für die Beibehaltung einer Einrichtung zahlt, welche an sich eine Rechtsungleichheit und einen dauernden Widerspruch gegen die Verwirklichung der nationalen Verfassungseinrichtungen enthält. Die Höhe dieser Leistung wird nach dem Gesetz von 1868 jährlich durch das Etatsgesetz bestimmt. Die Gerechtigkeit und die nationale Politik weisen uns darauf hin, diese Position im nächsten Etat auch dann nicht in bisheriger Weise zum Ansatz zu bringen, wenn der Anschluß Altonas bis dahin seine Erledigung noch n i c h t gefunden hätte. Eure Exzellenz ersuche ich ergebenst, sich mit mir über die Anträge an das Königliche Staatsministerium verständigen zu wollen, welche erforderlich sein werden, um eventuell einen Antrag Preußens zur Abstellung der vorstehend bezeichneten provisorischen Zolleinrichtungen vorzubereiten, 508

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nachdem meiner Ansicht nach die Absicht der Hamburger Regierung, die Provisorien zum Definitivum werden zu lassen, durch die jüngste Rede des Vertreters der Hansestadt Hamburg außer Zweifel gestellt worden ist. Abschrift dieses Schreibens habe ich sämtlichen Herren Mitgliedern des Staatsministeriums mitgeteilt. (gez.) v o n B i s m a r c k . An den Königlichen Staats- und Finanzminister Herrn B i t t e r Exzellenz. Abschrift beehre ich mich Eurer Exzellenz ergebenst mitzuteilen. (gez.) v o n B i s m a r c k . An den Königlichen Staatsminister und Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten Herrn Dr. L u c i u s Exzellenz. B e r l i n , 4. Mai 1881. Wie ich aus dem Zeitungsbericht des Regierungspräsidenten zu Potsdam ersehe, wird die Aufhebung des Hauptgestüts (Friedrich-Wilhelms-Gestüts) zu Neustadt im Interesse der Pferdezucht lebhaft beklagt und die Wiederherstellung eines Hauptgestüts für die Provinz Brandenburg allseitig gewünscht. Da mir nicht bekannt ist, aus welchen Gründen das Hauptgestüt zu Neustadt aufgehoben worden ist, so würde ich für eine gefällige Mitteilung derselben Euerer Exzellenz sehr dankbar sein. (gez.) v o n B i s m a r c k . An den Königlichen Staatsminister und Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten Herrn Dr. L u c i u s Exzellenz. B esprechung des Königlichen Staatsministeriums. B e r l i n , den 18. Juni 1881. Der Fürst Bismarck bemerkte, er werde, sobald sein Gesundheitszustand es gestatte, Berlin verlassen und werde einige Monate der Erholung bedürfen. Er wolle in der Kürze einige Punkte andeuten, welche seiner Meinung nach in den Angelegenheiten des Reichs wie in der preußischen Staatsverwaltung für die nächste Zeit ins Auge zu fassen seien und bezüglich welcher es ihm darauf ankomme, der Zustimmung seiner Herren Kollegen sich zu vergewissern. Es sei dies einmal die Wiederaufnahme der vom Reichstage abgelehnten oder in nicht annehmbarer Form angenommenen Vorlagen. 509

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Zu den letzteren gehöre das Unfallversicherungsgesetz. Zu der Mitbelastung der Arbeiter werde er seine Zustimmung nicht geben. Am Volkswirtschaftsrat für das Reich sei trotz der Ablehnung der geforderten Diäten festzuhalten, doch werde derselbe jedenfalls vor dem Herbst nicht berufen zu werden brauchen. Für Preußen lege er großen Wert auf weitere Vervollkommnung der Kommunikationsmittel, namentlich der Eisenbahnen und Kanäle, und betrachte die Betreibung solcher Interessen als Gegenmittel gegen die Verfolgung unfruchtbarer Theorien. Das Staatsbahnsystem zeige schon jetzt seine Vorzüge. Kanäle seien zu projektieren von der Maas bis zum Rhein, von Letzterem bis Kiel mit Einschluß des Nordostseekanals. Es sei zunächst das Einverständnis des Landtags im Prinzip, demnächst die Geldforderungen für die einzelnen Etatsjahre festzustellen. Der Herr Landwirtschaftsminister bemerkte hierzu, neben der Verfolgung großer Kanalprojekte seien für Regulierung nicht schiffbarer Flüsse 80 bis 120 Millionen sehr vorteilhaft aufzuwenden. Als eine Hauptaufgabe bezeichnete der Herr Ministerpräsident sodann die Revision und Vollendung der Provinzialorganisation und zwar nicht nach gleichem Zuschnitt für alle Provinzen. Bei der Revision sei stärker, als bisher geschehen, die monarchische und die Staatsgewalt, mehr die persönliche Verantwortung im Gegensatz zur Wahl zu akzentuieren. Der Herr Minister des Innern wünschte zunächst über diese Fragen, und zwar auch in den alten Provinzen, die Provinziallandtage zu hören, und hielt es für zweckmäßig, wenn er einen von ihm als Oberpräsidenten hierüber früher erstatteten Bericht veröffentliche. Mit beidem war der Herr Ministerpräsident völlig einverstanden. Der Herr Ministerpräsident bezeichne es endlich als erforderlich, als wahlwerbendes Programm unter die Leute zu bringen, wie viele Aufgaben noch zu lösen seien und die Bewilligung weiterer Geldmittel erforderlich machten, namentlich komme es auf die Präzisierung der kommunalen Aufgaben an, welche auf Verwendung von Reichsüberschüssen angewiesen seien und bei deren Erfüllung den Gemeinden Erleichterung gewährt werden müsse. Dahin gehöre die Schule, die Armenpflege (welche prinzipiell Staatslast sei), vielleicht auch die Polizeilasten.

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Te r m i n d e r R e i c h s t a g s w a h l e n v o n 1 8 8 1 . In der Amtswohnung des Fürsten von Bismarck fand am 15. August 1881 eine vertrauliche Besprechung des S t a a t s m i n i s t e r i u m s statt, bei welcher Folgendes verhandelt wurde: Der Herr Ministerpräsident machte den Vorschlag, die Wahlen zum Reichstag in der letzten Woche des Oktobers stattfinden zu lassen. Man sei früher allerseits darüber einig gewesen, den Wahltermin so weit wie möglich hinauszuschieben. Indessen empfehle es sich aus politischen Gründen, den Reichstag schon im November zur Beratung des Etats zu berufen. Der Landtag könne dann in der ersten Hälfte des Januar zusammentreten und möge sehen, wie er s e i n e n Etat zum 1. April fertigstelle. Ein Zusammentagen von Reichstag und Landtag werde sich kaum vermeiden lassen können, übrigens auch ganz nützlich sein. Die Hauptarbeitszeit des Reichstags werde in den April und Mai fallen. Es liege in seiner (des Reichskanzlers) Absicht, dem Reichstage nur zwei Vorlagen zu machen: das Unfallversicherungsgesetz nebst den Grundzügen eines Altersversorgungsgesetzes und das Tabaksmonopol. Es sei nicht darauf zu rechnen, daß die Altersversorgung schon in der nächsten Session perfekt werde; sie müsse aber als Zwillingskind des Tabaksmonopols, als Motiv zu demselben erscheinen und Letzterem schwimmen helfen. Von allen anderen Steuervorlagen müsse seines Erachtens jetzt abgesehen werden. Das Tabaksmonopol gewinne an Chancen, wenn es nackt und allein gebracht werde. Es wurde beschlossen, die Reichstagswahlen auf Donnerstag, den 27. Oktober, anzusetzen und den Termin in der ersten Septemberwoche zu publizieren. Va r z i n 22. August 1881. Euerer Exzellenz erlaube ich mir im Anschluß an mein Schreiben aus Kissingen über den Notstand in Holstein beiliegendes Zeitungsblatt ganz ergebenst zu übersenden, nach welchem jene Provinz leider von einer totalen Mißernte betroffen ist. Auf Grund dieser Mitteilungen, welche meine Befürchtungen noch übertrifft, wiederhole ich meine ergebenste Bitte, den Herrn Kriegsminister daran erinnern zu wollen, daß die Militärverwaltung auf freiwillige Leistungen der Bevölkerung bei dem Manöver nicht rechnen kann. (gez.) v o n B i s m a r c k .

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S c h e v e n i n g e n 26. August 1881. Euer Durchlaucht beeile ich mich ganz ergebenst zu berichten, daß ich sofort nach Empfang des aus Kissingen an mich gerichteten Schreibens in Gemeinschaft mit dem Minister des Innern den Kriegsminister auf die in Schleswig-Holstein stattgehabte Mißernte aufmerksam gemacht und demselben dringend empfohlen habe, Magazinverpflegung für Mannschaft und Pferde eintreten zu lassen, um die dortige Bevölkerung möglichst zu schonen. Eine Antwort habe ich bisher nicht erhalten, werde aber nicht verfehlen, nochmals beim Kriegsminister vorstellig zu werden. In tiefster Ehrerbietung Euer Durchlaucht ganz ergebenster (gez.) L u c i u s . Präsidium des Staatsministeriums. B e r l i n , den 18. Oktober 1881. Ew. Exzellenz beehre ich mich auf Wunsch des Herrn Ministerpräsidenten Abschrift des von demselben wegen meiner Ernennung zum Vizepräsidenten des Staatsministeriums erstatteten Immediatberichts d. d. Varzin, 6. d. M. beifolgend ganz ergebenst zu übersenden. (gez.) v o n P u t t k a m e r. An den Königlichen Staats- und Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten Herrn Dr. L u c i u s Exzellenz. Au s w är t i g e s A mt .

