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German Pages [243]
AUFKLÄRUNG Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte
In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts herausgegeben von Karl Eibl, Norbert Hinske, Lothar Kreimendahl und Monika Neugebauer-Wölk unter Mitwirkung von Klaus Gerteis, Rudolf Vierhaus sowie Carsten Zelle
– Band 18 · Jg. 2006 – Themenschwerpunkt: JOHN LOCKE ASPEKTE SEINER THEORETISCHEN UND PRAKTISCHEN PHILOSOPHIE
Herausgegeben von Lothar Kreimendahl
FELIX MEINER VERLAG
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Inhalt
ISSN 0178-7128 Aufklärung. Jahrbuch für die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. – In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts herausgegeben von Karl Eibl, Norbert Hinske, Lothar Kreimendahl und Monika Neugebauer-Wölk. – Redaktion: Dr. Marianne Willems unter Mitwirkung von Philip Ajouri, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für deutsche Philologie, Schellingstraße 3, 80799 München, E-mail: [email protected]. © Felix Meiner Verlag 2006. Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Textformatierung: Katja Mellmann. Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer“, Bad Langensalza. Printed in Germany.
INHALT
Lothar Kreimendahl: Vorwort........................................................................
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ABHANDLUNGEN
Andreas Kemmerling: Vom Unverständlichen zum als selbstverständlich Vorausgesetzten – Lockes unerläuterter Ideenbegriff.................................
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Ralph Schumacher: Locke über die Intentionalität sinnlicher Ideen ..............
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Reinhard Brandt: John Lockes Konzept der persönlichen Identität. Ein Resümee ...............................................................................................
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Rolf W. Puster: Eine Klippe für die Selbsttransparenz des Bewußtseins? Zu Lockes Begriff der Erinnerung ..............................................................
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Rainer Specht: John Lockes Lehre vom Allgemeinen....................................
69
Udo Thiel: Der Begriff der Intuition bei Locke..............................................
95
Katia Saporiti: Locke und Berkeley über abstrakte Ideen..............................
113
Ivano Petrocchi: Die Rezeption von Lockes Nachlaßschrift „Of the Conduct of the Understanding“ in der deutschen Aufklärung ....................
143
Wolfgang Leidhold: Vernunft, Erfahrung, Religion. Anmerkungen zu John Lockes „Reasonableness of Christianity“ ..............
159
Günter Gawlick: Lockes Theorie der Toleranz ..............................................
179
Jürgen Sprute: Die Legitimität politischer Herrschaft bei John Locke ..........
201
Jean-Claude Wolf: Strafe im Naturzustand ....................................................
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KURZBIOGRAPHIE
Uta Golembek: John Locke (1632–1704).......................................................
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Inhalt
V O RWO RT
