»Aus der Erinnerung für die Gegenwart leben« Geschichte und Wirkung des Shoah-Überlebenden Ernst Grube [1. ed.] 9783835352582, 9783835349216


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German Pages 255 [256] Year 2022

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Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Matthias Bahr, Peter Poth, Mirjam Zadoff: Vorwort: Ernst Grube, dem Aufklärer und Kritiker, dem Lehrer und Freund
Mirjam Zadoff: Einleitung: Vom Wunsch, die Welt zu retten – über die vielen Leben eines jüdischen Kommunisten
Eine Lebensgeschichte …
Peter Poth, Thomas Rink: Ernst Grubes Leben in Worten und Bildern
… und ihr ­historischer Kontext
Andreas Heusler: Jüdische Identitäten in der Weimarer Republik. Eine Annäherung
Maximilian Strnad: »Dass wir überlebt haben, verdanken wir unserem Vater« – Mischehen im Nationalsozialismus
Andrea Löw: Spurensuche. Angehörige von Ernst Grube in Izbica und Piaski und die Ermordung der Jüdinnen und Juden im Generalgouvernement
Thomas Rink: »Das Schlimmste war die Angst« – Als Kind im Ghetto Theresienstadt
Friedbert Mühldorfer: Verweigerte Normalität. Ernst Grubes politische Verfolgung in der Bundesrepublik Deutschland
Die Zukunft der Zeitzeugenschaft
Dirk Riedel: Ein Ort der Begegnung: Das Engagement der Überlebenden für eine KZ-Gedenkstätte in Dachau
Anja Ballis, Markus Gloe: »Ich möchte nicht eine Konserve werden, die auf alles eine Antwort hat« – Digitale Medienformate in der Bildungsarbeit
Oliver Schreer: Erinnerung in 3D: Volumetrische Zeitzeugeninterviews
Dorothee Janssen, Julian Monatzeder, Alexander Wenzlik: »Always remember. Never forget« – Erinnern mit künstlerischen Mitteln
Kim Wünschmann: Gezeichnete Erinnerung: Zeitzeugenschaft und Geschichte in Comics und Graphic Novels
Peter Poth: »Widerstand aus der Kraft der Erinnerung« – Ernst Grube und die Aktualität einer Erziehung nach Auschwitz
Matthias Bahr: Ernst Grube. Zeitzeuge und Menschenrechtsbildner: Pädagogisch-didaktische Anmerkungen
Renate Eichmeier, Paul Huf: Eine Forschungsreise wider das Vergessen
Autor*innen
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»Aus der Erinnerung für die Gegenwart leben« Geschichte und Wirkung des Shoah-Überlebenden Ernst Grube [1. ed.]
 9783835352582, 9783835349216

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»Aus der Erinnerung für die Gegenwart leben«

Public Memory Eine Publikationsreihe des NS-Dokumentationszentrums München Herausgegeben von Denis Heuring, Paul-Moritz Rabe und Mirjam Zadoff

Band 1

Ausgehend von der Geschichte des Nationalsozialismus widmet sich die Reihe Public Memory der Theorie und Praxis von Erinnerungskultur. ­Autor*innen unterschiedlicher Disziplinen analysieren Medien und Methoden des Erinnerns, thematisieren globale Perspektiven und Diskurse und fragen nach der Bedeutung von historischer Erfahrung für aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen.

»Aus der Erinnerung für die Gegenwart leben« Geschichte und Wirkung des Shoah-Überlebenden Ernst Grube Herausgegeben von Matthias Bahr, Peter Poth und Mirjam Zadoff Unter Mitarbeit von Denis Heuring und Thomas Rink

Wallstein Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Wallstein Verlag, Göttingen 2022 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Chaparral und der Myriad Umschlaggestaltung: Günter Karl Bose, Berlin Umschlagabbildung: Ernst Grube bei einem Vortrag im NS-Dokumentationszentrum München im Januar 2017; Foto: Connolly Weber Photography. ISBN (Print) 978-3-8353-5258-2 ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4921-6

Inhalt Matthias Bahr, Peter Poth, Mirjam Zadoff Vorwort: Ernst Grube, dem Aufklärer und Kritiker, dem Lehrer und Freund | 7 Mirjam Zadoff Einleitung: Vom Wunsch, die Welt zu retten – über die vielen Leben eines jüdischen ­Kommunisten | 9

Eine Lebensgeschichte … Peter Poth, Thomas Rink Ernst Grubes Leben in Worten und Bildern | 22

… und ihr ­historischer Kontext Andreas Heusler Jüdische Identitäten in der Weimarer Republik. Eine Annäherung | 56 Maximilian Strnad »Dass wir überlebt haben, verdanken wir unserem Vater« – Mischehen im Nationalsozialismus | 68 Andrea Löw Spurensuche. Angehörige von Ernst Grube in Izbica und Piaski und die Ermordung der Jüdinnen und Juden im Generalgouvernement | 88 Thomas Rink »Das Schlimmste war die Angst« – Als Kind im Ghetto Theresienstadt | 102 Friedbert Mühldorfer Verweigerte Normalität. Ernst Grubes politische Verfolgung in der Bundesrepublik Deutschland | 112

Die Zukunft der Zeitzeugenschaft Dirk Riedel Ein Ort der Begegnung: Das Engagement der Überlebenden für eine KZGedenkstätte in Dachau | 130 Anja Ballis, Markus Gloe »Ich möchte nicht eine Konserve werden, die auf alles eine Antwort hat« – Digitale Medienformate in der Bildungsarbeit | 143 Oliver Schreer Erinnerung in 3D: ­Volumetrische ­Zeitzeugeninterviews | 156 Dorothee Janssen, Julian Monatzeder, Alexander Wenzlik »Always remember. Never forget« – Erinnern mit künstlerischen Mitteln | 172 Kim Wünschmann Gezeichnete Erinnerung: Zeitzeugenschaft und Geschichte in Comics und Graphic Novels | 190 Peter Poth »Widerstand aus der Kraft der Erinnerung« – Ernst Grube und die Aktualität einer Erziehung nach Auschwitz | 208 Matthias Bahr Ernst Grube. Zeitzeuge und Menschenrechtsbildner: Pädagogischdidaktische Anmerkungen | 223 Renate Eichmeier, Paul Huf Eine Forschungsreise wider das Vergessen | 237

Autor*innen | 252

Vorwort: Ernst Grube, dem Aufklärer und Kritiker, dem Lehrer und Freund Zeitzeug*innen spielen eine essentielle Rolle für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Nur durch die Überlebenden, durch ihre »Tiefenerinnerung«, wie Saul Friedländer schrieb, wird eine entscheidende Dimension der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts greifbar. Mit ihrem Denken, mit ihrem Handeln, mit ihrem Leben stellen sie den für uns so wichtigen Sinnzusammenhang zwischen der sinnlosen Gewalt und dem Weiterleben her, dem Erzählen und dem Lernen aus der Geschichte. Ernst Grube - Shoah-Überlebender, Zeitzeuge und vieles mehr - nimmt sein Verfolgungsschicksal als Basis für seine politische Praxis. Als aufmerksamer und kritischer Bewohner der Nachkriegs-BRD wandte er sich gegen die Logiken kapitalistischer Ausbeutung und positionierte sich – bis zum heutigen Tag – als widerständiger Aktivist gegen Antisemitismus und Rassismus und für gesellschaftliche Solidarität. Und da Wissen um die Zusammenhänge, Bildung also, eine notwendige Voraussetzung für eine solidarische Politik ist, ist Ernst Grube seit Jahrzehnten unermüdlich als Aufklärer im besten Sinn aktiv. Wir nehmen seinen 90. Geburtstag am 13. Dezember 2022 zum Anlass, um uns dem politischen Menschen Ernst Grube aus unterschiedlichen Perspektiven anzunähern. Dazu gehört die Beschäftigung mit seiner Biografie im zeitgeschichtlichen und aktivistischen Kontext sowie der Versuch, Impulse seines Zeugnisses, seines Denkens und Handelns aufzugreifen und mit geschichts­wissen­schaft­lichen und pädagogischen Überlegungen in Beziehung zu setzen. Der erste Teil des Bandes widmet sich der Geschichte der Familie Grube während der NS-Herrschaft sowie dem Lebensweg Ernst Grubes nach 1945. Der zweite Teil gibt Einblicke in sein umfangreiches erinnerungskulturelles Engagement. Über kulturelle, generationelle und mediale Grenzen hinweg vermittelt Ernst Grube die existentielle Erfahrung von Unrecht und Gewalt, immer mit dem Ziel, das Bewusstsein für die Bedeutung eines demokratischen und menschlichen Miteinanders zu schärfen. Historiker*innen und Freund*innen machen mit ihren Beiträgen Vorwort | 7

deutlich, wofür Ernst Grube mit seiner Person einsteht: Zeugenschaft erschöpft sich nicht in einer nur der Vergangenheit zugewandten Perspektive, Erinnerung entsteht immer wieder neu in einem fortgesetzten Denk- und Lebensprozess. Deshalb mischt sich Ernst Grube dort ein, wo gesellschaftliche Entwicklungen zu entgleisen drohen und wo es für das gegenwärtige Zusammenleben nötig ist. Profiliert hat Ernst Grube dies deutlich gemacht, als ihm am 7. November 2017 der Georg-Elser-Preis der Stadt München verliehen wurde: »Wenn wir aufhören, uns gegen die Verletzung von Humanität und Menschenrechten zu stellen, wenn wir die Zerstörung von Asylrecht und Flüchtlingsschutz schönreden lassen, geben wir die Errungenschaften der Befreiung von Faschismus und Krieg preis.« München, im Herbst 2022

8  | Vorwort

Matthias Bahr, Peter Poth, Mirjam Zadoff

Mirjam Zadoff

Einleitung: Vom Wunsch, die Welt zu retten – über die vielen Leben eines jüdischen ­Kommunisten

Marginalisierung und Widerstand vor und nach 1945 In Würdigung eines langen und aktiven Lebens vereint dieser Band Texte, die die vielen Seiten von Ernst Grubes Biographie aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten.1 Und was für ein Leben! Am 13. Dezember 1932 wurde Ernst Grube in München geboren. Seine Mutter kam aus einer strenggläubigen jüdischen Familie und war von Beruf Krankenschwester. Der Vater, evangelisch aufgewachsen, war Malermeister. Beide Elternteile waren Kommunist*innen. Die Familie Grube lebte in einer Wohnung der jüdischen Gemeinde direkt neben der Hauptsynagoge nahe dem Münchner Stachus. Als diese im Juni 1938 abgerissen wurde, kündigte die Stadt der Familie die Wohnung. Doch der Vater wehrte sich. Im Gegensatz zu seinen jüdischen Nachbarn gelang es ihm, die Wohnung zu halten, die Familie durfte bleiben, wenn auch unter schwierigsten Bedingungen, ohne Strom, Gas und Wasser. Kurz vor dem Novemberpogrom 1938 brachten die Eltern den 5-jährigen Ernst, seinen 8-jährigen Bruder Werner und seine nur vier Monate alte Schwester Ruth im jüdischen Kinderheim in der Antonienstraße unter. Dort mussten die Geschwister in den folgenden Jahren getrennt von den Eltern leben. Nach Schließung des Heims wurden sie 1942 in die sogenannten »Judenlager« Milbertshofen und Berg am Laim gebracht; ab 1943 lebten sie wieder bei den Eltern, in ständig wechselnden Wohnungen. Da der nichtjüdische Vater sich weigerte, dem konstanten Druck nachzugeben, sich von der jüdischen Mutter scheiden zu lassen, blieben Ernst, seine Geschwister und seine Mutter als sogenannte »Geltungsjuden« lange von der Deportation verschont – bis zum Februar 1945. Wenige Monate vor Kriegsende wurde der 12-jährige Ernst zusammen mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Überleben war dort die Ausnahme  – Ernst Grube war eine dieser Ausnahmen: Am 8. Mai wurde das Lager befreit. Einleitung: Vom Wunsch, die Welt zu retten | 9

misch, so erinnert sich Ernst Grube, umarmte er den ersten Rotarmisten, den er zu Gesicht bekam. Zurück in München machte Ernst Grube eine Lehre zum Malermeister, holte auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nach und wurde Berufsschullehrer. Doch das wiedergewonnene Leben war nicht frei von Einschränkung. Ernst Grubes poli­ tisches und soziales Engagement eckten an, in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft zur Zeit des Kalten Krieges. Seine Erfahrungen nach 1945 machen das Spannungsfeld zwischen demokratischer Freiheit und dem Streben nach innenpolitischer Stabilität in der BRD deutlich. Er protestierte öffentlich gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands und engagierte sich im kommunistischen Jugendverband FDJ, in der Gewerkschaft und in der KPD. Als er 1954 an einer Demonstration gegen verlängerte Ladenschlusszeiten teilnahm, wurde er verhaftet und für sieben Monate ins Gefängnis gesperrt. Wenige Jahre später verbüßte er eine weitere Gefängnisstrafe, neun Monate, vier davon in Isolationshaft in einer Zelle, die kaum einen Meter breit war. Diesmal wurde er verurteilt, weil er sich an einer Flugblattaktion für die illegale KPD beteiligt hatte. Anfang der 1970er Jahre drohte dem Mitglied der neu gegründeten Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) schließlich sogar Berufsverbot. Bei einer Anhörung im Rathaus legte er seinen Judenstern auf den Tisch – das Berufsverbot wurde wenig später aufgehoben. Heute ist Ernst Grube Mitglied in zahlreichen Gremien von Erinnerungseinrichtungen, er ist Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau und Sprecher des Landesvorstands Bayern der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – einer Vereinigung, die unter dem Vorwurf des Linksextremismus vom Verfassungsschutz beobachtet wird, und der vor kurzem unter dem gleichen Vorwand die Gemeinnützigkeit entzogen wurde. Auch er selbst wurde namentlich im Verfassungsschutzbericht erwähnt. Der Vorwurf lautete, er nütze als »Linksextremist« seine Arbeit in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes aus, um kommunistische Ziele zu propagieren. »Ich erlebe im weiteren Sinn eine Form der Ausgrenzung«, kommentierte er selbst diese Groteske.2

Jüdische Revolutionär*innen Ernst Grubes Biografie lässt sich im Kontext eines größeren Phänomens betrachten: der Geschichte jüdischer Kommunist*innen und Revolutionär*innen. Die Biografien jüdischer Sozialrevolutionäre waren stets eigensinnig sowie höchst individuell, und sie finden sich bis heute nur selten in Geschichtsbüchern wieder. Die historiographische Herausforderung beginnt mit den Fragen, wer die Kompetenz besitzt, diese komplexen Lebensgeschichten zu deuten; ob und in 10  | Mirjam Zadoff

welchem Ausmaß ihr »Jüdisch-Sein« Teil der Analyse sein soll und inwiefern die Vielschichtigkeit jüdischer Erfahrungen in den Blick genommen wird. Dabei bezeichnet »Jüdisch-Sein« nicht zwingend eine religiöse Zugehörigkeit zu einer Gemeinde, sondern beinhaltet eine Vielzahl von kulturellen, sozialen und intellektuellen Aspekten. Diese Art der Sensibilisierung ist von kritischer Notwendigkeit, um die gesellschaftliche Situation jüdischer Revolutionäre zu erfassen, deren Leben sich häufig im »Dazwischen« ereignete, in der Spannung zwischen Realität und Utopie: Während beispielsweise das alltägliche Leben vor dem Zweiten Weltkrieg sich in traditionellen und deshalb weitgehend antisemitischen Gesellschaften in Europa abspielte, war das utopische Sehnen auf eine postnationale, postbürgerliche, postemanzipatorische und postantisemitische Welt gerichtet. Führende jüdische Revolutionär*innen sahen sich in dieser Situation gezwungen, Masken zu tragen – nicht um ihr »wahres« Jüdisch-Sein zu verbergen, sondern um zu kaschieren, wie sie öffentlich wahrgenommen wurden: als Intellektuelle aus dem jüdischen Mittelstand. Unter deutsch-jüdischen Zeitgenoss*innen löste das Phänomen der vergleichsweise hohen jüdischen Beteiligung an den russischen Revolutionen von 1905 und 1917 sowie im revolutionären Berlin und München der Jahre 1918 und 1919 vor allem eines aus: Unbehagen. Sie fürchteten, dass die prominente Rolle der jüdischen Revolutionär *innen überall im Land Antisemitismus auslösen und den Gemeinden schaden würde. Und tatsächlich wurde in der Weimarer Republik von Seiten der Rechtsparteien nicht nur die jüdische Mitwirkung an der Revolution hervorgehoben, sondern auch eine universelle Affinität zwischen jüdischen Intellektuellen und jeder Art von Radikalismus konstruiert. So betonte die rechtspopulistische Presse die Präsenz von Jüdinnen und Juden in der Spartakusgruppe und der Münchner Räterepublik, wo sie nur konnte, und machte auch aus bekannten nichtjüdischen Revolutionären nachträglich Juden – allen voran Karl Liebknecht. Dieser war durch seine offene Ablehnung des Krieges im Sommer 1914 zum liebsten Staatsfeind avanciert; nachdem er sich im November 1918 als Führer des Spartakusaufstandes neuerlich offen gegen die Regierung wandte, wurde er zur zentralen Figur der Dolchstoßlegende. Hektisch dementierte die Zeitung Im deutschen Reich, das Organ des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, Liebknechts angebliche jüdische Herkunft und bewies in Stammbäumen und Auszügen aus dem Geburtenregister seine gänzlich »arische Abstammung«.3 Bereits im Dezember 1919 unternahm deshalb der Berliner Literaturhistoriker Rudolf Kayser, Schwiegersohn Albert Einsteins und späterer Chefredakteur der Einleitung: Vom Wunsch, die Welt zu retten | 11

Neuen Rundschau, den Versuch, das Verhältnis zwischen Revolutionär*innen und jüdischen Interessenvertreter*innen und Gemeinden zu befrieden. Denn, so argumentierte Kayser, die Figur des modernen jüdischen Revolutionärs sei durchaus in der jüdischen Geschichte verankert und aus ihr zu erklären: »So maßlos er von antisemitischer Seite übertrieben, und so ängstlich er vom jüdischen Bürgertum verleugnet wird: der große jüdische Anteil an der heutigen revolutionären Bewegung steht fest; er ist immerhin so groß, dass kein Zufall, sondern eine innere Tendenz ihm gebieten muss; er ist Auswirkung des jüdischen Wesens in eine modern-politische Richtung.«4 Rudolf Kayser zufolge waren die jüdischen Revolutionär*innen des 20. Jahrhunderts nichts anderes als Wiedergeburten der historischen Messiasgestalten: Märtyrer und Propheten, die unbeirrt einem vorbestimmten Weg folgten, der notwendigerweise tragisch enden musste. Kaysers Interpretation war kein Versuch, eine religiöse Kontinuität herzustellen. Wie viele seiner Zeitgenoss*innen in intellektuellen Berliner Kreisen bezog Kayser sein jüdisches Selbstverständnis nicht aus religiösen Inhalten, sondern aus einer spezifischen Vorstellung von jüdischer Kultur als einem Amalgam aus Geschichte, Literatur und Kunst. Jüdisches Denken stand in dieser Wahrnehmung für Unabhängigkeit und kulturelle Avantgarde. Und die Darstellung von Revolutionären als Messiasfiguren war kein Versuch, ihnen einen religiösen Charakter zu verleihen, sondern im Gegenteil der Wunsch, der jüdischen Geschichte säkulare Traditionen einzuschreiben. »Diese echten jüdischen Revolutionäre sind, trotzdem sie in innigster Gemeinschaft im Denken und Handeln mit ihren andersstämmigen Genossen verbunden sind, von ihnen sehr verschieden. Sie haben es zumeist in zwei Punkten schwerer: Es fehlt ihnen die natürliche Opposition der unterdrückten Klasse, des Proletariats (sie sind stets ›Intellektuelle‹), und zweitens jene weite nationale Unterstützung, die aus der Tatsache stammt, dass Führer und Gefolge von gleicher völkischer Herkunft sind. Das letztere wird mir vielleicht durch den Hinweis auf den internationalen Charakter des Sozialismus wie jeder modernen revolutionären Ideologie bestritten werden; dennoch ist es Tatsache, dass die russische wie die deutsche Revolution einen starken nationalen Einschlag haben.«5 Auf diese beiden Punkte, so Kayser, ging auch die unvermeidbare Einsamkeit der jüdischen Revolutionär*innen zurück: Wegen ihrer jüdischen Herkunft gehörten sie nur selten zu den orthodoxen Anhängern eines revolutionären Katechismus, sondern viel häufiger zu den Häretiker*innen. Ihr Vorbild war Kayser zufolge kein anderer als der große Mystiker und falsche Messias Sabbatai Zwi, der die jüdische Welt des 17. Jahrhunderts in einen endzeitlichen Rausch versetzt hatte. Dessen Maßlosigkeit »in Hoffnung und Wirklichkeitsferne« glaubte Kayser auch im politischen Utopismus der Berufsrevolutionär*innen unter seinen 12  | Mirjam Zadoff

Zeitgenoss*innen zu erkennen. In einer historischen Umkehrung schrieb Rudolf Kayser dem jüdischen Häretiker nachträglich den Charakter eines Sozialrevolutio­ närs zu und stellte ihn an den Beginn einer Linie von jüdischen Politiker*innen – in einer Zeit, in der Jüdinnen und Juden vom politischen Leben ausgeschlossen waren, konnte Sabbatai Zwi notgedrungen nur in einem religiösen Raum agieren.6 Kaysers Darstellung geriet etwas romantisierend und ahistorisch, doch Jahrzehnte später kam Gershom Scholem, als Biograf Sabbatai Zwis, zu einem ganz ähnlichen Schluss. In seiner 1973 erschienenen englischen Übersetzung der Biographie bemerkte Scholem, nicht jener Schule anzugehören, die annimmt, »daß es ein wohldefiniertes und unveränderliches ›Wesen‹ des Judentums« gibt, besonders dort nicht, »wo historische Ereignisse zu bewerten sind«. Das Wesen des Judentums, so Scholem weiter, könne ausschließlich im historischen Kontext und deshalb immer wieder aufs Neue definiert werden. Damit legte er den Schwerpunkt jüdischer Erfahrung nicht auf den Kern der religiösen Tradition, sondern auf die Interaktion dieser Tradition mit der jüdischen und nichtjüdischen Welt ihrer Zeit. In dieser Sichtweise kam er – auf anderen Wegen als Kayser – zu einem ähnlichen Vergleich zwischen den Anhängern Sabbatai Zwis und den jüdischen Revolutionär*innen des 20. Jahrhunderts: Für Scholem lag die Verbindung in der Tragik des Schicksals beider Gruppen, die sich einer Utopie verschrieben und dafür einen hohen Preis bezahlt hatten. Scholems Post-Holocaust- und Post-Gulag-Perspektive auf die Geschichte der Revolutionär*innen ließ ihn die revolutionäre Ideologie, die auch ihn lange fasziniert hatte, als »säkularen Messianismus« beschreiben.7 Wie der britische Historiker Colin Shindler bemerkt, spielt noch eine weitere Tradition der jüdischen Moderne eine Rolle für das Verständnis des historischen Verhältnisses von Jüdinnen und Juden zur Revolution – nämlich die Parallelität nationalistischer und universalistischer Tendenzen: »Since the French Revolution, Jews found themselves torn between the national interests of the Jews and their desire to repair the world. Both tendencies exist within Jewish tradition. Indeed, the Balfour Declaration and the Bolshevik revolution happened within days of each other in 1917.«8 Internationalistische und ausgesprochen jüdische Überzeugungen standen nicht zwingend im Widerspruch zueinander. Im Gegenteil waren – und sind – derartige Schattierungen linker, jüdischer Identitäten weitverbreitet. Was zeichnet nun die jüdische Erfahrung des 20. (und 21.) Jahrhunderts aus? Das Nachdenken über jüdische Erfahrung kommt in besonderer Weise einem Nachdenken über das Unvorhersehbare gleich. Und für keine andere Epoche ist es derart schwierig, zu definieren, was eine »jüdische Erfahrung« überhaupt ausmacht und welche Aspekte ein Leben als jüdisch definieren. Denn nie zuvor konnte die Divergenz zwischen Selbst- und Fremdbild eine vergleichbare Größe erreichen, Einleitung: Vom Wunsch, die Welt zu retten | 13

eine Divergenz, mit der es jeder Versuch, Zugehörigkeit zu schaffen, nun aufnehmen musste. Besonders paradox war das Phänomen, dass in den totalitären Regimen des Nationalsozialismus und des Stalinismus einem nichtjüdisch gelebten Leben ein Tod als Jüdin oder Jude folgen konnte. Betreffen konnte dieses Schicksal all jene, die in einer nationalen Kultur aufgegangen waren und sich gänzlich einer deutschen, polnischen, französischen oder russischen Identität verschrieben hatten, oder eben jene, die sich dem Internationalismus kommunistischer oder sozialistischer Ideologien verpflichtet hatten. Ihre Geschichten hinterließen lange Zeit wenige Spuren im kollektiven jüdischen Gedächtnis und in den Arbeiten von Historiker*innen der jüdischen Geschichte. Dabei vermögen es gerade diese Biografien, Aufschluss über die Parallelität von Selbst- und Fremdbildern zu geben und darüber, wie diese widersprüchlichen Wahrnehmungen miteinander korrespondierten. Wie können Leben, die sich ins Außerhalb jüdischer Räume verlagert hatten und trotzdem an der Grenze zu diesen existierten, erinnert werden? Intellektuelle Diskussionen der vergangenen Jahre sind zu dem Schluss gekommen, »dass sich der Ort der Grenze in seiner Ambivalenz einer eindeutigen Bestimmung entzieht«.9 Damit ist umschrieben, wie problematisch die Deutung und Zuschreibung der Biografien jüdischer Revolutionär*innen sein kann. Walter Benjamin argumentierte, dass diese Form der Begrenzung eine Schwelle und keine Linie sei, die man überschreite, um von einem Ort zu einem anderen zu gelangen, sondern vielmehr ein Raum mit seinen eigenen Regeln: »Die Schwelle ist ganz scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Worte ›schwellen‹, und diese Bedeutung hat die Etymologie nicht übersehen.« Der Charakter eines solchen dynamischen Schwellenraums liegt deshalb nicht im Trennenden, sondern ganz im Gegenteil »im trennenden Verbinden«.10 Die Grenze definiert den Raum auf ihren beiden Seiten und zugleich verbindet sie diese beiden Bereiche, die nur in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander existieren können. Verortet man die Lebensgeschichten von revolutionären Juden*Jüdinnen in ebendiesem Schwellenraum, so ist eine Erzählung ihrer Biografie nur durch eine integrierende Sicht der beiden Seiten, diesseits und jenseits der Grenze möglich.

Für eine Kultur der Erinnerung und der Verantwortung Auch Ernst Grubes Biografie weist Aspekte auf, wie sie mit Blick auf die Geschichte Jüdischer Sozialrevolutionär*innen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschrieben wurden. Dazu gehört beispielsweise die Widersprüchlichkeit von Selbst14  | Mirjam Zadoff https://doi.org/10.5771/9783835349216

und Fremdbildern. Als Jude und Shoah-­Überlebender wurde Ernst Grube zum willkommenen Akteur innerhalb des erinnerungskulturellen Diskurses im wiedervereinigten Deutschland. Als politisch engagierter Bürger, als Kommunist und Kämpfer für die Rechte der Arbeiter*innen war er nach dem Krieg vor allem ein Störenfried, dessen Präsenz an die verdrängte und besonders tragische Geschichte der jüdischen Revolutionär*innen erinnerte. Ernst Grubes politisches und soziales Engagement kann nicht losgelöst von seinem »Jüdisch-Sein« betrachtet werden, und damit nicht von seiner Verfolgung und seiner Erfahrung der Shoah als Kind und Jugendlicher. Seine Erfahrungen von Ausgrenzung, Ungerechtigkeit, Rassismus, Intoleranz, Gewalt und Tod sind es, die er nach 1945 im Rahmen von gewerkschaftlicher, partei­politischer und später auch durch seine erinnerungskulturelle Arbeit bekämpft. Sein Kampf für eine menschlichere Zukunft für alle ist nicht zuletzt aus der Erfahrung des Unmenschlichen geboren, aus der jüdischen Erfahrung des 20. Jahrhunderts und mit den damit verbundenen Traumata. Seit Jahrzehnten engagiert sich Ernst Grube deshalb für eine Kultur der Erinnerung und mehr noch der Verantwortung für eine gerechtere Welt. Unermüdlich erzählt er in Schulen und außerschulischen Bildungseinrichtungen von seiner Lebensgeschichte und seinen Verfolgungserfahrungen, um die Erinnerung an die NS-Verbrechen wach zu halten. Dabei macht er seine Zuhörer*innen hartnäckig aufmerksam auf die Bedeutung und Relevanz des Vergangenen für ein solidarisches Zusammenleben im Heute und in der Zukunft. Es waren Überlebende wie er, die ungeachtet ihrer Traumata und Verletzungen nach 1945 widerständig ihre Geschichten erzählten – widerständig, da keiner ihnen zuhörte. An zentralen Stellen der Nachkriegs-BRD saßen weiterhin die damals noch gar nicht so alten Nazis – während die Überlebenden um Anerkennung, um Restitution und um einen Platz in der Gesellschaft kämpfen mussten, und im Fall der Kommunist*innen unter ihnen auch gegen die Ausgrenzung als Folge der Logik des Kalten Krieges. Ernst Grubes öffentliche Positionierung gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus und gegen jede Form von Ausgrenzung, Krieg und Gewalt lehrt uns, dass Erinnerung auch heute noch widerständig sein muss, wenn sie nicht zum sinnentleerten ›Nie wieder‹ geraten will. Denn wenn das passiert, wenn Kränze niedergelegt und Betroffenheit vorgegeben werden, aber in den Parlamenten voll Härte entschieden wird, dann meldet Ernst Grube sich zu Wort. Bescheiden, mutig, politisch klar geht es ihm immer um gesellschaftliche Solidarität, wie er nach den Anschlägen von Halle bemerkte: »Der rechte Terror betrifft ja nicht nur uns Juden, er betrifft ja auch Muslime, Sinti und Roma, Zugewanderte, die längst Staatsbürger sind, Migranten, Flüchtlinge, Einleitung: Vom Wunsch, die Welt zu retten | 15

um nur einige zu nennen. Und demokratisch Aktive aus allen Spektren. Wenn ich dann höre, dass sich Flüchtlinge oder auch hier geborene Menschen mit muslimischem Hintergrund in Sachsen zum Teil nicht mehr trauen, ihre Kinder auf Spielplätze zu schicken oder nachts auf die Straße zu gehen, das bedrückt mich schon sehr.«11

Anmerkungen 1  Teile dieses Textes sind bereits erschienen unter dem Titel »Shades of Red. Biographik auf den Barrikaden«, in: Jahrbuch des Dubnow Instituts, 2017 /16 (Göttingen 2019), 365–390. 2 URL: https://www.­l agergemeinschaftd a c h a u . d e / e r n s t - g r u b e - e r h a e l t - d e n -­ buergerpreis-fuer-demokratie-gegen-vergessen [gelesen am 7. 8. 2022]. 3  Samuel Weißenberg: Der Anteil der Juden an der Revolutionsbewegung in Rußland, in: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden 1907 /1, H. 3, 1–7; Erich Ludendorff: Kriegführung und Politik, Berlin 1923, 133. Zu Liebknecht vgl. Arnold Zweig: Der heutige deutsche Antisemitismus. Vier Aufsätze, in: Der Jude 1920–21 /5, H. 8–9, 451–459, und H. 10, 557–565, hier 456; sowie zahlreiche Meldungen und Artikel in der CV-Zeitung Im deutschen Reich, so etwa in den Ausgaben 24 (1918), H. 12, 479, 25 (1919), H. 2, 75 f., und 25 (1919), H. 6, 283. 4  Rudolf Kayser: Der jüdische Revolutionär, in: Neue jüdische Monatshefte, 1919/4, 96–98, hier 96. 5  Kayser 1919, 96. 6  Vgl. Kayser 1919, 97.

16  | Mirjam Zadoff

7  Gershom Scholem: Sabbatai Zwi. Der mystische Messias, Frankfurt a. M. 1992, 17; David Biale: The Threat of Messianism. An Interview with Gershom Scholem, in: The New York Review of Books, 14. August 1880, 13 und 22; Gershom Sholem: Zionism. Dialectic of Continuity and Rebellion (Interviews, April und Juli 1970), in: Ehud Ben-Ezer: Unease in Zion, New York 1974, 263–296, hier 295 f. 8  Colin Shindler: The Non-Jewish Jews Who Became the Scholars of an Ideological Dreamworld, in: The Jewish Chronicle, 10 May 2012, URL: https://www.thejc.com/ comment/comment/the-non-jewish-jewswho-became-the-scholars-of-an-ideological-­ dreamworld-1.33333 [gelesen am 7. 8. 2022]. 9  Christoph Kleinschmidt: Einleitung: Formen und Funktionen von Grenzen, in: Christoph Kleinschmidt / Christine Hewel (Hg.), Topographien der Grenze. Verortung einer kulturellen politischen und ästhetischen Kategorie, Würzburg 2011, 9–21, hier 9. 10  Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1983, 618. 11 URL: https://taz.de / Zeitzeuge-­Grubeueber-rechte-Gewalt/!5637320/ [gelesen am 7. 8. 2022].

»

Ich möchte Ihnen meinen tiefsten Respekt ausdrücken, allein schon für Ihre Bereitschaft und Ihre Beherztheit, uns über eine sehr traurige Periode Ihres Lebens zu erzählen! Es musste sehr unerfreulich sein, die Erinnerungen an die Schreckenzeit unter der nationalsozialistischen Regierung wachzurufen. Hinzu kommt meine Bewunderung, wie Sie mit Ihren Erfahrungen umgehen konnten und können. Auch dass Sie das Erlebte an die jungen Generationen immer wieder erzählen. Des­ wegen halte ich es auch für äußerst wichtig, dass wir, die jungen Generationen, die Zeitzeugen noch »erleben« können und von ihnen etwas über das Geschehene erfahren können. Vielleicht verhindert eben nämlich das, dass etwas Derartiges irgendwann erneut geschieht.

Antonia (11. Klasse)

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Einen Menschen zu treffen, der solch unglaublich Schreckliches durchgestanden hat und den Mut aufbringt, mit uns darüber zu sprechen, ist beeindruckend. Ich danke Ihnen für Ihre Kraft und dass sie all unsere Fragen beantwortet haben. Für mich war das Gespräch mit Ihnen sehr prägend und einige Sätze, die Sie geäußert haben, schwirren mir immer noch in meinem Kopf herum. Es war sehr wertvoll, die Welt ein wenig aus Ihren Augen zu sehen.

Mia (11. Klasse)

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Ich bin sehr beeindruckt, wie Sie mit Ihrer Vergangenheit umgehen, denn nicht jeder hätte die Kraft, über so eine Vergangenheit zu sprechen. Mir war nie so richtig klar, unter welchen Umständen Sie aufwachsen mussten. Ich wollte Ihnen noch Danke sagen, dass Sie Ihre Geschichte mit der Welt teilen, damit wir nicht vergessen, wie wichtig Demokratie und ein respektvoller und offener Umgang miteinander ist.

Nika (6. Klasse)

»

Wir danken Ihnen sehr für Ihre Zeit. Sie haben uns alle unsere Fragen beantwortet und uns gezeigt, dass keine Frage zu dumm ist, um gestellt zu werden. Wir können uns überhaupt nicht vorstellen, wie die Zeit für Sie gewesen sein muss und sind Ihnen deshalb umso dankbarer, dass Sie dieses traumatische, prägende Erlebnis mit uns teilten. Bleiben Sie gesund!

Ali (11. Klasse)

Eine Lebensgeschichte …

Peter Poth, Thomas Rink

Ernst Grubes Leben in Worten und Bildern

Momentaufnahmen sind mehr als nur gebannte Augenblicke; den informierten Betrachter*innen geben sie den Blick frei auf die weiteren gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge, die in jede bildliche Darstellung eingeschrieben sind. Insofern erzählt jede Photographie eine Geschichte, ist eingeordnet in ein Vorher und Nachher, die ihre Bedeutung mittragen. Verstehen vollzieht sich hier oft intuitiv, mitunter ist man genötigt, sich die Zusammenhänge zu erfragen oder zu erarbeiten. (Viele) Bilder können somit den Anspruch erheben, ein Leben visuell zu vergegenwärtigen. Im Folgenden haben wir uns ein bescheideneres Ziel gesetzt; anhand von Photographien, aber auch einiger Dokumente werden zentrale und prägende Momente der Biografie Ernst Grubes vorgestellt und durch korrespondierende Texte, die von ihm aus ganz verschiedenen Anlässen verfasst worden sind, teils unmittelbar kontextuell gedeutet, teils aber als sinngebende Impulse in einen größeren biografischen Zusammenhang eingerückt. Indem Bild und Text wechselseitig aufeinander Bezug nehmen, entstehen Bedeutungszusammenhänge, in denen Ernst Grube die Erfahrungen seiner Kindheit in der NS-Zeit reflektiert und im Licht späterer Erlebnisse deutet sowie aktualisiert, ihnen dabei aber ihre historische Einmaligkeit lässt. So kann diese reflektierte Horizontverschmelzung als das Spezifische seines Erinnerungsdenkens verstanden werden, eines politisch-praktischen Gedenkens, das dem Vermächtnis der Verfolgten durch eine konsequente Fortschreibung ihres Erbes dadurch gerecht werden will, dass alle entmenschlichenden Verhältnisse und Entwicklungen kritisiert und ihnen Widerstand entgegengesetzt wird. Denn »Erinnern allein reicht nicht aus«, wie Ernst Grube betont. Der erste Teil der biographischen Annäherung behandelt die Ausgrenzung und Verfolgung während der NS-Herrschaft. Ernst Grube ist einer der wenigen noch lebenden Münchner, der die Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung durch die Nationalsozialisten als sogenannter »Geltungsjude« erlebt hat. Über vier Jahre, von November 1938 bis zum Frühjahr 1943, musste er mit seinen Geschwistern getrennt von den Eltern leben: Zunächst im Jüdischen Kinderheim in der Antonienstraße und nach dessen Schließung im Frühjahr 1942 in den »Judenlagern« 22  | Peter Poth, Thomas Rink

Milbertshofen und Berg am Laim. Da sein nichtjüdischer Vater sich weigerte, sich von der jüdischen Mutter scheiden zu lassen, blieben Ernst, seine Geschwister und seine Mutter lange von einer Deportation verschont. Im Februar 1945 wurde der 12-jährige Ernst Grube zusammen mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Dort wurden sie am 8. Mai von der Roten Armee befreit und kehrten nach München zurück. Für die Zeit nach 1945 bieten die ausgewählten Photographien und Dokumente zwar ganz grob einen chronologischen Rahmen, doch geht Ernst Grube textlich von Anfang an darüber hinaus und dokumentiert damit die oben angesprochenen »Lebensbedeutsamkeit« der visuell festgehaltenen Momente. Die Geburt des politischen Ernst Grube als kritischer Zeitgenosse stellt der Abschnitt »Von der zweiten Ausgrenzung zum politischen Engagement« vor. Hier werden die Grundimpulse einer aus den Beschädigungen der Verfolgungserfahrung erwachsenen Hoffnung auf eine bessere, weil demokratische und sozial egalitäre Gesellschaft ebenso deutlich wie deren Enttäuschung. Da Hoffnung aber nicht stumm bleiben kann, sondern eine verändernde Praxis antreibt, zeugt der zweite Abschnitt von einer Schärfung des Blickes für die Widersprüchlichkeiten des Wiederaufbaus im restaurativen Geist beziehungsweise Geist des Kalten Krieges. »Im Kampf für Frieden und soziale Gerechtigkeit« wird deutlich, dass sein politisches Engagement von großer Stringenz und Klarheit geprägt war. Im dritten Teil, »Der lange Weg zur Anerkennung«, wird deutlich, wieviel Zeit nötig war, bis sein unermüdlicher Einsatz für das ihn verpflichtende Erbe – gegen alle Widerstände – öffentlich gewürdigt und politisch (fast) anerkannt wurde. Ernst Grube ist bis heute aktiv – auf der Suche nach den Spuren seiner eigenen Geschichte, der Geschichte seiner Familie, aber auch der nationalsozialistischen Vernichtungsgeschichte. Denn ohne dieses Allgemeine ist für ihn das Eigene nicht zu verstehen. Doch der Blick zurück ist zugleich einer nach vorn, der aus der leidvollen Erinnerung um die zerstörerische Brutalität heutigen Leidens weiß. In unverbrüchlicher Solidarität mischt sich Ernst Grube dort ein, wo er Menschen und die Menschlichkeit bedroht sieht – vom Rechtsextremismus über Waffenexporte bis hin zur Flüchtlingsfrage –, und prangert gesellschaftliche Trägheit sowie staatliche Blindheit an, eben ein »Leben aus der Erinnerung für die Gegenwart«.

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Von links nach rechts und von oben nach unten: Franz Grube, Clementine Grube, Werner Grube, Ernst Grube, Ruth Grube, alle ohne Jahr. ­Fotos: Stadtarchiv München.

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Die Familie Grube

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Ich bin 1932 in München in der Häberlstraße geboren. Ein Jahr danach zogen meine Eltern in die Herzog-Max-Straße 3, in ein Wohnhaus der Israelitischen Kultusgemeinde. Meine Mutter war von Beruf Krankenschwester. Sie hat in München im jüdischen Krankenhaus gearbeitet. Der Vater stammte aus Ostpreußen, war Nichtjude, war von Beruf Handwerksmeister, Malermeister, ist auf Wanderschaft gegangen, wie es damals üblich war, kam nach München und wurde in München krank: Blinddarmentzündung. Und er kam dann in das jüdische Krankenhaus und wurde von der Schwester Clementine, unserer späteren Mutter, betreut und hier in diesem Krankenhaus haben sie sich kennen gelernt.1 Ich habe noch einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester. Das Leben in unserer Familie bestimmte vor allem unser Vater. Es war zum einen seine sozialistische Weltanschauung und zum anderen seine sehr strenge, preußische Art, die unsere Erziehung prägten. Dem jüdischen Glauben unserer Mutter gegenüber war Vater sehr aufgeschlossen. Er selbst war evangelisch. Mutter feierte für sich alleine ihre jüdischen Bräuche und betete in aller Stille. Soweit ich mich erinnere, hatte der jüdische Glaube meiner Mutter wenig Einfluß auf die gesamte Familie.2

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Wohnhaus der Familie Grube in der Herzog-Max-Straße, 1938. Foto: Stadtarchiv München.

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Im Hinterhof war dann auch so ein, heute würde man sagen Second Hand Laden, wo die bedürftigen Juden hingekommen sind und dann was bekommen haben. […] Da stand auch so ein Tretauto. […] Ich hab mich in das Auto gehockt und bin dann abgebrettert. Irgendwie sind sie mir nach und haben mich zurückgeholt.3 Früher hat ja der Storch die Kinder gebracht. Und so bin ich erzogen worden: Der Storch bringt der Mama ein Kind und jetzt musst du ein Zucker vors Fenster legen, damit der Storch auch gut gelaunt ist. Und das hab ich fast jeden Abend eine Zeit lang gemacht. Und dann kam am 8. Juni 1938, gerade in die Zeit des Abbruchs der Synagoge, die Ruth auf die Welt.4 Die Hauptsynagoge wurde im Juni 1938 abgerissen. Den Mietern der beiden Wohnhäuser kündigte man. […] Die Situation in der Herzog-Max-Straße wurde für meine Eltern immer schwieriger. Wasser, Strom und Gas waren abgeschaltet. So blieb meinen Eltern nichts anderes übrig, als uns Kinder, meinen älteren Bruder Werner, meine Schwester Ruth – sie war erst vier Monate alt – und mich in das jüdische Kinderheim nach Schwabing in die Antonienstraße 7 zu bringen. Ich war damals gerade sechs Jahre alt. Ich weiß es noch genau, wir fuhren am 7. November 1938 mit der ganzen Familie mit der Straßenbahn nach Schwabing. Für ein paar Wochen hieß es! […] Doch aus diesen paar Wochen wurden viereinhalb Jahre.5

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Von links nach rechts und von oben nach unten: Jüdisches Kinderheim in der Anto­ nienstraße, o. J.; Werner und Ernst (links) Grube im Garten des Antonienheims, 1941; Ernst (links) und Werner Grube im Tierpark Hella­ brunn, 1941; Kinder des Jüdischen Kinderheims Ruth Grube, oben, zweite von links, 1941. Fotos: Privatbesitz Ernst Grube, Stadtarchiv München.

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Im Jüdischen Kinderheim

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Das Kinderheim war ein zweistöckiger Bau mit einem herrlichen Garten und vielen Obstbäumen. Es war ein wahres Paradies! In der Herzog-Max-Straße hatten wir zuletzt sehr isoliert gelebt, ohne Nachbarn, ohne Spielgefährten, ohne Freunde. Im Heim dagegen kamen wir in eine Gemeinschaft von etwa 100 Kindern. Vom Säugling, wie meine Schwester Ruth, bis zu 16jährigen Jungen und Mädchen waren alle Altersgruppen vertreten. Ein Teil der Kinder hatte keine ­Eltern mehr, oder die Eltern waren bereits im Ausland und wollten ihre Kinder später nachkommen lassen.6 Und zwar sind wir im Elternhaus ja nicht jüdisch erzogen worden und jetzt komme ich in dieses Kinderheim und erlebe jüdisches Leben. Im Judentum gibt es viele Feste, da gibt es Chanukka, da gibt es Pessach, da gibt es das Laubhüttenfest und es gibt ja jeden Freitag auch den Schabbat, also auch ein Fest – und dieses jüdische Leben, das hat uns Kinder in dem Heim einfach begeistert.7 Ich habe das Kinderheim erlebt als einen Ort der Sicherheit, wir sind ja außerhalb des Heims von Nachbarjugendlichen als Juden-Schweine beschimpft und auch mal tätlich angegriffen worden, so dass wir nur in Gruppen das Haus verlassen haben.8 Und die Atmosphäre im Kinderheim, die wurde dann im November 1941 zerstört. Wir waren 46 Kinder in dem Heim und die Hälfte der Kinder bekam Mitte November die Aufforderung, sich zum Abtransport bereit zu halten. Und jetzt war Unruhe bei uns und dann immer mehr eben die Fragen: Wo geht’s denn hin? Warum kommen die jetzt weg? Warum ausgerechnet die? Werden wir uns wiedersehen?9 Und wenn ich heute gefragt werde nach meinem schlimmsten Erlebnis in der Erinnerung, dann ist es dieser Moment, in dem die Hälfte der Kinder das Heim verlassen musste, und vor allen Dingen das nachträgliche Wissen, dass sie alle umgebracht worden sind. Dass da keiner mehr lebt. Und das Heim war nicht mehr das Heim.10

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Lageplan »Judensiedlung ­Milbertshofen«, 1941; Baracke im »Juden­lager« ­Milberts­hofen, 1941. Fotos: Stadtarchiv München.

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In den »Judenlagern« Milbertshofen und Berg am Laim

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Wir Grube-Kinder kamen mit etwa zehn anderen im April 1942, nachdem das Kinderheim aufgelöst worden war, in das Judenlager Milbertshofen, Knorrstraße 148. Wir sind zunächst deshalb nicht deportiert worden, weil unser Vater nicht-jüdisch, sondern, nach damaligem Sprachgebrauch, ›Arier‹ war. Ohne seinen Schutz hätten wir diese Zeit bestimmt nicht überlebt.11 Wir Kinder haben trotz allem einigermaßen unbeschwert im Lager gelebt, dank unserer Betreuerinnen, die uns schützten. Über das Furchtbare und Teuflische, das um uns herum vorging, haben wir wenig gesprochen [...]. Ohne Genehmigung durfte niemand das Lager verlassen. Die Eltern haben uns auch dort besucht. Ins Lager selbst durften sie nicht, so dass sie uns manchmal mitnahmen.12 Für mich ist Milbertshofen emotional gesehen der schlimmste Ort dieser Zeit gewesen. […] Jeden Tag, aber auch nachts, kamen Gestapoleute, hetzten jüdische Menschen – aus welchen Gründen auch immer – durch das Lager, quälten sie und sperrten sie öfter in das alte Kesselhaus ein, welches in der Mitte des Lagers stand. […] Es gibt ja viel, das man vergisst, das irgendwo weg ist. Die Zeit heilt ja Wunden, heißt es. Hier nicht. Dieses Schreien, dieses gar nicht beschreibbare, hoffnungslose Schreien, das klingt in meinen Ohren. Es ist einfach immer noch da, als ob es vorige Woche gewesen wäre.13

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Zwei Kinder im »Judenlager« Milbertshofen,1941. Foto: Stadtarchiv München; Bewohner des Sammellagers Berg am Laim, 1942 (vorne rechts Ernst Grube). Foto: Privatbesitz Ernst Grube.

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Im August 1942 lösten die Nazis dieses Lager auf, nachdem sie die meisten Münchner Juden nach Theresienstadt deportiert hatten. Übriggeblieben sind mit uns 16 Kinder! Wir kamen nun in das zweite größere Judenlager, in die ›Heimanlage für Juden‹ in Berg am Laim. Am 1. März 1943 wurde auch diese Heimanlage aufgelöst.14 Der Vater hat uns dann abgeholt mit seinem Malerwagen, damals hatten ja die kleinen Handwerker keine Autos, da gab es eben so einen Handkarren mit solchen Rädern, und wir hatten ja Kleidung und einiges zum Mitnehmen, das haben wir dann draufgeladen, und die Ruth, die 5 Jahre alt war, hat da draufgesessen und der Werner und ich haben den Wagen geschoben und so sind wir in dieser Unterkunft der Eltern angekommen. […] 1 ½ Zimmer […] und da haben wir dann in dieser Wohnung in dieser Zeit gelebt.15 Ich durfte ja nicht in die Schule gehen, die Nachbarskinder, die waren bis mittags oder nachmittags in der Schule und dann hab ich jeden Tag gewartet, bis sie da sind und nach Kontakten gesucht, aber ich hab halt auch jeden Tag erleben müssen, dass ich nicht angenommen wurde. Dass ich der Jud war. […] Die Ablehnung und Ausgrenzung war total.16

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Grundriss des Ghettos Theresienstadt; Kinder im Ghetto Theresienstadt, 23. 6. 1944. Fotos: Yad Vashem. Auszug Deportationsliste mit Familie Grube, Februar 1945. Fotos: Privatbesitz Ernst Grube.

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Im Ghetto Theresienstadt

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Trotz alledem ließ es sich nicht verhindern, daß unsere Mutter und wir drei Kinder noch im Februar 1945 mit einem der letzten Transporte nach Theresienstadt deportiert wurden.17 Ich war damals 12 Jahre alt. Wir saßen in unseren zwei kleinen Zimmern, Mutter, Werner, Ruth und ich warteten, daß sie uns abholten. Und natürlich war unser Vater bei uns. […] Dann kamen sie: Auf einem offenen Lastwagen wurden wir vier abtransportiert – zurücklassend unseren Vater, der nicht wußte, ob wir uns jemals wiedersehen würden.18 Abends marschierten wir über den Odeonsplatz und den Stachus zum Hauptbahnhof: Wir waren etwa 80 Frauen, Männer und Kinder mit dem Judenstern auf der Brust, der uns nun schon seit Jahren begleitete. Am Hauptbahnhof waren zwei, von einigen SS-Leuten bewachte Waggons für unseren Transport reserviert.19 Als wir in Theresienstadt ankamen, mußten wir in eine Kasematte, eine riesige kalte Halle. […] Unsere Familie wurde getrennt in festen Häusern untergebracht, Ruth und ich in verschiedenen Kinderheimen, Werner bei den erwachsenen Männern und unsere Mutter bei den Frauen. Die Gespräche von uns Kindern drehten sich hauptsächlich um das Essen und unsere Stellung zu den Nazis. Was werden wir mit ›denen‹ nach dem Krieg machen – einsperren, Arbeitslager, sie umbringen? –, waren von uns Kindern voller Haß und Wut diskutierte Möglichkeiten. Doch vor allem saß uns die Angst im Nacken: Werden wir dieses Lager überhaupt überleben! […] Das Schlimmste während unseres relativ kurzen Aufenthalts in Theresienstadt war trotz allem der Hunger und die Angst über die Ungewißheit, was die Nazis zum Schluß noch mit uns machen würden. Zum Essen gab es jeden Tag ein mittleres Stück Brot und mittags einige alte, oft faule Kartoffeln oder eine Graupensuppe. […] Am 5. Mai 1945 übernahm das Internationale Rote Kreuz das Ghetto und am 8. Mai wurden wir endgültig von der Roten Armee befreit. Wegen der großen Typhusepidemie kamen wir in Quarantäne und mußten noch einige Monate in Theresienstadt bleiben. Etwa Anfang August 1945 haben wir in zwei Bussen die Heimreise nach München angetreten […] Dort hat uns Vater erwartet und wortlos in die Arme geschlossen.20

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Gedenkveranstaltung für die Opfer des Faschismus, München, ­Odeonsplatz, September 1947. Foto: unbekannt.

Familie Binder-Olschewski-Binder. Ernst Grubes spätere Frau Erika ist vorne als Zweite von links im Bild zu sehen. Foto: Privatbesitz Ernst Grube.

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Von der zweiten Ausgrenzung zum politischen Engagement

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Zu meiner Nachkriegsgeschichte gehört, dass ich schon als Jugendlicher zur VVN bin, und dass ich in der VVN tätig war, ich war tätig im Sinne eines Erbes. Die ermordeten Kommunisten, Sozialdemokraten, Christen, wie Dietrich Bonhoeffer zum Beispiel, die haben der Gesellschaft, der nachfolgenden Gesellschaft ja ein Erbe hinterlassen, nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg, für Menschenrechte, Hilfe für Menschen, die als Gruppe verfolgt werden, das haben sie ja uns überlassen. Und wir von der VVN, wir nehmen dieses Erbe in die Hand, nicht nur wir, aber jetzt mal unsere Organisation, wir lassen da nicht aus und sagen, da müssen wir weiterwirken.21 Bis zum Sommer 1945, da war ich zwölf Jahre alt, habe ich ja keine Kontakte zu Gleichaltrigen gehabt, für mich nach 1945 war die Frage, dass ich einfach erzählen wollte, und erlebt habe, dass das überhaupt niemanden interessiert. Ich habe mich dann auch mit anderen Jugendlichen auf dem Marienplatz getroffen, wo auch die Amis mit ihren Jeeps geparkt haben, um dann in ein Kaufhaus zu gehen, um einzukaufen. Ich habe mir dann eine Armbinde gemacht, auf die Armbinde habe ich dann KL Terezin geschrieben. Das hatte keinen Sinn, es hat niemanden interessiert. Ich kann mich an ein, zwei Mal erinnern, dass ich gefragt wurde, und als ich dann anfangen wollte zu erzählen, war das schon wieder genug. Die Schwierigkeit nach 45 war, dass ich mit meinem kindlichen und jugendlichen Drang nicht angekommen bin und dass die Mehrzahl der Bürger in ihrer Ablehnung des Jüdischen genauso war wie vor der Befreiung. Juden, die überlebt haben und die dann nicht mehr in ihre Heimat nach Polen oder Litauen wollten und die nach Europa und Deutschland kamen und von den Amis betreut wurden und in manchen Straßen auch das Stadtbild mitgeprägt hatten, wie da diese Ablehnung war.22 Ich habe beim Vater Maler gelernt und der Vater hatte dann ab und zu so Kundschaft von Menschen, die im Konzentrationslager waren. Ich hatte dann Kontakt zu Rosa Binder; Rosa Binder war die Frau eines Kommunisten, des Münchner Widerstandskämpfers Otto Binder, der in Stadelheim von den Nazis umgebracht worden war. Dort haben wir dann gearbeitet und ich habe dann die Tochter E ­ rika kennengelernt und über die Erika hab’ ich dann immer Menschen kennengelernt, die Kommunisten waren und die im KZ waren, die in Dachau waren, die in Buchenwald waren, die im Zuchthaus waren. Ich habe diese Menschen kennengelernt. Ich hatte gar kein so Parteiprogramm im Kopf, die Nähe zur KPD.23

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Protokoll der Leichenüberführung. Foto: Privatbesitz Ernst Grube

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Wenn ich zurückdenke an meine Erlebnisse in den Jahren1949 /1950, so trauerten die meisten Bürger*innen damals eher der Nazizeit und dem verlorenen Krieg nach. Von den Verbrechen der Nazis gegen uns Juden, gegen politisch Widerständige, die in den KZs eingesperrt und gefoltert worden waren, wollten sie nichts wissen.24 Unmittelbar nach der Befreiung haben Kommunist*innen begonnen über ihre Verfolgungserlebnisse im Widerstand und über den Terror in den Konzentra­ tionslagern zu berichten. Ich erinnere an Lina Haag. Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus, den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft mit demokratischen Strukturen wollten sie erreichen, wie sie im Potsdamer Abkommen skizziert worden waren. Entnazifizierung, Entmilitarisierung … Schon 1946 haben ehemalige Dachauhäftlinge die »Lagergemeinschaft Dachau« gegründet. Im Jugendalter bin ich in München vielen überlebenden Kommunisten begegnet, habe sie kennengelernt und mich mit ihnen angefreundet. Darunter Anna Pröll, Otto Kohlhofer, der maßgeblich am Entstehen der Gedenkstätte des ehemaliges KZ Dachau mitgewirkt hat, Eugen Kessler, Sebastian Steer, um nur einige zu nennen. Für mich als ehemals verfolgtes jüdisches Kind, das der Vernichtung schließlich durch die Befreiung der Roten Armee in Theresienstadt entkommen war, hatten diese ehemaligen politischen Häftlinge immer ein offenes Ohr. Ganz im Gegensatz zu dem, was ich sonst an Abwehr erleben musste, wenn ich erzählen wollte. Die befreiten kommunistischen Häftlinge wurden und waren bald enttäuscht. Ihre Erwartungen, dass die verantwortlichen Nazis zur Rechenschaft gezogen werden, dass die Kriegstreiber und Kriegsgewinnler – die Großindustrie – enteignet werden und die Werktätigen zentrale Bereiche der Wirtschaft bestimmen würden, wurden nicht Wirklichkeit in der Bundesrepublik.25

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Im Mai 1954 fordern Demonstrant*innen am Münchner Königsplatz die ­Freilassung von Ernst Grube. Foto: Privatbesitz Ernst Grube.

Ernst Grube wird nach sieben Monaten Haft von der Gewerkschafts­jugend empfangen. Foto: Privatbesitz Ernst Grube.

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Einsatz für Frieden und soziale Gerechtigkeit

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Über diese Erika Binder bin ich dann in die FDJ gekommen. Ich hab’ erstmal in der FDJ gegen die Wideraufrüstung gekämpft. Wir sind verfolgt und gejagt worden von der Polizei, weil wir eine Volksbefragung durchführen wollten. Für die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik – ja oder nein? Dann haben sie uns gejagt wie die Hasen. Später bin ich dann in die Gewerkschaft und habe mich gegen die Wiederaufrüstung und für soziale Belange eingesetzt. Und zu diesen sozialen Belangen gehörte dann, dass die Läden Samstagsmittag geschlossen werden. Das haben die Firmen Brenningmeyer und Salamander durchbrochen, sie haben die Läden bis 18.00 Uhr geöffnet. Dagegen wurde protestiert, gab es Demonstrationen in der Fußgängerzone, damals fuhr ja noch die Trambahn durch. Da haben wir von der Gewerkschaftsjugend geschrien. Und dann muss man auch schon sehen, dass die Polizei mit Stahlhelm in die Demonstranten hineingeritten ist, dass das für mich Bilder waren, die bei mir ganz unwillkürlich Vergleiche hervorgerufen haben aus meiner Kindheit. Das bei mir die Wut und das Entsetzen allein emotional da war. Dann haben sie auf mich eingeschlagen und ich habe die Arme gehoben und mich geschützt. Nur geschützt und das war dann schon Widerstand. Sieben Monate ohne Bewährung.26 Kommunisten und anderen aktiven Antifaschisten wurde von der die Verbrechen beschweigenden Mehrheit und ihren Eliten ein berechtigtes Interesse abgesprochen. Die aktiven Antifaschisten setzten sich für eine Gesellschaft gemäß den Potsdamer Beschlüssen ein, in der nicht die Förderer und Profiteure von Faschismus und Krieg weiter bestimmenden Einfluss haben sollten. Als Kriegs- und Atomwaffengegner haben sie sich gegen den Aufbau eines neuen Militärs gewehrt, in dem die ehemaligen Generäle der faschistischen Wehrmacht das Sagen hatten. Sie haben die Wiederkehr ehemaliger Nazis in ihre alten Funktionen bekämpft, und oft haben sie dafür wie ich Gefängnishaft und gesellschaftliche Ächtung riskiert. Unsere Verfolgungserfahrungen, unsere Verletzungen und Verluste zählten nicht, bestenfalls waren sie anstößig. Darüber sprachen wir nur in kleinen Kreisen, unter uns. Geehrt wurde damals niemand aus unseren Reihen.27 Die darauf folgende Entrechtung und Ausschaltung der politischen Gegner im Faschismus ebnete den Weg in den rassistischen Eroberungs- und Vernichtungskrieg Deutschlands. Ohne diesen Krieg wären die beispiellosen Verbrechen, wie der Holocaust, nicht möglich gewesen. […] Zur Erinnerung gehört heute die Verantwortung für diese ungesühnten Massenmorde und Kriegsverbrechen der Vergangenheit. Für eine demokratische GesellErnst Grubes Leben in Worten und Bildern | 41

Demonstration des Deutschen Gewerkschaftsbundes am 1. Mai 1954. Foto: Privatbesitz Ernst Grube.

Demonstration gegen das Bayerische Integrationsgesetz in München am 22. 10. 2016. Foto: Christel Priemer.

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schaft ist es lebensnotwendig, dass Unrecht und Verbrechen klar benannt, aufgeklärt und geahndet werden. Heute wird oft darauf hingewiesen, dass wir schon über 70 Jahre in Frieden in Europa leben. Doch Deutschland ist heute der drittgrößte Waffenlieferant der Welt und befeuert den Krieg, den wir hier noch nicht haben, an anderen Orten der Welt. Die fortdauernden, von der Bundespolitik geförderten Waffenlieferungen, wie die an Saudi-Arabien, sind nur das aktuellste Beispiel, wie der Profit der Rüstungsindustrie an oberster Stelle steht und der Hungertod von Millionen Menschen im Jemen gleichgültig hingenommen wird. Forderungen nach Einstellung der Rüstungsproduktion werden mit dem Hinweis auf Arbeitsplätze abgewiesen. Arbeitsplätze für Menschenleben! Zynischer, menschenverachtender kann man diesen Standpunkt nicht nennen. Wenn wir aufhören, uns gegen diese Verletzung von Humanität und Menschenrechten zu stellen, wenn wir die Zerstörung von Asylrecht und Flüchtlingsschutz schön reden lassen und uns nicht vehement gegen Aufrüstungs- und Kriegspolitik, gegen Waffenexporte einsetzen, geben wir die Errungenschaften der Befreiung von Faschismus und Krieg preis.28

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Heute kommen Menschen zu uns aus Kriegsgebieten und aus Ländern, in denen sie unterdrückt und verfolgt wurden und keine Existenzgrundlage für sich sehen. Die Fluchtursachen sind auch Made in Germany. Wahrscheinlich ist es meine Erinnerung, die mich und mit Empörung auf dieses sogenannte Integrationsgesetz schauen lässt. Schon die diffamierende, Feindbilder schaffende Sprache zeigt das: Asylmissbrauch, Wirtschaftsflüchtlinge, Ausländerkriminalität. Das ist Wasser auf die Mühlen der rassistischen und nazistischen Bewegungen. Integration qua Leitkultur ist der Kern dieses Gesetzentwurfes. Integration heißt hier: Unterordnung, Verbote, Entzug von Rechten, Lager. Leitkultur heißt hier: Du musst deine eigene Kultur weglegen. Du musst sie vergessen. Du musst so leben, wie wir uns das vorstellen. Welche Eiseskälte, welche Enge, welche Blindheit, als handele es sich um irgendwelche bedrohlichen Wesen, die man irgendwie in Schach halten muss – und nicht um Menschen, wie du und ich. Weit entfernt von dem, was die Schöpfer der bayerischen Verfassung vor 70 Jahren als Grundsätze für unser Zusammenleben dort festgeschrieben haben. Experten belegen, dass das geplante Gesetz weder mit der bayerischen Verfassung, noch mit unserem Grundgesetz, noch mit der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vereinbar ist. Nie wieder! Asyl ist ein Menschenrecht, das älteste der Menschheit überhaupt. Es geht um das Recht, Rechte zu haben. So hat es die jüdische Philosophin und von den Nazis vertriebene Emigrantin Hannah Arendt gefordert. Kämpfen wir gemeinsam.29

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Der Judenstern von Ernst Grube. Foto: Privatbesitz Ernst Grube.

Ernst Grube (li.) erhält den Georg-Elser-Preis der Stadt München. Foto: Robert Werner.

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Der lange Weg zur Anerkennung

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In einer kleinen Zelle, so breit, dass nur das Bett drin war. Wenn ich, man kann ja einkaufen im Knast, musste alles weg. Wenn ich rausging, geholt wurde, durfte niemand am Gang sein. Hofgang nur ich allein, ich war ja ein Pimpf, ich war ja überhaupt keine bedeutende Persönlichkeit im Rahmen dieser Organisation (der Kommunistischen Partei Deutschlands, P. P.). Ich war halt einer, der mitgemacht hat. Ich kann es Ihnen gar nicht schildern, in einer Isolationshaft, die schlimmer nicht mehr sein kann.30 Also der Hauptgrund, warum ich das Abitur nachmachte, war die politische Arbeit; wenn ein Flugblatt zu entwerfen war, hieß es dann: Ich? Ich hatte auf einer Seite 50 Fehler. Ich hatte einfach keine Bildung. Und auch historisch – ich wusste zu wenig, Dann bin ich auf eine Abendschule gegangen. Und habe dann über den zweiten Bildungsweg das Abitur nachgemacht, dann hatte ich den Zettel. Da habe ich gesagt, so, wenn ich jetzt nicht weitermache irgendwie, dann ist das alles bald vergessen, und habe mich dann eingeschrieben an der Uni. Dazu muss ich sagen, ich hatte ja ein Malergeschäft mit fünf Leuten und habe dann an der Uni auch wieder politisch gearbeitet, im AStA und was es da alles so gab. Das habe ich zwei Jahre gemacht, und dann habe ich gesagt, so geht es nicht weiter, und bin dann Berufsschullehrer geworden, Fachschullehrer besser gesagt, für Maler und Lackierer. Jetzt wollte ich aber nicht nur Fachschullehrer sein, sondern wollte auch an der Schule Unterricht geben. Dann hatte ich drei Stunden im ersten Jahr, im zweiten Jahr sechs, im dritten Jahr null. Da hatte ich Berufsverbot, das wurde erstmal nicht begründet, auf Nachfrage aber: Mitgliedschaft in der DKP. Dann hab ich im Rathaus ein Gespräch beantragt, und bin mit dem Personalratsvorsitzenden ins Rathaus und mit diesem Stern, den hab ich hingelegt und dann war ich nicht vollbeschäftigte Lehrkraft und hab’ unterrichten dürfen. Dann hat die Stadt München dieses Berufsverbot zurückgenommen.31 Der Preisträger Ernst Grube hat es sich zeit seines Lebens zur Aufgabe gemacht, über die Verbrechen der NS-Diktatur aufzuklären und Konsequenzen diktatorischer Systeme aufzuzeigen. […] Ernst Grube hat sich aufgrund seiner persönlichen Verfolgungserfahrung zeit seines Lebens gegen Ausgrenzung und Unterdrückung engagiert. Er hat über Jahrzehnte hinweg jungen Menschen über die Schrecken des Nationalsozialismus aus eigener Anschauung berichtet – und aber auch immer wieder darauf hingewiesen, wenn heute Menschen unter Ausgrenzung und Ausbeutung leiden. […] Immer wieder hat er auf das Schicksal von Flüchtlingen hingewiesen – zuletzt hat Ernst Grubes Leben in Worten und Bildern | 45

er eindringlich einen Abschiebestopp für Afghanistan gefordert. Ernst Grube war und ist immer auch unbequem. Aber es sind nicht die Bequemen, die die Demokratie verteidigen. Für sein lebenslanges Engagement erhält Ernst Grube den Georg-Elser-Preis der Landeshauptstadt München 2017.32

Ein Leben aus der Erinnerung für die Gegenwart

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Gedenken und Erinnern brauchen wir als Kompass für unsere Orientierung und unser Handeln. Beherzigen wir, was seit der Befreiung von Faschismus und Krieg im Grundgesetz, in der Bayerischen Verfassung und in Artikel 1 der Menschenrechts-Charta verankert ist: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.« Menschenrechte gelten für alle Menschen!33 Oft bin ich in Schulen, um als Überlebender der Judenverfolgung zu berichten. Meine Tanten, Onkel, Cousins wurden alle deportiert und durch das Naziregime ermordet. Es liegt mir daran, dass Menschen nachdenken und handeln: gegen Antisemitismus, Rassismus und Krieg. Dass sie einstehen für Menschenrechte, gegen Diskriminierung und Unterdrückung.34 Erinnerungskultur, wie heute Aufklärung über die NS-Verbrechen genannt wird, war und ist eine sehr anstrengende aber notwendige Aufgabe. Die Shoah und der beispiellose Raub- und Vernichtungskrieg von Nazi-Deutschland im Osten, gegen die Sowjetunion, der die Shoah erst ermöglicht hat, – diese Verbrechen waren lange Zeit tabu, ebenso der Widerstand gegen das NS-Regime. Die Bewußtmachung der größten Menschheitsverbrechen und deren Folgen für unser aktuelles gesellschaftspolitisches Handeln sind nach wie vor umkämpft. Immer ging und geht es uns, die wir Faschismus und Krieg überlebt haben, darum mit unseren Berichten nicht nur die Endpunkte faschistischer Gewalt aufzuzeigen, sondern ihren Ausgangspunkt: Wie es schrittweise durch rassistische Stimmungsmache, Entrechtung und Ausgrenzung und durch Militarisierung dazu kam, dass Millionen Deutsche gefügig, gehorsam, betäubt und betrunken vom Gift des Antisemitismus, des Rassismus und der Volksgemeinschaftsideologie bereit waren, diese Schritte ins Verbrechen auszuführen oder zu dulden. Immer in der selbstbetrügerischen Annahme, dass sie als Deutsche, als die »Besseren« die »Leistungsfähigeren« dazu berechtigt – ja verpflichtet seien. Derzeit erleben wir, dass solche Anschauungen wieder Konjunktur haben und bereits als Gewalt wirken. Tausendfach

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Ernst Grube spricht mit einer Gruppe Jugendlicher im NS-Dokumentations­ zentrum München. Foto: Connolly Weber Photography.

Ernst Grube in der Gedenkstätte Belzec. Foto: Paul Huf.