Va r z i n , den 6. Oktober 1881. Ew. pp haben durch Allerhöchste Order vom 17. Juni d. J. zu bestimmen geruht, daß bis zur Wiederbesetzung der von dem Grafen Stolberg bis dahin bekleideten Stelle des Vizepräsidenten des Staatsministeriums, wegen welcher Allerhöchstdieselben meinen Vorschlägen entgegensehen wollen, der geschäftliche Vorsitz im Staatsministerium von dem dienstältesten der in Berlin anwesenden Mitglieder desselben wahrzunehmen sind. Ich habe seitdem die Vorschläge erwogen, welche ich Ew. Majestät im Sinne der Allerhöchsten Ordre machen konnte, weiß aber außerhalb der Mitglieder des Staatsministeriums Ew. Majestät auch gegenwärtig keine Persönlichkeit zu nennen, deren Ernennung zum stellvertretenden Vorsitzenden des Staatsministeriums ich Ew. Majestät als zweckmäßig und als annehmbar für meine Kollegen im Staatsministerium zu bezeichnen ver512

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möchte. Auch hat mir die Zeit der Amtsdauer des Grafen Stolberg den Eindruck hinterlassen, daß die Stellung eines Ministerpräsidenten und eines Vizepräsidenten ohne Portefeuille, welcher lediglich auf die Präsidialfunktionen mit seiner Tätigkeit angewiesen ist, sich erfahrungsmäßig nicht bewährt: Sie hat für mich die Folge gehabt, daß ich den Geschäften des Staatsministeriums in größerem Maße entfremdet wurde, als mit der formellen Fortdauer meiner Verantwortlichkeit für die Gesamtpolitik verträglich war. Diesem Übelstande wäre nur dadurch vorzubeugen, daß der Vizepräsident sich über alle Vorkommnisse seines Präsidialressorts in naher und ununterbrochener Fühlung mit dem Ministerpräsidenten hielte, so daß die Richtung, in welcher der Vizepräsident die Gesamtpolitik leitet, von derjenigen des Ministerpräsidenten in wesentlichen Punkten nicht abweiche. Die Vertretung des Letzteren durch einen Staatsminister, dessen Aufgabe sich auf die Präsidialfunktionen beschränkt, wird notwendig mehr eine politische wie eine geschäftliche werden, mehr eine Ersetzung als eine Vertretung. Bei dem besten gegenseitigen Willen, wie solcher zwischen Graf Stolberg und mir vorhanden war, hat es sich doch nicht verhindern lassen, daß in den wichtigsten politischen Fragen das legislative Vorgehen des Staatsministeriums und meine Überzeugungen als Ministerpräsident weiter auseinandergingen, als ich mit meiner Verantwortlichkeit für die Gesamtpolitik verträglich fand, und zu meinem Bedauern die zwischen dem Grafen Eulenburg und mir entstandene Divergenz durch meine Nichtbeteiligung so groß geworden war, daß sie sich der Öffentlichkeit nicht mehr entziehen konnte. Hiernach möchte ich ehrfurchtsvoll bitten, daß Ew. Majestät auf die Vorschläge, denen Allerhöchstdieselben bezüglich eines Nachfolgers von Graf Stolberg laut Allerhöchster Order vom 17 Juni entgegensehen wollten, huldreichst verzichten und mir gestatten wollen, in analoger Weise, wie früher der Finanzminister Camphausen das Vizepräsidium führte, Ew. Majestät aus der Zahl der bereits vorhandenen Mitglieder des Staatsministeriums einen Stellvertreter im Präsidium vorzuschlagen. Das in der Allerhöchsten Ordre vom 17. Juni genehmigte Interimistikum, vermöge dessen der dienstälteste der anwesenden Minister den Vorsitz führt, ist für die seitdem verflossene Zeit ohne geschäftliche Unzuträglichkeiten wirksam gewesen, wenn aber mit dem Herannahen der parlamentarischen Arbeiten der Drang der Geschäfte und ihre Bedeutung sich wesentlich steigern, so stellt sich das Bedürfnis heraus, daß die Präsidialgeschäfte und die Verantwortlichkeit für dieselben auch formell dauernd in meiner Hand bleiben. Es ist dies für die Verantwortung sowohl Ew. Majestät wie den Parlamenten gegenüber 513

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als auch für die Staatsministerialbeamten ein Bedürfnis; ich allein bin aber nach dem Stande meiner Gesundheit und nach dem Maße, in welchem die Reichsgeschäfte mich in Anspruch nehmen, auch jetzt nicht fähig, diesem Bedürfnis zu genügen, und richte deshalb an Ew. Majestät die ehrfurchtsvolle Bitte, mir in der Führung des Präsidiums die dauernde Unterstützung und Vertretung eines meiner Kollegen in ähnlicher Form, wie dies zur Zeit des Vizepräsidiums des Ministers Camphausen geschehen ist, huldreichst zu gewähren. Ew. Majestät Minister des Innern von Puttkamer erfreut sich für eine solche Stellung, wie Ew. Majestät mir bereits mitzuteilen geruht haben, des vor allen Dingen unentbehrlichen Allerhöchsten Vertrauens, und hat mit Rücksicht hierauf das Staatsministerium in wiederholten Besprechungen sich mit dem Antrage einverstanden erklärt, welchen ich dahin alleruntertänigst stelle, daß Ew. Majestät den Minister des Innern, von Puttkamer, zum Vizepräsidenten des Staatsministeriums Allergnädigst ernennen wollen. Im Hinblick auf die Geneigtheit zur Genehmigung dieses Antrags, welche Ew. Majestät mir gegenüber bereits auszusprechen geruht haben, beehre ich mich, die Entwürfe zweier Ordres an den Minister des Innern und an mich mit der Bitte um huldreiche Vollziehung in Ehrfurcht zu unterbreiten. (gez.) v o n B i s m a r c k . S einer Majestät dem Kaiser und König.

18. September 1881. Ew. Durchlaucht beeile ich mich bezüglich der seitens des Reichsschatzamts an mich ergangenen Erinnerung ganz ergebenst zu erwidern, daß spätestens Mitte Oktober eine die Einwirkung der H o l z z ö l l e betreffende Denkschrift sowie ein ausführlicher Bericht über die Ergebnisse der preußischen Staatsforstverwaltung der Jahre 1879 bis 1881 in Ihren Händen sein wird. Eine größere Beschleunigung der Arbeiten war nicht möglich, weil das Forstjahr vom 1. Oktober bis 1. Oktober läuft, somit das Etatsjahr 1880/81 die Erträgnisse des Forstjahres 1. Oktober 1879 bis 1. Oktober 1880 enthält. Da nun die Holzzölle erst 1880 in Kraft getreten sind, so ist das jetzt laufende Etatsjahr 1881/82 ‒ welches die Forstverträge vom 1. Oktober 1880 bis dahin 1881 enthält ‒ somit das erste, in welchem eine Einwirkung der Zölle hervortreten kann. Die Finalabschlüsse dieses Jahres finden aber erst im Mai 1882 statt, so daß die jetzt gegebenen Zahlen nur annähernd zuverlässig sind. So viel glaube ich aber schon jetzt positiv sagen zu können: 1. Die Erträgnisse des Holzverkaufs der preußischen Forstverwaltung sind seit 1. April 1879 stetig gestiegen um ca. 5 ½ m. m., für das Etatsjahr 514

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1882/83 nehmen wir eine weitere Steigerung um 1 m. m. in Anschlag ‒ natürlich ohne Steigerung des jährlichen Einschlags. 2. Die Einführung der Holzzölle hat keine zolltechnischen Schwierigkeiten und Erschwernisse für den Holzhandel gebracht. Also würden Erhöhungen der Zollsätze auch keine zolltechnischen Schwierigkeiten ergeben. 3. Eine Steigerung der Zollsätze müßte eine sehr erhebliche sein, um sich beim rohen, unbearbeiteten Holz fühlbar zu machen, dagegen empfiehlt sich eine Erhöhung der Zollsätze für alle Sortimente bearbeiteter, behauener oder beschnittener Hölzer aller Art. 4. Am wirksamsten wird dem Interesse der Forstbesitzer im Osten gedient werden durch eine entsprechende Regelung der Eisenbahntarife für den internen deutschen Verkehr. Es finden seit Monaten kommissarische Beratungen zwischen den beteiligten Ministerien statt, welche zu einem Abschluß bisher nicht gebracht sind, obschon es am Entgegenkommen bei dem Herrn Minister der öffentlichen Arbeiten in dieser Beziehung nicht fehlt. 5. Eine wissenschaftlich gründliche statistische Arbeit über die Bewegung der Holzpreise in den letzten fünfzig Jahren befindet sich in Bearbeitung bei der Forstakademie in Münden ‒ wann diese fertiggestellt sein wird, kann ich zur Stunde nicht sagen, da sich die Betr. auf Ferienreise befinden. Eure Durchlaucht dürfen aber versichert sein, daß mit der Beschleuni­gung gearbeitet wird, welche die Schwierigkeit und Kompliziertheit der Materie gestattet. Es ist dabei das in fünfzig Jahren angesammelte Zahlenmaterial für verschiedene Holzarten aus über 700 Oberförstereien zu verarbeiten. (gez.) L u c i u s . 28. März 1882. Nachstehendes Schreiben des Reichskanzlers ist die Antwort auf einen an ihn vom Minister von Goßler im Auftrag des Staatsministeriums gerichteten Brief, in welchem von Goßler die Entscheidung erbat darüber, ob er mit Zentrum und Konservativen ein Kompromiß eingehen solle über die kirchenpolitische Vorlage, wonach zugleich das Zentrum auf eine Diskussion über den Antrag Windthorst verzichtet hätte und eine dauernde Scheidung von den Nationalliberalen besiegelt worden wäre. Ich hatte in der gestrigen Staatsministerialsitzung im Gegensatz zu Goßler-Puttkamers Meinung dieselben Ansichten ausgesprochen, wie sie der Kanzler hier entwickelt. (gez.) L u c i u s . 515

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F r i e d r i c h s r u h 27/3. 82.

E Ex. gefl. Schreiben v. heute habe ich erhalten. Von hier aus, wo mir Material und Arbeitshilfe fehlen, so daß ich die Tragweite der mir gestellten Frage nicht einmal sicher zu beurteilen vermag, in die Geschäfte einzugreifen, bin ich noch viel weniger imstande, als jetzt nach Berlin zurückzukehren, um mich mündlich zu beteiligen. Ich kann die Frage hier nicht studieren, dazu bin ich zu müde. Nach dem Leitfaden Ihres Schreibens kann ich mir nur nachstehende Bemerkungen gestatten. Ich warne vor jeder Verhandlung mit den Fraktionen. Es gibt nichts Betrüglicheres auf diesem Gebiete als deren Zusicherungen. Am allerunglaubwürdigsten sind die des Zentrums unter W.s Führung. Für uns bildet die von uns gemachte Vorlage den einzig sicheren Anhalt. Das „Finassieren“ über etwas mehr oder weniger, was uns diese oder jene Fraktion verspricht, kann keine Vorteile bieten, durch welche die Nachteile v e r f e h l t e r Kompromißversuche für Würde und Zukunft der Regierung ausgewogen würden. Halten wir an der Vorlage fest und lassen wir die Abweichungen durch die Fraktionen unter sich auskämpfen, ohne Partei zu nehmen. E s i s t nicht notwendig, daß überhaupt etwas zustande kommt. Es ist aber notwendig, daß die Regierung ihre mit königlicher Unterschrift gemachte Vorlage nicht unsicheren und unaufrichtigen Fraktionsversprechungen opfert; daß W.s Anträge v o r Ostern beraten und von der Regierung abgelehnt werden, würde ich mehr für nützlich wie für schädlich halten. Auf Versprechungen von Zentrumsstimmen für die Konservativen gebe ich keinen Pfifferling, solange W. die Führung des Zentrums hat. Die Regierung kann sich auf niemand als auf sich selbst verlassen, auch nicht auf die Konservativen, wie die Vorgeschichte des Steuererlasses zeigt, und in der kirchlichen Frage treten noch die Tripotagen mit dem Zentrum dazu, auf dessen wechselnde Vorspiegelungen die Konservativen schon so häufig hereingefallen sind. Ich rate daher von jedem Kompromiß mit irgendeiner Fraktion ab, zum einfachen Beharren bei der Vorlage, zur Annahme d e s Überrestes derselben, der aus den Parteikämpfen hervorgeht, und zur absoluten Nichteinmischung in Letztere. Ein fester Vertrag ist mit keiner der Fraktionen möglich, am allerwenigsten aber mit Windthorst, der immer in letzter Instanz tun wird, was uns am nachteiligsten ist. Ohne ausdrückliche Einwilligung Sr. M. d. K. kann meo voto das Staatsministerium in keine Änderung der Vorlage vor der definitiven Abstimmung willigen; von diesem Prinzip abzugehen, könnten wir uns nur berechtigt finden, wenn das Zu516