Das Jahr 2004 erlebte viele Jubiläumsfeiern prominenter Philosophen. An erster Stelle ist hier Immanuel Kant zu nennen, dessen Todestag sich zum 200. Mal jährte, und sodann Christian Wolff, dessen 250. Geburtstags es zu gedenken galt. Beide, Kant wie Wolff, wurden mit diversen Festveranstaltungen geehrt, wobei der Königsberger Philosoph seiner überragenden Bedeutung entsprechend im Vordergrund stand. Auch John Locke, dessen Todestag (28.10.1704) weltweit, vornehmlich aber in den anglo-amerikanischen Ländern Anlaß zu zahlreichen Symposien und Gedenkveranstaltungen gab, wurde in Deutschland mit einer Vortragsreihe bedacht, die im Winter-Semester 2004/05 vom Philosophischen Seminar der Universität Mannheim ausgerichtet wurde und die unter dem Titel „John Locke (1632–1704). Aspekte seiner theoretischen und praktischen Philosophie“ stand. Es war die einzige Veranstaltung, die zu Ehren des „Stammvaters der modernen empiristischen Philosophie“ in Deutschland stattfand. Dieser Umstand erscheint symptomatisch für die Beachtung, die Lockes Werk innerhalb der deutschen Philosophiegeschichtsforschung erfährt. Der hochmütige, mitunter geradezu verächtliche Ton, in dem die sogenannten „Deutschen Idealisten“ über Lockes Werk sprachen – man denke etwa nur an Schellings „Je méprise Locke“ – hat offensichtlich eine lang anhaltende Wirkung erzeugt, die einer seiner Bedeutung gebührenden Beschäftigung mit seinem Werk bis in die Gegenwart hinein behindernd entgegensteht. Eine gewisse Ausnahme dieser weithin diagnostizierbaren Vernachlässigung stellt lediglich die Kant-Forschung dar, die im Zusammenhang der Bemühungen um die Aufdeckung der Quellen des Kantischen Denkens Lockes Hauptwerk, den Essay Concerning Human Understanding von 1690, ebenso in den Blick genommen hat wie sein nachgelassenes Werk Of the Conduct of the Understanding. Gleichwohl ist die Beschäftigung mit dem philosophischen Werk Lockes einschließlich seiner staats- und religionsphilosophischen Schriften in Deutschland bis in die unmittelbare Gegenwart hinein niemals ganz abgerissen. Die hier publizierten Beiträge der Mannheimer Vortragsreihe, die um einige wenige Aufsätze vermehrt sind und die neben der theoretischen Philosophie auch Fragen der Religionsphilosophie sowie der politischen Philosophie zum Thema haben, bezeugen die Präsenz und Kontinuität der deutschen Locke-Forschung. Sie ist durch eine beachtliche Vielfalt methodischer Zugänge gekennzeichnet, die sich auch in den Aufsätzen dieses Bandes zu erkennen gibt. So steht beispielsweise die aus historischer Perspektive vorgenommene Interpretation, die
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Vorwort
Lockes Philosophie ihrerseits in den Kontext der vorausliegenden Philosophie zu integrieren und von daher zu verstehen sucht, neben der im Geiste der analytischen Philosophie vorgenommenen Prüfung tragender Begriffe und Theorien seines Denkens; rezeptionsgeschichtlichen Aspekten wird ebenso nachgegangen wie der Frage, ob Lockes Lösungsvorschläge zu bestimmten Problemen für die damalige Zeit annehmbar waren und wie sie aus der Distanz von drei Jahrhunderten zu beurteilen sind. Mehrere Beiträge stellen Bezüge zwischen Lehrstücken seiner Philosophie und gegenwärtigen philosophischen Diskussionen her und dokumentieren damit die bleibende Aktualität der Philosophie des großen Briten. Es ist zu wünschen, daß die Publikation der Beiträge der Vortragsreihe der Locke-Forschung weitere Impulse verleiht und zu einer verstärkten Beschäftigung mit seinem Werk anregt. Den Autoren danke ich für die Bereitschaft, ihre Vorträge in Druckfassung zu bringen. Die Vorbereitung für die Publikation lag in den Händen von Herrn Volker Dieringer M.A., der dabei von Herrn Patrick Alberti M.A. unterstützt wurde. Beiden gilt mein Dank, ebenso Frau Dr. Marianne Willems (München), die mit gewohnter Umsicht die Druckvorlage erstellt hat. Lothar Kreimendahl
ABHANDLUNGEN
A NDREAS K EMMERLING Vom Unverständlichen zum als selbstverständlich Vorausgesetzten Lockes unerläuterter Ideenbegriff