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werden Menschen in der Bundesrepublik bedroht und angegriffen. Unser höchstes Gericht attestiert zwar Organisationen wie der NPD eine Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus. Es verzichtet jedoch auf ein Verbot. Die Tür ist damit weit offen, für einen rassistischen Mob, der in Worten und Taten die Würde, die Rechte und die Existenz von Menschen angreift. Besonders betroffen sind Menschen, die Schutz vor Krieg, vor Verfolgung und vor Existenzverlust suchen.35

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›Unfassbar‹ sagen manche Menschen heute, sei das. Doch dabei bleibe ich nicht stehen. Ich suche die Zusammenhänge. Mit dem Überfall auf Polen 1939 und insbesondere mit dem Überfall auf die Sowjetunion durch Nazideutschland begann das Massenmorden in Osteuropa […] Dieser Massenmord hinter der Ostfront beschleunigte die Planungen für die Judenvernichtung im deutsch besetzten Europa. Die eroberten Gebiete waren Ziel der ersten systematischen Deportationen ab Mitte Oktober 1941. In den besetzten, mit Terror überzogenen Gebieten konnten die deutschen Besatzer Ghettos, KZs und Vernichtungsstätten einrichten und bauen. Dorthin wurden auch alle meine Tanten, Onkel und Cousins mütterlicherseits deportiert: nach Riga, Piaski und Izbica, in das Vernichtungslager Belzec. Ein Onkel musste die Qualen der Vernichtung durch Arbeit in Riga, im KZ Kaunas, KZ Stutthof und zurück ins Dachauer KZ Außenlager Kaufering in die Rüstungsproduktion, mitmachen. Niemand hat überlebt.36 Sie leben in unserer Erinnerung. Es gibt kein Grab! Auch nicht für meine Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen, die 1942 nach Piaski und Izbica deportiert und dort in Sobibor, Belzec oder in Massenerschießungen ermordet wurden. Je weniger ich über ihr Leben und ihre Ermordung weiß, desto schmerzvoller wirken die offenen Fragen: Wie ging es meiner Tante Selma und meinem Onkel Siegfried im KZ Jungfernhof? Wie war das für ihn, als Selma erschossen wurde, als er dann ins Ghetto Riga, im KZ Kaiserwald, danach ins KZ Kauen in Litauen weiter deportiert wurde und schließlich über das KZ Stutthof nach Kaufering verladen wurde? Wie waren seine Gesundheit, seine Kräfte? Wie hatte er trotz allem so lange am Leben bleiben können, in dieser grausamen Vernichtung durch Arbeit? Bis 2016 hatte ich aus dem Nachlass meiner Mutter nur ein Foto von Siegfried und Selma und ein Dokument des Amtsgerichts Stuttgart vom November 49, in dem steht: »Die Eheleute Süss-Schülein wurden am 1. Dezember 1941 nach Riga deportiert und sind von dort nicht zurückgekehrt. Rückkehrer können sich an sie erinnern, haben sie jedoch Mitte 1942 nicht mehr gesehen, nehmen daher an, dass sie bei der Aktion am 26. 3. 1942, bei der 1700 Menschen erschossen worden sind, ebenfalls ums Leben kamen.« Alle drei Schwestern mit ihren Ehemännern und Kindern wurden vom Amtsgericht Stuttgart »für tot erklärt«. Nach un-

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Ernst Grube bei einer Demonstration gegen Abschiebungen nach ­Afghanistan im Mai 2017 in Regensburg. Foto: Oswald Martin.

serer Befreiung im Ghetto Theresienstadt am 8. Mai 1945 und der Rückkehr nach München am 26. Juni hatte meine Mutter, Clementine Grube, begonnen ihre drei Schwestern und deren Familien zu suchen. Vier Jahre lang hoffte sie auf Lebenszeichen, schrieb Briefe an Suchdienste, jüdische Gemeinden und reiste in die ehemaligen Wohnorte, um über andere Menschen dort etwas zu erfahren. Die Gedanken kreisten unablässig zwischen Hoffnung auf Lebenszeichen und Befürchtung von Todesgewissheit. Da war so viel Trauer, Niedergeschlagenheit, da war nicht mehr viel Platz und Energie für anderes, was wir gerade als ehemals verfolgte Kinder gebraucht hätten.37

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Anmerkungen 1  Ernst Grube: »Den Stern, den tragt Ihr nicht!«. Kindheitserinnerungen an die Judenverfolgung in München, in: Dachauer Hefte, 1993 /9, 3–13, hier 4. 2  Ernst Grube: »Du Jud’, schleich’ dich!« Kindheit in München 1932 bis 1945, in: Angelika Baumann (Hg.), Jüdisches Leben in München. Lesebuch zur Geschichte des Münchner Alltags. Geschichtswettbewerb 1993 /94, München 1995, 43–48, hier 43. 3  Zeuge der Zeit. Ernst Grube: KZ-Kind  – Jude – Antifaschist, ARD alpha, 2018, 44:03 min., hier 02:10 – 02:53 min., in: URL: ­https://www.br.de/fernsehen/ard-­a lpha/­ programmkalender/sendung-2163058.html [gesehen am 24.10.2022]. 4  Zeuge der Zeit. Ernst Grube: KZ-Kind  – Jude – Antifaschist, ARD alpha, 2018, 44:03 min., hier 03:19 – 03:56 min., in: URL: ­https://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/­ programmkalender/sendung-2163058.html [gesehen am 24.10.2022]. 5  Grube 1993, 3. 6  Grube 1995, 44. 7  Grube 1995, 45. 8  Grube 1993, 5. 9  Grube 1995, 45. 10  Federbetten nur für Kinder, 2021, in: URL: https://culture-clouds.de/federbettennur-­fuer-kinder/ [gesehen am 18. 7. 2022]. 11  Grube 1995, 46. 12  Ernst Grube: »Den Stern, den tragt Ihr nicht.« Kindheitserinnerungen an die Judenverfolgung in München, in: Dachauer Hefte 1993/9, 3–13, hier 8. 13  Federbetten nur für Kinder, 2021, in: URL: https://culture-clouds.de/­federbettennur-fuer-kinder/ [gesehen am 18. 7. 2022]. 14  Grube 1995, 46. 15  Zeuge der Zeit. Ernst Grube: KZ-Kind – Jude – Antifaschist, in: URL: https://www.br. de/fernsehen/ard-alpha/­programmkalender/

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sendung-2163058.html [gelesen am 26. 7. 2022]. 16  Zeuge der Zeit. Ernst Grube: KZ-Kind – Jude – Antifaschist, in: URL: https://www.br. de/fernsehen/ard-alpha/­programmkalender/ sendung-2163058.html [gelesen am 26. 7. 2022]. Und: Grube 1993, 8. 17  Grube 1995, 48. 18  Grube 1993, 11. 19  Grube 1995, 48. 20  Grube 1993, 12 f. 21  Ernst Grube: Opfer des NS-Regimes, ARD alpha, 2014, 46:30 min., hier 41:22 min. – 42:20 min., in: URL: https://www.ardmediathek.de/ video/alpha-forum/ernst-grube-opfer-desns-regimes/ard-alpha / Y3JpZDovL2JyLmRlL3ZpZGVvLzNmOTE1N2M0LWVlY2UtNGQ5ZS05NDIwLWEyYjliZWExMzgzYw [gesehen am 1. 7. 2022]. 22  Christel Priemer / Ingeborg Weber: Ernst Grube – Zeitzeuge. Von einem, der nicht aufgibt, Dokumentarfilm 2017. 23  Christel Priemer / Ingeborg Weber 2017. 24  Ernst Grube: Rede anlässlich der Verleihung des Bürgerpreises / Ehrenpreises der Stadt München am 25. 10. 2021, unveröffentlichtes Manuskript. 25  Ernst Grube: Rede anlässlich der Anbringung eines Erinnerungszeichens für den im KZ Dachau ermordeten Kommunisten Franz Xaver Stützinger am 21. Juli 2021 in München, unveröffentlichtes Manuskript. 26  Ernst Grube: Opfer des NS-Regimes, ARD alpha, 2014, 46:30 min., hier 38:23 min. – 40:40 min., URL: https://www.ardmediathek. de/video/alpha-forum/ernst-grube-opfer-desns-regimes/ard-alpha  /   Y 3JpZDovL2JyLmRlL3ZpZGVvLzNmOTE1N2M0LWVlY2UtNGQ5ZS05NDIwLWEyYjliZWExMzgzYw [gesehen am 1. 7. 2022]. 27  Ernst Grube: Rede anlässlich der Verleihung des Münchner Bürgerpreises /

preises am 25. 10. 2021 in München, unveröffentlichtes Manuskript. 28  Ernst Grube: Rede anlässlich der Veranstaltung »Never again« auf dem Königsplatz in München am 9. 11. 2018, unveröffentlichtes Manuskript. 29  Ernst Grube: Rede anlässlich einer Kundgebung gegen das Bayerische Integrationsgesetz am 22. 10. 2016 in München, unveröffentlichtes Manuskript. 30  Ernst Grube: Opfer des NS-Regimes, ARD alpha, 2014, 46:30 min., hier 34:00 min. – 34:40 min., URL: https://www.ardmediathek. de/video/alpha-forum/ernst-grube-opfer-desns-regimes/ard-alpha  /   Y 3JpZDovL2JyLmRlL3ZpZGVvLzNmOTE1N2M0LWVlY2UtNGQ5ZS05NDIwLWEyYjliZWExMzgzYw [gesehen am 1. 7. 2022]. 31  Ernst Grube: Opfer des NS-Regimes, ARD alpha, 2014, 46:30 min., hier 37:25 min. – 38:12 min., URL: https://www.ardmediathek. de/video/alpha-forum/ernst-grube-opfer-desns-regimes/ard-alpha / Y3JpZDovL2JyLmRlL3ZpZGVvLzNmOTE1N2M0LWVlY2Ut-

NGQ5ZS05NDIwLWEyYjliZWExMzgzYw [gesehen am 1. 7. 2022]. 32  Georg-Elser-Preis der Landeshauptstadt München für Ernst Grube, in: Rathaus Umschau, URL: https://ru.muenchen.de/2017 /150/ Georg-Elser-Preis-der-­L andeshauptstadtMuenchen-fuer-Ernst-Grube-74120 [gelesen am 1. 7. 2022]. 33  Ernst Grube: Rede anlässlich der Befreiungsfeier des KZ Dachau am 30. 4. 2017, unveröffentlichtes Manuskript. 34  Ernst Grube: Brief an Ruth Meros aus dem Jahr 2013, unveröffentlicht. 35  Ernst Grube: Rede anlässlich der Befreiungsfeier des KZ Dachau am 30. 4. 2017, unveröffentlichtes Manuskript. 36  Ernst Grube: Rede anlässlich des Gedenkens an die erste Deportation aus München in München am 22. 10. 2021, unveröffentlichtes Manuskript. 37  Ernst Grube: Rede anlässlich der Einweihung eines Denkmals in der KZ-Gedenkstätte Fuchstal-Seestall am 7. 5. 2022, unveröffentlichtes Manuskript.

Ernst Grubes Leben in Worten und Bildern | 51

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Wir haben durch das Gespräch mit Ihnen sehr viel Neues gelernt, was uns der ­Unterricht nicht vermitteln konnte. Vielen Dank, dass Sie den Mut haben, über diese Erlebnisse zu berichten. Durch ­Ihren detaillierten Bericht wird die Situation der damaligen Zeit nochmals nachvollziehbarer, realer und verständlicher.

Olivia, Emilija und Julia (9. Klasse)

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Ihre Erzählungen haben uns geholfen, die Berichte aus der Zeit des National­ sozialismus besser zu verstehen und auch anders wahrzunehmen als aus den Schulbüchern.

Jakob (9. Klasse)

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Wir fanden das Gespräch sehr interessant und Sie haben uns einen besseren Einblick in die damalige Zeit ermöglicht. Für uns war es hilfreich, die Geschehnisse und allgemein die Situation aus der Sicht eines Menschen, der all dies m ­ iterlebt hat, betrachten zu können. Dies ist nicht vergleichbar mit dem Geschichts­ unterricht.

Elenia und Mona (9. Klasse)

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Wir haben sehr viel gelernt und finden es toll, dass Sie uns an Ihrer ­Vergangenheit teilhaben lassen. Wir glauben, dass es sehr wichtig ist, sich über diese Zeit zu ­informieren, da es eine sehr schlimme und historisch wichtige Zeit war und s­ olche ­Sachen in Zukunft nicht mehr passieren sollen. Es ist sehr beeindruckend von ­Ihnen, die neue Generation zu informieren und uns so viele Details von Ihrer Kindheit zu geben. Uns allen ist Ihre Geschichte sehr nahe gegangen, da Sie uns noch mal einen persönlichen und emotionalen Eindruck in das damalige Geschehen g ­ egeben haben.

Greta, Amélie und Vanessa (9. Klasse)

… und ihr ­historischer Kontext

Andreas Heusler

Jüdische Identitäten in der Weimarer Republik. Eine Annäherung Es ist vergeblich für sie zu leben und für sie zu sterben. Sie sagen: er ist ein Jude.

Jakob Wassermann, 19211 Ernst Grube ist Jude, sein Leben nicht ohne sein Jüdisch-Sein zu verstehen. Und dennoch ist es kaum möglich, die Vielschichtigkeit und Komplexität dessen, was Ernst Grubes »Jüdische Identität« ausmacht, begrifflich zu fassen. An dieser Stelle soll daher der Versuch unternommen werden, sich dem Konzept der »Jüdischen Identität« anzunähern, ohne Ernst Grubes Lebensgeschichte darin zu verengen. Am Beispiel »Jüdischer Identitäten« aus der Weimarer Republik gibt der folgende Beitrag Einblicke in die Vielschichtigkeit und Diversität jüdischen Lebens.

Zwei Fragen 1. Wer ist jüdisch? Eine vergleichsweise einfache Fragestellung, die mit zwei Antworten zwar nicht erschöpfend, aber doch befriedigend beantwortet werden kann: Jüdisch ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde (matrilineare Beglaubigung). Jüdisch ist auch, wer von einem dazu autorisierten Rabbiner ins Judentum aufgenommen wurde. Ein vertiefter Einstieg in das Thema führt allerdings rasch zu komplizierten Konstellationen und Konfliktfeldern – etwa wenn es um die Zugehörigkeit von Menschen geht, deren jüdisches Elternteil der Vater ist und nicht, wie in der Halacha fixiert, die Mutter. 2. Jüdisch sein – was ist das? Die Antwort gleicht der Suche nach der Quadratur des Kreises. Ein klarer Befund zu dieser Frage ist auch bei intensiver Nachsuche in einschlägigen Bibliotheken und Archiven, in Kompendien und Lexika nicht in Sicht. Selbst das vermeintlich allwissende Internet hat keine schlüssige Antwort im digitalen Portfolio. Religion? Nation? Volk? Schicksalsgemeinschaft? Und wenn wir uns ausschließlich auf die religiösen Orientierungen konzentrieren: Orthodox? Konservativ? Progressiv? Liberal? Der Antworten sind viele. 56  | Andreas Heusler

Eines immerhin steht fest: Judentum ist Vielfalt und Facettenreichtum, es ist mehrdimensional, widersprüchlich und spannungsreich, historisch und gegenwärtig, religiös und säkular. Und oft auch einiges dazwischen. »Nicht jeder Jude spricht Jiddisch, nicht jeder Jude isst Gefilte Fisch, nicht jeder Jude ist reich und nicht jeder Jude hört Tag und Nacht Klezmer-Musik«, räumt Paul Spiegel mit einer Reihe von Bildern und Vorurteilen auf.2 Was jüdisch ist, kann daher allenfalls, wenn überhaupt, multiperspektivisch herausgearbeitet werden. In diesem Beitrag geht es um »Jüdische Identitäten« in der Weimarer Republik. Freilich, die klare zeitliche Eingrenzung macht das Vorhaben nicht einfacher. Allein schon die Kategorien »Jüdisch« und »Identität« bilden – für sich betrachtet – jeweils eine Welt für sich. Die unübersichtliche Vielzahl von Deutungs- und Erklärungsangeboten zu »Jüdisch« und »Identität« wird durch die kompositorische Verschränkung zu »Jüdischen Identitäten« noch exponentiell gesteigert. Was jedoch kein exklusives Alleinstellungsmerkmal dieses Begriffspaares ist.3 Mit anderen Worten: Wenn wir mit dem Terminus »Jüdische Identität« arbeiten, ist die Herstellung von Eindeutigkeit und Verbindlichkeit eine Herausforderung eigener Qualität. Oder mit den Worten von Ludwig Feuchtwanger aus dem Jahr 1933: »Die kleine Gruppe der Juden unter den Deutschen spiegelt in sich das gleiche Bild der Zersplitterung in tausend weltanschauliche und politische Schattierungen und Richtungen wider, in die das deutsche Volk als Ganzes zerfällt.«4

Historischer Hintergrund Der jüdische Bevölkerungsanteil im Deutschland der 1920er und 1930er Jahre war überschaubar. In den ersten Jahren der Weimarer Republik lebten in Deutschland rund 600.000 Jüdinnen und Juden. In den 1920er Jahren ging ihr Anteil jedoch systematisch zurück: 1925 wurden noch 564.000 Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland gezählt, das entsprach knapp einem Prozent der Gesamtbevölkerung. Männer, Frauen und Kinder jüdischer Herkunft mit einer anderen oder keiner Religionszugehörigkeit sind in dieser Statistik nicht erfasst. Sind auch sie Gegenstand unserer kultursoziologischen Evaluation zur »Jüdischen Identität« oder bilden sie eine eigene Gruppe, die für unsere Leitfrage irrelevant ist? Was ist der Mensch? Jedenfalls keine anthropologische, soziale oder philosophische Konstruktion, die sich auf einen einfachen Nenner bringen ließe. Menschen sind immer vielschichtige und komplexe Naturen, Individuen, und gleichzeitig Mitglieder verschiedener Kollektiven und Gemeinschaften, die sich teils überlappen, teils aber auch streng voneinander abgegrenzt sind und sich in Gleichgültigkeit, friedlicher Koexistenz oder unverhohlener Feindschaft Jüdische Identitäten in der Weimarer Republik | 57

überstehen. Man denke nur an zwei für die Weimarer Jahre und den jüdischen Bevölkerungsteil nicht unwichtige Gruppierungen: Die Zionistische Vereinigung für Deutschland (ZVfD) auf der einen Seite stand für die klare Abgrenzung ihrer Mitglieder von den nationalen Koordinaten der Mehrheitsgesellschaft. Dagegen argumentierte der 1893 zur Abwehr des um sich greifenden Antisemitismus gegründete Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) mit einem Bekenntnis zur deutschen »Identität«. Beide Organisationen vertraten dezidiert unterschiedliche und daher unvereinbare Positionen. Beide Organisationen stehen auch pars pro toto für den Befund, dass Identitätskonstellationen stets einen Resonanzraum für gesellschaftliche Dissonanzen bilden und ein Indikator für die inneren Fliehkräfte eines Gemeinwesens sind. In ihren individuellen oder kollektiven Daseinsformen repräsentieren Menschen je eigene personale Wirklichkeiten: sie sind privat oder öffentlich, stellen Ressourcen zur Verfügung oder werden von anderen als Ressource gesehen – emotional, materiell, intellektuell. Situationsbedingt tun sie das eine oder gelegentlich auch das andere, sie scheitern überraschend oder genießen den Erfolg. Stets geben sie ihren Lebenswegen neue Richtungen, die mitunter im Biotop der Zufriedenheit, mitunter auch in einer trübseligen Sackgasse enden. Sie wissen, glauben oder zweifeln – in je unterschiedlichen Situationen und Zusammenhängen – und sie urteilen und verurteilen. Und Menschen produzieren Stereotype und Vorurteile, von denen der Antisemitismus zu den schlimmsten gehört. Bei all jenen, die in den Weimarer Jahren vom Judenhass betroffen waren, löste die Unmöglichkeit, dieser irrationalen Bösartigkeit etwas entgegenzusetzen, Unverständnis, Bitterkeit und Resignation aus. Jakob Wassermann musste ernüchtert seine Hoffnungslosigkeit konstatieren: »Es ist vergeblich, das Volk der Dichter und Denker im Namen seiner Dichter und Denker zu beschwören. Jedes Vorurteil, das man abgetan glaubt, bringt, wie Aas die Würmer, tausend neue zutage.«5 Selbst unter Wohlmeinenden haben nicht alle die Verzweiflung Jakob Wassermanns ernst genommen. Eine spezielle Arroganz zeigte die Rückmeldung von Thomas Mann, der, aus der sicheren Distanz des Nichtbetroffenen, beim Autor Wasserman »viel dichterische Hypochondrie« zu erkennen glaubte,6 ja, am Ende sogar Zweifel formulierte, dass das »Pflänzchen Antisemitismus« in deutschem Boden »je tief Wurzel fassen könnte?«7 Jakob Wassermann wusste: Wer wir sind, entscheiden wir nicht ausschließlich selbst. Noch weniger Einfluss haben wir darauf, wie wir von anderen gesehen werden. Der Selbstwahrnehmung steht oft diametral die Fremdzuschreibung gegenüber. Besonders scharf wird dieser Gegensatz durch den Antisemitismus artikuliert, der im Kaiserreich zu einer Art »kulturellem Code« des deutschen Bildungsbürgertums geworden war (Shulamit Volkov). Wer man ist und wen die 58  | Andreas Heusler

Mehrheitsgesellschaft mit der Überwältigungskraft ihrer autoritären Deutungshoheit in einem sieht, lag oft weit auseinander. Besonders eindeutig wird diese Ambivalenz in dem bereits zitierten Text von Jakob Wassermann, Mein Leben als Deutscher und Jude, artikuliert. Wassermanns Dilemma war groß: was an ihm jüdisch war, vermochte er nicht zu sagen. Dass er deutsch war und sich deutsch fühlte, war für ihn eine tiefempfundene Wahrheit. Das vermeintliche Stigma der jüdischen Herkunft verhinderte jedoch am Ende alles, was Wassermann erträumte: die selbstverständliche Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft, die zweifelsfreie Akzeptanz durch die Mehrheitsgesellschaft, durch die »Anderen«. Mehr als einmal wurde dem Schriftsteller signalisiert, dass er den Deutschen »nicht genug tun konnte, als Jude nämlich; daß ich, als Jude, nicht fähig sei, ihr geheimes, ihr höheres Leben mitzuleben, ihre Seele aufzurühren, ihrer Art mich anzuschmiegen. Sie räumten mir die deutsche Farbe, die deutsche Prägung nicht ein, sie ließen das verschwisterte Element nicht zu sich her«.8 Diese Brüskierung sorgte bei Wassermann für schmerzhafte Wunden. Dabei hatte alles vielversprechend begonnen. Unter dem Einfluss der franzö­ sischen Revolution und der Aufklärung hatten die deutschen Jüdinnen und Juden im 19. Jahrhundert sukzessive ihre Lage verbessert und eine größere Toleranz der christlichen Mehrheitsgesellschaft erreicht. Zug um Zug erreichte man auch eine rechtliche Besserstellung, wenngleich die volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung erst 1871 realisiert wurde. Die Emanzipation hatte jedoch ihren Preis, wurde insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begleitet von Akkulturation und Assimilation. Die Anpassung an die nichtjüdische Umwelt, die Übernahme bürgerlich-christlicher Sitten und Gebräuche, die zahlreichen Übertritte zum Christentum, die zunehmende Bereitschaft zur Heirat eines nichtjüdischen Partners führten letztlich zu einem Verlust an jüdischer Identität, der besonders von Traditionalist*innen heftig beklagt wurde. Vor diesem Hintergrund betrachteten nicht wenige deutsche Jüdinnen und Juden die gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Zuwanderung von Ostjüdinnen und Ostjuden auch als Chance für eine religiöse Erneuerung der jüdischen Gemeinden in Deutschland. Von Teilen der nichtjüdischen Bevölkerung wurden die Neuankömmlinge jedoch mit unverhohlener Ablehnung begrüßt. Dies gilt in besonderem Maß für konservativ-nationalistische und rechtsextrem-antisemitische Kreise, die seit 1919 in einer bislang ungewohnt aggressiven Weise gegen die »Ostjudenplage«, die vor dem Krieg Fliehenden, mobil machten. Noch vergleichsweise zurückhaltend äußerten sich in diesem Zusammenhang die liberal-konservativen Münchner Neuesten Nachrichten: »Die Überflutung Deutschlands mit wurzellosen, landund artfremden Elementen aus Galizien oder den russischen Randstaaten ist in der Tat eine Frage, der jeder ernste Politiker seine Sorge zuwenden muß.«9 FreiJüdische Identitäten in der Weimarer Republik | 59 https://doi.org/10.5771/9783835349216

lich kommentierte nicht nur die nichtjüdische Umwelt den ostjüdischen Zuzug mit fremdenfeindlichen Stereotypen. Auch innerhalb der etablierten jüdischen Gemeinden reagierten manche mit Zurückhaltung auf die neuen Gemeindemitglieder. Noch wirkten die sozialen, kulturellen und auch liturgischen Unterschiede zwischen eingesessenen und zugewanderten Jüdinnen und Juden in ihrer trennenden Kraft stark. Auf den wachsenden Druck von außen sollte sich jedoch das Bewusstsein einer Schicksalsgemeinschaft formieren, besonders unter dem Einfluss des Zionismus. Der Münchner Max Kalter etwa konstatierte »eine Kluft zwischen den ›einheimischen‹ deutschen Juden und ›zugewanderten‹ Ostjuden. In diesen Jahren bis 1914 gab es eine fast vollkommene gesellschaftliche Trennung zwischen deutschen und Ostjuden, teilweise gefördert durch Arroganz mancher deutscher Juden gegenüber den Ostjuden, teilweise durch ein selbst auferlegtes Ghetto, das sich die ostjüdische Bevölkerung selbst schuf. Einen sozialen und gesellschaftlichen Verkehr zwischen deutschen und Ostjuden gab es kaum. Die ostjüdischen Familien verkehrten nur untereinander. Sie trafen sich in den Kaffeehäusern nur miteinander; sie heirateten nur unter sich«.10 Die Distanz zwischen den beiden jüdischen Gruppen verlor sich in Bayern erst unter dem Eindruck der radikal-antisemitischen Agitation der Regierung von Gustav von Kahr nach 1920 und der auch von den eingesessenen Jüdinnen und Juden als alptraumhaft empfundenen Bemühungen um Ausweisung der Ostjüdinnen und Ostjuden. Für Jakob Reich bildete die Erfahrung dieser Monate eine »Lehre […] aus den schweren Tagen im inner-jüdischen Leben«, die eine Gemeinschaft entstehen ließ, »in der historisch bedingte Gegensätze und Spannungen recht unerheblich wurden. Man ging gemeinsam an den Auf- und Ausbau des Gemeindelebens und in der Gemeindevertretung wirkten Ost- und Westjuden bis zum bitteren Ende einträchtig und fruchtbar miteinander.«11 Das angespannte, höchst volatile und immer wieder von Krisen geschüttelte politische Koordinatensystem der Republik von Weimar bildete den Resonanzraum, in dem sich jüdische Identitäten festigen, aber auch immer wieder neu formieren konnten. In der Mehrheitsgesellschaft hatten der verlorene Weltkrieg, Revolution, Rätezeit und Gegenrevolution schon frühzeitig die Glaubwürdigkeit der demokratischen Idee geschwächt. Städte wie München wurden zu Zentren der antidemokratischen Opposition. Bayern wurde in den frühen 1920er Jahren unter Gustav von Kahr zu einer antiliberalen und autoritären »Ordnungszelle« umgebaut, in der eine beklemmende Atmosphäre aus boshafter Intoleranz und gewaltbereitem Antisemitismus immer wieder neuen Schwung aufnahm. Die politischen Wirren der Nachkriegsmonate, die inflationsbedingten Krisenphänomene und die sich verschärfenden sozialen Nöte hatten in der Bevölkerung zudem eine tiefgreifende Verunsicherung und Skepsis gegenüber dem Projekt Demokratie 60  | Andreas Heusler

erzeugt. Verunsicherung und Pessimismus wiederum offerierten antidemokratischen, rechtsextremen Propagandisten leicht zu besetzende Ansatzpunkte für Fundamentalkritik und Radikalopposition. Und wie in einer Impulsschleife befeuerte die aggressiv-gewalttätige Präsenz der Demokratiefeinde die Verunsicherung, aus der sie ihre politische Rendite generierten. Antisemitische Stereotypen erlebten eine bislang nicht dagewesene Konjunktur. Ein-Programm-Parteien wie die frühe NSDAP besetzten erfolgreich das Terrain des radikalen Judenhasses und nutzten die Gunst der Stunde, indem sie die jüdischen Deutschen mit menschenverachtendem Furor und bösartiger Propaganda für alle Krisen und Katastrophen der Zeit verantwortlich machten. Hinzu kam der Militarismus, der den ritualisierten Gestus des Kasernenhofs und ein fortschrittsfeindliches, chauvinistisches Weltbild kultivierte. Die Verehrung des uniformierten Helden lebte nach dem Ende der Monarchie ungebrochen fort. Das Festhalten an autoritären, militaristischen Einstellungen und die anhaltende Idealisierung, nicht selten religiöse Überzeichnung des Kriegserlebnisses trugen zur Schwächung der Weimarer Republik bei. In weiten Teilen der Bevölkerung genossen zweifelhafte Weltkriegsstrategen wie Ludendorff und Hindenburg Verehrung und Kultstatus. Auf jüdischer Seite war der Erste Weltkrieg indessen ein »Erweckungserlebnis« im doppelten Sinne gewesen. Durch die ominöse »Judenzählung« des Jahres 1916 war das euphorische Zugehörigkeitsgefühl zur deutschen Nation vieler deutscher Juden in Frage gestellt – ein Prozess der persönlichen Enttäuschung und nationalen Distanzierung setzte ein, der durch den Antisemitismus weiter Geschwindigkeit aufnahm. Andererseits hatten viele jüdische Soldaten während ihres Dienstes in Osteuropa die Authentizität und religiöse Tiefe des dortigen Ostjudentums entdeckt, was wiederum zu einer generellen Renaissance des Judentums und bei vielen zu einer intensiven Suche nach den eigenen jüdischen Wurzeln und zur Stärkung beziehungsweise auch zur Vervielfältigung jüdischer Identitäten in den Jahren der Weimarer Republik führte.

Identitätskonstruktionen Identitätskonstruktionen sind immer theoretische Versuche, modellhafte Skizzen, die den eigentlich multiplen Erscheinungsformen von Identität nicht gerecht werden können. Als individuelle Selbst- und Fremdzuschreibungen kann »Identität« nie einschichtig sein, sondern muss immer mehrdimensional gedacht werden. Umso mehr sind Identitätskonstruktionen stets heterogen angelegt, wenn sie – in einem religions- oder kultursoziologischen Kontext – zur Definition, Erklärung und Einordnung von Kollektiven, Gruppen oder Gemeinschaften Jüdische Identitäten in der Weimarer Republik | 61

wendet werden. Die Totalität des Menschseins im Individuellen wie im Kollektiven über den Zugriff der »Identität« zu fassen, ist schwierig. In diesem Konzept der Unvollkommenheit verorten sich die folgenden biografischen Annäherungen an vier literarisch-künstlerisch-intellektuelle Protagonist*innen der Weimarer Jahre, die allenfalls exemplarisch, aber keinesfalls repräsentativ zu verstehen sind: der säkulare jüdische Schriftsteller, dessen literarischer Reichtum aus der Fülle religiöser und geschichtlicher Überlieferungen schöpft (Lion Feuchtwanger); die scharfsinnige politische Philosophin, der explizit ihr Jüdisch-Sein als Grundlage zum Weltverständnis dient (Hannah Arendt); die nicht-religiöse Künstlerin ­jüdischer Herkunft, die durch die antisemitische Zuschreibung von Außen zur Jüdin erklärt wird (Lotte Laserstein); den ambitionierten religiösen Sinnsucher, der über mehrere Umwege seine Glaubensüberzeugung schließlich im liberalen Judentum findet (Schalom Ben-Chorin).

Lion Feuchtwanger (1884–1958) »Mein Hirn denkt kosmopolitisch, mein Herz schlägt jüdisch«, so die Standortbestimmung des jüdischen Münchners Lion Feuchtwanger,12 der Mitte der 1920er Jahre mit dem Roman Jud Süß zu Weltruhm gelangte. Das Judentum war zweifellos ein wesentliches Kraftfeld, das zeitlebens Feuchtwangers Selbstverständnis als Schriftsteller definierte. Die jüdische Religion und Geschichte lieferte ihm Vorbilder, Stoffe und Deutungsrahmen für zahlreiche literarische Projekte. Bezüge zur jüdischen Kultur lassen sich in vielen Werken des Schriftstellers markieren, besonders klar in der 1932 begonnenen Romantrilogie Josephus oder dem späten Werk Die Jüdin von Toledo (1956). Im Alltag des Menschen Lion Feuchtwanger spielte die strenge Regelkunde des observanten jüdischen Alltags und Jahrkreises, wie er sie als Kind und Jugendlicher kennenlernte, keine Rolle. Sie passten nicht zu seinem Selbstbild eines kritischen, modernen und säkularen Juden. Nicht ohne eine gewisse Bitterkeit notiert er in einer der wenigen autobiografischen Selbstreflektionen: »Meine Eltern hielten darauf, daß ich die umständlichen, mühevollen Riten rabbinischen Judentums, die auf Schritt und Tritt ins tägliche Leben eingreifen, minutiös befolgte. Die strenge Einhaltung der Speisegesetze und der Sabbatgesetze, die vielen langen, täglich zu verrichtenden Gebete, der sehr häufige Synagogenbesuch, die zahllosen, umständlichen Gebräuche spannten das Leben in einen verzweifelt engen Rahmen. Auch mußte ich unter der Leitung eines Privatlehrers täglich mindestens eine Stunde dem Studium der hebräischen Bibel und des aramäischen Talmuds widmen.«13 Dass er jüdische Überlieferung und Werte als Erfahrungsschatz und Orientierungshilfe ganz selbstverständlich in sein 62  | Andreas Heusler

schöpferisches Dasein als Schriftsteller einbaute, ist jedoch unbestritten. Die Option des Austritts aus dem Judentum, um seine Ausgangsposition für eine universitäre Karriere zu verbessern, war für Feuchtwanger undenkbar. Das Bekenntnis zur eigenen Herkunft war und blieb für den säkularen Juden Feuchtwanger immer eine Selbstverständlichkeit.

Lotte Laserstein (1898–1993) Die lange Jahrzehnte vergessene Malerin Lotte Laserstein gilt der Kunstwelt als eine der »Wiederentdeckungen« der letzten Jahre.14 Ausstellungen in Berlin und Frankfurt a. M. haben 2018 /19 den außerordentlichen Rang Lasersteins in Erinnerung gerufen und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ihren künstlerischen Durchbruch erlebte die Malerin Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahren – sei es durch Ankäufe für kommunale Sammlungen, sei es durch Einzel­ ausstellungen in der Berliner Galerie Gurlitt (1931) oder durch die Mitwirkung an der Großen Berliner Kunstausstellung im Schloss Bellevue (1931). 1933 folgten Arbeits- und Berufsverbot, existentielle Not und nationalsozialistische Verfolgung. Durch die Emigration nach Schweden 1937 rettete Lotte Laserstein ihr Leben und einen Teil ihrer Werke. In Schweden konnte sie zwar nicht an ihre früheren Erfolge anknüpfen; dennoch machte sie sich in dem Land einen Namen und verschaffte sich durch Auftragsarbeiten eine sichere Existenz. Aus der Wahrnehmung der deutschen Museen und aus dem Diskurs der Kunstwelt und der Kunstwissenschaft war sie jedoch über Jahrzehnte verschwunden – nicht nur, weil ihre gegenständliche Bildsprache nicht zur ästhetischen Konjunktur der Nachkriegsjahrzehnte passte, sondern auch, weil sie als Frau eher übersehen wurde und sich den Mechanismen einer lautstarken und provokanten Selbstvermarktung entzog. Lotte Laserstein wurde durch den Nationalsozialismus und seine bizarren Rassismen zur Jüdin »gemacht«. Diese oktroyierte Zuschreibung entsprach nicht ihrer Selbstwahrnehmung. In der Biografie der christlich getauften Künstlerin sind jedenfalls wenige Bezüge zum Judentum sichtbar. Ihr soziales Umfeld, Freundesoder Bekanntenkreis erlauben kaum Rückschlüsse auf religiöse und kulturelle Standortbestimmungen. Ihr Werk, das vor allem vom Bild der modernen Frau in urbanen, großstädtischen Szenerien, von Aktdarstellungen und zahlreichen Selbstbildnissen geprägt ist, zeigt sich frei von offensichtlichen religiösen Konnotationen und Attributen. Lotte Laserstein steht im Grunde für die vor allem im frühen 20. Jahrhundert wieder zunehmende Entfremdung eines großen Teils der Menschen jüdischer Herkunft von ihren religiösen Wurzeln und der wachsenden Distanz des modernen Menschen zu konfessionellen Werthaltungen und Jüdische Identitäten in der Weimarer Republik | 63

gen. Dafür bekennt sich Laserstein zu einem unbedingten Künstlertum, dem sie in den 1920er und frühen 1930er Jahren ihre gesamte Existenz verschrieben hat.

Hannah Arendt (1906–1975) »Jude sein gehört für mich zu den unbezweifelbaren Gegebenheiten meines Lebens, und ich habe an solchen Faktizitäten niemals etwas ändern wollen, nicht einmal in der Kindheit«, schrieb Hannah Arendt im Jahr 1963 an ihren Freund Gershom Scholem, der sie zuvor daran erinnert hatte, sich immer ihres Judentums bewusst zu sein.15 Darauf in dem inzwischen legendären Fernsehinterview mit Günter Gaus (1964) angesprochen, erläuterte Arendt, dass sie als Kind den Begriff »Jude« nicht gekannt habe und erst durch die antisemitischen Bemerkungen anderer Kinder »auf der Straße« über ihr Jüdisch-Sein »aufgeklärt« worden sei.16 Für ihr weiteres Leben, insbesondere aber für ihre intellektuelle Auseinandersetzung mit politischen, historischen und geschichtsphilosophischen Fragen sollte diese Selbstverortung als Jüdin bestimmend werden. Insbesondere Arendts Überlegungen zur politischen Theorie orientierten sich explizit an ihren Erfahrungen als Jüdin und an ihrer nie in Frage gestellten Zugehörigkeit zum Judentum.17 In ihrem 1932 veröffentlichten Essay Aufklärung und Judenfrage beschäftigte sich die junge Wissenschaftlerin intensiv mit der Position des Judentums in der deutschen Gesellschaft und seiner historischen Herleitung: »Die moderne Judenfrage datiert aus der Aufklärung; die Aufklärung, d. h. die nichtjüdische Welt hat sie gestellt. Ihre Formulierungen und ihre Antworten haben das Verhalten der Juden, haben die Assimilation der Juden bestimmt.«18 Komplementär zum akademischen Diskurs stehen Arendts persönliche Einstellungen zum Judentum und zu ihrem Platz in der deutschen Gesellschaft, die besonders prägnant im Briefwechsel mit ihrem akademischen Lehrer Karl Jaspers sichtbar werden. In dieser kollegialen, aber auch freundschaftlichen Korrespondenz räumte Arendt zu Beginn der 1930er Jahre ihrem Jüdisch-Sein unbedingte Priorität ein, während sie ihr Deutsch-Sein aus einer Position der Distanz kommentierte. Als Deutsche wollte sich Arendt nicht sehen, und das Deutschland am Vorabend der nationalsozialistischen Machtübernahme war ihr allenfalls »[…] die Muttersprache, die Philosophie und die Dichtung«.19 Eindeutiger und schärfer kann eine Distinktion der beiden Merkmale »deutsch« und »jüdisch« auf der persönlichen Ebene kaum vorgenommen werden.

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Schalom Ben-Chorin (1913–1999) Fritz Rosenthal wurde 1913 in München in eine akkulturierte, bürgerliche und eher religionsferne jüdische Familie geboren. Er besuchte das Luitpold-Gymnasium und beschäftigte sich schon früh mit religiösen Fragen und literarischen Themen. Dass in seiner Familie christliche und jüdische Rituale, Ostern und Pessach, Weihnachten und Chanukka, der geschmückte Baum und der achtarmige Leuchter eine Art ökumenische Koexistenz führten, erschien dem jungen Fritz Rosenthal lange Zeit wie eine nicht in Frage zu stellende Normalität: »Wir waren bereits Assimilierte und die Weihnachtsfeier in unserem Hause wurde nicht etwa programmatisch eingeführt, um ein sichtbares Zeichen der Angleichung an die Umwelt zu setzen. Es war eine Selbstverständlichkeit, dieses Fest zu feiern. Wir suchten auch zu Ostern buntgefärbte Eier im Garten und zu Nikolaus fehlten weder Nikolaus noch Knecht Ruprecht, um den kleinen Jungen zu erschrecken und zu beglücken. Der Rhythmus des Jahres mit seinen roten Kalenderzahlen war auch der Rhythmus unseres Lebens.«20 Doch am Weihnachtsabend des Jahres 1928 traf der damals 15-Jährige eine für ihn lebensbestimmende Entscheidung. Er protestierte lautstark gegen die religiöse Indifferenz seines Elternhauses – »Ich mache diesen Klimbim nicht mehr mit!«21 – und zog für das nächste Jahr zu einer strenggläubigen Familie, um dort Judentum zu lernen und zu leben: »Mir genügte das Dreitagejudentum nicht mehr. Ich wollte dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr meines Judentums bewusst sein, an das die Umwelt uns schmerzhaft genug erinnert hatte.«22 Seit 1930 legte Fritz Rosenthal erste Veröffentlichungen vor, insbesondere Lyrik, Essays und Zeitungsartikel. Beeinflusst von der Münchner zionistischen Bewegung und der Gedankenwelt Martin Bubers nahm er etwa zur gleichen Zeit den Namen Ben-Chorin (Sohn der Freiheit) als schriftstellerisches Pseudonym an. Erst später, in Palästina, kam der Vorname Schalom (Friede) dazu. Von 1931 bis 1934 studiert er an der Universität München Philosophie, Literaturgeschichte, Vergleichende Religionswissenschaften und Theatergeschichte, parallel dazu absolvierte er eine Buchhändlerlehre. Im Herbst 1935 entschloss er sich zur Auswanderung nach Palästina, wo der nach wie vor Suchende zum liberalen Judentum fand und zu einem der wichtigsten Repräsentanten dieser religiösen Richtung in Israel wurde. Im liberalen Judentum fand Schalom Ben-Chorin seine religiöse Heimat. Die geistige Heimat Ben-Chorins war jedoch die Sprache, die verlorene physische Heimat war München, die konkrete Heimat Jerusalem. Das eigentliche Zuhause Ben-Chorins aber lag stets irgendwo in einer weitläufigen geistig-intellektuellen Welt zwischen Isar und Jordan, jenen beiden Flüssen, die geographisch die wechselvolle und spannende Biografie dieses Münchner Kinds, das Schalom Jüdische Identitäten in der Weimarer Republik | 65

Ben-Chorin immer geblieben ist, einrahmen. Oder mit seinen eigenen Worten: »Isar und Jordan sind weit voneinander entfernt, doch sie münden in ein Herz.«23

Fazit Vor dem Hintergrund der religiös-politisch-gesellschaftlichen Positionierungen dieser vier Protagonist*innen im Hinblick auf ihr Judentum wird erkennbar: »Jüdische Identität« ist vor allem eine theoretische Konstruktion, die von komplexen, spannungs- und konfliktgeladenen Wirklichkeiten eingerahmt wurden, wie sie zur Alltagserfahrung gerade jüdischer Menschen während der Weimarer Republik gehörten; und sie ist Reflexion auf eine neue Diversität im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Die Formulierung einer eigenen individuellen »jüdischen Identität« wie etwa bei Hannah Arendt war insofern ein Reflex auf konkrete gesellschaftliche Realitäten, eine Reaktion auf stigmatisierende, diffamierende und lebensgefährdende Fremdzuschreibungen. »Jüdische Identitäten« speisen sich ganz selbstverständlich aus dem reichen Schatz der geschichtlichen und religiösen Überlieferung des Judentums. Sie sind aber immer – und besonders in den Jahren von Weimar – auch eine politische Standortbestimmung und zugleich Widerhall auf das Bild oder Zerrbild, das eine Mehrheitsgesellschaft von der jüdischen Minderheit entwirft.

Anmerkungen 1  Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und Jude, Frankfurt a. M. 2005, 128. 2  Paul Spiegel: Was ist koscher? Jüdischer Glaube – jüdisches Leben, München 2003, 13. 3  Auch die Spurensuche nach »Christlichen« oder »Muslimischen Identitäten« führt schon zu Beginn der Wegstrecke in ein verwirrendes Labyrinth von Definitionen, Begriffen, Zuschreibungen, Verortungen, Ab- und Ausgrenzungen. 4  Ludwig Feuchtwanger: Zwischen 30.  Januar und 5.  März, in: ders., Auf der Suche nach dem Wesen des Judentums. Beiträge zur Grundlegung der jüdischen Geschichte, Reinhard Mehring / Rolf Rieß (Hg.), Berlin 2011, 55.

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5  Wassermann 2005, 127. 6  Thomas Mann: Brief an Jakob Wassermann über »Mein Weg als Deutscher und Jude«, in: Thomas Mann: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Frankfurt a. M. 1974, 463. 7  Mann 1974, 465. 8  Wassermann 2005, 86. 9  Münchner Neueste Nachrichten, 9. 3. 1920. 10  Max Kalter: Hundert Jahre Ostjuden in München 1880–1980, in: Hans Lamm (Hg.), Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München, München 1982, 393. 11  Jakob Reich: Eine Episode aus der Geschichte der Ostjuden Münchens, in: Lamm (Hg.), 1982, 404.

12  Lion Feuchtwanger: Über »Jud Süß«, in: Centum Opuscula. Eine Auswahl, Rudolstadt 1956, 388 (Erstdruck 1929). 13  Lion Feuchtwanger: Aus meinem Leben, in: Neue Texte 3. Almanach für deutsche Literatur 1963, 408. 14  Alexander Eiling: Konservative Moderne. Lotte Lasersteins Porträts zwischen Realismus und Neuer Sachlichkeit, in: Alexander Eiling/Elena Schroll (Hg.), Lotte Laserstein. Von Angesicht zu Angesicht, München u. a. 2018, 17. 15  Zit. nach: Günter Gaus: Was bleibt sind Fragen. Die klassischen Interviews, Berlin 2001, 317. 16  Eine Abschrift des Interviews findet sich im Internet. URL: https://www.rbb-online.de/

zurperson/interview_archiv/arendt_hannah. html [gelesen am 5. 7. 2022]. 17  Dazu vor allem Iris Pilling: Denken und Handeln als Jüdin. Hannah Arendts politische Theorie vor 1950, Frankfurt a. M. u. a. 1996. 18  Hannah Arendt: Aufklärung und Judenfrage, in: dies., Sechs Essays. Die verborgene Tradition, Göttingen 2019, 115. 19  Hannah Arendt  – Karl Jaspers. Briefwechsel 1926–1969, München 1985, 52. 20  Schalom Ben-Chorin: Jugend an der Isar, München 1974, 18. 21  Ben-Chorin 1974, 17. 22  Ben-Chorin 1974, 19. 23  Schalom Ben-Chorin: Jugend an der Isar, Gütersloh 2001 (Werkausgabe Band 1), 145.

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Maximilian Strnad

»Dass wir überlebt haben, verdanken wir unserem Vater« – Mischehen im Nationalsozialismus

Ernst Grube und seine Geschwister hatten eine jüdische1 Mutter und einen nichtjüdischen Vater. Die Ehe der Eltern galt während der NS-Zeit als sogenannte Misch­ ehe.2 Der Begriff, der vor 1933 für alle interkonfessionellen Ehen verwendet worden war, wurde nun auf Ehen zwischen Frauen und Männern verengt, die nach dem rassistischen Weltbild der Nationalsozialisten nach als jüdisch beziehungsweise »deutschblütig« galten.3 Mischehen waren ihnen besonders verhasst, widersprachen sie doch grundlegend ihrem Phantasma einer »rassisch reinen Volksgemeinschaft«. Die im Herbst 1935 eingeführten »Nürnberger Gesetze« verboten die Eheschließung von jüdischen und nichtjüdischen Frauen und Männern. Außerehelicher Sexualverkehr zwischen ihnen stand fortan als »Rassenschande« unter Strafe.4 Existierende Mischehen wurden mit Rücksicht auf die Kirchen und die nichtjüdische Verwandtschaft nicht aufgelöst. Aus demselben Grund blieben die in Misch­ehe lebenden Jüdinnen und Juden bis kurz vor Kriegsende auch von der Deportation ausgenommen. Die Mischehe bot damit – zumindest solange sie ­Bestand hatte – einen überlebenswichtigen, wenn auch fragilen Schutz.

Rassistische Konstruktionen – Mischehen, »Mischlinge« und »Geltungsjuden« Die deutsche Frau galt im Nationalsozialismus als »Bewahrerin« der Reinheit der »arischen Rasse«, da nur sie »reinrassigen« Nachwuchs für die »Volksgemeinschaft« reproduzieren konnte. Mischehen, in denen die Frau nichtjüdisch und der Mann jüdisch war, standen daher von Beginn an besonders im Fokus der Verfolgung. Die Mischehen jüdischer Männer waren besonders von Berufsverboten und »Arisierungen« und damit von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Verfolgung betroffen. Der starke Verfolgungsdruck auf diese Familien sollte nichtjüdische Frauen dazu bringen, sich von ihren jüdischen Männern zu trennen und somit ihre Reproduktionsfähigkeit wieder in den Dienst der »Volksgemeinschaft« zu stellen. 68  | Maximilian Strnad

Auch die Radikalisierung der Judenverfolgung nach den inszenierten Pogromen vom 9. auf den 10. November 1938 zielte besonders auf jene »Mischehen« mit jüdischen Männern ab. Am 28. Dezember 1938 unterrichtete Hermann Göring in einem Schnellbrief alle Dienststellen von der Entscheidung Hitlers, jene Mischehen von einigen zentralen Maßnahmen der Judenverfolgung auszunehmen, in denen der Mann nichtjüdisch war beziehungsweise in denen es Kinder gab, die nichtjüdisch erzogen wurden.5 Insbesondere sollten sie von der anstehenden Zusammenlegung in »Judenhäusern« ausgenommen bleiben. Ganz im Sinne der historischen Judenprivilege bezeichnete man diese Paare künftig als »privilegiert« und signalisierte damit, dass diese Zugeständnisse jderzeit zurückgenommen werden konnten. Die Regelung wurde in der Folge auf viele weitere Maßnahmen übertragen. Jüdinnen und Juden, die in »privilegierten Mischehen« lebten, mussten den »Judenstern« nicht tragen und erhielten reguläre Lebensmittelmarken, wohingegen Familienmitglieder aus »nichtprivilegierten Mischehen« nur mit dem verhassten Stern an der Kleidung die Wohnung verlassen durften und auch den meisten anderen antijüdischen Maßnahmen unterworfen waren. Der Dresdner Philologe Victor Klemperer – dessen eigene Mischehe als »nichtprivilegiert« galt – stellte später fest, dass diese Maßnahme wie keine zweite »Neid und Hass« schürte und den Zusammenhalt unter den Jüdinnen und Juden auflöste. Ihre perfide Zerstörungskraft wirkte dabei weit über die NS-Zeit hinaus und führte dazu, dass Jüdinnen und Juden aus »privilegierten Mischehen« – obwohl sie nach Klemperer »in derselben Hölle wie wir [waren]«6 – in aller Regel nach der Befreiung erheblich geringere Widergutmachungsansprüche geltend machen konnten und lange Zeit nicht als vollwertige Opfer der NS-Verfolgung anerkannt wurden.7 Ob eine Mischehe als »privilegiert« galt oder nicht, hing auch vom Status der Kinder ab. Generell hatten Kinder aus Mischehen aufgrund ihres »unreinen« Erbgutes für die »NS-Volksgemeinschaft« weniger »Wert«. Die »Nürnberger Gesetze« stempelten sie zu »Mischlingen« und damit zu Menschen zweiter Klasse ab. Während das NS-Regime alle Jüdinnen und Juden rigoros aus der »Volksgemeinschaft« ausschloss, differenzierte es bei den »Halbjuden«, da sie der NS-Ideologie zur Folge auch einen »arischen Blutsanteil« hatten. Jene, die im christlichen Glauben oder religionslos erzogen wurden, blieben als sogenannte »Mischlinge« von vielen Verfolgungsmaßnahmen ausgenommen. Sie waren wehr- und arbeitsdienstpflichtig, das heißt sie konnten an Teilen des gesellschaftlichen Lebens teilhaben, auch wenn sie immer mit dem Makel der teiljüdischen Herkunft behaftet blieben und das NS-Regime die Ausgrenzung und Verfolgung sukzessive auch auf sie ausweitete. Damit der »reinrassige« Fortbestand der »Volksgemeinschaft« gesichert blieb, durften auch die »Mischlinge« in aller Regel keine »Deutschblütigen« heiraten. Ab 1940 entließ die Wehrmacht »Mischlinge« aus ihren Reihen, und die »Dass wir überlebt haben, verdanken wir unserem Vater« | 69

Zugänge zu beziehungsweise die Aufstiegschancen in vielen Berufen wurden ihnen erschwert. Mischehen, in denen es Kinder gab, die den Status von »Misch­ lingen« hatten, galten ebenfalls als »privilegiert«, unabhängig davon, ob der Vater oder die Mutter jüdisch war. Dadurch sollte vermieden werden, dass sie in einem jüdischen Umfeld aufwuchsen. Anders behandelte das NS-Regime all jene Mischehen mit Kindern, die im jüdischen Glauben aufwuchsen. Bei ihnen habe sich das »jüdische Erbgut« gegen den »deutschen Blutsteil« durchgesetzt.8 Diese als »Geltungsjüdinnen und Geltungsjuden«9 stigmatisierten Menschen wurden mit wenigen Ausnahmen wie Jüdinnen und Juden behandelt, jedoch verzichtete das NS-Regime aus Rücksicht auf ihre nichtjüdischen Angehörigen bis kurz vor Kriegsende darauf, sie zu deportieren – zumindest, wenn sie noch in der Obhut ihrer Familien lebten. Die örtlichen NS-Machthaber*innen waren darum bemüht, möglichst viele »Mischlinge« als »geltungsjüdisch« einzustufen und somit stärker verfolgen zu können. Dabei war es oft schon ausreichend, wenn »Mischlinge« Einrichtungen der jüdischen Gemeinden besucht hatten. Das betraf etwa Kinder und Jugend­liche, die in einen jüdischen Kindergarten oder auf eine jüdische Schule gingen, um den wachsenden Ausgrenzungen und Anfeindungen in öffentlichen Bildungseinrichtungen zu entgehen, oder die sich in einem Hachschara-Lager auf ihre Auswanderung vorbereiteten. Durch den »geltungsjüdischen« Status der Kinder verlor die Mischehe der Eltern ihren »privilegierten« Status, selbst wenn der Vater nichtjüdisch war. Mit der Folge, dass alle jüdischen und »geltungsjüdischen« Mitglieder der Familie den Judenstern tragen mussten. Lediglich bei der Unterbringung gab es eine geschlechtsspezifische Unterscheidung. Während »nichtprivilegierte Misch­ehen« jüdischer Männer ebenfalls in den »Judenhäusern« und Sammelunterkünften Quartier suchen mussten, wurden solche nichtjüdischer Männer nicht zwangsläufig ghettoisiert.10 Die spezifische Verfolgungserfahrung von »geltungsjüdischen« Jugend­lichen führte dazu, dass sie sich stärker an der jüdischen Gemeinschaft orientierten und einen starken Zusammenhalt untereinander entwickelten. Das war besonders auch in München der Fall.11

Die Mischehe der Familie Grube Ernst Grube und seine Geschwister fielen in die Kategorie der »Geltungsjüdinnen und Geltungsjuden«. Ihre Mutter Clementine Grube, geborene Meyer, kam aus einer jüdischen Familie. Die Tochter eines fränkischen Metzgers hatte 1929 den aus Ostpreußen stammenden nichtjüdischen Dekorationsmaler Franz Grube 70  | Maximilian Strnad

Clementine und Franz Grube in der Bildmitte, undatiert; Foto: Stadtarchiv München, Werner Grube (Stadtarchiv München, JUD-V-150).

geheiratet. Kennengelernt hatte sich das Paar 1927 in der Israelitischen Privatklinik in München, in der Clementine als Krankenschwester arbeitete. Franz war nach einer Blinddarmoperation dort Patient.12 1930 kam der erste Sohn Werner zur Welt, Ernst wurde 1932, Ruth 1938 geboren.13 Clementine Grube war es wichtig, dass die Kinder eine Bindung zur jüdischen Religion ihrer Eltern hatten, und ließ sie daher als Mitglieder der jüdischen Gemeinde in München eintragen. Franz Grube war evangelisch. Er stand dem Kommunismus nahe und hatte selbst wenig Bezug zu Religion. Auch wenn das Judentum in der Familie Grube keine maßgebliche Rolle spielte, galt die Mischehe somit als »nichtprivilegiert«. Das NS-Regime hatte es besonders auf solche Familien abgesehen, in denen die nichtjüdischen Ehemänner es zuließen, dass ihre Kinder unter »jüdischem Einfluss« aufwuchsen. Das bekamen auch andere Familien in München zu spüren, wie etwa die des Schrotthändlers Franz-Xaver Schwalb, dessen Kinder etwas älter waren als Werner, Ernst und Ruth und die später zu ihrem »geltungsjüdischen Bekanntenkreis« gehörten.14 Wie viele andere Eltern versuchten auch Franz und Clementine Grube verzweifelt, den Status ihrer Kinder und damit die Situation der Familie insgesamt zu verbessern. Zum 27. Januar 1941 erklärten sie den Austritt ihrer Kinder aus der Kultusgemeinde, Franz Grube stellte daraufhin ein formelles Gesuch auf Gleichstellung seiner Kinder mit »Mischlingen«, das jedoch abgelehnt wurde. 1943 ließen »Dass wir überlebt haben, verdanken wir unserem Vater« | 71

Clementine und Franz Grube kurz vor der Geburt ihrer Tochter Ruth 1938 in der Israelitischen Privat­ klinik in München; Foto: Stadtarchiv ­München, Werner Grube (­Stadtarchiv München, JUD-V-150).

Franz und Clementine Grube ihre Kinder sogar taufen, doch auch diese Maßnahme half nichts.15 Für das NS-Regime blieben Ruth, Ernst und Werner »Geltungsjüdinnen und -juden«, war die Familie in ihren Augen doch seit jeher zu eng mit der jüdischen Gemeinde verbunden. Ernst und Werner Grube hatten bis zu deren Schließung die jüdische Volksschule in der Herzog-Rudolf-Straße besucht. Die Familie lebte seit 1935 in der Herzog-Max-Straße 3 neben der Hauptsynagoge, in einer Wohnung, die der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) gehörte. Die Familie durfte dort wohnen, weil Clementine Grube seit 1927 als Krankenschwester in der Israelitischen Privatklinik für die Gemeinde arbeitete und als angesehene Mitarbeiterin galt. Nachdem die Hauptsynagoge 1938 abgerissen und der IKG das angrenzende Gebäude entzogen worden war, musste die Familie dort ausziehen.16 »Nichtprivilegierte Mischehen«, in denen der Mann nichtjüdisch war, mussten zwar nicht in die »Judenhäuser« und Sammelunterkünfte ziehen. Die Familie Grube hätte sich also im Herbst 1938 eine gemeinsame neue Bleibe suchen können. Doch es war schwer für Arbeiterfamilien, in München günstigen Wohnraum zu finden, und schon bevor sie die Gemeindewohnung neben der Synagoge beziehen konnten, hatten Ernst und Clementine Grube lange nach einer größeren Wohnung gesucht. Zudem gab es kaum Eigentümer*innen, die an Jüdinnen und Juden oder an mit ihnen verheiratete Personen vermieteten. Schließlich war es den beiden gelungen, eine kleine Unterkunft in der Damenstiftstraße zu finden, die jedoch kaum Platz für zwei Erwachsene bot. So entschieden sich die Eltern 72  | Maximilian Strnad

»Dass wir überlebt haben, verdanken wir unserem Vater« | 73

»Judensiedlung« Milbertshofen: Im Hintergrund rechts sitzen Kinder vor den Stuben 3–4 der B ­ aracke V, in der laut Aussage von Werner Grube die Kinder aus dem Antonienheim untergebracht waren; Foto: Stadtarchiv München, Nachlass Meister.

schweren Herzens dazu, ihre Kinder im Kinderheim der IKG in der Antonienstraße unterzubringen. Als das Heim im Zuge der fortschreitenden Deportationen aufgelöst wurde, zogen die Geschwister mit den restlichen Kindern zunächst in die »Judensiedlung« Milbertshofen und nach deren Auflösung im Sommer 1942 in die »Heimanlage« für Jüdinnen und Juden in Berg am Laim, die in einem Kloster der Barmherzigen Schwestern untergebracht war. Auch diese beiden Sammellager unterstanden formal der jüdischen Gemeinde und galten als »jüdische Räume«.17 Das NS-Regime grenzte die Räume, in denen Jüdinnen und Juden sich bewegen konnten, immer strikter von jenen ab, die der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft vorbehalten waren. Das bekam auch die Familie Grube zu spüren. Die Trennung von den Eltern traf die Kinder besonders hart. Schmerzlich vermissten sie aber auch ihre Freiräume. Besonders Werner war es gewohnt, dass die Innenstadt sein Spielplatz war, seinen jüngeren Bruder Ernst stets im Schlepptau.18 Die Überlebenden aus dem Antonienheim haben vielfach berichtet, dass es den Betreuerinnen um die Heimleiterin Alice Bendix gelang, die Kinder von der feindlichen Außenwelt abzuschotten und ihnen einen weitgehend sorgenlosen Alltag 74  | Maximilian Strnad

Im Garten des Antonienheims: Ruth Grube zusammen mit Else Ansbacher (Bildmitte) und anderen Heimkindern; Foto: Stadtarchiv München, DE-1992-JUD-F-0502-02.

Werner Grube (unten links) und andere ­Bewohner*innen der Heimanlage für ­Juden in Berg am Laim; Foto: Stadtarchiv München, JUD-V-150.

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zu bereiten. Ernst Grube lernte dort mit wahrer Begeisterung Nähen und Stricken und erinnert sich vor allem an die Ausflüge und an die Leckereien, die die Kinder zu den jüdischen Feste wie Chanukka und Pessach erhielten. »Das Leben im Heim war einfach schön! (…) Wir waren eine große Familie!«19, schrieb er später über seine Kindheit im Antonienheim.20 In den Lagern war dies anders. Gerade die Älteren brachen von dort immer wieder aus, entfernten den Judenstern von ihrer Kleidung und verbrachten so unerkannt einige unbeschwerte Stunden außerhalb ihrer »Gefängnisse«. Diese Ausflüge an die Seen im Münchner Umland und an andere Orte waren streng verboten, den Stern abzunehmen ebenso. Bei einer Entdeckung drohte die Verhaftung, im schlimmsten Fall die Deportation.21 Die Einstufung als »nichtprivilegierte Mischehe« brachte auch für die Familie Grube wesentliche Nachteile mit sich. So hatten sowohl Clementine Grube als auch der 14-jährige Werner Zwangsarbeit zu verrichten. Clementine Grube und ihre Kinder erhielten zudem die mit einem J gekennzeichneten Lebensmittelmarken, mit denen sie nur in den Geschäften einkaufen gehen konnten, die Jüdinnen und Juden vorbehalten waren und die sie nur zu bestimmten Zeiten betreten durften, außerdem unterlagen sie der am 19. September 1941 eingeführten Kennzeichnungspflicht und mussten den »Judenstern« tragen.22

Mischehen in München Um die Lebensumstände der Familie Grube besser verstehen zu können, hilft ein genauer Blick auf die Situation der Mischehen in München: Zwischen 1933 und 1945 lebten in der bayerischen Landeshauptstadt rund 1000 Mischehepaare, bei einem Drittel von ihnen war der Ehemann jüdisch.23 Jüdische Frauen heirateten deutlich häufiger nichtjüdische Männer als umgekehrt. Da es auch in vielen der Mischehen mit jüdischen Männern christlich erzogene Kinder gab, galten vermutlich gut drei Viertel der Mischehen in München als »privilegiert«. Die meisten Eheschließungen hatten schon vor der NS-Zeit stattgefunden, immerhin 53 Paare hatten sich jedoch auch nach der Machtübernahme nicht davon abhalten lassen, zu heiraten, bevor die Einführung der »Nürnberger Gesetze« Ende 1935 solche Eheschließungen unmöglich machte. Dem immensen Druck, den das Regime auf die Mischehen ausübte, hielten viele dieser Ehen nicht stand. 132 der rund 1.000 Mischehen wurden geschieden. Die Verfolgungsmaßnahmen zielten zunehmend auch auf die sogenannten ›jüdisch versippten‹ Ehepartner*innen ab. Ab 1936 wurden beispielsweise immer mehr Beamte in den Vorruhestand geschickt oder zwangsversetzt, die mit Jüdinnen verheiratet waren. Bei jeder Gelegenheit und bei jedem Behördengang mussten 76  | Maximilian Strnad

sich die nichtjüdischen Ehepartner*innen anhören, dass sie sich scheiden lassen sollten. Doch der besondere Druck auf die Mischehen jüdischer Männer spiegelt sich bei den Scheidungszahlen wider, die mit knapp drei Viertel der Trennungen stark überrepräsentiert waren. Ein Drittel der Scheidungen wurde vor dem November 1938 vollzogen, die meisten jedoch erfolgten, nachdem sich die Judenverfolgung im Anschluss an die Pogrome sprunghaft radikalisierte. Oft erfolgte die Scheidung auf Initiative der nichtjüdischen Partner*innen, die den Verfolgungsdruck nicht länger aushielten, doch manche Paare – wie Franz-Xaver und Edith Schwalb – trafen diese Entscheidung auch einvernehmlich, etwa um den Druck auf die Kinder zu reduzieren oder auch damit der nichtjüdische Teil seine Arbeit weiter ausüben konnte und so das Familieneinkommen nicht verloren ging. Egal aus welchem Grund die Scheidung erfolgte, für die meisten der jüdischen Familienmitglieder hatte sie dramatische Folgen, denn die Jüdinnen und Juden aus aufgelösten Mischehen wurden ab 1941 deportiert und vielfach ermordet. Während der Pogromnacht erfuhren auch viele in Mischehen lebende Jüdinnen und Juden brutale Gewalt. Die SA zerstörte ihre Geschäfte, drang in ihre Privatwohnungen ein und verwüstete die Einrichtung. Dabei kam es auch zu körperlichen Übergriffen auf nichtjüdische Familienmitglieder. Im Glockenbachviertel verschaffte sich eine Gruppe Unbekannter Zugang zur Wohnung von Heinrich und Pauline Obermayer. Die Männer schlugen derart heftig auf die beiden ein, dass die nichtjüdische Ehefrau ihr linkes Augenlicht verlor.24 In ganz München verhaftete die Gestapo in den folgenden Tagen jüdische Männer und sperrte sie in das Konzentrationslager Dachau, wo die SS sie schwer misshandelte. Jeder sechste dieser sogenannten Schutzhäftlinge lebte in Mischehe. Unmittelbar nach der Pogromnacht verschärfte sich die Situation für Misch­ ehen weiter. Kurzerhand kündigte die größte Münchner Baugenossenschaft GEWOFAG ihren jüdischen Mieter*innen. Adolf Freitag, der gemeinsam mit seiner nichtjüdischen Ehefrau und deren Tochter in der Großsiedlung Neuhausen lebte, musste binnen 24 Stunden seine Wohnung räumen.25 Ähnlich erging es der Familie Henle. Der frühere städtische Beamte Ernst Henle beging Suizid, um die drohende Räumung seines Hauses zumindest für seine nichtjüdische Frau und die Kinder abzuwenden, doch die GEWOFAG bestand auch nach dem Tod des Ehemannes darauf, dass die »versippte« Familie aus den Räumlichkeiten auszog.26 Bereits zuvor hatte die Stadtverwaltung begonnen, intensiv auch gegen »jüdisch versippte« Unternehmer*innen vorzugehen. Das Münchner Gewerbeamt hatte schon kurz nach der Machtübernahme 1933 versucht, jüdische Geschäftsinhaber*innen von der Vergabe städtischer Aufträge auszuschließen und dazu mit dem Aufbau einer Kartei jüdischer Gewerbetreibender begonnen. Zwar musste das Vorhaben gestoppt werden, weil zu diesem Zeitpunkt noch keine Vorgaben »Dass wir überlebt haben, verdanken wir unserem Vater« | 77

existierten, wann ein Betrieb als »jüdisch« zu gelten hatte. Die weit gediehenen Vorarbeiten erleichterten es dem Gewerbeamt jedoch, umso schneller zu reagieren, als das Reichswirtschaftsministerium im Januar 1938 entsprechende Richtlinien veröffentlichte. Danach sollten auch jene Betriebe als »jüdisch« gelten, die »tatsächlich unter dem beherrschenden Einfluß von Juden«27 stünden. Der Leiter des Münchner Gewerbeamtes, Richard Vilsmeier, und seine Beamten begriffen sofort, dass dieser Passus besonders gegen die Mischehen eingesetzt werden konnte, indem sie bei ihnen generell »jüdischen Einfluß über den Familientisch«28 hinweg annahmen. Da zu diesem Zeitpunkt jedoch nirgends eine zentrale Erfassung der Jüdinnen und Juden existierte, veranlasste Vilsmeier kurzum, dass alle 65.000 in München registrierten Gewerbetreibenden einen Fragebogen über ihren »Rassestatus« sowie über den ihrer Ehefrau beziehungsweise ihres Ehemanns ausfüllen mussten. Damit vervollständigte das Amt nicht nur seine bestehende Kartei, zum ersten Mal erfasste es systematisch auch die Mischehen und »Mischlinge«.29 Indem sie versuchte, auch die Betriebe aller nichtjüdischen Mischehepartner*innen sowie die von »Mischlingen« in das Verzeichnis jüdischer Gewerbebetriebe aufzunehmen – das die Grundlage für die nun beginnenden »Arisierungen« darstellte –, ging die Münchener Stadtverwaltung wesentlich weiter als andernorts. Gegen diese Praxis und die drohende Schließung ihrer Unternehmen wehrten sich mehrere Betroffene erfolgreich bei übergeordneten Instanzen, wie dem Regierungspräsidenten von Oberbayern. Ganz im Sinne ihrer Verfolgungsstrategie gegenüber den Mischehen einigten sich die Verfolgungsbehörden darauf, dass bei nichtjüdischen Frauen ein Einfluss des jüdischen Ehemannes vorausgesetzt werden könne, nicht jedoch zwangsläufig bei nichtjüdischen Männern. Sobald der jüdische Partner oder die Partnerin aber im Betrieb mitarbeitete oder diesen auch nur gelegentlich betrat, setzte die Behörden »jüdischen Einfluss« voraus, und zwar unabhängig davon, wer den Betrieb führte. Die Bezirksinspektionen kontrollierten diese Vorschrift genau und meldeten Verstöße sofort an das Gewerbeamt. So forschte im Dezember 1942 die zuständige Bezirksinspektion auch bei Franz Grube erfolglos nach, ob sein Malerbetrieb nicht etwa von der jüdischen Ehefrau beeinflusst werde.30 Denunziationen von Anwohner*innen, aber auch von Konkurrent*innen, waren an der Tagesordnung. Viele Mischehepaare gaben auf und meldeten resigniert ihre Betriebe ab. Dadurch gerieten immer mehr Mischehepaare in wirtschaftliche Bedrängnis. Viele jüdischen Ehemänner und -frauen hatten sich selbstständig gemacht, weil sie in anderen Bereichen keine Beschäftigung mehr fanden. Oft hatten sie ihre Firmen vorsorglich auf nichtjüdische Familienangehörige überschreiben lassen, arbeiteten jedoch noch im Geschäft mit. Insbesondere in Kleinunternehmen fehlte nun schmerzlich ihre Arbeitskraft und Fachkompetenz. Über den finanziellen Ver78  | Maximilian Strnad https://doi.org/10.5771/9783835349216

lust hinaus verstärkte der Ausschluss auch ihre soziale Isolation, da sie von nun an noch mehr auf ihre Wohnung zurückgeworfen waren und den Tag nicht mehr mit ihren Angehörigen im gemeinsamen Geschäft verbringen konnten. Die zunehmende Verfolgung führte zu einem dramatischen Anstieg der Auswanderungszahlen.31 Während der NS-Zeit verließ rund die Hälfte aller Münchner Jüdinnen und Juden ihre Heimatstadt. Von den jüdischen Mischehepartner*innen hingegen wanderte lediglich ein Viertel aus. Der größte Teil (85 %) von ihnen waren jüdische Männer, die besonders stark von der Verfolgung betroffen waren. Nicht immer ging die gesamte Familie ins Exil. Gerade nach der Pogromnacht flohen viele der gefährdeten jüdischen Ehemänner alleine ins Ausland. Oft gelang der restlichen Familie der Nachzug nicht mehr, bevor mit Ausbruch des Krieges die meisten Zielländer unerreichbar wurden. In manchen Fällen ließ sich die nichtjüdische Ehefrau scheiden, weil sie den beschwerlichen Weg in die Emigration nicht mitgehen wollte.32 Familien jüdischer Frauen hingegen emigrierten selten. Bei ihnen war der Verfolgungsdruck in der Regel niedriger und die wirtschaftliche Situation der Familie erträglicher. Diese Familien zogen – trotz der widrigen Umstände – einen Verbleib in Deutschland meist einer ungewissen Zukunft im Exil vor, zumal sie, wie alle Jüdinnen und Juden, bei der Auswanderung ein Viertel ihres Vermögens als sogenannte Reichsfluchtsteuer an den Staat abtreten hätten müssen. Außerdem waren nichtjüdische deutsche Männer wehrpflichtig und erhielten daher in der Regel kein Ausreisevisum. Das galt auch für die »halbjüdischen« Söhne. Mischehepaare mit Kindern entschieden sich häufig gegen die Auswanderung, wenn nicht alle Kinder mit ihnen gemeinsam Deutschland verlassen durften.33 Nur ein verschwindend kleiner Teil der »privilegierten Mischehen« wanderte also aus. Jene, die eine Emigration nur widerwillig in Betracht gezogen hatten, verließen sich nur allzu gerne auf die trügerische Sicherheit, die ihnen die Ausnahme von zentralen Verfolgungsmaßnahmen versprach. Das galt besonders für die Angriffe der NS-Regierung auf den Wohnraum. Seit Anfang 1939 ghettoisierte das NS-Regime Jüdinnen und Juden in »Judenhäusern« und Sammellagern. Davon waren auch die »nichtprivilegierten Mischehen« betroffen. In der Regel erhielten diese Paare in den »Judenhäusern« ein eigenes Zimmer zugewiesen. Die große Wohnungsnot in München führte dazu, dass die sogenannten »Arisierungsstelle« die Ghettoisierung hier besonders schnell vorantrieb. Unter der Leitung des glühenden Antisemiten Hans Wegner schuf sie zwei große Wohnlager. Die sogenannte »Judensiedlung« Milbertshofen wurde im Sommer 1941 von jüdischen Zwangsarbeiter*innen errichtet, unter denen sich auch viele in Mischehe lebende Jüdinnen und Juden befanden. Das zweite Lager entstand in einem Seitenflügel des Klosters der Barmherzigen Schwestern in Berg am Laim und erhielt »Dass wir überlebt haben, verdanken wir unserem Vater« | 79

die nicht weniger euphemistische Bezeichnung »Heimanlage für Juden«. Die Israelitische Kultusgemeinde hatte auf Anordnung der »Arisierungsstelle« die aus ihren Wohnungen geworfenen Menschen in eines der beiden Lager einzuweisen. Zu ihnen zählten auch mindestens 76 Juden, die in »nichtprivilegierten Mischehen« lebten und die meist in Berg am Laim untergebracht waren. Im Gegensatz zu den »Judenhäusern« mussten hier die Ehefrauen ihren jüdischen Gatten nicht folgen, da in den Stuben des Barackenlagers und in den Schlafsälen des Klosters keine räumliche Trennung zu den übrigen jüdischen Insass*innen möglich war. Ihre Männer, die unter der Woche Zwangsarbeit leisten und vor der Sperrstunde zurück sein mussten, konnten die Frauen nur am Wochenende in den Lagern besuchen. Als mit Fortschreiten der Deportationen die Sammellager und »Judenhäuser« geräumt und geschlossen wurden, fasste die »Arisierungsstelle« die verbliebenen Paare in »Mischehehäusern« zusammen. Eines von ihnen war das ehemalige Verwaltungsgebäude der IKG in der Lindwurmstraße 125. Es war nach der Auflösung der sogenannten Reichsvereinigung der Juden in Deutschland und ihrer regionalen Zweigstellen in den Jahren 1942 /43 zu einem »Judenhaus« umfunktioniert worden.34 Mit den Mischehen zogen nun oftmals Christinnen und Christen in die Räume ein, die vormals für die Aufgaben der Religionsgemeinschaft und Gottesdienste genutzt worden waren. Als gegen Ende des Krieges die Luftangriffe der Alliierten immer größere Schäden verursachten, zwangen die Behörden zunehmend auch »privilegierte Mischehen«, sich den ihnen zur Verfügung stehenden Raum mit anderen Mischehepaaren zu teilen.

Verschärfung der Verfolgung kurz vor Kriegsende – Die Deportation der Familie Grube nach Theresienstadt Nachdem die meisten anderen Jüdinnen und Juden deportiert worden waren, richtete sich der Fokus der Verfolgungsbehörden immer stärker auf die Misch­ ehen. Die Gestapo ahndete zunehmend jeden Verstoß gegen eine der zahllosen antijüdischen Verordnungen oder konstruierte Vorwürfe, um die Betroffenen in ein Arbeitserziehungslager oder Konzentrationslager (KZ) einzuweisen, aus denen es in der Regel kein Entrinnen mehr gab. Darin unterstützte sie die »Arisierungsstelle« tatkräftig. Curt Mezger war von einer dieser Aktionen35 betroffen, denen reichsweit ab Frühjahr 1943 viele hunderte jüdische Mischehepartner*innen zum Opfer fielen. Mezger war als Leiter der »Judensiedlung Milbertshofen« und später auch der »Heimanlage Berg am Laim« Zeuge zahlloser Übergriffe und Bereicherungen der zuständigen SA-Männer und Gestapobeamten geworden. Dort hatten ihn auch die Grube-Kinder kennen und als umsichtigen Menschen 80  | Maximilian Strnad

zen gelernt. Die Gestapo verhaftete den unliebsamen Zeugen im März 1943 und deportierte ihn nach ­Auschwitz. Die Einsprüche seiner nichtjüdischen Ehefrau blieben erfolglos.36 Ab 1944 wurden nichtjüdische Ehemänner aus Mischehen gemeinsam mit den »Mischlingen« zur Zwangsarbeit in Lagern der Organisation Todt eingesetzt. Schon zuvor hatte die »Arisierungsstelle« gemeinsam mit dem Arbeitsamt in München den Zwangsarbeitseinsatz auch auf jüdische Frauen aus Mischehen ausgeweitet. Hans Wegner von der »Arisierungsstelle« schrieb dazu in einem Bericht: »Nach anfänglichen Schwierigkeiten – die jüdischen Frauen waren begreiflicherweise bislang jeder körperlichen Arbeit ferne gestanden und auch abgeneigt – gelang es, auch den weiblichen jüdischen Arbeitseinsatz ins Rollen zu bringen […].« Im weiteren Verlauf des Pamphlets verkündete er: »Besonders ist aber festzuhalten, dass beim Arbeitseinsatz jüdischer Eheteile aus Mischehen vielfach gerade die arischen Ehepartner größtes Unverständnis und Widerspruch zeigten, der teilweise in direkten Widerstand ausartete, sodass hier oft scharf durchgegriffen werden musste.«37 Besonders gefürchtet war der Einsatz in der Flachsröste Lohhof, wo die Frauen im Sommer bei Hitze und Staub und im Winter bei Schnee und Eis harte körperliche Arbeit auf den Feldern und in der angeschlossenen Fabrik leisten mussten.38 Unter ihnen war auch Clementine Grube. Ihr Sohn Ernst hat sie dort als kleiner Bub wohl auch einmal besucht, doch fehlt ihm daran die Erinnerung.39 Später wurden viele der Frauen zur Reinigung der Straßenbahnwaggons im Depot der Münchner Stadtwerke abkommandiert. Dort setzten die Behörden auch nichtjüdische Frauen aus Mischehen ein, die sich aus Angst um ihre Gatten nicht gegen diese Maßnahme wehrten. Clementine Grube musste für die Damenhutmanufaktur Brettschneider arbeiten. Ihr Sohn Werner war in der Batterie- und Telefon­ apparatefabrik Kammerer eingesetzt.40 Sukzessive bröckelte nun auch der Schutz vor der Deportation.41 Zunächst traf es jene Jüdinnen und Juden, deren Mischehe nicht mehr bestand. In einer reichsweiten Aktion wurden sie Anfang 1944 nach Theresienstadt deportiert. Mit dem entsprechenden Transport verschleppte die Gestapo am 13. Januar 1944 zwölf Männer und 21 Frauen aus München. Einzelne von ihnen waren nach dem Tod ihrer Partnerinnen und Partner sogar verhaftet und in einem Arbeitserziehungslager interniert worden, damit sie sich ihrem Schicksal nicht durch Flucht entziehen konnten.42 Viele andere waren schon zuvor deportiert worden, darunter auch Personen, deren Ehe formal noch bestand, die jedoch von ihren Partner*innen getrennt lebten. So befanden sich im ersten Transport aus München am 20. November 1941 mindestens 29 Jüdinnen und Juden aus aufgelösten Mischehen. Darunter Maximilian »Dass wir überlebt haben, verdanken wir unserem Vater« | 81

Die mit einem Juden verheiratete Wilhelmine Meyer (vorne) im Jahr 1944 mit ­anderen Zwangsarbeiterinnen im Straßenbahndepot der Stadtwerke München Stadtarchiv München; Foto: Stadtarchiv München, JUD-V-157.