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standekommen von irgendetwas absolut notwendig und periculum in mora wäre. Beides liegt nicht vor; im Gegenteil halte ich unsere Situation für günstiger, wenn das Zentrum die von uns beabsichtigten Verbesserungen abvotiert und wir ohne und gegen das Zentrum mit dem Papste ein Bistum nach dem anderen besetzen. Ich würde eher bereit sein, künftig dem Papste aus e i g e n e r Initiative mit neuen Vorlagen näherzutreten, als jetzt im Kampf mit dem Zentrum irgendwelche Kapitulationen mit W. einzugehen. Damit will ich ebenso wenig ein Paktum mit anderen Fraktionen befürworten. Auch sie werden schließlich den kleinsten Fraktionsvorteil dem Staatsinteresse vorziehen. Die Regierung muß sich um ihre eigene Achse drehen und sich durch trügerische Hoffnung auf Majorität in ihrem mit k. Genehmigung wohlerwogenen Gange nicht beirren lassen. Unsere bisherige Stellung ist für die nächsten 10 Jahre ebenso haltbar, wie sie es für die vergangenen 10 Jahre war. Wir mögen dem Zentrum konzedieren, was wir wollen, tatsächlich wird sein Einfluß bei den Wahlen i m m e r unseren Gegnern verbleiben. Letztere werden wir ermutigen, wenn wir das leiseste Zeichen von Furcht vor der Diskussion w.scher Anträge von uns geben. W. selbst setzt diese Furcht bei uns voraus, wenn er den Aufschub seiner Diskussion „durchblicken“ läßt. Findet er, daß dieser Durchblick uns Eindruck macht, so wird er das veröffentlichen und ausbeuten. Mein Votum ist also kurz resümiert: Keine Zustimmung zu Modifikationen der Vorlage ohne schriftliche Allerhöchste Genehmigung, kein Antrag auf Letzteres, bevor nicht die Fraktionen durch Abstimmung im Plenum die Stellung, welche sie nehmen, demaskiert haben. In Eile und Elend (letzte Worte eigenhändig). v. B i s m . 31. März 1882. An B i s m a r c k gratuliert. Gegebene Direktive vom 27. gewiß die einzige richtige, hat aber bei dem Übereifer der Konservativen, etwas zustande zu bringen und mit dem Zentrum für die Wahlen sich enger zu liieren, eine verschlechterte Regierungsvorlage zur Folge gehabt. Zu versuchen, die kurze Fristbestimmung auszumerzen.

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K a b i n e t t s o r d r e ü b e r S t e u e r e r l e i c h t e r u n g e n v o m 1 6. J u n i 1 8 8 2 14 Aus den Verhandlungen des Reichstags über das Tabaksmonopol habe ich die Schwierigkeiten und die Schädigung des Wohlstandes zahlreicher Familien ersehen, von welchen in der heutigen Lage unserer wirtschaftlichen Entwicklung die Erhebung der Kassensteuer begleitet ist. Letztere war in ihrer ursprünglichen Veranlagung auf die jetzigen Verkehrsverhältnisse, insbesondere auf die der größeren Städte, nicht berechnet, und die Notstände, welche gegenwärtig ihre Einhebung in weiten Kreisen zur Folge hat, legen Mir die Pflicht auf, mit allen verfassungsmäßigen Mitteln die steuerliche Erleichterung Meiner Untertanen und ohne Verzug die Verminderung des bestehenden Druckes nach Maßgabe der finanziellen Möglichkeit zu erstreben. Ich erwarte daher von dem Staatsministerium für den nächsten Zusammentritt des Preußischen Landtags Vorlagen, welche geeignet sind, die Wirkungen der bestehenden Klassensteuer auf den Wohlstand und die Zufriedenheit der Bevölkerung öffentlich klarzustellen, und welche dem Landtage die Gelegenheit zu Beschlüssen gewähren, durch welche die zur Abhilfe der vorhandenen Übelstände nötigen Akte der Gesetzgebung in Preußen herbeigeführt und im Reiche vorbereitet werden können. Zur eigenen Information will Ich, daß Mir in jedem Monat eine Übersicht von der Zahl und dem Umfange der bis dahin zur Beitreibung direkter Staatssteuern, namentlich der Klassensteuer, erfolgten Zwangsvollstreckungen und, soweit dieses erreichbar ist, auch der kommunalen Zuschläge zu derselben vorgelegt wird. Eine analoge periodische Berichterstattung erwarte ich bezüglich der Erhebung und Beitreibung des Schulgeldes. Ich beauftrage Sie, den Ministerpräsidenten, den Minister des Innern, den Finanzminister und den Minister für die geistlichen und Schulangelegenheiten mit der Ausführung dieser Ordre und mit den dazu nötigen Vorbereitungen. B e r l i n , den 16. Juni 1882. (gez.) W i l h e l m . (geggez.) Fürst v o n B i s m a r c k .

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Va r z i n den 11. Juli 1882.

Verehrter Freund und Kollege! Für die Mitteilungen vom 6. d. M. danke ich Ihnen verbindlichst. Es freut mich, daß Sie aus Anlaß der Landwirtschaftlichen Ausstellung in Moskau eine Tour nach Rußland unternehmen wollen, und wünsche ich nur, daß Sie dabei den wichtigsten Zweck einer jeden Urlaubsreise, Ihre Erholung und Gesundheit, nicht aus dem Auge verlieren. Sollten Sie auf der Heimreise den Weg durch Pommern wählen, so seien Sie, bitte, eingedenk, daß derselbe nahe bei Varzin vorbeiführt, und erfreuen Sie mich durch Ihren Besuch. In freundschaftlicher Hochachtung der Ihrige von Bismarck. E i g e n h ä n d i g e s S c h r e i b e n S r. M a j e s t ä t a n M i n i s t e r v o n G o ß l e r. B a d e n 21/10. 82. Vor einigen Tagen las ich in den Zeitungen, daß Sie in Crefeld eine Simultanschule geschlossen hätten, und wollte Ihnen darüber meine Freude aussprechen, als ich in einer anderen Zeitung eine Art Widerruf dieser Nachricht las, durch Publizierung eines Erlasses von Ihnen an die Regierungen in Düsseldorf-Aachen, in welcher Sie sogar dieselbe anweisen, die evangelischen Eltern zum Besuch ihrer Kinder der Simultanschulen anzuhalten! Diese Angelegenheit interessiert mich in vielfacher Hinsicht, wie aus Nachstehendem ersichtlich wird. Vor drei Jahren ungefähr erhielt ich ein Klagegesuch der evangelischen Bürger Crefelds, die mich anflehten, die vom Minister Falk befohlene Errichtung einer Simultanschule in Crefeld nicht zu genehmigen. Durch diese Eingabe erfuhr ich zum ersten Male, daß der qu. Minister die Tendenz habe, Simultanschulen zu favorisieren. Ich verlangte sofort Bericht vom Kultusministerium mit der Frage, warum von dem für Preußen bestehenden Prinzipe konfessioneller Schulen abgewichen würde? Ich erhielt hierauf einen viele Bogen starken Bericht mit geschichtlichen Entwicklungen und weitschweifigen Räsonnements, nur keine klare Antwort auf meine einfache Frage, wohl aber anderweitig die Mitteilung, daß bereits über 260 Simultanschulen hinter meinem Rücken durch p. Falk geschaffen seien! Eine längere Korrespondenz ergab, daß p. Falk im Crefelder Fall gegen die Vorstellungen der evangelischen Eltern und gegen Bericht des damaligen 519

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Regierungspräsidenten Bitter (der mittlerweile Minister war), aber währenddes Regierungspräsident in Düsseldorf-Aachen, der s t e l l v e r t r e t e n d e R e g i e r u n g s r a t gegen die Ansicht des wie gesagt eben abgetretenen Vorgängers p. Bitter ‒ diese zarten Fragen durch sofortige Ablehnung aller Vorstellungen zum Nachteil der Evangelischen durchführte. Der Minister von Puttkamer war währenddem Kultusminister geworden und einer der ersten Vorträge von demselben bei mir betraf diese Angelegenheit. Da er ganz mit mir einverstanden im Prinzip war, daß nur konfessionelle Schulen in Preußen bestehen sollen, und nur da, wo die Zahl der e i n e n Konfession so gering ist, daß sie keine eigenen Schulen stiften kann, eine Simultanschule v o r l ä u f i g bestehen bleiben möge. Ob dies in Crefeld der Fall sei, würde untersucht werden. Der rasche Wechsel des Ministers von Puttkamer mit Ihnen muß die Veranlassung geworden sein, daß Ersterer diese Angelegenheit nicht wieder zur Sprache brachte und dieselbe mir nur durch obigen Vorgang erst wieder vor die Augen tritt. Natürlich hat mich Ihr qu. Erlaß an die Düsseldorfer Regierung überrascht, da aus demselben das Gegenteil des von mir festgehaltenen Prinzips verlassen ist; da ich nicht annehmen kann, daß eine so reiche Stadt wie Crefeld nicht so reich sein sollte, eine evangelische Schule zu gründen, um welche die evangelischen Eltern damals schon baten. Ich sehe über diesen Gegenstand Ihrem Vortrag also nächstens entgegen. Wi l h e l m . Dem Minister v o n G o ß l e r in Berlin. B e r l i n , den 28. Februar 1883. Euerer Durchlaucht beehre ich mich auf die gefälligen Schreiben vom 14. und 20. Februar c. ganz ergebenst zu erwidern, daß so unerwünscht auch in mancher Beziehung die gleichzeitige Übernahme der Mandate zum Reichstag und zum Abgeordnetenhause ist, dennoch ein gesetzliches Verbot dieser Kumulierung ‒ meines Erachtens ‒ noch nachteiligere, politische Folgen nach sich ziehen würde als die jetzigen Mißstände. Wie die Personalunion in den höchsten Reichs- und preußischen Staatsämtern für die weitere gedeihliche Entwicklung der Konsolidierung des Reichs die notwendige Voraussetzung bildet, so wird es sich auch wie schon bisher im Großen und Ganzen als förderlich für die gesamte Geschäftsführung erweisen, daß die leitenden Staatsminister der Einzelstaaten zugleich Mitglieder des Bundesrats sind und auch daß die hervorragenden 520