Der Begriff der mentalen Repräsentation ist einer der erfolgreichsten Begriffe in der Philosophie der Moderne. Er zieht sich, unter verschiedenen Bezeichnungen, wie ein roter Faden durch die philosophischen Ansätze oder Systeme von Descartes, Arnauld, Malebranche, Locke, Spinoza, Leibniz, Wolff, Berkeley, Hume und Kant, bis hin zu denen Freges oder des frühen Wittgenstein. Descartes’ Terminus für diesen Begriff war ‘idea’ (gelegentlich spricht er aber auch von einer ‘repraesentatio mentis’), im Französischen wurden daraus ‘les idées’, im Englischen die ‘ideas’, im Deutschen die ‘Vorstellungen’. Heutzutage spricht man vorzugsweise von ‘mentalen Repräsentationen’. Mit diesem terminologischen Wandel von den ‘Vorstellungen’ zu den ‘mentalen Repräsentationen’ geht einher, daß jener ursprünglich philosophische Begriff in viele andere, stärker empirisch ausgerichtete Bereiche der Theoriebildung übernommen wurde. Chomskys Theorie der sprachlichen Kompetenz ist ein berühmtes Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit, aber es gibt heute eine Vielzahl von kontrovers diskutierten Theorieansätzen in den sog. Kognitionswissenschaften, denen ganz selbstverständlich die Annahme zugrunde liegt, daß es mentale Repräsentationen gibt. Doch bleiben wir bei der Philosophie. In ihr hat sich dieser Begriff in beeindruckender Weise durchgesetzt. Seine philosophische Erfolgsgeschichte ist zwar noch nicht geschrieben, aber es scheint, daß es seit Descartes’ reifer Philosophie bis ins späte achtzehnte Jahrhundert nur wenige Denker gab, die diesem Begriff gegenüber Vorbehalte hatten – oder gar prinzipielle Einwände. John Sergeant,1 Edward Stillingfleet,2 der Bischof von Worcester, und Thomas Reid3 gehören zu den Ausnahmen, die gewiß zu nennen wären; aber die ersten beiden werden nicht einmal mehr in den philosophischen Lexika erwähnt, und 1 2 3
John Sergeant, Solid Philosophy Asserted, Against the Fancies of the Ideists, London 1697. Edward Stillingfleet, Letters to Locke, Bd. 1, London 1697, Bd. 2, London 1698. Thomas Reid, Essays on the Intellectual Powers of Man, Edinburgh 1785.
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Andreas Kemmerling
auch der dritte ist heutzutage selbst unter Philosophen zumeist kaum noch mehr als namentlich bekannt. Wenn ich jetzt über einen bemerkenswerten Schritt in der Entwicklung des Ideenbegriffs spreche, geht es mir allerdings gerade nicht um begriffsgeschichtliche Einzelheiten, gleichgültig wie interessant und amüsant sie sein mögen. Es geht mir um etwas, das ich für philosophisch bemerkenswert halte. Der Cartesische Begriff der Idee (natürlich nicht das Wort ‘idea’) war zu seiner Zeit, also in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, noch neu, und obwohl Descartes sich reichlich Mühe gab, ihn möglichst beiläufig einfließen zu lassen, war er jederzeit dazu bereit, seine damals noch „persönliche“, neuartige Verwendung des Wortes ‘idea’ zu erläutern, ja an prominenter Stelle (im Anhang an die Zweiten Erwiderungen) sogar explizit zu definieren. Descartes hat es nicht als selbstverständlich vorausgesetzt, daß sein Leser weiß, was eine Idee ist. Er hat es noch für nötig gehalten, diesen Begriff zu definieren; aber, was noch wichtiger ist: Er hatte eine seines Erachtens präsentable Theorie – oder zumindest den Versuch einer Auskunft – darüber, was die allgemeine Beziehung zwischen einer Idee und ihrem Ideatum (dem von ihr Repräsentierten) ist. Bei John Locke, dessen Ideenbegriff wir im folgenden betrachten werden, verhält es sich, wie wir sehen werden, ganz anders. Descartes’ Definition der Idee