Keims, der zu diesem Zeitpunkt noch mit seiner im Ausland lebenden nichtjüdischen Frau verheiratet war, und Julie Stettner, deren nichtjüdischer Mann sich von ihr getrennt hatte, die Scheidung jedoch noch nicht vollzogen war. In beiden Fällen argumentierte die Gestapo, dass die Mischehe de facto nicht mehr bestand. Somit existierte in ihren Augen auch kein Schutz mehr vor der Deportation. Im Fall von Julie Stettner hatte das auch Auswirkung auf ihre Kinder, die von der Gestapo als »Geltungsjüdinnen und -juden« mit auf den Transport geschickt wurden.43 Das Beispiel von Julie Stettner und ihren Kindern zeigt, wie es möglicherweise auch Ruth, Ernst und Werner Grube ergangen wäre, wenn sich ihr Vater ebenfalls dem Druck der Verfolgung gebeugt und die Familie verlassen hätte. Julie, Kurt, Peppi und Sophie Stettner wurden nur wenige Tage nach ihrer Ankunft in Kaunas am 25. November 1941 von einem SS-Sonderkommando erschossen. Dieses Schicksal blieb Clementine Grube und ihren Kindern in Theresienstadt erspart. Dorthin waren sie am 21. Februar 1945 gemeinsam mit 31 anderen Personen aus München deportiert worden. Bereits am Tag zuvor hatte die Gestapo 52 weitere Menschen aus München und Augsburg dorthin verschleppt. Diese beiden Transporte aus München waren Teil einer reichsweiten Aktion gegen die Misch­ehen, die das Reichssicherheitshauptamt angesichts der drohenden militärischen Niederlage und zur Sicherung der Heimatfront in das Ghetto nahe Prag verschleppen ließ.44 Den Befehl dazu hatte am 19. Januar 1945 der Chef der Sicherheitspolizei und des SD Ernst Kaltenbrunner erteilt. Darin wies er alle Stapoleitstellen an, die noch 82  | Maximilian Strnad

im Reich verbliebenen Jüdinnen und Juden nach Theresienstadt zu deportieren. Einzubeziehen waren explizit auch sämtliche »Geltungsjüdinnen und -juden«. Von der Anordnung ausgenommen blieben nur wenige Personengruppen, zum Beispiel ausländische jüdische Staatsbürger*innen bestimmter Nationen.45 Als Clementine Grube den Gestellungsbefehl erhielt, versuchte sie ihr Schicksal abzuwenden. Dazu spritzte sie sich eine genau bemessene Dosis Milch in die Blutbahn. Als Reaktion bekam sie hohes Fieber. Der zuständige jüdische Arzt stellte ihr daraufhin ein Attest aus, das sie als transportunfähig einstufte. Doch die Gestapo ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie drang in die Wohnung der Familie ein und nahm die bettlägerige Clementine Grube mit zum Sammelpunkt in der Gestapozentrale.46 Werner, Ernst und Ruth Grube mussten als »Geltungsjüdinnen und -juden« ihre Mutter begleiten. Ähnlich wie Clementine Grube versuchten im Februar 1945 kurz vor Kriegsende Dutzende weitere Jüdinnen und Juden der Deportation zu entgehen.47 Darunter waren auch einige der »geltungsjüdischen« Jugendlichen, mit denen die Grube-Kinder in den verschiedenen Heimen und Lagern zusammen gewesen waren. So etwa die Brüder Kurt und Rolf Kahn und die Schwestern Klara und Margot Schwalb, die sich gemeinsam auf dem jüdischen Friedhof versteckt hielten. Nicht alle besaßen nach der zermürbenden jahrelangen Verfolgung die Kraft, diesem letzten Schlag zu trotzen. In München sind für die Zeit von 1933 bis 1945 insgesamt 274 Suizidfälle bekannt – die Dunkelziffer liegt vermutlich bedeutend höher. Bei 50 von ihnen handelte es sich um Jüdinnen und Juden aus Mischehen. Es ist tragisch, dass sich selbst angesichts ihrer bevorstehenden Befreiung noch im Frühjahr 1945 etliche Mischehepartner*innen das Leben nahmen. Besonders bewegend ist das Schicksal von Edith Kühnert, die zunächst zusammen mit ihrer zweijährigen Tochter in Richtung Berlin floh, als sie den Gestellungsbefehl erhielt, sich dann aber auf dem Weg dorthin aus Verzweiflung zusammen mit ihrem Kind in einem Teich ertränkte.48 Anderen war es  – oftmals auf Intervention nichtjüdischer Verwandter und Freunde – gelungen, eine Freistellung von der Deportation zu erreichen. Das bedeutete jedoch keineswegs, dass sie damit in Sicherheit waren, denn Gestapo und SA machten bis zuletzt unnachgiebig und brutal Jagd auf die letzten in der Stadt verbliebenen Jüdinnen und Juden. Heinrich Prölsdorfer etwa wurden im Februar 1945 ein paar belanglose Worte zum Verhängnis, die er mit einem Kriegsgefangenen gewechselt hatte. Alfred Reifenberg, der vor der Deportation geflohen war, spürte die Gestapo wenige Wochen später in seinem Versteck auf. Beide wurden in das KZ Dachau eingewiesen und überlebten die Haft nicht.49 Schon während der NS-Zeit waren sich die jüdischen Mischehepartner*innen sowie die »geltungsjüdischen« Kinder im Klaren darüber gewesen, wie wichtig der Fortbestand der Mischehe für ihr Überleben war, hatten sie doch nicht nur mit »Dass wir überlebt haben, verdanken wir unserem Vater« | 83

ansehen müssen, wie ihre jüdischen Verwandten, Freundinnen und Freunde ohne diesen Schutz auf Nimmerwiedersehen verschleppt worden waren, sondern auch erfahren, wie sehr sie auf die Unterstützung ihrer nichtjüdischen Familienteile und deren Handlungsmöglichkeiten angewiesen waren. Als das volle Ausmaß der nationalsozialistischen Judenvernichtung nach Kriegsende sichtbar wurde, verstärkte sich bei vielen ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit. Zwar bedeutete die Mischehe keine Garantie für das Überleben. Auch viele jüdische Ehepartner*innen sowie viele »Geltungsjüdinnen und Geltungsjuden« fielen den immer schärferen Verfolgungsmaßnahmen ab 1941 zum Opfer. Dennoch stiegen ihre Überlebenschancen mit jedem Tag, den sie nicht in einem Arbeitserziehungslager, KZ oder Ghetto und damit unter dem tödlichen Einfluss der SS verbringen mussten. Clementine Grube und ihre drei Kinder kehrten im Sommer 1945 zusammen mit den meisten anderen aus Mischehen verschleppten Jüdinnen und Juden nach München zurück. Als sie wenige Monate zuvor, Ende Februar, in Theresienstadt eingetroffen waren, gab es von dort schon keine Weitertransporte mehr in die Vernichtungslager. Auch waren die Lebensbedingungen bis Kriegsende etwas besser, da das Lager weniger überfüllt war. Die SS hatte im Herbst 1944 noch einen erheblichen Teil der Lagerinsass*innen nach Auschwitz verschleppt. »Dass wir überlebt haben, verdanken wir unserem Vater.« In dieser kurzen und doch so bedeutungsvollen Aussage, die Ernst Grube so und in anderen Worten bei vielen Anlässen immer wieder wiederholt hat, zeigt sich nicht nur die Dankbarkeit, die er und seine Geschwister für den Vater empfanden, dafür, dass Franz Grube all die schwierigen Jahre der Verfolgung zu ihnen und ihrer Mutter gehalten und sie unterstützt hatte. Dieser kurze Satz steht auch sinnbildlich dafür, wie fragil der Schutz der Mischehe war und wie sehr die jüdischen Familienmitglieder auf ihre nichtjüdischen Ehepatner*innen und Elternteile angewiesen waren.

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Anmerkungen 1  Die Nationalsozialisten unterwarfen Menschen in rassistische Kategorien, ungeachtet ihrer religiösen Identität oder ihres Selbstverständnisses. In diesem Aufsatz greife ich auf die NS-Definition zurück, um die spezifische Verfolgungserfahrung der einzelnen Menschen zu verdeutlichen. 2  Dieser Beitrag basiert in Teilen auf meiner Dissertation: Maximilian Strnad: Privileg Mischehe? Handlungsräume jüdisch versippter Familien 1933–1949, Göttingen 2021. 3  Vgl. Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 1998, 409. 4  Grundlegend: Cornelia Essner: Die »Nürnberger Gesetze« oder die Verwaltung des Rassenwahns 1933–1945, Paderborn 2002; Alexandra Przyrembel: Rassenschande. Reinheitsmythos und Vernichtungslegitimation im Nationalsozialismus, Göttingen 2003, insb. 84–101. 5  Schnellbrief von Hermann Göring vom 28. 12. 1938, abgedruckt in: Paul Sauer: Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Bürger in Baden-Württemberg durch das nationalsozialistische Regime 1933–1945, Stuttgart 1966, Bd. 2, 83 f. 6  Beide Zitate: Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen, Berlin 1947, 197 f. 7  Vgl. Strnad 2021, Kapitel V. 8  Aufzeichnung aus dem Reichsministerium des Innern vom 4. 12. 1941, in: Bundesarchiv, R 1501 Nr. 2 12331. 9  Im Altreich gab es schätzungsweise 7.000 »Geltungsjüdinnen und -juden«. Zu ihnen wurden auch »Mischlinge« gerechnet, die mit einem Juden oder einer Jüdin verheiratet waren oder die nach dem Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze gezeugt worden waren und aus einer unehelichen Verbindung stammten, vgl. Maria von der Heydt: »Wer fährt denn gerne mit dem Judenstern in der Straßenbahn«. Die Ambivalenz des »geltungsjüdischen« Alltags zwischen 1941 und 1945, in: Andrea Löw/Do-

ris Bergen/Anna Hájková (Hg.), Alltag im Holocaust 1941–1945. Jüdisches Leben im Großdeutschen Reich, München 2013, 65–79. 10  Das galt auch in München, die regionale Praxis konnte jedoch abweichen, vgl. Strnad 2021, 172 f. 11  Vgl. Susanna Schrafstetter: »Geltungsjüdische« Jugendliche in München 1938–1945, in: Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur, 2014/2, 57–75. 12  In der renomierten Israelitischen Privatklinik wurden vor 1933 auch Nichtjuden und -jüdinnen behandelt. 13  Zur Familiengeschichte vgl. Ilse Macek: Werner Grube, in: dies. (Hg.), Ausgegrenzt, entrechtet, deportiert. Schwabing und Schwabinger Schicksale 1933–1945, München 2008, 128–144. Ernst Grube: »Du Jud’, schleich’ dich!«. Kindheit in München 1932 bis 1945, in: Angelika Baumann (Hg.), Jüdisches Leben in München. Lesebuch zur Geschichte des Münchner Alltags, München 1995, 43–48. 14  Strnad 2021, 99 f. 15  Macek 2008, 130 f., vgl. auch Schrafstetter 2014, 62. 16  Kündigungsschreiben der IKG an F. Grube vom 1. 7. 1938. Franz Grube hatte sich gegen die Kündigung gewehrt, doch die Stadt als neue Eigentümerin des Gebäudes strengte gegen die Familie eine Räumungsklage an, vgl. Protokoll des Amtsgerichts München vom 12. 1. 1939, beide in: Stadtarchiv München, Judaica Varia 150. 17  Vgl. Maximilian Strnad: Zwischenstation »Judensiedlung«. Verfolgung und Deportation der jüdischen Münchner 1941–1945, München 2009. 18  Macek 2008, 131 f. 19  Grube 1995, 44 f. 20  Zum Antonienheim vgl. Brigitte Schmidt: Das Antonienheim. Kinderheim der »Israelitischen Jugendhilfe e. V.«, München 2002; Werner Grube/Ilse Macek: Das

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Kinderheim der Israelitischen Jugendhilfe e. V. in der Antonienstr. 7, in Macek 2008, 87–104. 21  Schrafstetter 2014, 64 f. 22  Ruth Grube unterlag der Kennzeichnungspflicht erst ab ihrem 6. Lebensjahr, vgl. Polizeiverordnung über die die Kennzeichnung von Juden vom 1. 9. 1941, in: RGBl. I, 547. 23  Alle Zahlen zu den Münchner Misch­ ehen stammen aus der Datenbank zum Biografischen Gedenkbuch der Münchner Juden 1933–45 am Institut für Stadtgeschichte und Erinnerungskultur der Landeshauptstadt München, zit. nach Strnad 2021, hier 457–465. 24  Antrag D von Käthe Obermayer vom 27. 3. 1950, in: Bayerisches Hauptstaatsarchiv, LEA 27255. 25  Abschrift der Kündigung vom 11. 9. 1938, in: Bayerisches Hauptstaatsarchiv, LEA 12046. 26  Jan Neubauer: Antisemitische Selbstmobilisierung im Zeichen der »Volksgemeinschaft«. Der Münchner Fall Ernst Henle, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 2017/26, 90–120, hier 115 f. 27  Erlass des Reichswirtschaftsministe­ riums vom 4. 1. 1938, abgedruckt in: Sauer 1966, Bd. 1, 193. 28  Schreiben des Münchner Gewerbeamtes an den Regierungspräsidenten von Oberbayern vom 1. 2. 1939, in: Stadtarchiv München, GEW-ARI (Abg. 7 /12a) 112. 29  Strnad 2021, Kapitel II-7, hier 115 f. 30  Wolfram Selig, »Arisierung« in München. Die Vernichtung jüdischer Existenz 1937–1939, Berlin 2004, 716 f. 31  Vgl. grundlegend Katharina Bergmann: Jüdische Emigration aus München. Entscheidungsfindung und Auswanderungswege 1933– 1941, Berlin/Boston 2022, hier 41. 32  So die Familie Edelstein aus München, vgl. Strnad 2021, Kapitel III-2, hier 162 f. 33  Maria von der Heydt: Möglichkeiten und Grenzen der Auswanderung von »jüdischen Mischlingen« 1938–1941, in: Susanne Heim/ Beate Meyer/Francis R. Nicosia (Hg.), »Wer bleibt, opfert seine Jahre, vielleicht sein Le-

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ben«. Deutsche Juden 1938–1941, Göttingen 2010, 77–95, hier 57 f. Mit Jüdinnen verheiratete Männer wurden in aller Regel ab 1941 aus der Armee entlassen. 34  Vgl. Stefanie Hajak: Letzte Adresse Lindwurmstraße 145. Die Zerstörung der Israelitischen Kultusgemeinde Münchens, in: Stefanie Hajak /Jürgen Zarusky (Hg.), München und der Nationalsozialismus. Menschen. Orte. Strukturen, Berlin 2008, 134–150. 35  Vgl. grundlegend Monica Kingreen: »Die Aktion zur kalten Erledigung der Mischehen«. Die reichsweit singuläre systematische Verschleppung und Ermordung jüdischer Mischehepartner im NSDAP-Gau Hessen-Nassau 1942 /1943, in: Alfred Gottwaldt (Hg.), NS-Gewaltherrschaft. Beiträge zur historischen Forschung und juristischen Aufarbeitung, Berlin 2005, 187–201. 36  Strnad 2009, 55. 37  Abschlussbericht der Arisierungsstelle vom 30. 6. 1943, abgedruckt in: Stadtarchiv München (Hg.): »… verzogen, unbekannt wohin«. Die erste Deportation von Münchner Juden im November 1941, Zürich 2000, 24 f. 38  Vgl. Maximilian Strnad: Flachs für das Reich. Das jüdische Zwangsarbeiterlager »Flachsröste Lohhof« bei München, München 2013. 39  Aussage von Ernst Grube bei der Buchpräsentation »Flachs für das Reich« am 26. 11. 2013 in Unterschleißheim. 40  Strnad 2013, 45 f. und Macek 2008, 132, 138. 41  Für München mit Fokus auf 1944 /45 vgl. Maximilian Strnad: Die Deportationen aus München, in: Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur, 2014/2, 76–96. 42  Susanna Schrafstetter: Flucht und Versteck. Untergetauchte Juden in München. Verfolgungserfahrung und Nachkriegsalltag, Göttingen 2015, 106. 43  Vgl. URL: https://gedenkbuch.muenchen. de/index.php?id=gedenkbuch_link&gid=4633 [gelesen am 10. 8. 2022]. Das galt auch für ihre

Tochter Fanny Monschein aus einer früheren Beziehung: https://gedenkbuch.muenchen.de/ index.php?id=gedenkbuch_link&gid=4815 [gelesen am 10. 8. 2022]. 44  Vgl. Maximilian Strnad: The Fortune of Survival. Intermarried German Jews in the Dying Breath of the Thousand-Year Reich, in: Dapim. Studies on the Holocaust 2015/29, 173–196. 45  Fernschreiben des RSHA (gez. Kaltenbrunner) an nachgeordnete Dienststellen

vom 19. 1. 1945 Betr. Geschlossener Arbeitseinsatz der jüdischen Teile aus Mischehen, in: Natio­nalarchiv Prag, AMV 110, Sign. 11011 /34, Folder 4-5a, Karton Nr. 90, vollständig abgedruckt in Strnad 2021, 329–331. 46  Macek 2008, 141 f. 47  Zu den Fluchten im Februar 1945 aus München vgl. Schrafstetter 2015, 110–127. 48  Strnad 2021, 322–326. 49  Schrafstetter 2015, 125 u. 153 f.

»Dass wir überlebt haben, verdanken wir unserem Vater« | 87

Andrea Löw

Spurensuche. Angehörige von Ernst Grube in Izbica und Piaski und die Ermordung der Jüdinnen und Juden im Generalgouvernement1 »Was wir nie dachten ist doch eingetroffen. Ich möchte Euch keine nähere Beschreibung über unseren Aufenthalt geben, es genügt, wenn ich Euch schreibe, daß ich etwas derartiges an Dreck noch nie gesehen habe. Unsere Verpflegung ist sehr mangelhaft.« So beginnt Jakob Liebschütz aus Mindelheim am 13. April 1942 die erste Karte, die er nach seiner Deportation nach Piaski im Osten des besetzten Polen nach Hause schreibt. Seine Frau Fanni ergänzt: »Seit Ende März sind wir hier & reinigen das Ghetto, ohne Überschuhe versäuft man im Dreck, Abort in Feld & Flur, Abfallhaufen in & vor den Häusern.«2 Die wenigen Lebenszeichen aus diesen Orten im Osten des besetzten Polen machen sehr deutlich, wie groß der Bruch war, den die dorthin Deportierten erlebten. Zwar kannten sie aus den Jahren zuvor bereits Ausgrenzung und Demütigungen, waren sukzessive ihrer Rechte beraubt worden – auf das, was sie nach ihrer Deportation erwartete, waren sie jedoch in keinster Weise vorbereitet. In diese fremde Welt, die das Mindelheimer Ehepaar hier beinahe ungläubig beschreibt, wurden zur selben Zeit auch Verwandte von Ernst Grube verschleppt. Zwei seiner Tanten deportierten die Nationalsozialisten im Frühjahr 1942 mit ihren Familien in sogenannte Transit- oder Durchgangsghettos im Distrikt Lublin. Rosa und Siegmund Neu und ihr Sohn Irwin gelangten wie Fanni und Jakob Liebschütz nach Piaski, Erna und Max Berenz mit den Kindern Abraham, Manasse und Bela nach Izbica. Bela war gerade einmal sieben Wochen alt, als die Mutter sie mitnehmen musste in eine erzwungene und letztlich mit dem Tod endende Reise ins Ungewisse. Was waren das für Orte, an die die Familien, herausgerissen aus ihrer Welt, fortgeschleppt von ihrer Heimat, gebracht wurden und in denen sie sich vermutlich noch eine Weile lang zurechtfinden mussten? Es ist nicht mehr möglich, das Schicksal der beiden Familien nach der Deportation genau zu rekonstruieren. Vielleicht lebten sie noch mehrere Wochen oder sogar Monate in den vollkommen überfüllten Ghettos. Die schriftliche Dokumentation über die Deportationen »nach Osten« ist gut, in vielen Fällen 88  | Andrea Löw

ren Deportationslisten, so dass wir mit Gewissheit sagen können, dass die Familie Neu nach Piaski und die Familie Berenz nach Izbica verschleppt wurde. Doch mit der Ankunft hört diese genaue Buchführung auf. Da nur wenige Jüdinnen und Juden diese Transitghettos überlebt haben und zumal die Deportierten aus dem Westen so gut wie keine Überlebenschancen hatten, gibt es kaum Erinnerungsberichte aus diesen Orten. Diese spärlichen Berichte, Schriftwechsel der jüdischen Hilfsorganisationen vor Ort sowie Briefe und Postkarten Deportierter ermöglichen es aber, die Lebensumstände in diesen Transitghettos recht gut nachzuvollziehen.3 Dies soll im Folgenden ebenso geleistet werden wie eine Einordnung der Deportationen in diese Orte in die Geschichte des Holocaust und hier speziell des Judenmords im besetzten Polen. Denn die Errichtung von Transitghettos im Distrikt Lublin stand in unmittelbarem Zusammenhang mit der »Aktion Reinhardt«, dem Mord vor allem an polnischen Juden in den Vernichtungsstätten Treblinka, Belzec und Sobibor. Im Herbst 1941 hatten die systematischen Deportationen deutscher Jüdinnen und Juden ins besetzte Osteuropa begonnen. Der Distrikt Lublin war aber schon vorher Ziel einiger Transporte gewesen, und zwar sowohl von »Umsiedlungen« aus den ans Reich annektierten westpolnischen Gebieten als auch aus dem Deutschen Reich. Bereits im Oktober 1939 wurden Wiener Jüdinnen und Juden ins besetzte Polen transportiert, im Februar 1940 Jüdinnen und Juden aus Pommern, vor allem aus Stettin. Im Oktober 1940 deportierten die Nationalsozialisten Jüdinnen und Juden aus Baden und der Saarpfalz nach Frankreich, und im Februar 1941 aus Danzig in das Warschauer Ghetto und wiederum aus Wien in den Distrikt Lublin.4 Nachdem diese Abschiebungsexperimente jeweils abgebrochen worden waren, begannen im Herbst 1941 die systematischen Deportationen der Jüdinnen und Juden aus dem Großdeutschen Reich. In einer ersten Welle verschleppten die Nationalsozialisten von Mitte Oktober bis Anfang November 1941 knapp 20.000 Jüdinnen und Juden aus verschiedenen Städten des »Altreichs«, aus Luxemburg, Wien und Prag sowie 5000 Roma aus dem Burgenland in das Ghetto in Litzmannstadt / Lodz. Zwischen dem 8. November 1941 und dem 6. Februar 1942 fuhren in 32 Transporten jeweils ungefähr 1000 Menschen in das sogenannte Reichskommissariat Ostland.5 In einer dritten Deportationswelle im Frühjahr 1942 war der Distrikt Lublin das Ziel zahlreicher Transporte. Zwischen März und Juni 1942 verschleppten die Nationalsozialisten mindestens 21.000 Jüdinnen und Juden aus dem »Altreich«, 6000 aus Wien, 14.000 aus Theresienstadt und 40.000 aus der Slowakei zunächst in die Transitghettos in diesem Distrikt. Die Einrichtung dieser Ghettos stand in einem direkten Zusammenhang mit der »Aktion Reinhardt«. Die ausgewählten Spurensuche | 89

Ghettos lagen an den Bahnstrecken nach Belzec und Sobibor. Das Vernichtungslager Belzec nahm seinen furchtbaren »Betrieb« Mitte März 1942 mit der Ankunft von aus Lublin und Lemberg verschleppten Menschen auf, zeitgleich kamen die ersten Transporte aus Theresienstadt in den Distrikt und die Betroffenen wurden zeitweise in Ghettos untergebracht. Ab Ende Mai 1942 leiteten die Verantwortlichen die Transporte dann ohne den Umweg über die Transitghettos direkt in die Vernichtungslager.6 Zunächst wurden vor Ort keine Absprachen getroffen, so dass die ersten Züge aus Theresienstadt ankamen, ohne dass die lokale Verwaltung informiert war, die Verhältnisse waren entsprechend chaotisch, die Kreishauptmänner protestierten. In Gesprächen zwischen Vertretern der Zivilverwaltung und dem Stab der »Aktion Reinhardt« einigte man sich darauf, dass die jüdische Bevölkerung in diesen Kreisen in absehbarer Zeit vollständig deportiert werden und zunächst durch die Deportation der lokalen Bevölkerung Platz für die ankommenden Transporte gemacht werden sollte. Bald fanden die ersten Razzien statt, in deren Verlauf Teile der lokalen jüdischen Bevölkerung in die Vernichtung verschleppt wurden. So waren manche Deportierte unmittelbar nach ihrer Ankunft mit Gewalt und Terror in einem Ausmaß konfrontiert, wie sie dies bisher noch nicht kannten. Am 23. März 1942 verschleppten die Nationalsozialisten etwa 3000 jüdische Frauen, Männer und Kinder aus Piaski in den Tod, darunter die meisten der zwei Jahre zuvor aus Stettin hierher gebrachten Menschen, am Tag darauf etwa 2200 aus Izbica, dies war etwa ein Drittel der jüdischen Bevölkerung. Diese beiden waren die ersten zwei Deportationsaktionen im Rahmen der »Aktion Reinhardt« in der Lubliner Provinz.7 Im März beziehungsweise April 1942 betraf die »Evakuierung« in den Distrikt, der der Hauptschauplatz und der Organisationsort der »Aktion Reinhardt« war, wie eingangs gesagt zwei Tanten von Ernst Grube. Seine dritte Tante, Selma Süß-Schülein, war mit ihrem Ehemann Siegfried Süß-Schülein bereits im Dezember 1941 von Stuttgart nach Riga deportiert worden. Max Berenz und Siegmund Neu, die beiden angeheirateten Onkel, hatten bereits Hafterfahrung unter den Nationalsozialisten machen müssen: Max war im Zuge der Novemberpogrome im Konzentrationslager Welzheim, Siegmund in Buchenwald inhaftiert worden. Der 1930 geborene Irwin Neu ging ab 1936 oder 1937 auf die jüdische Schule in Darmstadt, wurde darüber hinaus von einer Privatlehrerin unterrichtet. Die Familie Berenz zog noch Anfang Oktober 1941 von Stuttgart nach Oberdorf bei Bopfingen, vermutlich nicht freiwillig: 54 Juden kamen bis Ende 1941 offenbar nach Oberdorf und wurden auf sechs jüdische Haushalte verteilt. Vielleicht entgingen Erna, Max und die Zwillinge Abraham und Manasse dadurch vorübergehend der Deportation? Beide Familien blieben jedenfalls im Herbst und zur Jahreswende 90  | Andrea Löw

1941 /42 noch davon verschont, bekamen aber im Frühjahr 1942 den gefürchteten Deportationsbefehl. Kurz vorher, am 7. März 1942, wurde die 29-jährige Erna noch einmal Mutter: Die kleine Bela kam auf die Welt.8 Im Unterschied zu früheren »Evakuierungen« waren inzwischen schon Nachrichten in die Heimat durchgesickert, die zumindest nichts Gutes ahnen ließen, wenn die Menschen auch nicht genau wissen konnten, was sie an den Zielorten erwarten würde. Offiziell bekannt war ihnen weiterhin nur, dass sie »nach Osten« fuhren, und zwar zur Arbeit. Doch versuchten sich nun einige zu verstecken, manche nahmen sich das Leben, um der Deportation zu entgehen. Gesuche, von den Deportationen zurückgestellt zu werden, waren in den meisten Fällen erfolglos. Einige versuchten verzweifelt, sich krankschreiben zu lassen. Trotz allem: Die Menschen waren nicht wirklich darauf vorbereitet, was es hieß, »nach Osten« abgeschoben zu werden.9 Vermutlich am 24. März 1942 fuhr der Zug von Darmstadt aus in Richtung besetztes Polen.10 In Darmstadt hatten die zur »Evakuierung« Bestimmten offenbar kaum Zeit, sich vorzubereiten. Die entsprechende Verfügung der Gestapo, Staatsdienststelle Darmstadt, datiert vom 18. März 1942 und beginnt: »Es wird Ihnen hiermit eröffnet, daß Sie innerhalb von drei Stunden Ihre Wohnung zu verlassen haben.«11 Diese Verfügung, auf der auch genau stand, was die Menschen mitnehmen durften auf ihre Fahrt »nach Osten«, übergaben Polizeikräfte den Opfern, so wohl auch den Eheleuten Rosa und Siegmund Neu mit ihrem zwölfjährigen Sohn Irwin einen oder zwei Tage vor der Abfahrt des Zuges. Sie überwachten dann, wie die Koffer gepackt wurden, die bis zu 50 Kilogramm wiegen durften, nahmen die ausgefüllten Vermögenserklärungen entgegen und versiegelten die Wohnung. Dann brachten sie die Menschen, die sich ein Schild mit Namen, Geburtsdatum und Kennnummer um den Hals hängen mussten, zur Sammelstelle, in Darmstadt war dies die Liebig-Schule, eine Oberschule für Jungen. Hier wurden die Jüdinnen und Juden durchsucht, mussten ihre Kennkarte und sämtliche Wertgegenstände abgeben und die Transportkosten bezahlen.12 Ein Kriminalbeamter sagte darüber später aus: »Nachdem die Leute die Stationen durchlaufen hatten, kamen sie in einen Saal und lagen dort auf Stroh, bis die Transporte abgingen. Die Juden wurden dann in Kolonnen zum Bahnhof geführt.«13 Aus Piaski sind schon für die Jahre 1940 und 1941 schriftliche Zeugnisse deutscher Jüdinnen und Juden überliefert, da viele der im Februar 1940 aus Stettin Verschleppten dort unterkamen. Die meisten Stettiner Deportierten wurden im Frühjahr 1942, parallel zur Ankunft der nächsten Transporte aus dem Deutschen Reich, gemeinsam mit den polnischen Jüdinnen und Juden weiter vertrieben – in die Vernichtung.14 Martha und Max Bauchwitz waren noch in Piaski, als der Transport von Rosa, Siegmund und Irwin dort ankam. Sie berichten Ende März Spurensuche | 91

1942 in einem Brief an ihre Tochter von den »Aussiedlungen« der letzten Tage, denen sie offenbar nur knapp entgangen sind, und der Ankunft der deutschen Jüdinnen und Juden: »Wir stehen noch stark unter dem Eindruck der letzten Tage. Es ist wüst leer. Die 1500 aus Mainz, Worms und Darmstadt sind in die Wohnungen der ›Verreisten‹ gekommen. Sie haben keinen Pfennig Geld! Man erzählt, viele seien unterwegs gestorben. Keiner weiß, wo sie sind.«15 Nahezu zeitgleich erfuhren Erna und Max Berenz mit den Kindern Abraham, Manasse und Bela in Stuttgart, dass auch ihnen bald die »Evakuierung« bevorstehe. Diejenigen Jüdinnen und Juden, die am 26. April 1942 aus Stuttgart nach Izbica verschleppt wurden, informierte die Jüdische Kultusvereinigung Württemberg bereits am 27. März per Rundschreiben, »daß Sie und Ihre obenbezeichneten Kinder zu einem Abwanderungstransport nach dem Generalgouvernement eingeteilt worden sind«. Ausführliche Anweisungen zum Procedere und erlaubten Gepäck sowie Hinweisen dazu, was alles verboten war, folgten. Der genaue Termin des Abtransports werde noch bekannt gegeben.16 Im selben Zug saß an diesem 26. April auch das Ehepaar Marianne und Max Schwab aus Göppingen mit ihrer nur 13 Monate alten Tochter Hannacha. Bereits an der Sammelstelle am Stuttgarter Killesberg waren sie mit ungeheurer Brutalität konfrontiert, ein Göppinger Polizeibeamter sah, wie SS-Leute vor Ort das einjährige Mädchen »wie Gepäck zum Gepäckhaufen« warfen.17 Im Stuttgarter Zug befanden sich viele Kinder. Bestimmt war die nur sieben Wochen alte Cousine von Ernst Grube, Bela Berenz, das jüngste Opfer. Ihre Brüder, die Zwillinge Abraham und Manasse, waren erst vier Jahre alt. Was mag in den Eltern vorgegangen sein, als sie mit ihren drei kleinen Kindern zunächst im überfüllten Sammellager am Killesberg in Stuttgart durchsucht und ausgeraubt wurden und dann auf den Transport gewartet haben? Wie haben sie die dreitägige Fahrt ins Ungewisse empfunden, und dann die Ankunft in einer so fremden, so gewalttätigen Welt? Wir wissen es nicht. Schon die Ankunft nach der anstrengenden zwei- bis dreitägigen Fahrt war furchtbar. Am Lubliner Lager »Alter Flugplatz« fand ab Mitte April zumeist eine Selektion arbeitsfähiger Männer statt, die ins nahegelegene Lager Majdanek kamen. Viele Familien wurden also schon hier auseinandergerissen, die Frauen und Kinder wussten nicht, was mit den Männern geschah, und kamen allein an den Zielorten an. Arnold Hindls, der aus Theresienstadt nach Izbica gebracht wurde, schildert in seinen Erinnerungen, wie verzweifelt und verwirrt die Menschen angesichts dieser unerwarteten und brutalen Trennung waren und wie gedrückt die Stimmung bei der Weiterfahrt war. Der Stuttgarter Transport nach Izbica musste diese Selektion in Lublin vermutlich über sich ergehen lassen. Möglicherweise suchte die SS hier auch Max Berenz aus, und Erna Berenz musste mit den drei 92  | Andrea Löw

Kindern alleine weiterfahren. Spätestens ab Mitte April koppelten die Verantwort­ lichen an diesem Stopp in Lublin oder bei einem weiteren Halt in Trawniki außerdem die Waggons mit dem Gepäck ab, so dass die Menschen fast gänzlich ohne ihre Habe an den Zielorten ankamen. Diejenigen, die nach Piaski kamen, mussten in Trawniki aus den Zügen steigen und von dort noch einige Kilometer zu Fuß marschieren. Sie wussten gar nicht, wie ihnen geschah, wenn sie, völlig übermüdet, unter Schlägen und Geschrei vorwärts getrieben wurden.18 In Piaski oder Izbica angekommen, versuchten sie sich zu orientieren, die Situation war chaotisch, es war schwierig, eine Bleibe zu finden. Arnold Hindls beschreibt seine Ankunft in Piaski: »Total erschöpft, zitternd vor Kälte, hungrig und durstig erreichten wir endlich unser Ziel und wurden in das Getto von Piaski eingelassen, von keiner offiziellen Persönlichkeit erwartet oder begrüßt.«19

»Alles verdreckt und verlaust«20 – die Bedingungen in Izbica und Piaski Diese kleinen Ortschaften im Osten des besetzten Polen bestanden mehrheitlich aus einfachen Holzhäusern, es gab kein fließendes Wasser, keine Kanalisation, zumeist keinen Strom. Bis auf die große Durchgangsstraße durch Izbica und Piaski waren die Straßen nicht gepflastert und verwandelten sich bei starkem Regen in schlammige Tümpel. Es gab zudem so gut wie keine Toiletten, die Menschen erledigten ihre Bedürfnisse entweder auf den Straßen oder am Ortsrand. Vor allem orthodoxe Jüdinnen und Juden wohnten hier. Bereits bevor sich die Lebensbedingungen in Izbica und Piaski aufgrund der mörderischen deutschen Politik massiv verschlechterten, waren die Verhältnisse Lichtjahre entfernt vom Lebensstandard der nun hierher verschleppten deutschsprachigen Deportierten.21 In Izbica, wo 90 Prozent der Bevölkerung jüdisch war, gab es kein abgeriegeltes Ghetto. Nur in Piaski bestand beim Beginn der »Aktion Reinhardt« ein geschlossenes Ghetto. Es bestand aus zwei Teilen auf beiden Seiten der Hauptstraße des Ortes, der Lubelska-Straße. Nur in einem der beiden Teile gab es einen Brunnen, die Bewohner des anderen Ghettoteils durften nur zu bestimmten Zeiten Wasser holen.22 Die zeitgenössischen Zeugnisse machen deutlich, wie tief der Fall, wie groß der Schock bei der Ankunft in diesen so fremden Orten nach anstrengender mehrtätiger Reise war. Der mit seiner Frau Alice aus Nürnberg nach Izbica deportierte Philipp Rühl schrieb am 14. April 1942 seinem Neffen einen ausführlichen Brief: »Nun sind wir seit etwa 3 Wochen hier. Unsere Behausungen waren früher ›Wohnungen‹ von polnischen Juden. Du wirst inzwischen auch viel Dreck und Unrat gesehen haben, aber das, was wir hier vorgefunden haben, dürfte den Gipfel von Spurensuche | 93

allem darstellen. Nun, in emsiger Arbeit haben wir immerhin gewisse hygienische Grundlagen geschaffen. Wenn es uns nicht fast vollständig an allem benötigten Material und Werkzeug fehlen würde, wären wir schon viel weiter. Aber, wie gesagt, es fehlt am Notwendigsten, z. B. am Holz zum Bau von Latrinen, eine Sache, die hier unbekannt war! Dies, trotzdem die Leute sehr eng zusammengewohnt hatten […]. Unsere Behausungen sind recht eng. Wir sind z. B. 16 Personen in einem Raum von 22 qm Größe. Abgesehen von Wanzen und Flöhen wohnen wir gesund.«23 Die sogenannten Judenräte und die im Generalgouvernement tätige Jüdische Soziale Selbsthilfe (JSS) erhielten von der deutschen Zivilverwaltung keinerlei zusätzliche Mittel, um die Neuankömmlinge zu unterstützen. Im Gegenteil kürzte diese die Unterstützungen sogar noch, so dass von offizieller Seite nur wenig Hilfe kommen konnte. Schriftwechsel und Vermerke der lokalen Delegaturen der JSS aus diesem Frühjahr 1942 machen die verzweifelte Lage mehr als deutlich: Sie wollten helfen, angesichts der zahlreichen meist mittellosen und ohne Gepäck angekommenen Deportierten war dies aber nur in sehr geringem Umfang möglich.24 So schreibt die JSS-Delegatur in Piaski am 11. April 1942 an das Präsidium der Hilfsorganisation in Krakau, dass sie aus eigenen Kräften nicht mehr imstande sei, Hilfe zu leisten. Die Volksküche im Ort bemühte sich zwar, die Neuankömmlinge zu unterstützen, konnte aber nur 600 Portionen am Tag ausgeben, schon da es ihnen an ausreichend Kesseln fehlte, wie die Delegatur wenige Tage später klagte.25 Aufgrund der hygienischen Verhältnisse, der Enge und der mangelnden Versorgung brachen rasch Krankheiten aus, vor allem Typhus und Durchfall plagten die Menschen. Um irgendwie Hilfe leisten zu können, richtete die jüdische Selbstverwaltung in Izbica in der verwüsteten Synagoge ein primitives Krankenhaus ein, in dem exzellente Ärzte aus Wien oder Prag auf einem Küchentisch operieren mussten. In Piaski wandelten sie die ehemalige Leichenhalle in ein Krankenhaus um, »das aber über keinerlei ärztliche Instrumente verfügte«, so erinnert sich Arnold Hindls. Deportierte Ärzte hielten auch kostenlose Sprechstunden für die ärmsten unter ihren Leidensgenossen ab. So tat Dr. Rudolf Loewenstein in Izbica dies morgens, bevor er seine offizielle Tätigkeit für den Judenrat begann. Max Bauchwitz, der bereits Anfang 1940 nach Piaski deportiert worden war, arbeitete dort ebenfalls als Arzt, und in seinen Briefen und denen seiner Frau wird deutlich, wie beschäftigt er war, und dies auch nach den Deportationen im Frühjahr 1942. Martha Bauchwitz schreibt am 4. April 1942 an ihre Tochter: »Vater ist kolossal beschäftigt, trotzdem sechs Ärzte aus Odenwald, Mähren und Berlin mitgekommen sind.« Kurz danach wurde das Ehepaar Bauchwitz nach Belzec deportiert und ermordet.26 Den Judenräten traten nun auch deportierte Juden bei. In P ­ iaski blieb Mendel Polisecki der Vorsitzende des Judenrates, doch da die meisten anderen Mitglieder 94  | Andrea Löw

des Gremiums gerade in Belzec ermordet worden waren, kamen nun aus dem Deutschen Reich deportierte Juden hinzu. Der Ordnungsdienst, eine jüdische Polizeieinheit im Ghetto, bestand ursprünglich vor allem aus polnischen Jüdinnen und Juden, die dem aus Stettin hierher deportierten Kommandanten Alfred Stapler unterstanden. Nachdem im Frühjahr 1942 die meisten einheimischen und Stettiner Jüdinnen und Juden in die Vernichtung deportiert worden waren, bestand der OD nahezu ausschließlich aus deutschen und tschechischen Juden, mit Bela Trattner war auch eine Frau in der Einheit. Kommandant war nun der aus München nach Piaski deportierte Stefan Reinemann.27 In Izbica gab es entweder, wie in manchen Berichten bezeugt, zwei Judenräte oder mindestens eigene Interessenvertretungen der deportierten Jüdinnen und Juden. Abram Blatt war hier der Vorsitzende des Judenrats, dem sich nun deutsche und tschechische Juden aus den Vertretungen der Deportierten anschlossen. Es gab offenbar einen zweiten jüdischen Ordnungsdienst. Die Zivilverwaltung setzte hier vor allem tschechische Juden aus den ersten Transporten ein und schürte gezielt Konflikte zwischen den einheimischen und den deportierten Juden, auch indem sie den tschechischen Ordnungsdienst bei Razzien gegen polnische Juden und Jüdinnen einsetzte.28 In diesen Konflikten wird deutlich: Fremd war den Deportierten nicht nur die Umgebung, sondern auch die polnische jüdische Bevölkerung. Rasch entstanden Konflikte zwischen den so unterschiedlichen Gruppierungen. Da war zum einen die Sprachbarriere, vor allem aber bestanden erhebliche kulturelle Unterschiede zwischen den in vielen Fällen assimilierten, sich in erster Linie als Deutsche, Österreicher oder Tschechen verstehenden Jüdinnen und Juden und den eher religiösen, oftmals orthodoxen »Ostjüdinnen« und »Ostjuden«. Die Deportierten hielten die lokale Bevölkerung für rückständig, und die entsetzlichen Lebensbedingungen in den kleinen und engen Orten, in denen sie nun zusammen leben mussten, schienen ihre Vorurteile noch zu bestätigen. Umgekehrt wunderten sich die Einheimischen über das Verhalten der Neuankömmlinge, hielten sie für wohlhabend und arrogant und waren schockiert, wie wenig sie die religiösen Regeln befolgten. Besonders negativ war die Wahrnehmung der deutschen Jüdinnen und Juden, sie kamen schließlich aus demselben Land wie die Täter und sprachen dieselbe Sprache.29 Erich Krombach schreibt am 24. April 1942 an seine Freundin Marianne Strauß: »Wild-West ist gar nichts dagegen. Es sind so unterschiedliche Lebensauffassungen und Grundsätze hier, daß jeder ungefestigte Mensch seelisch stark ins Wanken gerät, wenn nicht für immer entgleist. Es gibt weder Kultur noch Moral.«30 Nur die wenigsten fanden in der landwirtschaftlich geprägten Lubliner Gegend eine Arbeit und bekamen dadurch etwas mehr zu essen. Viele wurden jedoch gänzlich ohne Bezahlung oder bessere Verpflegung zu Erd-, Garten und StraßenausSpurensuche | 95 https://doi.org/10.5771/9783835349216

besserungen eingesetzt.31 Ernst Krombach arbeitete im Sommer 1942 im Garten eines Klinkerwerks, was eine überaus gute Arbeit war, wie er in seinem Bericht schildert.32 Manche Menschen wurden in Zwangsarbeitslager gebracht, wo sie dann bei Bauprojekten und für die Wasserwirtschaftsinspektion eingesetzt wurden. Während die meisten diese Verschickung in Zwangsarbeitslager wegen der miserablen Bedingungen dort und der schweren Arbeit zunächst als große Bedrohung wahrgenommen hatten, änderte sich dies im Frühjahr 1942, also in der Zeit, als die Transporte mit den ausländischen Jüdinnen und Juden eintrafen, da sie die Arbeit nun als Schutz vor der Deportation sahen.33 Um die kargen Lebensmittelrationen aufzubessern, tauschten die Menschen in den Ghettos mit der polnischen Landbevölkerung nahezu alles, was sie noch besaßen – oder von zuhause geschickt bekamen – ein. Hierzu brauchten sie meist die Hilfe der polnischen Jüdinnen und Juden, waren doch sowohl Sprach- als auch Ortskenntnisse notwendig. Unterstützungen aus der Heimat waren in dieser verzweifelten Situation lebenswichtig. Immer wieder bitten die Deportierten in ihren Briefen um Pakete, darum, ihnen Lebensmittel oder irgendetwas zu schicken, was sie eintauschen könnten, um dadurch ihre kargen Rationen ein wenig aufbessern zu können. So schreibt Jakob Liebschütz am 13. April 1942 aus Piaski: »So bitte ich Euch, falls es Euch möglich ist etwas zu schicken, dies zu tun. Wir können alles gebrauchen, da wir unsere Koffer (pro Kopf 30 kg) voraussichtlich nicht bekommen werden.«34 Auch Erna Berenz hat aus Izbica noch Karten an ihre Schwester Clementine Grube geschrieben. Diese sind jedoch später bei einem Luftangriff verloren gegangen beziehungsweise vernichtet worden. Es ist davon auszugehen, dass Erna Berenz ein Lebenszeichen in die Heimat schicken wollte, aber auch um Hilfe angesichts ihrer Not bat.35 Die Post wurde über eine Postabteilung beim jeweiligen Judenrat abgewickelt, hier wurden die Schreiben zensiert, dann noch einmal beim Kreispostamt in Kraśnystaw, so dass es kaum Briefe aus dieser Phase gibt, in denen die Bedingungen ungeschönt geschildert werden. Aus dem Sommer 1942 sind zwar noch Nachrichten überliefert, diese waren aber nicht mehr so detailliert wie die direkt nach der Deportation verschickten Briefe und Karten, sondern standardisierte Karten mit der Mitteilung, dass es dem Absender gut gehe. Zwar ist in verschiedenen Dokumenten und der Literatur von einer Postsperre die Rede, die die Deportierten ab Mai oder spätestens im Sommer 1942 noch stärker von der Heimat abschnitt.36 Doch scheint dies uneinheitlich gehandhabt worden zu sein. So erreicht eine letzte Nachricht der aus Regensburg nach Piaski verschleppten Charlotte Brandis vom 8.  September 1942 noch ihre Tante und ihren Onkel in Regensburg. Das Mädchen, dessen Bruder und Eltern bereits aus Piaski weiter deportiert worden waren, schreibt hier verzweifelt: »Von den Eltern und Werner kann ich keine Nach96  | Andrea Löw https://doi.org/10.5771/9783835349216

richt erhalten. Ihr könnt Euch nicht denken, wie schlimm und nervenzehrend es ist, nicht zu wissen, wo man seine Liebsten suchen muß, wenn man nicht weiß, wie es ihnen geht, ob sie gesund sind oder überhaupt noch leben. Wir selbst sind ja hier auch nicht sicher, jeden Tage kann etwas passieren.«37 Trotz der Einschränkungen des Postverkehrs verfügen wir über einen ungeheuer genauen Bericht gerade aus dieser Phase, vom August 1942: In dieser Zeit kam der junge Wehrmachtssoldat Christian Arras nach Izbica, der Ernst Krombach und seinen Eltern einen Koffer mit Kleidung und Lebensmitteln von Marianne Strauß und außerdem eine detaillierte Frageliste von ihr über die wirklichen Zustände in Izbica mitbrachte. Ernst Krombachs 18-seitiger Bericht ist überliefert und das wohl eindrucksvollste Dokument eines deutschen Juden aus einem der Transitghettos im Distrikt Lublin. Er schildert hier im August 1942 detailliert die Bedingungen, unter denen auch die Familie Berenz zumindest eine Zeit lang leben musste.38 Um die Zurückgebliebenen – deren eigene Deportation in vielen Fällen noch bevorstand – zu beruhigen, hatte die Jüdische Gemeinde in Stuttgart einen Bericht über die guten Zustände in Izbica verfasst. Dem von Alfred Marx im Mai 1942 angefertigten Bericht über die »Emigration ins Generalgouvernement« zufolge seien die deutschen Jüdinnen und Juden in einer eigens für sie errichteten Siedlung untergebracht, in der zudem eine gute medizinische Versorgung gewährleistet sei.39 Die Realität war, wie bereits deutlich wurde, weit von solch idyllischen Zuständen entfernt. Doch bemühten sich die Menschen, ihr Leben zu organisieren und auch darum, die Orte, in denen sie nun zu leben gezwungen waren, zu verschönern. Wie im Eingangszitat von Fanni Liebschütz schon deutlich wurde, gingen sie daran, den Müll von den Straßen zu räumen und diese zu säubern. Manche legten Gärten an, einerseits aus optischen Gründen, aber auch, um Gemüse anzupflanzen.40 Die Ernte sollten die meisten jedoch nicht mehr erleben.

Deportationen in die Vernichtung Nicht nur trafen die Menschen bei ihrer Ankunft im Distrikt Lublin auf kaum zu ertragende Lebensbedingungen, sie kamen auch genau in der Phase an, in der der Massenmord der »Aktion Reinhardt« begann. Rasch waren sie daher mit der ungeheuren Gewalt bei den Razzien konfrontiert, in denen SS- und Polizeikräfte ihre Opfer zusammentrieben. Nicht nur bei den großen »Aktionen« waren die Menschen ihres Lebens nicht sicher, sie mussten ständig darum fürchten: Gewalt und spontaner, unberechenbarer Terror waren allgegenwärtig. In Izbica war es häufig der für die Region zuständige Gestapomann Kurt Engels, der willkürlich Juden und Jüdinnen erschoss.41 Spurensuche | 97

In mehreren Razzien mit anschließendem Transport in die Vernichtungslager der »Aktion Reinhardt« dezimierten die deutschen Machthaber die jüdische Bevölkerung in Izbica und Piaski im Laufe dieses Jahres 1942.42 Die polnischen Jüdinnen und Juden wussten inzwischen, was die Deportierten erwartete, und viele von ihnen versuchten, sich zu verstecken, während die meisten der ausländischen Jüdinnen und Juden zumindest bei den ersten »Aktionen«, die sie betrafen, an den Sammelpunkten erschienen. Die Razzien waren brutal, SS- und Polizeikräfte erschossen zahlreiche Menschen an Ort und Stelle, die anderen trieben sie zusammen und dann in den Tod. Thomas Blatt beschreibt eine dieser »Aktionen«, bei der sich zahlreiche Menschen zunächst versteckt hatten: »Da sich aber wieder nicht genügend Leute gefunden hatten, begannen die Nazis eine Hetzjagd, die in ein Massaker ausartete. Sie traten Türen ein, stürmten durch Wohnräume, töteten die Gebrechlichen und trieben schließlich ausnahmslos alle, die noch übrig waren, zum Bahnhof. Am Ende fuhr ein überladener Zug nach Belzec ab.«43 Immer wieder kam es vor, dass durch diese Razzien Familien getrennt wurden, weil Familienmitglieder, die eine Arbeit außerhalb des Ghettos gefunden hatten, während der »Aktion« nicht vor Ort waren, und wenn sie zurück ins Ghetto kamen, waren ihre Verwandten fort. Dies erlebte etwa Kurt Ticho im Juni 1942, der später in Sobibor seinen eigenen Mantel, den sein Vater am Tag der »Aktion« mitgenommen hatte in der Gewissheit, seinen Sohn am Abend wiederzusehen, inmitten der Habe der Ermordeten wiederfand.44 Charlotte Brandis aus Regensburg berichtet darüber in einem undatierten Schreiben an ihren Onkel: »Seit 14 Tagen bin ich allein hier. Wohin die Eltern und Bruder und Großmutter gekommen sind, weiß ich nicht. Ich war in Arbeit und als ich abends kam, waren alle fort.«45 Die im Ghetto Zurückgebliebenen wussten nichts, und die bange Hoffnung auf eine Nachricht sollte sich auch nicht erfüllen. Ihre Verwandten waren längst nach Belzec oder Sobibor gebracht worden. Ernst Krombach beschreibt die Situation im August 1942: »In der Zwischenzeit sind schon viele Transporte abgegangen. Von ca. 14.000 hier angekommenen Juden sind heute nur noch ca. 2000–3000 da. Diese Leute gehen mit noch weniger in Viehwagen und schärfster Behandlung hier los, d. h. mit dem, was sie am Leibe tragen. Das wäre also noch eine Stufe tiefer. Gehört hat man von diesen Leuten nie wieder etwas.«46 Im Herbst 1942 lösten die deutschen Verantwortlichen die meisten der Transitghettos auf, und nun wurden Izbica und Piaski zu Sammelghettos für die wenigen noch lebenden Jüdinnen und Juden, auch, um die untergetauchten Menschen aus ihren Verstecken und aus den Wäldern zu locken; im Frühjahr 1943 wurden die Ghettos endgültig aufgelöst. Von den deutschen Jüdinnen und Juden haben nur zwei überlebt: Käthe Leschnitzer, die sich später Kate Langer nannte, und Isidor Nebel, beide aus Breslau.47 Wir wissen nicht, wie lange die Familien 98  | Andrea Löw

Berenz und Neu während und nach ihrer Deportation gelebt haben, ob sie zumindest noch eine Zeit lang zusammen sein konnten oder bereits früh getrennt wurden. Ihre Spur verliert sich im Distrikt Lublin im besetzten Polen, wo sie entweder den furchtbaren Lebensbedingungen erlegen sind oder in den Ghettos erschossen oder in Belzec oder Sobibor ermordet worden sind.

Anmerkungen 1  Die Recherchen zu diesem Artikel waren mir möglich dank meiner Zeit 2021–2022 als J. B. and Maurice C. Shapiro Senior Scholar-in-Residence am Jack, Joseph and Morton Mandel Center for Advanced Holocaust Studies, United States Holocaust Memorial Museum (USHMM), Washington. 2  Postkarte von Jakob und Fanni Liebschütz, Transport München, Piaski, Kreis Lublin, an Victor Bollag, 13. 4. 1942: USHMM, RG-02.212. 3  Für Izbica liegt außerdem eine ausgezeichnete und detaillierte Darstellung vor: Steffen Hänschen: Das Transitghetto Izbica im System des Holocaust, Berlin 2018. Siehe außerdem Robert Kuwałek: Die Durchgangsghettos im Distrikt Lublin (u. a. Izbica, Piaski, Rejowiec und Trawniki), in: Bogdan Musial (Hg.), »Aktion Reinhardt«. Der Völkermord an den Juden im Generalgouvernement 1941–1944, Osnabrück 2004, 197–232; Robert Kuwałek: Das kurze Leben »im Osten«. Jüdische Deutsche im Distrikt Lublin aus polnisch-jüdischer Sicht, in: Birthe Kundrus / Beate Meyer (Hg.), Die Deportation der Juden aus Deutschland. Pläne  – Praxis  – Reaktionen 1938–1945, Göttingen 2004, 112–134; Robert Kuwałek: Die letzte Station vor der Vernichtung. Das Durchgangsghetto in Izbica, in: Andrea Löw / Kerstin Robusch / Stefanie Walter (Hg.), Deutsche – Juden – Polen. Geschichte einer wechselvollen Beziehung im 20. Jahrhundert. Festschrift für Hubert Schneider, Frankfurt a. M./New York 2004, 157–173. 4  Else Behrend-Rosenfeld / Gertrud Luckner (Hg.): Lebenszeichen aus Piaski. Briefe

Deportierter aus dem Distrikt Lublin 1940– 1943, München 1970; Andrea Löw: Die frühen Deportationen aus dem Reichsgebiet von Herbst 1939 bis Frühjahr 1941, in: Susanne Heim / Beate Meyer / Francis R. Nicosia (Hg.), »Wer bleibt, opfert seine Jahre, vielleicht sein Leben«. Deutsche Juden 1938–1941, Göttingen 2010, 59–76. 5  Vgl. umfassend dazu: Alfred Gottwald / Diana Schulle: Die »Judendeportationen« aus dem Deutschen Reich 1941–1945. Eine kommentierte Chronologie, Wiesbaden 2005; Kundrus / Meyer 2004. 6  Hänschen 2018, 13 und 237–251; David Silberklang: Gates of Tears. The Holocaust in the Lublin District, Jerusalem 2013, 290–306. Zur »Aktion Reinhardt« siehe Stephan Lehnstaedt: Der Kern des Holocaust. Bełżec, Sobibór, Treblinka und die Aktion Reinhardt, München 2017. 7  Hänschen 2018, 191 und 252–256; Kuwałek 2004, 203. 8  Sara Pflug / Dorothee Hoppe: Siegmund, Rosa und Irwin Neu, in: Jutta Reuss / Dorothee Hoppe (Hg.), Stolpersteine in Darmstadt, Darmstadt 2012, 158; Gerhard Hiller: Die Familie Berenz, URL: https://www.­stolpersteinestuttgart.de/index.php?docid=510 [gelesen am 10. 5. 2022]; Broschüre: Museum zur Geschichte der Juden im Ostalbkreis in der ehemaligen Synagoge Oberdorf-Bopfingen, Oberdorf 1997, 19. URL: https://www.ostalbkreis.de/sixcms/ media.php/26/­EhemaligeSynagogeOberdorfAusstellungstafeln-1997.pdf [gelesen am 10. 5. 2022]; Arolsen Archives, 6701776 und Spurensuche | 99

6701777  – Siegmund Neu. Ich danke Helga Hanusa herzlich für Informationen über beide Familien und Michaela Rützel vom Arbeitskreis Stolpersteine in Darmstadt für Informationen zur Familie Neu. 9  Hänschen 2018, 271; Monica Kingreen: Von Frankfurt a. M. in das Ghetto Izbica, 8. und 24. 5. 1952, in: Hänschen 2018, 335–356, hier 339. 10  Zu den Unklarheiten über diese Datierung siehe J. Friedrich Battenberg / Peter Engels / Thomas Lange (Hg.): Juden als Darmstädter Bürger, Wiesbaden 2019, 420 f. 11  Abdruck in Renate Heß / Lisette Nichtweiss / Ingrid Zahedi (Red.): Juden-Deportationen aus Darmstadt 1942 /43. Die damalige Liebig-Schule als Sammellager 1942, Darmstadt 1992, 56 f. 12  Vgl. Heß / Nichtweiss / Zahedi 1992, 11– 15 und 56 f. 13  Abdruck der Aussage in Heß / Nichtweiss / Zahedi 1992, 17 f. 14  Kuwałek 2004, 215. 15  Behrend-Rosenfeld / Luckner 1970, 75. Falls der Darmstädter Transport wirklich erst am 24. 3. 1942 abgefahren ist, ist unklar, warum dieser Brief auf den 25. 3. 1942 datiert ist, normalerweise dauerte die Fahrt mindestens zwei Tage. 16  Rundschreiben der Jüdischen Kultusvereinigung Württemberg e. V. Nr. 89 vom 27.  März 1942 betr. Abwanderung, in: Paul Sauer (Bearb.), Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Bürger in Baden-Württemberg durch das nationalsozialistische Regime 1933–1945, Band 2, Stuttgart 1966, 313–316. 17  Karl-Heinz Rueß: Die Deportation der Göppinger Juden, Göppingen 2001, 27 f. 18  Vgl. Kuwałek 2004, 210 f.; Hänschen 2018, 25–29, 259 und 333; Arnold Hindls: Einer kehrte zurück. Bericht eines Deportierten, Stuttgart 1965, 12 f. 19  Hindls 1965, 14. 20  So im Bericht von Ernst Krombach an

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Marianne Strauß, abgedruckt in Hänschen 2018, 536. 21  Siehe etwa Kuwałek 2004, 202; Thomas Toivi Blatt: Nur die Schatten bleiben. Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibor, Berlin 2000, 15–20. 22  Kuwałek 2004, 201. 23  Brief Philipp Rühl vom 14. 4. 1942: Staatsarchiv Nürnberg, Signatur E 1 /1491 Nr. 1. Gekürzter Abdruck in Gerhard Jochem: Zum 80. Jahrestag der Deportation von Nürnberg nach Izbica am 24.  März 1942: »Abgesehen von Wanzen und Flöhen wohnen wir gesund«. Ein Brief aus der Vorhölle: URL: ­https:// stadtarchive-metropolregion-­n uernberg. de/zum-80-jahrestag-der-deportation-von-­ nuernberg-nach-izbica-am-24-maerz-1942abgesehen-von-wanzen-und-floehen-wohnenwir-gesund-ein-brief-aus-der-vorhoelle/ [gelesen am 5. 5. 2022]. 24  Siehe verschiedene Schreiben in Archiwum Żydowskiego Instytutu Historycznego (AŻIH), 211 /143; 211 /786; 211 /787; 211 /788; Hänschen 2018, 392. 25  JSS, Delegatur Piaski an JSS-Präsidium, 11. 4. 1942 sowie 16. 4. 1942: AŻIH, 211 /788, Bl. 14 und Bl. 17. 26  Hindls 1965, 18; Behrend-Rosenfeld / Luckner 1970, 78; Kuwałek 2004, 217; Hänschen 2018, 400. 27  Kuwałek 2004, 224. 66; Steffen Hän­ schen / Andreas Kahrs: Von Moabit nach ­Piaski verschleppt: Im Vorhof des Grauens, URL: ­ https://plus.tagesspiegel.de/wissen/ von-­moabit-nach-piaski-verschleppt-in-denvorhof-des-grauens-438334.html [gelesen am 10. 5. 2022]. 28  Vgl. Kuwałek 2004, 224; Hänschen 2018, 402–407. 29  Vgl. Hänschen 2018, 432–438; Kuwałek 2004, 223. 30  Erich Krombach an Marianne Strauß, 28. 4. 1942, zit. nach Hänschen 2018, 412. Zur Geschichte von Ernst Krombach und Marianne Strauß und diesen Karten und Briefen

siehe Mark Rosemann: In einem unbewachten Augenblick. Eine Frau überlebt im Untergrund, Berlin 2002, 179–268. 31  Vgl. Hindls 1965, 21; Kuwałek 2004, 217. 32  Krombach 2018, 541; Hänschen 2018, 99 f. 33  Hänschen 2018, 111. 34  Postkarte von Jakob Israel Liebschütz an Victor Bollag, 13. 4. 1942: USHMM, RG02.212. Siehe auch USHMM, 2014.465.2, Correspondence, circa 1942; Yad Vashem Archives, O.75 /123; O.75 /160; O.75 /3730 und O.75 /3790; Ghetto Fighters’ House 38501, fol. 4; Elmar Schwinger: Von Kitzingen nach Izbica. Aufstieg und Katastrophe der mainfränkischen Israelitischen Kultusgemeinde Kitzingen, Kitzingen 2009, 493–496. 35  Amtsgericht Stuttgart, Beschluss vom 25. 11. 1949: erklärt auf Antrag von Clementine Grube die Eheleute Süß-Schülein und die Familie Berenz für tot, Bl. 2. Ich danke Helga Hanusa für eine Kopie des Dokuments. 36  Hänschen 2018, 412–423; Kuwałek 2004, 219. 37  Der Brief ist als Faksimile abgedruckt, URL: http://www.stolpersteine-regensburg.

de / L ebensspur_Brandis.pdf [gelesen am 11. 5. 2022]. 38  Hänschen 2018, 413 f.; Krombach 2018. 39  Kuwałek 2004, 220. 40  Vgl. Hindls 1950, 22. 41  Vgl. Hänschen 2018, 392–398. 42  Hänschen 2018, 191; Silberklang 2013, 316–331. 43  Blatt 2000, 49 f. 44  Bericht Kurt Ticho (Abschrift), Boskovice, den 29. 7. 1946: USHMM, RG-68.112M: Selected records from the Ghetto Fighters’ House (Beit Lohamei Haghetaot), Reel 43, File 2387, Bl. 1 f. und Bl. 8. 45  Zit. nach Thomas Muggenthaler: Das Schicksal der Familie Brandis, URL: h ­ ttps:// www.br.de/radio/bayern2/die-letzten-­ briefe-aus-dem-ghetto-schicksal-der-familiebrandis-feiertags-feuilleton-100.html [gelesen 10. 5. 2022]. 46  Krombach 2019 , 538. 47  Hänschen 2018, 226 und 276 f. Der Bericht von Käthe Leschnitzer ist abgedruckt ebd., 531–533.

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Thomas Rink

»Das Schlimmste war die Angst« – Als Kind im Ghetto Theresienstadt Theresienstadt, ursprünglich eine österreichische Festungsstadt in der Nähe von Prag, geriet unmittelbar nach der Errichtung des sogenannten »Reichsprotektorats Böhmen und Mähren« im März 1939 in den Blick der Nationalsozialisten. Bereits 1940 errichteten diese in der »Kleinen Festung« nur wenige hundert Meter von der Stadt entfernt ein Gestapo-Gefängnis für tschechische politische Häftlinge. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 wurden Vorbereitungen zur sogenannten »Endlösung der Judenfrage« getroffen. Bei einer Besprechung über die »Lösung von Judenfragen« am 10. Oktober 1941 entstand der Plan, die einstige Festungsstadt in ein Sammel- und Durchgangslager für Jüdinnen und Juden aus dem Protektorat Böhmen und Mähren zu verwandeln.1 Am 24. November 1941 trafen 342 jüdische Männer als sogenanntes »Aufbaukommando« in There­ sienstadt ein. Sie hatten die Aufgabe, die Unterkünfte für die zukünftigen Insassen vorzubereiten. Anfang Januar 1942 erfolgten die ersten Transporte mit etwa 10.000 Jüdinnen und Juden. Bis Ende Mai 1942 wurden insgesamt 28.887 Männer, Frauen und Kinder aus Böhmen und Mähren nach Theresienstadt deportiert – ein Drittel der jüdischen Protektoratsbevölkerung. Doch die ehemalige Festungsstadt war nicht ausschließlich als Lager für arbeitsfähige Jüdinnen und Juden aus Böhmen und Mähren vorgesehen. Neben seiner Funktion als »geschlossenes Siedlungsgebiet« war Theresienstadt als »Altersghetto« für eine bestimmte Gruppe von Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen Reich gedacht. Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), beabsichtigte, Personen über 65 Jahren nach Theresienstadt zu überstellen. Weiterhin sollten alle schwer kriegsbeschädigten und im Ersten Weltkrieg dekorierten Juden dorthin deportiert werden. Von diesem »Vorzeigeghetto« versprach sich Heydrich nicht zuletzt, dass die zahlreichen internationalen Interventionen gegen die nationalsozialistische Verfolgungspolitik verstummen würden. Den für Theresienstadt in Frage kommenden Personenkreis schätzte er auf 85.000 Menschen, etwa 30 Prozent der verbliebenen jüdischen Bevölkerung des Reichs.2 Es dauerte weitere drei Monate, bis am 21. Mai 1942 der Personenkreis per Erlass des RSHA genauer bestimmt wurde. Demnach handelte es sich um »über 102  | Thomas Rink

65-jährige und über 55 Jahre alte gebrechliche Juden mit ihren Ehegatten, Träger hoher Kriegsauszeichnungen und des Verwundetenabzeichens aus dem Ersten Weltkrieg sowie deren Frauen, jüdische Ehegatten aus nicht mehr bestehenden deutsch-jüdischen Mischehen und jüdische alleinstehende ›Mischlinge‹, wenn sie nach den herrschenden Vorschriften als Juden galten«.3 Von den Österreichern ursprünglich als eine Stadt für 7.000 Menschen erbaut, erreichte die Bevölkerung des Lagers im September 1942 mit etwa 53.000 Menschen ihren Höchststand. Seine Funktion als »Altersghetto« erfüllte Theresienstadt, wenn überhaupt, nur während der zweiten Hälfte des Jahres 1942. Im September 1942 betrug der Anteil von Personen über 65 Jahren 57 Prozent. Die hohe Sterblichkeitsrate und die »Alterstransporte« nach Treblinka, eines der deutschen Todeslager der »Aktion Reinhardt« im Osten Polens, bewirkten jedoch, dass der Anteil der älteren Menschen bereits Ende 1942 auf 33 Prozent zurückgegangen war.4 Theresienstadt diente der nationalsozialistischen Propaganda als »Vorzeigeghetto«. Künstler*innen und Schriftsteller*innen gaben Konzerte, Lesungen und Theateraufführungen. Eine Bibliothek wurde eingerichtet, die über 60.000 Bände umfasste. In Berichten und Erinnerungen von Überlebenden ist immer wieder von einem regen kulturellen Leben und Austausch die Rede. Doch auch wenn Theresienstadt als ein vergleichsweise erträglicher Ort beschrieben wird, so darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um ein Konzentrationslager handelte und »nicht um eine Oase deutschjüdischen Kulturlebens, eine Art Sommerakademie, in der von früh bis spät Goethe rezitiert und Mozart gespielt worden wäre«.5 Hunger, Krankheit, erzwungener Arbeitseinsatz und die Angst vor einer Deportation gehörten zum Alltag und zu den katastrophalen Bedingungen der Inhaftierten. Das verdeutlichen die folgenden Zahlen: Bis zur Befreiung des Lagers durch die Rote Armee am 8. Mai 1945 wurden insgesamt 140.937 Frauen, Männer und Kinder nach Theresienstadt deportiert. 118.000 dieser Menschen kamen ums Leben. 33.500 von ihnen starben in Theresienstadt selbst. Von den 88.000 in die Todeslager deportierten Personen überlebten lediglich 3.500. Insgesamt überlebten somit 23.000 Personen, von denen etwa 17.000 in Theresienstadt befreit wurden. Der letzte jüdische Häftling verließ Theresienstadt am 17. August 1945.6

Leben und Sterben im Lager Um für die deutschen Jüdinnen und Juden Platz zu schaffen, hatte die Zivilbevölkerung Theresienstadt bis Juli 1942 zu räumen. Am 2. Juni 1942 begannen die offiziell als »Wohnsitzverlegung« bezeichneten Deportationen der deutschen und österreichischen Jüdinnen und Juden. Durch »Heimeinkaufsverträge«, die ein »Das Schlimmste war die Angst« | 103

zukünftiges Leben unter angenehmen Bedingungen vortäuschten, wurde ihnen im Vorfeld ein komfortabler Altersruhesitz versprochen. Bei Abschluss des Vertrages übertrugen die Jüdinnen und Juden ihr Vermögen an die »Reichsvereinigung der Juden in Deutschland«. Diese sollte dann für ihre Unterkunft und Verpflegung in Theresienstadt sorgen. Jedoch waren diese Gelder in Wirklichkeit für das Reichssicherheitshauptamt bestimmt. Theresienstadt war für die meisten der Ankommenden ein Schock. Diejenigen, die wirklich daran geglaubt hatten, so etwas wie einen Altersruhesitz vorzufinden, waren über die tatsächlichen Verhältnisse entsetzt. Die Enge der Unterkünfte, Nahrungsmangel, grassierende Krankheiten und fehlende Medikamente forderten viele Tote. Mit Wohnraum, der früher für eine Person bestimmt war, mussten sich nun mehr als acht Inhaftierte begnügen. Die durchschnittliche Wohnfläche pro Person betrug 1,4 Quadratmeter. Als Unterkunft nutzte man neu gebaute Holzbaracken, Schuppen und vor allem Dachböden in verschiedenen Häusern.7 Allein im September 1942 starben etwa 3.900 Inhaftierte an den unmenschlichen Lebensbedingungen. In einem Krematorium wurde die Asche sämtlicher Toten in nummerierten Schachteln aufbewahrt. Die Bewohner*innen hofften auf eine würdige Bestattung der Überreste ihrer Angehörigen nach der Befreiung. Jedoch vergeblich. Um alle Spuren zu beseitigen, befahlen die deutschen Befehlshaber Ende 1944, die gesamte Asche in die nahegelegene Eger zu streuen. Unter der Aufsicht der »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« in Prag, wurde Theresienstadt von der SS verwaltet. Die Kommandantur befand sich am Marktplatz und bestand aus 25 SS-Angehörigen. Die Befehlsgewalt hatten in Folge Siegfried Seidl, Anton Burger und Karl Rahm inne. Auch wenn das Lager laut nationalsozialistischer Sprachregelung unter »jüdischer Selbstverwaltung« stand, so war die durch den Ältestenrat repräsentierte »Selbstverwaltung« in der Praxis nicht mehr als ein Instrument der SS-Lagerleitung, der täglich Bericht erstattet werden musste. Der Ältestenrat bestand aus dem »Judenältesten«, seinem Stellvertreter, dem Zentralsekretär und fünf Abteilungsleitern mit ihren Vertretern für die Bereiche »Innere Verwaltung«, »Wirtschaft«, »Finanzen«, »Technik« und »Gesundheitswesen«. Der dem Ältestenrat vorstehende und von der SS-Leitung eingesetzte Lagerälteste war für die Durchführung und Einhaltung aller Anordnungen verantwortlich. Den Vorsitz hatte zunächst der tschechische Zionist Jakob Edelstein, später der deutsche Soziologe Paul Eppstein und schließlich der Rabbiner Benjamin Murmelstein.8 Die Aufgabe der jüdischen Führung war es unter anderem, die Arbeit zu verteilen, Lebensmittel zuzuteilen, Neuankömmlingen Wohnungen zuzuweisen, die Aufsicht über sanitäre Einrichtungen und die medizinische Versorgung zu führen, Alte und Kinder zu versorgen, kulturelle 104  | Thomas Rink

ten zu organisieren und schließlich die öffentliche Ordnung in Form von Gesetzen und Strafen aufrechtzuerhalten. Außerdem musste der Ältestentrat die Deportationslisten aufstellen und die Transporte in die Vernichtungslager vorbereiten. Die Anzahl der jeweils zu deportierenden Häftlinge bestimmte die SS-Kommandantur.