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Führer der maßgebenden Parteien der Landtage der Partikularstaaten zugleich Mitglieder des Reichstags sind oder wenigstens sein können. Die Zahl der politischen wie der administrativen Kapazitäten ist weder in den Regierungen noch auch in den Parlamenten eine so große, daß gewissermaßen eine doppelte Garnitur existierte. Wäre das aber auch der Fall, so läge bei einer grundsätzlichen gesetzlichen Scheidung der Mandate zu den Reichsund zu den Partikularlandtagen die Gefahr sehr nahe, daß sich gegensätzliche Strömungen innerhalb der Landtage der Einzelstaaten gegen den Reichstag entwickelten, welche, von den betreffenden Landesregierungen begünstigt, zu schweren Erschütterungen und Schädigungen in der Entwicklung des Reiches führen würden, weil das Gefüge und die Organisation desselben eine viel schwächere ist, als die der größeren Einzelstaaten. Ebenso wenig wie meines Erachtens eine Gegensätzlichkeit zwischen den Reichs- und den preußischen Staatsinteressen besteht und je sich entwickeln darf, für fast so nachteilig würde ich es erachten, wenn dauernd gerade die preußische Landesvertretung sich in Opposition zu dem Reichstage setzte, weil gerade sie der geborene Träger der nationalen Gesinnung jederzeit sein wird und bleiben muß. Bisher sind trotz der verschiedenen Wahlsysteme aus den Wahlen zum Reichstage wie zu den Landtagen der größeren deutschen Staaten wesentlich dieselben gleichartigen und gleich starken politischen Parteigruppierungen hervorgegangen. Erst bei den letzten Wahlen sind in Preußen und im Königreich Sachsen verschiedene Resultate hervorgetreten, insofern, als die Reichstagswahlen fortschrittlicher und partikularistischer, die Landtagswahlen erheblich konservativer und nationaler ausgefallen sind. Es mag diese Erscheinung weniger auf die Verschiedenheit der Wahlsysteme als auf die gerade entscheidenden Tagesfragen, welche die Wahlen beherrschten, zurückzuführen sein. Wiederholt sich aber diese Erscheinung, so würde sie meines Erachtens nur zu der Erwägung führen können, welche gesetzgeberischen oder administrativen Maßregeln seitens der Regierungen zu ergreifen wären, um ähnliche günstige Resultate bei den Reichstag- wie bei den Landtagswahlen herbeizuführen. Wenn ich es somit an sich nicht für politisch richtig erachte, überhaupt eine gesetzliche Einschränkung bezüglich der Übernahme zweier Mandate zu statuieren, so würde ich, falls dieser Versuch gemacht werden sollte, glauben, daß das Verbot nicht auf die Mitglieder des Preußischen Abgeordnetenhauses beschränkt werden dürfte, sondern daß es sich zugleich auch auf die Mitglieder sämtlicher aus Wahlen hervorgegangener Partikularlandtage erstrecken müßte. 521

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Anderenfalls würde eine empfindliche Zurücksetzung der preußischen Staatsangehörigen stattfinden. Gegen die Einführung des Systems der Stellvertretung dürfte die Tatsache sprechen, daß dasselbe sich in keinem großen Staate findet und daß es, wo es, wie nach dem Wahlgesetz vom 8. April 1848 und der Verordnung vom 11. April 1848 bestanden hat, nach kurzer Zeit wieder abgeschafft worden ist. (gez.) L u c i u s . An den Königlichen Ministerpräsidenten und Minister der auswärtigen Angelegenheiten Fürsten v o n B i s m a r c k , Durchlaucht. B e r l i n 11. Juni 1883. In einer Zusammenlegungssache in Holstein wird der Grundsatz aufgestellt, daß bei Einschätzung der Klassenwerte n a c h d e n b e s t e h e n d e n I n s t r u k t i o n e n die Frage der Entfernung vom Wirtschaftshofe nicht berücksichtigt wird. Ist dies wirklich der Fall oder ein Mißverständnis? Schon Koppe und nach ihm andere stellen den Satz auf, daß ein Grundstück, welches nicht der ersten Klasse angehört, bereits durch eine Entfernung ton 2500 Schritt vom Hofe für gedüngten Ackerbau wertlos wird. Sollte diese Tatsache in den Instruktionen der Auseinandersetzungsbehörde unberücksichtigt geblieben sein? (gez.) v o n B i s m a r c k . K i s s i n g e n 20. August 1883.

Verehrter Freund! Der Regierungsassessor von Hove, der die sehr komplizierte Ablösungssache zwischen dem Sachsenwald und einer großen Anzahl von Gemeinden in Händen hat, ist etatsmäßig zu einer anderweiten Stellung aufgerückt; in Hannover fehlt aber eine Vakanz für ihn. Vor Ende März wird er die von ihm vor Jahren begonnene Arbeit kaum beendigen können, und wenn inzwischen ein anderer die Erledigung dieser verwickelten Angelegenheit übernähme, so würde jeder Nachfolger von Hoves Schwierigkeiten haben, sich hineinzuarbeiten. Ich erlaube mir deshalb, die Anfrage an Sie zu richten, ob es nicht möglich wäre, Herrn von Hove ohne Schädigung seines Avancements diese Arbeit noch abschließen zu lassen, da sonst wahrscheinlich noch lange Zeit für die Fruktifizierung der Auseinandersetzung verloren gehen würde. ‒ Herr von Hove selbst würde mit dieser Einrichtung einverstanden sein, da auch ihm daran liegt, die Arbeit, die er bis nahe ans Ende geführt, abzuschließen. 522

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Ich hoffe, es ist Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin während des Sommers stets gut gegangen. Mir geht es hier, wenn auch langsam, so doch allmählich besser, und ich hoffe zum Winter gesunder nach Berlin zurückzukehren, als ich es verließ. Der Ihrige (gez.) v o n B i s m a r c k . A n t w o r t a u f e i n S c h r e i b e n v o m 11. August 1885. Vertraulich. Va r z i n den 14. August 1885. Euer Exzellenz gefälliges Schreiben vom 11. d. M. habe ich zu erhalten die Ehre gehabt. Wenn die Euerer Exzellenz vorliegenden Anzeigen über die Zunahme des Schweineschmuggels an der russischen Grenze auf Wahrheit beruhen, so liegt darin meiner Ansicht nach weniger ein Grund für Aufhebung des Einfuhrverbots als für eine Verschärfung unserer Kontrolleinrichtungen an der Grenze. Ich möchte Euerer Exzellenz vorschlagen, sich wegen der Zunahme des Schmuggels mit dem Herrn Finanzminister in Verbindung zu setzen, der gewiß bereit sein wird, für eine strengere Grenzbewachung Sorge zu tragen. Die von Euerer Exzellenz hervorgehobenen niedrigen Preise der Schweine sprechen meines Erachtens mehr für die Aufrechterhaltung als für die Aufhebung der Sperre. Die Freigebung der Grenze würde voraussichtlich die Konsequenz haben, daß Deutschland in kürzester Zeit mit russischen und ungarischen Schweinen überschwemmt werden würde und daß die schon gedrückten Preise noch weiter herabgehen würden. Daß die Viehhändler und namentlich die den Import betreibenden die Aufhebung der Sperre wünschen, ist natürlich; dieselben haben an der Einfuhr fremder Schweine mehr Interesse als an dem Gedeihen und den Sanitätsverhältnissen der deutschen Landwirtschaft. Im Interesse der Letzteren und ihrer Notlage gegenüber kann ich mich nicht entschließen, bei einer Maßregel mitzuwirken, welche ihr weiteren Schaden bringen würde. Wenn Eure Exzellenz als nächster Vertreter der Landwirte anderer Ansicht sind, so möchte ich wenigstens die Verantwortlichkeit dafür und die Aufgabe der öffentlichen Vertretung nicht teilen. (gez.) v o n B i s m a r c k .

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Sr. Exzellenz Herrn L u c i u s Berlin. Vertraulich.

Va r z i n , den 19. August 1885. Euerer Exzellenz gefälliges Schreiben vom 17. d. M. habe ich zu erhalten die Ehre gehabt und danke Ihnen für die offene Darlegung Ihrer Ansichten. In der Differenz unserer Auffassung über die Schweinesperre liegt kein Grund für Ihren Rücktritt. Wenn Euerer Exzellenz Überzeugung in einer Angelegenheit, die Ihrem Ressort angehört, eine von der meinigen verschiedene ist, so ist der Wert, den Ihre Mitwirkung im Ganzen für mich hat, zu hoch, um auf unsere weitere gemeinschaftliche Tätigkeit zu verzichten. Ich lasse deshalb meinen Widerspruch gegen die Aufhebung des Schweineeinfuhrverbots fallen; nicht weil ich von der Nützlichkeit der Aufhebung überzeugt bin, sondern weil ich die Frage der kollegialen Übereinstimmung für wichtiger halte als die der Einfuhr der Schweine. Nur bitte ich Euere Exzellenz bei der Aufhebung in einer Form vorzugehen, welche mich von der Verantwortlichkeit dafür freiläßt; also in der Form einer Verfügung des Königlichen Landwirtschaftlichen Ministeriums. Die Ansichten der Regierungspräsidenten über die Bedürfnisse der Landwirtschaft haben für mich nicht die gleiche Autorität wie die Euerer Exzellenz; auch möchte ich darauf aufmerksam machen, daß, wenn demnächst aus sanitären Gründen die Schweinesperre wiedereingeführt werden müßte, meines Erachtens der Handel unter der daraus folgenden Geschäftsunsicherheit mehr leiden wird, als wenn eine der beiden Alternativen dauernd bestände, und daß namentlich der Landwirtschaft dadurch die Möglichkeit geraubt wird, die eigene Schweineaufzucht stärker zu betreiben, um den bei der Sperre eintretenden Ausfall der Einfuhr im Lande selbst zu decken. Ich spreche diese meine Ansicht nur aus, um zu konstatieren, daß und warum ich nicht überzeugt bin, nicht aber um meinen Widerspruch gegen Euerer Exzellenz Intentionen aufrechtzuhalten. (gez.) v o n B i s m a r c k . Er. Exzellenz Herrn Staatsminister L u c i u s Berlin.

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N o r d o s t s e e k a n a l .15 Präsidium des Staatsministeriums.

Va r z i n den 17. August 1885.

Votum des Ministerpräsidenten zu St. M. S. I. 120/85. Dem Königlichen Staatsministerium vorzulegen. Der Herr Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten hat in seinem Votum vom 22. Juni d. J. die Ansicht ausgesprochen, daß die Landeskultur- und Grundbesitzinteressen, welche bei dem Bau des Nordostseekanals in Frage kommen, einen Präzipualbeitrag Preußens überhaupt nicht rechtfertigen würden, sondern daß ein solcher lediglich nach den in Betracht kommenden Landesverteidigungs- und Schifffahrtsinteressen zu bemessen sei. Nach meinen persönlichen Erfahrungen, welche schon durch den Unterschied der lokalen Preise landwirtschaftlicher Produktion in unseren Ostseeprovinzen und in den Nordseehäfen unterstützt werden, kann ich jener Auffassung nicht zustimmen und glaube nicht, daß wir mit der Behauptung, der Kanalbau sei für die unmittelbar beteiligten Provinzen eine gleichgültige Sache, im Reiche Glauben finden werden. Diese meine Meinung wird auch von Sachkundigen, welche mit den holsteinischen Verhältnissen näher vertraut sind, geteilt. Der Meliorationsbauinspektor der Provinz Schleswig-Holstein, Baurat Runde in Schleswig, hat den Einfluß des Kanals auf die Ent- und Bewässerung und die Deichverhältnisse der Landesteile, welche derselbe durchschneiden soll, eingehend geprüft und in einem unter den Erläuterungsberichten von Dahlström abgedruckten Gutachten d. d. Schleswig im November 1880 als sehr günstig dargestellt. Am Schlusse einer streckenweise in alle Einzelheiten eintretenden Erörterung faßt Runde seine Ansicht dahin zusammen: Der Kanal werde in seiner ganzen Länge zu den segensreichsten, weitgehendsten Meliorationen Anlaß geben können, ohne Störungen nach sich zu ziehen, welche sich nicht auf das Einfachste beseitigen ließen; in Gegenden, in denen ein Schifffahrtsbetrieb bisher nicht möglich gewesen, werde er für die landwirtschaftlichen Beziehungen bedeutend und wichtig werden. Nach allen Seiten hin werde ein nicht abzuleugnender Segen eintreten, und es sei der Wunsch gerechtfertigt, daß die etwaigen Hindernisse dieses bedeutendsten Werks sich beseitigen ließen. Aber nicht nur die holsteinische, sondern die ganze preußische Ostseeküste hat ein wesentliches Interesse 15 S. o. S. 290 f.