hat allerdings einen Nachteil: sie ist unverständlich. Dafür gibt es vielleicht eine Erklärung, mit der wir uns zufrieden geben könnten. Ich komme darauf zurück. Die Unverständlichkeit der Definition wäre, für sich genommen, vielleicht nicht weiter schlimm; Definitionen mißlingen in der Philosophie nicht selten. Jedoch ist auch Descartes’ Erklärung der Beziehung zwischen Idee und Ideatum – aus Gründen, die mit der Unverständlichkeit seiner Definition nichts zu tun haben – ebenfalls unverständlich. Bei Locke hingegen fehlt schon jederlei Versuch einer Definition, und ebenfalls eine allgemeine Konzeption der Idee/Ideatum-Beziehung. In dieser Diskrepanz zwischen Descartes’ und Lockes Verwendung ihrer jeweiligen Ideenbegriffe liegt meines Erachtens ein bemerkenswertes Moment der Entwicklung des neuzeitlichen Ideenbegriffs. Es ist der Schritt vom Unverständlichen, das diesem Begriff bei Descartes eignet, zur Unterstellung des mehr oder weniger Selbstverständlichen, die diesen Begriff seit Locke begleitet. Mit Locke beginnt jene bemerkenswerte philosophische Gepflogenheit: zu unterstellen, daß der Leser schon wisse, was eine Idee ist. In der Entwicklung eines philosophischen Fachbegriffs ist dies ein markanter Einschnitt. Im Begrifflichen gibt es vielleicht keine einschneidendere Veränderung als die vom Unverständlichen zum Selbstverständlichen. Descartes definiert im Anhang an die Zweiten Erwiderungen, was eine Idee ist:
Lockes unerläuterter Ideenbegriff
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Unter dem Ausdruck idea verstehe ich die Form [forma] eines beliebigen Gedankens [cogitatio], dank deren unmittelbarer Perzeption [perceptio] ich mir des Gedankens bewußt [conscius] bin.4
Diese Definition wirft eine Reihe von Verständnisfragen auf: Was ist die Form eines Gedankens? Was heißt es, eine solche Form unmittelbar zu perzipieren? Und so weiter. Alle diese Fragen läßt Descartes unbeantwortet. Nun muß man dazu wissen, daß er von Definitionen in der Philosophie nicht viel hielt. An mehr als einer Stelle hat er betont, daß nicht alle Begriffe definierbar sind. In seinen Augen ist die Versessenheit auf Definitionen eine intellektuelle Verirrung und ein Kennzeichen schlechten Philosophierens. Einige Begriffe sind undefinierbar, weil es schlicht nichts gibt, womit sie sich definieren ließen. Jeder Versuch, sie zu definieren, würde diese Begriffe eher unklarer als klarer machen. Als Beispiel nennt er wiederholt den Begriff des Denkens. ‘Cogitatio’ ist sein Paradigma eines undefinierbaren Begriffs. Dennoch beginnt er die Abfolge seiner Definitionen in den Zweiten Erwiderungen mit einer Definition von ‘cogitatio’. Darauf folgt die Definition von ‘idea’. Mit andern Worten: Als erstes wird der Inbegriff des Undefinierbaren definiert; als zweites, mit Rückgriff darauf, der Begriff der Idee. Vor nicht allzu langer Zeit meinte ich, diese Definitionen enthielten womöglich den Schlüssel zu Descartes’ Ideenbegriff, und versuchte, ihnen einen philosophisch aufschlußreichen Gehalt zu entwinden. Das ist mir mißlungen – genausowenig ist es nach meinem Eindruck allen anderen gelungen, deren diesbezügliche Versuche ich studiert habe.5 Heute neige ich zu einer entspannteren Betrachtungsweise dieser Definitionen. Sie sind Descartes’ ironische Verbeugungen vor den definitionserheischenden Üblichkeiten seiner Zeit, denen gegenüber er eine tiefe Verachtung hegte. Ich verstehe seinen Definitionsversuch jetzt so: „Wer unbedingt Definitionen sehen möchte, dem kann ich helfen. Also, bitteschön: Unter dem undefinierbaren Ausdruck ‘cogitatio’ verstehe ich das-und-das; und unter dem undefinierbaren