Eine Inszenierung für die Inspektion des Internationalen Roten Kreuzes Nach der Deportation von etwa 480 dänischen Jüdinnen und Juden im Oktober 1943 nach Theresienstadt gab Adolf Eichmann dem Drängen der dänischen Regierung nach: Er genehmigte einer Delegation des Dänischen sowie des Internationalen Roten Kreuzes eine Besichtigung des Lagers im Frühjahr 1944. Bereits im Dezember 1943 begannen daraufhin die »Verschönerungsaktionen«, um der internationalen Öffentlichkeit den Schein eines normalen Lebens vermitteln zu können: Häuserfronten wurden gestrichen, Straßen gesäubert, Blumenbeete angelegt, die Schaufenster der Läden mit Waren gefüllt, ein Musikpavillon errichtet, eine Bank ins Leben gerufen und sogar »Ghettogeld« gedruckt. Schließlich deportierte die SS im Mai 1944 noch 7.500 Menschen nach Auschwitz, um die Zahl der Inhaftierten zu vermindern und die Unterkunftsmöglichkeiten sowie die hygienischen Verhältnisse zu verbessern.9 Die Besichtigung des Ghettos erfolgte am 23. Juni 1944. Theresienstadt sollte als Beweis gegen die Gerüchte vom Massenmord und als Indiz für ein sorgenfreies Leben der »umgesiedelten« Jüdinnen und Juden präsentiert werden. Nichts wurde dem Zufall überlassen, und an bestimmten Punkten des Weges, den die Kommission zurücklegte, war Besonderes arrangiert. So erinnert sich der ehemalige Häftling Siegfried van den Bergh, dass ein Kind angewiesen worden sei, dem Kommandanten Rahm entgegenzulaufen und zu rufen: »Da kommt ja Onkel Rahm! Hast Du wieder Bonbons für uns, Onkel?«10 Die Tarnung funktionierte jedoch nur bedingt. Zwar hatte die SS dem Besuch eine so perfekte Inszenierung geboten, dass der Delegierte des Internationalen Roten Kreuzes, Maurice Rossel, sich von den positiven Berichten über das Leben in Theresienstadt täuschen ließ und in seinem 15 Seiten umfassenden Bericht von einem fast »normalen Leben«, komfortablen Quartieren und guter Ernährung schrieb.11 Dagegen hält Gerhart M. Riegner, zum damaligen Zeitpunkt Leiter des Büros des Jüdischen Weltkongresses in Genf, in seinen Erinnerungen fest, dass weder der Bericht Rossels noch die nationalsozialistische Propaganda die Welt hätten täuschen können. Im Gegenteil sei vor dem Bericht Rossels gewarnt worden, weil er die Lage viel zu günstig beurteilt habe und daher mit größter Vorsicht aufgenommen werden müsse.12 Vor dem Hintergrund der Tatsache, »Das Schlimmste war die Angst« | 105

dass sowohl die Alliierten als auch das IRK zu diesem Zeitpunkt bereits detailliert über den Völkermord an den europäischen Juden informiert waren, kann von einer vollständig gelungenen Täuschung wohl nicht die Rede sein.

Der Propagandafilm »Theresienstadt – ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet« Im Rahmen der »Verschönerungsaktionen« war bereits im Dezember 1943 die Idee für einen Propagandafilm entstanden. Dieser entstand unter dem Titel »Theresienstadt – Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet« im August 1944. Der Film erlangte nach dem Krieg unter dem Titel »Der Führer schenkt den Juden eine Stadt« zweifelhafte Berühmtheit. Jedoch handelt es sich dabei nachweislich nicht um den von der SS vorgesehenen Titel, sondern vielmehr wurde diese ironische Formulierung wahrscheinlich während der Dreharbeiten von den Häftlingen selbst geprägt.13 Die Dreharbeiten begannen am 16. August 1944, knapp zwei Monate nach der Inspektion des Lagers. Im Film sollten vor allem die international bekannten »Prominenten« gezeigt werden. Dass der Film in erster Linie für ein Publikum im Ausland gedreht wurde und eine Entlastungsfunktion hatte, liegt auf der Hand. Bilder von Musikkonzerten, wissenschaftlichen Vorträgen und geselligen Runden im Kaffeehaus sollten der internationalen Öffentlichkeit ein Leben mit allen Annehmlichkeiten suggerieren. Ursprünglich sollte der Film vermutlich bereits für den Besuch des IRK fertiggestellt sein, um den äußeren Eindruck noch einmal zu bekräftigen. Die Dreharbeiten endeten jedoch erst am 28. März 1945. Lediglich vier nicht öffentliche Vorführungen des Films sind bekannt. Die erste fand Ende März 1945 vor hochrangigen SS-Offizieren in Prag statt. Die drei weiteren Aufführungen erfolgten im April 1945 in Theresienstadt vor Repräsentant*innen ausländischer Organisationen. Der Besuch der Delegation des IRK wie auch die Filmarbeiten änderten jedoch nichts an der ausweglosen Situation der Häftlinge. Bereits im September 1944 verließen weitere Transporte Theresienstadt in Richtung Auschwitz. Zwischen dem 28.  September 1944 und 28.  Oktober 1944 wurden in elf Transporten 18.400 Menschen dorthin deportiert. Nach Fertigstellung des Films wurden auch die meisten der »Darsteller*innen«, auch die Kinder, in den Gaskammern von ­Auschwitz ermordet.

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Zwischen Fürsorge und Todesangst – Kinder in Theresienstadt Rund 11.000 Kinder wurden während des Zweiten Weltkriegs aus jüdischen Gemeinden in Böhmen und Mähren, aus Deutschland, Österreich, den Niederlanden, Polen und Dänemark nach Theresienstadt deportiert. Die Mehrheit dieser Kinder wurde von dort in die Vernichtungslager, vor allem nach Auschwitz–Birkenau gebracht. Die jüdische »Selbstverwaltung« betrachtete die Betreuung und Erziehung der Kinder als eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Die Kinder wohnten zunächst bei ihren Müttern, die Väter in getrennten Unterkünften. Ab Februar 1942 wurden Kinder- und Jugendheime eingerichtet, in denen die Kinder nach Geschlecht getrennt von Erzieher*innen betreut wurden. Leiter der »Abteilung Jugendfürsorge« war der 23-jährige Zionist Egon Redlich. Er war bereits am 4. Dezember 1941 von Prag aus nach Theresienstadt deportiert worden, wo er Mitglied des Ältestenrats wurde. Bis zu seiner Deportation nach Auschwitz am 23. Oktober 1944 führte Redlich ein Tagebuch, das heute eines der bedeutendsten Zeugnisse über das Leben in Theresienstadt darstellt.14 Das Leben in den Heimen wurde nach gemeinschaftlichen Grundprinzipien organisiert. Große Gemeinschaften von 200 bis 300 Kindern wurden in kleine Zimmergemeinschaften von 15 bis 40 Kindern unterteilt. Die Überlebende Helga Pollack erinnert sich: »In ein 28 bis 30 Quadratmeter großes Zimmer zu kommen, mit ungefähr dreißig Kindern, ist schon gewöhnungsbedürftig. Am Anfang waren sie auch nicht freundlich zu mir, weil sie schon länger zusammen waren. Es waren schon Cliquen geformt, und ich gehörte halt zu gar keiner.«15 Kinder unterschiedlicher Alters- und Bildungsstufen erhielten trotz strikten Verbots durch die SS-Kommandantur vormittags regelmäßigen Unterricht. Eli Bachner, die als Kind im Lager war, beschreibt die Unterrichtsbedingungen folgendermaßen: »Wir hatten nicht genug Schreibmaterial. Papier und Bleistift waren seltene und manchmal überhaupt nicht erhältliche Dinge. […] Überhaupt hatten wir Papier und Bleistift nur in gewissen Fächern, wie z. B. Mathematik. Andere Fächer lernten wir zumeist auswendig.«16 Zum weiteren Tagesprogramm der Kinder gehörten Kultur- und Sportveranstaltungen sowie Aufklärungs- und Bildungsaktivitäten. Es wurden Theaterstücke improvisiert und auf den Dachböden der Kasernen aufgeführt.17 So wurde die Kinderoper »Brundibár« 55 mal aufgeführt. Auch das Zeichnen war für viele Kinder eine Möglichkeit, ihre zum Teil traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Seit ihrer Deportation nach Theresienstadt im Dezember 1942 erteilte die österreichische Malerin Friedl Dicker-Brandeis den Kindern Kunstunterricht. Unter ihrer fachlichen Begleitung entstanden zahlreiche »Das Schlimmste war die Angst« | 107

eindrückliche Zeichnungen, von denen über 6000 erhalten und heute Bestandteil der Sammlungen des Jüdischen Museums in Prag sind.18 Dicker-Brandeis wurde 1944 nach Auschwitz deportiert und dort im Alter von 46 Jahren ermordet. Im Rahmen des Unterrichts verfassten die Kinder auch Gedichte und literarische Texte, in denen sie ihren Erlebnissen und Gefühlen Ausdruck verliehen. Dafür steht exemplarisch ein Gedicht von František Bass: Der Garten Das kleine Rosengärtlein duftet heut so sehr es geht auf schmalem Wege ein Knabe hin und her. Ein Knäblein, ach so schön und hold, ein Knösplein, das g’rad blühen wollt’, erblüht einmal das Knösplein klein, so wird das Knäblein nicht mehr sein.19 Diese wenigen Zeilen dokumentieren in erschütternder Knappheit die Sicht eines Jugendlichen auf die Ausweglosigkeit der Situation. František Bass wurde am 28. Oktober 1944 in Auschwitz ermordet. Er war 14 Jahre alt. Den Angaben des Terezín Memorial zufolge sind von den etwa 11.000 in Theresienstadt inhaftierten Kindern 7.590 in die Todeslager deportiert worden, nur 142 von ihnen erlebten das Kriegsende. In Theresienstadt selbst starben 400 Kinder. 1.600 Kinder unter 15 Jahren wurden dort befreit.20

Ungewissheit bis zum Schluss – Ernst Grube in Theresienstadt Mitte Januar 1945 entschied das Reichssicherheitshauptamt, dass nun auch die Ehepartner*innen und Angehörigen aus sogenannten Mischehen zum »geschlossenen Arbeitseinsatz« nach Theresienstadt deportiert werden sollten. Clementine Grube erhielt eine schriftliche Aufforderung, dass sie sich am 20. Februar 1945 mit Gepäck und Kindern in der Gestapo-Zentrale im Wittelsbacher Palais einzufinden habe. Drei Monate vor Kriegsende konnte auch der nichtjüdische Ehemann die Familie nun nicht mehr vor der Deportation schützen. Als der 12-jährige Ernst Grube am 22. Februar 1945 mit seiner Mutter und seinen Geschwistern im Lager eintrafen, konnte für ihn von einem »geregelten Alltag«, wie er lange Zeit durch die »Jugendfürsorge« organisiert worden war, keine 108  | Thomas Rink

Rede mehr sein. »Als wir in Theresienstadt ankamen, mußten wir in eine Kasematte, eine riesige kalte Halle. […] Unsere Familie wurde getrennt in festen Häusern untergebracht, Ruth und ich in verschiedenen Kinderheimen, Werner bei den erwachsenen Männern und unsere Mutter bei den Frauen.«21 Die deutsche Kriegsniederlage war absehbar, kulturelles Leben und heimlichen Unterricht gab es nur noch vereinzelt und das Leben der Kinder war geprägt von unvorstellbarer Angst. »Die Gespräche von uns Kindern drehten sich hauptsächlich um das Essen und unsere Stellung zu den Nazis. Was werden wir mit denen nach dem Krieg machen – einsperren, Arbeitslager, sie umbringen? –, waren von uns Kindern voller Haß und Wut diskutierte Möglichkeiten. Doch vor allem saß uns die Angst im Nacken: Werden wir dieses Lager überhaupt überleben!«22 Erschwerend kam hinzu, dass die Essenrationen stark reduziert wurden. »Zum Essen gab es jeden Tag ein mittleres Stück Brot und mittags einige alte, oft faule Kartoffeln oder eine Graupensuppe. Zum Essenfassen mußten wir an einer zentralen Stelle, einer alten Kaserne, antreten mit Eßnapf und Essenskarte!«23 Angesichts der voranrückenden Front kamen vom 20. April 1945 bis zur Befreiung des Lagers »Evakuierungstransporte« mit circa 15.000 Gefangenen aus anderen Konzentrationslagern und von Todesmärschen in Theresienstadt an. Ernst Grube wurde Zeuge der Ankunft eines dieser Transporte: »Kurz vor Kriegsende wurden von den Nazis Häftlinge aus anderen Lagern nach Theresienstadt gebracht. Sie sind in Viehwaggons angekommen. Als die Türen geöffnet wurden, fielen diese Menschen aus den völlig überfüllten Waggons heraus: tot – halbtot! Diejenigen, die noch Kraft hatten, stürzten sich auf das Gras und haben dies vor Hunger gefressen. Ich stand fassungslos davor.«24 Noch bis kurz vor der Befreiung war das Lager von Wehrmachts- und SS-Einheiten umgeben, die die Häftlinge mit Erschießungen bedrohten. »Wir Kinder suchten uns zum Spielen immer wieder andere Plätze. Einmal passierte folgendes: Die auf dem Rückzug befindliche Wehrmacht schoß ins Lager. Wir schaukelten gerade auf einer selbstgebauten Wippe. Blitzschnell habe ich mich unter die Wippe gelegt, links und rechts von mir schlugen die Kugeln ein. Zum Glück wurde niemand von uns Kindern getroffen.«25 Ernst Grube überlebte Hunger, Krankheit und Todesangst. Am 5.  Mai 1945 übernahm das Internationale Rote Kreuz das Lager, und am 8. Mai 1945 wurde Theresienstadt endgültig von der Roten Armee befreit. »Wegen der großen Typhusepidemie kamen wir in Quarantäne und mußten noch einige Monate in Theresienstadt bleiben. Etwa Anfang August 1945 haben wir in zwei Bussen die Heimreise nach München angetreten […] Dort hat uns Vater erwartet und wortlos in die Arme geschlossen. Wären wir nur ein halbes Jahr früher nach Theresienstadt gekommen, Mutter, Werner, Ruth und ich wären sicher in den Gaskammern von Birkenau gelandet.«26 »Das Schlimmste war die Angst« | 109

Geprägt von derart existentiellen Ängsten während der NS-Herrschaft, musste Ernst Grube im Nachkriegsdeutschland die Erfahrung machen, dass die Mehrheitsgesellschaft seiner Lebens- und Verfolgungsgeschichte jahrzehntelang meist gleichgültig, wenn nicht ablehnend gegenüberstand. Immer wieder wollte er seine Geschichte erzählen, niemand jedoch hörte wirklich zu. Auch aus dieser Erfahrung heraus begann er sich politisch zu engagieren. Er protestierte gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands und engagierte sich politisch in der FDJ, der Gewerkschaft und der KPD.27 Ernst Grubes stets klare politische Positionierung gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus und gegen jede Form von Ausgrenzung, Krieg und Gewalt ist auch eine Konsequenz aus seinen Verfolgungserfahrungen in der NS-Zeit. Denn »erinnern allein reicht nicht«, betont er unermüdlich.

Anmerkungen 1  Notizen aus der Besprechung über die »Lösung von Judenfragen« am 10. 10. 1941, Staatliches Zentralarchiv Prag, 114–2–56. Zitiert nach: Miroslav Kárný: Deutsche Juden in Theresienstadt, in: Miroslav Kárný / R aimund Kemper / Margita Kárná (Hg.), There­ sienstädter Studien und Dokumente, Prag 1994, 36–53, hier 36. 2  Protokoll der »Wannsee-Konferenz«, 20. 1. 1942, 9, URL: https://www.ghwk.de/de/ konferenz [gelesen am 25. 7. 2022]. Vgl. auch: Raul Hilberg: Die Vernichtung der europä­ ischen Juden, Band 2, Frankfurt a. M. 1990, 450. 3  Erlaß Reichssicherheitshauptamt  – IV B 4  – vom 21. 5. 1942: »Bestimmung des jüdischen Personenkreises, der nach There­ sienstadt abgeschoben werden soll.« Zitiert nach: Wolfgang Benz: Theresienstadt in der Geschichte der deutschen Juden, in: Miroslav Kárný u. a. (Hg.), Theresienstadt in der »Endlösung der Judenfrage«, Prag 1992, 70– 78, hier 71 4  Kárný 1994, 42. 5  Benz 1992, 73. 6  Wolfgang Benz: Theresienstadt, in: Wolfgang Benz / Hermann Graml / Hermann Weis

110  | Thomas Rink

(Hg.), Enzyklopadie des Nationalsozialismus, München 1997, 757–758, hier 758. 7 URL: https://www.holocaust.cz/­ ueberleben-in-theresienstadt [gelesen am 26. 7. 2022]. 8 URL: http://www.ghetto-theresienstadt. de/pages/a/aeltestenrat.htm#struktur [gelesen am 28. 7. 2022]. 9  Karel Margry: Das Konzentrationslager als Idylle: »Theresienstadt«  – Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet, in: Auschwitz: Geschichte, Rezeption und Wirkung, hg. vom Fritz Bauer Institut, Frankfurt a. M./New York 1996, 319–352, hier 321. 10  Siegfried van den Bergh: Der Kronprinz von Mandelstein. Überleben in Westerbork, Theresienstadt und Auschwitz, Frankfurt a. M. 1996, 85. 11  Der Bericht ist vollständig abgedruckt in: Miroslav Kárný u. a. (Hg.): Theresienstädter Studien und Dokumente, Prag 1996, 284–297. 12  Gerhart M. Riegner: Die Beziehung des Roten Kreuzes zu Theresienstadt in der Endphase des Krieges, in: Miroslav Kárný / R aimund Kemper / Margita Kárná (Hg.), There­ sienstädter Studien und Dokumente, Prag 1996, 19–30, hier 27.

13  Über die Entstehungsgeschichte und Verbreitung des Films hat Karel Magry ausführlich recherchiert. Margry 1996, 319–352. 14  Egon Redlich: The Terezin Diary of Gonda Redlich, Lexington 1992, 4. 15  Vgl. URL: https://deutsch.radio.cz/­ eingesperrt-theresienstadt-helga-pollakdokumentierte-das-leben-im-ghetto-8230405 [gelesen am 27. 7. 2022]. 16  Eli Bracher zitiert nach: Hana Drori / Jehuda Huppert: Theresienstadt: ein Wegweiser, Prag 1999, 29. 17  Vgl. Kurt Kamhuber: Kinder in Theres­ ien­stadt. Zeichnungen und Texte von Kindern aus dem KZ Theresienstadt, o. O. 2012, 11. 18  Vgl. Sarah Kass: Kinderzeichnungen aus dem Ghetto Theresienstadt (1941–1945). Ein Beitrag zur Erinnerungs- und Vermächtniskultur, Marburg 2015. 19  Abgedruckt in: Avraham Barkai: Das letzte Kapitel, in: Avraham Barkai / Paul Mendes-Flohr / Steven M. Lowenstein (Hg.),

Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Vierter Band, 1918–1945, München 1997, 343– 368, hier 356. 20 URL: https://www.pamatnik-terezin.cz [gelesen am 21. 7. 2022]. Zu den Zahlen vgl. auch: Miroslav Kárný / Margita Kárná: Kinder in Theresienstadt, in: Dachauer Hefte, 1993 /9, 14–31. 21  Zeuge der Zeit: Ernst Grube. KZ-Kind – Jude  – Antifaschist, URL: https://www.br. de/fernsehen/ard-alpha/­programmkalender/ sendung-2163058.html [angesehen am 25. 7. 2022]. Vgl. auch: Grube 1993, 12–13. 22  Ernst Grube: »Den Stern, den tragt Ihr nicht!«, in: Dachauer Hefte, 1993 /9, 3–13, hier 12. 23  Grube 1993, 13. 24  Grube 1993, 13. 25  Grube 1993, 13. 26  Grube 1993, 12 f. 27  Vgl .dazu auch den Beitrag von Friedbert Mühldorfer in diesem Band.

»Das Schlimmste war die Angst« | 111

Friedbert Mühldorfer

Verweigerte Normalität. Ernst Grubes politische Verfolgung in der Bundesrepublik Deutschland

Auf rund 40 Jahre Wirken als Zeitzeuge kann Ernst Grube zurückblicken. Es war ein langer Weg vom gelegentlichen Erzählen in der Öffentlichkeit bis hin zum unermüdlichen Berichterstatten über die jüdische Kindheit in München, die erlebte Ausgrenzung und die Deportation nach Theresienstadt. Kaum bekannt ist sein politisches Wirken als Friedensaktivist und Kommunist im München der Nachkriegsjahrzehnte; das fand erst allmählich und recht spät Eingang ins Erzählen. Dies ist erstaunlich angesichts der Bedeutung dieses Engagements für Ernst Grube und angesichts der Repressionen, die er als Kommunist in den 1950er Jahren erfahren musste. Aber auch das eigene Schweigen über diese »zweite« Geschichte, seine politische Tätigkeit, hat viel zu tun mit den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen politisch gearbeitet, erzählt und zugehört wird. Er erlebte die Repression durchaus als erneute Ausgrenzung, genauso wie viele Tausende Kommunist*innen, die nach ihrer Verfolgung im Nationalsozialismus in der jungen Bundesrepublik wegen ihrer politischen Betätigung kriminalisiert wurden. Der Begriff »zweite Verfolgung« ist zutreffend, weil damit keine Gleichsetzung mit nationalsozialistischer Verfolgung intendiert ist. Im Sinne einer Gleichsetzung wurde das von den Betroffenen selbst auch nie gesehen; dazu waren die Schrecken der Konzentrationslager und NS-Haftanstalten zu präsent und die Unterschiede überdeutlich. Andererseits sollte die Monstrosität des Naziterrors auch nicht dazu führen, den Begriff der politischen Verfolgung in diesem Zusammenhang zu vermeiden.1

Rückkehr in eine schweigende Gesellschaft Gut zwölf Jahre alt war Ernst Grube, als er im Juni 1945 mit Mutter Clementine und der kleineren Schwester Ruth in einem Sammeltransport aus dem KZ Theresienstadt in die Heimatstadt München zurückkehrte. Sein älterer Bruder Werner hatte sich mit einigen anderen eigenständig nach München durchgeschlagen. 112  | Friedbert Mühldorfer

Das Leben lag nun vor dem Jungen – freilich beladen mit der großen Bürde seiner Erlebnisse. Aber immerhin hatte er seine Familie, die ersten Schutz bot. Der Schulbesuch musste nachgeholt werden, etwas widerwillig erlernte er beim Vater das Malerhandwerk und war auf der Suche nach Antworten und Vorstellungen für die Zukunft. Den Alltag sichern, sich um überlebende Familienangehörige zu kümmern, Ausbildung und Berufsfindung – diese Dinge standen zunächst im Vordergrund des Lebens aller ehemals Verfolgten. Für viele war das eigene Schweigen der notwendige Schutz vor Qualen der Erinnerung. Aber es gab auch das Bedürfnis nach Erzählen und Zuhören. Aus der Erinnerung heraus fällt bei Ernst Grube in diesem Zusammenhang immer wieder der Satz: »Es fragte einfach niemand, nicht in der Schule, nicht in der Arbeit.« Denn dieses Bedürfnis traf auf eine überwiegend schweigende Gesellschaft, die aus unterschiedlichen Gründen die zwölf Jahre der Diktatur tabuisierte oder das eigene Leid schnell in den Vordergrund schob. In den ersten Jahren nach der Befreiung gab es immerhin in den Zeitungen und im Rundfunk große Berichte über das Schicksal der Überlebenden. So konnten im März 1946 auf Seite 1 der Süddeutschen Zeitung ehemals Verfolgte unter dem Titel »Dem Vermächtnis der Opfer« über ihre Erfahrungen in den Konzentrationslagern schreiben,2 und es gab Rundfunkbeiträge und Gedenkveranstaltungen. Nur ein gutes Jahr währte die Hoffnung auf wirkliche Anteilnahme und Solidarität. Bereits zum »Tag der Opfer des Faschismus« im September 1947 formulierte jedoch der Staatskommissar Philipp Auerbach im Hinblick auf rassisch, religiös und politisch Verfolgte: »Wir stehen fassungslos vor einer Masse Menschen, die nicht begriffen haben, was KZ bedeutet.«3 Zeitgleich mit dem Schweigen wurde der Antisemitismus immer deutlicher, der sich vor allem in der Diffamierung der Displaced Persons zeigte, im Gerede über die Möhlstraße, das anfängliche Zentrum jüdischen Lebens in München,4 in Schmierereien und Grabsteinschändungen. Die inoffizielle Gründungsversammlung der »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes« Anfang Oktober 1946 im Münchner Rathaus mit Vertreter*innen aller damals zugelassenen demokratischen Parteien von KPD bis CSU und Bayernpartei und von »rassisch Verfolgten« war einerseits ein kämpferischer Aufbruch. Aber andererseits war die Gründung geprägt von der Empörung über die ausbleibende »Wiedergutmachung« (oder Restitution ohne Anführungszeichen), die mangelhafte Entnazifizierung und die Missachtung der Verfolgten durch die gesellschaftliche Mehrheit seit der Befreiung. Eine fast verzweifelte Anklage formulierte der Journalist Hans Ulrich Kempski anlässlich einer bayernweiten Protestkundgebung der VVN im März 1950. Er Verweigerte Normalität | 113

schrieb das tiefe soziale Elend einzelner Münchner Jüdinnen und Juden sowie politisch Verfolgter und zitierte die VVN, wonach 84 % der 924 Richter und Staatsanwälte in Bayern ehemalige Nazis seien.5 All diese Meldungen und Ereignisse bestimmten auch die Zusammenkünfte der Verfolgten – und das bereits kurze Zeit nach dem Ende des Terrors. Für viele war damit sehr bald ein tiefer Graben zur Mehrheitsgesellschaft entstanden.

Politische Orientierung nach links Folge dieser als »Ausschluss« empfundenen Nichtbeachtung war oft tiefe Resignation und Rückzug auf die Innenwelt der Familie – soweit vorhanden und möglich – oder in die Sicherheit religiöser Einrichtungen beziehungsweise Verfolgtenorganisationen oder politischer Parteien. Nur dort bot sich – wenn überhaupt – ein geschützter Raum für das Erzählen und Erinnern. Der für die Selbstfindung so notwendige Austausch mit der Gesellschaft »draußen« war selten vorhanden. Auch Ernst Grube war zunächst sehr auf die Familie bezogen, in der die Erlebnisse der Ausgrenzung und Deportation zwar präsent waren, aber nicht den Alltag dominierten. Dauerhafte Kontakte zu anderen verfolgten Jüdinnen und Juden seines Alters oder zur entstehenden jüdischen Gemeinde gab es nicht. Die Suche nach einem Platz in der Gesellschaft wurde zunächst geprägt vom Elternhaus. Mittelpunkt war der kommunistisch orientierte Vater, überaus streng, aber von allen geachtet für seine Standhaftigkeit gegenüber den Nazibehörden, ohne den die jüdische Ehefrau und die Kinder nicht überlebt hätten. Die Mutter blieb sehr zurückgezogen, jetzt verstärkt durch das Wissen um den Tod aller Schwestern und deren Familien in Vernichtungslagern im Osten. Clementine Grube hatte sich mit ihrem Beruf als gelernte Krankenschwester und mit ihrer Ehe vom streng gelebten Judentum der Eltern gelöst und beschränkte ihr religiöses Leben auf die gängigen Gebote. Bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten war sie selbst politisch-caritativ tätig in der »Roten Hilfe«, einer der KPD nahestehenden Solidaritätsorganisation. Nach der Rückkehr aus Theresienstadt organisierte sie sich mit ihrem Mann kurzzeitig in der Kommunistischen Partei. Ein links-sozialistisches Familienmilieu also, in dem die Grube-Kinder aufwuchsen. Die Eltern lebten eher zurückgezogen, Ernst Grube erinnert sich aber an kleine Ausflüge nach Neubiberg, wo sich ehemalige Verfolgte meist sozialis­ tischer Orientierung trafen. Beherrschend waren bei diesen Treffen die Erzählungen von oft langjähriger Haft in Lagern wie Dachau oder Buchenwald – und vom Widerstand gegen die Nazis. Noch intensiver wurde dieses Erlebnis durch die Begegnung mit der Familie 114  | Friedbert Mühldorfer

Binder. Eines Tages begleitete Ernst seinen Vater zu Malerarbeiten bei der verwitweten Rosa Binder und lernte die Kinder, darunter die fast gleichaltrige Tochter Erika, kennen. Er besuchte die Binders öfter und hörte vom Widerstand des Kommunisten Otto Binder, dessen Schwagers Willy Olschewski und der ganzen großen Gruppe, von denen viele bereits zu Beginn der NS-Herrschaft inhaftiert worden waren und anschließend dennoch weiteren Widerstand wagten. 13 von ihnen wurden hingerichtet oder starben in Gestapohaft, darunter auch Erikas Vater. Eine neue Welt für Ernst Grube: Es hatte also Widerstand einfacher Leute gegen die Nazibarbarei gegeben, nicht alle hatten bloß zugeschaut. Damit war eine Verbindung geschaffen zwischen der eigenen Verfolgung und mutigen Menschen, die nicht geschwiegen, sondern gegen die Nazis gehandelt hatten. In dieser kommunistischen Familie und bei ihren Freunden erfuhr er auch das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, erlebte er Solidarität, die ihn das ganze weitere Leben begleitete. Er selbst war ja aus der Familie Binder als Kind herausgerissen, als »Sternträger« ausgegrenzt und schließlich deportiert worden. Mit Erika und Ernst hatten sich zwei jugendliche Leidtragende gefunden, die aufgrund ihrer Geschichte nun selbst aktiv mitmachen wollten beim Aufbau einer neuen Welt, die unbedingt anders werden sollte als die vergangene. Eigenes Handeln wurde zum Gegenpol der erlittenen ausweglosen Isolation und Ohnmacht. Erika Binder, seine spätere Frau, brachte Ernst Grube auch zur Freien Deutschen Jugend, der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei. Gewerkschafter war er schon; bald wurde auch er Mitglied der FDJ, später der VVN und schließlich der Kommunistischen Partei. Einen neuen Horizont bot auch die Beschäftigung mit Geschichte und Kultur aus marxistischer Perspektive; bestimmend war die klare Gegnerschaft zur faschistischen Herrschaft und zur erlebten Nachkriegsgesellschaft.6 Wesentlich wurden dabei nach Erinnerung Ernst Grubes drei Überlegungen, die ihn der KPD ebenfalls nahebrachten und die auch sein späteres Wirken leiteten: 1. Mit mutigem Widerstand hätte Hitler verhindert werden können. 2. Ohne den Krieg der Wehrmacht hätte die Shoah nicht stattfinden können. 3. Ohne die Rote Armee hätte er mit Mutter und Geschwistern nicht überlebt. Dass er Verfolgter war, wussten viele in seinem unmittelbaren politischen Umfeld. In Gesprächen darüber stieß er wenigstens auf Fragen und Verständnis für das gemeinsame Projekt des »Nie wieder!«. Im normalen Alltag hingegen war er persönlich nur gelegentlich mit antisemitischen Bemerkungen konfrontiert; die Teilnahmslosigkeit überwog bei weitem als gängige Form der Zurückweisung. Mit seiner Politisierung im linken Milieu war auch eine Art »Schutzraum« für ihn entstanden; seine jüdische Herkunft spielte für ihn keine wesentliche Rolle mehr im aktuellen politischen Handeln. Das war für Ernst Grube keine VerleugVerweigerte Normalität | 115 https://doi.org/10.5771/9783835349216

nung, sondern eher eine Chance für das Vermeiden erlebter Machtlosigkeit und einer Rolle als »Opfer«. Präsent blieben die jüdische Herkunft und die erlittene Ausgrenzung aber immer in seinem Selbstverständnis, nicht zuletzt als Antrieb für sein Eingreifenwollen und die Entwicklung einer politischen Utopie. Er selbst war nicht religiös und trat Anfang der 1950er Jahre auch aus der evangelischen Kirche aus; die Aufnahme der Grube-Kinder war von den Eltern zum (vergeb­ lichen) Schutz vor NS-Verfolgungsmaßnahmen veranlasst worden.

Politische Verfolgung als Kommunist Ernst Grubes politisches Leben war von Anfang an überschattet von einem antikommunistischen staatlichen Verfolgungsdrang, der als die wesentliche ideologisch-politische Grundkonstante der frühen Bundesrepublik bezeichnet werden kann.7 Bereits vor Gründung der Bundesrepublik gab es Versammlungsverbote und Einschränkungen für die KPD und die VVN durch Behörden der Alliierten oder der Westzonen-Länder. Mit Gründung beider deutscher Staaten im Herbst 1949 verstärkte sich das jedoch entscheidend. Noch war die KPD in Parlamenten vertreten, hatte Einfluss in Betrieben und Gewerkschaften, verlor aber stark an Mitgliedern und Wähler*innen. Ihr Kampf gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, intensive Kontakte mit der DDR und das Eintreten für Verhandlungen mit ihr und für eine »nationale Wiedervereinigung« wurden von Bundesregierung und Behörden als Gefährdung der staatlichen Ordnung und der Westorientierung betrachtet und entsprechend sank­ tio­niert. Mit dem sogenannten »Adenauer-Erlass« vom September 1950 konnte Beschäftigten im öffentlichen Dienst aus dem »kommunistischen« Spektrum gekündigt werden. Wichtiges Instrument war auch der Aufbau der Verfassungsschutzämter seit 1950, häufig unter Mitwirkung ehemaliger Gestapo-Beamten. Mit dem Verbot der FDJ in Westdeutschland im April 1951, der Änderung des Strafrechts vom Juli 1951 (»Hochverrat« und »Staatsgefährdung« in problematischer Tradition), dem Verbot der »Volksbefragung gegen die Remilitarisierung« und dem im November des gleichen Jahres eingebrachten Antrag auf Verbot der KPD, das 1956 erfolgte, wurden umfassende Maßnahmen ergriffen. Dass die grundsätzliche Ausrichtung der KPD an der Politik der DDR dem administrativen Antikommunismus Vorschub leistete, ist offensichtlich, war aber nicht dessen wesentliche Ursache. Denn für die angestrebte Westbindung der BRD, den Aufbau einer neuen 116  | Friedbert Mühldorfer

macht, die Integration auch höherrangiger ehemaliger NS-Funktionäre in Wirtschaft und Behörden war ein gängiges Feindbild hilfreich und notwendig. Dafür eignete sich der »Kommunismus« besonders, weil dieses Feindbild sowohl nach außen gegen die Sowjetunion und die DDR gerichtet wie auch nach innen nutzbar war. Überdies konnte an eine lange, unheilvolle Tradition von Antisozialismus angeknüpft werden, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Vor allem der Anschluss an den Antimarxismus und Antibolschewismus der nationalsozialistischen Bewegung und Herrschaft seit 1919 war geeignet für eine breite Akzeptanz auch in der bundesrepublikanischen Gesellschaft.8 Mit großem Aufwand verfolgten Behörden und Gerichte in diesem »kalten Bürgerkrieg«9 bis in die 1960er Jahre oppositionelle politische Gesinnung als Gefahr für den Bestand der BRD. Die beanstandeten Delikte reichten von Schriftenverteilung bis zu Postkontakten in die DDR. Rund 125.000 Ermittlungsverfahren gegen Kommunist*innen und vor allem »Sympathisanten« wegen »Landesverrat« oder »Hochverrat« oder »Weiterführung« der verbotenen KPD zwischen 1951 und 1968 zeigen das Ausmaß dieser Verfolgung; nicht eingeschlossen noch weitergehende Haussuchungen, Vorladungen, berufliche Benachteiligungen und vieles mehr. Von 1950 bis 1966 wurden knapp 7000 Kommunist*innen wegen Hochoder Landesverrat oder Staatsgefährdung verurteilt, im Verwaltungsweg wurden zwischen 1951 bis 1958 insgesamt 81 Organisationen verboten.10 Ernst Grube war von den Maßnahmen unmittelbar betroffen. Die aufgeheizte antikommunistische Stimmung bekam er am 30. Januar 1952 zu spüren, als Polizisten in München Besucher*innen einer – kurzfristig verbotenen – Informa­tions­ veranstaltung des »Komitee zur Verteidigung der demokratischen Rechte und Freiheiten« mit massivem Gewalteinsatz zerstreuten. Sprechen sollte Lilly Wächter über die Kriegsführung der USA in Korea. Die Abgeordnete aus dem hessischen Landtag war als »Halbjüdin« im Nationalsozialismus verfolgt worden und hatte Vater, Mutter und Bruder verloren. Das veranstaltende Komitee stand jedoch auf einer Liste von 61 »kommunistischen Tarnorganisationen« des Bayerischen Innenministeriums vom November 1951.11 Der damals 19-jährige Grube, entschiedener Kriegsgegner, wurde dabei von der Polizei verletzt und wegen »Auflauf« und »Widerstand gegen die Staatsgewalt« zu sechs Wochen auf Bewährung verurteilt. Am 20. Februar 1954 demonstrierte er in der Münchner Kaufingerstraße mit tausenden Gewerkschaftskolleg*innen gegen die Aufweichung der Ladenschlusszeiten und wurde dabei wiederum nach massivem Polizeieinsatz festgenommen und wegen »Auflauf«, Aufforderung zu strafbaren Handlungen und Widerstand gegen die Staatsgewalt zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt, die er auch absitzen musste. Strafmildernd wurde im Urteil vermerkt, »daß er wegen seiner halbjüdischen Abstammung jahrelang [sic!] im KZ war und deshalb auch heute Verweigerte Normalität | 117

noch feindselig gegen die Polizei eingestellt ist«; strafverschärfend, weil er einschlägig vorbestraft war und deshalb »eine empfindliche Strafe im öffentlichen Interesse« liege.12 Solche Polizeieinsätze waren auch ein Ergebnis alten obrigkeitsstaatlichen Denkens einschließlich personeller Kontinuität aus der NS-Zeit und antikommunistischer Propaganda.13 Bei einer Friedenskundgebung in Essen wurde am 12. Mai 1952 der fast gleichaltrige FDJ-Freund Grubes, Philipp Müller, von der Polizei erschossen.14 Diese Erfahrungen untermauerten für Ernst Grube seine Vorbehalte gegenüber Staat und Gesellschaft weiter und beförderten eher das Engagement auch nach dem Verbot der KPD. Dies führte 1959 nochmals zu einer Strafe von einem Jahr Gefängnis wegen »Zuwiderhandlung gegen das Verbot der KPD« und »Geheimbündelei in staatsgefährdender Absicht«. Der Hintergrund: Zusammen mit fünf anderen wollte er in einer (gescheiterten) spektakulären Flugblatt-Raketenaktion am Münchner Stachus und durch Briefversand Flugblätter gegen die atomare Aufrüstung verbreiten. Als hochpolitische Strafsache wurde die Aktion vor dem Bundesgerichtshof verhandelt. Die zum Teil langjährige KZ-Haft von fünf der Angeklagten wurde im Urteil zwar erwähnt, hatte aber offensichtlich nur bei Grube strafmildernde Wirkung, weil er »als Halbjude […] eine schwere Kindheit erlebt« habe und »für seinen Beitritt zur KPD […] ersichtlich weniger die ideologische Übereinstimmung als seine persönlichen Erlebnisse und die seiner Ehefrau während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft maßgebend« gewesen seien.15 Anklage und Urteil zeigen zumindest keine besondere Sensibilität gegenüber angeklagten NS-Verfolgten. Nebenbei bemerkt: Die Mehrheit der fünf Richter des Bundesgerichtshofs im Prozess gegen Grube waren NS-belastet, darunter auch der Vorsitzende Kurt Weber. Gesinnungsstrafrecht und politische Justiz kriminalisierten Kommunist*innen für politische Meinungen, die in weiten Teilen der Gesellschaft vertreten waren und später teilweise offizielle Politik wurden – Kriegsgegnerschaft und Aktivitäten zur Verständigung mit der DDR – nur weil sie Kommunist*innen waren. Diese politische Justiz verfestigte entschieden das Gefühl neuerlicher Ausgrenzung insbesondere von kommunistischen Verfolgten des Naziregimes. Als besonders empörend wurde die Ergänzung zum Bundesentschädigungsgesetz von 1953 empfunden, die bestimmte, dass Verfolgten, die sich gegen die »freiheitlich-demokratische Grundordnung« betätigt hatten, die Wiedergutmachungsleistungen für NS-Verfolgung gestrichen werden konnten.16 Betroffen war auch der öffentliche Umgang mit Widerstand und Verfolgung von Kommunist*innen. Bis in die 1960er Jahre wurde dieser Widerstand (mit 118  | Friedbert Mühldorfer

ähn­lichen Folgen für den Arbeiter*innenwiderstand insgesamt) nahezu völlig aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Auf den Hintergrund verweist ein Satz, den Ritter von Lex, Staatssekretär und Verantwortlicher der Bundesregierung im Verbotsverfahren gegen die KPD, in der Begründung 1955 zum Verbotsantrag der KPD vorgetragen hatte: »Sie [die KPD] ist ein gefährlicher Infektionsherd im Körper unseres Volkes, der Giftstoffe in die Blutbahn des staatlichen und gesellschaftlichen Organismus der Bundesrepublik sendet.«17 In dieser verbalen Entgleisung wird eine Denkhaltung deutlich, wonach organisierter Kommunismus und kommunistischer Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Grunde genommen bereits zur Zeit des Naziregimes richtigerweise als »staatsgefährdend« sanktioniert wurde. So wollte 1950 ein Münchner Staatsanwalt einem Antragsteller die Aufhebung seines Hafturteils über ein Jahr Gefängnis wegen Verteilens von Flugblättern im Jahr 1933 versagen, weil »auch heute noch kommunistische Druckschriften Anlaß zum Einschreiten geben.«18 Man kann sich vorstellen, wie diese Maßnahmen und Haltungen auf NS-Verfolgte wie Binder und Grube wirkten – und das angesichts der Tätigkeit ehemaliger Nazis in Behörden, Ministerien, Presse und Justiz. Ernst Grube konnte zumindest vordergründig dank seiner Jugend und seiner politischen Aktivität mit solchen Verletzungen umgehen. Viele der Älteren konnten das aufgrund körperlicher und seelischer Spätfolgen ihrer Verfolgung im Nationalsozialismus nicht (mehr). Ihr Leiden samt Auswirkungen auf Familie und Kinder lässt sich erahnen, harrt aber noch der Aufarbeitung.19

Veränderung und Rückfall »Radikalenerlass« Mit Beginn der Großen und dann der sozialliberalen Regierungskoalition, mit den Umbrüchen durch die 1968er-Bewegung, Reformen im Strafrecht und größerer Aufmerksamkeit für NS-Vergangenheit und Neofaschismus schwächte sich das Vorgehen gegen Kommunist*innen deutlich ab; erste Veränderungen hatten sich bereits seit Beginn der 1960er Jahre abgezeichnet. Dennoch wurde die »kommunistische Gefahr« im Gefolge der 68er Bewegung und nach Gründung der KPD-Nachfolgepartei Deutsche Kommunistische Partei (DKP) weiterhin beschworen und letztlich unter dem neuen Begriff des »Linksextremismus« auch auf die aus der Studentenbewegung entstandenen Gruppierungen ausgedehnt. Mit dem sogenannten »Radikalenerlass« beziehungsweise offiziell »Extremistenbeschluss« vom Januar 1972 wollten Bundesregierung und Länder die » Verweigerte Normalität | 119

trierung« des öffentlichen Dienstes durch »linksextremistische« Lehrer*innen, Wissenschaftler*innen, Sozialarbeiter*innen und Postbot*innen verhindern. Auch Ernst Grube war wieder betroffen und mit seiner Biografie in besonderer Weise konfrontiert. Er war weiterhin in der Friedensbewegung engagiert, hatte sich beruflich als Malermeister selbständig gemacht und nach Weiterbildung als Fachlehrkraft an städtischen Schulen gearbeitet. Aufgrund des »Radikalenerlasses« sollte ihm aber als DKP-Mitglied 1975 die dauerhafte Einstellung in den Dienst der Stadt München verweigert werden. Die Zeiten hatten sich jedoch geändert, und damit auch Ernst Grubes Selbstverständnis als verfolgter Jude im Nationalsozialismus, als verfolgter Kommunist im Kalten Krieg und nun erneut Ausgegrenzter. Er nahm zum Anhörungsgespräch seinen alten »Judenstern«-Aufnäher mit und legte ihn dem städtischen Gremium auf den Tisch. Er führte damit zwei Grunderfahrungen seiner Verfolgungsgeschichte als Jude und als Kommunist zusammen. Das, was lange nicht möglich gewesen war, nämlich die Verfolgung im Nationalsozialismus und die gesellschaftliche Ausgrenzung in der jungen Bundesrepublik zu thematisieren, gelang erst jetzt: Ernst Grube wurde eingestellt. In seinem Prozess 1959 war die nationalsozialistische Verfolgung noch lediglich als biografische Besonderheit strafmildernd vermerkt worden. Unter den Betroffenen des »Radikalenerlasses« waren auch Kinder von Überlebenden der Shoah oder politisch Verfolgter. Auf die unheilvolle Tradition dieser neuerlichen antikommunistischen Ausgrenzung machten ältere Mitglieder der VVN durch Tragen ihrer früheren KZ-Kleidung bei Protestkundgebungen aufmerksam. Insgesamt wurden von 1972 bis 1991 (Jahr der Beendigung des Verfahrens in Bayern als letztem Bundesland) rund 3,5 Millionen Bewerber für den öffentlichen Dienst in Bund und Ländern durch eine »Regelanfrage« der Einstellungsbehörden bei den Verfassungsschutzämtern überprüft; in etwa 11.000 Fällen kam es zu Verfahren, davon wurden 1250 Personen nicht eingestellt. Rund 260 bereits verbeamtete oder angestellte Personen wurden im gleichen Zeitraum entlassen.20

Zeitzeugenschaft – ein steiniger Weg Die gesellschaftlichen Veränderungen seit Ausgang der 1960er Jahre hatten Auswirkungen auf das Informationsbedürfnis über die Zeit des Nationalsozialismus. Die amerikanische Fernsehserie »Holocaust« (1979), entstehende Geschichtsinitiativen und Friedensbewegungen, erweiterte Forschung und die Rede von Bundespräsident Weizsäcker 1985 zum 8. Mai als »Tag der Befreiung« bewirkten erstmals eine größere öffentliche Nachfrage nach Berichten von Überlebenden des Naziterrors über den 120  | Friedbert Mühldorfer

engen Kreis von Verfolgtenverbänden, religiösen Einrichtungen und Gewerkschaften hinaus. Dabei standen aufgrund der Dimensionen der Shoah und der jahrzehntelangen weitgehenden Ausblendung anderer Opfergruppen die Lebensgeschichten von verfolgten Jüdinnen und Juden im Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit. Seit den 1980er Jahren nahm auch allmählich die Beschäftigung mit bisher »vergessenen« Verfolgtengruppen zu, öffentliche Zeitzeug*innengespräche mit diesen Überlebenden blieben aber selten. Dieses jahrzehntelange »Vergessen« verhinderte sowohl die eigenständige Artikulation wie auch die Resonanz von außen. Durch das gewachsene Interesse am Alltags-Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Forschung und Öffentlichkeit stießen nun auch politisch Verfolgte auf größere Aufmerksamkeit. Obwohl sie die größte, relativ geschlossene Gruppe unter den politischen Verfolgten bildeten, blieb es für Kommunist*innen weiterhin ein steiniger Weg, bis auch sie in der Öffentlichkeit etwas stärker einbezogen wurden. Dies zeigt sich für Bayern im Fall von Josef Pröll; zwei seiner Brüder fielen dem NS-Terror zum Opfer, er selbst wurde achteinhalb Jahre in mehreren Konzentrationslagern inhaftiert. Er durfte 1979 in einem Gymnasium in Königsbrunn bei Augsburg, dessen Schüler*innen ihn mit Zustimmung des verantwortlichen Lehrers eingeladen hatten, nicht sprechen, denn »Der Mann könnte ja heute noch Kommunist sein« – so die Schulleitung.21 Lange waren auch ehemalige kommunistische Häftlinge beispielsweise des KZ Dachau mit Ablehnung und Skepsis staatlicher Stellen konfrontiert, wenn sie bei Rundgängen Besucher*innengruppen von ihren Erlebnissen erzählten. Ein häufiges Verhalten war, dass der eigentliche Grund ihrer eigenen Inhaftierung in Lagern, nämlich ihre Mitgliedschaft in der KPD, von ihnen selbst nicht erwähnt oder mit »Arbeiterbewegung« umschrieben wurde. Die antikommunistische Prägung der Bundesrepublik wurde damit verinnerlicht und steuerte und begrenzte das Erinnern und Erzählen. Ernst Grubes Weg zum gefragten »Zeitzeugen« war ein längerer. Aufgrund der »privilegierten« Situation als Kind einer »Mischehe« und seines Alters empfand er seine Geschichte zunächst als eher »bescheiden« im Vergleich etwa zum Schicksal Max Mannheimers oder Gerty Spies’, mit der er bis zu ihrem Tode verbunden war und mit der zusammen er seine ersten Zeitzeugengespräche bestritt. Aufgrund seines Engagements im Förderverein für eine Jugendbegegnungsstätte in Dachau wurde er seit Mitte der 1980er Jahre zunehmend zum Gesprächspartner für Jugendliche und auch Erwachsene, wodurch für ihn die eigene Kindheit im nationalsozialistischen München in den Vordergrund rückte. Manche, die schon lange mit ihm politisch gearbeitet hatten, erfuhren nun erstmals von der Geschichte seiVerweigerte Normalität | 121 https://doi.org/10.5771/9783835349216

ner Familie. Für den Geschichtswettbewerb der Stadt München 1993 /94 schrieb er seine Erinnerungen nieder.22 Mit jeder Erzählrunde und der nachfolgenden Reflexion konnte er – unterstützt auch von seinem Bruder, durch Gespräche und Literatur – verschüttete Zugänge zu Erlebnissen der Kindheit freilegen und einordnen. Die damit verbundene tiefergehende Beschäftigung mit ermordeten jüdischen Verwandten, Onkeln und Tanten, von denen er kaum Kenntnisse hatte, wurden ihm zu schmerzhaften Entdeckungsreisen in seine Familiengeschichte. Die Weitergabe dieser Erinnerungen und Erfahrungen, immer verbunden mit der Aufforderung zum unbedingten Schutz der Würde aller Menschen, ist ihm zum Lebensthema geworden. Dafür wird ihm höchste Anerkennung zuteil. Und dennoch ereilte ihn um 2010 nochmals direkt der lange Atem des Antikommunismus. Die VVN war seit Anfang der 1950er Jahre von den Behörden als Organisation im kommunistischen Dunstkreis eingeordnet, vom Verfassungsschutz beobachtet und dadurch als »linksextremistische« Gefahr für die Demokratie gewertet worden. Erst mit der Jahrtausendwende änderte sich das in Bund und Ländern. In Bayern verblieb die VVN-BdA (seit 1971 zum Bund der Antifaschisten erweitert) jedoch weiterhin im Visier des Verfassungsschutzes, wurde als »linksextremistisch beeinflusste« Organisation verzeichnet und damit auch öffentlich diesem Verdikt ausgesetzt. Ernst Grube, einige Zeit einer der Sprecher*innen des bayerischen Landesverbands der VVN-BdA, wurde im Bericht für das Jahr 2010 sogar persönlich erwähnt: »Auch im Landesverband Bayern ist der Einfluss von Linksextremisten, insbesondere aus der DKP, maßgeblich. Über den bayerischen Landessprecher der VVN-BdA, Ernst Grube, beispielsweise sind Verbindungen zur DKP und zu autonomen Gruppen bekannt.«23 Damit war eine neue Qualität persönlicher Ausgrenzung in der Öffentlichkeit erreicht, gerade weil sich Grube ja seit Jahren als gefragter Zeitzeuge, Gesprächspartner und Mitglied verschiedener staatlicher, kirchlicher und kommunaler Gremien großes Ansehen erworben hatte. Entsprechend breit war die Solidarität mit ihm, wodurch erreicht wurde, dass die Nennung seines Namens künftig unterblieb. Bestehen blieb aber die Überwachung Grubes durch den Verfassungsschutz, was weiterhin eine gravierende Einschränkung des Persönlichkeitsrechts darstellt. Dass ein Theresienstadt-Überlebender im Alter von fast 80 Jahren zur Diffamierung der Verfolgtenorganisation VVN-BdA instrumentalisiert wurde, verweist abermals auf die Langlebigkeit des antikommunistischen Feindbilds. Erhellend ist hierfür auch, dass in Briefen des Innenministeriums an Fürsprecher Grubes 122  | Friedbert Mühldorfer

sogar auf seine frühere, über fünfzig Jahre zurückliegende Mitgliedschaft in KPD und FDJ [!] hingewiesen wurde.24 Mindestens ebenso verletzend war für Ernst Grube nach eigenem Bekunden eine Stelle im Verfassungsschutzbericht des Vorjahres 2009: »Öffentliche Zeitzeugen­auftritte von früheren KZ-Häftlingen sollen der Organisation [gemeint ist die VVN, F. M.] darüber hinaus einen demokratischen Anstrich verleihen.«25 Dieser Satz unterstellt, dass Zeitzeugen entweder völlig ahnungslos der VVN auf den Leim gingen oder aber, dass der Antrieb ihres Engagements letztlich nicht das eigene schreckliche Erleben ist, sondern sie dieses nur funktionalisieren. In beiden Fällen kommt es einer Entwürdigung von Verfolgten und ihrer gesamten Lebensgeschichte gleich. Der Verfassungsschutz versuchte hier neuerlich zu trennen, was im Selbstverständnis Grubes nicht wirklich trennbar war: seine Erfahrung von rassistischer, antisemitischer Verfolgung einerseits und sein aus dieser Verfolgung erwachsenes Engagement als Gewerkschafter, Kommunist, Streiter für Frieden und Menschenrechte andererseits; für Ernst Grube gehört dies zusammen. Dass sein politisches Wirken als Linker vor allem auch mit der erlittenen Verfolgung zusammenhängt, diese Einsicht bleibt antikommunistisch geprägtem Denken verwehrt. Dem zufolge gibt es den »guten Grube« als Opfer, der von seiner Verfolgung als Jude erzählen darf, und den bösen Kommunisten, der mit Hintergedanken an seine »Zeitzeugenauftritte« herangeht. Diese Aufspaltung einer Persönlichkeit beschädigt und entwertet das Lebenszeugnis eines Überlebenden. Immerhin erfuhren aufgrund des großen Echos mehr Menschen von Grubes linker Vergangenheit und Gegenwart, was zum Interesse auch an seiner politischen Arbeit in der Bundesrepublik führte – wiederum Anstoß zur weiteren »Vervollständigung« seiner Lebensgeschichte. Über zehn Jahre sind seitdem vergangen. Änderungen gehen langsam vonstatten. Aber im 90. Lebensjahr Ernst Grubes ist auch in Bayern die »VVN-BdA« aus dem jüngsten Bayerischen Verfassungsschutzbericht gestrichen worden – 75 Jahre nach ihrer Gründung. Erfreulich ist, dass Ernst Grube als Zeitzeuge endlich auch seinem Wirken als Linker in der Bundesrepublik mehr Raum geben kann. Noch gibt es Befangenheit auch bei Zuhörer*innen, noch erlebt er immer noch weiche Formen der Ausgrenzung. Aber die wesentliche Barriere scheint niedriger zu werden, als Jude und Linker wirklich wahrgenommen zu werden und sich selbst so wahrnehmen zu können. Der Großteil der Kommunist*innen, die im Nationalsozialismus und später im Kalten Krieg erneut verfolgt wurden, haben diese Tendenz zur Normalisierung Verweigerte Normalität | 123

nicht mehr erlebt. Ihr Leiden aufgrund dieser doppelten Verfolgung blieb der Öffentlichkeit weitgehend verborgen. Ein Glück für den verfolgten Juden und Kommunisten Ernst Grube, dass er den Weg zur Normalität weiterhin begehen kann, die ihm jahrzehntelang vorenthalten wurde.

Anmerkungen 1  Von offizieller Seite werden meist beschönigende Umschreibungen benützt, so etwa »Ungerechtigkeiten im Bereich des Staatschutzstrafrechts«, wie es Bundesminister Klaus Kinkel 1991 formulierte; zitiert nach Rolf Gössner: Die vergessenen Justizopfer des Kalten Krieges, Berlin 1998, 185. 2  Süddeutsche Zeitung, 8. 3. 1946, 1. 3  Süddeutsche Zeitung,13. 9. 1947, 4. 4  Vgl. Juliane Wetzel: Aufruhr in der Möhl­ straße, in: Wolfgang Benz / Brigitte Mihok (Hg.), Juden unerwünscht. Anfeindungen und Ausschreitungen nach dem Holocaust, Berlin 2016, 57–75. 5  Hans Ulrich Kempski: Wir wollen kein Mitleid, wir fordern unser Recht, in: Sueddeutsche Zeitung, 24. 3. 1950, 3. 6  Zur »Attraktivität« des Kommunismus für jüdisch Verfolgte nach 1945 in der DDR vgl. Bettina Völter: Judentum und Kommunismus. Deutsche Familiengeschichten in drei Generationen, Opladen 2003, 18 ff.; weiter zurückgehend die Biografie von Mirjam Zadoff: Der Rote Hiob. Das Leben des Werner Scholem, München 2014; zum Verhältnis von Widerstand und Verfolgung der Juden vgl. Susanne Keval: Die schwierige Erinnerung. Deutsche Widerstandskämpfer über die Verfolgung und Vernichtung der Juden, Frankfurt a. M./New York 1999, 14 ff. 7  Antikommunismus meint hier das administrativ-politische Vorgehen der Bundesregierung, nicht die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus. Vgl. Michael Schwartz: Antikommunismus und Vertriebenenverbän-

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de, in: Stefan Creuzberger / Dierk Hoffmann (Hg.), »Geistige Gefahr« und »Immunisierung der Gesellschaft«. Antikommunismus und politische Kultur in der frühen Bundesrepublik, München 2014. 8  Vgl. Andreas Wirsching: Antikommunismus als Querschnittsphänomen politischer Kultur 1917–1945, in: Creuzberger/Hoffmann 2014, 20 ff. 9  Josef Foschepoth: »Verfassungswidrig«. Das KPD-Verbot im Kalten Bürgerkrieg, Göttingen 2017. Wie weitreichend diese Grundstimmung war, zeigt jüngst K.-D. Henke anhand der langjährigen Bespitzelung der SPD durch Adenauer und den BND; Klaus-Dietmar Henke: Adenauers Superwatergate. Mit dem BND gegen die SPD, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2022 /5, 112–120. 10  Alexander von Brünneck: Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1968, Frankfurt a. M. 1978, 363, 276, 113. 11  Die Neue Zeitung (München), 22. 11. 1951. 12  Urteil Landgericht München I vom 27. 10. 1954, 8, Az 3 Ls 16a-c/54, privat Ernst Grube. 13  Vgl. Gerhard Fürmetz: Nachkriegspolizei: Sicherheit und Ordnung in Ost- und Westdeutschland 1945 – 1969, Hamburg 2001. 14  Zum 10. Todestag organisierte Ernst Grube im Einvernehmen mit der Mutter des Toten eine Gedenkfeier am Grab in München-Aubing, die von der Polizei als unangemeldete Demonstration »verfassungsfeindlichen Charakters« verhindert wurde; vgl.

Aubinger Zeitung, 16. 5. 1962, privat Ernst Grube. 15  Urteil vom 16. 7. 1979, Az. 2 St E 2 /59, privat Ernst Grube. 16  Vgl. Boris Spernol: Die Kommunistenklausel. Wiedergutmachungspraxis als Instrument des Antikommunismus, in: Creuzberger / Hoffmann 2014, 251–273. 17  Das NPD-­Verbotsverfahren – eine Chronologie, in: Süddeutsche Zeitung, URL: https://www.sueddeutsche.de/­p olitik/ rechtsextremismus-das-npd-­verbotsverfahreneine-chronologie-1.2886568?msclkid=­465bd a72d07f11eca398f4c88f2a27f7 [gelesen am 12. 9. 2019]. 18  Zitiert nach Marion Detjen: »Zum Staatsfeind ernannt«. Widerstand, Resistenz und Verweigerung gegen das NS-Regime in München, München 1998, 333. 19  Vgl. die Beschäftigung mit ehemaligen Häftlingen des KZ Dachau in Jürgen Mül-

ler-Hohagen / Ingeborg Hohagen: Wagnis Solidarität. Zeugnisse des Widerstehens angesichts der NS-Gewalt, Gießen 2015, 169 ff. 20  Vgl. Gerard Braunthal: Politische Loyalität und Öffentlicher Dienst. Der Radikalenerlass von 1972 und die Folgen, Marburg 1992, 117. 21  Der Stern, Nr. 35, 23. 8. 1979. 22  Vgl. Ernst Grube: »Du Jud’, schleich’ dich!«. Kindheit in München 1932 bis 1945, in: Angelika Baumann (Hg.), Jüdisches Leben in München. Lesebuch zur Geschichte des Münchner Alltags, München 1995, 43–48. 23  Bayerisches Staatsministerium des Inneren (Hg.): Verfassungsschutzbericht 2010, München 2011, 195. 24  Information von Ernst Grube. 25  Bayerisches Staatsministerium des Inneren (Hg.): Verfassungsschutzbericht 2009, München 2010, 184.

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»

Es war sehr interessant zu hören, was Sie alles erlebt haben. Mich hat sehr schockiert, wie Sie von Ihrer Familie getrennt wurden. Außerdem hat mich beeindruckt, wie Sie diese Zeit überstanden haben. Es muss sicher sehr hart gewesen sein, sein Zuhause zu verlieren. Ich wünsche mir, dass Ihre Geschichte niemals in Vergessenheit gerät.

Rick (7. Klasse)

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Wir möchten Ihnen vielmals danken dafür, dass Sie Ihre Lebensgeschichte mit uns geteilt haben, auch wenn wir uns vorstellen können, dass dies nicht einfach ist. Durch Sie konnten wir noch eine andere, persönliche Version der Geschichte h ­ ören, anders als sie in den Geschichtsbüchern steht. Es war uns eine Ehre, mit Ihnen sprechen zu dürfen und eine einmalige Erfahrung.

Franziska, Laura & Lilly (9. Klasse)

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Ich finde es sehr bewundernswert, dass Sie diese Zeit im KZ und auch davor ausgehalten haben und darüber jetzt auch so offen sprechen. Das kostet bestimmt eine Menge Überwindung, sich als Zeitzeuge an diese schrecklichen Dinge zu erinnern.

Luis (6. Klasse)

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Ich bin unendlich dankbar, die Möglichkeit gehabt zu haben, jemandem, den diese Ereignisse selbst betroffen haben, live zuhören zu können. Meine Familie hat durch meinen Urgroßvater viel Schuld auf sich geladen und ich möchte das nach diesem Vortrag innerhalb meiner eigenen Familie aufarbeiten. Ich will sie gar nicht weiter stören, ich wollte nur die Bedeutung dieser Erfahrung für mich verdeutlichen.

Korbinian (9. Klasse)

Die Zukunft der Zeitzeugenschaft

Dirk Riedel

Ein Ort der Begegnung: Das Engagement der Überlebenden für eine KZ-Gedenkstätte in Dachau

Die Arbeit von Erinnerungsorten, die sich mit den nationalsozialistischen Verbrechen auseinandersetzen, lebt vielfach vom Engagement Überlebender und ihrer Familien. Als Initiator*innen, Berater*innen, kritische Begleiter*innen und Mahner*innen nahmen und nehmen frühere Inhaftierte Anteil an der Entwicklung der heutigen Gedenkstätten. Gleichzeitig waren viele Überlebende dazu bereit, ihre Erfahrungen in Interviews und Gesprächen mitzuteilen; die Zeugnisse der Gegner*innen und Verfolgten des NS-Regimes haben sich zu einem zentralen Element der Geschichtsvermittlung und Gedenkstättenarbeit entwickelt. Mit seinem unermüdlichen Engagement insbesondere im Umfeld der KZ-Gedenkstätte Dachau und des NS-Dokumentationszentrums München erfüllt Ernst Grube beide Aufgaben: als »politisch Handelnder«, als »politischer Mensch«,1 der die Entwicklung der Erinnerungsorte in Dachau und München kritisch begleitet, ebenso wie als Zeitzeuge, als Aufklärer, der im Gespräch mit Schulklassen, Gedenkstätten, Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit bereitwillig über seine persönlichen Erfahrungen im Nationalsozialismus erzählt. Mit Blick auf die vielfältigen Aktivitäten Grubes als Präsident der Lagergemeinschaft Dachau und als stellvertretender Vorsitzender des Fördervereins für Internationale Jugendbegegnung und Gedenkstättenarbeit in Dachau soll im Folgenden die Rolle und Geschichte der Überlebenden in diesen beiden Einrichtungen schlaglichtartig beschrieben werden.

Die Anfänge der KZ-Gedenkstätte und die Lagergemeinschaft Dachau Auf der Suche nach einem sozialen Umfeld, das sich dem wieder erstarkenden Antisemitismus und der Verklärung des Nationalsozialismus in den Anfangsjahren der Bundesrepublik entgegenstellte, und geprägt durch die politische Haltung seiner Eltern und Freund*innen, vor allem seiner späteren Ehefrau Erika Binder, hatte sich Ernst Grube als Jugendlicher der kommunistischen Freien Deutschen 130  | Dirk Riedel

Jugend (FDJ), der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN) und der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) angeschlossen.2 In diesen unterschiedlichen Organisationen sowie bei seinen Ausflügen mit den Naturfreunden und bei Wochenendaufenthalten im Freidenkerheim Neubiberg freundete sich Ernst Grube mit anderen KZ-Überlebenden an: Viele von ihnen waren Kommunist*innen, aber auch Sozialdemokrat*innen und Gewerkschafter*innen, die wegen ihres politischen Widerstandes gegen das NS-Regime oft schon zu Beginn der NS-Diktatur verhaftet worden waren. Unter ihnen war Otto Kohlhofer, der eine zentrale Rolle bei der Entstehung der KZ-Gedenkstätte Dachau einnehmen sollte. Wie Grube stammte Otto Kohlhofer aus einer Arbeiterfamilie. Mit 14 Jahren hatte er eine Ausbildung zum Feinmechaniker begonnen, bereits als Jugendlicher engagierte er sich in der Arbeiterbewegung und der kommunistischen Jugend. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 suchte der 18-jährige Kohlhofer in München-Neuhausen den Kontakt zu jungen Kommunist*innen, aber auch zu Angehörigen der sozialdemokratischen Wehrorganisation »Reichsbanner«, gemeinsam organisierten sie die Verteilung illegaler Schriften und Flugblätter, die über die Verbrechen der Nationalsozialisten aufklärten und zum Widerstand aufriefen. Unter dem Decknamen »Betti Gerber« übernahm Otto Kohlhofer 1934 die Leitung der Gruppe, nachdem sein Vorgänger, Karl Riedel, von der Gestapo verhaftet worden war. Doch durch den Verrat des Gestapo-Spitzels Max Troll flog die Gruppe im Juni 1935 auf, Kohlhofer wurde vor Gericht gestellt und wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Anschluss an die Haftzeit deportierte ihn die Gestapo im Februar 1938 ins Konzentrationslager Dachau. Unter anderem musste er Bauarbeiten bei der Erweiterung der großen Lageranlage verrichten, später setzte ihn die SS im Dachauer KZ-Außenlager Kottern ein, ehe er noch unmittelbar vor Kriegsende der »Bewährungseinheit Dirlewanger« zugeteilt wurde und dort Ende April 1945 die Gelegenheit zur Flucht nutzte.3 Nach der Befreiung und seiner Rückkehr nach München 1945 zögerte Otto Kohlhofer keinen Moment, sein politisches Engagement wieder aufzunehmen, und es war für ihn wohl keine Frage, dass er sich wieder in der Partei engagieren würde, die den Nationalsozialisten 1933 am konsequentesten entgegengetreten war: So zählte er in seiner Heimatstadt zu den ersten Mitgliedern der KPD, nachdem die US-amerikanischen Besatzungsbehörden den Kommunisten die Lizenz zur Parteigründung erteilt hatten. Außerdem war er einer der Initiatoren und Gründungsmitglied der VVN in München.4 Während der 17 Jahre jüngere Ernst Grube, unterstützt von seinen Mitstreiter*innen bei KPD und VVN, zum entschiedenen Kriegsgegner wurde und sich in den frühen 1950er Jahren an den Protesten gegen den Koreakrieg und die Wiederbewaffnung Deutschlands beteiEin Ort der Begegnung | 131 https://doi.org/10.5771/9783835349216

ligte, wurde für Kohlhofer die Forderung nach der Errichtung einer KZ-Gedenkstätte in Dachau zum zentralen Thema. Bereits im Rahmen der Dachauer Prozesse 1945 /46 war im Krematoriumsgebäude des ehemaligen Konzentrationslagers eine kleine Ausstellung eingerichtet worden. 1952 übertrug die bayerische Regierung der Verwaltung der Staatlichen Schlösser, Gärten und Seen die Verantwortung für die Pflege dieses Geländeteils. Doch die Erinnerung an das Konzentrationslager war heftig umstritten: Konservative bayerische Spitzenpolitiker, wie der stellvertretende Ministerpräsident und Landwirtschaftsminister Joseph Baumgartner (Bayernpartei) und der Dachauer Landrat Heinrich Junker (CSU), wetterten 1955 gegen die »Diffamierung des Dachauer Landes«5 und forderten die Schließung des Krematoriumsgebäudes. Erst als die Bundesregierung kurz darauf ein Zusatzabkommen zu den Pariser Verträgen unterzeichnete und sich verpflichtete, die Grabstätten von NS-Opfern zu erhalten und zu pflegen, war zumindest der Bestand des Krema­ toriumsgeländes dauerhaft sichergestellt.6 Doch die ehemaligen Gefangenenbaracken hatte die bayerische Regierung schon 1948 in eine »Wohnsiedlung Dachau Ost« für deutsche Vertriebene und Flüchtlinge aus Osteuropa umbauen lassen.7 Zur selben Zeit suchte Otto Kohlhofer den Kontakt zu anderen Dachau-Überlebenden und legte in der kleinen Wohnung seiner Familie in der Münchner Nimmerfallstraße den Grundstein für die »Lagergemeinschaft Dachau«. 1956 wurde die Vereinigung offiziell registriert und als deutsche Vertretung der ehemaligen KZ-Häftlinge auch ins Internationale Dachau-Komitee (CID) aufgenommen.8 Um mit seinen früheren Mitgefangenen aus anderen Staaten kommunizieren zu können, begann Otto Kohlhofer Französisch zu lernen. Als Gründungspräsident der Lagergemeinschaft und Secrétaire International du Comité International de Dachau gelang es ihm in zahlreichen Gesprächen und Diskussionen, neben den vielen kommunistischen Überlebenden auch frühere Mitgefangene aus anderen politischen Lagern wie den Geistlichen Leonhard Roth für seine Idee zu gewinnen, in Dachau eine KZ-Gedenkstätte einzurichten, die seiner Ansicht nach vor allem auch eine Ausstellung umfassen sollte, in der die Geschichte des Konzentrationslagers dokumentiert wurde. Seit 1946 arbeitete Otto Kohlhofer im bayerischen Landwirtschaftsministerium, und als der CSU-Politiker und Dachau-Überlebende Alois Hundhammer 1959 die Führung des Hauses übernahm und von den Plänen für die Gedenkstätte erfuhr, konnte Otto Kohlhofer auch ihn von seinem Vorhaben überzeugen. Mit Rückendeckung des Ministers wurde noch im selben Jahr ein Kuratorium aus Vertretern öffentlicher Einrichtungen und Verbände gegründet, dessen Mitglieder nahezu alle aus dem Kreis der ehemals Verfolgten stammten; dieses Gremium setzte sich nun gemeinsam mit den Repräsentanten der Lagergemeinschaft und des CID für die Errichtung der KZ-Gedenkstätte Dachau ein.9 132  | Dirk Riedel

Die offizielle Eröffnung erfolgte 1965, drei Jahre später wurde das Internationale Mahnmal auf dem ehemaligen Appellplatz des Lagers fertiggestellt, das von dem jugoslawischen Künstler und Holocaust-Überlebenden Nandor Glid entworfen worden war. Doch die Enthüllung 1968 wurde von heftigen Protesten überschattet, denn das leitende Exekutivkomitee des CID unter Vorsitz des belgischen Dachau-Überlebenden, Résistance-Veteranen und NATO-Generals Albert Guérisse hatte vorgesehen, dass Militärabordnungen aus Großbritannien, Belgien und den USA an der Zeremonie teilnahmen, um den ehemaligen Häftlingen die Ehre zu erweisen. US-amerikanische und niederländische Düsenflugzeuge überflogen die Gedenkstätte. In den Augen des Exekutivkomitees standen die Soldaten in der Tradition der Befreier von 1945. Aber Münchner Studierendengruppen verurteilten den Militäraufmarsch und riefen zum Protest auf: Während der Veranstaltung demonstrierten sie gegen die Unterstützung der griechischen Militärdiktatur durch die NATO und verlangten den Abzug der US-Truppen aus Vietnam. Der Streit eskalierte, es entzündete sich eine Schlägerei zwischen Polizei, Studierenden, ehemaligen Häftlingen und anderen Veranstaltungsteilnehmer*innen.10 In einer nachträglichen Erklärung missbilligten deutsche Dachau-Überlebende zwar die Protestaktion, kritisierten aber auch den »NATO-Aufmarsch« und das »KZ-Erinnerungs-Establishment« in Verantwortung der CID-Führung.11 Auch Kohlhofer hatte das militärische Zeremoniell der Veranstaltung kritisiert. Weil er sich nicht der Linie des Exekutivkomitees beugen wollte, trat er 1969 als Präsident der Lagergemeinschaft und als deutscher Vertreter des CID zurück. Seine Nachfolge übernahm Alfred Haag, der bis 1933 als KPD-Abgeordneter dem Stuttgarter Landtag angehört hatte und unmittelbar nach der Machtübernahme von der politischen Polizei verhaftet worden war. Otto Kohlhofer blieb der KZ-Gedenkstätte Dachau auch nach seinem Rücktritt eng verbunden. Das Interesse an der Geschichte des Konzentrationslagers wuchs im Lauf der 1970er und 1980er Jahre im Kontext einer kritischeren Auseinandersetzung der bundesdeutschen Gesellschaft mit den Verbrechen des Nationalsozialismus. Die Besucher*innenzahlen stiegen auf bald 900.000 Personen pro Jahr an. Neben den beiden Gedenkstättenleiterinnen, Ruth Jakusch (bis 1975) und Barbara Distel (1975 bis 2008), die zunächst noch über das CID angestellt waren, übernahmen es Dachau-Überlebende aus München, wie Adi Maislinger, Richard Tietze und allen voran Otto Kohlhofer, die Geschichte des Ortes in Rundgängen und bei ersten Zeitzeugengesprächen zu vermitteln.