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daran, mit ihren Schiffen und Gütern rascher und sicherer als bisher in die Nordsee zu gelangen, da sie infolge des langen und fast zu allen Zeiten gefährlichen Umwegs durch das Kattegat und um das Kap Skagen dem großen Weltverkehr weit ferner steht als die Hafenplätze an der Nordsee wie Bremen und Hamburg, deren Interesse an einer erleichterten Verbindung mit der fast wie ein Binnenmeer abgeschlossenen Ostsee viel geringer ist als das Bedürfnis der Ostseeplätze nach einer Abkürzung und Sicherung des Weges zur Nordsee und zum Atlantischen Meere. Die beigefügte, aus der Reichsstatistik von 1884 zusammengestellte Übersicht ergibt, daß aus den vier größeren altpreußischen Ostseehäfen schon bei den jetzigen ungünstigen Verbindungen im Jahre 1883 mehr als 12 Millionen Doppelzentner an Erzeugnissen der Land- und Forstwirtschaft nach der Nordsee und weiterhin verschifft sind und daß der Eingang von dorther in dieselben Häfen mehr als 14 Millionen Doppelzentner sonstiger Güter beträgt. Auf diesen beträchtlichen, erheblicher Steigerung fähigen Verkehr der Ostseehäfen mit der Nordsee und auf die Interessen der Geschäftsleute in jenen Häfen ist ein großer Wert zu legen, dessen Gewicht sich erhöht, wenn man daneben den Interessen der pommerschen, ost- und westpreußischen und schleswig-holsteinschen Landwirtschaft und ihrem berechtigten Anspruch auf Hebung ihres Verkehrs die gebührende Berücksichtigung zuteilwerden läßt. Wollte übrigens das Reich sein Interesse an dem Kanalbau so hoch veranschlagen, daß es auch noch den dem preußischen Staate angesonnenen Präzipualbeitrag von 50 Millionen Mark übernähme, so würden davon nach dem Reichsmatrikularfuße auf Preußen 30.153.285 Mark fallen. Es beträgt also, wenn Preußen die ganzen 50 Millionen zu zahlen sich erbietet, seine wirkliche Mehrbelastung gegenüber den anderen Staaten doch nur 50.000.000 ‒ 30.153.285 = 19.846.715 Mark. Nimmt man nach der anliegenden Übersicht die ganze jährliche Einfuhr der erwähnten Ostseehäfen auf rund 20 Millionen Doppelzentner und die jährliche Ausfuhr etwa ebenso hoch an, so berechnet sich das Plus, welches Preußen für den Kanalbau aufwenden soll, auf eine halbe Mark für den Doppelzentner, und diese Aufwendung ist nicht eine sich jährlich wiederholende, sondern nur eine einmalige. Ein solches Präzipuum erscheint an sich als ein mäßiges; umso weniger wird sich Preußen der Übernahme desselben entziehen dürfen, wenn seine eigentümliche Stellung unter den deutschen Seestaaten genügend erwogen wird. Einmal liegt es in der Billigkeit, daß derjenige Einzelstaat, in dessen Gebiet der neue Verkehrsweg auf Reichskosten eröffnet wird, dafür einen Teil der Ausgabe vorweg leistet. Sodann ist nicht zu übersehen, daß Preußen nicht wie 526

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die übrigen deutschen Küstenstaaten auf ein kleines Territorium beschränkt ist, sondern in den Stromgebieten der Ostsee ein weit ausgedehntes Hinterland besitzt, das naturgemäß an der Verkehrserleichterung teilnehmen wird, auf welche die neue Kanalanlage den Ostseehäfen Aussicht eröffnet. Ich stelle nunmehr den Antrag, die Angelegenheit auf das Vortragsregister des Königlichen Staatsministeriums zu setzen, die Beschlußfassung über die Ziffer des preußischen Präzipualbeitrags aber noch vorzubehalten, da dieselbe definitiv erst einstellbar ist, wenn die Auffassung der übrigen Bundesregierungen konstatiert sein wird; denn diese werden ohne Zweifel bestrebt sein, den besonderen Beitrag Preußens im Wege der Unterhandlungen über die von mir befürwortete Summe hinaus zu steigern. Abschrift dieses Votums habe ich sämtlichen Herren Staatsministern mitgeteilt. (gez.) Fürst v o n B i s m a r c k . An die Herren Staatsminister. St. M. 120/85. F r i e d r i c h s r u h den 4. Dezember 1887. Euerer Exzellenz gefälliges Schreiben vom 2. d. M. habe ich zu erhalten die Ehre gehabt und benutze diese Gelegenheit, um Ihnen meinen verbindlichsten Dank für die entschiedene und beredte Weise auszusprechen, mit welcher Sie die alleinige Vertretung der Getreidezollvorlage wahrgenommen haben. Ich teile Euerer Exzellenz Ansicht vollkommen, daß eine Verquickung der Fragen der Währung und des Identitätsnachweises mit der des Getreidezolles letztere schädigen würde; hoffentlich wird es Euerer Exzellenz Bemühungen gelingen, die Kommissionsberatungen von dieser Vermischung frei zu halten. Meines Erachtens würde es nützlich sein, in der Kommission mehr darauf hinzuweisen, daß die Erhöhung der Getreidezölle uns die einzige Handhabe bietet, um dem russischen Prohibitivsystem wirksam entgegenzutreten. Wir können wegen Zollfragen keinen Krieg mit Rußland beginnen und die politischen Gegensätze ihretwegen nicht verschärfen, wohl aber können wir durch Erschwerung der russischen Einfuhr nach Deutschland Rußland nötigen, seinerseits auf unsere Interessen mehr Rücksicht zu nehmen. Dazu bieten die Getreidezölle die erste und wirksamste Handhabe. (gez.) v o n B i s m a r c k .

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Sr. Exzellenz Herrn L u c i u s Berlin. F r i e d r i c h s r u h den 11. Dezember 1887. Euerer Exzellenz gefälliges Schreiben von gestern habe ich mit verbindlichstem Danke erhalten und kein Bedenken gegen die in Aussicht genommene Haltung bei der zweiten Beratung der Getreidezölle; ich bin der Ansicht, daß die verbündeten Regierungen zwar die Vorlage festhalten, aber schließlich nehmen müssen, was sie bekommen können, einmal aus finanziellen, dann aber auch aus agrarischen Gründen, da auch eine geringere Steigerung der Zölle immer doch einigen, wenn auch geringen Nutzen für die Landwirtschaft haben wird. Ich bedaure die Annahme des windthorstschen Antrages, durch welchen allerhand Intrigen und Spekulationen freie Bahn geschaffen wird, stimme aber mit Euerer Exzellenz darin überein, daß wir wegen dieses Antrages die Vorlage nicht zu Falle bringen dürfen. (gez.) v o n B i s m a r c k . Sr. Exzellenz Herrn L u c i u s Berlin. Auswärtiges Amt.

15. Dezember 1887. Euerer Exzellenz gefälliges Schreiben von vorgestern betreffend russische Zollpolitik habe ich beim Herrn Reichskanzler in Vorlage gebracht; derselbe hat dazu bemerkt, seiner Ansicht nach ließe sich vonseiten der Regierung jetzt nichts mehr tun, es würde ihm aber nützlich erscheinen, wenn bei der dritten Lesung aus der Mitte des Hauses darauf hingewiesen würde, daß hohe Getreidezölle unsere wirksamste Waffe wären gegen das russische Prohibitivsystem. (gez.) H. v. B i s m a r c k . Reichskanzler.

B e r l i n , 19. Dezember 1887. Ew. Exzellenz beehre ich mich im Auftrage des Herrn Reichskanzlers auf die geneigten Schreiben vom 15. und 17. d. M. ganz ergebenst zu erwidern, daß Seine Durchlaucht Hochdero Auffassung teilt und demnach der Ansicht ist, daß der Gesetzentwurf betreffend die Abänderung des Zolltarifs in der Fassung, die derselbe durch die Beschlüsse des Reichstags in dritter Beratung erhalten hat, angenommen und publiziert werden muß. (gez.) R o t t e n b u r g 528

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Brm. Sr. Exzellenz Herrn von Bötticher vorzulegen.

Lucius. Mit verbindlichstem Danke zurückgesandt. Ich werde in der heutigen Bundesratssitzung die preußische Stimme demnach für die Beschlüsse des Reichstags abgeben. (gez.) v. B ö t t i c h e r. B e r l i n 30. Juli 1888. Ew. Durchlaucht bitte ich, mir gestatten zu wollen, einige politische Wahrnehmungen, welche ich auf meinen letzten Dienstreisen besonders in Westfalen, Hannover und Sachsen gemacht habe, mitteilen zu dürfen. Die Kreuzzeitungspartei ist offenbar entschlossen in der Annahme, bei dem jungen Monarchen Boden dafür zu finden, um jeden Preis im Abgeordnetenhause eine rein konservative oder klerikal-konservative Majorität zu bilden, das Auftreten der Herren von Rauchhaupt und von Helldorf in der Presse und in Versammlungen läßt kaum einen Zweifel darüber, daß dieses Ziel auch unter Beseitigung des g e s a m t e n gegenwärtigen Ministerium erstrebt wird. Die Bildung einer hochkonservativen Majorität halte ich weder für möglich noch auch für wünschenswert ‒ sie würde der Fortentwicklung der nationalen Politik weder in Preußen noch im Reich förderlich sein, sie würde vielmehr als ein unfruchtbares, engherziges Parteiregiment in kurzer Zeit zu empfindlichen Rückschlägen und zu einer Verschiebung der gemäßigten Parteien in das fortschrittliche Lager führen. Ebenso wenig wird eine konservativ-klerikale Mehrheit in der Hauptsache der Träger einer nationalen Politik sein können, weil ein starkes preußisches Königstum den klerikalen Führern stets antipathisch bleiben und weil die Schule, vom Staat abgelöst, den orthodoxen Parteiinteressen preisgegeben werden würde. Läßt das preußische Staatsministerium die jetzige Bewegung gewähren, so ist eine Zerklüftung und Zersplitterung der gemäßigten Parteien, insbesondere die Absprengung des linken Flügels der Nationalliberalen in das fortschrittliche Lager, mindestens wahrscheinlich. Auch in der Beamtenwelt fühlt sich das bürgerliche Element bei den höheren Stellenbesetzungen vielfach zurückgesetzt und nicht genügend berücksichtigt. Gibt das Ministerium dagegen seine Absicht, die extrem politischen und kirchlichen Parteien nicht begünstigen zu wollen, durch bestimmte 529