Ausdruck ‘idea’ verstehe ich dies-und-dies“. Descartes’ Definition hilft uns nicht weiter, um zu verstehen, was eine Idee ist. Und vielleicht war das eben auch gar nicht ihr Zweck. Aber er hatte eine Theorie darüber, was eine Idee und welches ihre Beziehung zu ihrem Ideatum ist. Eine Idee ist, so sagt seine Theorie, ein Modus des Geistes, also etwas Immaterielles, und sie ist identisch (oder quasi-identisch) mit ihrem Ideatum. Lassen wir einmal alle Probleme beiseite, die die Immaterialität aufwirft; konzenŒuvres de Descartes, hg. von Charles Adam und Paul Tannery (Neuauflage Paris 1973), Bd. 7, 160. 5 Vgl. dazu Andreas Kemmerling, Ideen des Ichs – Studien zu Descartes’ Philosophie, Frankfurt 22005, Kap. 1. 4
Andreas Kemmerling
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trieren wir uns auf die Beziehung zwischen Idee und Ideatum. Sie ist nach Descartes von folgender Art: Die Idee einer Entität x ist x selbst in seiner geistigen (immateriellen) Seinsweise; das Ideatum dieser Idee ist x selbst in seiner außergeistigen Seinsweise. Ein Beispiel: Da ist ein Hase, nennen wir ihn Peter; und da ist ein Mensch, nennen wir ihn Jemand; und da ist eine Idee, die Jemand hat, wenn er an Peter denkt, nennen wir sie Idea-Petri. Die Beziehung zwischen der Idee, die Jemand da hat (also Idea-Petri), und ihrem Ideatum (also Peter) ist für Descartes eine Identitätsbeziehung: Idea-Petri ist nichts anderes als der Hase Peter, wie er obiective in Jemandes Geist ist. Der außenweltliche Hase Peter hoppelt unbeschadet über die außenweltlichen Felder; aber er ist zugleich obiective in Jemandes Geist, sobald Jemand an ihn denkt. Der Hase Peter, besser wäre: die entitas des Hasen Peter, hat also für Descartes zwei Seinsweisen: Es gibt ihn actualiter oder formaliter draußen auf dem Feld; und es gibt ihn, wenn Jemand an ihn denkt, obiective in Jemandes Geist. Die Idee von Peter, Idea-Petri, ist Peter selbst, wie er in objektiver Seinsweise in Jemandes Geist ist. Das ist, in Kurzform, Descartes’ Lehre über die Beziehung zwischen Idee und Ideatum. Noch einmal formelhaft verkürzt, lautet sie: Die Idee von x = x selbst in objektiver Seinsweise. Descartes kann zwar mit dieser Lehre über die Beziehung zwischen Idee und Ideatum auf allerlei Töpfchen ein auf den ersten Blick passendes Deckelchen setzen, aber sie hat das grundsätzlich Unverständliche an sich, daß ein und dieselben Entitäten auf mehrerlei Seinsweise vorkommen können und daß Peter selbst (wenn auch in einer besonderen Seinsweise) die Idea-petri ist. Diese Unverständlichkeit, die der Cartesischen Ideenlehre zugrunde liegt, ist allerdings für Theoriezwecke äußerst praktisch: Descartes muß nicht eigens erklären, wie eine Idee es sozusagen macht, gerade ihr ganz bestimmtes Ideatum zu repräsentieren; letztere Frage erübrigt sich, wenn die Idee selbst nichts anderes ist als das, was sie repräsentiert. Locke konnte mit diesem Kern-Aspekt der Cartesischen Ideen-Konzeption nichts anfangen. In seinem zweiten Brief an Edward Stillingfleet, den Bischof von Worcester, amüsiert er sich im Jahre 1699 darüber, wie dieser (in gut cartesianischer Manier) überhaupt nur meinen könne, die Kathedrale, an die er denke, sei in seinem Verstand.6 Wir wiederum dürfen uns – diese begriffshistorische Petitesse mag ich mir nicht verkneifen – darüber amüsieren oder jedenfalls wundern, daß Locke, der vermutlich zur selben Zeit die vierte Auflage seines Essay vorbereitete, darin an prominenter Stelle (im Brief an den Leser) folgenden Zusatz macht: unter einer determinierten Idee verstehe er „ir6
John Locke, Works, hg. von Thomas Tegg, London 1823, Bd. 4, 390 f.