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Die Internationale Jugendbegegnung und der Förderverein Dachau Das wachsende Interesse an der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte ging unter anderem auf die bundesdeutsche Erstausstrahlung der US-Fernsehserie Holocaust im Jahr 1979 zurück, die ein enormes Echo auslöste und auch in Dachau öffentliche Debatten über die nationalsozialistischen Verbrechen und das Konzentrationslager entfacht hatte. Die Diskussionen motivierten Nikolaus Lehner, einen Holocaust-Überlebenden aus dem siebenbürgischen Sziget, der nach seiner Befreiung in der US-Zone geblieben war und mit seiner Familie in Dachau lebte, zusammen mit Johann Wallenberg, dem Direktor des dortigen Josef-Effner-Gymnasiums, einen deutsch-israelischen Austausch von Schüler*innen und Lehrer*innen zu initiieren.12 Hieraus entwickelte sich bald der Gedanke einer internationalen Jugendbegegnung in Dachau, die Idee fand weitere Unterstützer und 1983 organisierten Dachauer Jugendliche und junge Erwachsene erstmals ein Internationales Jugendbegegnungszeltlager mit mehr als 117 Teilnehmenden, zwölf Betreuer*innen sowie Rundgängen und Zeitzeugengesprächen mit den Überlebenden Otto Kohlhofer, Maislinger und Tietze: Im gegenseitigen Austausch, bei Besuchen der KZ-Gedenkstätte, in Workshops und Vorträgen näherten sich die Teilnehmenden der Geschichte des Konzentrationslagers Dachau an.13 Initiiert zunächst von Jugendlichen aus dem Umfeld der Evangelischen Jugend und den in Dachau eingesetzten Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen – Friedensdienste e. V. gelang es nach und nach, weitere Träger für die Veranstaltung zu gewinnen, während bis heute ein basisdemokratisch organisiertes Team einmal im Jahr die inhaltliche Umsetzung der zwei- bis dreiwöchigen Begegnung unter dem Motto »erinnern – verstehen – begegnen – Zukunft gestalten« verantwortet. Im Mittelpunkt stand zunächst die Idee, dass (jugendliche) Besucher*innen der KZ-Gedenkstätte Dachau durch eine ständige Einrichtung mit Seminarräumen, Workshopangeboten und erschwinglichen Unterkunftsräumen die Möglichkeit erhalten sollten, sich über einen Kurzbesuch hinaus intensiver mit der Geschichte des Konzentrationslagers zu befassen. Das Zeltlager war als Provisorium gedacht, um den Bedarf für eine dauerhafte Einrichtung zu verdeutlichen. Dabei orientierten sich die Aktivist*innen an der damals in Bau befindlichen Jugendbegegnungsstätte in Oswiecim.14 Aus der Initiative ging 1984 der Förderverein für eine Internationale Jugendbegegnungsstätte in Dachau hervor. Lehner leistete tatkräftige Unterstützung für die Initiative und den Förderverein, dem er unter anderem ein Büro in seiner Geschäftsstelle zur Verfügung stellte.15 Zahlreiche weitere Überlebende des Konzentrationslagers Dachau unterstützten das Projekt, wie Eugen Kessler, der dem kommunistischen Widerstand gegen das NS-Regime angehört hatte und 134  | Dirk Riedel

1982 die Nachfolge Haags als Präsident der Lagergemeinschaft übernahm.16 Franz Brückl erzählte als Zeitzeuge davon, wie er 1940 aus dem polnischen Posen nach Dachau verschleppt und ab 1944 als KZ-Häftling zum Bombenräumen in München eingesetzt worden war.17 1986 trat auch Max Mannheimer erstmals beim Jugendbegegnungszeltlager auf und berichtete über seine Verfolgungsgeschichte als Teil einer achtköpfigen jüdischen Familie aus dem mährischen Neutitschein, die mit Ausnahme Max Mannheimers und seines Bruders Edgar in Auschwitz ermordet worden war. An der Seite von Nikolaus Lehner wurde Max Mannheimer in den folgenden Jahren zum prominentesten Fürsprecher der Jugendbegegnung.18 Den inhaltlichen Mittelpunkt der Veranstaltung bildete stets die Auseinandersetzung mit der Geschichte des KZ Dachau. Gleichzeitig waren unter den Eingeladenen von Anfang an aber auch Zeitzeug*innen, die eine andere Verfolgungsgeschichte im Nationalsozialismus hatten oder über ihre vielfältigen Formen des Widerstands gegen das NS-Regime berichteten. Wenigstens einige von ihnen sollen hier knapp erwähnt werden: Hanna Mandel war mit ihrer Mutter, ihrer Tante und ihren sechs Geschwistern noch 1944 aus dem ungarischen Vásárosnamény nach Auschwitz deportiert worden; von der insgesamt zehnköpfigen Familie blieb sie 1945 die Einzige, die den Holocaust überlebt hatte.19 Der Münchner Sinto Hugo Höllenreiner war Überlebender des »Zigeunerlagers« von Auschwitz.20 Die Niederländerin Mirjam Ohringer konnte sich in Amsterdam vor der drohenden Deportation versteckt halten, nach der Befreiung engagierte sie sich für die Friedensbewegung. Zur Jugendbegegnung reiste sie jährlich zusammen mit ihrer Freundin Els Lasker-Karstanje an, deren Vater im KZ Dachau ermordet worden war.21 Marie-Luise Schultze-Jahn gehörte zum Widerstandskreis der »Weißen Rose« und war 1943 zu lebenslanger Haft im Gefängnis Aichach verurteilt worden.22 Karin Friedrich unterstützte als jugendliche Aktivistin ihre Mutter Ruth Andreas-Friedrich, die im Mittelpunkt der Clique »Onkel Emil« stand: ein Berliner Kreis von 20 Personen, die Jüdinnen und Juden halfen, versteckt vor der Gestapo im Untergrund zu überleben.23 Die Augsburgerin Anna Pröll, Überlebende der Frauenkonzentrationslager Moringen und Ravensbrück, berichtete bei der Jugendbegegnung regelmäßig über ihr Engagement in der kommunistischen Jugend und den Widerstandskampf gegen die Nationalsozialisten in ihrer Heimatstadt schon während der Weimarer Republik.24 Jährlich besuchten auch Centa Herker-Baimler und Lina Haag die Dachauer Jugendbegegnung. Die beiden Kommunistinnen mussten selbst über vier Jahre in Haft verbringen, während ihre Ehemänner, der Reichstagsabgeordnete Hans Beimler und der Landtagsabgeordnete Alfred Haag, im Konzentrationslager Dachau gefangen waren. Lina Haag setzte sich nach ihrer eigenen Haftentlassung hartnäckig bei der Gestapo und Heinrich Himmler Ein Ort der Begegnung | 135

für die Freilassung ihres Ehemannes ein.25 Hans Beimler war 1933 die Flucht aus dem Konzentrationslager Dachau gelungen.26 Auch Ernst Grube tritt seit 1984 jährlich bei der Internationalen Jugendbegegnung auf und berichtet über die Verfolgungsgeschichte seiner Familie im nationalsozialistischen München. Zusammen mit seinem Bruder Werner hatte er in Dachau schon 1980 erstmals als Zeitzeuge in der Evangelischen Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte gesprochen. 1984 war er einer der Mitbegründer des Fördervereins für eine Internationale Jugendbegegnungsstätte, seit 1988 gehört er dem Vereinsvorstand an und seit 1992 fungiert er als stellvertretender Vorsitzender des Fördervereins. Trotz der zahlreichen Unterstützer*innen stieß die Idee der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Dachau weiterhin auf massiven Widerstand. 1986 ließ der zweite Bürgermeister Georg Englhard bei einer politischen Rede im Dachauer Volksfestzelt per Handzeichen über die Initiative abstimmen; erwartungsgemäß meldeten sich nur sehr wenige Befürworter*innen einer Jugendbegegnung und Englhard erklärte, man wisse ja, wer die Unterstützer*innen seien. In einem rückblickenden Interview von 2012 schilderte auch Grube die aggressive Vehemenz, die dem Förderverein damals entgegenschlug. Zum Beleg zitierte er den früheren CSU-Fraktionsvorsitzenden des Dachauer Stadtrates, Manfred Probst, der 1987 davon gesprochen hatte, »bis zum letzten Blutstropfen« gegen die Errichtung einer Jugendbegegnungsstätte kämpfen zu wollen.27 Weil es an einem festen Haus fehlte, fand die Internationale Jugendbegegnung einmal jährlich an unterschiedlichen Zeltplätzen in Dachau oder Karlsfeld statt. Grube erinnert sich an die zähen Verhandlungen mit der Stadt, wenn diese den Initiator*innen kein Gelände zur Verfügung stellen wollte. Auf Bühnen aus Paletten und LKW-Ladeflächen hielten Überlebende, aber auch Gedenkstättenleiterin Barbara Distel und andere prominente Gäste wie Bundesfamilien- und -jugend­ ministerin Angela Merkel (1992) ihre Vorträge. Seminare wurden unter freiem Himmel oder in Zelten durchgeführt. Nur sehr zögerlich näherten sich die Verantwortlichen in der Stadt Dachau, im Landkreis und in Bayern der Idee eines Begegnungsortes an. Vom Förderverein erstritten und moderiert durch den Bayerischen Jugendring entschieden sie sich 1997 für einen vorsichtigen Kompromiss: Am Rande eines Wohngebietes wurde ein Jugendgästehaus erbaut, das dem Jugendherbergswerk angegliedert war, aber auch eine pädagogische Leitung haben sollte. Erst im Lauf der vergangenen Jahrzehnte wurde das Haus schließlich mit weiteren pädagogischen Stellen ausgestattet, so dass es sich der ursprünglichen Idee einer Jugendbegegnungsstätte langsam annäherte. Unabhängig vom Jugendherbergswerk liegt die inhaltliche Aufgabe der Geschichtsvermittlung inzwischen beim Max-Mannheimer136  | Dirk Riedel

zentrum.28 Seit 2012 ist ein Pavillon, der ebenfalls zum Jugendgästehaus gehört und ursprünglich als »Raum der Stille« vorgesehen war, nach Nikolaus Lehner benannt. 2016 wurde die Einrichtung als Ganzes in »Max-Mannheimer-Haus« umbenannt. Diese Namensgebung war eine Verbeugung vor dem Engagement der beiden Initiatoren der Jugendbegegnung und betont zugleich den inhaltlichen Anspruch, der mit der Einrichtung verbunden ist. Das Zeltlager fand 1997 zum letzten Mal statt, seit 1998 treffen sich die Teilnehmenden der Internationalen Jugendbegegnung im Dachauer Jugendgästehaus. Die Gespräche mit Zeitzeug*innen wie Ernst Grube bilden bis heute einen wichtigen Schwerpunkt des Treffens. Viele Jahre begleitete auch Abba Naor, jüdischer Überlebender der Kauferinger Außenlager des KZ Dachau, eine Gruppe israelischer Schüler*innen zur Dachauer Jugendbegegnung. Das ursprüngliche Hauptziel des Fördervereins für eine Internationale Jugendbegegnungsstätte in Dachau wurde also erreicht. Doch mit der politischen Öffnung der Ostblockstaaten und dem sich anbahnenden Zusammenbruch der Sowjetunion rückte Anfang der 1990er Jahre ein weiteres Thema ins Zentrum der Vereinsaktivitäten: Das Engagement für die Dachau-Überlebenden aus der Ukraine, Russland und Belarus.

Die Unterstützung ehemaliger sowjetischer Dachau-Häftlinge Schon seit 1990 mehrten sich die Zuschriften ehemaliger sowjetischer Häftlinge an die KZ-Gedenkstätte Dachau. Ihr Schicksal war während der Jahrzehnte des Kalten Krieges von der historischen Forschung, aber auch von Politik und Gesellschaft nahezu völlig ignoriert worden.29 Dabei bildeten die Sowjetbürger (darunter Ukrainer ebenso wie Russen und Belarussen) mit 25.000 Personen unter den über 200.000 registrierten Häftlingen des Dachauer Lagerkomplexes eine der größten nationalen Häftlingsgruppen. Die meisten von ihnen waren – oft noch als Jugendliche oder junge Männer – zur Zwangsarbeit in das Deutsche Reich verschleppt worden, aber es befanden sich auch viele Kriegsgefangene unter den sowjetischen Dachau-Häftlingen. Außerdem waren mehr als 4000 Rotarmisten zwischen 1941 und 1942 erst gar nicht im KZ Dachau als Häftlinge registriert worden, weil die Lager-SS sie unmittelbar nach ihrer Ankunft in Absprache mit Gestapo und Wehrmacht auf dem Dachauer »SS-Schießplatz Hebertshausen« ermordete.30 Zahlreiche Überlebende, die nach Kriegsende 1945 in ihre Heimat zurückgekehrt waren, wurden erneut diskriminiert oder verfolgt, weil sowjetische Behörden sie wegen ihrer Zwangsarbeit im Deutschen Reich pauschal der Kollaboration beschuldigten. Erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erhielten sie die Möglichkeit, über die Geschichte ihrer Verfolgung zu sprechen und in HoffEin Ort der Begegnung | 137 https://doi.org/10.5771/9783835349216

nung auf Entschädigungsleistungen einen Nachweis ihrer Haft im Konzentrationslager Dachau anzufordern. Einige von ihnen äußerten in ihren Schreiben an die KZ-Gedenkstätte auch den Wunsch, den Ort ihrer Haft und ihrer Leiden nach so vielen Jahren noch einmal selbstbestimmt und als freie Menschen besuchen zu dürfen. Arkadij Petrovic Poljan, der 1942 aus dem ukrainischen Sapo­ rischja in das Konzentrationslager Dachau verschleppt worden war, erklärte, er sei seinen »toten Kameraden gegenüber verpflichtet«, sich vor ihrem »brüder­ lichen Grab zu verbeugen«.31 In einem gemeinsamen Projekt beschlossen KZ-Gedenkstätte und Förderverein, im Jahr 1992 erstmals elf Überlebende aus der ehemaligen Sowjetunion zum Jahrestag der Befreiung nach Dachau einzuladen. Es erforderte enormes ehrenamtliches Engagement, um den Besuch tatsächlich in die Tat umzusetzen. Hieraus entwickelte sich ein jährliches Einladungsprojekt, das vor allem auch einen humanitären Schwerpunkt hat. Denn es stellte sich heraus, dass viele der Überlebenden auch noch in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion unter schwierigsten Bedingungen leben mussten. Die Besuchsprogramme enthielten daher neben der Teilnahme an den offiziellen Gedenkakten, Besuchen im Dachauer Rathaus und im Landtag auch konkrete Hilfsmaßnahmen. So erklärten sich Optiker aus Dachau bereit, kostenlose Brillen oder Hörgeräte anzufertigen, es standen Arztbesuche auf dem Programm, Apotheken spendeten Medikamente und die Überlebenden erhielten Zugang zur Kleiderkammer des Dachauer Roten Kreuzes. Ein wesentlicher Bestandteil der Programme war außerdem die persönliche Begegnung zwischen den ehemaligen Häftlingen und Unterstützer*innen des Fördervereins.32 Auch für Ernst Grube war und ist das Treffen mit den Überlebenden aus der ehemaligen Sowjetunion von besonderer Bedeutung. Er legt großen Wert darauf, die ehemaligen Häftlinge stets persönlich begrüßen zu können und sich am Besuchsprogramm zu beteiligen. Seine Verbundenheit mit den Überlebenden aus der Ukraine, Belarus und Russland ist sicherlich auch durch seine Erfahrungen und die Erlebnisse mit seinem kommunistischen Vater beeinflusst worden. Im Interview mit Jutta Neupert spricht Grube über die ständige Angst während der NS-Zeit, dass er, seine Geschwister und seine Mutter wegen ihrer jüdischen Herkunft doch noch deportiert werden könnten, und folgert: »Die Hoffnung war für uns die Sowjetunion. Auf sie setzten wir alle unsere Erwartungen. Das war auch der Hintergrund, warum sich sowohl vom Denken her als auch ganz konkret eine Nähe zu den sowjetischen Zwangsarbeitern ergeben hat.« Ernst Grube schildert ein konkretes Ereignis in der Münchner Innenstadt aus dem Jahr 1943. Die Familie war damals in der Sonnenstraße untergekommen, in deren Nähe sich eine große Baustelle befand, auf der die NS-Behörden sowjetische Zwangsarbeiter einsetzten. Grube erinnert sich: »Da sind wir öfter hingegangen. 138  | Dirk Riedel

Der Vater hat dann jedes Mal zu mir gesagt: ›Bub, heute bringen wir ihnen Brot!‹ Wir hatten ja selbst nicht viel. Aber dass wir ihnen Brot bringen, war selbstverständlich, und es hat auch immer geklappt. Der Vater und ich hatten dann immer so ein gutes Gefühl: Jetzt haben wir wieder etwas Gescheites gemacht. Und das hat uns sehr verbunden.«33 Die regelmäßige Einladung der Überlebenden aus der Ukraine, Russland und Belarus wirkt sich auch auf die historische Darstellung in der KZ-Gedenkstätte Dachau aus. So erklärten sich viele der Überlebenden aus der ehemaligen Sowjetunion dazu bereit, während ihrer mehrtägigen Besuche in Interviews über ihre Lebensgeschichte und ihre Hafterfahrungen zu sprechen. Bislang war die Geschichte der »Russen« im KZ Dachau, wie die Sowjetbürger im Lagerjargon pauschal bezeichnet wurden, nur aus der Sicht der anderen nationalen Häftlingsgruppen überliefert gewesen. Doch die umfassenden Videodokumentationen fügten dieser Außenperspektive seit Mitte der 1990er Jahre wichtige neue Aspekte hinzu.34

Fazit Das Beispiel des Einladungsprojektes verdeutlicht, dass sich das Wissen um den historischen Ort des Konzentrationslagers Dachau durch ein Engagement verändern konnte, das in erster Linie humanitäre Ursprünge hatte. Während das Einladungsprojekt dazu beitrug, das Bewusstsein für die Geschichte der sowjetischen KZ-Häftlinge zu erweitern, weist die Entwicklung im Fall der ehemaligen politischen Gefangenen aus der Frühphase des Konzentrationslagers, die die Entstehung der KZ-Gedenkstätte Dachau noch entscheidend mitprägten, in die umgekehrte Richtung: Nur durch ihr persönliches Engagement konnten sie die Erinnerung insbesondere an den Widerstand aus der Arbeiterbewegung und politischen Linken gegen das NS-Regime, aber auch an die deutschen NS-Gegner im Allgemeinen wachhalten. Doch die Zeug*innen aus dieser Phase sind mittlerweile gestorben, Eugen Kessler war der letzte Präsident der Lagergemeinschaft Dachau, der noch persönlich über den politischen Widerstand in der Anfangsphase des NS-Regimes berichten konnte. Zu seinem Nachfolger wurde 1990 Max Mannheimer gewählt. Stellvertretender Präsident der Lagergemeinschaft Dachau war in dieser Zeit Nikolaus Lehner. Unabhängig von ihrer persönlichen Verfolgungsgeschichte sahen sich beide in der Verantwortung für alle Überlebenden. Max Mannheimer, der zugleich auch Vizepräsident des Internationalen Dachau Komitees war, fand große Anerkennung für den Respekt und die Offenheit, mit der er auch die bislang »vergessenen« Opfergruppen ansprach. Unter anderem setzte er sich 1995 dafür ein, dass ein Ein Ort der Begegnung | 139

sa-Winkel-Gedenkstein der Münchner Schwulengruppe zur Erinnerung an die homosexuellen Opfer des Konzentrationslagers Dachau im Museum der KZ-Gedenkstätte aufgestellt werden konnte, nachdem dies zehn Jahre an Vorbehalten vor allem bei CID-Vertretern gescheitert war.35 Nach dem Tod von Nikolaus Lehner 2005 übernahm Ernst Grube den Stellvertreterposten in der Lagergemeinschaft Dachau. Und als Max Mannheimer 2016 starb, wurde er auch zum Präsidenten der Vereinigung gewählt. Damit wird die Lagergemeinschaft erstmals von einem Vorsitzenden geleitet, der nicht selbst Überlebender des Konzentrationslagers Dachau war, aber Neffe eines solchen: Grubes Onkel Siegfried Süß-Schülein war zusammen mit seiner Familie nach Kaunas deportiert worden. Während die SS alle anderen Familienangehörigen unmittelbar nach der Ankunft ermordete, wurde Süß-Schülein zur Zwangsarbeit bestimmt und am 1. August 1944 in eines der Kauferinger Außenlager des Konzentrationslagers Dachau verschleppt. Dort starb er am 19. Januar 1945.36 Wie Max Mannheimer sieht sich auch Ernst Grube in der Verantwortung, für die Belange der Überlebenden und ihrer Familien einzutreten. Mit seiner eigenen Verfolgungsgeschichte, als »Geltungsjude« wie die Nationalsozialisten ihn wegen seiner jüdischen Mutter und des nicht-jüdischen Vaters nannten, und mit seiner engen Verbundenheit zum kommunistischen Widerstand gegen das NS-Regime ist er prädestiniert, die Brücke zu seinen unmittelbaren Vorgängern und zu den ursprünglichen Begründern der Lagergemeinschaft zu schlagen. Bis heute sucht er aber auch den Dialog mit jungen Menschen, sei es als Zeitzeuge oder als Mitglied des Dachauer Runden Tisches gegen Rassismus. Seine Mitstreiter*innen ermutigt er, für Menschenrechte einzustehen und sich gegen Rassismus und Ausgrenzung zu engagieren.

Anmerkungen 1  Jutta Neupert im Gespräch mit Ernst Grube: Eine Verfolgungserfahrung in Deutschland. Ernst Grube, Kommunist und Jude, in: Sybille Steinbacher (Hg.), Transit US-Zone. Überlebende des Holocaust im Bayern der Nachkriegszeit, Göttingen 2013, 216. 2  Siehe ausführlich hierzu den Beitrag von Friedbert Mühldorfer in diesem Band. 3  Christa Willmitzer / Peter Willmitzer: Deckname »Betti Gerber«. Vom Widerstand zur KZ-Gedenkstätte Dachau. Otto Kohlhofer

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1915–1988, München 2006, 21–80. Vgl. Barbara Distel: Münchner Kommunisten im Konzentrationslager Dachau, in: Dachauer Hefte 2009 /25, 124 f. 4  Vgl. Willmitzer 2006, 91 f. 5  Süddeutsche Zeitung, 11. 8. 1955. 6  Vgl. Barbara Distel: Das Konzentra­tions­ lager Dachau nach der Befreiung. Sechzig Jahre Nachkriegsgeschichte, in: Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen

Konzentrationslager, Band 2, München 2005, 275. 7  Uta Titze-Stecher / Peter Stecher: Das Wohnlager Dachau-Ost. Keimzelle eines neuen Stadtteils, in: Norbert Göttler (Hg.), Nach der »Stunde Null«. Stadt und Landkreis Dachau 1945 bis 1949, München 2008, 82–97. 8  Vgl. Willmitzer 2009, 102 f. 9  Vgl. Willmitzer 2009, 103–114. Vgl. Distel 2009, 278 f. 10  Vgl. Andrea Riedle / Lukas Schretter (Hg.): Das Internationale Mahnmal von Nandor Glid. Idee, Wettbewerbe, Realisierung. Katalog zur Sonderausstellung, hg. im Auftrag der KZ-Gedenkstätte Dachau, Berlin 2015, 115–119. 11  Zitiert nach: Harold Marcuse: Das ehemalige Konzentrationslager Dachau. Der mühevolle Weg zur Gedenkstätte 1945–1968, in: Dachauer Hefte, 1990 /6, 204 f. 12  Vgl. Barbara Distel: Erinnern statt Verdrängen. Nikolaus Lehners Kampf in Dachau, in: Sybille Steinbacher (Hg.), Transit US-Zone. Überlebende des Holocaust im Bayern der Nachkriegszeit, Göttingen 2013, 50. 13  Vgl. Frank Striegler: Das erste Zeltlager 1983, in: 20 Jahre Geschichte leben. Festschrift zur zwanzigsten Internationalen Jugendbegegnung, Dachau 2002, 13–16. 14  Vgl. Agnes Becker / Gisela Joelsen / Ralph Kurtze: Die Internationale Jugendbegegnung Dachau. Erinnerung und Begegnen am historischen Ort, in: Bernhard Schoßig (Hg.), Historisch-politische Bildung und Gedenkstättenarbeit als Aufgabe der Jugendarbeit in Bayern. Erinnerungen  – Projekte  – Konzepte, München 2011, 64–74. 15  Vgl. Distel 2013, 46. 16  Vgl. Eugen Kessler: Bericht über die KZZeit 1935–1937, Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau (DaA) 21.374. 17  Vgl. Miljan Jekic / Egor Trawkin: Franz Brückl. Zeitzeuge, Erinnerungsakteur, Überlebender, URL: http://www.muenchner-leerstellen.de/archives/528 [gelesen am 7. 8. 2022]. 18  Vgl. Max Mannheimer: Theresienstadt –

Auschwitz – Warschau – Dachau. Erinnerungen, in: Dachauer Hefte, 1985 /1, 88–128. 19  Vgl. Hanna Mandel: »Mach weiter, es lohnt sich«. Von den Schwierigkeiten, Auschwitz zu überleben, in: Dachauer Hefte, 1993 /9, 128–147. Vgl. Hanna Mandel: Beim Gehen entsteht der Weg. Gespräche über das Leben vor und nach Auschwitz, aufgezeichnet von Norbert Reck, Hamburg 2008. 20  Vgl. Matthias Bahr / Peter Poth (Hg.): Hugo Höllenreiner. Das Zeugnis eines überlebenden Sinto und seine Perspektiven für eine bildungssensible Erinnerungskultur, Stuttgart 2014. 21  Vgl. Mirjam Ohringer, URL: https://www. kz-gedenkstaette-dachau.de/nachrichten/­ mirjam-ohringer/ [gelesen am 7. 8. 2022]. 22  Vgl. Marie-Luise Schultze-Jahn: »… und ihr Geist lebt trotzdem weiter!« Widerstand im Zeichen der Weißen Rose, Berlin 2003. 23  Karin Friedrich: Zeitfunken. Biographie einer Familie, München 2000. Vgl. Wolfgang Benz: Protest und Menschlichkeit. Die Widerstandsgruppe »Onkel Emil« im Nationalsozialismus, Stuttgart 2020. 24  Vgl. Josef Proll: »Anna, ich hab Angst um Dich«, in: URL: https://www.anna-film.de/ [gelesen am 7. 8. 2022]. 25  Vgl. Lina Haag: Eine Handvoll Staub. Widerstand einer Frau 1933–1945, Frankfurt a. M. 1995. 26  Hans Beimler: Im Mörderlager Dachau, herausgegeben, kommentiert und um eine biographische Skizze ergänzt von Friedbert Mühldorfer, Köln 2012. 27  »Eine Verfolgungserfahrung in Deutschland«, Ernst Grube, Kommunist und Jude, im Gespräch mit der Filmemacherin und Historikerin Jutta Neupert, in: Steinbacher 2013, 207. Vgl. Harold Marcuse: Legacies of Dachau. The Uses and Abuses of a Concentration Camp 1933–2001, Cambridge 2001, 385. 28  Vgl. Nina Ritz: Internationales Jugendgästehaus Dachau  – Max-Mannheimer-

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dien­zentrum. Ein Jugendbildungs- und Begegnungsstätte, in: Schoßig 2011, 44–63. 29  Es gab auch keinen eigenen Verband der sowjetischen Dachau-Überlebenden, sondern nur einen allgemeinen Zusammenschluss aller sowjetischen NS-Verfolgter, die als assoziierte Mitglieder im CID vertreten waren. Vgl. Barbara Distel: Sowjetische KZ-Häftlinge. Begegnung mit einer lange vergessenen Häftlingsgruppe, in: Jürgen Zarusky / Sybille Steinbacher (Hg.), Der deutsch-sowjetische Krieg 1941–1945. Geschichte und Erinnerung, Göttingen 2020, 202. 30  Gabriele Hammermann / Andrea Riedle (Hg.): Der Massenmord an den sowjetischen Kriegsgefangenen auf dem SS-Schießpatz Hebertshausen 1941–1942, Göttingen 2020. 31  Arkadij Petrovic Poljan an KZ-Gedenkstätte Dachau, zitiert nach Distel 2020, 203. Vgl. Haftunterlagen Konzentrationslager Dachau 80587, in: International Tracing Service (ITS), 1.1.6. Dachau concentration camp; Barbara Distel / Jürgen Zarusky: Dreifach ge-

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schlagen. Begegnung mit sowjetischen Überlebenden, in: Dachauer Hefte, 1992 /8, 88–102. 32  Vgl. Distel 2020, 207 f. 33  Grube 2013, 208. 34  Zur Forschung über die sowjetischen Gefangenen des KZ Dachau trug insbesondere der Historiker Jürgen Zarusky bei, der auch einer der prägenden Initiatoren des Einladungsprojektes war. Vgl. Jürgen Zarusky: Sowjetische Häftlinge im KZ Dachau, in: Wolfgang Benz / Angelika Königseder (Hg.), Das Konzentrationslager Dachau. Geschichte und Wirkung nationalsozialistischer Repression, Berlin 2008, 311–325. 35  Vgl. Horst Middelhoff: Der Stein des Anstoßes, in: Albert Knoll (Hg.), Der Rosa-Winkel-Gedenkstein. Die Erinnerung an die Homosexuellen im KZ Dachau, Kempten 2015, 62–64. 36  Vgl. Karteikarte des KZ Dachau zu Siegfried Süß-Schülein, Archiv des Internationalen Suchdienst Bad Arolsen, Signatur: 01010607 318.

Anja Ballis, Markus Gloe

»Ich möchte nicht eine Konserve werden, die auf alles eine Antwort hat« – Digitale Medienformate in der Bildungsarbeit

Digitale Medienformate in der Bildungsarbeit In absehbarer Zeit werden keine Zeitzeug*innen des Holocaust und der NS-Verbrechen mehr von Angesicht zu Angesicht über ihre Erlebnisse erzählen – Zuhörer*innen können keine Fragen mehr an sie richten. Dieser Verlust ist schon seit vielen Jahren (nicht nur) in der Bildungsarbeit ein Thema; kontinuierlich sind Versuche unternommen worden, neu entwickelte Technologien zu nutzen, um ihre Erinnerungen für zukünftige Generationen zu bewahren.1 Mit dem Begriff des ›Medienformates‹ nehmen wir dieses Zusammenspiel in den Blick: Medienformate sind sowohl Voraussetzung für das Gelingen von Kommunikation als auch deren Resultate. Sie werden in der Medienkommunikation genutzt, zugleich aber auch im Prozess der Kommunikation etabliert und gegebenenfalls modifiziert und verändert. Daher geht mit dem Medienwandel immer auch ein Formatwandel einher. Ein medienübergreifender Formatbegriff ermöglicht es, Form-, Funktions- und Inhaltsaspekte zu beschreiben und gleichzeitig die damit einhergehenden kommunikativen Praktiken der Nutzer*innen zu erfassen.2 Die vielfältigen Verflechtungen zwischen Medien- und Formatwandel lassen sich exemplarisch an der Entstehung des Visual History Archive ablesen, das im Anschluss an den Film Schindler’s List von Steven Spielberg begründet wurde. In den Jahren zwischen 1994 und 2000 sammelte und archivierte die USC Shoah Foundation die umfangreichste Sammlung von Interviews mit Überlebenden des Holocaust. Heute umfasst das Archiv über 55.000 Zeugnisse in 43 Sprachen aus 65 Ländern. Seit 2009 werden zunehmend Zeugnisse von anderen Genoziden aufgenommen und in das Archiv integriert, dessen Bestände im Zuge des medialen Wandels – von der VHS-Kassette zur Online-Plattform – nun digital zugänglich sind.3 Eine Auswahl dieser Interviews wird auf der Plattform IWitness der Stiftung für die Bildungsarbeit zur Verfügung gestellt, die sukzessive inhaltlich und medial weiterentwickelt wird. Weltweit sollen Lernende angeregt werden, mit Erzäh»Ich möchte nicht eine Konserve werden, die auf alles eine Antwort hat« | 143 https://doi.org/10.5771/9783835349216

lungen von Überlebenden des Genozids zu arbeiten und aus den Erfahrungen für ihre Gegenwart zu lernen. Diese Zeugnisse bilden den Kern von IWitness, indem sie digitales Storytelling für Bildungsprozesse erschließen.4 Über mobile Endgeräte wird ein freier Zugang zu Inhalten und damit verbundenen multimedialen Lernaktivitäten angeboten. Eigenen Angaben der USC Shoah Foundation zufolge soll mit der Plattform ein Lernraum geschaffen werden, der Berichte und Erzählungen von Überlebenden mit dem Ausbau digitaler und für das 21. Jahrhundert relevanter Kompetenzen verbindet. Solchermaßen soll das Wissen der Schüler*innen über das Thema Holocaust – wie auch anderer Genozide – angereichert und gleichermaßen ihre Fähigkeiten zum kritischen Denken sowie ihr Einfühlungsvermögen gestärkt werden. Mit diesen Kompetenzen ausgestattet – so die Zielsetzung – werden Lernende zu verantwortungsvollem, gesellschaftlichem Handeln befähigt.5 Des Weiteren ist auf die neuere Entwicklung der IWalks hinzuweisen. Überlebende des Holocaust werden an Orten ihrer Inhaftierung und Deportation in Form eines 360-Grad-Oral-History-Interviews befragt. Ort, Zeug*innenschaft und Erinnerungskultur werden verbunden; gleichzeitig setzen sich solche Aufnahmen von Interviews des Visual History Archive ab, die die Zeitzeug*innen in ihrer privaten Umgebung zeigen. Damit gehen Überlegungen zu einer location-based testimony pedagogy einher, um Ort und Zeugnis aufeinander zu beziehen und daraus Fragestellungen für das Lernen zu entwickeln.6 An diesen Initiativen lässt sich ablesen, welcher Stellenwert den Berichten von Überlebenden, insbesondere in den USA, beigemessen wird. Ein weiteres Medien­ format sind interaktive digitale Zeugnisse, die von der USC Shoah Foundation und den britischen Forever Holdings entwickelt werden.7 Grundlegend für diese Form des Interviews sind Fragen, die den Überlebenden gestellt, filmisch aufgezeichnet und mit Spracherkennungssystemen erschlossen werden. Nutzer*innen können ihren eigenen Fragen nachgehen und müssen nicht, wie bei bisherigen Interviews mit Überlebenden, linear den Fragen eines Interviewenden folgen. Insbesondere aus der Perspektive der Vermittlung ergeben sich vielfältige Fragestellungen, die um das Zusammenspiel von Zeug*innenschaft und Rezipient*innen im Spiegel des Medienformates kreisen. So arbeitet seit Mitte 2018 das inter- und transdisziplinäre Projekt Lernen mit digitalen Zeugnissen (LediZ) an der Ludwig-Maximi­ lians-­Universität München daran, interaktive digitale Zeugnisse in deutscher Sprache zu entwickeln und zu erforschen.8 Während der Corona-Pandemie zeichnete sich eine neue Möglichkeit der digitalen Weitergabe von Erinnerungen ab: Überlebende des Holocaust, wie auch Institutionen, haben damit begonnen, auf Social-Media-Plattformen ihre Erzählungen zu teilen. Exemplarisch ist die Aktivität Lily Eberts und ihres Urenkels Dov Forman zu nennen, die auf der Plattform TikTok 1,9 Millionen Follower haben 144  | Anja Ballis, Markus Gloe

und mit diesen in vielfältiger Weise interagieren. Die Nutzer*innen erleben Lily Ebert in verschiedenen Alltagssituationen und können Fragen stellen, die sie regelmäßig beantwortet. Im Gegenzug können die Nutzer*innen ihre Eindrücke wiedergeben, mit Likes, durch Teilen, in Kommentaren sowie mit eigenen Videos, in denen sie Elemente von Lilys Videos verarbeiten (›Stitch‹) oder ihre Reaktionen auf Lilys Video festhalten (›Duet‹).9 Seit Kurzem finden nun auch volumetrische Videos für die Aufzeichnung von Interviews mit Überlebenden des Holocaust Verwendung. Im Rahmen eines Projektes an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf werden seit Oktober 2021 Interviews mit Überlebenden des Holocaust geführt, die im Babelsberger Volucap Studio aufgenommen werden. Ziel des Projekts ist es, ein volumetrisches Zeitzeug*innen-Archiv anzulegen. Die mit Hilfe der Technologie des volumetrischen Videos ermöglichten dreidimensionalen »Abbilder« können für Verbindungen mit zukünftigen digitalen Medien, wie Virtual Reality Experiences (VR-Experiences), in Forschung und Lehre genutzt werden.10 Ein ähnliches Vorhaben, Ernst Grube – Das Vermächtnis, ist im Jahr 2019 vom Fraunhofer-Institut für Nachrichtentechnik, dem Heinrich-Hertz-Institut (HHI) und der Filmgesellschaft UFA GmbH initiiert worden. (Vergleiche hierzu den Beitrag von Oliver Schreer in diesem Band.) Basierend auf einem volumetrischen Video wurde ein Virtual Reality-Erlebnis entwickelt, das es Nutzer*innen ermöglicht, an der Erzählung von Ernst Grube teilzuhaben. Im volumetrischen Studio der Firma Volucap in Potsdam-Babelsberg wurden die Erzählungen von Ernst Grube mit 16 Kamerapaaren aufgenommen.11 Das durch komplexe Videobearbeitung entstehende dreidimensionale Bild des Zeitzeugen wird in einem weiteren Schritt in eine digital entwickelte Umgebung integriert. Eine Szene aus dieser Virtual Experience wurde im Rahmen der Sonderausstellung Das Ende der Zeitzeugenschaft im NS-Dokumentationszentrum München zwischen Juni und November 2021 erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Interessierte Besucher*innen konnten hier einen Ausschnitt des volumetrischen Zeugnisses betreten und betrachten. In diesem Beitrag wenden wir uns exemplarisch der VR-Experience mit volumetrischem Video als neuem Medienformat der Erinnerung zu. Zunächst wird die Szene näher beschrieben, die im NS-Dokumentationszentrum gezeigt wurde und den Ausgangspunkt einer explorativen Erhebung bildete. Die Ergebnisse dieser Rezeptionsstudie werden anschließend dargestellt und zwei zentrale Kategorien herausgearbeitet. Der Beitrag wird beschlossen mit einem didaktischen Dreischritt für die Vermittlungsarbeit, wobei auch die Perspektive Ernst Grubes Berücksichtigung findet. In einem Interview, bei dem seine Lebensgefährtin Helga Hanusa und Projektmitglieder anwesend waren, verwies Ernst Grube dezidiert auf seine Position: »Ich möchte nicht eine Konserve werden, die auf alles eine Antwort hat.«12 »Ich möchte nicht eine Konserve werden, die auf alles eine Antwort hat« | 145

Die Szene »Kinderheim« der VR-Experience Ernst Grube – Das Vermächtnis In fünf chronologisch geordneten Episoden erzählt der Überlebende der NS-Verfolgung über die Zeit zwischen 1938 und 1945: Er berichtet über die Situation seiner Familie (Szene 1), vom Leben im Kinderheim zwischen 1938 und 1942 (Szene 2), über die Lager in den Münchner Stadtteilen Milbertshofen und Berg am Laim (Szene 3), von der Deportation in das KZ Theresienstadt (Szene 4) sowie über das Leben in Theresienstadt und die Rückkehr nach München (Szene 5). Die Länge der einzelnen Szenen beträgt acht bis zehn Minuten. Während der Ausstellung im NS-Dokumentationszentrum konnten Besucher*innen die Szene im Kinderheim »begehen«. Setzen die Nutzer*innen die VRBrille auf, so finden sie sich im Garten des Kinderheims wieder und stoßen auf Ernst Grube und einen jungen Mann, beide in Lebensgröße und dreidimensional. Letzterer steht dem Zeitzeugen gegenüber und stellt ihm Fragen beziehungsweise äußert sich während des Gesprächs unterstützend. Nach Angaben der Projektleitung verkörpert er stellvertretend die junge, nachfolgende Generation. Der Proof of Concept, der im NS-Dokumentationszentrum die Machbarkeit der Idee veranschaulichen sollte, umfasst einen dreiminütigen Ausschnitt der Kinderheim-Szene. Diese Szene wird durch folgende Frage des jungen Mannes, Phil Carstensen, eingeleitet: »Und wie war das für dich so in dem Heim? War es für dich ein schlimmer Ort […]?«13 In seiner Antwort hebt Ernst Grube hervor, dass für seine Geschwister und ihn das Heim eine wichtige Rolle spielte: Zum einen erlebte er zum ersten Mal jüdisches Leben, da die Kinder in ihrem Elternhaus nicht religiös erzogen wurden. Zum anderen konnte er im Alltag die Gemeinschaft mit anderen Kindern erfahren. Auf diese positive Schilderung seines Lebens im Heim, das er als »Refugium« bezeichnet, folgt eine Darstellung der Zunahme des öffentlichen Drucks auf die jüdische Gemeinschaft: Verschärft durch die Ereignisse des 9. November 1938 erlebte er als Kind Ausgrenzung und Demütigungen außerhalb des Heimes: »Wir haben dann von außen her die Nachbarskinder […], die teilweise in unserem Alter waren, teilweise älter, die mitbekommen haben, dass in diesem Haus Juden wohnen. Und die haben uns dann, ja, wenn wir das Heim verlassen haben, ja, als Judensäue betitelt, haben uns angespuckt, haben uns verspottet, ja.«14 Das Gespräch ist eingebettet in eine vielfältig gestaltete Umgebung, die auf unterschiedliche Aspekte der Erzählung Bezug nimmt: Ernst Grube und der junge Mann stehen im Garten des Waisenhauses, vor einem festlich gedeckten Tisch mit Kerzenleuchtern. Im Gras liegt Spielzeug – ein Schaukelpferd und ein Ball –, was auf Kinder in der Umgebung schließen lässt; die Fassade des Waisenhauses ist abgebildet, es kann nicht betreten werden. Im Hintergrund dieser idyllischen Szenerie laufen auf zwei Bildschirmen Videos ohne Ton in einer Endlosschleife, 146  | Anja Ballis, Markus Gloe

auf denen Nationalsozialisten vor Hakenkreuzfahnen marschieren, Menschenmassen jubeln, Bücher verbrannt werden, Nationalsozialisten eine Tür aufbrechen und Adolf Hitler zu den Massen spricht. Der Klangraum ist mit einer doppelten Tonspur belegt: Neben der Erzählung Ernst Grubes hören Nutzer*innen im Hintergrund Klezmer-Musik. Im Mittelpunkt der VR-Experience steht das volumetrische Video der beiden Gesprächspartner. Nutzer*innen können diesem Video folgen und sich dabei den beiden Personen räumlich nähern, jedoch ohne zwischen sie treten und Blickkontakt zu Ernst Grube und dem jungen Mann herstellen zu können. In ihren Bewegungen im Raum sind die Nutzer*innen frei; sie können sich den Bildschirmen ebenso zuwenden wie der Fassade des Waisenhauses und den Gegenständen – Tisch, Spielzeug – im Garten. Begrenzt wird ihr Aktionsradius durch ein eingeblendetes Gitternetz.

Empirische Exploration der VR-Experience mit Studierenden Die dreiminütige Szene bildet den Ausgangspunkt für eine explorative Erhebung zur Rezeption für eine Befragung unter Besucher*innen über dieses neue Format der Erinnerung. Aufgrund der eingeschränkten Möglichkeiten eines Besuchs des NS-Dokumentationszentrums während der Corona-Pandemie wählten wir ein qualitatives Studiendesign. In einem ersten Schritt führten Mitarbeitende ethnographische Studien durch (September bis Oktober 2021), um einen Eindruck vom Verhalten der Besucher*innen im Raum während der Nutzung der VR-Erfahrung zu erhalten. Sie befassten sich mit dem Zusammenspiel von technischen Hilfestellungen durch Mitarbeiter*innen vor Ort, dem Interesse von Besucher*innen und ihrem Aktionsradius im Raum. Darauf aufbauend wurde – in einem zweiten Schritt – ein Leitfaden für Interviews entwickelt, um die Wahrnehmung von Nutzer*innen zu erforschen.15 Die Fragen drehten sich um die Bewegung und die körperlichen Reaktionen im Raum sowie um die Gesprächssituation zwischen den beiden Männern. Von besonderem Interesse waren die in die Umgebung integrierten Medien (Videos, Musik) und ihr Einfluss auf die Wahrnehmung der Szene. Da die Funktionalität einen nicht unerheblichen Einfluss auf das Erleben nimmt, bewegten sich einige Fragen um technische Aspekte. Insgesamt wurden zehn Lehramtsstudierende im Alter zwischen 20 und 24 Jahren unmittelbar nach der Erfahurng der Präsentation auf freiwilliger Basis befragt. Alle Interviewten nahmen außerdem an einem Seminar zu Holocaust Education an der LMU München teil und verfügten über fachliches Vorwissen. Da »Ich möchte nicht eine Konserve werden, die auf alles eine Antwort hat« | 147

Lehramtsstudierende als Multiplikator*innen der Erinnerungsarbeit sowie als Multiplikator*innen von Medienkompetenz aufgefasst werden, ist diese Gruppe von besonderem Interesse.16 Die Interviews wurden aufgezeichnet und transkribiert.17 Als zentrale Kategorie, die die Wahrnehmung der Studierenden bestimmte, kann wenig Vorerfahrung mit VR-Anwendungen herausgearbeitet werden. Demzufolge konnten die Interviewten nicht immer einschätzen, worauf technische Schwierigkeiten zurückzuführen waren. Alle Teilnehmenden der Studie berichteten, dass sie noch nie eine VR-Brille aufgesetzt hatten. Zwei Studierende gaben an, sich nicht viel bewegt zu haben, weil sie Angst vor einem Zusammenstoß mit anderen Museumsbesucher*innen gehabt hätten, oder fürchteten Schwindel zu empfinden, wenn sie sich vorwärtsbewegen würden. Im Gegensatz dazu äußerte eine Studentin, dass sie während ihrer VR-Erfahrung vergessen hatte, dass sie im NS-Dokumentationszentrum war. Die Teilnehmenden mussten sich erst einmal im Raum orientieren, was durchaus zu Lasten des Gehörten gehen konnte: »Aber dadurch, dass diese ganze Erfahrung mit der VR-Brille neu war, war man sehr beschäftigt damit einfach ’rumzuschauen und einfach wahrzunehmen, wie die Eindrücke sind mit der Brille. Und deswegen konnte man sich, würd’ ich sagen, hab’ ich nicht das ganze Gespräch perfekt mitverfolgen können.«18 Überdies mussten sie sich an die veränderte Wahrnehmung ihres eigenen Körpers gewöhnen: »Es kam mir irgendwie sehr surreal vor, so irgendwie ganz komisch, so als hätt’ ich irgendwie, würde mein Kopf woanders sein, als mein Körper, aber ich hab schon alles gespürt.«19 Da die Studierenden keine Erfahrungen mit VR-Anwendungen hatten, konnten sie nur vage Erwartungen artikulieren. Im Verlauf der Interviews kristallisierte sich heraus, dass sie ein höheres Maß an Interaktionsmöglichkeiten erwartet hatten; insbesondere der Tisch im Garten des Kinderheims weckte Vorstellungen eines Zusammentreffens von Zeitzeuge, historischen Personen und Nutzer*innen. Diese Erwartungshaltung wurde besonders durch die Brille befördert, die als Transmissionsriemen in eine »andere Welt« aufgefasst wurde: »Da man diese VRBrille aufhatte, hab’ ich gedacht, dass man vielleicht mehr entdeckt. Man konnte ja frei rumlaufen, dass vielleicht sich im Hintergrund was abspielt oder so. Das wär’ für mich eher, ähm, vielleicht, ähm, ja ein Gespräch zwischen zwei Personen, dass man da zuhört. Aber dass man durch die VR-Brille nicht so viel machen konnte, fand ich eigentlich bisschen schade.«20 Um ihre Eindrücke zu beschreiben, stellten die Befragten Analogien zwischen anderen Medienformaten her. Wiederholt verwiesen sie auf Ähnlichkeiten zu einem Fernsehfilm oder einem 3D-Film: »Eine Mischung aus 3D-Film und realem Leben. […] Ich würde jetzt sagen, ein Zwischending. Weil es logischerweise 148  | Anja Ballis, Markus Gloe

nicht ganz wie das echte Leben aussieht, aber es ist auch auf jeden Fall mehr als ein Film.«21 Der zweite Aspekt, der sich aus dem Datenmaterial herauskristallisiert, betrifft Schwierigkeiten bei der Fokussierung. Wiederholt äußerten die Teilnehmenden der Studie, dass sie Probleme hatten, sich auf Ton und Bild zu konzentrieren. Es entsteht der Eindruck, dass sie die vielfältigen Medienangebote der VR-Experience zwar erfassten, aber nur ansatzweise in ihr Erleben zu integrieren vermochten. Wendeten sie sich den Bildschirmen mit den Videos zu, verloren sie zuweilen Ernst Grube und seinen Gesprächspartner aus dem Blick. Wiederholt dominierte der visuelle Eindruck der Schwarz-Weiß-Videos mit Adolf Hitler die Wahrnehmung und wurde als »historisches Kolorit« aufgefasst: »Und die Filme waren, auf jeden Fall hab’ ich Hitler einmal gesehen, und es waren irgendwelche Filme von der damaligen Zeit, also wahrscheinlich echte Aufnahmen, in schwarz weiß, also, glaub ich, oder auf jeden Fall nicht in Farbe.«22 Befragt zur Musik äußerten die Studienteilnehmenden, dass diese sowohl die bei ihnen hervorgerufenen Emotionen verstärkte als auch als angenehme Hintergrundmusik wahrgenommen wurde. In folgendem Auszug erläutert eine Interviewte das multimodale Zusammenspiel von Text, Ton und Bild: »an die Musik, die ist ja eher im Hintergrund gelaufen, und war recht angenehm, muss ich sagen. Also es hat das Gespräch, eigentlich jetzt nicht weniger deutlich gemacht. Also es hat die Konzentration jetzt nicht mehr auf die Musik geleitet, sondern war eine schöne Hintergrundbegleitung. Und der Film, der gelaufen ist, muss ich sagen, den hab’ ich auch nicht allzu sehr wahrgenommen, sondern man hat ihm immer mal ein Blick gewürdigt, aber ich hab’ mich dann doch mehr auf das Gespräch der Menschen konzentriert und ja, deswegen beides sehr im Hintergrund.«23 Konflikte der Fokussierung zeigen sich auch in der Einschätzung des Zeitzeugen Ernst Grube: Einerseits betonten die Interviewten, dass sie seine Person positiv erlebt haben. Andererseits irritierte sie, dass er Negatives berichtet – und dennoch freundlich gestimmt erschien: »Er hat öfters gelächelt und er hat gesagt, dass es schon auch schlimme Erfahrungen waren natürlich, die er gemacht hat, aber ich dachte, dass er vielleicht deprimierter wäre oder irgendwie in dem Moment mehr, ja, irgendwie trauriger oder irgendwie mehr mitgenommen zumindest.«24 Einige Befragte wiesen auf den Zusammenhang zwischen räumlicher Nähe zum Zeugen und Konzentration auf das Erzählte hin: Je näher sie Ernst Grube räumlich kamen, desto besser konnten sie sich auf seine Erzählung konzentrieren: »Ich fand’s sehr interessant und gut auch, weil man eben das Gefühl hatte, man wär’ wirklich dabei. […] Man ist näher gegangen und dann, also je näher ich gegangen – je näher ich, ja, hingegangen bin, hatte ich mehr das Gefühl, dass ich »Ich möchte nicht eine Konserve werden, die auf alles eine Antwort hat« | 149

dabei bin und dass ich, also ich glaub’, dann hat sich meine Konzentration erhöht, dass ich besser zuhöre, als ich dann näher an dem Mann stand.«25 Irritierend wirkte, dass sie zu Ernst Grube keinen Blickkontakt herstellen konnten. Die Gesprächssituation zwischen dem Zeitzeugen und seinem Gesprächspartner versetzte die Nutzer*innen in die Rolle von Beobachtenden. Eine Studentin empfand diese Rolle als entlastend, da sie so nicht gezwungen war, auf die bedrückenden Erfahrungen Ernst Grubes zu reagieren. Zudem äußerten Studierende Respekt davor, Zeitzeugeninterviews zu führen: »Wenn du eine Person oder einen Zeitzeugen interviewst, dann ist ja auch keine einfache Aufgabe, denke ich, und wenn man eine neutrale – ein neutraler Zuschauer oder eine Zuschauerin ist, dann, schwer zu beschreiben irgendwie.«26 In diesem Zusammenhang wiesen Teilnehmer*innen der Studie darauf hin, dass sie aufmerksamer zugehört hätten, wenn Ernst Grube direkt zu ihnen gesprochen hätte. Übereinstimmend berichten die Studierenden, dass sich die Situation so anfühlte, als hätten sie einer »echten Interviewsituation« beigewohnt: »Ich ja mehr als Beobachter dabei war und auch nicht alles perfekt wahrnehmen konnte, also mitnehmen konnte aus dem Gespräch. Also, hab’ ich mir nur gedacht, wie wichtig es ist, also dieses Jung und Alt weiterhin, verbinden quasi und die Verbindung nicht, also dass der Austausch einfach unglaublich wichtig ist.«27 Wie in obiger Äußerung deutlich wird, geht mit der gewählten Interviewsituation eine gewisse Rahmung des Zeugnisses einher: Das Aufeinandertreffen von Alt und Jung wurde positiv bewertet. Bezüglich der Verwendung solcher Medienformate in der Bildungsarbeit äußerten sich die Befragten zurückhaltend und es lässt sich kein einheitliches Meinungsbild herausarbeiten. Diese zurückhaltende Einschätzung kann mit der geringen Erfahrung mit VR-Anwendungen sowie der Kürze des präsentierten Ausschnitts erklärt werden. Auf zwei Äußerungen sollte abschließend dennoch hingewiesen werden: Einige Teilnehmende der Studie betonten, dass es einen Unterschied mache, die »ganze Person« des Zeitzeugen zu sehen – und nicht wie in anderen Medien, die sie im Seminar kennengelernt hatten, als Talking Head. Eine Probandin hob die vielfältigen und ambivalenten ­Potenziale der VR-Experience hervor, die von der Motivation der Lernenden bis hin zur Wahrnehmung anderer Räume reichte: »dass man da so gefangen ist […] und ist nicht irgendwie von der Welt […] abgelenkt [ist].«28

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Ein Dreischritt der Vermittlung – Empfehlungen für die Bildungsarbeit Wie deutlich geworden sein dürfte, regte die Begegnung mit dem volumetrischen Video in einer VR-Experience die Studierenden zu vielfältigen und differenzierten Überlegungen an. Auch wenn an dieser Stelle einschränkend erwähnt werden muss, dass die Teilnehmenden der Studie wenig Vorerfahrung hatten und die Begegnung mit dem Medienformat keine vier Minuten währte, so lassen sich einige Besonderheiten für die Bildungs- und Vermittlungsarbeit herausarbeiten. Diese Besonderheiten werden im Folgenden unter einem Dreischritt der Vermittlung gebündelt, um Multiplikator*innen in Schulen, Museen, Gedenkstätten und Dokumentationszentren für den Einsatz eines solchen Medienformates zu sensibilisieren. In einem ersten Schritt gilt es, mit Nutzer*innen über ihre Vorerfahrungen ins Gespräch zu kommen. Dabei kann zum einen das Vorwissen bezüglich der Verfolgung von Menschen in der NS-Zeit zum Gegenstand gemacht werden. Die Szenen, die in Ernst Grube – Das Vermächtnis präsentiert werden, erfordern ein Wissen über die Opfergruppen, die Situation in München und das Lager Theresienstadt.29 Zum anderen können Nutzer*innen Auskunft über ihre medialen Vorerfahrungen geben, um besondere körperlichen Erfahrungen – etwa in Bezug auf Wahrnehmung – und Missverständnisse – beispielsweise bezüglich der Interaktion – zu thematisieren.30 Dieser erste Schritt wird als Annäherung an Thema und Medienformat verstanden. An den medialen Vorerfahrungen knüpft der zweite Schritt an, der den Besonderheiten der Volumetrie und der VR-Experience gewidmet ist. Hier gilt es, die Entstehung des volumetrischen Videos darzulegen sowie die Einbettung in eine digitale Umgebung mit vielfältigen audiovisuellen Gestaltungselementen zu erläutern. Die Erfahrungen mit den studentischen Proband*innen deuten darauf hin, dass die Interviewsituation zwischen Ernst Grube und dem jungen Mann vielfältige Fragen aufwirft. Auch wurden die Medien teilweise als diffus und irritierend wahrgenommen. Selbstredend hängt Ausmaß und Grad der Genauigkeit, mit der die Gestaltungselemente erläutert werden, von den Zielen und Absichten ab, mit denen Ernst Grube – Das Vermächtnis gezeigt wird. Jedoch ist eine Offenlegung der Produktion des Medienformates sinnvoll, um Funktionsweise wie auch Chancen und Begrenzungen zu erläutern. Insbesondere die kommunikativen und interaktiven Praktiken, die mit dem Medienformat der VR-Experience einhergehen, gilt es zu ergründen: In diesem Kontext wird Interaktion unter anderem als Begehung und Bewegung im Raum und Erfahrung des eigenen Körpers verstanden. Zuordnung und Orientierung ergeben sich durch die Anwesenheit der Nutzer*innen im Medium.31 Für Entstehung und Entwicklung des Mediums »Ich möchte nicht eine Konserve werden, die auf alles eine Antwort hat« | 151

zeichnet, wie einleitend deutlich wurde, eine ›multiple Autor*innenschaft‹ verantwortlich,32 die den Zuschauer*innen weitgehend verborgen bleibt. Ihre Ziele und Anliegen offenzulegen, kann Untersicherheiten bei Nutzer*innen verringern helfen und die Akzeptanz der Anwendung erhöhen.33 Die Ergebnisse der explorativen Erhebung legen eine vergleichende Auseinandersetzung – mit »traditionellen« Oral History Interviews, interaktiven Zeugnissen, IWalks oder Erzählungen von Überlebenden des Holocaust und des NS-Unrechts auf TikTok  – nahe. Ein solches intermediales Herangehen schärft die Wahrnehmung für die Besonderheiten des jeweiligen Mediums.34 Im Fall der VR-Experience, wie auch vieler digitaler Angebote, wird deutlich, dass die Kommunikation von der Situation »Einer an Viele« geprägt ist und damit Traditionen des Radiozeitalters aufnimmt – trotz des medialen Wandels und der Weiterentwicklung digitaler Medienformate.35 Nach der Erkundung der VR-Experience schließt sich der dritte und letzte Schritt an. Nutzer*innen nehmen die VR-Brille ab und gelangen wieder in das Hier und Jetzt. Wünschenswert ist, dass sie Raum zum Austausch über das Erlebte erhalten. Ethnographische Beobachtungen im NS-Dokumentationszentrum München sowie Erhebungen in Holocaust-Museen in den USA deuten darauf hin, wie wichtig es ist, dass pädagogisch geschulte Personen diesen Schritt begleiten, indem sie vor Ort sind und Zeit für Gespräche haben.36 Wie kann ein anschließender Austausch unter den Teilnehmenden initiiert werden? Unabhängig davon, ob es sich um eine online vermittelte Interaktion oder ein face-to-face Gespäch handelt, gilt es an das Erzählte und Gehörte anzuknüpfen.37 Um einen Austausch zwischen den Nutzer*innen anzuregen, eignet sich ein Nachdenken über die integrierten Medieninhalte (Musik, Video) und über die Kontextua­ lisierung historischer Ereignisse aus Sicht der multiplen Autor*innenschaft und der Rezipient*innen. Und nicht zuletzt bietet sich die Möglichkeit, Ernst Grubes Sicht auf Zeugenschaft, Zeugnis und digitale Angebote zu reflektieren. In dem eingangs zitierten Interview, das die Projektgruppe mit Ernst Grube geführt hat, legt er seine Sicht offen: Anknüpfend an sein Erleben während des Erzählens kommt er auf digitale Zeugnisse (»Hologramme«) zu sprechen. Deutlich markiert er den Unterschied zwischen einer face-to-face-Erzählung und einem digitalen Medienformat, womit er zu weiterem Nachdenken anregt: »Es ist manchmal, das merkt meistens niemand. Ich bin manchmal fix und fertig, wenn ich diese Dinge näher, ja erzähle, und das dauert nicht lang, das bekomm ich dann schon wieder weg, und jetzt kommen manche Lehrer, und wollen aus Zeitgründen und wollen für zwei oder vier Klassen das hintereinander haben. Und ich frag’ mich, wie die überhaupt dazu kommen, so etwas zu erwarten. Seine eigene Geschichte einmal von neun bis elf und dann wieder von eins bis drei zu erzäh152  | Anja Ballis, Markus Gloe https://doi.org/10.5771/9783835349216

len, das ist ja … Also das sind so Schwierigkeiten, die vielleicht mit dem Hologramm nicht sind. Weil es doch nicht die Person ist, es ist und bleibt ein Bild. Ein bewegliches Bild, aber es ist nicht der Mensch, sondern ein Zeugnis. Letzten Endes ist es ein bewegliches Geschichtsbuch. Und wie kann man das ändern? Kann man das ändern? Sehen Sie das vielleicht etwas anders? Das ist natürlich nur meine Sicht der Dinge.«38 Mit diesen Worten Ernst Grubes beschließen wir unseren Beitrag und sind dankbar, ihm und Helga Hanusa begegnet zu sein.

Anmerkungen 1  Vgl. Christina Isabel Brüning: Holocaust Education in der heterogenen Gesellschaft. Eine Studie zum Einsatz videographierter Zeugnisse von Überlebenden der nationalsozialistischen Genozide im Unterricht, Frankfurt a. M. 2018. 2  Vgl. Hans-Jürgen Bucher / Thomas Gloning / K atrin Lehnen: Medienformate: Ausdifferenzierung und Konvergenz  – zum Zusammenhang von Medienwandel und Formatwandel, in: Hans-Jürgen Bucher / Thomas Gloning / K atrin Lehnen (Hg.), Neue Medien – neue Formate. Ausdifferenzierung und Konvergenz in der Medienkommunikation, Frankfurt a. M./New York 2010, 22 f. 3 URL: https://sfi.usc.edu/about [gelesen am 15. 5. 2022]. 4  Vgl. Gayle Cole / Kori Street / Laurel J. Felt: Storytelling in the Digital Age: Engaging Learners for Cognitive and Affective Gains, in: The International Journal of Technology, Knowledge, and Society, 2012 /8, 113–119. 5 URL: https://sfi.usc.edu/content/­iwitnessoverview [gelesen am 15. 5. 2022]. 6  Vgl. Kia Hays / Karen Jungblut / Stephen D. Smith: Realms of Digital Memories: Methodological Approaches to 360° Testimony on Location, in: Victoria Grace Walden (Hg.), Digital Holocaust Memory, Education and Research, Cham 2021, 33–59.

7  Vgl. Anja Ballis / Michele Barricelli / Markus Gloe: Interaktive digitale 3-D-Zeugnisse und Holocaust Education  – Entwicklung, Präsentation und Erforschung, in: Anja Ballis / Markus Gloe (Hg.), Holocaust Education Revisited, Wiesbaden 2019, 403–436. 8  Eine erste Zusammenschau des Projektes und seiner Ergebnisse findet sich unter Anja Ballis u. a.: Interaktive 3D-Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden. Chancen und Grenzen einer innovativen Technologie, in: Eckert. Dossiers, 2021 /1. 9  Vgl. Tobias Ebbrecht-Hartmann / Tom Divon: Serious TikTok: Can You L ­earn About the Holocaust in 60 seconds?, in: URL: https://reframe.sussex.ac.uk/­ digitalholocaustmemory/2022 /03 /24/can-youlearn-about-the-­holocaust-in-60-seconds-ontiktok/ [gelesen am 15. 5. 2022]. 10 URL: www.filmuniversitaet.de/artikel/­ detail/volumetrisches-zeitzeugnis-von-­ holocaustueberlebenden-1 [gelesen am 15. 5. 2022]. 11  Vgl. Markus Worchel u. a.: Ernst Grube: A Contemporary Witness and His Memories Preserved with Volumetric Video, in: The Eurographics Association, 2020, DOI: 10.2312/ gch.20201300 [gelesen am 15. 5. 2022]. 12  Transkript des Interviews mit Ernst Grube und Helga Hanusa, NS-

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tationszentrum München, 19. 10. 2021, Z.  285. 13  Transkript des Interviews Ernst Grube – Das Vermächtnis, Szene im Kinderheim, Z. 67 f. 14  Transkript des Interviews Ernst Grube – Das Vermächtnis, Szene im Kinderheim, Z. 104–110.

ver Schreer sei für die kollegiale Unterstützung nicht nur bei der Analyse der Kinderheim-Szene gedankt. 18 Transkript_Interview_170930_0054, Z.  1026–1030. 19 Transkript_Interview_161003_0052, Z.  99–101. 20 Transkript_Interview_170930_0053,

15  Vgl. Özen Odağ / Margit Schreier: Qualitative Medienpsychologie, in: Günther Mey / K atja Mruck (Hg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, Wiesbaden 2020, 465–467. 16  Vgl. Samuel Salzborn  /   A lexandra Kurth: Antisemitismus in der Schule. Erkenntnisstand und Handlungsperspektiven. Wissenschaftliches Gutachten, 2019, URL: https://www.tu-berlin.de/fileadmin/i65/­ Dokumente / Antisemitismus-Schule.pdf [gelesen am 15. 5. 2022]; Antje Müller / Mathis Prange: Medienkompetenz multiplizieren? Entwicklung eines Multiplikator/-innenkonzepts im Lehramtsstudium, in: MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, 2017 /28, 74–84, hier 81. 17  Bei der Auswertung wurde entlang qualitativer Methodik kodiert, die dem Forschungsinteresse entspricht. Außerdem wurden die Kodierungen systematisch mit den ethnografischen Daten abgeglichen. Vgl. Anselm L. Strauss / Juliet M. Corbin: Grounded Theory: Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Weinheim 1996. Alle Daten und Transkripte sind in einem passwortgeschützten Ordner der Plattform Sync&Share des Leibniz-Rechenzentrums gesichert. Zur besseren Lesbarkeit wurden die Zitate leicht angepasst. An dieser Stelle danken wir herzlich Dr. Ulla-Britta Vollhardt für die Unterstützung während der Erhebung am NS-Dokumentationszentrum München. Zudem geht unser Dank an Mareike Krüger, Mira Schiena­ gel und Dr. Michael Penzold, die mit Rat und Tat die Erhebung begleiteten. PD Dr. Oli-

Z.  803–808. 21 Transkript_Interview_170930_0054, Z.  971–974, 22 Transkript_Interview_161003_0052, Z.  108–110. 23 Transkript_Interview_161003_0054, Z.  1007–1013. 24 Transkript_Interview_161003_0052, Z.  65–68. 25 Transkript_Interview_161006_0055, Z.  302–306. 26 Transkript_Interview_161006_0055, Z.  367–380. 27 Transkript_Interview_170930_0054, Z.  1040–1043. 28 Transkript_Interview_161003_0052, Z.  159–161. 29  Vgl. Ernst Grube: »Den Stern, den tragt Ihr nicht.« Kindheitserinnerungen an die Judenverfolgung in München, in: Dachauer Hefte, 1993 /9, 3–13. 30  Vgl. Ellen Langer: Medieninnovationen AR und VR. Erfolgsfaktoren für die Entwicklung von Experiences, Berlin / Heidelberg 2020, 103. 31  Vgl. Langer 2020, 109. 32  Vgl. Anja Ballis: Interaktive 3D-Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden im Deutsch­unterricht – Theoretische Rahmung, empirische Exploration und disziplinäre Zielhorizonte, in: Eckert. Dossiers, 2021 /1, 83– 110, hier 102. 33  Vgl. Everett M. Rogers: Diffusions of Innovation, New York 2003, 13. 34  Vgl. Joachim Paech / Jens Schröter: Intermedialität analog / digital – ein Vorwort, in: Jens Schröter / Joachim Paech (Hg.),

154  | Anja Ballis, Markus Gloe

dialität Analog / Digital. Theorien, Methoden, Analysen, München 2008, 9–12. 35  Vgl. Victoria Grace Walden: Afterword: Digital Holocaust Memory Futures: Through Paradigms of Immersion and Interactivity and Beyond, in: Victoria Grace Walden (Hg.), Digital Holocaust Memory, Education and Research, Cham 2021, 267–296, hier 292. 36  Vgl. Anja Ballis: The Impact of Digitization on Tour Guiding. A Case Study on Interactive Biographies in Holocaust Museums, in: Anja Ballis (Hg.), Tour Guides at Memo-

rial Sites and Holocaust Museums. Empirical Studies in Europe, Israel, North America and South Africa, Wiesbaden, 2022, 195–212. 37  Vgl. Pablo Porten Cheé: Anschlusskommunikation als Medienwirkung. Der Einfluss von Relevanz und Qualität von Medieninhalten auf das Gesprächsverhalten, Baden-Baden 2015, 44. 38  Transkript des Interviews mit Ernst Grube und Helga Hanusa, NS-Dokumenta­ tionszentrum München, 19. 10. 2021, Z. 345– 354.

»Ich möchte nicht eine Konserve werden, die auf alles eine Antwort hat« | 155

Oliver Schreer

Erinnerung in 3D: ­Volumetrische ­Zeitzeugeninterviews Die enormen Fortschritte der Mikroelektronik und des digitalen Zeitalters bieten neue und auch ungeahnte Möglichkeiten. Sie beeinflussen die menschliche Wahrnehmung, verändern den Alltag, wirken auf Wissenschaft und Forschung. In der Auseinandersetzung mit historischer und politischer Bildung hinterlassen sie bereits deutliche Spuren, und auch die Arbeit mit Zeitzeug*innen des Holocaust ist zunehmend davon berührt, ein zweifellos sensibler Bereich, in dem sich inzwischen markante Einflüsse abzeichnen.

Digitalisierung: Neue Möglichkeiten in der Arbeit mit Zeitzeug*innen Neue Kameratechniken und 3D-Aufnahmeverfahren, Methoden der künstlichen Intelligenz zur Spracherkennung und neue Visualisierungstechniken ermöglichen es, dass seit mehr als zehn Jahren neue Formen digitaler Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden und anderen Zeug*innen unserer Zeit entwickelt und erforscht werden. So befasst sich seit 2012 das Projekt »New Dimensions in Testimony« der Shoah Foundation in Zusammenarbeit mit der University of Southern California mit dem Thema der Bewahrung von Zeugnissen und setzt dafür neue Formen der Interaktion ein.1 Ein Aufnahmesystem mit sieben Kameras ermöglicht eine Quasi-3D-Darstellung der Zeitzeug*innen. Nutzer*innen dieses Formats können den lebensgroß auf einem Display dargestellten Shoah-Überlebenden Fragen stellen und in einen interaktiven Dialog treten. Bisher wurden mehr als 20 Zeitzeug*innen des Holocaust aufgenommen, die nun in verschiedenen Museen weltweit interaktiv erlebt werden können, so unter anderem Anita Lasker-Wallfisch, Pinchas Gutter, Stanly Bernat und Eva Schloss. Das Projekt »Lernen mit digitalen Zeugnissen« (LediZ) erstellt Zeugnisse von deutschen Holocaust-Überlebenden.2 Betrachter*innen erleben die stereoskopisch gefilmten Zeitzeug*innen mit einer 3D-Brille und können einen Pool von voraufgezeichneten Antworten mittels einer Spracherkennungssoftware abfragen. Die beiden Überlebenden des Holocaust Eva Umlauf und Aba Naor wurden dabei in einem Aufnahmestudio in London mehrere Tage interviewt, um genügend Antworten für den interaktiven Dialog zu gewinnen. 156  | Oliver Schreer

Während die beiden bisher vorgestellten Projekte auf Videointerviews von Holocaust-Überlebenden basieren, nutzt ein anderes Projekt die Möglichkeiten der Virtuellen Realität (VR), um Geschichte nachzuerleben. »Journey Through the Camps« ist ein Virtual Reality-Erlebnis, das die Nutzer*innen an verschiedene Orte des Holocaust führt und ihnen ermöglicht, diese Stätten im Kontext zu erfahren und Zeugnisse von Überlebenden zu hören3. Dies bietet eine neue und zusätzliche Möglichkeit, das Vergangene besser zu verstehen, als es mit herkömmlichen Medien wie Filmen und Büchern geschehen kann. Unter Verwendung von Foto- und Videomaterial wurden Computeranimationen erstellt, die es Menschen ermöglichen, Holocaust-Stätten in Europa zu »besuchen«, ohne nach Europa zu reisen.

Der nächste Schritt: 3D-Repräsentationen von Zeitzeug*innen Die bisherigen Anwendungen beschränken sich auf eine zweidimensionale oder stereoskopische Darstellung der Zeitzeug*innen. Eine dreidimensionale digitale Repräsentation von Zeitzeug*innen, die ihre Erinnerungen teilen, gab es bisher noch nicht. Eine solche Anwendung zu schaffen, war das Ziel des ersten volumetrischen Interviews, das vor drei Jahren vom Fraunhofer-Institut für Nachrichtentechnik, dem Heinrich-Hertz-Institut (HHI), und von der Filmgesellschaft UFA GmbH initiiert wurde. So entstand das erste Virtual-Reality-Erlebnis. Durch die Technologie des volumetrischen Videos werden Nutzer*innen zu Zeug*innen der Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden. Unter Verwendung einer Virtual Reality-Brille betreten die Betrachter*innen eine virtuelle Welt und treffen dort Zeitzeug*innen – dreidimensional und lebensgroß –, die ihnen ihre Erlebnisse erzählen. Durch meine private Verbindung mit Ernst Grube, der ein guter Freund meines Vaters ist, war es möglich, ihn für diese vollständig neue Form des Zeitzeugnisses zu begeistern. Seine Neugierde und der Wunsch, möglichst viele Menschen mit seiner Lebensgeschichte zu erreichen, machten es ihm leicht, mit dem Projektteam in das Zeitalter des volumetrischen Zeugnisses aufzubrechen. Doch was ist das Besondere an einem volumetrischen Zeitzeugnis und wie funktioniert es technisch? Um Personen in digitalen virtuellen Welten zu erleben, besteht die Herausforderung darin, eine realistische digitale Darstellung von Menschen zu schaffen. Die heutigen Techniken zur Animation von künstlichen Charakteren, sogenannten Avataren, bieten nicht das erforderliche Maß an Realismus. Dies liegt darin begründet, dass die Verfahren zur Erfassung von Bewegung (Motion-Capture) keine detaillierten Körperbewegungen einer Erinnerung in 3D | 157

son abbilden können. Insbesondere die Mimik und sich bewegende Kleidung können nur unzureichend erfasst werden. Darüber hinaus sind diese Verfahren sehr zeitaufwendig, und es mangelt an komplexen animierbaren Modellen, insbesondere für das Gesicht und für Kleidung, um detaillierte Bewegungen darstellen zu können. Wenn zudem die Person einer größeren Öffentlichkeit bekannt ist, scheint der animierte Avatar künstlich und nicht überzeugend. Dies kann sich hinsichtlich der Akzeptanz und der Wahrnehmung der Natürlichkeit solcher computer-grafisch-basierten, fotorealistischen Darstellungen sogar kontraproduktiv auswirken (Uncanny-Valley-Effekt4). Im Gegensatz dazu kann die Technologie des volumetrischen Videos diese Probleme beheben. Die Voraussetzung für dieses neue Medienformat ist es, eine sich bewegende Person mit mehreren Kameras zu erfassen. Mit Hilfe eines Computer-Vision-basierten Verarbeitungsprozesses wird pro Videobild ein hochrealistisches 3D-Modell in Form eines texturierten Netzes (engl. mesh) rekonstruiert. Die resultierende Sequenz von Meshes wird anschließend in einer Echtzeit-Render-Engine, z. B. Unity3D, in Videoqualität gerendert und die aufgenommene Person als dynamisches 3D-Objekt dargestellt. Dadurch haben Nutzer*innen die Möglichkeit, dem Zeitzeugen gegenüberzutreten und ihn von allen Seiten zu betrachten. Das Fraunhofer HHI war eine der ersten Einrichtungen in Europa, die ein volumetrisches Aufnahmestudio und den dazugehörigen Aufnahme- und Verarbeitungsprozess für volumetrisches Video entwickelt hat.5 Im Jahr 2019 hat das Team um das Team um Ingo Feldmann, Peter Kauff und mir für diese für diese Arbeiten den renommierten Forschungspreis der Fraunhofer-Gesellschaft erhalten.6

Möglichkeiten der virtuellen Begegnung mit Ernst Grube Diese Technologie bildet die Grundlage für das erste Virtual Reality-Erlebnis eines Zeitzeugen. 2019 entwickelten das Fraunhofer HHI und die UFA GmbH in engem Austausch mit Ernst Grube ein inhaltliches Konzept. Gemeinsam erarbeiteten wir eine Storyline zu fünf verschiedenen Stationen seines Lebens. Die Stationen beziehen sich auf sein Leben zur Zeit des NS-Regimes: (1) die Küche der Familie Grube, (2) das jüdische Kinderheim, (3) das Deportationslager Milbertshofen, (4)  die Angst vor der Deportation und (5) das Ghetto Theresienstadt. Im September 2019 fanden die Aufnahmen im Volumetric Capture Studio der Volucap GmbH, einem Spin-Off von Fraunhofer in Potsdam-Babelsberg, statt. Insgesamt wurden 60 Minuten Videomaterial produziert, was zu 70 Terabyte 158  | Oliver Schreer

Ernst Grube (re.) im Gespräch mit Phil Carstensen; Foto: UFA GmbH.