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Tatsachen und Maßnahmen kund, so ist es wahrscheinlich, daß die gemäßigten, einsichtigen und patriotischen Elemente sich zusammenfinden und bei den nächsten Wahlen die Oberhand gewinnen. In dieser Richtung würde die von Ew. Durchlaucht in der letzten Sitzung des Staatsministeriums angeregte Besetzung des Oberpräsidiums in Hannover mit Herrn von Bennigsen und etwa die Besetzung des Oberpräsidiums in Kassel mit Miquel höchst wirksam sein. Es ist mir natürlich völlig unbekannt, ob die Genannten nicht höhere Aspirationen haben und ob sie diese Posten annehmen würden. Allein es ist wahrscheinlicher, daß eher b e i d e als der eine ohne den anderen sich zur Annahme eines hohen Postens entschließen. Herr von Leipziger würde in Danzig, Graf Eulenburg in Koblenz Verwendung finden können. Ich habe mich verpflichtet gehalten, Ew. Durchlaucht diese Erwägungen zu unterbreiten, weil, wenn etwas geschehen soll, das bald geschehen muß, und stelle völlig anheim, welche Folge Sie denselben geben wollen. In alter treuer Verehrung Lucius B e r l i n 8. Dezember 1888.16 Ew. Durchlaucht bitte ich, es nicht ungnädig aufnehmen zu wollen, wenn ich mir erlaube, die Bedenken vorzutragen, welche gegen die Erstattung des gestern im Staatsministerium beschlossenen Immediatberichts sprechen. Seine Majestät haben, wie es scheint, die Neigung, ihn besonders interessierende Angelegenheiten nicht nur mit dem betreffenden Ressortminister, sondern auch mit jüngeren Militärs, Zivilbeamten, Abgeordneten und sonstigen Herren der Umgebung zu besprechen. Es könnte nun sehr leicht sein, daß Höchstderselbe in der fraglichen Angelegenheit den Eindruck bereits gewonnen hat, daß sowohl der Zeitpunkt für die Einbringung der gewünschten Vorlage ein besonders günstiger als wie die Bereitwilligkeit für die Annahme eine besonders große im Abgeordnetenhause sei. Für die sofortige Einbringung wird angeführt die günstige augenblickliche Finanzlage, der Hofhalt der zwei verwitweten Kaiserinnen und die durch noch keine Enttäuschung getrübte hochstehende Popularität des Monarchen. In allen diesen Beziehungen können sich innerhalb Jahresfrist Veränderungen vollziehen und die Bereitwilligkeit des Abgeordnetenhauses 16 S. o. S. 431.

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kann, auch wenn sich die Zusammensetzung nicht ändert, bis dahin doch eine geminderte sein. Der Immediatbericht, welcher nun die Opportunität der Einbringung einer Vorlage entschieden in Abrede stellt und sich in der Motivierung nahezu bis zur Verneinung des Bedürfnisses einer Erhöhung der Krondotation steigert ‒ kann leicht auf Seine Majestät den Eindruck machen, als mangle es dem Staatsministerium an dem nötigen guten Willen oder an dem richtigen Urteil über die augenblickliche parlamentarische Lage. Dieser Erfolg könnte aber meines Erachtens für die weitere Entwicklung der Dinge in verschiedener Beziehung recht verhängnisvoll werden. Eine Sondierung der auch im Abgeordnetenhause leitenden Parteiführer kann ohne Schwierigkeit schon jetzt geschehen ‒ von Hüne, Graf Behr, von Wedell-Malchow und Rauchhaupt, von Benda, Hobrecht gehören beiden Häusern an, und von Bennigsen hat, auch ohne im Abgeordnetenhause zu sein, den entscheidenden Einfluß auch dort. Ich nehme dabei an, daß die Fortschrittspartei überhaupt bei den beabsichtigten Sondierungen nicht zugezogen wird. Die Annahme einer mäßigen Erhöhung (3 Millionen Mark) mit einer großen Majorität halte ich für ganz sicher, ob ohne Diskussion ist jetzt ebenso unsicher wie etwa später. Es kommt dabei von vornherein weniger die Güte der Motivierung der Vorlage in Frage als der gute Willen der Abgeordneten, und dieser ist jetzt sicher vorhanden. Indem ich bitte, diese freimütige Äußerung zu entschuldigen und in hochgeneigte Erwägung zu nehmen, verharre in alter Gesinnung und größter Verehrung. Lucius. F r i e d r i c h s r u h , den 10. Dezember 1888. Euerer Exzellenz danke ich verbindlichst für Ihr gefälliges Schreiben vom 8. d. M. Die in demselben enthaltenen Erwägungen habe auch ich angestellt; dabei bin ich aber unter dem Eindruck geblieben, daß wir Seiner Majestät nicht empfehlen können, ohne vorsichtige Sondierung der Fraktionsführer mit amtlichen, von Seiner Majestät vollzogenen Vorlagen an den Landtag zu gehen. Die Bedürfnisfrage ist mir nicht zweifelhaft, Angesichts der Mehrbelastung der Krone durch die Apanagen der beiden verwitweten Kaiserinnen und aus anderen Gründen, und ist dies auch in dem Immediatberichte ausgedrückt. Für mich ist auch das Gegenargument, welches in den Ersparnissen Kaiser 531

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Wilhelms I. liegt, nicht durchschlagend, weil ich die Genesis der letzteren genauer kenne, als sie öffentlich dargelegt werden kann. Aber eben deshalb dürfen wir den Monarchen, wenn mit seiner Unterschrift die Vorlage eingebracht wird, keiner Zurückweisung aussetzen. Ich habe wenigstens nicht den Mut, Seiner Majestät gegenüber die Verantwortung für solchen Verlauf zu übernehmen, ohne den Herrn auf die Möglichkeit und deren Folgen aufmerksam gemacht zu haben. Bisher ist in der Richtung der Sondierung, soweit mir bekannt, nichts geschehen. Wir wissen zurzeit nicht einmal sicher, wie die beiden konservativen Parteien sich zu der Sache stellen werden und ob die durch Graf Douglas, Herrn von Liliencron und andere Seiner Majestät gegebenen Nachrichten sicher sind. Auch ich hoffe, daß eine Mehrforderung von drei Millionen, vielleicht auch mehr durchzubringen ist. Aber wir müssen Seiner Majestät mehr Sicherheit darüber geben können, als wir bisher selbst haben, und auch um die Höhe, bis zu der Aussicht auf Annahme ist, beurteilen zu können, ist die Sondierung unentbehrlich; sonst müssen wir uns vielleicht später sagen lassen, daß die von Seiner Majestät für erforderlich gehaltenen sechs Millionen ebenso leicht zu haben gewesen wären wie drei und daß wir Seine Majestät um diesen Betrag geschädigt haben. Das Günstigste wäre, wenn ein Initiativantrag aus dem Hause erreichbar wäre; ob es der Fall ist, können wir nur sondierend ermitteln. Jeder Antrag mit Allerhöchster Unterschrift ist dem Mißbrauch durch die Sozialdemokraten in viel höherem Maße ausgesetzt als ein aus parlamentarischer Initiative entstehendes Gesetz. Die Wahrscheinlichkeit, einen Satz von drei Millionen durchzubringen, wird, wie ich glaube, im nächsten Jahre gleich groß sein wie heut; die G e w i ß h e i t , deren Seine Majestät bedarf, haben wir aber auch heute noch nicht. (gez.) von B i s m a r c k . Sr. Exzellenz Herrn v o n L u c i u s . NB.! Der Verlauf hat meine Prognose völlig bestätigt. Es wurden im Abgeordnetenhause ohne Diskussion gegen 8 Stimmen ‒ mit kurzen Erklärungen ‒ 3 ½ Millionen am 9. und 12. Februar bewilligt. Ohne die inzwischen erfolgte Publikation der geffckenschen Anklageschrift und die Ernennung Schellings zum Justizminister wären auch nach Böttichers Ansicht 4 ½ bewilligt worden. 13. Februar 1889. Lucius. 532

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B e r l i n 18. Dezember 1892. Eure Durchlaucht wollen es nicht als eine Indiskretion oder als den Versuch unbefugter Einmischung auffassen, wenn ich mir folgende Mitteilung erlaube. Auf der gestrigen Hofjagd in Letzlingen brachten erst der Oberhofmarschall Graf Eulenburg, später der Oberst v. K., jeder für sich aus eigenem Antrieb, das Gespräch auf Ew. Durchlaucht Verhältnis zu Seiner Majestät und äußerten sich in fast völlig wörtlich gleichlautenden Wendungen folgendermaßen: „Seine Majestät habe Seine Stimmung Ew. Durchlaucht gegenüber wesentlich geändert. Wenn er auch eine förmliche Versöhnung als dem Verhältnis zwischen Souverain und Untertan nicht entsprechend ansehe, so würde er doch gern Ew. Durchlaucht unbefangen wie in früherer Zeit empfangen, wenn Sie sich bei ihm im Schloß zu Berlin persönlich melden wollten ohne weitere besondere Vorbereitung.“ Ich habe zu diesen Gesprächen n i c h t die Initiative ergriffen, auch nur darauf geantwortet, „bisher schienen mir unberufene Vermittlungsversuche mehr geschadet als genützt zu haben, ohne besonderen ausdrücklichen Auftrag dazu von der einen oder anderen Seite sei niemand berechtigt, sich einer solchen Mission zu unterziehen“. Seine Majestät hat keine diesbezügliche direkte Äußerung mir gegenüber getan, sondern mich mit derselben an Unfreundlichkeit streifenden kühlen Reserve behandelt, welche er in letzter Zeit mir gegenüber beobachtet hat. Da beide genannten Herren ‒ wie mir schien ‒ nicht ohne bestimmte Absicht handelten, so habe ich nach weiterer Überlegung doch geglaubt, Ew. Durchlaucht hiervon Mitteilung machen zu sollen, ohne meinerseits eine Meinung zur Sache zu äußern. Über die grobe Ungehörigkeit des „Wiener Steckbriefs“ selbst sowohl wie über dessen amtliche Publikation äußerten sich außer den genannten Herren auch Fürst St. im scharf verurteilenden Sinn. Indem ich in dieser Mitteilung bitte, lediglich den Ausdruck alter Gesinnung treuer dankbarer Verehrung zu sehen, verharre ich mit den besten Wünschen zum Fest als Ew. Durchlaucht gehorsamer Lucius.

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F r i e d r i c h s r u h , den 20. Dezember 1892.