Lockes unerläuterter Ideenbegriff
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gendein unmittelbares Objekt im Geist [...] wenn es jederzeit objektiv im Geist und dort determiniert ist“. Locke verwendet hier ausdrücklich die cartesianische Wendung „objectively in the mind“. Den Gehalt dieser Wendung bespöttelt er zwar in seinem gerade erwähnten Brief an Stillingfleet; aber er gibt ihr keinen eigenen Sinn, wenn er sie selbst verwendet, um damit seinen Begriff der determinierten Idee zu erläutern. Locke ist begriffsgeschichtlich gesehen der eigentliche Großverteiler des ursprünglich Cartesischen Terminologie-Pakets ‘Idee/Bewußtsein’. Er hat jedoch, so weit ich sehe, die Cartesische Konzeption mentaler Repräsentation schon vergessen oder als völlig inadäquat beiseite gelegt, als er den Essay in seine erste endgültige Fassung bringt, mit dem er diesem Begriffspaar zum bis heute anhaltenden Erfolg verhilft. Wir wissen, daß er Descartes gründlich zur Kenntnis genommen hat; als Senior Student am Christ Church College in Oxford hat er gegen Ende der Fünfziger Jahre offenbar begeistert – soweit man sich Locke begeistert vorstellen darf – Descartes gelesen; während seines FrankreichAufenthalts zwischen 1675 und 1679 hat er Malebranches eigenwillige Weiterentwicklung der Cartesischen Ideenlehre zur Kenntnis genommen und später auch die Debatte zwischen Arnauld und Malebranche um das richtige Verständnis des Cartesischen Ideenbegriffs verfolgt.7 Selbst hat er wenig dazu zu sagen, was Ideen sind. Locke gibt keine Definition; und er hat keine Konzeption der allgemeinen Beziehung zwischen Idee und Ideatum. Dadurch, daß er seinen Ideenbegriff ohne dies beides verwendet, setzt er voraus, daß hinreichend klar ist, was Ideen sind, und entwickelt unter dieser Voraussetzung seine berühmten Hypothesen darüber, wie Menschen ihre Ideen unterschiedlichster Art erwerben. Ich werde nun diese These zu untermauern versuchen: Mit all seinen Erläuterungen zum Ideenbegriff gibt Locke weder eine Definition (und will dies auch gar nicht), noch hat er eine allgemeine Konzeption derjenigen Beziehung, durch die etwas (was auch immer es sei) eben gerade die Idee seines Ideatums ist. Zum ersten Teil der These. Locke erläutert seinen Begriff der Idee an vielen Stellen des Essay. Ich nenne einige Beispiele, in der Reihenfolge ihres Auftretens im Essay:8 1 whatsoever is the object of the understanding when a man thinks (I.1.8) 7 Nicholas Malebranche, De la Recherche de la Vérité (1674–1675); Traité de la Nature et de la Grâce (1680); Antoine Arnauld, Des Vraies et des Fausses Idées (1683). 8 In den Verweisen auf Lockes Essay concerning Human Understanding (London 1689/1690) bezieht sich die römische Ziffer auf das Buch, die zweite Ziffer auf das Kapitel und die dritte Ziffer auf den Abschnitt. ("I.2.3" bezeichnet also den dritten Abschnitt des zweiten Kapitels des ersten Buchs.) Zitiert wird nach der Ausgabe von Peter H. Nidditch, Oxford 1975.
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whatever it is, which the mind can be employed about in thinking (I.1.8) that which the mind is employed about whilst thinking (II.1.1) the materials of reason and knowledge; the materials of thinking (II.1.2) the materials of all our knowledge (II.2.1) whatsoever the mind perceives in itself, or is the immediate object of perception, thought or understanding (II.8.8) 7 nothing but the bare appearances or perceptions in our minds (II.32.1)
Zudem gibt es eine Fülle erläuternder nominaler Paraphrasierungen, mit denen Locke seine Verwendung des Wortes ‘Idee’ je nach Zusammenhang versieht. Hier ist eine Auswahl, ohne den jeweiligen Zusammenhang: 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
perceptions appearances, manchmal: naked, manchmal: bare appearances objects in the mind, oft: immediate objects copies, resemblances, images, representations, (II.8) like pictures (III.3.7) signs (IV.21.4) notions, apprehensions, conceptions, components of mental propositions (II.32.19) impressions, effects, productions of things without us (IV.4.4) marks, characters (II.30.2) meanings (of words), immediate significations of words (III.2.7) sentiments (IV.1.4) archetypes of the mind’s own making (IV.4.5): dies über komplexe Ideen.