Ernst Grube (li.) und Oliver Schreer im Volumetric ­Capture Studio in Babelsberg; Foto: UFA GmbH.

­ ideodaten führte, die als Eingangsdaten für den im Folgenden beschriebenen V volumetrischen Video-Verarbeitungsprozess dienten. Um Ernst Grube die Gesprächssituation in dieser großen weißen Rotunde des Aufnahmestudios zu erleichtern, entschieden wir uns für eine zweite Person, die ebenfalls aufgenommen wurde. Wir konnten aus dem Umfeld des Produktionsteams den Jugendlichen Phil Carstensen gewinnen. Er bietet jüngeren Zielgruppen eine Identifikationsfigur, die der Erzählung von Ernst Grube folgt und Fragen stellt. Erinnerung in 3D | 159

Verarbeitungsschritte des volumetrischen Video-Verarbeitungsprozesses; Grafik: Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut.

Insgesamt verwenden wir 32 Kameras, die paarweise in dieser zylindrischen Rotunde mit einem Durchmesser von 6 Metern angebracht sind. Die Kameras haben eine Auflösung von 20 Megapixeln, was weltweit die höchste Auflösung ist, die derzeit für volumetrische Aufnahmen eingesetzt wird. Die Datenmenge der Videodaten aller Kameras beträgt für eine Minute volumetrisches Video etwa 1,6 Terrabyte. In einem komplexen volumetrischen Video-Verarbeitungsprozess wird die Datenmenge auf einige hundert Megabyte pro Minute volumetrisches Video heruntergerechnet. In der Folge sind einige Schritte des Arbeitsablaufs dargestellt. Aus den zwei Ansichten eines Kamerapaares wird zuerst die Tiefeninformationen aus der Perspektive dieses Kamerapaares berechnet. So erhält man für das gesamte Aufnahmesystem schließlich die 3D-Information aus den Perspektiven der 16 Kamerapaare, die dann zu einer gemeinsamen 3D-Punktwolke verschmolzen wird. Diese Punktwolke wird nun in ein Gitternetz oder Mesh umgewandelt, das für die Darstellung in einer computergrafik-basierten Umgebung erforderlich ist. Es sind weitere zusätzliche Verarbeitungsschritte implementiert, wie etwa die zeitliche Mesh-Registrierung und die Mesh-Reduzierung. Ziel dieser verschiedenen Verabeitungsschritte ist es, die geometrischen und Textur-Details zu erhalten, bei einer gleichzeitigen Reduktion der Gesamtdatenmenge. Im Juni 2021 wurde der erste Proof-of-Concept von »Ernst Grube – Das Vermächtnis« fertiggestellt. Die folgende Abbildung zeigt Screenshots aus der Episode »Das Kinderheim« mit den beiden Protagonisten im Garten des jüdischen Kinderheims in München, in dem Ernst Grube ab 1938 lebte. Der Garten ist zur Feier des jüdischen Laubhüttenfestes bunt geschmückt. Durch die Einfahrt kann man eine düstere Straße sehen, auf der die SA mit Hakenkreuzfahnen marschiert. Es erklingt Klezmer-Musik, die auf jüdische Traditionen verweist. In der Interviewsituation spricht Grube über 160  | Friedbert Mühldorfer

sein Leben im Kinderheim: Ab Ende September 1941 mussten die Kinder, wie alle Jüdinnen und Juden, den gelben Stern tragen. Sie durften nicht ins Kino oder mit der Straßenbahn fahren und wurden von der Schule verwiesen. Auf der Straße, so berichtet er, wurden sie »bespuckt und beschimpft«.

Bildschirmfoto des Proof-of-Concept zur Episode »Jüdisches Kinderheim«; Bilder: UFA GmbH. Erinnerung in 3D | 161

In Zusammenarbeit mit dem NS-Dokumentationszentrum München ist es gelungen, diesen Proof-of-Concept im Jahr 2021 der Öffentlichkeit zu präsentieren. Im Rahmen der Ausstellung »Ende der Zeugenschaft?«, die von Juni bis November 2021 vor Ort gezeigt wurde, konnten Besucher*innen Ernst Grube »begegnen«. Der Proof-of-Concept vermittelt eine Vorstellung davon, wie die Erinnerungen eines Überlebenden mit Hilfe eines volumetrischen Videos in einem VR-Erlebnis präsentiert werden können. Die Ausstellungsbenutzer*innen konnten sich innerhalb des begrenzten Feldes frei bewegen. Gleichzeitig wurde der aktuelle Bildausschnitt in der VR-Umgebung auf einem großen Display angezeigt. Das Headset war über einen Kabelkanal an der Decke mit dem Render-PC verbunden. Dies bot den anderen Besucher*innen einen Einblick in das neue Medienformat.

Installation der VR-Experience im NS-­ Dokumentationszentrum München; Fotos: NS-Dokumentationszentrum München.

162  | Oliver Schreer

Seit März 2022 ist nun die vollständige Virtual Reality Experience »Ernst Grube – Das Vermächtnis« fertiggestellt. Sie umfasst die oben erwähnten fünf Episoden, mit jeweils einer Länge von ca. 10 Minuten, also insgesamt fast 50 Minuten. Damit ist diese Virtual Reality Experience die umfangreichste Experience, die volumetrisches Video verwendet. Sie ist im Kontext von volumetrischen Zeitzeugnissen die erste ihrer Art. Für jede der fünf Episoden wurde eine eigene virtuelle Szene kreiert, die visuell einen Bezug zur Erzählung von Ernst Grube herstellt. Das VR-Erlebnis beginnt in der Küche der Familie Grube. Eine Uhr tickt, Ernst Grube und Phil Carstensen sitzen am Küchentisch. Die zweite Episode zeigt den Garten des jüdischen Kinderheims. Eine bunte Blumenwiese vermittelt einen freundlichen Endruck. Im Hintergrund sind Hakenkreuzfahnen zu sehen; Videos zeigen Naziaufmärsche und Szenen einer Bücherverbrennung. Im Gegensatz zum Proof-of-Concept ist diese Szene nun 8:40 Minuten lang. In Episode 3 erzählt Ernst Gube von dem Lager in Milbertshofen, und man sieht eine Winterszene mit den Holzbaracken. Die Deportation in Episode 4 ist durch Viehwaggons auf einem Bahngleis symbolisiert. Die letzte Episode zeigt Ernst Grube und den Jugendlichen vor dem Eingangstor des Konzentrationslagers Theresienstadt.

Küche der Familie Grube; Bild: UFA GmbH. Erinnerung in 3D | 163

Das jüdische Kinderheim in der Münchner Antonienstraße; Bild: UFA GmbH.

Das Lager in Milbertshofen; Bild: UFA GmbH.

Ernst Grube über seine Angst vor der Deportation; Bild: UFA GmbH.

Das Ghetto Theresienstadt; Bild: UFA GmbH.

Möglichkeiten der Präsentation Für die UFA und das Fraunhofer HHI stellte sich nun die Frage, wo dieses technisch und inhaltlich vollständig neue Zeugnis von Ernst Grube der Öffentlichkeit präsentiert und vielen Menschen zugänglich gemacht werden konnte. Wir waren uns mit Ernst Grube einig, dass es ein Ort in Berlin, eine Ausstellung oder Gedenkstätte mit entsprechendem historischem Bezug sein sollte. Nachdem verschiedene Institutionen angefragt wurden, konnten wir die Gedenkstätte und das Museum Sachsenhausen in Oranienburg für dieses Projekt gewinnen. So wurde diese Virtual Reality Experience – in Anwesenheit von Ernst Grube – im Juni 2022 feierlich in Betrieb genommen und für Besucher*innen öffentlich zugänglich gemacht. Eine Schulklasse aus Brandenburg sowie zahlreiche Presse- und Medienvertreter*innen waren anwesend. Für einen reibungslosen Betrieb im Kontext eines Museums oder einer Gedenkstätte wurde eine einfache Nutzer*innen-Navigation mittels Blicksteuerung umgesetzt. Der*die Betrachter*in kann ohne zusätzliche Geräte nur durch Drehen des Kopfes verschiedene Buttons anwählen und hinterlegte Aktionen ausführen. Um dieses Zeitzeugnis auch Menschen ohne deutsche Sprachkentnisse zugänglich zu machen, wurden englische Untertitel erstellt. Dies spielt insbesondere im Zusammenhang mit der Präsentation der vollständigen VR-Experience

Besucher*innen der digitalen Welt finden sich durch Blicksteuerung und Buttons zurecht; Bild: UFA GmbH.

166  | Oliver Schreer

Hintergrundinformationen in verschiedenen Sprachen; Bild: UFA GmbH.

in der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen eine wesentliche Rolle, denn 70 % der Besucher*innen kommen aus dem Ausland. Durch die Untertitel wird die Emotionalität in Ernst Grubes Stimme bewahrt und unabhängig von den Sprachkenntnissen vermittelt. Zusätzlich gibt es in der Navigationsleiste einen Info-Button, der für jede Szene eine kurze Infotafel zeigt und den Inhalt der Episode in einem Absatz beschreibt. Auch diese Infotafel ist bei entsprechender Sprachauswahl in englischer Sprache verfügbar. Über eine Videonavigationsleiste kann der*die Nutzer*in die Präsentation anhalten oder zur nächsten oder vorangegangenen Episode springen. In der Gedenkstätte Sachsenhausen ist die VR-Experience in der ehemaligen Häftlingswäscherei, einer Baracke im Zentrum des Ausstellungsgeländes, installiert. Eine VR-Station mit vier VR-Brillen ermöglicht vier Besucher*innen gleichzeitig, dieses volumetrische Zeitzeugnis zu erleben. Es wird für mindestens ein Jahr in der ständigen Ausstellung der Gedenkstätte zu sehen sein. Bei einer Anzahl von mehr als 600.000 Besucher*innen pro Jahr hoffen wir, dass Ernst Grubes Erinnerungen viele Menschen berühren.

Erinnerung in 3D | 167

Ausblick Der Einsatz von volumetrischen Videos von Holocaust-Überlebenden hat einen zusätzlichen Schub erlangt, so dass weitere Projekte inzwischen finanzielle Förderung erhielten. So wird seit 2021 an der »Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf« das Projekt »Volumetrisches Zeitzeugnis von Holocaustüberlebenden« durchgeführt7. Ziel ist die Erstellung eines digitalen Archivs, das sich aus sechs bis acht volumetrisch aufgezeichneten Interviews von Überlebenden des Holocaust zusammensetzt. Bisher wurden die Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer, Kurt Hillmann, Inge Auerbacher, Franz (und Petra) Michalski, Ruth Winkelmann und Rahel Mann im volumetrischen Studio der Volucap GmbH interviewt und deren Videodaten archiviert. Zusätzlich wird in dem Projekt ein 12-minütiger Proof-­ofConcept produziert, der Interview-Passagen von Margot Friedländer als volumetrisches Video beinhaltet. In Zusammenarbeit des Fraunhofer HHI mit Anja Ballis und Markus Gloe von der Ludwig-Maximilians-Universität München ist es darüber hinaus gelungen, eine Förderung der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« für das Projekt »VoViREx – Volumetrische Virtual Reality Experience mit einer Holocaust-Überlebenden« zu erhalten.8 Ziel ist es, eine Virtual Reality Experience zu der Holocaust-Überlebenden Eva Umlauf (geb. 1942) zu entwickeln. In sechs Episoden, die von ihrer Kindheit bis in die Gegenwart reichen, erzählt sie aus ihrem Leben. Bereits im Mai 2021 wurden 60 Minuten Erzählung von Eva Umlauf im volumetrischen Studio der Volucap GmbH aufgenommen. Das Projekt startete im November 2021 mit der Produktion volumetrischer Videos, entwickelte ein interaktives Konzept für eine Virtual Reality Experience und setzte dieses Konzept um.

Anschließende Überlegungen Da nun die erste Virtual Reality Experience »Ernst Grube – Das Vermächtnis« Besucher*innen der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen zugänglich ist, stellen sich einige interessante und neue Fragen: Wie nehmen die Nutzer*innen dieses VR-Erlebnis wahr? Wo liegen die besonderen Chancen, aber auch die Grenzen? Was kann verbessert und verändert werden? Wie kann diese Art der Vermittlung weiterverbreitet werden? Bereits für den Proof-of-Concept von 3,5 Minuten, der im NS-Dokumenta­tions­ zentrum in München 2021 zu sehen war, wurde eine erste Erhebung durchgeführt. Anja Ballis und Markus Gloe diskutieren in diesem Sammelband erste Ergebnisse. Es erscheint uns notwendig, umfangreichere Studien durchzuführen, um für künf168  | Oliver Schreer https://doi.org/10.5771/9783835349216

tige Projekte zu lernen und neue Möglichkeiten dieser Technologie zu entwickeln. Das technische Potential von Virtual und Augmented Reality erscheint unendlich. Beliebige zusätzliche Medien (Videos, Bilder und andere 3D-Objekte) könnten eingefügt werden, um Nutzer*innen zum Beispiel durch bestimmte Interaktionen zu aktivieren. Spielerische Elemente könnten integriert werden, um bestimmte Fragestellungen aufzugreifen, die sich im Zusammenhang mit der Erzählung der Zeitzeug*innen ergeben. Erfahrungen von Holocaust-Überlebenden erfordern jedoch bei der Auswahl und dem Einsatz der gewählten Stilmittel und Elemente in der Virtuellen Realität ein besonderes Maß an Sensibilität. Dies betrifft auch die Selbstreflexion von Regie und Skript: Welche Szenerien, welche historischen Elemente, Ereignisse, Symbole und Attribute sollen ausgewählt und präsentiert werden? Und nach welchen Kriterien? Diese Fragen lenken den Blick auf die Adressat*innen dieses Mediums und pädagogische Intentionen im Bereich der historisch-politischen Bildung. Im Hinblick auf eine weitere Verbreitung und Nutzung dieses VR-Erlebnisses ist dem Produktionsteam bewusst, dass die Erzählung von Ernst Grube in einem definierten Kontext und unter pädagogisch-didaktischer Einbettung erfahren werden muss. Deshalb kommt eine Bereitstellung der VR-Experience über kommerzielle oder frei zugängliche Plattformen, wie SteamVR, nicht in Frage. Eine angemessene Rahmung bieten jedoch Präsentationen in Gedenkstätten, ebenso dürfte auch eine Nutzung in der schulischen (z. B. Geschichtsunterricht, Sozialkunde) und außerschulischen Bildungsarbeit eine geeignete Möglichkeit darstellen. Die Idee, volumetrische Videos für Zeugnisse von Holcaust-Überlebenden heranzuziehen, wurde 2019 entwickelt. Wir mussten jedoch feststellen, dass es sehr schwer ist, Menschen, die mit Virtual Reality noch nicht in Berührung gekommen sind, für dieses neue Medienformat zu begeistern. Deshalb ist es ein wichtiger Meilenstein, dass das erste volumetrische Zeitzeugnis »Ernst Grube – Das Vermächtnis« nun für die Öffentlichkeit zugänglich ist.9

Erinnerung in 3D | 169

Anmerkungen 1  Vgl. USC ICT: New dimensions in ­testimony URL: https://ict.usc.edu/research/ projects/new-dimensions-in-testimony/ [gelesen am 12. 6. 2022]. 2  Anja Ballis / Markus Gloe: Interactive 3D Testimonies of Holocaust Survivors in German language. Wiesbaden 2020, 343–368. 3  Ortainteractive, Carnegie Mellon University: Journey through the camps, in: URL: ­https://www.ortainteractive.com/projects/­ journeythroughthecamps [gelesen am 12. 6. 2022]. 4  Vgl. URL: https://de.wikipedia.org/ wiki / Uncanny_Valley [gelesen am 12. 6. 2022]. 5  Vgl. Oliver Schreer u. a.: Advanced Volumetric Capture and Processing, International Broadcasting Convention (IBC 2018), Amsterdam 2018, selected as one of the top 10 best conference papers. 6  Vgl. URL: https://www.fraunhofer.de/de/ ueber-fraunhofer/wissenschaftliche-­exzellenz/ archiv/2019/joseph-von-fraunhofer-preis2019-hhi.html [gelesen am 12. 6. 2022]. 7  Vgl. URL: https://www.filmuniversitaet.de/ en/research-transfer/research/projects/project-page/detail/volumetrisches-­zeitzeugnis-

170  | Oliver Schreer

von-holocaustueberlebenden [gelesen am 12. 6. 2022]. 8  Vgl. URL: https://www.lediz.uni-muenchen. de/vovirex/index.html [gelesen am 12. 6. 2022]. 9  Ich danke Ernst Grube, seiner Frau Helga Hanusa und Phil Carstensen, dass sie an dieser Reise teilgenommen haben. Ich danke auch gegenwärtigen und ehemaligen Kollegen der UFA GmbH, namentlich Ernst Feiler, Frank Govaere, Philipp Grieß und Simon Sacha für die erfolgreiche Zusammenarbeit. Außerdem danke ich unserem Team am Fraunhofer HHI, insbesondere meinem Kollegen Ingo Feldmann für die Erforschung und Entwicklung der Technologie des volumetrischen Videos sowie dem Team von INVR.space, das die VR-Experience produziert hat. Ich freue mich, dass wir Mirjam Zadoff und Ulla-Britta Vollhardt vom NS-Dokumenta­tions­ zentrum München sowie Axel Drecoll und Astrid Ley von der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen für die Virtual Reality Experience „Ernst Grube - das Vermächtnis“ begeistern konnten, so dass sie das Projekt in ihren Häusern zeigten.

Dorothee Janssen, Julian Monatzeder, Alexander Wenzlik

»Always remember. Never forget« – Erinnern mit künstlerischen Mitteln

»

Ich denke schon, dass das was wir machen eine Art von Aufstehen ist […], das gehört ja auch dazu: zu erkennen was jetzt passiert und wir versuchen auch irgendwie ein Zeichen dagegenzusetzen. Das ist für uns ein Schritt: erstmal uns mit der Vergangenheit zu beschäftigen und vielleicht dann, dass wir das, was wir gelernt haben, aufs Jetzt übertragen. (Josefa, 14) Im Januar 2022 zeigten sich Israel und Deutschland besorgt über die »dramatische Zunahme von Leugnung, Verfälschung und Revisionismus des Holocausts« und darüber, dass Vergleiche zwischen gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen und der Shoah gezogen werden. »Erinnerung und Bildung im Zusammenhang mit dem Holocaust zu fördern, sowie Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu bekämpfen, sind Prioritäten für unsere Regierungen und unsere Gesellschaften«, schreiben Annalena Baerbock und Yair Lapid in ihrer gemeinsamen Annahme der Resolution gegen die Leugnung und Verfälschung des Holocausts.1 In Zeiten, in denen in vielen europäischen Ländern und auch in Deutschland rechtsnationale Kräfte erstarken, in denen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierung und Abschottung zu unserer Lebensrealität gehören, ist es essentiell, dass sich junge Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht, Nationalität, Begabung, Beeinträchtigung oder Glaubensrichtung mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigen – gemeinsam, schulartübergreifend und mit künstlerischen Mitteln. Gerade für heterogene Gruppen, in denen Jugendliche aus verschiedenen Ländern und mit verschiedenen sozialen und kulturellen Hintergründen zusammenarbeiten, bietet die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit die Chance, einen Beitrag für ein friedliches und an unseren demokratischen Grundwerten orientiertes Miteinander aller in Deutschland lebenden Menschen zu leisten. Erinnern ist ein demokratischer Prozess, der nicht ausschließlich anhand vorgegebener Quellen, Inhalte, Medien und Bücher von Bildungsinstitutionen, Museen oder Gedenkstätten stattfinden kann – sondern auch von individuellen Perspektiven und Motivationen ausgehen und dabei emotional, kognitiv und körperlich be-

172  | Dorothee Janssen, Julian Monatzeder, Alexander Wenzlik

rühren soll. Im Mittelpunkt einer partizipativen und an den Interessen von Kindern und Jugendlichen ausgerichteten Erinnerungsarbeit stehen zwei grundlegende Fragen: Was brauchen Kinder und Jugendliche, damit Erinnerung für sie individuell bedeutsam wird? Wie können sie jenseits von erstarrten Gedenkritualen und institutionell strukturierter Vermittlung von Geschichte erinnern, um zu verstehen, was dies alles mit ihnen und ihrem Leben in der heutigen Gesellschaft zu tun hat? Always remember. Never forget ist ein Projekt zur performativen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit, das gemeinsam mit Jugendlichen Antworten auf diese Fragen finden möchte. Entwickelt und durchgeführt wird es von CultureClouds e. V. in Zusammenarbeit mit dem NS-Dokumentationszentrum München. In diesem Projekt forschen und performen Jugendliche verschiedener Münchner Bildungseinrichtungen unter der Leitung von Choreografin und Tanzpädagogin Dorothee Janssen und Filmregisseur Julian Monatzeder zur Frage, wie vergessene Orte des Nationalsozialismus in München mit den künstlerischen Mitteln Tanz und Film sowie durch körperlich-performative Auseinandersetzung wieder ins öffentliche Bewusstsein der Stadt gerückt werden können; stets mit einem wachen Auge für aktuelle politische Tendenzen, Entwicklungen und Konflikte unserer Zeit. Dabei ist die langjährige Zusammenarbeit mit dem Shoah-Überlebenden Ernst Grube zentraler Bestandteil der künstlerischen Projektarbeit. Durch seine Erinnerungen bekommen Geschichten ein Gesicht, werden Orte wieder lebendig und das Erinnern bekommt eine zutiefst persönliche und menschliche Dimension.

Tanz und Performance als Instrumente des Erinnerns

»

Mitnehmen werde ich auf jeden Fall diese Kinderbaracke […]. Wir haben fast eine Stunde gebraucht, um in diesem teilweise schon hohen Gras mit diesem Absperrklebeband diese Baracke abzukleben und die Namen festzustecken. Und ich glaube, wenn ich ein paar Jahre in die Zukunft schaue, dann werde ich immer daran denken, wie ich mit Nägeln diese Papierbuchstaben in die Erde getrieben habe, weil man dann immer daran denkt, dass man da gerade eigentlich eine Person markiert, die jetzt nicht mehr am Leben ist. Das war schon ein sehr besonderer Moment, an den ich mich auch für die nächsten Jahre erinnern werde. (Mayara, 15) »Wenn die Menschen schweigen, schreien die Steine«, schrieb Johann G. Herder in seinen »Briefen zur Beförderung der Humanität«.2 Aber wie schreien Steine, Gebäude, Straßen, Bahnhöfe und Plätze und wie können wir sie hören? Was brauchen die Menschen im Stadtraum, um Erinnerung wachzuhalten? Wir sind der Überzeugung, dass tiefgreifende Erfahrungen und nachhaltige Be»Always remember. Never forget« | 173

Räume werden durch Körper und Bewegung erschlossen. Foto: Dorothee Janssen.

gegnungen mit der Vergangenheit möglich werden, wenn man sich Orte in Bewegung und mit dem eigenen Körper erschließt; diese Orte erforscht, indem man Strecken abgeht, auf Mauern klettert, Abstände ausmisst, Grundrisse von Gebäuden rekonstruiert und damit eine körperliche Beziehung zu den Orten und den mit ihnen verbundenen Geschichten herstellt. Wenn es uns gelingt, Orte einerseits in ihrer heutigen Beschaffenheit wahrzunehmen und zu begreifen, und wenn wir andererseits versuchen, zu erspüren und nachzuvollziehen, wie Orte in der Vergangenheit ausgesehen haben, können wir erkennen und erfahren, dass sich Vergangenheit und Gegenwart an diesen Orten begegnen und wie wir über die Verbindung mit ihnen Teil ihrer Geschichte sind. Das ist anspruchsvoll und komplex und erfordert den gleichzeitigen Einsatz mehrerer Sinne und verschiedener künstlerischer Herangehensweisen. Das körperliche Erleben in und durch Bewegung unterstützt diesen Prozess und schafft eine Verbindung zwischen dem reinen Hören über die Geschichte eines Ortes, dem Betrachten seiner heutigen Gegebenheiten und der selbst gestalteten Beziehung zu Ereignissen und Bedeutungen eines Ortes.

174  | Dorothee Janssen, Julian Monatzeder, Alexander Wenzlik

»

Was ich auf jeden Fall mitnehmen werde, ist: Ich werde am BMW-Gelände nie mehr vorbeilaufen können, ohne daran zu denken. Und das ist so was wirklich Heftiges – also ich weiß nicht, ob ich da früher oft war, aber ich glaube, niemand oder fast niemand wusste das von uns, dass da wirklich das alles war. Und ich werde daran, wie gesagt, nie mehr vorbeilaufen, ohne mich daran zu erinnern. (Ferdinand, 16) CultureClouds e. V. und das NS-Dokumentationszentrum arbeiten seit 2014 in verschiedenen Projekten an einer lebendigen Erinnerungskultur. Die letzten beiden Projekte haben sich mit dem ehemaligen »Judenlager« in Milbertshofen sowie der ehemaligen Jüdischen Volksschule und der Synagoge in der Herzog-Rudolf-Straße auseinandergesetzt. Fragen, die wir uns zum »Judenlager« Milbertshofen gestellt haben, waren: Wie sieht der Ort, an dem sich das Lager befand, heute aus? Warum wissen so wenige Leute in München von diesem Lager, obwohl es bei der Deportation der Münchner Jüdinnen und Juden eine so große Rolle gespielt hat? Würden die Menschen heute anders an diesem Ort vorbeigehen, sich anders an ihm bewegen, wenn sie von seiner Geschichte wüssten? Wie groß war eine Baracke? Was gab es zu essen? Wo waren Kinder ohne Eltern untergebracht? Wie viele Toiletten gab es? Wer waren die Menschen, die am

Orte werden erforscht, indem man Strecken abgeht, auf Mauern klettert, Abstände ausmisst. Foto: Dorothee Janssen. »Always remember. Never forget« | 175

Die Performer*innen machen sichtbar, was in Vergessenheit geriet. Foto: Antonia Vogelmann.

20. 11. 1941 mit dem ersten Transport aus München nach Kaunas gebracht und dort ausnahmslos ermordet wurden? Was durften sie mitnehmen? Ausgehend von einem Klassenfoto der jüdischen Volksschule in der Herzog-Rudolf-Straße aus dem Jahr 1937 – auch Ernst Grube war dort Schüler – haben wir im Jahr 2022 mit unseren Recherchen für das Projekt »Meine Schule brennt« begonnen. Wir wollten wissen, wo die Kinder gewohnt und welchen Schulweg sie genommen haben. Welche Wünsche hatten sie und wovor hatten sie Angst? Darüber hinaus haben wir uns auch mit dem nationalsozialistischen Schulsystem auseinandergesetzt und dessen pädagogische Vorstellungen hinterfragt. Wir nutzen historische Quellen und suchen gleichzeitig nach Hinweisen in der Gegenwart. Wo nichts zu finden ist, versuchen wir etwas sichtbar zu machen – durch unsere eigenen Körper, durch Installation, Projektion und temporäre Veränderungen des Raums. Nicht allein durch ein Mehr an Information, sondern vor allem durch ein Mehr an körperlichem Erfahren und Empfinden können wir uns das Geschehene besser vorstellen. Wir stellen fest, dass Texte tiefer und nachhaltiger durchdrungen werden, wenn sie in Bewegung umgesetzt werden, dass Zitate besser verstanden werden, wenn wir sie in ihrer Bedeutung mit den Mitteln der Sprache, 176  | Dorothee Janssen, Julian Monatzeder, Alexander Wenzlik

Wie sahen Orte früher aus, wie heute? Foto: Dorothee Janssen.

des Films oder der Bewegung erfassen. Wenn wir uns existentiellen Themen wie Ausgrenzung, Rassismus oder Menschenfeindlichkeit in ihrer Vielschichtigkeit körperlich-künstlerisch annähern, wird deutlich, dass es keine abstrakten Themen sind, die uns nicht betreffen oder nichts angehen, sondern Themen, die etwas mit dem eigenen Leben zu tun haben und zu denen es eine eigene Haltung zu entwickeln gilt. Wenn wir Texte von Tätern (zum Beispiel Hitlers Ausführungen über Pädagogik in seiner »Reichenberger-Rede«3 oder Tagebucheinträge von Joseph Goebbels4) in Choreografie übersetzen, wenn wir aus Worten und Sätzen Bewegungsqualitäten entwickeln, und wenn wir zu vorgelesenen Texten improvisieren, dekonstruieren wir sie durch Bewegung. Wir erkennen ihre rhetorischen Besonderheiten, ihre Rhythmen, Stilmittel und Muster. Die körperlich-künstlerische Bearbeitung lässt uns Inhalte, Bedeutungen, Wirkungen und Reaktionen anders aufnehmen. Oft benutzen wir für die Choreographie eine von den Teilnehmenden selbst erfundene Zeichensprache, um uns mit jedem einzelnen Wort eines historischen Textes auseinanderzusetzen. So wurden zum Beispiel antijüdische Gesetze und Verordnungen5 oder der Bescheid an die Münchner Jüdinnen und Juden, sich zum Abtransport nach Kaunas einzufinden,6 in Bewegung umgesetzt. Welche Bewegung mache ich zu den Worten »arisches Blut«? Wie wirkt der Satz »Federbetten nur für Kinder« beim ersten Lesen? Wie verändert sich seine Wirkung, nachdem wir viele Stunden damit verbracht haben, ihn ohne Sprache, aber durch Bewegung zu erzählen? Wenn wir uns mit Zitaten und Berichten von Verfolgten beschäftigen, versuchen wir diese nicht lediglich zu lesen, sondern durch verschiedene Arten der Be»Always remember. Never forget« | 177

Bewegungen können ausdrücken, wozu Worte nicht in der Lage sind. Foto: Julian Monatzeder.

wegung und Positionierung des Körpers im Raum, emotionale Zugänge zu finden. Auf diese Weise können wir diesen oftmals nur schriftlich überlieferten Stimmen performativ Ausdruck verleihen und der Auseinandersetzung von Menschen heute mit deren Aussagen und Erlebnissen Raum geben. Gerade in der Auseinandersetzung mit großen Fragen, wie zum Beispiel »Wie konnte das passieren?« oder »Warum haben nicht viel mehr Menschen etwas dagegen getan?«, bietet die körperliche Auseinandersetzung zwar auch keine einfachen Antworten, erweitert jedoch das Spektrum der Annäherungsmöglichkeiten.

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Ich kann nur sagen, ich habe so das Gefühl gehabt, dass jeder von euch, wenn ich die Formulierung gebrauchen darf, sich »in das Schicksal hineingelebt« hat. Es wird ja nicht sehr viel gesprochen. Das Meiste ist ja die Bewegung, der Ausdruck. Und diese Bewegung hat nach meinem Gefühl eine enorme Ausstrahlung gehabt. Und dafür möchte ich Sie einfach loben, oder noch besser gesagt, gratulieren. Das haben Sie einfach ganz toll hingebracht und daran lag mir jetzt, das erstmal zu sagen. (Ernst Grube nach der Premiere von »Um 2 Uhr nochmal Kaffee« im Publikumsgespräch mit den Darsteller*innen)

178  | Dorothee Janssen, Julian Monatzeder, Alexander Wenzlik

Film als Medium des Erinnerns Welche*r Münchner*in weiß schon, dass sich auf einem heute eher unscheinbaren Werksgelände von BMW in Milbertshofen einmal ein Lager befunden hat, von dem aus tausende Münchner Jüdinnen und Juden in die Vernichtungslager deportiert worden sind? Welche*r Tourist*in ist sich beim Einkaufsbummel durch die Maximilianstraße im Klaren darüber, dass nur ein paar Meter weiter, in einer kleinen Seitenstraße, gegenüber einer kubanischen Cocktailbar, einmal eine Synagoge stand? Denn selbst wenn man vom »Judenlager« Milbertshofen oder der Synagoge Ohel Jakob schon einmal gehört haben sollte, will sich vor Ort einfach kein klares Bild einstellen. Längst stehen hier neue Gebäude und außer einer kleinen Erinnerungstafel oder einer Gedenkskulptur erinnert nichts mehr an die schrecklichen Dinge, die hier passiert sind. Wenn hier die Steine wirklich »schreien« sollen, dann muss man erst einen Weg finden, zuzuhören. Ein wichtiger Baustein unserer Arbeit ist die Zusammenarbeit mit dem NS-Dokumentationszentrum München. Thomas Rink, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Vermittlungsabteilung, liefert den Jugendlichen und uns Projektleiter*innen den nötigen inhaltlichen Input. Er versorgt uns mit historischen Texten und Bildern und unterstützt uns bei der wissenschaftlichen Recherche. Bei einer Stadtführung bekommen wir die Möglichkeit, den jeweiligen Ort genauer kennenzulernen. Wir begeben uns auf Spurensuche nach Details aus Texten und Bildern. Vor allem geht es darum, zwischen historischen Fakten und der Realität vor Ort eine Verbindung herzustellen. Um dies zu erreichen, arbeiten wir gezielt mit dem Medium Film. Wir üben zum Beispiel auf dem Königsplatz, wo ein Teil der ehemaligen NS-Bauten noch vorhanden ist. Die Teilnehmer*innen beschäftigen sich mit historischen Fotos vom Königsplatz, dem »Braunen Haus«, den »Ehrentempeln«, dem »Führer-« und dem »Verwaltungsbau«. Die Aufgabe ist nun, mit der Videokamera die Perspektive der historischen Aufnahmen möglichst gut nachzuahmen, um zu sehen, wie sich der Ort verändert hat. Die Jugendlichen suchen nach dem jeweiligen Gebäude und stellen Stativ und Kamera so ein, dass die Perspektive der Kameraeinstellung der des Fotos gleicht. Dann halten sie das ausgedruckte Foto vor die Kamera, drücken auf Aufnahme und ziehen nach ein paar Sekunden das Foto weg. Damit öffnet sich der Blick vom historischen Bild auf die heutige Ansicht. Trotz der Einfachheit dieser Methode treten Details zu Tage, die man andernfalls vielleicht übersehen hätte. So wurde uns zum Beispiel beim Vergleich der Fotos vom damaligen »Führerbau« mit der heutigen Musikhochschule klar, dass noch heute Aussparungen über den Eingängen erkennbar sind, an denen früher der Reichsadler angebracht war. Ohne das genaue »Hinschauen« durch den »Always remember. Never forget« | 179

Filmaufnahmen in der Münchner Innenstadt. Fotos: Dorothee Janssen.

Filmaufnahmen werden historischen Fotos gegenübergestellt. Hier der nationalsozialistische Repräsentationsbau in der Arcisstraße, in dem 1938 das »Münchner Abkommen« geschlossen wurde.

180  | Dorothee Janssen, Julian Monatzeder, Alexander Wenzlik

cher der Kamera wäre uns dieses Detail vermutlich verborgen geblieben. Die Kamera hat uns durch die Rekonstruktion einer historischen Perspektive geholfen, den Ort mit seiner Geschichte besser zu erfassen und damit auch einen Bezug zur Gegenwart herzustellen. An einem Ort wie der ehemaligen Synagoge Ohel Jakob und der damals angrenzenden jüdischen Volksschule in der Herzog-Rudolf-Straße ist das ein wenig schwieriger, da es im Vergleich zum Königsplatz kaum mehr historische Bausubstanz gibt. Doch auch hier probieren wir uns wieder im Einnehmen der »historischen Perspektive« aus. Durch den Vergleich einer alten Aufnahme mit der heutigen Straßenansicht zeigt sich, dass vom Gebäude der damaligen Schule nichts mehr übrig ist. Die einzigen historischen Elemente, die sich heute noch finden lassen, sind ein einziges Haus direkt neben der Schule und das Kopfsteinpflaster der Straße. Sonst hat sich das Straßenbild weitgehend verändert. Neben alten Fotos stehen uns für das letzte Projekt »Meine Schule brennt« auch Berichte aus der Pogromnacht 1938 sowohl von Schüler*innen der jüdischen Schule als auch vom damaligen Propagandaminister Joseph Goebbels zur Verfügung, die alle Zeug*innen des Brandes der Synagoge und der Schule waren. Diese historischen Quellen zu ein und demselben Ereignis können in ihrer Perspektive unterschiedlicher kaum sein. Während Goebbels die Ereignisse in seinem Tagebuch mit einem »Bravo!«7 kommentiert, schreibt eine jüdische Schülerin entsetzt über ihren damaligen Eindruck der Situation: »Meine Schule brennt!«. Mit der Kamera versuchen wir vor Ort Bilder für bestimmte Textabschnitte zu finden. Nach dem bloßen physischen Nachstellen einer fotografischen Perspektive geht es jetzt vor allem um das Finden einer ganz persönlichen Sichtweise. Die Jugendlichen haben sich mit den jeweiligen Texten auseinandergesetzt, um zu entscheiden, durch welche filmische Einstellung sie die jeweilige Textpassage darstellen möchten. Aus einem Bericht des ehemaligen Schülers Alfred Koppel wissen wir zum Beispiel, dass dieser in der Maximilianstraße nahe des Maxmonuments wohnte und täglich mit seinem Bruder die wenigen Meter zur Herzog-Rudolf-Straße zu Fuß in die Schule ging.8 Am Morgen nach dem Brand in der Synagoge waren die beiden spät dran, weil sie mit den abgefallenen Blättern von Kastanienbäumen spielten, die sie als »Tabak« für selbstgedrehte Spielzeugzigaretten verwendeten. Als sie schließlich ankamen, sahen sie, dass die Synagoge und ihre Schule abgebrannt waren. Den Rauch aus den Gebäuden vergleicht Koppel in seinen Erinnerungen mit dem beißenden Qualm der »Zigaretten«, die sie zuvor probiert hatten zu rauchen – ein Detail, das diesen Bericht für uns besonders greifbar macht. Dank einer vorangegangenen Recherche der Projektteilnehmer*innen im NS-Dokumentationszentrum kennen wir die ehemalige Adresse der Familie Koppel. Wir »Always remember. Never forget« | 181

Die Projektteilnehmer*innen rekonstruieren den Schulweg von Alfred Kloppel. Fotos: ­Dorothee Janssen.

filmen ihr Haus und können mit der Kamera den genauen Schulweg rekonstruieren. Wir finden dabei sogar die großen Kastanienbäume, die noch heute die Maximilianstraße auf der Höhe des Gebäudes der Regierung von Oberbayern säumen. Goebbels’ Schilderung desselben Abends ist ganz anders. In seinem Tagebuch schreibt er von der »Vereinigung vor der Feldherrnhalle um Mitternacht«.9 Goebbels beschreibt, wie sich aus seiner Sicht die Reichspogromnacht entwickelt hat, die er offensichtlich selbst als historisch feierlichen Moment erlebt. Als er zurück in sein Hotel gehen will – dem »Vier Jahreszeiten« in der Maximilianstraße –, sieht er die Synagoge in Flammen, und schreibt: »Abbrennen lassen!«10 Auch wenn es nicht leichtfällt, versuchen wir für dieses Zitat Bilder zu finden. Wir filmen am Königsplatz und vor dem Hotel »Vier Jahreszeiten«, versuchen zu ergründen, wie die Begeisterung für die nationalsozialistische Ideologie an diesem Abend in Gewalt umschlagen konnte. Es entstehen beeindruckende Kameraeinstellungen wie zum Beispiel eine Sequenz aus drei Bildern, die für die Jugendlichen die Textzeile »Sehr feierlich und stimmungsvoll! Der Führer spricht zu den Männern.«11 am besten visuell und emotional wiedergibt. Das erste Bild zeigt den opulenten Bau der Feldherrnhalle 182  | Dorothee Janssen, Julian Monatzeder, Alexander Wenzlik

Filmaufnahmen der Feldherrnhalle auf dem Münchner ­Odeonsplatz.

in einer Totalen. Im zweiten Bild folgt eine untersichtig gefilmte, heroisch anmutende Statue und im letzten Bild die Ansicht des Platzes von der Halle aus gesehen. Am Beispiel dieser Sequenz zeigt sich, dass das Abfilmen mit der Kamera noch eine weitere Ebene eröffnet. Vor der und rund um die Feldherrnhalle halten sich Tourist*innen und Passant*innen auf, die wir bewusst nicht in unseren Aufnahmen auslassen. Unsere Kamerabilder sind eine Momentaufnahme der Orte, so wie wir sie vorgefunden haben. Obwohl sie dabei ihre eigene Perspektive und damit auch ihre eigene »Sichtweise« – im eigentlichen wie im metaphorischen Sinne – auf die Geschichte finden, bleibt die Darstellung der Realität durch das Verwenden des Kameraauges weitgehend objektiv. Und genau wie auch die historischen Zitate sowohl eine historisch faktische wie auch eine persönliche Dimension haben, so sind auch unsere Bilder eine Mischung aus subjektiver Wahrnehmung und objektiver Darstellung. Nicht zuletzt werden unsere Filmausschnitte am Ende selbst zu einer Art Zeitdokument, das wir den historischen Quellen gegenüberstellen können. Die Jugendlichen schaffen durch die filmische Arbeit eine Verbindung von der Vergangenheit zur Gegenwart.

»Always remember. Never forget« | 183

Erinnerung und öffentlicher Raum: Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit Ernst Grube

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Es ist dann tatsächlich nun mal schwer, wenn ich die Formulierung verwenden darf, darauf klarzukommen, dass das, was man gerade hört, tatsächlich passiert ist. Und wenn man sich dann überlegt, dass das in unserer Umgebung, in unserem Stadtbild gar nicht mehr auffällt, und dass man sich dann denkt, an jedem Ort könnte was passiert sein, von dem man nichts weiß […]. (Silas, 15) Always remember. Never forget will Erinnerung im öffentlichen Raum durch körperliche Präsenz und Performance wieder sichtbar machen, sich die Stadt erinnernd erobern, mit dem Körper erforschen und Auseinandersetzung einfordern. So werden vergessene Orte temporär nicht nur für die Teilnehmer*innen wieder aktiv in Erinnerung gerufen, sondern auch der Öffentlichkeit sichtbar gemacht. Der Dialog mit Passant*innen und Anwohner*innen ist Teil unserer Aktionen. Wir schöpfen aus allen Facetten der Intervention im öffentlichen Raum, des Tanzthea­ ters, der Performance und Körperarbeit.

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[…] wenn ich gesagt habe, »Die Erinnerung kommt mit dem Ort«, so gibt es diesen Ort, das Ghetto Milbertshofen, nicht mehr. Und es ist heute eine Werkslandschaft von BMW, mit den modernsten äußeren Erscheinungsformen und das macht die Erinnerung schwierig. Und umso … erstaunter, muss ich jetzt sagen, war ich jetzt in dieser Stunde von sieben bis acht, wie man trotz dieser Schwierigkeit des nicht mehr vorhandenen Ortes – beziehungsweise der Ort ist da, aber er sieht anders aus als damals – dass es trotz dieser Schwierigkeit gelungen ist, eine Atmosphäre und einen Eindruck zu schaffen, der mich sehr bewegt hat. Das wollte ich sagen. (Ernst Grube über das Stück »Um 2 Uhr nochmal Kaffee«) So konnten wir 2021, nachdem wir Ernst Grube ausführlich über seine Zeit im »Judenlager« Milbertshofen befragt hatten, und dank zweier Grundrisse und verschiedener historischer Quellen, an einem Wochenende im Juni das ehemalige Lager auf dem jetzigen Gelände von BMW wieder greifbar machen. Zuerst haben wir mit unseren eigenen Körpern eine Mauer um das ganze ehemalige Lagergelände gebildet und dann verschiedene Teile des Lagers als temporäre Installation errichtet. Nähmaschinen standen dort, wo einst zerschlissene Kleidung geflickt wurde, Tische und Stühle da, wo die Essensausgabe war, ein Tisch voller Koffer am Ort der Gepäckkontrolle. Die Latrine wurde mitten auf den Parkplatz gestellt, ein Feuerwehrschlauch dort abgelegt, wo mutmaßlich Menschen verfolgt, gefoltert und mit Schläuchen abgespritzt worden wa-

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Das »Judenlager« Milbertshofen befand sich auf dem heutigen BMW-Gelände. Fotos: Dorothee Janssen.

ren, und Wäscheleinen wurden am Ort des ehemaligen Waschhauses über den Parkplatz gespannt. Die Kinderbaracke, in der Kinder aus dem Kinderheim an der Antonienstraße untergebracht waren, wurde maßstabsgetreu mit rot-weißem Klebeband auf ein Stück Rasen zwischen den Bürogebäuden geklebt – da wo sie auch früher stand.

Die Installation zeigt, wo die Betten von Ernst und den anderen Kindern im Lager Milbertshofen standen. Fotos: Antonia Vogelmann. »Always remember. Never forget« | 185

Die Namen wurden – soweit bekannt – in die Kinderbetten geklebt, der Spielschrank und die Fenster markiert. Und dann kam Ernst Grube und zeigte uns, wie körperlich Erinnerung sein kann, und was es mit uns macht, genau an dem Ort zu sein, der ihn für sein Leben geprägt hat – auch wenn heute nichts mehr darauf hindeutet.

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Dann kam natürlich auch dieser Kontrast, weil dann steht da ein sauberes Gebäude und der Zaun geht auch auf, wenn du willst – du bist überhaupt nicht eingesperrt. Es war dann schon sehr surreal, da rumzulaufen. Man ist dann auch an sehr vielen Autos vorbeigekommen und man wusste: Eigentlich hat da damals zum Beispiel der Abort gestanden. […] Aber es war natürlich sehr schwer, weil der Kontrast so stark war. Dieses – ich sag mal – dann doch luxuriöse Gebäude mit den Luxusautos und diesen gut gekleideten BMW-Mitarbeitern. Und deinen Pass, den du einfach an die Tür halten musstest und dann konntest du gehen. Ich glaube, das war für mich der eindrucksvollste Moment: Ich konnte einfach gehen und ich hatte die Freiheit zu gehen. (Mayara, 15)

Die Akteur*innen setzen sich solange mit Sprache und Bewegungen auseinander, bis die Gruppe mit dem Ergebnis zufrieden ist. Foto: Sebastian Korp.

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Für die Dauer einer Performance wird ein Raum geschaffen, der die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart verwischt. Foto: Sebastian Korp.

Die politische Dimension der Erinnerungsarbeit »Wie wollt ihr euch erinnern und was braucht ihr dafür?« ist eine zutiefst demokratische und politische Frage. Hier geht es um maximale Beteiligung, aber auch um die Überzeugung, dass es nicht nur einige wenige etablierte Formen des Erinnerns gibt, sondern vielfältige und sehr persönliche. Der Verein CultureClouds e. V. setzt in vielen seiner Projekte auf das enorme ­Potential, das eine Zusammenführung alters- und erfahrungsbedingt unterschiedlicher Perspektiven und Methoden in künstlerischen Projekten mit sich bringt. Das gemeinsame künstlerische Arbeiten von erwachsenen Profis und jugendlichen Laien überwindet die Trennung zwischen dem professionellen Kunstbereich und Projekten mit Jugendlichen im Feld der kulturellen Bildung. Gerade die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zeigt im Spiegel aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen, dass eine Beschäftigung mit unserer Geschichte und unserer Stadt sowie die Begegnung mit den letzten noch lebenden Zeitzeug*innen für alle gleich bedeutsam ist. Always remember. Never forget sensibilisiert für die Auswirkungen des Nationalsozialismus bis heute und stärkt zugleich das öffentliche Bewusstsein für all das »Always remember. Never forget« | 187

Gute, das seither erreicht wurde: eine liberale Demokratie, allgemeine Menschenrechte, ein vereintes Europa und lebendige Erinnerungsdiskurse. Erinnerungsarbeit mit Bewegung, Tanztheater, Film, Musik und anderen Kunstformen ist ein demokratischer und inklusiver Ansatz, um dem Phänomen Nationalsozialismus zu begegnen. In einer heterogenen Gruppe können die Teilnehmenden die Erfahrung machen, wie bereichernd Unterschiedlichkeiten für einen gemeinsamen künstlerischen Prozess sein können. Andere Sichtweisen werden nicht zur Gefahr für die eigene, alle werden zu wichtigen Akteur*innen. Das künstlerische Produkt wird nur durch ihren Beitrag und das Zusammenwirken der Gruppe möglich. Die Jugendlichen erfahren, wie sehr ihre Stimme zählt, wie interessant ihre Gedanken sind, wie bereichernd ihr Engagement für alle ist. Lust sich zu beteiligen, Demokratie mitzugestalten und sich politisch einzubringen entsteht vor allem durch die glaubwürdige Möglichkeit und die gelebte Erfahrung, tatsächlich wirksam zu sein.

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Mit Kamera in der Stadt unterwegs sein und die Schauplätze der Reichspogromnacht filmen, in einer Halle Choreographien immer und immer wieder zu tanzen, auch das hat sich dieses Jahr wieder sehr gelohnt. Die Geschichte lebt in uns weiter. Und dass wir sie mit einem Publikum teilen können, ist auch im neuen Jahr weiterhin etwas ganz Besonderes. (Mayara, 15) Nicht jede*r ist in der Lage, anhand dieser Quellen einen Zugang zu finden, aber jede*r hat einen Körper. Ort, Zeit, Raum und Körper hängen zusammen und unterstützen sich gegenseitig, wenn sie zusammen angesprochen werden. Uns steht also so viel mehr zu Verfügung, um individuelle Zugänge zu finden und Informationen zu verarbeiten – und wir alle können davon profitieren.

188  | Dorothee Janssen, Julian Monatzeder, Alexander Wenzlik

Foto: Marco C. Baar.

Anmerkungen 1  Erklärung der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock und des israelischen Außenministers Yair Lapid zur Annahme der Resolution gegen die Leugnung und Verfälschung des Holocaust; in: URL: https://www. auswaertiges-amt.de/de/newsroom/-/2507564 [gelesen am 27. 1. 2022]. 2  Johann Gottfried Herder, zitiert nach: Winfried Nerdinger (Hg.): Ort und Erinnerung. Nationalsozialismus in München, München 2006, 7. 3  Rede Adolf Hitlers am 2. 12. 1938 in Reichenberg, Auszug abgedruckt in: Winfried Nerdinger (Hg.): München und der Nationalsozialismus. Katalog des NS-Dokumentationszentrums München, München 2015, 149. 4  Joseph Goebbels’ Tagebucheinträge am 10. und 11.  November 1938, abgedruckt in: Elke Fröhlich (Hg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil 1, Aufzeichnungen 1923–

1941, Band 6, August 1938-Juni 1939, München 1998, 179–183. 5  Eine Auswahl von 40 antijüdischen Gesetzen und Verordnungen des NS-Regimes findet sich in der Dauerausstellung des NS-Dokumentationszentrums München. Diese sind abgedruckt in: Nerdinger 2015, 206–207. 6  Vgl. Stadtarchiv München (Hg.): »… verzogen, unbekannt wohin.« Die erste Deporta­ tion von Münchner Juden im November 1941, Zürich 2000. 7  Fröhlich 1998, 179–183. 8  URL: https://www.memoryloops.net, Station 040: Herzog-Rudolf-Straße 5, Jüdische Volksschule [angehört am 17. 5. 2022]. Vgl. Alfred Koppel: »Dies ist mein letzter Brief …«. Eine Münchner Familie vor der Deportation im November 1941, München 2014, 30–31. 9  Fröhlich 1998, 179–183. 10  Fröhlich 1998, 179–183. 11  Fröhlich 1998, 179–183. »Always remember. Never forget« | 189

Kim Wünschmann

Gezeichnete Erinnerung: Zeitzeugenschaft und Geschichte in Comics und Graphic Novels

»Why comics? Why mice?! Why the Holocaust?!« Diese drei Fragen werden in so eindringlicher Art und Weise an das Comic-Alter Ego von Art Spiegelman gerichtet, dass es diesen im wahrsten Sinne des Wortes und des Bildes umhaut. Mit dem Stuhl rückwärts umkippend fällt er krachend vom Zeichentisch. Gelbe Sternchen umkreisen den ansonsten in Schwarz-Weiß gezeichneten Gestürzten, der sich mit der einen Hand den schmerzenden Mäusekopf hält und sich mit der anderen auf dem Boden abstützt, um sich wieder aufrichten zu können. Die von Sprechenden außerhalb des Bildrahmens gestellten Fragen stehen bedrängend im Raum: Sie sind in gezackten Sprechblasen mit fetten Lettern gezeichnet und erscheinen in drei aufeinanderfolgenden Panels im Zentrum des zweiseitigen Intros von MetaMAUS, dem auf Spiegelmans Gesprächen mit der Literaturwissenschaftlerin Hillary Chute basierenden Making-of seines Comic-Klassikers über Zeitzeugenschaft und transgenerationale Traumatisierung.1 Spiegelman beschreibt in diesem Intro, wie überrascht und überwältigt er von der großen Wirkung von MAUS – A Survivor’s Tale war, dessen erster Teil 1986 in Buchform erschien; der zweite Teil folgte 1991.2 Wie sehr ihm der kritische und kommerzielle Erfolg seines Werkes zusetzt, wird im Comic deutlich, wenn der Künstler sich in den letzten drei Panels mit großer Mühe die ihn fast erstickende Mäusemaske abreißt und statt eines menschlichen Gesichts ein Totenschädel zum Vorschein kommt. Die gezeichnete Geschichte des Holocaust-Überlebenden Vladek Spiegelman basiert auf Interviews, die Art Spiegelman ab den 1970er Jahren und fast bis zum Tod seines Vaters 1982 schriftlich, aber vor allem mit Magnettonband und Kassettenrecorder aufzeichnete. 1906 im polnischen Schlesien geboren, heiratete Vladek (in den USA später William) Spiegelman 1937 Anja Zylberberg und lebte mit ihr und ihrer Familie in Sosnowiec. Kurz vor dem Überfall der Wehrmacht auf Polen wurde er zum Militärdienst eingezogen und geriet in deutsche Kriegsgefangenschaft, aus der er Anfang 1940 nach Sosnowiec zurückkehrte. Es folgten Ghettoisierung, Zwangsarbeit, die Deportation von Familienmitgliedern in den Tod und schließlich das Untertauchen von Vladek und Anja. Beim Versuch, nach Un190  | Kim Wünschmann https://doi.org/10.5771/9783835349216

Reaktion auf drei eindringliche Fragen zu Comics, Geschichte und Verfremdung. Art Spiegelman: MetaMAUS.

garn zu fliehen, wurden beide verhaftet und im März 1944 in das Konzentrationsund Vernichtungslager Auschwitz verschleppt, wo ihre Wege getrennt wurden. Die Todesmärsche brachten Vladek zuerst nach Groß-Rosen, dann nach Dachau, von wo aus er weiter in Richtung der schweizerischen Grenze getrieben wurde und schließlich die Befreiung erlebte. Auch Anja überlebte, und nachdem beide sich im Sommer 1945 in Sosonowiec wiedertrafen, emigrierten sie nach Schweden. 1948 wurde dort ihr Sohn Art geboren.3 Die Details der Erinnerung an diese Geschichte füllten über die Jahre Papiere und Tonbänder. Bemerkenswert ist allerdings, dass ein Comicprojekt der eigentliche Auslöser für diese besondere und zu seiner Zeit in den USA einmalige Form der graphischen Zeitzeugenschaft war. Art Spiegelman arbeitete an der dreiseitigen Urversion des späteren Long Comics, die 1972 mit dem Titel MAUS in der Underground-Anthologie Funny Aminals (Schreibfehler beabsichtigt!) publiziert wurde.4 Bereits für dieses Werk wählte er die charakteristischen Tiermetaphern und zeichnete Juden und Jüdinnen mit Mäuseköpfen und ihre deutschen Verfolger mit Katzenköpfen. Der Künstler beschreibt in MetaMAUS, wie er seinen Vater in Queens, New York City besuchte, um das von den Eltern eher anekdotisch, sporadisch und stark gefiltert vermittelte Wissen über deren Schicksal im Zweiten Weltkrieg – »what I knew before I knew anything« – zu »verifizieren«.5 Damit verbindet er seine Comic-Kunst mit dem dokumentarischen Anspruch einer in größtmöglicher Faktualität wurzelnden Narration. Mehrere Tage lang sitzen sie zusammen. Vladek erzählt, und der Comic verändert sich. Teil der Darstellung wird zum Beispiel sein Bericht darüber, wie er den Mann, der sein Versteck verraten hatte, später in Auschwitz als Toten beerdigen musste. Gezeichnete Erinnerung | 191

Auch die Gegenwart der Vater-Sohn-Beziehung – im MAUS-Prototyp von 1972 noch rein harmonisch dargestellt im intim und vertraut-sicheren Bild des ZuBett-Bringens mit Gutenachtgeschichte, erzählt im amerikanischen Kinderzimmer – findet in drei Panels Eingang in den Comic. Dass diese Beziehung aber spätestens nach dem Selbstmord Anja Spiegelmans im Mai 1968 eine schwierige bis unmögliche war, zeigt dann der spätere Buchzweiteiler auf so eindrückliche Weise. Der Akt des Zeugnis-Ablegens war es aber, der Vater und Sohn wieder verband, wenn auch in einer distanzierten und eher »funktionale[n] Beziehung«.6 Er wirkte trotz der verstörenden Erinnerungen an Verfolgung, Gewalt und Verlust von geliebten Familienmitgliedern, allen voran Vladeks und Anjas erstem Sohn Richieu, wie eine »Schutzzone« und erzeugte die »familiäre Behaglichkeit« »of having something to talk about other than our disappointment with each other. […] It gave us a site on which we could have a relationship, let’s say.«7

Vom Image der »Schundliteratur« zum ernstzunehmenden Medium Die Schonungslosigkeit, mit der Art Spiegelman die Konflikte mit seinen Überlebenden-Eltern offenlegt, zusammen mit der Frage nach der Darstellbarkeit des Holocausts speziell im Medium Comic, provozieren immer wieder Kontroversen um MAUS. Dass Mutter wie Vater in der gezeichneten Geschichte als Mörderin beziehungsweise Mörder beschimpft werden – Anja, nachdem sie Selbstmord begangen, und Vladek, nachdem er ihre Memoiren vernichtet hatte –, stellt wohl die drastischste Form des Bruchs mit dem Tabu dar, als Angehöriger der zweiten Generation den Überlebenden gegenüber nicht nur Liebe und Respekt, sondern auch Zorn und Enttäuschung zu empfinden.8 Dass bei all der Anerkennung des Werkes bis heute Widerstände gegen MAUS laut werden, zeigt sich an der im Januar 2022 gefällten Entscheidung der Schulbehörde des Landkreises McMinn County im US-Bundesstaat Tennessee, den Comic-Klassiker aufgrund unangemessener Sprache und Darstellungen von Nacktheit vom Lehrplan zu streichen. Dieses Vorgehen, das durchaus als symptomatisch für die gegenwärtig nicht nur in einem Kulturkampf gespaltene Gesellschaft der Vereinigten Staaten gesehen werden kann, führte allerdings dazu, dass MAUS erneut zum Bestseller wurde.9 Im Zentrum der Kritik steht das Medium. In den frühen 1980er Jahren drückten Verleger*innen in den zahlreichen Absageschreiben ihre Bedenken aus über »the Holocaust in comic book form?« und »the natural nervousness one has in publishing something so very new and possibly (to some people) offputting«.10 Andere sprachen von der die Ernsthaftigkeit des Themas verspottenden »Frivolität« eines Comic, in dem jüdische Verfolgte mit Köpfen von Mäusen, Deutsche 192  | Kim Wünschmann

mit denen von Katzen, Pol*innen von Schweinen und US-Amerikaner*innen von Hunden abgebildet werden.11 Als Spiegelman sein Projekt 1988 auf einer vom Museum of Tolerance des Simon Wiesenthal Centers organisierten Konferenz in Los Angeles vorstellte, erinnert er sich daran, wie die teilnehmenden Überlebenden reagierten: »They certainly never read it, but they all knew it was something about Jews as mice, and they knew it was a comic book. And comic books were so far beneath contempt that it was by definition an insult. During the Q&A, I was asked by an old man, ›Couldn’t you not wait until we were dead before you would make such a thing?‹«12 Aus diesem Zitat spricht eine tiefe Abneigung gegen Spiegelmans Wahl des Mediums für das väterliche Zeugnis. Comics galten lange als, wie es der Zeichner und Forscher Scott McCould treffend formuliert, »primitiver, schlecht gezeichneter, halbgebildeter, ramschiger Kinderkram«.13 Für den sich Anfang des 20. Jahrhunderts dynamisch entwickelnden US-amerikanischen Zeitungsmarkt waren sie ein schnell und günstig zu produzierendes Massenerzeugnis, dessen Unterhaltungswert auch in sensationalistischen Inhalten aus den Sparten Action, Horror, Crime und Sex lag, was wiederum einen hohen Absatz garantieren sollte. In Nordamerika wie auch in Europa wurden seit den späten 1940er und den 1950er Jahren moralische Bedenken lauter. Vor allem in bürgerlich-gebildeten Kreisen fürchtete man einen verderblichen Einfluss von Comics auf die Jugend. In Reaktion darauf entstand 1954 in den USA mit der Comic Code Authority eine von den Verlagen selbst initiierte Prüfinstanz.14 MAUS wird zu Recht als Wendepunkt in der Wahrnehmung von Comics als ernstzunehmendem Medium der Annäherung an Geschichte bezeichnet. Graphische Darstellungen von Kriegsschrecken und Massengewalt – das haben jüngste Forschungen auf eindrückliche Weise noch einmal deutlich gemacht – finden sich natürlich schon in früheren Werken sequenzieller Kunst. Hinzuweisen ist hier vor allem auf die Superheld*innencomics des Golden Age und den 1955 erschienenen achtseitigen Comic Master Race von Bernard Krigstein und Al Feldstein, in denen NS-Verbrechen an Tatorten wie den Konzentrationslagern thematisiert werden.15 MAUS knüpft aber ebenso an eine bis in frühere Jahrhunderte zurückreichende »drawing to tell«-Tradition an, nach der Erfahrungen von Krieg und Gewalt zeichnerisch bezeugt werden, auch wenn das Hinschauen schwerfällt. Die Schrecken des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs waren Gegenstand zahlreicher Bilder, die in Ghettos und Lagern oft heimlich angefertigt wurden. Als Akte der Selbstbehauptung konnten sie helfen, das Überwältigende fassbarer zu machen. Als Akte des Widerstands sollten sie Spuren der Verbrechen sichern. Eines der vier berühmten Sonderkommando-Fotos aus Auschwitz-Birkenau wird von Spiegelman in MAUS II graphisch zitiert. Die von seiner Mutter gesammelte Gezeichnete Erinnerung | 193

graue Literatur enthielt auch gezeichnete Zeugnisse wie Paladij Osynkas From Auschwitz. Album of a Political Prisoner und ein vermutlich 1946 zusammengestelltes Heft mit bunten Zeichnungen aus Ravensbrück, wohin Anja Spiegelman aus ­Auschwitz verschleppt wurde.16 Mit der Veröffentlichung von MAUS und der Auszeichnung des Werkes mit dem Pulitzerpreis 1992 kam die breitere Anerkennung von Comics als respektablem Medium, geeignet für die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. Gleichzeitig findet der Begriff »Graphic Novel« immer größere Verbreitung und trägt zur Untermauerung dieses Anspruchs auf literarische und künstlerische Seriosität bei. Um sich genau in die mit diesem Anspruch verbundenen Traditionen einzuschreiben und vom Image der Schundliteratur abzugrenzen, wählte der Zeichner Will Eisner den Begriff als Untertitel für sein 1978 erschienenes Kurzgeschichtenbuch A Contract With God. And Other Tenement Stories.17 Seitdem wirken auch die Verlage an der Prägung des Begriffs der Graphic Novel mit, um ihre Publikationen so an ein breites erwachsenes Lesepublikum vermarkten und in den Feuilletons platzieren zu können.18 Zwischen den Verkaufsstrategien des Buchhandels und dem kreativen Experimentieren der Comicschaffenden, die das Medium immer wieder neu erfinden, entwickeln sich auf diesem hochdynamischen Feld in den letzten Jahren auch Genres wie Documentary Comics, Graphic Memoir oder Graphic History, die neue Themen setzen sowie auch neue Darstellungsformen jenseits des klassisch-standardisierten Layouts einer Comicseite in der einheitlichen Panelstruktur des »uniform grid« finden.19

Zwischen Erinnerungs- und Ereignisgeschichte Für die Beschäftigung mit Zeitzeugenschaft in Comics und Graphic Novels bleibt MAUS zentraler Referenzpunkt. Neben der Verwendung von verfremdenden Tiermetaphern, über die es Spiegelman gelingt, Antisemitismus und Rassismus als stereotype, maskenhafte Zuschreibungen zu dekonstruieren, zeichnet sich die Erzählung dadurch aus, dass sie permanent zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart hin und her wechselt. Für Ole Frahm zeigt diese charakteristische »Simultanität zweier Zeitebenen«, in der das autobiographische Erzählen des Sohnes mit dem Zeugnis des Vaters auf Engste verzahnt wird, dass »die vergangene Geschichte als immer schon Vermittelte, Abwesende, die in der Erinnerung konstruiert werden muß«.20 Der Comic repräsentiert diese Konstruktion der Geschichte und ihre Vermittlung in der Erinnerung auf eindrucksvolle Weise. Spiegelman beschreibt die menschliche Erinnerung als flüchtig. In MetaMAUS 194  | Kim Wünschmann

reflektiert er über die Schwierigkeiten, Erinnerung sprachlich auszudrücken oder in den Grenzen der Sprache nach der Erinnerung der Überlebenden zu fragen. Vladek konnte bestimmte Erlebnisse zu unterschiedlichen Zeiten des Nachfragens fast wortwörtlich identisch wiedergeben. Zu anderen Erlebnissen hatte er im Laufe des Interviewprozesses verschiedene Versionen zu berichten; zu wieder anderen gar keine Erinnerungen. Um sein Zeugnis in ein Narrativ zu überführen, musste es strukturiert und in eine chronologische und thematische Ordnung gebracht werden. Schwierig wurde es auch, wenn die Erinnerung des Vaters nicht mit der historischen Recherche des Sohnes zusammenpasste oder die Erinnerung Lücken aufwies, die andere Quellen füllen könnten: »I was trying to figure out where the elision should be: do I just correct errors based on other people’s authority? Or do I ignore other people’s authority and go strictly with Vladek’s memory as if it was an objective correlative that could be drawn?«21 In diesem Dilemma erweist sich der Comic mit seiner spezifischen Form des bi-medialen Bild-Text-Erzählens als besonders geeignet, um sowohl im Spannungsverhältnis zwischen Erlebnis- und Ereignisgeschichte zu vermitteln, als auch über einen quellenkritischen und verantwortungsbewussten Umgang mit Zeitzeugnissen zu reflektieren. Exemplarisch für diese Fähigkeit des Comics sei hier kurz die »Orchesterszene« im Kapitel »Auschwitz (time flies«) des zweiten Buchs von MAUS besprochen.22 Die Szene illustriert das Auseinanderklaffen von individueller Erinnerung und dokumentiertem historischen Wissen über das Konzentrations- und Vernichtungslager. Auf den ersten Blick bereits, noch ohne die Sprechblasen und Textblöcke gelesen zu haben, sind in diesen vier Panels die permanenten Sprünge zwischen den zwei Zeitebenen zu erkennen. Diese Unmittelbarkeit eines multiperspektivischen Sehens ganzer Seiten und Bildsequenzen auf einen Blick, der dann auch gegen die konventionelle Leserichtung abschweifen kann und Wahrnehmung in eigenem Tempo erlaubt, zeichnet Comics aus und unterscheidet sie von anderen visuell arbeitenden Medien wie Film oder Fotografie, in denen der Blick der Betrachtenden von den Machenden viel stärker kontrolliert werden kann.23 Zwei größere und nahezu identisch erscheinende Szenen marschierender Häftlinge im Lager werden linksbündig auf der Seite untereinander montiert und stehen jeweils kleineren Panels auf der rechten Seite gegenüber, die zeigen, wie Art und Vladek sich bei einem Spaziergang darüber unterhalten, ob es in Auschwitz ein Lagerorchester gab. Die beiden Lagerszenen unterscheiden sich dadurch, dass in der ersten die Gruppe der spielenden Musiker klar zu erkennen ist, wohingegen sie in der zweiten fast vollständig durch die Kolonne der marschierenden Häftlinge verdeckt wird. Lediglich die oberen Instrumentenenden von Kontrabass und Tuba sowie der Taktstock des Dirigenten sind bei genauem Hinsehen auszumachen. Auch der Text verbindet Vergangenheit und Gegenwart. »An orchesGezeichnete Erinnerung | 195 https://doi.org/10.5771/9783835349216

Geschichte und Erinnerung verschränkt im intergenerationellen Dialog über das Lagerorchester im Konzentrationslager Auschwitz. Art Spiegelman: MAUS. A Survivor’s Tale II.

tra?...«, fragt Vladek seinen Sohn beim Spaziergang, nachdem dieser ihm von seiner Lektüre zum Thema berichtet hat. »No, I remember only marching, not any orchestras …«, wird daraufhin die nächste Szene mit dem verdeckten Orchester überschrieben. Im Textblock direkt in diesem Panel heißt es weiter: »From the gate guards took us over to the workshop. How could it be there an orchestra?« Indem Spiegelman die historische Szene also zweimal zeichnet und mit dem gegenwärtigen Vater-Sohn-Dialog verbindet, wird er seinem eigenen dokumentarischen Anspruch an die gezeichnete Geschichte gerecht. Gleichzeitig betont er die Komplexität der Erinnerung und bewahrt so die Autorität des Zeitzeugen.24

Formensprache und Funktionsweise des Comics Die Lesenden der Orchesterszene in MAUS nehmen neben der hybriden Text-Bild-Symbol-Darstellung auch die Leerstellen der Erzählung in Form der die einzelnen Panels trennenden Zwischenräume wahr. Diese als »gutter«, in der deutschen Übersetzung als »Rinnstein« bezeichneten Leerstellen sind konstitutiv für 196  | Kim Wünschmann

Comics. Hier kombinieren Lesende die Sinnzusammenhänge der Geschichte, projizieren Kausalitäten und füllen die Lücken. So entsteht Bewegung – mal schneller, mal langsamer – in einer sonst statisch erscheinenden Präsentation einzelner Bilder. In dieser Induktionsleistung der Lesenden, auch »closure« genannt, liegt, so betont Scott McClould, die Magie und Faszination des Comics: »Hier, in der Grauzone des Rinnsteins, greift sich die menschliche Fantasie zwei separate Bilder und verwandelt sie zu einem einzigen Gedanken«.25 In dieser Kombinationsleistung werden auch die sich über Text und Bild auf unterschiedliche Weise vermittelnden Informationen verbunden, die – darauf weist die Zeichnerin Rutu Modan hin – für sich genommen »kognitiv jeweils anders verarbeitet werden«. So erleben Comiclesende »Ergänzungen, Widersprüch[e], Übereinstimmungen oder Identifikationen – es ergibt sich eine Beziehung, die sich im Laufe der Geschichte verändert.«26 Dass die charakteristische Rahmen-Rinnstein-Architektur und die sich daraus ergebenden zeitlichen und räumlichen Eigenarten des graphischen Erzählens den Comic zum idealen Medium für Zeugenschaft machen, argumentieren überzeugend Ole Frahm und Hillary Chute. Der »zerstreute Blick« der Lesenden nimmt Zwischenräume und Leerstellen wahr, womit also gar nicht erst versucht wird, Lücken zu glätten oder Paradoxien aufzulösen. In gezeichneten Zeugnissen markieren die Zwischenräume »das schmerzliche Fehlen der Ermordeten« und alles, was verloren, unsagbar oder unbewusst ist. Als in der Narration präsentes »Positiv« haben diese weiß gebliebenen Stellen auf der Comicseite ihren sichtbaren Platz. Über die Rinnsteine stehen Anwesendes und Abwesendes in ständiger Wechselwirkung, genauso wie Gegenwart und Vergangenheit, wobei Letztere, wie Frahm treffend formuliert, »nicht als Faktum, sondern nur als Erinnerung, als Fiktion zu haben« ist.27 Indem der Comic also mit seiner spezifischen Formensprache und Ästhetik konventionelle Vorstellungen von Linearität, Kausalität und Chronologie in literarischem wie historiographischem Erzählen herausfordert, kann er auch die Vorstellung von Geschichte, die sich progressiv entfalte und die irgendwann einmal abzuschließen sei, hinterfragen. Verwiesen wird hingegen auf eine außerhalb der ordnenden Darstellung liegende Wirkungsmacht, die sich nur schwer sprachlich vermitteln lässt.28 Damit bestätigt der Comic in seiner Funk­ tionsweise, was die Forschung zur Holocaust-Zeugenschaft als eine epistemologische »Krise« markiert hat: »issues of biography and history are neither simply represented nor simply reflected, but are reinscribed, translated, radically rethought and fundamentally worked over by the text.«29 Trotz allem, so Chute, wagen graphische Zeitzeugnisse die Darstellung des Undarstellbaren. Sie ringen mit der Geschichte und intervenieren in einen ästhetischen und politischen Diskurs, der Gewalterfahrungen und Traumata nur allzu schnell unsichtbar zu machen neigt. Gleichzeitig thematisieren und problematisieren sie aber auch die SchwierigkeiGezeichnete Erinnerung | 197 https://doi.org/10.5771/9783835349216

ten und Unzulänglichkeiten der Darstellung selbst.30 Mit Verweis auf Marjane Satrapis Persepolis bemerkt Rutu Modan treffend, dass die Gewaltgeschichte der Islamischen Revolution im Iran 1979 durch den Comic auf eine Weise darstellbar wird, die Auseinandersetzung erlaubt: »Was auf Fotografien vulgär und pornografisch gewirkt hätte, wurde durch ihre humane Strichführung sublimiert«. Modan selbst ermöglichte das Zeichnen einen Umgang mit dem ihre Lebenswelt prägenden Nahost-Konflikt. Vermittelt über Comics, die »als solche grundsätzlich abstrahieren, verfeinern und abschwächen«, ist Annäherung an schwierige Themen wie Konflikte, Krieg, Gewalt, Krankheit, Tod usw. mit einem distanzierenden, zugleich tolerierbaren und trotz allem würdigen Blick möglich.31 Comics und Graphic Novels sind so offensichtlich »gemacht«, dass die Art und Weise, wie sie Geschichte und Erinnerung inszenieren, im Prozess des Schaffens wie auch in Rezeption und Analyse stets Fragen aufwirft. In der Geschichtsdidaktik wird beispielsweise untersucht, mit welchen Mitteln Zeicher*innen versuchen, historische Authentizität herzustellen. Hans-Jürgen Pandel bietet bereits in den 1990er Jahren verschiedene Authentizitätstypen als Analyseinstrumente an. Er befragt Comics unter anderem auf ihre Fakten-, Personen- oder Erlebnisauthentizität.32 Christine Gundermann konzipiert sieben verschiedene Modi Operandi, mit denen Geschichts­comics Authentizität und damit auch ein Gefühl von »pastness« erzeugen. Diese reichen von der schlichten Behauptung, das Erzählte basiere auf einer »wahren Geschichte« oder sei durch die Zusammenarbeit mit einer einschlägig ausgewiesenen Institution autorisiert, über die Verwendung von Vergangenheitsmarkern wie Bildikonen, dokumentarischen »Beweisen« zur Untermauerung empirischer Triftigkeit, didaktischen Mitteln wie Karten, Diagrammen oder Zeitleisten bis hin zum Auftritt von Zeitzeug*innen im Comic, denen eine große Authentizität zugeschrieben wird. Dabei diskutiert Gundermann auch die Erwartungen der Lesenden von Geschichtscomics, mit denen Zeichner*innen eine Art »Authentizitätsvertrag« eingehen.33 Dass Comics bei den Lesenden Emotionen hervorrufen, betont Gundermann an anderer Stelle. Was in der Wirkung trivial klingen mag, ist im Schaffen ein komplexer kreativer Prozess mit zahlreichen Entscheidungen zu Zeichenstil, Seitenaufbau, Farbgebung, Perspektiven, Panelübergängen und dem richtigen Mischungsverhältnis zwischen Text, Symbol und Bild. Die Emotionen, die ein Geschichtscomic erzeugt, können historisches Lernen befördern, Zugänge ermöglichen und Identifikationsangebote machen. Dabei dürfen allerdings die Erwartungen an das Medium und dessen didaktische Möglichkeiten nicht überstrapaziert werden. Comics bleiben voraussetzungsreich, was die Medienkompetenzen der Lesenden anbetrifft. Sie können, so argumentiert Gundermann schlüssig, kein »historiographischer Ersatz« sein, mittels dessen »uninteressierte und ›bildungsferne‹ Zielgruppen« die Auseinandersetzung mit einer schwierigen Geschichte er198  | Kim Wünschmann https://doi.org/10.5771/9783835349216

leichtert werden soll.34 Informiert in der Bildungsarbeit eingesetzt, können Comics und Graphic Novels jedoch über das Erzeugen von Empathie und Nähe zur eigenen Lebenswelt, kognitives Lernen und die Vermittlung von Struktur- und Hintergrundwissen entscheidend unterstützen.