Geehrter Freund! Ihr Schreiben vom 18. habe ich mit verbindlichstem Danke erhalten und bitte Sie, zunächst zu entschuldigen, daß ich es nicht eigenhändig beantworte. In meinen Jahren machen sich alte Schäden, Wunden oder Knochenbrüche gelegentlich fühlbar und so im Augenblick mein achtzehnjähriges Andenken an Kullmann, meine rechte Hand im Daumen schreibunfähig. Ich habe mich über Ihren Brief, der mir wieder zeigt, daß unsere Beziehungen im Gegensatz zu denen so vieler meiner älteren Freunde auch nach meinem Ausscheiden aus dem Amte die früheren geblieben sind, herzlich gefreut, und auch deshalb, weil ich aus demselben ersah, daß Eulenburg und Kessel mir eine wohlwollende Erinnerung bewahrt haben. Die Äußerungen beider bilden aber keine Brücke, auf die ich treten könnte. Die Herren haben ganz recht darin, daß eine „Versöhnung“ zwischen Monarch und Untertan kein Begriff ist, der unseren Auffassungen entspricht. Ich sehe die Sache so an, daß ich bei dem Monarchen in „Ungnade“ geraten bin, und diesen Zustand kann ich meinerseits ebenso wenig ändern wie das Wetter. Wenn ich, ohne befohlen zu sein, im Schlosse erschiene, so würden Eulenburgs und Kessels Äußerungen mir dort keine sichere Bürgschaft gegen neue Enttäuschungen gewähren, und auch wenn ich auf neue Kränkungen in meinem inneren Gefühle kein Gewicht lege, würde mein ungerufenes Erscheinen im Schlosse doch immer den Eindruck machen, als wünschte ich irgendetwas zu erreichen, einen streberhaften Eindruck, der mir in meinen hohen Jahren noch peinlicher wie früher sein würde. Die Aussicht, am Hofe „geduldet“ zu werden, hat für mich nichts Verlockendes; ich bin niemals ein Höfling gewesen, auch selbst nicht dem alten Kaiser gegenüber, und habe mich in den letzten zehn Jahren meines Amtes schon von höfischen Beziehungen ferngehalten. Ich bin zu alt und zu matt, um durch Erneuerung derselben meine Lebensgewohnheiten zu erschweren, aber auch, wenn ich diese greisenhafte Bequemlichkeit überwinden wollte, so kann ich mich doch nicht aus eigenem Antriebe in ein Haus begeben, dessen Herr mir in unfreundlicher Form die Tür gewiesen hat. ‒ Wenn ich die ganze feindselige Form, in der mein Rücktritt erzwungen wurde, als eine verjährte Kränkung ansehen wollte, so stehen doch meine diesjährigen Wiener Erlebnisse und die bekannten amtlichen Veröffentlichungen darüber mir als Hindernis auf dem Wege zum Schlosse in Berlin entgegen. Ich sage dies ohne jeden Anflug von Verstimmung, aber ich kann die Achtung aller Menschen entbehren, nur meine eigene nicht, und die würde Schaden leiden, wenn ich nach allen Erlebnissen Schritte tun wollte, 534

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die wie Streberei ausgelegt werden könnten. Meine „Ungnade“ äußerlich in Vergessenheit zu bringen, ist für den Monarchen sehr leicht, für mich ohne „Schusterei“ kaum möglich. Jedenfalls danke ich Ihnen von Herzen für die Offenheit und das Wohlwollen, mit dem Sie sich mir gegenüber ausgesprochen haben und die mich zur gleichen Offenheit, aber nur Ihnen als altem Freunde und Kollegen gegenüber, veranlaßt. Ich wünsche Ihnen frohe Feiertage und bitte Sie, mich den Ihrigen und namentlich der Frau Gemahlin zu Gnaden zu empfehlen. Der Ihrige von Bismarck. Va r z i n , den 28. November 1894. Verehrter Freund und Kollege! Mit herzlichem Danke habe ich den Ausdruck Ihrer Teilnahme an meiner Trauer empfangen; derselbe war mir umso wohltuender, als meine liebe Frau mit mir stets die Erinnerung bewahrt hat, daß wir nicht nur politisch, sondern auch persönlich treu befreundet waren. Der Ihrige v. B i s m a r c k

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Brief von Otto von Bismarck an Robert Lucius von Ballhausen aus Varzin vom 28. November 1894

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Nachwort von Christopher M. Clark17 2021 jährt sich die Gründung des Deutsches Reiches zum 150. Mal. Bei runden Jubiläen schaut man gerne zurück. Das gilt im Großen wie im Kleinen. Wenn ich dieser Tage über Bismarck nachdenke, komme ich immer wieder auf die Biographie zurück, die mein Doktorvater Jonathan Steinberg 2012 über den „Eisernen Kanzler“ veröffentlicht hat. In der überaus anregenden historiographischen Landschaft, die sich in den letzten anderthalb Jahrhunderten zu Bismarck ausgeformt hat, schlägt dieses Werk über den Magier der Macht einen ganz besonderen Weg ein. Statt Bismarck primär durch die Brille seiner eigenen Aussagen zu betrachten, konzentriert sich Steinberg nämlich darauf, was die Zeitgenossen des Reichsgründers über diesen gesagt und gedacht haben. Das Narrativ, das er auf diese Weise ent­ wirft, gleicht einem faszinierenden, dreidimensionalen Hologramm einer titanenhaften, aber doch überaus menschlichen Person, das uns die physische Präsenz Bismarcks, das Gewicht seiner Persönlichkeit, die vernichtende Wirkung seiner Stimmungsschwankungen und Wutanfälle, aber auch den sanften Zauber seines Charmes förmlich fühlen lässt. Steinbergs Bismarck-Biographie erinnert uns überhaupt daran, auf welche unterschiedlichen Arten wir Bismarck begegnen können. Natürlich hat uns Letzterer selbst einen umfangreichen Korpus an Memoiren hinterlassen. Bei seinen Gedanken und Erinnerungen handelt es sich aber um einen Akt der Selbstinszenierung, den der Kanzler unternahm, um sich selbst für die Nachwelt so zu verewigen, wie er es wollte. Er wollte, wie König Friedrich II., den er verehrte, sein Bild für die Zukunft fixieren. Umso bedeutender sind die Zeugnisse, die uns jene Menschen hinterlassen haben, die ihm nahekamen, mit ihm arbeiteten, ja mit ihm lebten und so die Beschränkungen und Möglichkeiten des Systems verstanden, in dem diese vermeintlich überlebensgroße Figur der deutschen Geschichte agierte. Daher ist es ein überaus großer Gewinn, dass die Wissenschaftliche Buchgesellschaft in diesem Jubiläumsjahr mit den Erinnerungen Robert von Keudells und Robert 17 Aus dem Englischen von Oliver F. R. Haardt

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Lucius von Ballhausens zwei Klassiker des reichhaltigen Quellenfundus zu Bismarck in dem Doppelband Begegnungen mit Bismarck neu herausgibt. Meine erste persönliche Begegnung mit Bismarck hatte ich im Alter von acht Jahren, als ich durch die Bücher meines Großonkels Jack blätterte. Jack wohnte in Tallwood Station, einer abgeschiedenen Rinderfarm im australischen Outback, im trockenen, roten Norden von New South Wales. Der nächstgrößere Ort war Come by Chance, was im Deutschen in etwa so viel heißt wie „zufällig vorbeigekommen“. Ich weiß nicht, wie viele Menschen dort zu der Zeit lebten, als ich Bismarck entdeckte. Aber es waren nicht viele. 2006 registrierte eine Volkszählung 187 Einwohner. Laut dem nächsten Zensus zehn Jahre später war die Bevölkerung auf 125 Menschen geschrumpft. Woher der Ort seinen Namen hat, kann ich nicht sagen. Aber er scheint mir rückblickend doch durchaus gut gewählt. Denn wenn ich an die lokale Bevölkerung zurückdenke, die – wie Jack immer zu sagen pflegte – in diversen Stadien geistiger Verwirrtheit vor sich hin existierte, verirrten sich wirklich nur die Leute nach Come by Chance, die der Zufall dorthin geführt hatte. Jedenfalls standen auf den Regalen meines Großonkels mehrere englischsprachige Bismarck-Biographien: A. J. P. Taylor, Edward Crankshaw, Erich Eyck, Emil Ludwig (beide in englischer Übersetzung) und einige andere Klassiker. Wieso mein Onkel, der diese Bücher nach eigenem Bekunden mit großer Freude gelesen hatte, so sehr an Bismarck interessiert war, weiß ich nicht mehr. Ich habe ihn damals gefragt, kann mich aber nicht mehr an die Antwort erinnern. Umso interessanter erscheint mir die Frage jetzt, wo ich dieses Nachwort über Begegnungen mit Bismarck schreibe. Jack ist 1985 verstorben; ich kann ihn also leider nicht mehr persönlich fragen. Er war sicherlich kein natürlicher Kandidat für einen Bismarck-Enthusiasten, war er doch ein stolzer Australier irisch-katholischer Abstammung. Aber die frühen Bismarck-Biographien maßen dem Kulturkampf, der ihm als devoten Katholik bitter hätte aufstoßen können, keine große Bedeutung bei. Von daher hat er über diesen dunklen Fleck in der Vita seines Helden wohl leicht hinwegsehen können. Außerdem hatte man als Australier mit irischem Blut zu der damaligen Zeit eine ganz bestimmte Sichtweise auf die moderne Geschichte: Man blickte mit skeptischen – jedenfalls ambivalenten – Augen auf die Anmaßungen Großbritanniens und seines Empires. Die ersten Vorfahren meines Onkels, die nach Australien gekommen waren, hatten Irland verlassen, um der Hungersnot zu entfliehen, die zwischen 1845 und 1849 zwischen einem Fünftel und einem Viertel der irischen Bevölkerung das Leben gekostet hatte. Vielleicht blickte Jack also deswegen mit Interesse auf Bismarck, weil er in ihm einen sympathischen Gegenspieler 538

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Nachwort

Großbritanniens in den weltpolitischen Verwicklungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts sah. Dafür spricht auch eine persönliche Erfahrung. Jacks älterer Bruder Jim hatte im Ersten Weltkrieg gegen die Deutschen gekämpft und – nachdem er verwundet und in einem englischen Hospital gesund gepflegt worden war – einen Abstecher in die irische Heimat der Vorfahren unternommen, bevor er nach Australien zurückkehrte. Später erzählte er seinem Bruder oft von seiner Enttäuschung, als er mit ansehen musste, wie die Briten, für deren Empire er gekämpft hatte, im Irischen Unabhängigkeitskrieg zwischen 1919 und 1921 die Nationalbewegung der Grünen Insel rücksichtslos niederschlugen. Vielleicht las Jack aber auch einfach deshalb gerne über Bismarck, weil er genau wie dieser ein Mann von Recht und Ordnung war, mit einem intuitiv konservativen Blick auf die Welt. Bismarcks Kampf gegen die Sozialdemokraten wird Jack wohl ohne Zweifel mit Wohlwollen betrachtet haben. Während meiner akademischen Laufbahn bin ich Bismarck immer wieder begegnet, obwohl keines meiner Bücher sich ausschließlich mit ihm befasst hat. In meinem ersten Buch, das sich mit dem missionarischen Protestantismus und den Juden in Preußen zwischen 1728 und 1941 beschäftigte, tauchte Bismarck durch seine Kontakte zu den pietistischen Kreisen um seine spätere Frau Johanna von Puttkamer auf. Danach trat er in meiner Biographie Wilhelms II. als der Titan auf, der über das frühe Leben des Kaisers wachte. Im Zusammenhang mit dem größeren Narrativ der preußischen Geschichte, das ich in Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947 entworfen habe, spielte Bismarck eine ambivalente Rolle. Er erschien mir als der letzte Preuße und der erste Deutsche, als ein Mann, der fest daran glaubte, den historischen Auftrag Preußens zu erfüllen, und doch mit der Reichsgründung das Ende dieses bemerkenswerten Staates einleitete. In den Schlafwandlern, dem Buch, das ich über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges geschrieben habe, war Bismarck wiederrum eine entfernte, aber gleichzeitig wichtige Figur. Denn nur, wenn man die gesamte Periode zwischen 1870 und 1914 in den Blick nimmt, erkennt man die Wahrheit in der Aussage, die Disraeli im Februar 1871 – kurz nach der Proklamation des Deutschen Kaiserreiches in Versailles – vor dem britischen Unterhaus traf, nämlich dass „die deutsche Revolution“ beziehungsweise Reichseinigung „ein größeres politisches Ereignis [war] als die französische Revolution des letzten Jahrhunderts“. Erst als ich in den vergangenen paar Jahren eine Studie zur Beziehung zwischen Zeit und Macht verfasst habe, wurde Bismarck zum Kronzeugen des Arguments, das ich in diesem Zusammenhang entwickelt habe. Bismarck benutzte oft zeitliche Metaphern und beschrieb sich selbst als „Steuermann im Strom der Zeit“. Ge539