Die Satz-Erläuterungen, die ich genannt habe, geben nicht genug her, um aus ihnen eine Definition zu gewinnen; die Nominalparaphrasen geben zu viel her, um eine überhaupt wagen zu wollen. Ersteres hat Locke gesehen, letzteres vielleicht nicht. Er war sich dessen bewußt, daß er seinen Ideenbegriff mit erläuternden Hinweisen wie (1) und (2) nicht definiert hat. In diesen Satz-Erläuterungen benutzt er dezidiert unbestimmte Formulierungen wie „whatever“ und „whatsoever“; diese bezeichnen für ihn aber nur vage Ideen (IV.7.4). Wäre, was eine Idee ist, mit Rückgriff auf vage Ideen definiert, so wäre der Begriff der Idee dadurch entwertet. Nichts liegt Locke ferner, der alles auf diesen Begriff setzt. Auch die Nominal-Paraphrasen, die ich genannt habe, helfen nicht weiter, denn sie werden von Locke nicht näher bestimmt. Was etwa eine Erscheinung oder ein Bestandteil einer mentalen Proposition ist, wird von Locke niemals thematisiert. Kurz, allzu kurz: Locke hat seinen Begriff der Idee nicht definiert, und offenbar hat er es mit Entschiedenheit nicht getan. Dies ist insofern auf den er-
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sten Blick verwunderlich, als er sich ersichtlich im Klaren darüber war, daß ‘idea’ ein terminus technicus ist. In der Einleitung zum Essay bittet er den Leser um Entschuldigung für seine „häufige Verwendung des Wortes Idee“: das habe sich eben leider nicht vermeiden lassen. Das Wort ‘idea’ ist übrigens, soweit ich sehe, das einzige Wort im Essay, das Locke ausnahmslos kursiv und groß schreibt, so als wolle er den Leser beständig an das immer noch Fachterminologische und Fremde erinnern, das dieses Wort damals noch an sich hat. Warum hat Locke keine Definition gegeben? Ich vermute, er unterließ es auch deshalb, weil er den Begriff der Idee in einer sehr grundsätzlichen Hinsicht unbestimmt halten wollte, nämlich hinsichtlich dessen, ob Ideen etwas Immaterielles oder etwas Materielles sind. Man darf sich nicht davon täuschen lassen, daß Locke sehr häufig die dualistischen Redeweisen bevorzugt („der ganze Mensch, sowohl Geist als auch Körper“ [II.1.11]; das Gehirn als das Audienz-Zimmer des Geistes [II.3.1]); doch wenn es hart auf hart geht, ist Locke durch und durch agnostizistisch gegenüber der Frage, ob das, was in uns denkt, etwas Materielles oder etwas Immaterielles ist. Ich zitiere aus dem sechsten Abschnitt des dritten Kapitels des vierten Buchs: Wir haben zwar die Ideen der Materie und des Denkens, werden aber möglicherweise niemals in der Lage sein zu wissen, ob ein bloß materielles Wesen denkt oder nicht. [...] Die beiden folgenden Möglichkeiten sind im Lichte unserer Begriffe gleichermaßen denkbar: daß Gott, wenn es ihm gefällt, der Materie zusätzlich ein Denkvermögen geben kann; oder aber auch, daß er der Materie zusätzlich noch eine andere Substanz geben kann, die das Denkvermögen hat; denn wir wissen nicht, worin das Denken besteht, und auch nicht, welcher Art von Substanzen es dem Allmächtigen gefallen hat, dieses Vermögen zu geben. [...] Wer betrachtet, wie schlecht sich in unserm Denken die Sinneswahrnehmung mit ausgedehnter Materie verträglich machen läßt; oder auch Existenz mit irgendeinem Ding, das keinerlei Ausdehnung hat, der wird gestehen, daß er sehr weit davon entfernt ist, mit Gewißheit zu wissen, was seine Seele ist. Es ist dies ein Punkt, der, wie mir scheint, außerhalb