Erinnerung und Zeugenschaft im Graphic Novel-Projekt zu Ernst Grube Die besondere Form der illustrierten intergenerationellen Zeugenschaft manifestiert sich nach MAUS auch in weiteren Werken wie zum Beispiel in Michel Kichkas Zweite Generation oder Rutu Modans autofiktionalem Das Erbe.35 Graphische Rekonstruktionen von Erinnerung mittels Comics und Graphic Novels entstehen oft auch im engen Dialog zwischen Zeitzeug*innen und Künstler*innen. Immer stärker rücken dabei die Zeugnisse von Überlebenden in den Blick, die die NS-Verfolgung als Kinder und Jugendliche erleben mussten. Unter den jüngst erschienenen Werken ist dabei besonders die Anthologie Aber ich lebe hervorzuheben, für die die Zeichner*innen Barbara Yelin, Miriam Libicki und Gilad Seliktur mit vier Überlebenden zusammengearbeitet haben.36 Alle drei Künstler*innen führten intensive Befragungen durch, um dann im jeweils eignen Stil die Erinnerungen der Zeitzeug*innen visuell zu repräsentieren. Barbara Yelin beschreibt den »stets suchenden Strich«, mit dem sie sich an Erlebnisse, die im Leben weit zurückliegen, in ihrer Wirkung aber ungebrochen stark sind, annähert, um sie graphisch erzählend ausdrücken zu können.37 Was sie in der Arbeit an einem Comic-Projekt antreibe, sei eine bestimmte Fragestellung, die es mit graphischen Darstellungsmöglichkeiten zu ergründen gelte. Im Comic Irmina, der von der Auseinandersetzung mit der Biographie der eigenen Großmutter inspiriert ist und mit den Materialien aus deren Nachlass arbeitet, war dies die Frage nach Widersprüchen im Werdegang einer jungen Frau, die in extremen Zeiten im Großbritannien der 1930er Jahre und dem nationalsozialistischen Deutschland lebte. Yelin betont, wie die Freiheiten des Erzählens in einem graphischen Roman in einer sorgfältigen und akribischen historischen Recherche wurzeln.38 Ähnlich geht auch die Comiczeichnerin Hannah Brinkmann vor. Bereits ihr Debüt Gegen mein Gewissen, in dem anhand der eigenen Familiengeschichte das Thema der Kriegsdienstverweigerung in der Bundesrepublik der 1970er Jahre verhandelt wird, zeichnet sich durch aufwendige Recherchen nicht nur zu Inhalten und Kontexten aus, sondern auch zur Visualität dieser Geschichte, zu konkreten Topographien und Räumlichkeiten sowie zur materiellen Kultur der Zeit, die detailreich in oft großflächigen Panels mit starken Konturen gezeichnet sind. Dieser Stil setzt sich in folgenden Werken wie Jüdische Berufsfachschule Masada und Hitler vor Gericht, einem Gezeichnete Erinnerung | 199

Graphische Rekonstruktion des Überfalls des SA-Sturms 33 auf den Tanzpalast »Eden« in Berlin-­ Charlottenburg. Zeichnung: Hannah Brinkmann / avant-verlag.

mic über den Juristen Hans Litten, fort. Für eine Szene in letzterem Comic, in der der Angriff eines SA-Sturms auf den Arbeiterverein »Wanderfalke« dargestellt wird, forschte sie eingehend, um den Tathergang im Tanzpalast »Eden« in Berlin-Charlottenburg graphisch rekonstruieren zu können. Die Ereignisse dieses 22. Novembers 1930 sollten wenig später in einem spektakulären Prozess verhandelt werden, in dem Litten als Vertreter der Nebenklage dazu beitrug, dass Hitler selbst im Zeugenstand zur politischen Gewalt der NS-Bewegung aussagen musste.39 Derzeit erarbeitet Brinkmann in Kooperation mit dem NS-Dokumentationszentrum München eine Graphic Novel zur Biographie des Überlebenden, Zeitzeugen und Aktivisten Ernst Grube. Zentral für ihre Methode in diesem Projekt sind neben den historischen und visuellen Recherchen vor allem intensive Gespräche mit Grube, in denen dessen Erinnerung erschlossen und reflektiert wird. Dieses Erinnern im Dialog der Generationen erleben Künstlerin wie Zeitzeuge als fruchtbar und dynamisch. Gemeinsames Studieren von schriftlichen Dokumenten und Bildquellen gibt Brinkmann wertvolle Informationen zur Illustration der Geschichte. Sie fragt gezielt auch nach dem visuellen Gedächtnis des Zeitzeugen. Grube wie200  | Kim Wünschmann

Ein Entwurf aus Hannah Brinkmanns Graphic Novel zeigt Ernst Grubes politisches Engagement, für das er in der jungen Bundesrepublik ins Visier der Justiz geriet. Das Buch erscheint im Herbst 2023. Zeichnung: Hannah Brinkmann. Gezeichnete Erinnerung | 201

derum erfährt Denkanstöße und Auffrischungen von Erinnerungen, die im Laufe der Zeit verblassen, da sie im Austausch mit Alters­genoss*­innen, anderen Überlebenden oder politischen Weggefährt*innen nicht mehr aktualisiert oder erweitert werden können. Dabei betont er, wie wichtig es für ihn als Zeitzeuge sei, dass das, was er sagt, auch »belegbar« ist. Im Insistieren darauf, dass das Erzählte nicht angreifbar sein solle, drückt sich der »Anspruch an die Wahrheit der Geschichte«, an empirische Triftigkeit aus, der gerade für Zeitzeug*innen so essentiell ist, und dem die Künstler*innen, die mit ihnen arbeiten, gerecht zu werden und in der spezifischen Bild-Text-Symbol-Formensprache des Comic zu repräsentieren suchen.40 Aktiv in Schulen, Gedenkstätten und der historisch-politischen Bildungsarbeit, ist Grube geübt darin, über traumatisierende Erlebnisse in seiner Biographie zu sprechen. 1932 wurde er in München geboren. Seine Mutter entstammte einer observant lebenden jüdischen Familie aus Darmstadt. Sein Vater, der als selbstän­diger Malermeister arbeitete, war protestantischen Glaubens und kommunistischer Überzeugung. Er wuchs in Ostpreußen auf. Die Eltern trafen sich in München, als der Vater im jüdischen Krankenhaus behandelt wurde, wo die Mutter als Krankenschwester arbeitete. Grube und seine Geschwister erlebten den Nationalsozialismus verfolgt als sogenannte »Geltungsjuden« und Kinder einer »Mischehe«. Sie erfuhren Ausgrenzung und Aggression. Die Schulbildung wurde ihnen verweigert. Die Versorgung der Familie mit Wohnraum und Lebensmitteln war stark eingeschränkt, was dazu führte, dass die Kinder lange Jahre getrennt von den Eltern leben mussten. An seine Zeit im jüdischen Kinderheim in der Schwabinger Antonienstraße 7, wo er von November 1938 bis März 1942 untergebracht war, hat Grube trotz aller Entbehrungen, Zumutungen und Bedrohungen auch positive Erinnerungen: »Wir waren eine große Familie!«41 Vor den ab 1941 einsetzenden Deportationen aus dem Deutschen Reich konnte die Familie nie sicher sein – besonders in der Zeit, als sie zunächst im Barackenlager in Milbertshofen, später im der »Heimanlage für Juden« im Kloster der Barmherzigen Schwestern in Berg am Laim einquartiert wurden. Im Februar 1945 ordnete die Gestapo an, Ernst Grube, seine Mutter Clementine und seine beiden Geschwister in einer Gruppe von bis zu 100 in »Mischehen« lebenden Jüdinnen und Juden nach Theresienstadt zu verschleppen. Dort überlebten sie Hunger und Epidemien und konnten im August 1945 nach München zum Vater Franz Grube zurückkehren.42 Die beiden in den 1990er Jahren publizierten schriftlichen Fassungen von Ernst Grubes Zeugnis enden mit seiner Befreiung von der NS-Verfolgung 1945. Dies ist kein Zufall. Auch wenn er mündlich Zeugnis ablege, so Grube, erzähle er selten über diese Zäsur hinaus. Die Nachkriegszeit würde einerseits in Zeitzeugengesprächen kaum abgefragt, andererseits falle ihm, der als kommunistischer Aktivist in den 1950er Jahren von der westdeutschen Justiz strafrechtlich verfolgt wurde, 202  | Kim Wünschmann

das offene Sprechen darüber schwer.43 Eine zweifache Inhaftierung und die Beobachtung durch den Verfassungsschutz führten zur Kriminalisierung und Stigmatisierung seiner politischen Arbeit. Dass der Überlebende mit kommunistischer Überzeugung mit dieser Erfahrung nicht allein war, betonte der Historiker Jürgen Zarusky in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung der Georg-Elser-Preises 2017 an Ernst Grube. Während Arbeiterbewegung, Gewerkschaften, die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) und vor allem die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) für die Überlebenden nach 1945 als »politische Heimat« und Solidargemeinschaften fungierten, trieb die junge Bundesrepublik im Klima des Kalten Krieges unter anderem mit dem KPD-Parteiverbot 1956 die Illegalisierung des Kommunismus voran. Dass damit auch Traditions­linien des antifaschistischen Widerstands verdrängt wurden, deutete Zarusky als ein Ausschalten von Erfahrungswelten, die allen denjenigen, die zwischen 1933 und 1945 mitgemacht und profitiert hatten, unbequem sein mussten.44 In der entstehenden Graphic Novel soll diese Zäsur überwunden werden und die Lebensgeschichte Ernst Grubes bis zum Jahre 1959, der Verbüßung der zweiten, durch den Bundesgerichtshof verhängten Haftstrafe, erzählt werden. So wird auch seine Zeit auf der FDJ-Jugendhochschule »Wilhelm Pieck« bei Berlin thematisiert, die ihm neben Erfahrungen von Gemeinschaft und Aufbegehren auch das Nachholen von im NS versagten Bildungsmöglichkeiten bot. Der zäsurübergreifende Ansatz des Graphic Novel-Projekts wird dabei der Ganzheitlichkeit von Erinnerung und Zeugenschaft gerecht. Das Erlebte – zumal wenn es im Kontext einer Gewaltgeschichte steht  – lässt sich nicht zwischen ausgewählten Jahreszahlen festklammern. Es wirkt fort bis in die Gegenwart, in der Zeitzeuge und Künstlerin mit Blick auf aktuelle Fragen über Geschichtsdarstellungen reflektieren. Während sich somit das fragengeleitete Zeichnen als Form des historischen Forschens zur Erinnerung begreifen lässt, tragen Comics und Graphic Novels Zeitzeugenschaft und die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte und Wirkung von Nationalsozialismus und Shoah in eine neue Zukunft.

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Anmerkungen 1  Art Spiegelman: Intro, in: Art Spiegelman, MetaMAUS. A Look Into A Modern Classic, MAUS, New York 2011, 8 f. 2  Art Spiegelman: MAUS. A Survivor’s Tale I. My Father Bleeds History, New York 1986; Art Spiegelman: MAUS. A Survivor’s Tale II. And Here My Troubles Began, New York 1991. 3  Eine tabellarische Übersicht über die Stationen der Familiengeschichte vor, während und nach der Verfolgung findet sich in: Spiegelman 2011, 291–294. 4  Art Spiegelman: MAUS, in: Funny Aminals, 1972 /1, o. S., reproduziert in: Spiegelman 2011, 105–107. Von Funny Aminals erschien nur eine Nummer in der Auflage von 20–30.000 Kopien. Vgl. Hillary L. Chute: Disaster ­Drawn. Visual Witness, Comics, and Documentary Form, Massachusetts / London 2016, 156. Chute weist darauf hin, dass im Jahre 1972 – auch unter dem Eindruck des »kollektiven Traumas« des Viet­namkrieges – non-fiktionale autobiographische Comics als ein neues Genre entstehen. Sie nennt für die USA, neben dem dreiseitigen Prototyp von MAUS, den bereits kurze Zeit vorher veröffentlichten Comic Binky Brown Meets the Holy Virgin Mary, in dem Justin Green in Wort und Bild eine schonungslos persönliche Auseinandersetzung mit seiner Sexualität und seinen Zwangskrankheiten präsentiert, deren Ursachen er in einer repressiven, streng katholischen Sozialisation sieht. Ebenfalls 1972 entstand in Japan die Urversion von Keiji Nakazawas Zeugnis-Comic über sein Überleben des US-amerikanischen Atombombenabwurfs auf Hiroshima. Aus dem Comicbuch I Saw It entwickelt sich später Nakazawas Mehrteiler Barfood Gen, deutsch übersetzt als Barfuß durch Hiroshima, Teil 1–4, Hamburg 2004–2005. Vgl. Chute 2016, 6, 153–154. 5  Spiegelman 2011, 22. 6  Ole Frahm: Genealogie des Holocaust. Art

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Spiegelmans MAUS – A Survivor’s Tale, München 2006, 118. 7  Spiegelman 2011, 24. 8  Art Spiegelman reflektiert diesen Tabubruch in Spiegelman 2011, 103. Die Bezeichnung der Mutter als Mörderin findet sich im letzten Panel des bereits 1973 in Short Order Comix 1 publizierten Prisoner on the Hell Planet: A Case History, der in Spiegelman 1986, 100– 103, reproduziert wird. Der Vater wird auf der letzten Seite dieses ersten Teils von MAUS (Seite 159) als Mörder bezeichnet. Zur Darstellbarkeitsdebatte, vgl. Daniela Kaufmann: Art Spiegelmans Maus. Vom Suchen und Finden (k)einer Metapher, in: Nina Heindl/Véronique Sina (Hg.), Notwendige Unzulänglichkeit. Künstlerische Repräsentationen des Holocaust, Münster 2017, 127–142. 9  Karin Krichmayer: Verbot von Holocaust-Comic »Maus« an US-Schulen löst Kontroverse aus, in: Comic. Das Magazin für Comic-Kultur, 7. 2. 2022, URL: https://www. comic.de/2022  / 02/verbot-von-holocaust-­ comic-maus-an-us-schulen-loest-kontroverseaus/ [gelesen am 15. 5. 2022]; Art Spiegelmans Comic »Maus«. Die gestrichene Schullektüre wird zum Bestseller. Ole Frahm im Gespräch mit Marietta Schwarz, Deutschlandfunk Kultur, 6. 2. 2002, URL: https://www.­ deutschlandfunkkultur.de/art-­spiegelmanmaus-usa-bestseller-comic-102.html [gelesen und gehört am 29. 5. 2022]. Zur Analyse der kontroversen Szenen vgl. »Gefangener auf dem Höllenplaneten«. Art Spiegelmans Comic »Maus« in der Öffentlichkeit, Markus Streb im Gespräch mit Jonas Engelmann, 23. 2. 2022, URL: https://www.comic.de/2022  /02/­gefang ener-auf-dem-hoellenplaneten-art-spiegelma ns-comic-maus-in-der-oeffentlichkeit/ [angesehen am 29. 5. 2022]. 10  Schreiben von Bob Miller, St. Martin’s Press, Inc. an Jonathan Silverman, Scott Meredith Literary Agency, Inc., 28. 9. 1983;

Schreiben von Gerald Howard, Pengiun Books, an Jonathan Silverman, Scott Meredith Literary Agency, Inc., 21. 9. 1983, reproduziert in: Spiegelman 2011, 77. 11  Schreiben von David Stanford, Holt, Rinhart and Winston an Jonathan Silverman, Scott Meredith Literary Agency, Inc., 12. 8. 1983, reproduziert in: Spiegelman 2011, 78. 12  Spiegelman 2011, 99. 13  Scott McCloud: Comics richtig lesen, Hamburg 2011, 11. 14  Amy Kiste Nyberg: Seal of the Approval. The History of Comics Code, Mississippi 1998; Andreas C. Knigge: Geschichte und kulturspezifische Entwicklungen des Comics, in: Julia Abel/Christian Klein (Hg.), Comics und Graphic Novels. Eine Einführung, Stuttgart 2016, 3–37, hier 19–22; Kees Ribbens: Popular Understandings of the Past. Interpreting History through Graphic Novels, in: Paula Hamilton (Hg.), The Oxford Handbook of Public History, Oxford 2017, 105–118, hier 107. 15  Bernard Krigstein/Al Feldstein: Master Race, in: Tales Designed to Carry an Impact, 1955 /1, URL: https://from-dusk-till-drawn. com/2016 /05 /02/master-race-by-bernie-krigstein-usa-1955/ [gelesen am 15. 5. 2022]; Markus Streb: Early Representations of Concentration Camps in Golden Age Comic Books. Graphic Narratives, American Society, and the Holocaust, in: Scandinavian Journal of Comic Art, 2016 /3:1, 28–63; Ewa Stańczyk (Hg.): Beyond MAUS. Comic Books, Graphic Novels and the Holocaust. Special Issue des Journal of Modern Jewish Studies 2018/17; Ole Frahm/Hans-Joachim Hahn/Markus Streb (Hg.): Beyond MAUS. The Legacy of Holocaust Comics, Köln/Weimar/Wien 2021. 16  Hillary Chute nennt Jacques Callots Radierungen Les Grandes Misères de la Guerre aus dem 17.  Jahrhundert sowie Francisco de Goyas Graphiken Desastres de la Guerra aus dem 19. Jahrhundert als wichtige frühe Bezugspunkte einer »drawing to tell«-Tradi-

tion graphischer Zeugenschaft. Vgl. Chute 2016, 28. Zu dieser Tradition während des Holocaust vgl. Chute 2016, 162–176; Spiegelman 2011, 14–17, 49–57. Das Zitat des Sonderkommando-Fotos findet sich in Spiegelman 1991, 72. Aus der umfangreichen Forschungsliteratur zur visuellen Repräsentation des Holocaust vgl. v. a. Ziva Amishai-Maisels: Depiction and Interpretation. The Influence of the Holocaust on the Visual Arts, Oxford 1993; Kathrin Hoffmann-Curtius: Bilder zum Judenmord. Eine kommentierte Sichtung der Malerei und Zeichenkunst in Deutschland von 1945 bis zum Auschwitz-Prozess, Marburg 2014; Jörn Wendland: Das Lager von Bild zu Bild, Köln / Weimar / Wien 2017; Christiane Heß: Ein/gezeichnet: Zeichnungen und Zeitzeugenschaft aus den Lagern Ravensbrück und Neuengamme (Arbeitstitel), Berlin i. V.; Christiane Heß verdanke ich auch den Hinweis, dass die mit der Angabe »artist unknown« in Spiegelman 2011 und Chute 2016 reproduzierten Auszügen aus dem Ravensbrück-Album von der Künstlerin Olena Wojtowycz stammen. 17  Will Eisner: A Contract with God. And Other Tenement Stories, New York 1978. 18  Andreas C. Knigge: KLONK, BOING, WUSCH!!! Eine kurze Kulturgeschichte des Comics, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2014 /33–34, 11–16, hier 16. 19  Vgl. Nina Mickwitz: Documentary Comics. Graphic Truth-Telling in a Skeptical Age, London 2016. Zu erwähnen ist hier besonders das stark im Stil der Collage arbeitende und als »Graphic Memoir« bezeichnete Werk von Nora Krug: Heimat. A German Family Album, London 2019. Im Verlag Oxford University Press besteht seit 2012 die Reihe »Graphic History«, in der Geschichtscomics mit wissenschaftlichen Kontexttexten, der Reproduktion von den Zeichnungen zugrundeliegenden Primärquellen sowie einer methodischen Reflexion publiziert werden. Für diese Reihe erarbeitet die Autorin zusammen mit Stefanie

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Fischer und der Illustratorin Liz Clarke den Band »Oberbrechen: A German Village Confronts Its Nazi Past«, der 2023 erscheinen soll. 20  Frahm 2006, 10. 21  Spiegelman 2011, 30. 22  Spiegelman 1991, 54. 23  Rutu Modan nennt die Vorausschau als ein Prinzip des Comic-Lesens und spricht vom »peripheren Sehvermögen«, mit dem in Comics immer die Seite als ganze wahrgenommen wird. Rutu Modan: Was wir sehen, wenn wir Comics lesen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 5. 2022. Ich danke Cornelia Shati-Geißler für den Hinweis auf diesen Artikel. 24  In MetaMAUS reflektiert Spiegelman über die Möglichkeit, dass sein Vater das Lagerorchester in Auschwitz tatsächlich nicht gesehen oder gehört haben könnte, da er zu seinem Arbeitseinsatz in einer der Werkstätten wohl nicht durch das Haupttor, sondern durch eines der anderen Tore marschieren musste. Spiegelman 2011, 30. 25  McCloud 2011, 74–75. 26  Modan 2022. 27  Frahm 2006, 15, 121. 28  Chute 2016, 4, 21. 29  Shoshana Felman/Dori Laub: Testimony. Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History, New York 1992, xvi-xv. 30  Chute 2016, 5. 31  Modan 2022; Marjane Satrapi: Persepolis, Zürich 2013. 32  Hans-Jürgen Pandel: Die Wahrheit der Fiktion. Der Holocaust im Comic und Jugendbuch, in: Bernd Jaspert (Hg.), Wahrheit und Geschichte. Vom Umgang mit deutscher Vergangenheit. Hofgeismarer Protokolle Nr. 298, Hofgeismar 1993, 72–109. 33  Christine Gundermann: Inszenierte Vergangenheit oder wie Geschichte im Comic gemacht wird, in: Hans-Joachim Backe u. a. (Hg.), Ästhetik des Gemachten. Interdisziplinäre Beiträge zur Animations- und Comicforschung, Berlin / Boston 2018, 257–283. Den Begriff des »authenticity contract« zwischen

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Produzierenden und Rezipierenden entlehnt Gundermann bei Gunn Enli: Mediated Authority. How the Media Constructs Reality, New York 2015. 34  Christine Gundermann: Geschichtskultur in Sprechblasen: Comics in der historisch-politischen Bildung, in: APuZ 2014 /22– 34, 24–29, hier 24. 35  Michel Kichka: Zweite Generation – Was ich meinem Vater nie gesagt habe. Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock, Köln 2014; Rutu Modan: Das Erbe. Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer, Hamburg 2013. Vgl. auch Assaf Gamzou: Third Generation Graphic Syndrome. New Directions in Comics and Holocaust Memory in the Age after Testimony, in: The Journal of Holocaust Research, 2019 /33:3, 224–237. 36  Barbara Yelin/Miriam Libicki/Gilad Seliktur: Aber ich lebe. Vier Kinder überleben den Holocaust, München 2022. 37  Barbara Yelin, zit. n. Paul-Moritz Rabe: Nachwort, in: Jan Bazuin, Tagebuch eines Zwangsarbeiters. Mit Illustrationen von Barbara Yelin. Aus dem Niederländischen von Marianne Holberg, München 2022, 129–146, hier 144. 38  Barbara Yelin: Irmina, Bonn 2015, o. S.; Notizen der Autorin zum Gespräch mit Barbara Yelin im Rahmen des Vertiefungskurses »Geschichte im Comic. Graphische Darstellungen der Zeitgeschichte« am Historischen Seminar der LMU München im Wintersemester 2020 /21, 25. 1. 2021. 39  Hannah Brinkmann: Gegen mein Gewissen, Berlin 2020; Hannah Brinkmann: Jüdische Berufsfachschule Masada, in: Meike Heinigk u. a. (Hg.), Nächstes Jahr in. Comics und Episoden des jüdischen Lebens, Mainz 2021; Hannah Brinkmann: Hitler vor Gericht, in: Monika Powalisz/Kai Pfeiffer (Hg.), Gerne würdest Du allen so viel sagen. Unterbrochene Gespräche des 20. Jahrhunderts, Berlin i. E. Zum Edenpalast-Prozess von 1931 vgl. Benjamin Carter Hett: Crossing Hitler. The Man

Who Put the Nazis on the Witness Stand, Oxford 2008, 76–99. 40  Shoah-Vermittlung und Erforschung durch Comics / Graphic Novels. Ein Gespräch zwischen Hannah Brinkmann und Kim Wünschmann, in: Podcast »Jüdische Geschichte Kompakt« des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden und des Moses Mendelssohn Zentrums für Europäisch-Jüdische Studien, Folge 27 (1. 6. 2022), 23:20–26:07, URL: https://juedischegeschichtekompakt.­ podigee.io/28-staffel6_­folge1_graphic-­novels_ ein-gespraech-zwischen-kim-­wuenschmannund-hannah-brinkmann [angehört am 2. 6. 2022]. 41  Ernst Grube: »Du Jud’, schleich’ dich!«. Kindheit in München 1932 bis 1945, in: Angelika Baumann (Hg.), Jüdisches Leben in München. Lesebuch zur Geschichte des Münchner Alltags, München 1995, 43–48, hier 45. 42  Ernst Grube: »Den Stern, den tragt Ihr nicht!« Kindheitserinnerungen an die Judenverfolgung in München, in: Dachauer Hefte, 1993 /9, 3–13, hier 12 f. Zu den Sammel- und Durchgangslagern Milbertshofen und Berg am Laim vgl. auch Maximilian Strnad: Zwi-

schenstation »Judensiedlung«. Verfolgung und Deportation der jüdischen Münchner 1941–1945, München 2011. 43  Brinkmann, Wünschmann 2022, 31:30– 33:09. 44  Jürgen Zarusky: Laudatio für den Georg-Elser-Preisträger 2017 Ernst Grube, Aufzeichnung der Preisverleihung am 7. 11. 2017 im NS-Dokumentationszentrum München, URL: https://www.youtube.com/watch?v=I-0d6MUUbgM [angesehen am 3. 6. 2022], 23:50–30:49. 1954 verbüßte Grube eine siebenmonatige Haftstrafe wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Er hatte in München an Protesten gehen die Verlängerung des sams­ täglichen Ladenschlusses teilgenommen und ihm wurden ein angeblicher Gewaltaufruf gegen die Polizei und eine Abwehrbewegung gegen einen berittenen Polizisten zur Last gelegt. 1959 verurteilte ihn der Bundesgerichtshof zu einem Jahr Gefängnis wegen »Zuwiderhandlung gegen das Verbot der KPD in Tateinheit mit Geheimbündelei in staatsgefährdender Absicht und mit einem Vergehen gegen § 9, Abs. 1 des Sprengstoffgesetzes«.

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Peter Poth

»Widerstand aus der Kraft der Erinnerung« – Ernst Grube und die Aktualität einer Erziehung nach Auschwitz

Wer hier für eine Sache eintritt, die überholt und abgetan scheint, weil der Geist der Zeit über sie hinweggegangen ist, bringt sich in eine ungünstige Position. Dennoch will ich im Folgenden das Wagnis unternehmen, zu zeigen, dass das Projekt einer »Erziehung nach Auschwitz« noch immer an der Zeit ist und wohl auch bleiben wird, obwohl nicht zu übersehen ist, dass die Zeitläufte eher auf eine Holocaust-Education setzen, die zumeist keine weiteren pädagogischen Ambitionen hat und sich bescheiden als »teaching the holocaust« auf die Wissensvermittlung konzentriert.1 Diese Engführung erscheint mir prinzipiell bedenklich, sollte aber gerade jetzt angesichts aktueller Entwicklungen im Erinnerungsdiskurs und deren gesellschaftlicher Hintergründe überwunden werden. So will ich mich zunächst einigen kritischen Stimmen in diesem Zusammenhang zuwenden, um die Ausgangslage zu vermessen (1). Es wird sich zeigen, dass sich vielfältige Ansatzpunkte bieten für eine »Erziehung nach Auschwitz« und ihr Bildungskonzept (2). So pädagogisch informiert, soll herausgearbeitet werden, dass Ernst Grube sein Leben und Arbeiten, sein politisches Engagement und öffentliches Wirken so eingerichtet hat, dass er den theoretischen Stachel dieses kritischen Erziehungsprojekts in seinem Tun praktisch werden lässt (3). Fern liegt es mir allerdings, Ernst Grube zu vereinnahmen oder begrifflich »einzuhegen«; lediglich besser verstehen will ich, wie er – immer auf der Höhe der Zeit – sein gegenwärtig-eingreifendes Handeln aus dem kritischen Geist der Erinnerung versteht – vor dem Hintergrund einer Biografie, in die die nationalsozialistische Verfolgungsgeschichte eingeschrieben ist und bleibt.

Von der »Normalisierung« der Erinnerung und ihrer Entlarvung Deutschland, oft als Musterschüler in Sachen Gedenken bezeichnet, wird, je länger desto deutlicher, von einem gewissen »Unbehagen an der Erinnerung«2 heimgesucht, das sich zunächst eher akademisch leise und vorsichtig, dann aber doch 208  | Peter Poth

in einigen lauteren, ja fast schrillen Stimmen ausdrückte. Samuel Salzborn3 und Max Czollek,4 die die »musterhafte« Erinnerungsharmonie radikal hinterfragen, um sie dann als Missverständnis zu entlarven und zu verabschieden, sollen hier Gehör finden. Eine »Erziehung nach Auschwitz« muss sich – ob sie will oder nicht – zu diesem Verabschiedungsgestus verhalten. Beide Autoren, gleichermaßen aufgeschreckt durch die Renaissance des rechtspopulistischen Denkens in Deutschland, erforschen die seltsame Gleichzeitigkeit der (angeblichen) Entmächtigung der NS-Vergangenheit mit dem Machtzuwachs menschenfeindlicher Ideologien aus ihrem Geiste. Dass dies angesichts der »blutige(n) Realität« des Antisemitismus sowie des konzentrierten »Angriffs auf die Demokratie«, wie Salzborn die politischen Erfolge der AfD zu Recht deutet, ein dringendes Anliegen ist, liegt auf der Hand.5 Mythen, bei Salzborn der Mythos von der »kollektiven Unschuld« der Deutschen, machen unempfindlich gegen die Zumutungen der Realität, eliminieren Widersprüchlichkeiten und verschaffen Orientierung. So habe die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zwar ihren Weg vom öffentlichen Beschweigen zum öffentlichen Gedenken genommen, doch ohne dass sich in der mythischen Tiefenschicht, immer ihrer Unschuld sicher, viel geändert habe.6 Diese realitätsimmunisierende Schuldabwehr spiegle sich, so Salzborn, in der ungebrochenen Dauerpräsenz der Vergangenheit im familiären Bildgedächtnis und der fortwährenden medialen Labung am gereinigten deutschen Heldentum (vor allem im Kampf gegen den Bolschewismus) ebenso wie im Angerührtsein durch das gemeinsame Leid einer anthropologisch verstrickten Schuldgemeinschaft bei Eliminierung aller Unterschiede zwischen Tätern und Opfern sowie in der fortdauernden Gewissheit einer deutschen Mentalität, die dem »Lob der Disziplin« und weiteren Untugenden frönt.7 Das Fortwesen des eigentlich nie verschwundenen, wenn auch gereinigten Nationalsozialismus, insbesondere des Antisemitismus, bilde als »Gegen-Geschichte« die wahre Geschichte zu einer so konstruierten wie universalen »Unschuld«, die nicht bereit ist, und es nie war, Verantwortung zu übernehmen.8 Das Narrativ »Erfolgsgeschichte der Vergangenheitsbewältigung« müsse in Wirklichkeit als »zentrale Lebenslüge der bundesdeutschen Geschichte« buchstabiert werden.9 Veränderungen, etwa durch die 68er, Konjunkturen der rechtsextremen Gewalt und auch partielle Absetzungsbewegungen, etwa im kritischen Bürgertum oder in der Wissenschaft, nimmt er wahr,10 aber das sind ihm eher Ausnahmen von der Regel. Regelmäßig gehe damit ein »Schuldabwehrantisemitismus« als Transformationsprodukt des NS-Rassenantisemitismus einher, der es ermöglicht, entschuldet einem normalisierten Nationalstolz zu frönen.11 »Die schuldabwehrende Täter-Opfer-Umkehr als zentrales Motiv der bundesdeutschen Erinnerungspolitik«,12 als Grundmelodie dieser Entwicklung, hat damit ihr Ziel erreicht. »Widerstand aus der Kraft der Erinnerung« | 209

Man mag Salzborns Deutung einseitig nennen, demaskierend und erhellend ist sie allemal. Man ist geneigt, sich die Augen zu reiben ob des lautlosen Verschwindens der »Erinnerung« und ihrer politischen Erfolge. Bildungsarbeit erscheint hier plötzlich als höchstens selbstreferentiell sinnvolle Veranstaltung. Ob das zutrifft, sei dahingestellt. Mich interessiert hier eher ein analytischer Aspekt; Salzborn vermag als Ursache für die Fortdauer der politischen Desorientierung einzig den ungebrochenen Strom der inneren, familiären und generationellen Tradierung des Nationalsozialismus zu erkennen. Diese Individualisierung der Verantwortungslosigkeit, weitergegeben im perversen Familiengedächtnis, »die familiäre Täterschaft verdrängend in das Unbewusste, aus dem es dann – als Schuldabwehr, als Israelhass, als Palästinensersolidarität – wieder hervorbricht,«13 erscheint mir jedoch als reduktionistisch. Damit wird das ideologische Moment, das immer auch »externe« Interessen bedient, ausgeblendet und die gesellschaftliche Funktion zum Beispiel des Rechtspopulismus bleibt unverstanden. Dazu unten mehr. Hat Salzborn nun die Unschuld der Deutschen hinreichend dekonstruiert, ergeht auch an sie, die Deutschen, Max Czolleks Aufruf zur Desintegration, der zwar ein gesellschaftspolitisch umfassenderes Ziel verfolgt, zunächst aber auf die »deutsch-jüdische […] Versöhnung«14 zielt, die ihm – im wahrsten Sinne des Wortes  – suspekt vorkommt. Aufgrund dieser Konstellation muss die »Desintegration«, die primär auf die jüdische Minderheit zielt, auch die nicht-jüdische Mehrheit mit einbeziehen. Seine Hermeneutik des Verdachts fragt dann nach den Entstehungszusammenhängen dieser Versöhnung und legt so den hintergründigen Sinn der inzwischen erreichten Normalität des Erinnerns und Gedenkens frei, als dessen eigentliche Wahrheit sich die Normalisierung des deutschen Nationalbewusstseins entpuppt.15 Was nach außen, öffentlich als die reziproke Anerkennung des Anderen erscheint, ist die Illusion eines effektiv inszenierten »Gedächtnistheaters« namens Erinnerungskultur, mit dem alleinigen Ziel, zunächst die »Wiedergutmachung« der deutschen Kultur16 und dann die »Wiedergutwerdung der Deutschen«17 zu betreiben. Die Juden – nach 1945 – hätten dabei als Statisten mitwirken dürfen, ohne Einfluss auf den Gang der Handlung. Inzwischen sei das mit den sich wechselseitig bedingenden Rollen »gute Deutsche« und »gute Juden« besetzte Stück im vorläufig letzten – völlig entdramatisierten – Akt angekommen, die Katharsis als vollkommene Rollenkongruenz im Zeichen der deutschen Identifizierung mit den Opfern vollzogen.18 Hat man diesen theatralischen Schein durchschaut, zeigt sich dahinter eine nach wie vor leitkulturell und ethnisch geschlossene Gesellschaft, in die sich Andere integrieren müssen, sei es auch um den Verlust der eigenen Identität und der eigenen Geschichte – Versöhnung auf Deutsch eben.19 210  | Peter Poth

Diesem Befund setzt Czollek seine Vision einer Gesellschaft »als Ort der radikalen Vielfalt«20 entgegen. Wenn er den Weg dorthin mit dem provokativ-missverständlichen Begriff »Desintegration« umschreibt, meint Czollek zunächst ein kulturell-identitätspolitisches Modell der offen-wechselseitigen Anerkennung aller gesellschaftlichen Gruppen auf Augenhöhe.21 Diese zielt direkt auf das herrschende Integrationsparadigma, das er an seiner eigenen Widersprüchlichkeit als hierarchisch-assimilierendes Projekt gescheitert sieht.22 Auch hier mehr Schein als Sein, »Integrationstheater« eben. Das Gedächtnistheater zum Verschwinden bringen soll die Forderung an alle Beteiligten: »Desintegriert Euch!«, wobei hier »Desintegration bedeutet, die vereinnahmende deutsche Identifikation mit den Opfern zu unterbinden«.23 Die rollenbedingte Realitätsverweigerung wäre dann obsolet und Integrationskonzepte im Geiste von Leitkultur und Heimat würden ihre wahre Natur offenlegen: die Produktion von Fremdheit und Ausgrenzung auf der Basis eines essentialistischen »Kulturnationalismus«, der nur Anpassung kennt und honoriert. Die Aufhebung der Leitkultur und die anerkennende Wahrnehmung der Minderheiten würden dann auch den richtigen Blick auf die Normalisierung und den deutschen Nationalstolz ermöglichen – letztlich als Fortsetzung einer nie aufgearbeiteten Volksgemeinschaftsideologie mit anderen Mitteln.24 Czolleks Tiefen-Blick ermöglicht es ihm, die gesellschafts- und erinnerungs­ politisch kontraproduktive Funktionslogik des Gedächtnis- und Integrationstheaters offenzulegen und als eine zu überwindende zu markieren. Dabei setzt er vor allem auf kulturelle Aktivitäten.25 Fraglich ist, ob sein Rollenkonzept, das auch seine Lösungsperspektive bestimmt, nicht zu kurz greift und dessen politische und soziale Vermitteltheit ignoriert. Denn diese Identifikationsmuster sind viel tiefergehender gesellschaftlich bestimmt als Czollek meint, aktuell unter der Regie einer neoliberalen Modernisierungspolitik, die durch ihre vielfältigen sozialen Kriseneffekte die Basis bildet für die zunehmende Attraktivität rechter und rechtspopulistischer Ideologien. So dringen Salzborns und Czolleks letztlich entpolitisierte Deutungen nicht zu den wirklichen Ursachen dieser Entwicklungen vor. Hier wäre von einer kritischen Theorie zu lernen, die Analyse weiterzutreiben hin zur soziökonomischen Bedingtheit der politischen Orientierungen. Unter Vermeidung modernisierungstheoretischer Kurzschlüsse kann man zeigen, dass der Rechtspopulismus als »Krisenreaktionsmodus« zu deuten ist.26 Ich will nun ausführen, dass und wie Adornos Konzept einer »Erziehung nach Auschwitz« diesen Deutungshorizont theoretisch integriert und praktisch fruchtbar macht.

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Rückwendung nach vorn: Auschwitz als Ende und Anfang – eine pädagogische Perspektive Spricht man von Auschwitz als »Zivilisationsbruch« (Dan Diner), erscheinen der Ort und das Geschehen als End- und Nullpunkt einer geschichtlichen Tendenz, die dem Projekt der Aufklärung als dialektischem Prozess schon immer eingeschrieben war. Das ist die Entlarvungsperspektive, die die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno einnimmt. Jede geistige Bewältigung ist verbaut – weder die der gedanklichen Durchdringung noch die der gedankenverlorenen ästhetischen möglich: »Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll.«27 Doch ist dieser radikalen Aussage eine metakritische eingeschrieben. Denn mit dem Aussprechen der Aporie ist man schon über sie hinaus. Die Rede von der Unmöglichkeit einer Kultur nach Auschwitz öffnet zugleich die Perspektive über Auschwitz hinaus. Identifikation fungiert hier als bestimmte Negation, zwar im Modus der Selbstaufhebung, aber doch so, dass sie den Blick auf das Bessere freigibt, damit eine Welt überhaupt denkbar werde, in der »Auschwitz nicht noch einmal sei«.28 Dieser vorsichtige Gedanke, begründungsunfähig an sich, trägt in sich ein Maß einer anderen Welt, in der sich – ohne »Auschwitz«, also zumindest in Ansätzen menschenwürdig – leben lässt. Es kann nur von ganz unten und außen kommen: »Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts ähnliches geschehe.«29 Kants Idealismus ist entmächtigt; was bleibt, ist der Mensch als ein empirischer – und Auschwitz als seine welt-stürzende Tat, in der die Welt wider alle Vernunft nicht untergegangen ist – und eine neue, alternativlose Selbst-Verpflichtung: Wo früher Freiheit war, herrscht jetzt Zwang, radikale Negativität, die nicht überbietbar scheint. Doch übersieht, wer hier nur einen unmittelbaren Zwangszusammenhang sieht, die Form(ung); ein kategorischer Imperativ ist eine Gedanken-, eine Reflexionsfigur. Aller Unfreiheit zum Trotz scheint hier zumindest das Andenken gegen den bisherigen Weltlauf als Möglichkeit auf. Wenn wir nun einen neuen, aber doch kategorischen Imperativ zur Basis unseres Weltverhältnisses machen, gibt es auch keine Alternative zu den – jetzt freilich recht eigentlich grundlosen – humanen »Basiskompetenzen« Kants: Mündigkeit, Autonomie, Selbstbestimmung. Da aber auch für Adorno der kritische Weg allein noch offen ist, muss die »Wendung aufs Subjekt«30 dessen gesellschaft­ liches Vermitteltsein mit einbegreifen – angesichts der »total verwalteten Welt« des Spätkapitalismus. 212  | Peter Poth

Die folgende kurze Skizze kann nicht mehr als den Nerv von Adornos pädagogischem Denken – seine Analyse der spätkapitalistischen »Anthropologie der Erfahrungsunfähigkeit« – freilegen und für das Verständnis des Erinnerungsdenkens und -handelns Ernst Grubes fruchtbar machen. »Erziehung wozu?«31 – diese Frage Adornos zielt auf Grundsätzliches und fordert eine erste Bestimmung eines »Erziehungszieles in einem sehr prinzipiellen Sinn«, das mit der »Herstellung des richtigen Bewusstseins« bestimmt und begrifflich gefasst wird als »Mündigkeit«.32 Angesichts des permanent drohenden »Grauens« kann es keine Alternative zur autonomen »Willensbildung eines jeden Einzelnen«33 geben, muss praktische Vernunft sein, da ohne »unbeirrbares und insistentes Denken, so etwas wie die Bestimmung dessen, was zu tun richtig sei, richtige Praxis überhaupt, nicht nachvollziehbar ist«.34 Bei aller Dialektik der Mündigkeit, die auch zur gesellschaftlichen Anpassung notwendigerweise ein Verhältnis finden muss, bleibt hier doch entscheidend: »die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nichtmitmachen«.35 Das Trikolon verweist implizit auf entfremdete Verhältnisse, die zu kritisieren sind und denen man sich entgegenzustellen hat, Mündigkeit in ihrem Vollzug, die aber erst herzustellen ist. Wenig hilfreich erscheint Adorno dabei ein Blick in die »Mündigkeits-Wissenschaft« schlechthin, die Pädagogik, als deren Hauptproblem – damals so aktuell wie heute – er die pädagogische Auszeichnung der Konkurrenz, des Wettbewerbs in Theorie und Praxis sieht, wobei doch klar sein sollte, »daß der Wettbewerb ein im Grunde der humanen Erziehung entgegengesetztes Prinzip ist«.36 Wettbewerb, als harmloses Mittel zur pädagogischen Effizienzsteigerung sich gerierend, hat also jegliche Schuldvermutung gegen sich und gilt als Widerspiel des auf Dauer gestellten und universalen Grundprinzips der kapitalistischen Konkurrenz-Gesellschaft – mit der ständigen Gefahr der Entgleisung in die Barbarei. Daraus resultiert als soziales Prinzip eine universale »Kälte«, die die so zugerichteten Wettbewerbssubjekte als einzigen Existenzmodus noch kennen und die Auschwitz erst ermöglicht hat.37 Kälte wird durch Härte im Geiste einer Erziehung zur Konkurrenzfähigkeit, die »durch und durch verkehrt [ist]«,38 da sie den geistigen Menschen innerlich verkümmern lässt. Auschwitz als Ereignis schärft den Blick für die ganze Dramatik der, auch pädagogisch vermittelten, inhumanen Tendenzen; die Ich-Schwäche, Folge der bürgerlich-autoritären Erziehung, führt zur »blinde[n] Identifikation mit dem Kollektiv«, das schwache Ich flüchtet in die »Pseudo-Stärke« einer technischen Weltbemächtigung, Dinge wie Menschen werden »warenförmig«, das Selbst zum »verdinglichte[n] Bewusstsein«.39 Allesamt Momente einer bürgerlichen Anthropologie auf dem Weg in die Barbarei: »Was man so ›Mitläufertum‹ nennt, war primär Geschäftsinteresse: daß »Widerstand aus der Kraft der Erinnerung« | 213

man den eigenen Vorteil vor allem anderen wahrnimmt und, um sich ja nur nicht zu gefährden, sich nicht den Mund verbrennt.«40 Doch bleibt es nicht bei dieser Praxis der empathielosen Passivität, denn kalt ist auch die Praxis der vollendeten Barbarei der Täter*innen. Allerdings verbietet der kritische Materialismus Adornos hier das Überspringen der Kontingenz – und setzt uns auf noch auf eine andere Spur, indem er in den manipulativen Charakteren zum einen Menschen erkennt, »die zu Erfahrungen nicht fähig sind, eben deshalb Züge von Unansprechbarkeit aufweisen […]«.41 Zum anderen legt aber die Analyse des kapitalistisch-deformierten Subjekts seine anthropologische Tiefenschicht frei und setzt – auf Bildungsfähigkeit. Ein Bewusstsein sei zu fördern, dem die Augen aufgehen für »die Beziehung zwischen den Denkformen und -strukturen und dem, was es nicht selber ist«.42 Wer selbst-denkend zur Wirklichkeit sich öffnen kann, macht auch Erfahrungen: Insofern sind »Erziehung zur Erfahrung und Erziehung zur Mündigkeit […] miteinander identisch«.43 Und es ist nicht als zynisch misszuverstehen, sondern voller Respekt vor dem Leid, dass Adorno gerade der Schmerzerfahrung jenen bewussten Impuls der Zurückweisung, den Aufschrei gegen das zugefügte Unrecht zuspricht. Von hier aus gibt es nur eine Haltung gegen das Unrecht »wie gegen die Barbarei«:44 Empörung und Widerstand. Gewiss, Adornos Revolutionierung der Denkungsart muss mit gesellschaft­ lichen Veränderungen einhergehen, die sie ermöglichen. Eine Pädagogik, die sich der Sensibilisierung für das Leiden aller Menschen und eigentlich auch der Natur öffnet, die den »technologischen Schleier« durchbricht, die Technisierung (und Digitalisierung) nach ihren (humanisierenden) Zwecken befragt, kann ein Stück Veränderung bewirken. Und noch eines ist wichtig: Leidsensibilität ist unteilbar und Erinnerung an vergangenes Leiden ihr inneres Moment. Allem Schlussstrichbegehren hielt Adorno schon 1959 entgegen: »Die Ermordeten sollen noch um das Einzige betrogen werden, was unsere Ohnmacht ihnen schenken kann, das Gedächtnis.«45 Erfahrungen kindlichen Leidens in der NS-Zeit, die Empörung über die fehlende Anerkennung nach 1945, über die Restauration der alten Verhältnisse, Ungläubigkeit angesichts der Wiedergutwerdung der Deutschen ohne einen Blick zurück – das sind einige Grundmotive des Lebens von Ernst Grube. Sie geben ihm die Kraft zum Widerstand, Nichtmitmachen, sie machen ihn standhaft gegenüber den die Vergangenheit glättenden Verführungen der Kulturindustrie. Sie lassen ihn aktiv werden. Mit Adornos Augen gesehen, kann die ganze Humanität, die tiefverwurzelte Sehnsucht, dass Leiden nicht mehr sei, der fraglose Einsatz für die Entrechteten 214  | Peter Poth

und Unterdrückten, kurz die praktische Humanität Ernst Grubes verstanden werden als vorwegnehmende Praxis hin zu einer Welt, in der der Mensch des Menschen Freund sein darf.

Koordinaten eines Lebens oder: Von der grenzenlosen Humanität Ernst Grubes

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Am 7. Mai 1945 war ich 12 Jahre alt, als wir – mein Bruder Werner, meine Schwester Ruth, unsere Mutter und ich im Ghetto Theresienstadt von Soldaten der Roten Armee befreit wurden. Die Befreiung von Auschwitz und anderer Vernichtungsstätten im Osten, wie Riga, Kaunas, Minsk, Majdanek durch Soldaten der Roten Armee hatte unseren Abtransport dorthin unmöglich gemacht und uns das Leben gerettet. Alle drei Schwestern meiner Mutter, ihre Ehemänner und Kinder waren 1941 und 42 – nach dem Überfall auf die Sowjetunion – in die Ghettos Riga, Piaski und Izbica deportiert und dort ermordet worden. Der rassistische Eroberungs- und Vernichtungskrieg im Osten und die Shoah, diese in der Geschichte beispiellosen Menschheitsverbrechen sind aufs engste miteinander verbunden. Ohne diesen Krieg im Osten hätte Nazideutschland die Shoah nicht durchführen können. Die Sowjetunion hat die Hauptlast bei der Befreiung vom Faschismus getragen, eine welthistorische Leistung – zu einem entsetzlichen Preis.46 Wie in einem Brennglas spiegeln sich in diesem Text Ernst Grubes aus dem Jahre 2022 die (historischen) Erfahrungen, die zu seinen bestimmenden Lebenslinien geworden sind. Die vorangegangenen Verfolgungserfahrungen sind verdichtet aufgehoben in der »Erfahrung Theresienstadt«, wenn er seine Rede so beginnt und Zusammenhänge entstehen lässt: Die Befreiung aus dem Ghetto als Befreiung aus einer von Angst und Verfolgung geprägten Kindheit durch die Rote Armee; unter unsäglichen Qualen und Menschenverlusten musste sie sich nach Westen vorkämpfen, die »Hauptlast« tragend, in einem ihnen aufgedrängten Krieg, durch den die Shoah als präzedenzloses Menschheitsverbrechen überhaupt erst möglich wurde, getragen von einer Täter*innengesellschaft, die bis zuletzt in weiten Teilen einen fanatischen Endkampf führte. Die Russen als Befreier – und sonst nichts. Die über Jahre fortgesetzte Vernichtungstat bedeutete für Ernst Grube auch den Verlust seiner Onkel und Tanten. Die Zusammenhänge mögen sich ihm nicht gleich erschlossen haben, aber der 12-Jährige wuchs hinein in eine Deutungsgeschichte, die ihm die Augen öffnete für die ideologischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Ermöglichungsbedingungen von Krieg und Völkermord; er lernte sie benennen und analysieren. Die Auseinandersetzung mit den inhumanen Ver»Widerstand aus der Kraft der Erinnerung« | 215

irrungen des menschlichen Geistes, aber mehr noch der Kampf gegen deren Weiterleben und Wiederaufleben wurde zum Grundton seines Lebens, solidarisch mit den Kräften, die ihn befreit hatten, auch zum Denken, die ihn lehrten – vielleicht auch erst später –, faschistische Gewalt zu verstehen. Diese persönliche Befreiung war aber zugleich der Weg in eine »zweite Einsamkeit«, da ja ein Großteil der Deutschen sich keineswegs befreit fühlte, sondern eine totale, ihr »Herrenmenschentum« demütigende Niederlage hatte erleben müssen. Den rassistischen Abwehrkampf flugs übertüncht, verteidigte man nun das christliche Abendland gegen die »Barbaren im Osten« im Namen des Antikommunismus, wenn schon nicht gleich wieder aktiv, dann wenigstens mit der Errichtung von Goethegemeinden. Die imaginierte Unschuld, gnadenlos wie immer, reinigte sich selbst durch die Ausgrenzung des neuen (und alten!) Bösen. Der Kalte Krieg bot dazu den entsprechenden Rahmen. Kein guter Ort für den jungen Ernst, aber ein Grundzug seines Lebens, die Verlusterfahrungen auf ihre gesellschaftlichen Ursachen zu befragen und in bester aufklärerischer Absicht nach außen zu wenden, bildete sich wohl hier: »Oft bin ich in Schulen, um als Überlebender der Judenverfolgung zu berichten. Meine Tanten, Onkel, Cousins wurden alle deportiert und durch das Naziregime ermordet. Es liegt mir daran, dass Menschen nachdenken und handeln: gegen Antisemitismus, Rassismus und Krieg. Dass sie einstehen für Menschenrechte, gegen Diskriminierung und Unterdrückung«.47 Ein ganzes Leben, mehr und mehr in öffentlicher Präsenz – in Schulen, in Gewerkschaften, in Initiativen, in offiziellen Zusammenhängen – haben diese Grund­ impulse getragen, mit dem konkreten Ziel, neben die Aufklärung das konkrete Handeln zu stellen. Wie sah das aus?

Grundlegung: »Unsere Verletzungen und unsere Verluste zählten nicht.« – Von der verweigerten Anerkennung zur Solidarität der Verweigerung

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Bis zum Sommer 1945, da war ich zwölf Jahre alt, habe ich ja keine Kontakte zu Gleichaltrigen gehabt, für mich nach 1945 war die Frage, dass ich einfach erzählen wollte, und erlebt habe, dass das überhaupt niemanden interessiert. Ich habe mich dann auch mit anderen Jugendlichen auf dem Marienplatz getroffen, wo auch die Amis mit ihren Jeeps geparkt haben, um dann in ein Kaufhaus zu gehen, um einzukaufen. Ich habe mir dann eine Armbinde gemacht, auf die Armbinde habe ich dann KL Terezin geschrieben. Das hatte keinen Sinn, es hat niemanden interessiert. Ich kann mich an ein, zwei Mal erinnern, dass ich gefragt wurde, und als ich dann anfangen wollte zu erzählen, war das schon wieder genug.48

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Wieder eine singuläre, eine individuelle Erfahrung von erneuter Verweigerung, von Nicht-Anerkennung, aber auch diese wird in der Folge durchsichtig gemacht auf ihren Kontext hin. Diese zweite Ausgrenzung, diese erneute Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden ist der Preis, den die Verfolgten zahlen mussten für die heute weithin akzeptierte, aber nichtsdestoweniger opferverachtende Denkfigur von der Notwendigkeit des »kommunikativen Beschweigens« (H. Lübbe) der NS-Vergangenheit, um den Nazi-Deutschen den Weg in die Demokratie zu ermöglichen. Zugleich war diese praktizierte »Beschweigungsgemeinschaft« nur eine halbierte, denn sehr wortreich und fleißig war man damit beschäftigt, politisch und juristisch das Nazi-Unrecht wegzuarbeiten und so das Entstehen einer »Verantwortungsgemeinschaft« erfolgreich zu verhindern.49 Im Zeichen des Antikommunismus gelang es ohne große Schwierigkeiten, die schon vollzogene Täter-Opfer-Umkehr nach außen zu lenken und die eigentlichen Opfer zu Täter*innen zu machen und dort, wo dies nicht gelang, zumindest sie als politische Menschen zu delegitimieren, gerade wenn sie restaurativen Tendenzen und dem Geist des Kalten Krieges aufgrund ihrer Erfahrungen entgegentraten.

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Kommunisten und anderen aktiven Antifaschisten wurde von der die Verbrechen beschweigenden Mehrheit und ihren Eliten ein berechtigtes Interesse abgesprochen. Die aktiven Antifaschisten setzten sich für eine Gesellschaft gemäß den Potsdamer Beschlüssen ein, in der nicht die Förderer und Profiteure von Faschismus und Krieg weiter bestimmenden Einfluß haben sollten. Als Kriegs- und Atomwaffengegner haben sie sich gegen den Aufbau eines neuen Militärs gewehrt, in dem die ehemaligen Generäle der faschistischen Wehrmacht das Sagen hatten. Sie haben die Wiederkehr ehemaliger Nazis in ihre alten Funktionen bekämpft, und oft haben sie dafür wie ich Gefängnishaft und gesellschaftliche Ächtung riskiert. Unsere Verfolgungserfahrungen, unsere Verletzungen und Verluste zählten nicht, bestenfalls waren sie anstößig. Darüber sprachen wir nur in kleinen Kreisen, unter uns. Geehrt wurde damals niemand aus unseren Reihen.50 Nur wenig zugespitzt kann man sagen: Während man den alten Nazis (mentalen) »Erholungsurlaub« gewährte beziehungsweise sie umstandslos integrierte, schickte man die Kommunisten, wenn sie den Wiederaufbau allzu madig machten, ins Gefängnis. Kein Interesse für seine Leiderfahrungen, nirgends; Zuhörer*innen fand der heranwachsende Ernst Grube dann andernorts – bei ehemaligen Widerstandskämpfer*innen, auch kommunistischen, bei der FDJ, bei der Gewerkschaftsjugend. »Widerstand aus der Kraft der Erinnerung« | 217

Deren politische Praxis, Demonstrationen etwa, störte auf ihre Art wiederum den »Wirtschaftswunder-Frieden« und führte zu einem – heute kaum mehr so vorstellbaren – martialischen und brachialen Einsatz von Polizeigewalt, der den sich nur selbst schützenden Ernst für neun Monate ins Gefängnis brachte. Ein heute kaum noch nachvollziehbares Urteil. Es stellt sich die Frage: Warum gibt jemand in einer solchen Situation nicht auf, warum hört er nicht einfach auf? Vielleicht ist die Antwort dort zu finden, wo die Gegenseite immer nur einen antidemokratisch-diktatorischen Ungeist wittert; in seiner Fähigkeit, dieses Vorgehen gesellschaftskritisch zu deuten. Die konsequente Orientierung an der noch zu festigenden Demokratie ermöglichte Ernst Grube einen kritischen Blick auf die gesellschaftlich restaurativen Kräfte und ihre einseitige Ausrichtung an den kapitalistischen Verhältnissen. Dies nahm er sowohl, nach innen, als eine Gefährdung der Demokratie als auch, nach außen im Sinne der Systemkonkurrenz, als eine Bedrohung des Weltfriedens wahr. Damit war die Basis für eine spezifische Konzeption einer kritisch-politischen Erinnerungspraxis gelegt, die eben nicht ihren Frieden macht mit den Täter*innen, die eben nicht die gesellschaftlichen und politischen Entstehungszusammenhänge von Faschismus und Nationalsozialismus ignoriert, die eben nicht deren bis heute reichendes geistiges Echo überhört. So werden eben nicht Menschen dämonisiert, sondern Verhältnisse analysiert, die Menschen nicht zu Menschen werden lassen. Die aber auch – und das ist das Anrührende – eine vereinnahmend-zarte Seite besitzt, die mit großer Empathie und hoher Sensibilität überall dort aufmerksam reagiert, wo heute Menschen ausgegrenzt werden, es aber nicht bei Appellen belässt, sondern auch das heutige Leiden auf die politischen und gesellschaftlichen Mechanismen hin durchsichtig macht:

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Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus sind nicht nur neonazistischen Kreisen vorbehalten, sondern fest verankert im gesellschaftlichen bürger­ lichen Leben. Menschenfeindlichkeit in bürgerlichem Gewand breitet sich in wohl formulierten Sätzen aus und treibt Entrechtung und Verachtung ganzer Gruppen, wie die der Schutz und Asyl suchenden Menschen, die hierher geflüchtet sind, voran. Im Bundestag und in vielen Landtagen hat mit der AfD eine zutiefst rechte Partei parlamentarische Gestaltungsmacht erlangt. Mit ihrer nationalistisch ausgerichteten Politik verstärkt sie Geschichtsleugnung. Sie schürt Hass und Gewaltbereitschaft gegenüber demokratisch engagierten Menschen und Minderheiten. In vielen Ländern unserer Erde herrscht Krieg, auch mit deutschen Waffen! Ich erinnere heute an den Beginn der faschistischen Gewalt.51 Das ist so unbequem wie wahr. Ausgesprochen von einem, der diese Gewalt erlebt hat.

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Konsequenzen: Erinnerung als kritisch-aktualisierende Praxis – eine Fallstudie »Anne Frank ist nicht nur Geschichte.«52 Dieses knappe Resümee am Ende einer Rede zur Eröffnung einer Ausstellung zu Anne Frank erlaubt uns einen konzentrierten Blick in Ernst Grubes Erinnerungsdenken. Exemplarisch lässt sich hier der Dreiklang finden, der sein »reflexives Erzählen« trägt und prägt. Zunächst liegt der Fokus auf einer singulären, einer bestimmten Person in ihrer Individualität, in diesem Fall Anne Frank; sie ist zunächst eine historische Person, die ihre Geschichte hat, aber auch Geschichte ist. Und die muss man kennen, wenn man verstehen will. Aber damit bleibt die Gedankenbewegung nicht stehen, sie hat noch nicht einmal ihr eigentliches Ziel erreicht, denn diese, ihre Geschichte sprengt den historisch-distanzierenden Rahmen und geht uns an, wenn sie mehr als Geschichte, mehr als historisches Verstehen ist. Geschichte wird zugänglich und begegnet uns in und durch das Leben und Leiden von Menschen, Individuen, in diesem Fall Anne Frank; zum Verstehen gelangt man aber erst durch das Überschreiten ihrer Individualität hin auf die Dimensionen der Verfolgungsgeschichte, die aber nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auf die gesellschaftlichen Mechanismen und Interessen befragt werden. Dies ermöglicht in einem dritten Schritt die Kritik aktueller Verhältnisse, die in dieser Perspektive ihr ganzes negatives, die Humanität bedrohendes Potenzial erschließen. Ernst Grubes Blick fällt dabei auf inhumane kapitalistische Verwertungsinteressen (etwa der Waffenindustrie), menschenfeindliche Ideologien oder eine menschenunwürdige Flüchtlingspolitik. Die konsequente Orientierung an Menschenrechten und Demokratie lässt alle Vorwürfe einer Instrumentalisierung der Erinnerung hier ins Leere laufen. Dieser Vermittlungsdreiklang entwickelt einen inneren, wechselseitigen Beglaubigungsnexus. Zunächst geschieht die Verortung in Raum und Zeit: »Schon 1934, ein Jahr nach dem die Nazis an der Macht waren, ist die jüdische Familie Frank nach Amsterdam emigriert. Anne war damals fünf Jahre alt.« Darauf folgt sofort – die hier explizit biographisch beglaubigte – Ausweitung: »Wir jüdischen Kinder in München wurden zur selben Zeit ausgegrenzt, von nicht jüdischen Kindern abgelehnt und verspottet. Wir durften keine deutsche Schule und ab 1942 gar keine Schule mehr besuchen. 1938 wurde die Münchner Synagoge zerstört und die Häuser der jüdischen Gemeinde arisiert, das heißt enteignet, geraubt.«53 In wechselseitiger Spiegelung werden nun die beiden Verfolgungsgeschichten ineinander verwoben, um dann in ihren eigentlichen Horizont auszulaufen: »Widerstand aus der Kraft der Erinnerung« | 219

»Wir sollten über dem einzelnen Schicksal nicht vergessen, dass tausende jüdische Kinder, Kinder von Sinti und Roma, behinderte Kinder, Kinder aus Polen, Tschechien, aus den sowjetischen Gebieten von den Nazis, wenn sie nicht schon in Massenerschießungen und Massakern vorher umgebracht wurden, in den KZs Ravensbrück, Bergen Belsen und Majdanek den Müttern weggenommen und bestialisch ermordet wurden.«54 Die noch weitere Perspektive blickt auf das ausweglose »Schicksal« der Kinder im Vernichtungskrieg: »Für die Nazis waren Kinder ohne Verwertungsgewinn und daher gleich zu ermorden. Flucht gelang nur wenigen Familien mit ihren Kindern – auch weil es kaum Aufnahmeländer gab. Und kein Recht auf Asyl!«55 Mit hoher Verdichtung gelingt es hier, den rassistischen Vernichtungskrieg auch als Ausbeutungskrieg zu identifizieren, Kinder als die vollkommen Entrechteten, ökonomisch Nutzlosen, jeglichen Existenzrechts Beraubten, als die immer und überall zum Tode Verurteilten wahrnehmbar zu machen. Die eigentlich zum Leben Geborenen werden noch vor ihrem Leben zum Tode bestimmt, wobei die Täter*innen und die Mechanismen in aller Kürze scharf gezeichnet werden. Auf dieser Linie, aber in Umkehrung der tödlichen Unmenschlichkeit der Vernichtungslogik – erfolgt dann die Fortführung:

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Aus diesen Erfahrungen mit der Nazibarbarei und einer europa- ja weltweiten Flüchtlingsbewegung durch den 2. Weltkrieg wurde die Menschenrechtscharta am 10. Dezember 1948, vor 70 Jahren, verabschiedet. Das Asylrecht sollte einen großen Stellenwert haben. 1951 kam die Genfer Flüchtlingskonvention hinzu und dann die UN-Kinderrechtskonvention.56 Vor diesem Hintergrund ist dann auch Grubes Eintreten für die Kinderrechte zu verstehen; er besucht immer wieder Grundschulen und weiß auch die Kleinen in ihrer Menschlichkeit anzusprechen.

Erinnerung, Kritik, Praxis Erinnern, Gedenken ist zu wenig, wenn es in sich selbst verharrt, es treibt Menschen, die für eine menschliche Praxis noch nicht verloren sind, zum Handeln, das überall dort eingreift, wo Menschen unmenschliche Verhältnisse aushalten müssen.

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Wir gedenken der Menschen, die vor 80 Jahren Opfer beispielloser Massenverbrechen des NS-Regimes wurden. Wir erinnern an das Leid, das in ihren Familien bis heute wirkt. Zum Gedenken gehört wissen und begreifen wollen, wie die

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Verbrechen geschehen konnten. […] Gedenken beinhaltet auch erkennen wollen, warum diese Verbrechen nicht rechtzeitig verhindert wurden und die Konsequenzen für heute daraus zu ziehen. Damit wir wachsam bleiben und entschlossen – zahlreich – gemeinsam handeln, um die Errungenschaften der Befreiung zu verteidigen und zur Geltung zu bringen.57 Ernst Grubes reflexiv-integratives Erinnerungsdenken kann einer Erziehung nach Auschwitz die Richtung weisen. Gedenken als der performativ-empathische Akt der vorbehaltlosen Hinwendung zu den Opfern als Opfer will um das Schicksal, die Identität der Opfer als »Menschen-Opfer« wissen. Lässt man sich vom »Schrei der Gemarterten« (Adorno) berühren, ist er der Ruf in eine humanisierende Praxis. Dann zerbrechen die Mythen vor dem Wissen, dem Gedächtnistheater kommt das Personal abhanden.

Anmerkungen 1 URL: https://www.ushmm.org/teach/­ fundamentals/guidelines-for-teaching-the-­ holocaust [gelesen am 20. 6. 2022]. 2  Vgl. Ulrike Jureit  /  C hristian Schneider / Margit Fröhlich: Das Unbehagen an der Erinnerungskultur. Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust, Frankfurt a. M. 2012. 3  Samuel Salzborn: Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern, Berlin 2020. 4  Max Czollek: Desintegriert Euch, Berlin 2018. 5  Salzborn 2020, 16, 21. 6  Vgl. Salzborn 2020, 31 ff. 7  Vgl. Salzborn 2020, 41 ff., 55 ff., 71, 69 ff. 8  Vgl. Salzborn 2020, 36. 9  Salzborn 2020, 66. 10  Vgl. Salzborn 2020, 39, 86. 11  Vgl. Salzborn 2020, 67 ff. 12  Salzborn 2020, 83. 13  Salzborn 2020, 19. 14  Czollek 2018, 44. 15  Vgl. Czollek 2018, 41 f. 16  Vgl. Max Czollek: Gegenwartsbewältigung, München 2020, 55 ff.

17  Czollek 2018, 9. 18  Vgl. Czollek 2018, 32, 96. 19  Vgl. Czollek 2018, 65 ff. 20  Czollek 2018, 74 (Hervorhebung im Original). 21  Vgl. Czollek 2018, 74 f. 22  Vgl. Czollek 2018, 15. 23  Czollek 2018 105 f. 24  Vgl. Czollek 2018, 45, 28 ff. 25  Vgl. dazu Czollek, 2018, 123 ff. 26  Christoph Butterwege / Gudrun Hentges / Bettina Lösch (Hg.): Auf dem Weg in eine andere Republik? Neoliberalismus, Standortnationalismus und Rechtspopulismus, Weinheim / Basel 2018. 27  Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1993, 359. 28  Theodor W. Adorno: Erziehung nach ­Auschwitz, in: Gert Kadelbach (Hg.), Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit. Gespräche und Vorträge mit Hellmut Becker 1959– 1969, Frankfurt a. M. 1971, 88 (zit. als 1971a). 29  Adorno 1993, 358. 30  Adorno 1971a, 90. 31  Theodor W. Adorno: Erziehung wozu?, »Widerstand aus der Kraft der Erinnerung« | 221

in: Theodor W. Adorno 1971, 105–119 (zit. als 1971b). 32  Adorno 1971b, 105, 107 (Hervorhebung im Original). 33  Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit, in: Theodor W. Adorno 1971, 133–147, hier 133 (zit. als 1971c). 34  Adorno 1971c, 137. 35  Adorno 1971a, 93. 36  Theodor W. Adorno: Erziehung zur Entbarbarisierung, in: Theodor W. Adorno 1971, 126 (zit. als 1971d). 37  Vgl. Adorno 1971a, 101; 1993, 355, 356. 38  Adorno 1971a, 96. 39  Adorno 1971a, 95, 100. 40  Adorno 1971a, 101. 41  Adorno 1971a, 98. 42  Adorno 1971c, 116. 43  Adorno 1971c, 116. 44  Adorno 1971c, 122. 45  Theodor W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?, in: Theodor W. Adorno 1971, 12. 46  Ernst Grube: Rede bei der Kundgebung gegen den Ukraine-Krieg, Regensburg 2022, unveröffentlichtes Manuskript. 47  Ernst Grube: Schriftlicher Beitrag zu

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einer Veranstaltung der Versöhnungskirche Dachau mit Ruth Meros, München 2013, unveröffentlichtes Manuskript. 48  Ernst Grube: Desinteresse gegenüber der Judenverfolgung, URL: https://www.zeitzeugen-portal.de/themen/der-holocaust/­ videos / CX_obXWhUXc [gelesen am 1. 7. 2022]. 49  Vgl. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1999. 50  Ernst Grube: Rede zur Verleihung des Georg-Elser-Preises für Zivilcourage, München 2017, unveröffentlichtes Manuskript. 51  Ernst Grube: Rede anlässlich der Feierlichkeiten zur Befreiung des KZ Dachau, Dachau 29. 4. 2018, unveröffentlichtes Manuskript. 52  Ernst Grube: Rede anlässlich der Eröffnung der Anne-Frank-Ausstellung, Dachau 12. 9. 2019, unveröffentlichtes Manuskript. 53  Grube 2019. 54  Grube 2019. 55  Grube 2019. 56  Grube 2019. 57  Rede anlässlich des Gedenkens an die erste Deportation aus München, München 20. 11. 2021, unveröffentlichtes Manuskript.

Matthias Bahr

Ernst Grube. Zeitzeuge und Menschenrechtsbildner: Pädagogischdidaktische Anmerkungen

Eine Erfahrung bei einem öffentlichen Auftritt mit Ernst Grube Siebzig Jahre nachdem die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 der Welt vorgestellt worden war, ist Ernst Grube zum Gespräch an die Universität gekommen. »70 Jahre – und so weiter?« – mit diesem Titel will die Arbeitsstelle Menschenrechtsbildung der Universität Koblenz-Landau (Campus Landau1) mit Ernst Grube der Frage nachgehen, welchen Stellenwert die Menschenrechte für ihn haben – und welche Perspektiven sich daraus für die Zukunft ergeben können und müssten. Ernst Grube erfüllt in dem moderierten Gespräch zunächst die Erwartungen des Auditoriums, als er von seiner Kindheit und Ausgrenzung in München erzählt. Rasch geht es ihm dann um die Frage nach den Menschenrechten und der Bedeutung, die er ihnen heute zumisst – hier und anderswo. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, das wird schnell deutlich, ist für ihn nicht nur ein Papier, sondern Leitlinie und Verpflichtung. Unter der Zuhörerschaft macht sich eine gewisse Ratlosigkeit breit. Dies wird vor allem dadurch ausgelöst, dass Ernst Grube angesichts von Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Flüchtenden auf dem Mittelmeer deutlich auf die Diskrepanz zwischen Wort und Tat hinweist – von staatlichen Stellen, die die Festung Europa schützen wollen, von Gesellschaften, die letztlich kein Interesse an der rettenden Aufnahme haben, von Verantwortungsträgern, denen der Verweis auf die Menschenrechte zwar leicht von den Lippen geht, die aber wenig entschlossen handeln und die Lebensverhältnisse in Auffanglagern nicht verbessern. Schonungslos werden von ihm die aus seiner Sicht relevanten und gegenläufigen Strukturen benannt: systemische Zusammenhänge, die auf wirtschaftliche Kriterien setzen und damit letztlich auf die Unterwerfung von Menschen unter ökonomische Interessen. Spätestens als er noch deutlicher wird und den Kapitalismus als Verursacher Ernst Grube. Zeitzeuge und Menschenrechtsbildner | 223

brandmarkt, ist es mit dem Interesse der Zuhörerschaft vorbei. Zunehmend wird klar: Hier öffnet sich ein Erwartungsgraben: zwischen den Zuhörer*innen, die dachten, Ernst Grube werde vor allem von seinen Erfahrungen in Theresienstadt erzählen, und dann ihm selbst, der natürlich darüber sprechen will, dass, wer von Menschenrechten redet, mit einem Konzept auftritt, das letztlich ein kritisches ist, und auch die bestehenden Verhältnisse unter die Lupe nehmen muss, die weiterhin defizitär, ausbeutend und daher veränderungsnotwendig sind. So wird deutlich: Ernst Grube will sich nicht auf seine Verfolgungserfahrung »reduzieren« lassen, sondern leitet aus der historischen Erfahrung einen politischen Auftrag ab. Das alles aber ist nun so gar nicht im Erwartungshorizont der Anwesenden. Die Gelegenheit zu Nachfragen an den Gast wird nicht ergriffen, es scheint, man habe genug gehört. So endet der Abend wie bei einer auslaufenden Welle, rasch leert sich der Saal, und es gibt keine Menschentrauben, die Ernst Grube noch umringen, kein Wunsch nach einem gemeinsamen Bild – ganz anders, als er es zum Beispiel mit Kindern in Grundschulen kennt.