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schichte war für ihn ein immenser, schnell rauschender Fluss. Über dessen Fließrichtung hatte der Staatsmann keine Kontrolle. Er konnte jedoch, so Bismarck, das Steuer des auf diesem Fluss fahrenden Staatsschiffes entschlossen in die Hand nehmen, um stückweise den Kurs nach rechts und nach links zu ändern, um so die größten Gefahren zu umschiffen. In letzter Zeit bin ich Bismarck außerdem immer wieder bei meinen Beobachtungen der britischen Politik begegnet, wo er eine unerwartete Wiederauferstehung erlebt. Er ist das große Vorbild von Dominic Cummings, dem engsten Berater des gegenwärtigen Premierministers. Cummings, ein nassforscher Super-Politberater des neuen Typus, unterhält im Internet einen umfangreichen Blog, in dem er wiederholt auf jenen außerordentlichen Moment zu sprechen kommt, als Bismarck aus dem politischen Abseits plötzlich ins Zentrum der Macht berufen wurde, um das Amt des preußischen Ministerpräsidenten zu übernehmen. In diesem Moment, so Cummings, prallte eine potente Nichtlinearität (nämlich Bismarck selbst) mit der Weltgeschichte zusammen. Nach Cummings Ansicht hatte die disruptive Wirkung Bismarcks auf die preußische Politik nur Vorteile. Indem er die liberale Mehrheit des preußischen Landtags zur Weißglut brachte und das parlamentarische System inoperabel machte, schuf er in den Augen Cummings nichts als neue und kreative Möglichkeiten. In der Tat war Bismarck ein Staatsmann, der es bevorzugte, Konflikte nicht zu lösen, sondern sie zu eskalieren, weil er darauf hoffte, dadurch neue Machtkonstellationen zu kreieren. Zur großen Verwunderung seiner Freunde wie Feinde fühlte sich Bismarck an keine Konvention oder Tradition gebunden. Er war kein Konservativer des alten Typs, da er nie davon träumte, die ständische Welt des Adels wiederherzustellen; er war aber auch kein Liberaler. Er verachtete Beamte und hasste Journalisten. Mit all diesen Kräften konnte er aber trotzdem zusammenarbeiten, wenn es ihm angebracht erschien. Seine ganze Karriere ist gespickt mit den erstaunten Reaktionen jener, die sich als seine engsten Mitstreiter wähnten und sich nur wenige Wochen oder Monate später im Lager derer wiederfanden, die er für andere machtpolitische Partner fallen gelassen hatte. In seiner Umtriebigkeit und Skrupellosigkeit war Bismarck der Prototyp eines gewissenlosen, ganz bewusst disruptiven Machtpolitikers, der sich einer großen Bandbreite verschiedenster Mittel mit größter Finesse bediente. Vermutlich sieht ihn Dominic Cummings genau deswegen als leuchtendes Vorbild. Er ähnelt insofern jenen schrankenlosen deutschen Bewunderern Bismarcks, von denen Max Weber kritisch schrieb, dass sie „nicht etwa [für] die Großartigkeit seines feinen und beherrschenden Geistes [schwärmten], 540

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Nachwort

sondern ausschließlich [für] den Einschlag von Gewaltsamkeit und List in seiner staatsmännischen Methode, das scheinbar oder wirklich Brutale daran“.18 Die endgültigen Ziele der Bismarck’schen Politik waren – ähnlich, wie das beim Brexit auch der Fall war – nicht immer leicht zu erkennen, auch nicht für Bismarck selbst. In der Phase der Einigungskriege besaß Bismarcks Politik eine große Zukünftigkeit. Nach der Gründung des Reiches beschäftigte er sich in einer zweiten Phase seines Schaffens mit der inneren Staatsbildung und der Eingliederung der neuen Großmacht in das internationale Staatensystem. In den 1880er Jahren, als sich die Staatsbildungsprozesse schon verselbstständigt hatten, gingen Bismarck dann langsam die großen Ideen und Ziele aus. Sein Augenmerk lag in dieser dritten Phase seiner Zeit an der Regierungsspitze hauptsächlich auf der Bewahrung dessen, was er geschaffen hatte, das heißt, auf der Verteidigung des Kaiserreiches gegen eine breite Palette realer und eingebildeter Feinde.

Bismarck und die Bevollmächtigten zum Bundesrat 1889 (v.l.n.r. Selkmann, Golz, A. v. Bülow, v. Marschall, v. Ballhausen, Scherer, v. Lerchenfeld-Koetering, Fischer, Hauschild, Bismarck, v. Stengel, Geiger, Haller, v. Hohenthal und Bergen, Graf Zeppelin, Herbert v. Bismarck, v. Boetticher)

18 Max Weber, „Die Erbschaft Bismarcks“, in: id., Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens (München und Leipzig, 1918), S. 1–13, hier S. 1.

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Die Memoiren Ballhausens und Keudells können uns dabei helfen, all diese Dinge besser zu verstehen. Obwohl Ballhausen nur elf Jahre jünger war als Keudell, beschäftigen sich ihre Erinnerungen mit ganz verschiedenen Phasen von Bismarcks Karriere. Keudell betrachtet die Ära der Reichseinigung, Ballhausen die Zeit als Kanzler des neuen Reiches. Zudem haben die beiden Männer ziemlich unterschiedliche Blickwinkel auf Bismarck. Keudell war einer der „Privatsekretäre“, die Bismarck während seiner langen Karriere verschliss. Für ihr Verhältnis gilt wohl das französische Sprichwort: „Für seinen Diener ist kein Mann ein Held“ (Il n’y a pas de grand homme pour son valet-de-chambre). Natürlich verehrte Keudell die große Lichtgestalt, für die er arbeitete. Aber er sah auch hinter den Schein, die Wutanfälle, die Stimmungsschwankungen, die zahllosen Fehden, die fast melancholische Nachdenklichkeit, den Mangel an Empathie, dafür aber auch die Liebe zur Musik, vor allem zu Beethoven, den Bismarck auf genauso liebevolle wie irritierende Weise „Beetchen“ nannte, wie Keudell beschreibt. Ballhausen war ebenfalls durch und durch Bismarckianer. Auch wenn es immer wieder Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen gab, hielt er Bismarck, dem er ab 1879 als Landwirtschaftsminister diente, doch bis zum Schluss die Treue, ja schied sogar kurz nach dessen Rücktritt ebenfalls aus dem Amt. Dabei war Ballhausen durchaus kritisch gegenüber seinem Chef. So verabscheute er zum Beispiel die Härte, mit der Bismarck den sterbenden Friedrich  III. während dessen 99 Tagen auf dem Thron behandelte. Trotz aller Vorbehalte gegen das dominante Platzhirschgehabe des Kanzlers gab Ballhausen aber letztlich immer klein bei, wenn es zu Konflikten kam. Sein Platz war fest an der Seite seines Vorgesetzten, Mentors und Freundes. Beide Männer lassen in ihren Erinnerungen keinen Zweifel an der einzigartigen Präsenz Bismarcks. Jenseits aller Reden, Memoiren, Briefe, Anordnungen und Gesetze, die Bismarck mit viel Esprit, ungezügelten Emotionen und analytischem Scharfsinn verfasst hat, bleibt die Macht seiner Persönlichkeit über diejenigen, die sich in seiner Umgebung bewegten, ein Rätsel. Indem wir Bismarck durch die Lektüre von Keudells und Ballhausens Erinnerungen neu begegnen, können wir jedoch mit großer Klarheit erkennen, dass genau diese höchsteigene persönliche Kraft eine entscheidende Zutat seines politischen Erfolgsrezeptes war. Cambridge, August 2020

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Abbildungsnachweis S. 5 bpk/L. Haase Co.; S. 536 Robert Lucius von Ballhausen, BismarckErinne­rungen des Staatsministers Freiherrn Robert Lucius von Ballhausen, J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger, Stuttgart und Berlin 1920; S. 541 akg-images

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und Fürstin Bismarck STAATSMANNFürst BISMARCK

Die erstmals 1920 herausgegebenen Tagebücher Robert Lucius von Ballhausens wurden zu einer der wichtigsten Quellen der Bismarck-Forschung. Während seiner Zeit als Abgeordneter und Minister führte Ballhausen akribisch Tagebuch über die fast täglichen Treffen mit Bismarck und ermöglicht so einen Blick hinter die Kulissen des Berliner Politikbetriebs zu Zeiten des »Eisernen Kanzlers«. Mit einem Nachwort von Christopher M. Clark macht diese Neuausgabe den Originaltext 100 Jahre nach Erstveröffentlichung wieder zugänglich.

wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4209-6

01.09.20 15:11

Mit einem Vorwort von Oliver F.R. Haardt und einem Nachwort von Christopher M. Clark

BEGEGNUNGEN MIT BISMARCK

ROBERT VON KEUDELL ROBERT LUCIUS VON BALLHAUSEN

„Wo ich sitze, ist immer oben“ Otto von Bismarck

BISMARCK – MYTHOS UND MENSCH Unzählige Denkmäler, Straßen und Plätze tragen den Namen des »Eisernen Kanzlers« – über kaum eine Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts wurde so viel geschrieben und geforscht. All dies zeugt von einem Kult, wie es ihn selten um einen Politiker der deutschen Geschichte gegeben hat. Wer aber war der Mensch hinter dem Mythos Bismarck? Aufschlussreich und einzigartig beantworten diese Frage zwei Erinnerungsbücher von Zeitgenossen und engen Freunden Bismarcks: Robert von Keudells »Fürst und Fürstin Bismarck« und die »Bismarck-Erinnerungen« von Robert Lucius von Ballhausen, die nach mehr als hundert Jahren in dieser modernen Neuausgabe erstmals wieder zugänglich gemacht werden.

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wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4209-6