Zeitzeug*innengespräche und die Ausrichtung der Erinnerungsarbeit Erzählungen von Zeitzeug*innen sind stets persönlich-subjektiv, meist dramatisch und aufwühlend. Seit den 1980er Jahren haben sie eine herausgehobene Bedeutung für die Erinnerungskultur. Tausende vor allem junge Menschen wurden durch sie geprägt. Die Wirkung etwa, die Ernst Grubes Freund Hugo Höllenreiner entfaltete, rückte die Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma in das gesellschaftliche Bewusstsein, was sich auch dem literarischen Schaffen von Anja Tuckermann2 verdankt. Erzählungen, wie sie als kräftezehrende Präsentation von Hugo Höllenreiner vorgetragen wurden und die man als jugendliche Zuhörer*innen nicht unterbrechen wollte und konnte, erhielten dabei stets eine Selbstläufigkeit und mussten bis zu einem Endpunkt von ihm erzählt werden. Dieser war bei Hugo nach zweijähriger Leidenszeit im sogenannten Zigeunerlager B IIe in Auschwitz-Birkenau sowie den Konzentrationslagern Mauthausen, Ravensbrück und Bergen-Belsen die Erfahrung der Befreiung. Eher knapp erfuhr man dann von den Kämpfen um Restitution in München und den Demütigungen, die auszuhalten waren, wenn Ansprüche durchgesetzt werden mussten. Gleichwohl: Die erzählte Geschichte hatte ihren Dreh- und Angelpunkt in den Jahren der Verfolgung durch all jene Menschen, die sich mit dem NS-Regime identifizierten und es unterstützten. Die Nachkriegszeit spielte meist eine untergeordnete Rolle, in den Erzählungen vor Schüler*innen allemal.3 224  | Matthias Bahr

Das ist bei Ernst Grube anders. Die Dynamik seiner Geschichte setzt sich in den Jahrzehnten der neuen Bundesrepublik Deutschland fort, mit sehr wachem Geist bis in die Gegenwart. Ernst Grube zeigt, dass der 23. Mai 1949 trotz einer nun freiheitlich-demokratischen Grundordnung für ihn nicht einfach der Anbruch einer besseren Zeit war. Seine Auseinandersetzung geht darüber hinaus, da er immer wieder den Blick auf die defizitären Verhältnisse richtet, die in der modernen Welt des 20. und inzwischen 21. Jahrhunderts andere Menschen ausschließen, an den Rand drängen und sogar verfolgen. Hier sieht er systemische Ursachen, die er immer wieder anspricht, und genau hier ist der Hebel anzusetzen als eine quasi zwingende Logik seiner Verfolgungserfahrung. Das aber führt zu grundsätzlichen Überlegungen. Es wirft über die personal-biografischen Erfahrungen hinaus die Frage auf, welche Impulse aus der Erinnerung an den »Zivilisationsbruch« zu entwickeln sind, wenn und insofern Erinnerung über historisches Lernen als Wissen hinausgeht. Dies allerdings ist keine Frage, die nur Ernst Grube umtreibt.

Ernst Grube in guter Gesellschaft: Lebensgeschichten als Auftrag Tatsächlich haben auch andere Überlebende die Notwendigkeit gesehen, über das eigene Zeugnis hinauszugehen und dezidiert kritisch-politische Anstöße für eine menschenwürdige Gegenwart zu geben, die eine Wiederholung von Auschwitz verhindern und dafür sorgen sollen, dass ›nichts ähnliches geschehe‹ (Theodor W. Adorno).4 Ich greife zwei weitere Personen heraus, die gewichtige Sichtweisen eingebracht haben. Zunächst beziehe ich mich hier auf Esther Loewy, die 1924 in Saarlouis in eine jüdische Familie hineingeboren wird. Als junge Frau überlebt sie dank ihrer musikalischen Fähigkeiten im Mädchenorchester das Konzentrationslager Auschwitz und dann das Lager Ravensbrück; nach Flucht und Befreiung kehrt sie 1960 als Esther Bejarano nach Deutschland zurück, wo sie sich zunächst in Hamburg mit einer Wäscherei eine Existenz aufbaut. In ihren Erinnerungen, die 2013 erscheinen,5 zeigt sich ihr Blick und ihr Engagement, das ein eminent politisches wird, als ihr in Hamburg die von der Polizei geschützten Neonazi-Aufmärsche begegnen. Wie ein roter Faden zieht sich durch ihre rückwirkenden Betrachtungen nicht nur die Verfolgungsgeschichte als Zwangsarbeiterin und Gefangene in Auschwitz und Ravensbrück, sondern ebenso als gegenwärtige, kämpferische Stimme gegen jeden Faschismus und für Toleranz und gegenseitigen Respekt.6 Mit den Mitteln der Musik, die ihr als Pianistin, Akkordeonspielerin und Sängerin gegeben sind, engagiert sie sich in verschiedenen musikalischen Konstellationen. Ihr Ernst Grube. Zeitzeuge und Menschenrechtsbildner | 225

ment ist stets politisch: seit den 1980er Jahren steht sie auf den Bühnen, u. a. bei der Aktion ›Künstler für den Frieden‹ im Rahmen der Nato-Nachrüstung.7 Die Gründung des deutschen Auschwitz-Komitees, dessen langjährige Vorsitzende sie ist, gibt ihr die Möglichkeit einer entsprechenden öffentlichen Wahrnehmung, die in Petitionen mündet, aber auch in Kommentaren zu gesamt­gesellschaft­lichen Entwicklungen Deutschlands, zu denen die Bereitschaft zur Abschiebung langjährig hier lebender Menschen aus anderen Ländern gehört. Immer wieder geht sie gegen die zunehmende Feindlichkeit gegenüber Postmigrant*innen und Muslimen*Muslimas vor.8 Ihre Mitwirkung in der Rap-Band Microphone Mafia, der sie seit 2009 angehört, wird zur Botschaft gelebter Toleranz. Esther Bejarano stirbt im Alter von 96 Jahren am 10. Juli 2021 in Hamburg. Eine andere Perspektive zeigt Marian Turski (*1926) auf. Der Auschwitz-Überlebende ist als polnischer Journalist und wacher Kritiker aktueller Entwicklungen stets auch ein politischer Mensch. Weltweite Aufmerksamkeit wird ihm zuteil, als er am 27. Januar 2020, am 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, vor dem »Todestor« von Auschwitz-Birkenau eine Rede hält, die die Menschen mitreißt. Er verzichtet explizit darauf, bei dieser Gedenkveranstaltung seine Leidensgeschichte zu erzählen, sondern wendet sich an die nachfolgenden Generationen der jungen Menschen. Auf subtile Weise gelingt es ihm, den Zuhörer*innen zu verdeutlichen, welche Entwicklungen dazu beigetragen haben, dass es zu Auschwitz kommen konnte. Er zitiert den österreichischen Bundespräsidenten Alexander van der Bellen in deutscher Sprache mit seiner Aussage: »Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen«, denn Auschwitz ist eben nicht einfach passiert, sondern entschlossenes Ergebnis des Willens und Handelns von Menschen. Stück für Stück, so seine Darstellung, wurden die Rechte eingeschränkt, und Schritt um Schritt waren es Menschen, die zustimmten, umsetzten, geschehen ließen, mitmachten und durchführten. Das alles aber begann lange vor der Gründung des Lagers 1941, sondern bereits viel früher, als durch Gesetzeskraft und über Verordnungen die Rechte der Menschen und insbesondere jüdischer Bürger*innen immer stärker reduziert wurden. Die völlige Entrechtung und Willkür bis zur Ermordung war dann nur der letzte Schritt. Marian Turski bezieht sich in seiner Rede schließlich auf das, was daraus zu entwickeln ist, und er nennt das Vermächtnis eines ›elften Gebotes‹, das die letzten Überlebenden 2017 bei einer Sitzung des Internationalen Auschwitz-Komitees formuliert haben: »Remember. The Eleventh: Do not be indifferent. Indifference kills« – »Erinnere dich. Das Elfte: Sei nicht gleichgültig. Gleichgültigkeit tötet«. Marian Turski zieht die Linien in seiner Rede, wenn er die Konsequenzen beschreibt, gegen die dann vorzugehen sei, wenn beispielsweise die Pressefreiheit oder die Unabhängigkeit der Gerichte in Frage gestellt oder beschnitten werde. 226  | Matthias Bahr

Am 27. Januar 2020 ist das in Anwesenheit der polnischen Regierung eine notwendige Provokation. In dieser Reihe der Überlebenden bewegt sich Ernst Grube, wenn er immer wieder dafür eintritt, dass Antisemitismus, Antiziganismus und Rassismus in der Gesellschaft keinen Platz haben dürfen. Die Autorität seiner Lebensgeschichte gibt ihm die Legitimation, hier das Wort zu ergreifen und nicht müde zu werden, für die Gleichheit aller Menschen einzutreten. Ernst Grube dürfte den Worten des polnischen Dichters Antoni Słonimski zustimmen, den Marian Turski anlässlich einer Gedenkrede zum Jahrestag der Erinnerung an den Völkermord an den Sinti und Roma zitiert: »Ich möchte meinen Roma-Brüdern mitteilen, dass der polnische Autor Antoni Słonimski ein Gedicht geschrieben hat: ›Der ist aus meinem Vaterland‹. … – der Dichter sagt: derjenige, der leidet, wenn die Griechen leiden, derjenige, der Schmerz empfindet, wenn der Franzose Schmerz empfindet, ›der ist aus meinem Vaterland‹. Ich träume davon, möglichst viele Menschen wie die in diesem Gedicht mögen in meiner Heimat wohnen.«9 Genauso macht für Ernst Grube die Idee von der Gleichheit aller Menschen nicht an den Grenzen Halt. Ihm geht es im Grunde um das, was andernorts mit ›Compassion‹ auf den Begriff gebracht wurde, mit ›Mitleidenschaftlichkeit‹, wie es der katholische Theologe Johann Baptist Metz formuliert hat.10 Aus christlich-religiöser Perspektive muss dann auch nicht die Frage der Theodizee als Herausforderung für Christen angesehen werden,11 vielmehr muss es um eine Anthropodizee gehen,12 um die Rechtfertigung des Menschen also. Die Fragen nach den Handlungen und der Verantwortung, nach Kritik und Konstruktion von Gesellschaft sind jene wichtigen Konsequenzen, die der Holocaust der Welt und damit letztlich auch den Bildungsprozessen mit auf den Weg gibt. Und genau das ist es, was diese drei politischen Menschen, Esther Bejarano, Marian Turski und Ernst Grube angetrieben hat und weiter antreibt. Aus dem Mund der überlebenden, politisch aktiven Zeitzeug*innen wird es zum Vermächtnis für die Nachgeborenen, um dem allerersten Ziel von Erziehung gerecht zu werden, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.13

Wie Bildung ›geht‹: Aneignungen, dem Subjekt verpflichtet Was bedeutet dies nun für Bildung? Selbstverständlich bleiben in der Auseinandersetzung mit diesem Anliegen und dieser Geschichte die Zeitzeug*innen mit ihren Erzählungen und Biographien – inzwischen auch in der Form sogenannter ›audio-visueller Medien‹ – zentral. Inwieweit man so weit gehen muss, diese Geschichten für das digitale Zeitalter aufwändig aufzubereiten, wird die Zukunft Ernst Grube. Zeitzeuge und Menschenrechtsbildner | 227

noch zeigen. Und selbstverständlich werden ebenso die Gedenkstätten eine gewichtige Rolle spielen: als Monumente einer Gewalttätigkeit, die so tief geht, dass sie noch Generationen weiterwirken wird.14 Für pädagogische Zusammenhänge stellt sich die Frage, welches Bildungsanliegen Pädagog*innen verfolgen, wenn sie nachfolgende Generationen mit dieser Geschichte in Berührung bringen. Was also soll gelernt werden? Nach welchen pädagogischen Leitlinien soll das Bildungsgeschehen strukturiert werden? Welche Mechanismen wären kritisch zu betrachten, die Ausgrenzung und Rassismus befördern können? Diese Fragen, so scheint mir, werden in der nächsten Zeit noch erhebliches Kopfzerbrechen machen, etwa auf dem Hintergrund gängiger schulischer Praxis, mitunter aber auch bei Führungen, will man Bildung nicht auf das Kennenlernen historischer Tatsachen und Zusammenhänge (so wichtig sie unwidersprochen sind) reduzieren. Allgemeinpädagogisch hat sich in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr herauskristallisiert, dass Bildungsprozesse nicht für Adressat*innen, sondern stets mit den Subjekten zu denken sind. Dabei handelt es sich – betrachtet man die Debatte in Deutschland – um jene Perspektivenveränderung, die 1967 mit der ›Bildungsreform als Revision des Curriculums‹15 den Beginn einer neuen Ära markiert, die sich von inhaltszentrierten Stoffplänen zu (lern-)zielorientierten Planungsüberlegungen bewegt, die dann – spätestens gegen Ende des 20. Jahrhunderts – unter dem Leitmotiv der Subjektorientierung eine weitere Gewichtung erhielt. Damit kam einerseits zum Tragen, was Bildung als Selbstbildung immer schon meinte, und andererseits, was einer neuzeitlichen Anthropologie im Sinne Kants entspricht, nämlich die Herausforderung, Bildungsprozesse nicht als Implementierung zu sehen, sondern als aktiven Prozess der Mitgestaltung der sich bildenden, lernenden Subjekte,16 die sich ihrer Vernunft bedienen. Der starke Einfluss des Konstruktivismus begleitete diese Auffassung. Unstrittig ist inzwischen, dass Subjekte (Kinder, Schüler*innen, Erwachsene) in der Auseinandersetzung mit Themen unbekannte Zusammenhänge in der ihnen je individuell eigenen Weise in ihren Horizont integrieren – oder eben beiseitelassen.17 Diese Sichtweisen sind eigentlich nicht neu. Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Klafki hat Wesentliches dazu gesagt, wie innerhalb von Gesellschaften, die nicht autoritär, sondern demokratisch strukturiert sind, Bildung zu denken und zu gestalten sei; allgemeine Ziele sieht er in der Trias der Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit.18 Bei Klafki kann dies als Reaktion auf eine Ausrichtung von Bildungsinstitutionen zu lesen sein, wie sie Jahrzehnte vorher in einer NS-Pädagogik unter ganz anderen Vorzeichen standen. Eine nun aber ›kritisch-konstruktiv gedachte Didaktik‹ spannt den Rahmen weiter, insofern sein allgemeinpädagogisches Konzept mit der für ihn 228  | Matthias Bahr

gen Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung von Bildungsprozessen einhergeht, also für die Subjekte deutlich werden muss, welcher Zusammenhang zwischen Themen (nicht ›Stoffen‹) der eigenen lebensweltlichen Verfasstheit heute und morgen hergestellt (konstruiert) werden kann. Orientierung für die Auswahl und Gewichtung von Themen sind die von Wolfgang Klafki als Kategorie angeführten sogenannten ›epochaltypischen Schlüsselprobleme‹,19 zu deren Lösung Bildung einen Beitrag zu leisten hat, will sie nicht (wie beispielsweise eine schlecht gehaltene Lateinstunde) nur l’art pour l’art sein: Friedens- und Umweltfragen, das Problem gesellschaftlich produzierter Ungleichheit, die Gefahren und Möglichkeiten neuer Steuerungs-, Informations- und Kommunikationsmedien, die Subjektivität und die Ich-Du-Beziehung. Betrachtet man diese Zusammenstellung, dann zeigt sich hier seine Weitsicht, weil die Herausforderungen in der Gegenwart an Brisanz eher noch zugenommen haben. Dies soll hier nicht weitergeführt werden, vielmehr muss es jedoch um die Frage gehen, welche Anstöße und welche Rolle die Geschichte von Menschen wie Ernst Grube in ihrer ganzen Breite in Bildungskontexten spielen kann und sollte – und wie sie mit inhaltlichen Akzenten verknüpft werden kann, die diese Anliegen einer kritischen Gesellschaftsanalyse aufnehmen können.

Kritische Kinder- und Menschenrechtsbildung Als Anreicherung für Bildungsprozesse lässt sich meines Erachtens die ›Menschenrechtsbildung‹ heranziehen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 der Welt vorgestellt wurde, ist ja vor allem eine Reaktion auf die Verbrechen des Holocaust. Wie die Präambel nahelegt, beschreibt die Menschenrechtserklärung keine Realität, sondern einen erst noch zu erreichenden Zustand, der auch durch Bildungsprozesse vorangetrieben werden soll. Insgesamt ist jedoch die staatliche Verantwortung gefordert, da die Menschenrechte ihre Gestaltungskraft erst dann ausspielen können, wenn eine staatliche Ordnung ihre Einhaltung sicherstellt. Dennoch ist Menschenrechtsbildung als pädagogisches Programm sinnvoll, sensibilisiert sie doch die Individuen für die dort entwickelten Positionen. Interessant ist – im Licht der Gegenwart –, dass 1948 Themen benannt wurden (etwa die Frage der Rechtsstaatlichkeit), die immer wieder gesichert werden müssen wie beispielsweise die Meinungs- und Pressefreiheit oder überhaupt demokratische Strukturen. Meinte man nach dem Ende des Kalten Krieges, nun entscheidende Schritte getan zu haben, so geben die Kriege seit 1989 wie auch gegenwärtige Entwicklungen Anlass zur Skepsis, selbst in Staaten der Europäischen Union. Ernst Grube. Zeitzeuge und Menschenrechtsbildner | 229

Insofern bleibt die Aufgabe, die Rechte des Menschen zu verwirklichen, und sie würden auch Anliegen einlösen, die die Zeitzeug*innen immer wieder angesprochen haben. Menschenrechtsbildung ist ein komplexes Geschehen, das drei voneinander zu unterscheidende Zugänge umfasst. Dazu gehört Menschenrechtsbildung über Menschenrechte, durch Menschenrechte und für Menschenrechte. Als pädagogisches Programm geht es also nicht nur um die Auseinandersetzung mit den in den Menschenrechten angesprochenen Themenbereichen, sondern immer auch um den Prozess selbst, der verwirklicht, was die Menschenrechtsagenda umfasst. Dazu gehört im pädagogischen Kontext die Sicherstellung der Würde und Freiheit aller am Bildungsprozess Beteiligten. Dies ist eine relevante Feststellung, hat sie doch Konsequenzen für die im Subjekt liegende Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit angebotenen Themen, Aufgaben und Fragestellungen und deren Aneignung. Ein kritisch-konstruktiver Ansatz hebt darauf ab, dass im Prozess selbst die Freiheit des Subjekts gewahrt bleibt. Menschenrechtsbildung muss im Kontext eines erinnerungsgeleiteten Lernens gesehen werden. Das Landauer Manifest zur Menschenrechtsbildung versteht sich als ein solches pädagogisches Programm.20 Demütigung, Mord und Unrecht an den Verfolgten der NS-Diktatur sind in diesem Konzept unvergessene Mahnung und zentraler Bezugspunkt, um Menschenrechtsbildung so zu konturieren, dass sie in Absetzung dazu Bildung über, durch und für Menschenrechte als konsequente Perspektive für die Gegenwart betreibt. Damit wird der ungebundenen und gebundenen (schulischen) Bildung ein Querschnittsthema zugewiesen, das letztlich auch als Relevanzkriterium für Bildungsprozesse insgesamt herangezogen werden kann. Diese Legitimation ergibt sich vor dem Hintergrund der Würde der Verfolgten. Erst wenn diese Perspektive eingeholt ist, zeigt sich in der ganzen Deutlichkeit, warum und zu welchem Zweck Bildungsprozesse angestoßen werden – egal ob es um die Arbeit in Gedenkstätten oder die Auseinandersetzung mit den Erzählungen von Zeitzeug*innen geht. Diese Erzählungen gehen letztlich weit über Betroffenheit hinaus. Denn die Auseinandersetzung mit dieser Geschichte kann und darf nicht im Verstummen enden. An den vielen Reden Ernst Grubes lässt sich genau dies ablesen, wenn er immer wieder den Bogen schlägt von seiner Geschichte hin zu aktuellen Herausforderungen, wie sie als Ausgrenzung, Ausbeutungsprozesse der Lebensgrundlagen und als Klima­krise zu sehen sind. Der Blick in die Vergangenheit ist so mit der Frage nach der Gegenwart und Zukunft der heute lebenden Menschen verbunden. Dies sind Perspektiven, die in Gedenkstätten eine wichtige Rolle spielen und spielen müssen. Für Ernst Grube jedenfalls ist Erinnerungsarbeit mit der Sorge um eine lebendige Demokratie unmittelbar verbunden. Die Menschenrechtsagenda hat hier wichtige 230  | Matthias Bahr

Anstöße zu geben und wäre dann entscheidender Bezugspunkt erinnerungssensibler Bildungsarbeit.

Konkretisierung: Erinnerungsgeleitetes Lernen und Menschenrechtsbildung Was bedeutet dies nun konkret für Bildungsprozesse: die Geschichte von Zeitzeug*innen, Subjektorientierung und eine kritisch-konstruktive Didaktik als pädagogischer Rahmen sowie Menschenrechtsbildung als kritisch-politisches Konzept? An drei kurzen Beispielen soll verdeutlicht werden, in welche Richtung gedacht und gearbeitet werden könnte. Dabei sehe ich Ernst Grube, Marian Turski und Esther Bejarano an vielen Stellen in übereinstimmender Gesellschaft. Sie machen deutlich, wie Erinnern und Eintreten für ein menschenrechtsorientiertes Leben zusammengehen, sich dabei gleichwohl jeweils der sehr klugen Reflexion des eigenen Zeugnisses verdanken. Daran lässt sich vielfältig anknüpfen. Allerdings: die pädagogische Weichenstellung im Sinne von Aneignung, Subjektorientierung, Gegenwarts- und Zukunftsorientierung im Bewusstsein notwendiger Auseinandersetzung mit Schlüsselfragen unserer Epoche – diese Weichenstellung nun muss jede und jeder selbst vornehmen. Dies ist die Verantwortung aller, die beanspruchen, sinnvolle Bildungsprozesse zu planen und durchzuführen, die über die Kenntnis historischer Zusammenhänge hinausgehen. Was also können uns diese Überlebenden genauer mitgeben? Wozu regen sie an?

Esther Bejarano: Politische Aktivitäten ›für das Leben‹ in Vielfalt Die Stationen Esther Bejaranos gehen von der Kindheit in Deutschland, der Verschleppung in der NS-Zeit und dann über Israel wieder zurück in ihr Heimatland nach Hamburg. Bereits dieser Bogen bietet Anknüpfungsmöglichkeiten: Wie kommt es dazu, dass eine Überlebende des Holocaust schließlich ihr Leben im Land der Täter*innen verbringt? Die Antworten verweisen auf die komplexen politischen Zusammenhänge jener Zeit, die immer bis in Familien hineinwirken und ohne den Holocaust nicht zu denken sind.21 Ihre musikalische Ausbildung wird im fortgeschrittenen Alter zum Katalysator für ihre politische Botschaft. ›Per la Vita‹ – Lieder ›für das Leben‹ bringt sie schließlich ab 2009 mit der Rap-Band ›Microphone Mafia‹ auf die Bühnen. Darin verarbeitet sie musikalisch historische Bedrängungserfahrungen. Die Lieder sind gleichzeitig Aufforderung zum Widerstand, die innerhalb der Konzerte mit ihrer Geschichte verwoben werden. Die Zusammensetzung der Band als interkulturelles Ernst Grube. Zeitzeuge und Menschenrechtsbildner | 231

und interreligiöses Projekt selbst ist Beleg und Signal, für die prinzipielle Gleichheit der Menschen einzutreten – und gegen Ausgrenzung und Menschenhass zu wirken, die sich in Deutschland immer wieder als gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zeigen. Ihre Lieder und Texte22 verweisen auf eine tiefe Humanität, die ungeduldig und streitbar ist, weil es ja letztlich um alles geht: um den Menschen, seine Sicherheit und seine Würde. Die Analyse ihrer Geschichte und ihrer widerständigen Aktivitäten ermöglichten es der jungen Generation, Esther Bejaranos Aufforderung »Ihr jungen Leute müsst jetzt unsere Arbeit weitermachen«23 nachzugehen. Esther Bejarano – sie wird zum Modell für den notwen­digen zähen Kampf gegen Ausgrenzung und Unterdrückung.

Marian Turski: Neuausrichtung jüdisch-christlicher Ethik für säkulare Gesellschaften

Die Forderung nach dem elften Gebot, die Marian Turski vorgetragen hat, verkörpert nicht weniger als den Anspruch, den jahrtausendealten ethischenAuftrag des Zehnwortes, des Dekalogs, fortzuschreiben. Denn die Geschichte hat gezeigt: Selbst diese ethischen Minimalforderungen haben Auschwitz nicht verhindern können. Offensichtlich war diese althergebrachte Ethik zu schwach, zu unwirksam, möglicherweise für eine moderne Gesellschaft auch nicht genug. Daher also: ›The Eleventh‹. Für Menschen, die in der jüdischen und christlichen Tradition verwurzelt sind, ist dies ein unerhörter Anspruch – noch nie hat es dies gegeben. Doch der Zivilisationsbruch verändert alles. Es lohnt sich, diese Perspektive zu diskutieren und zum Gegenstand des Lernens zu machen, wie wir dies in unserem Schulbuchwerk24 umgesetzt haben. Dabei stellt sich die Frage, wie sie inhaltlich gefüllt werden kann. Was sichert ein Leben in Freiheit und Verantwortung in modernen Gesellschaften? Selbstverständlich ist das zu diskutieren – gerade Bildungsprozesse im Sinne der Subjekt­ orientierung werden genau dieses Nachdenken begrüßen. Sucht man nach einer Agenda, die Gleichgültigkeit verhindern könnte, dann wird man in den dreißig Artikeln der Menschenrechtserklärung fündig. Das geht jedoch über ethische Appelle weit hinaus. Auffallend ist, dass sich sieben (!) von dreißig Artikeln mit Rechtsstaatlichkeit befassen (Art 6–12 der Allgemeine Erklärung der Menschenrechte). Vermutlich wäre dies genau das, was Marian Turski am 27. Januar 2020 anmahnte: Erinnerungsgeleitetes Lernen als Hinwendung zu einer solchen wegweisenden Position der Überlebenden zu sehen, die mit dem Eintreten für Rechtsstaatlichkeit als Antwort auf die Gräuel von Auschwitz einhergeht. Das ist nicht alles, aber doch sehr viel.

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Ernst Grube: Sich einmischen für die Rechte der Menschen-Kinder »Ernst Grube, der Jude, Antifaschist und Kommunist, wie er sich selbst gern bezeichnet, mischt sich ein, wo er Menschen in ihren Rechten bedroht sieht, wo gesellschaftliche Ungerechtigkeiten ein menschenwürdiges Leben infrage stellen. Gleichgültig, ob es um den Umgang mit flüchtenden Menschen, um rassistische Tendenzen in unserer Gesellschaft oder um blinde Flecken in der Erinnerungsarbeit, etwa die mangelnde Aufmerksamkeit für die sowjetischen Opfer, geht.«25 Wer so charakterisiert wird, hat seine Perspektiven erkennbar offengelegt. Es lohnt sich, den Bildungsprozessen nachzugehen, die Ernst Grube als Pädagoge immer wieder mit hoher Sensibilität beschritten hat. Dies gelingt ihm auch mit Kindern. Ernst Grube macht dabei das, was als ›Korrelation‹ zu einem Ernst Grube. Zeitzeuge und Menschenrechtsbildner | 233

weiteren Prinzip pädagogischer Arbeit geworden ist. Es gelingt ihm, zu einer Verschränkung zwischen eigenem Erleben und der Lebenswelt heutiger Kinder anzuregen: »Ernst Grube legt eine Folie auf: Die Rechte der Kinder. Er greift heraus: das Recht auf einen eigenen Namen und eine Staatszugehörigkeit. Nicht für jüdische Menschen! Das Recht auf Freizeit und Erholung, das Recht auf Bildung: den jüdischen Kindern gestohlen. Das Recht auf eine Familie, elterliche Fürsorge und ein sicheres Zuhause: mit den Füßen getreten, die Familien zerrissen, der Wohnungen beraubt, die Kinder vereinsamt. Die Kinder im Klassenzimmer verstehen.«26 Gerade die Verarbeitungsphasen, in denen Kinder dann Briefe an Ernst Grube schreiben, weisen darauf hin, dass hier genau das erreicht wird, was erinnerungsgeleitetes Lernen anstreben kann und soll (etwa im Sinne von Metz): Empathie oder besser noch ›sympathetische Mitleidenschaftlichkeit‹, die sich aus einer unmittelbaren Abwehr gegen das Unrecht speist: »Ich finde es schrecklich, wie fies die Nazis zu ihnen waren« und »Ihr Leben ist sicherlich nicht leicht für Sie.«27 Kinderrechte und Menschenrechte machen den Hintergrund aus, der für Ernst Grube richtungsweisend ist. Sie sind für ihn die Brücken zwischen Vergangenheit und der Gegenwart mit ihren Herausforderungen. An ihnen zeigt er, was es bedeutet hatte, als diese Rechte der Menschen-Kinder ausgesetzt wurden. Die Menschen- und Kinderrechte sind die Folie, nach denen er das Handeln der Menschen in Politik und Gesellschaft einordnet, ein Kompass, dessen Nadel unbeirrbar auf Humanität gerichtet ist. Seine Auftritte und Reden spiegeln das wider – konsequent, unbeirrbar und mitunter unbequem. Das ist für viele Zeitgenoss*innen offenbar immer wieder überraschend. Und doch geht es genau darum: Den Finger in die Wunde zu legen und mit offenem Visier dafür einzutreten, dass die Menschen- und Kinderrechte gewahrt werden. Esther Bejarano, Marian Turski, Ernst Grube: Sie sind Zeug*innen ihrer Geschichte, und sie sind Modelle der Realisierung von Menschenrechtsbildung als Bildung für Menschen- und Kinderrechte heute – auf je eigene Weise. Diese Dynamik aufzunehmen, das ist die Aufgabe, die Ernst Grube seinen Zuhörer*innen mitgibt.

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Anmerkungen 1  Am 11. Dezember 2018 kamen dazu ca. 200 Schüler*innen und Studierende in den Festsaal der Universität Koblenz-Landau (Campus Landau). 2  Vgl. Anja Tuckermann: »Denk nicht, wir blieben hier!« Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner, München / Wien 2005. 3  Wer die Erzählungen von Hugo Höllenreiner erlebt hat oder seine Geschichte nachliest, weiß um die Tiefe der Verletzungen während der zwei Jahre als Kind in vier Konzentrationslagern. Die ›medizinischen‹ Experimente, die er durch Josef Mengele im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau erleiden musste, geben einen Hinweis, welche Traumata erlitten wurden – und wie sie bis ins hohe Alter nachwirkten. 4  Vgl. dazu die Grundüberlegungen von Peter Poth in diesem Band. 5  Antonella Romeo (Hg.): Esther Bejarano  – Erinnerungen. Vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Rap-Band gegen rechts, Hamburg 22014. 6  Vgl. Bruno Maida, Nachwort, in: Romeo 2014, 201–208, hier 208. 7  Vgl. Maida 2014, 156. 8  Vgl. Maida 2014, 162. 9  Marian Turski: Gedenkrede zum Internationalen Gedenktag des Holocaust an den Sinti und Roma am 2. August 2021, URL: https://www.roma-sinti-holocaust-­memorialday.eu/de/history/marian-turski/ [gelesen am 8. 8. 2022]. 10  Vgl. Johann Baptist Metz: Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg 22006, 166. 11  Vgl. Günther B. Ginzel (Hg.): Auschwitz als Herausforderung für Juden und Christen, Heidelberg 1980. 12  Vgl. Matthias Bahr: »Jetzt stehen wir vor dem ›Zigeunerlager‹...«. Überlegungen für eine Religions-Pädagogik im Angesicht von Auschwitz, in: Matthias Bahr / Peter Poth

(Hg.), Hugo Höllenreiner. Das Zeugnis eines überlebenden Sinto und seine Perspektiven für eine bildungssensible Erinnerungskultur, Stuttgart 2014, 83–96, hier 88. 13  Vgl. Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz, in: Theodor W. Adorno, Erziehung zur Mündigkeit. Gespräche und Vorträge mit Hellmut Becker 1959–1969, hg. von Gert Kadelbach, Frankfurt a. M. 1971 (zit. als 1971a). 14  Vgl. Manfred Deselaers, Wir können nicht nur schweigen  …, in: Katechetische Blätter 2010 /135, 4–7, hier 7. 15  Vgl. Saul B. Robinson, Bildungsreform als Revision des Curriculum, Neuwied 1967. 16  Vgl. Georg Hilger / Hans Georg Ziebertz: Wer lernt? Schülerinnen und Schüler als Subjekte religiösen Lernens, in: Georg Hilger / Hans Georg Ziebertz / Stephan Leimgruber (Hg.), Religionsdidaktik. Handreichung für Ausbildung  – Schule  – Beruf, München 62001, 174–193, hier 176–178. 17  Vgl. Georg Hilger / Hans-Georg Ziebertz: Allgemeindidaktische Ansätze einer zeitgerechten Religionsdidaktik, in: Georg Hilger / Hans Georg Ziebertz / Stephan Leimgruber (Hg.), Religionsdidaktik. Handreichung für Ausbildung  – Schule  – Beruf, München 62001, 106- 119, hier 117–119. 18  Vgl. Wolfgang Klafki: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik, Weinheim / Basel 51996, 52 f. 19  Vgl. Klafki 1996, 56–60. 20  Vgl. Matthias Bahr: Das »Landauer Manifest zur Menschenrechtsbildung«. Profil einer Initiative an der Universität Koblenz-Landau, in: Matthias Bahr / Bettina Reichmann / Christine Schowalter (Hg.): Menschenrechtsbildung. Handreichung für Schule und Unterricht, Ostfildern 2018, 42–55, hier 45–53. 21  Siehe dazu ihre Ausführungen in ihren Erinnerungen, vgl. Romeo, 2014, 107–125. 22  Vgl. die Compact Discs: Bejarano &

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Microphone Mafia: Per La Vita 2009 bzw. La Vita Continua 2013. 23  Esther Bejarano, zit. nach Matthias Bahr / Hans Schmid (Hg.): Religion verstehen. 6. Unterrichtswerk für katholische Religionslehre an Realschulen, Berlin 2018, 103. 24  Vgl. Matthias Bahr / Hans Schmid (Hg.): Religion verstehen. 7. Unterrichtswerk für ka-

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tholische Religionslehre an Realschulen. Berlin 2019, 46. 25  Peter Poth: Ernst Grube: (K)ein Recht auf (m)eine Familie?, in: Katechetische Blätter 2018 /143, 32–36, hier 35 (Hervorhebungen im Original, M.B.). 26  Poth 2018, 34. 27  Poth, 2018, 35.

Renate Eichmeier, Paul Huf

Eine Forschungsreise wider das Vergessen

Zur Genese der Forschungsreise (Paul Huf) Jedes Projekt besteht aus dem Zusammenspiel vieler Menschen und es entwickelt sich nach und nach, so auch das Kunstprojekt »Forschungsreise wider das Vergessen«, das ein Stück NS-Geschichte sichtbar macht. Im Frühjahr 2010 wurde ich von Marta Reichenberger auf einer Vernissage angesprochen, die gemeinsam mit Tatiana Hänert das Kulturhaus Milbertshofen im Münchner Norden leitete. Sie hatten schon einige meiner gesellschaftskritischen Arbeiten gesehen und wollten ein Projekt für ihr Haus verwirklicht haben. Ich kannte Milbertshofen nur vom Durchradeln und so begann ich ganz unvoreingenommen meine Recherche. In diesem Stadtteil hatte die Münchner NSDAP im März 1941 das »Judenlager Milbertshofen« eingerichtet, es hieß damals beschönigend »Judensiedlung Milbertshofen« und diente hauptsächlich als Durchgangsstätte für den Zugtransport in die Konzentrations- und Vernichtungslager Theresienstadt, Auschwitz, Piaski, Izbica, Bełżec und Kaunas. Die ersten Tausend Münchner Jüdinnen und Juden wurden am 20. November 1941 vom nahe gelegenen Güterbahnhof Milbertshofen ins litauische Kaunas verbracht, wo die Menschen nur wenige Tage nach ihrer Ankunft systematisch ermordet wurden. Ich hatte von diesem Teil der Münchner Stadtgeschichte nichts gewusst und musste feststellen, dass auch meine Münchner Freund*innen ahnungslos waren. Zwar kannten wir alle Dachau und die dortige Gedenkstätte, aber dass es auch in München selbst Lager gegeben hatte, eines in Milbertshofen und ein weiteres in Berg am Laim, nahmen wir erst jetzt zur Kenntnis. Der Tag der ersten Deportation aus Milbertshofen würde sich 2011 zum siebzigsten Mal jähren. So entstand meine Idee für die »Forschungsreise«: ich wollte die Rolle des Lagers München-Milbertshofen für die Shoah im öffentlichen Raum sichtbar machen. Von München aus würde ich mit dem Zug zu den Orten der Deportation reisen und auf der Reise zeichnen und fotografieren. An jedem Tag der Reise würde ich meine Bilder zusammen mit schriftlichen Reiseeindrücken und historischen Zitaten nach München schicken und sie groß auf die Fassade des Kulturhauses Milbertshofen projizieren lassen. Doch dann bekam das Projekt eine neue Dimension, denn Marta Eine Forschungsreise wider das Vergessen | 237

ger fand heraus, dass zwei Brüder, die in dem Lager interniert und nach There­ sien­stadt deportiert worden waren, den staatlichen Terror überlebt hatten und bis heute in München wohnten. So lernte ich die Brüder Ernst und Werner Grube kennen. Ein gut gemeintes Konzept zu entwickeln ist eine Sache, aber dieses Konzept zwei Überlebenden zu präsentieren, ist eine ganz andere Herausforderung – schließlich würde ich ihre persönliche Geschichte antasten und mir ihr die Erinnerung an eine der dunkelsten Epochen der Menschheit. So entschied ich mich, die Umsetzung des Projekts von der Zustimmung der Brüder Grube abhängig zu machen. Ich hatte Glück, und zu meiner Überraschung bot mir Ernst Grube sogar an, mich auf dieser Reise zu begleiten. Diese unverhoffte Entwicklung gab dem Projekt eine neue Tiefe und Bedeutung, denn ich würde mit einem Mann reisen, der die Shoah überlebt hatte, mit ihm gemeinsam nach Theresienstadt fahren, wo er und seine Familie interniert worden waren, und weiter an die Orte, an denen ein großer Teil seiner Familie ermordet worden war. Mit ihm als Zeitzeugen würde ich all die Orte besuchen, wohin die Münchner NSDAP die jüdischen Mitbürger*innen in den Tod geschickt hatte. Die Intensität dieses Vorhabens spüre ich noch heute deutlich. Unter diesen Vorzeichen begann sich die Forschungsreise neu zu formieren. Was zunächst als einsame Tour eines zeichnenden und fotografierenden Künstlers geplant war, wurde nach und nach zum geteilten Vorhaben eines ganzen Teams. Dabei waren die Überlebenden Ernst und Werner Grube, die Journalistin und Autorin Renate Eichmeier, die auf der Reise das Logbuch führte, die Pädagogin Helga Hanusa, die ihre Expertise zur Gedächtniskultur einbrachte, der Historiker Maximilian Strnad, der uns als Autor des Buchs »Zwischenstation ›Judensiedlung‹« mit seinem geschichtlichen Faktenwissen unterstützte, der Mathematiker Lars Mentrup, der sich um die technische Umsetzung in München kümmerte und nicht zuletzt die Leiterinnen des Kulturhauses Milbertshofen. An den verschiedenen Zielorten trafen wir Gedenkstättenleiter*innen, Zeitzeug*innen, Pädagog*innen, Historiker*innen und Schüler*innen, mit denen wir auf der Forschungsreise mit unserem Team ins Gespräch kamen. Die Forschungsreise begann am 6. November 2011. Renate Eichmeier schildert in der Folge Eindrücke dieser Reise, die ich in Form von Bildern festzuhalten versuchte. Auf der Reise und in der Vorbereitung habe ich mich angesichts des Ausmaßes der Menschheitsverbrechen oft hoffnungslos gefühlt, wobei mir selbst dieses Gefühl noch banal erschien. »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch«, schrieb Theodor W. Adorno. Dieser Satz bringt die Problematik auf den Punkt: Nach dem Zivilisationsbruch, den der Holocaust darstellt, hat die Kunst jede Unschuld verloren und egal, womit man sich beschäftigt, der Holocaust und die Verantwortung dafür sind Teil davon. Wie sollte ich also Bilder machen? 238  | Renate Eichmeier, Paul Huf

Ernst Grube mit dem »Judenstern«, 2011. Foto: Paul Huf.

Ich habe es vermieden, die Bilder zu reproduzieren, die den Holocaust typischerweise repräsentieren: Tausende kaputter Brillen, die auf einem Haufen ineinander verkeilt liegen oder die Koffer mit den Namen, Geburtsdaten und Adressen der Opfer. Zwar glaube ich nicht, dass diese Bilder abgesehen sind oder ihre Kraft verloren haben, wie oft behauptet wird – mich erschüttern sie weiterhin. Ich sah es aber als meine Aufgabe, neue und andere Bilder zu finden. Schließlich habe ich auf mir vertraute Arbeitsweisen zurückgegriffen, sonst wäre das Thema stärker geworden als ich. Ich habe gezeichnet, geschrieben und fotografiert, habe den Blick auf die Details gerichtet, die Manifestationen der Geschichte sind, habe in mich hineingehört, um zu erkennen, welches Bild mich bewegt.

Reisebericht (Renate Eichmeier)

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Wir begegnen fast ausschließlich jugendlichen Besuchern, die sich in Gruppen durch die Hauptausstellung bewegen. Aufmerksam hören sie zu und betrachten wie wir die Dokumente der systematisch organisierten ›Endlösung der Judenfrage‹ […] Ich hoffe, dass die jungen Leute sich immer wieder erinnern und fühlen werden, was sie hier wahrgenommen haben, und dass dieses Erinnern und Wissen um die NS-Verbrechen als Barriere gegen rassistische und neonazistische Ideologie und Politik wirkt. (Ernst Grube, 9. November 2011) Im November 2011 jährte sich der Beginn der Deportationen aus München zum 70. Mal. Am 20.  November 1941 waren knapp 1000 jüdische Männer, Frauen und Kinder vom Bahnhof Milbertshofen nach Kaunas in das von der deutschen Wehrmacht besetzte Litauen deportiert und dort ermordet worden. Anlässlich dieses Jahrestages reiste der Künstler Paul Huf mit dem Shoah-Überlebenden Ernst Grube, dessen Frau Helga Hanusa und mir vom 6. bis zum 20. November 2011 an die Orte, an denen zwischen 1941 und 1945 um die 3400 Menschen Eine Forschungsreise wider das Vergessen | 239

aus München verschleppt wurden: nach Kaunas in Litauen und Piaski in Ostpolen, den Zielorten der ersten beiden großen Deportationen; und nach Auschwitz und Theresienstadt. Dahin gingen die folgenden Deportationen. Unsere Reise führte uns in das gigantische Netz von Konzentrations- und Vernichtungslagern, das die Nationalsozialisten in den besetzten Gebieten Osteuropas aufgebaut hatten. Wir führten ein Online-Tagebuch bestehend aus Zeichnungen und Fotos von Paul Huf, einem täglichen Blog, den ich verfasst habe, und den Ernst Grube und Helga Hanusa durch eigene Beiträge ergänzten.

Terezín Unsere erste Station war das nordböhmische Terezín, so der tschechische Name für Theresienstadt. Am 6. November 2011 fuhren wir mit Zug und Bus von München über Nürnberg nach Prag und von dort mit einem Regionalzug nach Bohušovice nad Ohří, einem kleinen Ort südlich von Terezín. Hier kamen die ersten Deportationen an. Anfangs mussten die Menschen zu Fuß mit ihrem Gepäck in das zwei Kilometer entfernte Theresienstadt marschieren, später wurden sie direkt mit dem Zug dorthin gebracht. Wir nahmen ein Taxi. Bei unserer Ankunft herrschte sonntägliche Ruhe, blauer Himmel, buntes Laub leuchtete in den Straßen. Terezín wurde im 18. Jahrhundert von den Habsburgern gegründet: als Garnisonsstadt mit Kasernen und umgeben von Befestigungswällen. Die deutschen Besatzer haben die Einwohner*innen umgesiedelt und das gesamte Stadtgebiet in ein Lager umfunktioniert – zunächst für die einheimische jüdische Bevölkerung, dann auch für die Deportierten aus dem Reich und den besetzten Gebieten. Allein aus München wurden über 1300 Menschen hierher verschleppt. Enge, Hunger und Angst bestimmten das Leben. Ernst Grube war zwölf Jahre alt, als er mit seiner Mutter Clementine, seinem 14-jährigen Bruder Werner und der sechs Jahre alten Schwester Ruth im Februar 1945 nach Theresienstadt deportiert wurde. Sofort nach der Ankunft wurde die Familie getrennt. In der Altstadt haben wir das Haus gefunden, in dem Ernst mit gleichaltrigen Kindern untergebracht war. Vor allem die Ernährungslage sei schwierig gewesen, erzählte er. Es habe nur etwas Brot, Graupensuppe oder Kartoffeln gegeben, die meist faulig gewesen seien. Von Hunger getrieben, hätten die Kinder versucht, irgendwo im Lager Essbares zu finden. Im Museum des einstigen Ghettos gibt es einen Gedenksaal für die in There­sien­ stadt ermordeten Kinder. Tausende von Namen und Geburtsdaten bedecken die Wände, bunte Kinderzeichnungen, Gedichte, Texte der Ermordeten sind ausgestellt. Ernst Grube, seine Geschwister und seine Mutter haben überlebt und sind nach der Befreiung durch die Rote Armee im Mai 1945 nach München zurückgekehrt. 240  | Renate Eichmeier, Paul Huf

Die Kleine Festung Theresienstadt war das Gefängnis der Gestapo. Hier war die Behandlung der Gefangenen ganz besonders brutal. In einem Waschraum hängen über dem Wasch­becken rechteckige Spiegel. Sie wurden montiert, um dem Roten Kreuz, das sich zu einem Kontrollbesuch angekündigt hatte, Normalität vorzuspiegeln. Tatsächlich hat das Rote Kreuz aber nie die Festung besucht. Noch immer hängen dort die Spiegel, die die Wahrheit über die Brutalität des Ortes verschleiern sollten. Ihre Oberflächen sind blind geworden

Am Eingang des Exekutionsplatzes mussten Zwangsarbeiter*innen einen Swimmingpool für die SS-Offiziere bauen. Auf dem Weg zu ihrer Ermordung kamen die Inhaftierten an ihren in der Sonne liegenden und schwimmenden Peinigern vorbei. Texte und Fotos: Paul Huf. Eine Forschungsreise wider das Vergessen | 241

Oświęcim Einige Stunden dauerte unsere Fahrt durch die neblige Herbstlandschaft mit dem Zug über Prag ins polnische Oświęcim, auf Deutsch: Auschwitz. Wir übernachteten in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte, Mitte der 1980er Jahre gebaut, große Fensterfronten und Blick ins Grüne. Außer uns waren noch etwa 100 Jugendliche aus Dresden und Leipzig dort, die mit Workshops, Vorträgen und Besichtigungen beschäftigt waren. Zu Fuß machten wir uns auf den Weg in Richtung der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Nach etwa 20 Minuten standen wir vor dem ehemaligen Wohnhaus von Rudolf Höss, dem ersten Kommandanten des Konzentrationslagers, der dort unmittelbar am Gelände des ehemaligen »KL Auschwitz I« mit seiner Frau und seinen fünf Kindern lebte. Vor dem Eingang des Museums schwirrten internationale Reisegruppen umher. Führungen in verschiedenen Sprachen, Fotoshooting von Touristen unter dem Tor »Arbeit macht frei«, dahinter Backsteinbauten. Das waren die Blocks, in denen die Häftlinge eingesperrt waren. In einigen der Blocks finden sich Ausstellungen: Hinter Glaswänden türmen sich Berge von Koffern, Haarbüscheln, Schuhen, Brillen: Relikte der Ermordeten »KL Auschwitz I« am Stadtrand von Oświęcim war das Verwaltungszentrum eines riesigen Komplexes von Nebenlagern. Neben kleineren Außenlagern waren das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und das Konzentrationslager Auschwitz-Monowitz die größten Anlagen. Monowitz ist der deutsche Name für den kleinen Ort Monowice, heute Stadtteil von Oświęcim, wo das Industrieunternehmen IG-Farben den Aufbau eines Werkes vorantrieb, das mit der Zwangsarbeit der KZ-Häftlinge betrieben werden sollte. An unserem letzten Tag in Oświęcim fuhren wir mit dem Bus zu dem ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, das eine Art Industriebetrieb für die Ermordung von über einer Million Menschen war. Vom Eingang aus konnten wir nur einen Teil des Geländes überblicken, das weit über den Horizont hinaus reicht. Der größte Teil des ehemaligen Lagers ist nicht erhalten. Rechterhand: gut zwei Dutzend Holzbaracken, links etwa doppelt so viele Backsteinbauten, ansonsten hohe Elektrozäune, Wachtürme, Barackenreste, dazwischen große freie Flächen und die Rampe, die für die über 400.000 deportierten ungarischen Jüdinnen und Juden im Mai 1944 in Betrieb genommen wurde. Auf Höhe der Rampe: Tafeln mit Fotos ungarischer Frauen und Kinder vom Juni 1944. Die SS hatte sie fotografiert. Verängstigte Menschen, verstörte Gesichter. Sie wurden in den Gaskammern sofort ermordet.

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Das Konzentrationslager Auschwitz ist zum Inbegriff des Holocausts geworden, aber es gibt auch die Stadt Oświęcim, in der Menschen leben und arbeiten. Das Stadtzentrum und die Altstadt von Oświęcim liegen östlich des Flusses Sola, der Bahnhof der Gedenkstätte westlich davon. Die Brücke verbindet das KZ Auschwitz und Oświęcim miteinander.

Kurz vor dem Haus von Rudolf Höss, dem Lagerleiter in Auschwitz, steht jetzt eine Werbetafel für den ­fundamentalistischen, katholischen Sender »Radio Maryja«. Rudolf Höss lebte mit seiner Frau und den fünf Kindern direkt neben dem Konzentrationslager. Texte und Fotos: Paul Huf. Eine Forschungsreise wider das Vergessen | 243

Lublin Noch am Abend fuhren wir weiter nach Krakau, wo wir übernachteten, und am nächsten Tag Richtung Osten in die Lubliner Gegend aufbrachen, in der bis zur deutschen Besetzung im Herbst 1939 ein reges jüdisches Leben geherrscht hatte. Bei unserer Ankunft in Lublin war Festtagsstimmung. Der 11. November ist der polnische Unabhängigkeitstag: Die Geschäfte waren geschlossen, die Straßen mit polnischen Fahnen geschmückt. Unser Rundgang durch die Altstadt führte uns vorbei an großen Bürgerhäusern, Stadtpalästen und Kirchen. Florierende Handelswege hatten einst für Wohlstand gesorgt und italienische Baumeister ihren Renaissance-Stil nach Lublin gebracht. Schon von weitem hörten wir einen Straßenmusiker, der unter dem Stadttor »Brama Grodzka« Akkordeon spielte. Vor dem Einmarsch der Deutschen war hier der Eingang zum jüdischen Viertel. Im Mittelalter hatte sich Lublin zu einem Zentrum des Ostjudentums entwickelt. Berühmte jüdische Gelehrte unterrichteten an der Jeschiwa, der jüdischen Hochschule. Es gab viele jüdische Gebetshäuser, ein jüdisches Krankenhaus und ein jüdisches Waisenhaus. Hinter dem Stadttor hatten wir einen freien Blick auf die Burg. Das jüdische Viertel lag gleich unter dem Burgberg. Die deutschen Besatzer haben die Bewohner ermordet und die Häuser zerstört. Heute ist das Gelände teilweise wieder bebaut, größtenteils wird es aber als Parkplatz und Grünanlage genutzt. Unser Hotel in Lublin lag in dem Viertel, das die deutschen Besatzer für sich requiriert hatten. Ab Winter 1939 residierte der Kärtner Odilo Globocnik in einer Villa in der Boczna Lubomelskiej. Als oberster Polizei- und SS-Führer im Distrikt Lublin sorgte er auf Befehl von Heinrich Himmler für den Aufbau eines dichten Netzes an Arbeits-, Durchgangs- und Vernichtungslagern in seinem Herrschaftsbereich. Eines davon lag am südöstlichen Stadtrand von Lublin. Heute befindet sich dort das Staatliche Museum Majdanek, an dessen Eingang ein riesiges Monument in Form eines Tores steht. Der Historiker Wiesław Wysock, ein Mitarbeiter des Museums, führte uns über das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers, in dem ab Herbst 1941 die deutschen Besatzer jüdische und nichtjüdische Häftlinge gefangen gehalten, zur Zwangsarbeit gezwungen und ermordet hatten.

Piaski / Izbica Bei grauem Novemberwetter fuhren wir am nächsten Morgen mit Wiesław Wysock über die Lubliner Hochebene Richtung Südosten, links und rechts der Straße waren Felder, hin und wieder lag etwas Schnee. Nach einer Viertelstunde erreichten wir Piaski, einen kleinen Ort, der genauso wie das weiter südlich gelegene Izbica vor der deutschen Besetzung 1939 ein ostjüdisches Schtetl war. Die Mehrheit der etwa 4000 Menschen, die damals in Piaski lebten, so Wiesław Wysock, bekannte 244  | Renate Eichmeier, Paul Huf

Piaski ist ein kleiner Ort östlich von Lublin. Hier lebten bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs jüdische und christliche Menschen zusammen. Ein Großteil der Bevölkerung, darunter 70 % jüdisch, waren Händler, die den Landwirten der Umgebung Werkzeug und Saatgut verkauften. Im Frühjahr 1940 errichteten die Nazis in diesem Schtetl das erste Ghetto in Polen. Dazu wurde ein Teil der Stadt mit einem Bretterzaun abgeteilt. Dort wo heute der Pavillonbau mit Geschäft und Bushaltestelle steht, gab es ein bewachtes Tor im Zaun. Bis 1943 diente das Ghetto Piaski als Transitlager für deportierte Jüdinnen und Juden aus dem Westen. Noch immer lebt die Stadt hauptsächlich vom Handel mit den Bauern der Umgebung und noch immer befinden sich die Geschäfte in den alten Sandsteinhäusern, nur vom jüdischen Leben ist nichts mehr übrig.

sich zum jüdischen Glauben, pflegte religiöse Traditionen und sprach hauptsächlich Jiddisch. Odilo Globocnik ließ einen Teil des Ortes mit einem Bretterzaun absperren und zu einem Ghetto umfunktionieren, in dem zunächst die einheimischen Jüdinnen und Juden, später Deportierte aus dem Deutschen Reich auf engstem Raum zusammengepfercht wurden. Im April 1942 kamen hier die etwa 770 Menschen an, die aus München verschleppt worden waren. Piaski und Izbica waren Transitlager. Primitive Holzhäuser, fehlende Kanalisation, Schmutz und Hunger: Wer nicht an den furchtbaren Lebensbedingungen starb, wurde in die nahegelegenen Vernichtungslager Bełżec und Sobibor gebracht – oder auf den jüdischen Friedhöfen erschossen. Auch die Onkel und Tanten mütterlicherseits von Ernst Grube wurden mit ihren Kindern nach Piaski, Izbica und teilweise auch ins lettische Riga deportiert: Selma und Siegfried Süss-Schülein, Rosa Neu und Sigmund Neu mit ihrem Sohn Irwin Neu, Erna und Max Berenz mit ihren Kindern Abraham, Manasse und ihrer kleinen Tochter Bella. Wo und wie sie umgekommen sind, konnten die Eltern Eine Forschungsreise wider das Vergessen | 245

von Ernst nach dem Krieg nicht herausfinden. Im November 1949 wurden sie vom Amtsgericht Stuttgart für tot erklärt. Ernst Grube hat inzwischen herausgefunden, dass Selma und Siegfried Süss-Schülein von Stuttgart aus am 1. Dezember 1941 nach Riga deportiert wurden. Dort verliert sich Selmas Spur, während Siegfried bis Juli 1944 im Konzentrationslager Kauen inhaftiert war und am 1. Juli 1944 im Konzentrationslager Dachau registriert wurde. Im Nebenlager Kaufering leistete er Zwangsarbeit in der Rüstungsproduktion. Er verstarb dort vermutlich am 22. Dezember 1944.

Auch Izbica war vor dem Krieg ein jüdisches Schtetl. Nach 1945 zogen polnische Christinnen und Christen in den leeren Ort. Auf dem Marktplatz, der mit EU-Geldern neu gestaltet wurde, steht ein Denkmal für die gefallenen polnischen Soldaten. Meine Fotografie zeigt die Rampe in Izbica, von der aus die ­Deportierten in das nahegelegene Ghetto getrieben wurden. Texte und Fotos: Paul Huf.

Bełżec Bełżec ist ein kleines Dorf in der Nähe der ukrainischen Grenze. Wiesław Wysock führte uns durch die Gedenkstätte des ehemaligen Vernichtungslagers, das unmittelbar am Bahnhof liegt. Vom Lager ist nichts erhalten geblieben, aber bei Ausgrabungen wurden 33 Massengräber entdeckt. Die Gedenkstätte ist ein Friedhof: eine große Fläche mit Schlacke, die nach hinten ansteigt, in der Mitte geteilt durch einen Weg. Von Februar bis November 1942 führte etwa hier der Weg in die Gaskammern, in denen schätzungsweise 500.000 Menschen den Tod fanden. Sie wurden von den umliegenden Transitlagern oder direkt von ihren Heimatorten hierher deportiert. Auch Verwandte von Ernst Grube und Deportierte aus München könnten hier getötet worden sein. Nachvollziehen lässt sich das aber nicht mehr. 246  | Renate Eichmeier, Paul Huf

In Bełżec wurden Menschen mithilfe von Auspuffgasen getötet. Eine halbe Million Menschen sind in diesem Vernichtungslager im Verlauf des Jahres 1942 systematisch ermordet worden. Das Foto zeigt die Verteilerdüse, aus der das tödliche Gas strömte. Die Düse wurde bei Grabungsarbeiten auf dem Gelände des Lagers gefunden. Die Anlage lag an der einst häufig befahrenen Zugstrecke, die nach Lemberg führt. Die Fenster der Waggons wurden vor Bełżec von den Nazis blickdicht verschlossen, damit die vorbeifahrenden Reisenden das Vernichtungslager nicht sehen konnten.

Im Frühjahr 1943 wurde das Lager Bełżec aufgelöst, alle Einrichtungen zerstört und zur Tarnung ein Bauernhof auf dem Gelände errichtet. Nur die zwei Häuser der Lagerkommandantur stehen noch. Eines ist bewohnt, das andere steht leer. Ein Nachbar hat in seinem Garten einen kleinen Altar mit einer Marienfigur aufgebaut. Texte und Fotos: Paul Huf Eine Forschungsreise wider das Vergessen | 247

Zamość Zwischen Bełżec und Izbica liegt Zamość. Wiesław Wysock führte uns durch die Altstadt, im Zentrum ein großer Marktplatz, das Rathaus mit geschwungener Freitreppe, reichverzierte Bürgerhäuser. Wie in Lublin ist auch hier der Einfluss der italienischen Renaissance-Architektur nicht zu übersehen. Über Jahrhunderte war Zamość eine internationale Handels- und Wissenschaftsstadt: Armenier, Griechen, Polen, Juden, Menschen aus den verschiedensten Kulturkreisen lebten hier. Die deutschen Besatzer wollten das ändern. Der »Reichsführer SS« Heinrich Himmler startete hier eine Art Modellprojekt: Zamość und Umgebung sollten der erste rein deutsche Siedlungsbereich in den besetzten Ostgebieten werden. Zuerst wurde die jüdische Bevölkerung in Bełżec ermordet, danach wurden Tausende polnischer Bauern aus der Umgebung von Zamość vertrieben und ihre Höfe von Deutschen übernommen, die aus anderen Gebieten wie Bessarabien umgesiedelt wurden. Unter den Vertriebenen war die Familie von Wysocks Schwiegermutter. Die Massenmorde an der jüdischen Bevölkerung, die Zerstörung ihrer Kultur: Das war nur ein Teil des großangelegten »Generalplans Ost«. Auch die slawische Bevölkerung sollte teilweise ermordet, auf jeden Fall aber unterworfen, versklavt, enteignet werden. Die besetzten Gebiete sollten mit Deutschen besiedelt werden. Ziel war die Schaffung eines »Großgermanischen Reiches«.

Kaunas Die letzte Station unserer Reise war Kaunas in Litauen, der Zielort des ersten Deportationszuges aus München am 20. 11. 1941. Wie in Lublin und Zamość ist auch die Altstadt in Kaunas geprägt von großzügigen Plätzen und schmucken Bürgerhäusern. Handel und Handwerk machten die Stadt einst reich. Und auch Kaunas war ein Zentrum des osteuropäischen Judentums. Wie in vielen Orten Litauens entstand hier ab dem 16. Jahrhundert eine bedeutende jüdische Gemeinde. Gemeinsam mit Simon Davidovich, unserem Ansprechpartner in Kaunas, fuhren wir zum Fort IX, einer alten Befestigungsanlage aus der Zarenzeit etwas außerhalb der Stadt, in der ein Staatliches Museum über die Verbrechen während der deutschen Besatzungszeit informiert. Im Rahmen des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion rückten im Juni 1941 deutsche Truppen in Kaunas ein und in ihrem Gefolge das »Einsatzkommando 3« der Einsatzgruppe A, eine Spezialeinheit für die Ermordung der jüdischen Bevölkerung in Litauen. Unterstützt wurde das Einsatzkommando durch rechtsgerichtete litauische Milizen. »They were very fast in killing«, sagte Simon Davidovich auf dem Gedenkplatz vor dem Fort IX. Hier wurden schätzungsweise 50.000 Menschen erschossen – da248  | Renate Eichmeier, Paul Huf https://doi.org/10.5771/9783835349216

runter auch Freund*innen von Ernst Grube aus dem Kinderheim in München, in dem er mit seinen Geschwistern zeitweise lebte. Sie waren unter den knapp 1000 Männern, Frauen und Kindern, die am frühen Morgen des 20. November 1941 vom Güterbahnhof Milbertshofen deportiert wurden. Fünf Tage später waren alle tot. Das Einsatzkommando 3 und ihre litauischen Helfer hatten sie erschossen. Simon Davidovich ist ein Nachkomme von Holocaust-Überlebenden. Alle Männer der Familie mütterlicherseits wurden gleich in den ersten Tagen der deutschen Okkupation ermordet. Die Großmutter und ihre Töchter überlebten mithilfe litauischer Bauern. Die Familie väterlicherseits floh am Tag des deutschen Einmarsches sofort in die Sowjetunion, ins Altai-Gebirge östlich des Urals, und kehrte erst nach Kriegsende wieder nach Litauen zurück. Bis zu seinem Tod im Jahr 2019 leitete Simon Davidovich das Sugihara-Museum, das sich in der ehemaligen japanischen Botschaft befindet. Während des Zweiten Weltkrieges hat der Botschafter Chiune Sugihara Transitvisa nach Japan ausgestellt und so Tausenden Juden das Leben gerettet. »A lot of people had the choice to help but they did not do it,« sagte Simon bei unserem Besuch. Das Museum arbeitet mit Schulen und verschiedenen Institutionen zusammen, um Zivilcourage zu vermitteln und gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen aktive Formen des Holocaust-Gedenkens entwickeln. Im Gymnasium »Stepono Dariaus ir Stasio Gireno« erzählte Ernst Grube vor Abiturient*innen über die 23 Kinder aus dem Antonienheim in München, in dem er mit seinen Geschwistern gelebt hat, er erzählte, dass sie vor 70 Jahren nach Kaunas deportiert und im Fort IX ermordet worden waren – und erklärte die Motivation hinter seiner Arbeit als Zeitzeuge: »Wir wollen, dass sich auch nur Ähnliches nicht wiederholt – Verspottung, Erniedrigung, Ausgrenzung. Deshalb wollen wir mit Ihnen über das Geschehen sprechen und in Kontakt kommen und uns besprechen, wie wir gemeinsam eine Zukunft schaffen können, in der es weder Lager noch Krieg gibt.« Die eigene Beteiligung an den Massenmorden ist für die Litauer nach wie vor ein schwieriges Thema. Über 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung Litauens wurden getötet. Ihre Kultur ist verschwunden genauso wie in Polen, in der Ukraine, in ganz Osteuropa. Immer wieder kommt es zu antisemitischen und rechtsextremen Übergriffen auf Gedenkstätten und jüdische Einrichtungen. Vor unserer Reise hatten Unbekannte im Frühjahr 2011 den Gedenkplatz vor dem Fort IX mit Hakenkreuzen beschmiert. Und: »Hitler hatte recht – Juden raus« war in litauischer Sprache auf einem Transparent zu lesen am Zaun vor der Synagoge in Kaunas.

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Im Fort IX im litauischen Kaunas steht eine Puppe, die in eine Naziuniform gekleidet ist. Die Auswahl des Puppentyps spiegelt eine stereotype Annahme über die Naziphysiognomie. Tatsächlich waren die Täter aber Jedermänner ganz unterschiedlichen Aussehens.

Am 25. Juni 1941 brachten deutsche Soldaten ca. 50 jüdische Bürger in den Hof der Lietukis-Garage in Kaunas. Dort mussten sie unter Aufsicht von litauischen Nationalisten mit bloßen Händen Mist beseitigen und nach der Arbeit wurden sie mit sehr starkem Wasserdruck abgespritzt. Doch diese Demütigungen genügten noch nicht: Schließlich wurden sie mit Knüppeln, Brecheisen, Schaufeln und Gewehrkolben erschlagen. Das ­Pogrom in der Lietukis-Garage wurde von einer großen Gruppe Zuschauer*innen beobachtet, bestehend aus deutschen Soldaten und litauischen Zivilist*innen. Heute steht im Hof ein Gedenkstein und jedes Jahr gedenkt die jüdische Gemeinde dort der Opfer. Auf einem Dachterrasse über dem Hof befindet sich eine große Freiheitsstatue. Die Figur hat sich abgewandt. Texte und Fotos: Paul Huf.

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München Am 20. November 2011 kehrten wir nach München zurück, dem Tag, an dem 70 Jahre zuvor die ersten Menschen aus München deportiert worden waren. Zwei Wochen lang waren wir in Tschechien, Polen und Litauen unterwegs, haben Orte besucht, an denen Zehntausende, Hunderttausende ermordet wurden und sich die gigantischen Ausmaße der NS-Verbrechen bis heute manifestieren.

In München-Milbertshofen steht ein Denkmal des Künstlers Robert Lippl, das den Jüdinnen und Juden gewidmet ist, die dort interniert waren. Im Bronzeguss ist diese Inschrift ausgespart: »Für viele jüdische Mitbürger begann in den Jahren 1941-43 der Leidensweg in die Vernichtungslager mit ihrer Einweisung in das Münchner Sammellager hier an der Knorrstraße 147.« Ameisen haben kleine Steine in die Vertiefungen der Inschrift geschleppt. Mich erinnerte das an den jüdischen Brauch, Steine auf Gräber und Gedenksteine zu legen. Text und Foto: Paul Huf.

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Autor*innen

Matthias Bahr ist Professor für Religionspädagogik und wissenschaftlicher Leiter der Arbeitsstelle »Menschenrechtsbildung« im FB 6: Kultur- und Sozialwissenschaften der Universität Koblenz-Landau (Campus Landau); zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören (religions-)pädagogische Grundfragen vor dem Hintergrund des »Zivilisationsbruchs Auschwitz«, »Menschenrechtsbildung« (Ostfildern 2018), Entwicklung von Unterrichtsmaterialien (»Religion verstehen«, Cornelsen: Berlin 2017). Anja Ballis leitet den Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der LMU München. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Holocaust Education sowie der Entwicklung und Evaluierung von Bildungsmedien im Deutschunterricht. Renate Eichmeier ist Autorin. Sie schreibt Reportagen und Reiseberichte, erstellt Features für den Hörfunk – schwerpunktmäßig zu zeitgeschichtlichen Themen: 20. Jahrhundert, Nationalsozialismus, Exil – und publiziert im Bereich Print und Thea­ter. Dokumentarfilme: »Im Ghetto. Jüdische Kindheit in München« über Ernst Grube und seine Geschwister (freie Produktion 1997 /98) und »Enteignet, deportiert, ermordet. Jüdische Würzburger im Nationalsozialismus« (BR 2002); Projektförderungen u. a. von der Feuchtwanger Memorial Library / USC. Markus Gloe ist Leiter der Lehreinheit Politische Bildung und Didaktik der Sozialkunde an der LMU München. Seine Forschungsinteressen liegen an der Schnittstelle von Holocaust Education und Human Rights Education, Service Learning sowie der Entwicklung und Evaluierung von Bildungsmedien. Andreas Heusler hat Geschichte und Politikwissenschaft in München und Tübingen studiert. Seit 2022 leitet er kommissarisch mit Dr. Sabine Schalm das Institut für Stadtgeschichte und Erinnerungskultur im Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Zuletzt veröffentlichte er Feuchtwanger und München, Peter Lang 2022; German Jews and Migration to the United States, 1933-1945, Lexington Books 2022. Ernst Grube kennt er seit mehr als drei Jahrzehnten. 252  | Autor*innen

Paul Huf ist Sozialpädagoge, Kunstpädagoge, Künstler und Aktivist. In all diesen Rollen setzt er sich für die Rechte von Geflüchteten ein und entwickelt Strategien für deren Ankommen in Deutschland. Dieselben Anliegen verfolgt auch der von ihm initiierte Verein The Long Run e.V. Paul Huf zeichnet, fotografiert, schreibt und erarbeitet neue Formen des Gedenkens an die Shoah. Dorothee Janssen ist Choreografin und Tanzpädagogin. Für CultureClouds e.V. leitet sie Projekte zur künstlerischen Erinnerungsarbeit mit Jugend­lichen und entwickelt neue Zugänge durch Bewegung, Körperarbeit und Methoden der darstellenden Kunst. Ernst Grube bereichert ihre Projekte regelmäßig mit seinen Erinnerungen. 2021 erarbeitete sie mit dem jungen Ensemble »Always remember, never forget« ein Stück über das »Judenlager« Milbertshofen und die Deportation nach Kaunas. Andrea Löw ist die stellvertretende Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München und lehrt an der Universität Mannheim. 2021 /2022 war sie J.B. and Maurice C. Shapiro Senior Scholar-in-Residence am Jack, Joseph and Morton Mandel Center for Advanced Holocaust Studies, United States Holocaust Memorial Museum (USHMM), Washington. Publikationen u. a.: The Holocaust and European Societies. Social Processes and Social Dynamics (ed. with Frank Bajohr), London 2016; Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung (Hg. gemeinsam mit Frank Bajohr), Frankfurt am Main 2005; Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten, Göttingen 2006 (22010) – polnische Übersetzung 2013. Julian Monatzeder studierte Theaterwissenschaft an der LMU München und Regie für Film und Fernsehen in Melbourne. Er wirkt an zahlreichen internationalen Dokumentar- und Spielfilmprojekten mit und inszeniert Theaterstücke. 2020 begleitete er das Projekt »Always remember. never forget« für den Dokumentarfilm »If you don’t know« (DOK.fest München). Seit 2021 ist er ebenfalls künstlerischer Leiter des Projekts und entwickelte zusammen mit Dorothee Janssen, dem Ensemble und Ernst Grube das Stück »Um 2 Uhr nochmal Kaffee« über das »Judenlager« Milbertshofen und 2022 »Meine Schule brennt« über die jüdische Volksschule in der Herzog-Rudolf-Straße. Friedbert Mühldorfer war Lehrer an einem Münchner Gymnasium und ist seit Jahrzehnten in verschiedenen Bereichen der Erinnerungsarbeit engagiert. Er arbeitet und veröffentlicht zu Verfolgung und Widerstand im Nationalsozialismus. Von 1991 bis 2011 war er Landessprecher der bayerischen Vereinigung der Autor*innen | 253

folgten des Naziregimes – Bund der Antifaschist*nnen. Seit dieser Zeit arbeitet er eng mit Ernst Grube zusammen. Peter Poth ist Gymnasiallehrer für Deutsch, Geschichte und Ethik und Seminarlehrer für politische Bildung. Er leitet regelmäßig Lehrer*innen-Fortbildungen im Bereich Erinnerungskultur und Menschenrechtsbildung. Zu seinen Veröffent­ lichungen zählt u.a. der 2020 in der Pädagogischen Rundschau erschienene Beitrag: Sichtbarkeit. Überlegungen zu einer kritischen Menschenrechtsbildung nach Adorno. Dirk Riedel ist Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Vermittlungsabteilung des NS-Dokumentationszentrums München und Lehrbeauftragter der LMU München. Bis 2016 war er an der KZ-Gedenkstätte Dachau tätig. 2009 wurde er am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin mit einer Arbeit aus dem Bereich der Täterforschung promoviert. Weitere Themenschwerpunkte sind die Geschichte der Konzentrationslager, die unterschiedlichen Gegner und Opfer des NS-Regimes in Europa und die heutige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Thomas Rink ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Vermittlungsabteilung des NS-Dokumentationszentrums München. Zuvor war er u. a. an der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz und im Deutschen Historischen Museum tätig. Dissertation an der Universität Potsdam mit der biografischen Studie »Doppelte Loyalität. Fritz Rathenau als deutscher Beamter und Jude«. Zu seinen Themenschwerpunkten zählen die deutsch-jüdische Geschichte, Erscheinungsformen des Antisemitismus sowie die Auseinandersetzung mit der deutschen Erinnerungskultur. Zudem konzipiert und realisiert er partizipative Projekte mit Schulklassen und außerschulischen Bildungseinrichtungen. Oliver Schreer ist Leiter der Forschungsgruppe »Immersive Medien & Kommunikation« am Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut in Berlin und Privatdozent an der TU Berlin. Sein Forschungsgebiet umfasst die 3D-Videoverarbeitung und immersive interaktive Medienanwendungen unter Verwendung von Augmented und Virtual Reality. Er veröffentlichte mehr als 100 wissenschaftliche Artikel und ist Haupteditor verschiedener Fachbücher. Für seine Forschung zum Thema volumetrisches Video erhielt er 2019 den Joseph-von-Fraunhofer Preis. Mit Ernst Grube ist Oliver Schreer seit über 55 Jahren privat verbunden. Maximilian Strnad ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Stadtgeschichte und Erinnerungskultur im Kulturreferat der 254  | Autor*innen

stadt München. Die Verfolgung von Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus ist einer seiner Forschungsschwerpunkte. Veröffentlichungen u. a.: Privileg Mischehe? Handlungsräume »jüdisch versippter« Familien 1933-1949 (Dissertation, 2021), Flachs für das Reich. Das jüdische Zwangsarbeitslager »Flachsröste Lohhof« bei München (2013); Zwischenstation »Judensiedlung«. Verfolgung und Deportation der jüdischen Münchner 1941-1945. (2011); Der Holocaust in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft. Bilanz und Perspektiven (Mithg., 2012). Mit Ernst Grube verbindet ihn eine jahrelange berufliche Freundschaft. Alexander Wenzlik ist Kultur- und Tanzpädagoge und geschäftsführender Vorstand des kulturpädagogischen Vereins CultureClouds. Seit 20 Jahren ist er mit zahlreichen Projekten, Workshops, Seminaren, Fachvorträgen und Publikationen im Feld der Kulturellen Bildung aktiv. Er ist Künstlerischer Leiter des Tanz- und Theaterfestivals Rampenlichter, Leiter des Jugendtanzensembles You Dance und Mitinitiator des bundesweiten Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Tanzpädagogik, Projekte im öffentlichen Raum, lebendiges Erinnern mit künstlerischen Mitteln sowie Diversität und Inklusion. Kim Wünschmann ist Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg. Als Judaistin und Historikerin war sie vorher u. a. an der Hebräischen Universität Jerusalem, der University of Sussex (UK) und der LMU München tätig. Ihre durch zahlreiche Publikationen ausgewiesenen Forschungsschwerpunkte liegen in der deutsch-jüdischen Geschichte, den Holocaust-Studien, der Rechts- und Diplomatiegeschichte und der Comicforschung. Zusammen mit Stefanie Fischer und der Zeichnerin Liz Clarke erarbeitet sie die Graphic History Oberbrechen. A German Village Confronts Its Nazi Past. Mirjam Zadoff ist Direktorin des NS-Dokumentationszentrums in München, sie unterrichtet an der LMU München und ist außerordentliches Mitglied der Bayrischen Akademie der Wissenschaften. Zuvor war sie Professorin für Geschichte und Jüdische Studien an der Indiana University Bloomington. Für ihre Forschung wurde sie u.a. mit dem Fraenkel Prize der Wiener Library und dem Salo W. Baron Prize der American Academy for Jewish Research ausgezeichnet.