der Reichweite unseres Wissens anzusiedeln ist [...] Wer sich selbst gestattet, den dunklen und verwickelten Teil jeder dieser beiden Hypothesen einmal unbefangen zu betrachten, wird kaum finden, daß seine Vernunft in der Lage ist, ihn im Hinblick auf die Materialität der Seele zu einer festen Auffassung zu führen. […] Es ist unstrittig, daß wir etwas in uns haben, das denkt [...], aber wir müssen uns in die Unwissenheit darüber fügen, was für eine Art von Seiendem dies ist. (IV.3.6; meine Hervorhebung)
Hierin dürfte ein wichtiger Teil des Grunds dafür liegen, daß Locke nicht definiert, was eine Idee ist. Wenn der Materialismus Hobbes’ wahr ist, sind Ideen etwas Körperliches, wenn der Cartesische Dualismus wahr ist, sind sie etwas Immaterielles. Locke hält beides für möglich und beides für gleichermaßen schwer begreiflich; er meint, wie der gerade zitierten Textstelle zu entnehmen ist, daß wir uns in diesem Punkt wohl mit unserer Unwissenheit bescheiden müssen. Deshalb kann er nicht definieren, was eine Idee ist; und die unbe-
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stimmte Redeweise „was auch immer“, die in seinen Erläuterungen vorkommt, können wir nun ein wenig besser verstehen. Gemeint ist auf jeden Fall auch: „was auch immer, sei’s etwas Materielles, sei’s etwas Immaterielles“. – Wenn diese Vermutung richtig ist, muß es keine logische Besonderheit des Ideenbegriffs sein, die ihn von jedem Versuch einer Definition abhält, sondern allein schon das empirische Faktum, daß wir seines Erachtens eben nicht wissen, ob die denkende Substanz etwas Materielles oder etwas Immaterielles ist. Nun zum zweiten Teil der These: dazu, daß Locke keine allgemeine Konzeption derjenigen charakteristischen Beziehung hat, durch die etwas eine Idee (und zwar gerade die ihres Ideatums) ist. Locke hat eine Konzeption der Beziehung zwischen Idee und Ideatum, soweit es sich bei dem Ideatum um eine sinnlich wahrnehmbare Qualität eines körperlichen Gegenstands handelt. In diesem Fall ist die Idee das dem Geist gegenwärtige Zeichen für die dem Geist selbst nicht gegenwärtige wahrnehmbare Qualität. Am klarsten sagt Locke dies erst an einer sehr späten Stelle, im 1091. der 1092 Abschnitte des Essay: „Weil keines der Dinge, über die der Geist eindringlich nachdenkt, dem Verstand gegenwärtig ist (ausgenommen der Geist selbst), ist es notwendig, daß etwas anderes ihm als ein Zeichen [sign] oder als eine Repräsentation gegenwärtig ist: und das sind Ideen“ (IV.21.4). – Die Idee/Ideatum-Beziehung ist also, bei Sinnes-Ideen, eine Zeichen/Angezeigtes-Beziehung. Ideen sind wesentlich innere Zeichen; auch wenn das Innere, das für Geistigkeit kennzeichnend ist, bei Locke in der Schwebe bleibt zwischen dem metaphorischen Innen der Dualisten und dem buchstäblichen, intracranialen Innen der Materialisten. Innen, das ist für Locke entweder der materielle Ort oder der immaterielle Quasi-Ort, an dem der Geist, der Verstand, tätig ist, der Ort, an dem sich das Denken abspielt. Außen, das ist natürlich der Ort, an dem sich die Dinge mit ihren Eigenschaften befinden, von denen das Denken weitenteils handelt. Damit das Denken, innen, von den Dingen, draußen, handeln kann, bedarf es geeigneter Beziehungen, Verbindungen, Entsprechungen (IV.4.3 f.) – und Ideen sind die Objekte drinnen, die in solchen Beziehungen zu den Dingen draußen stehen können. Locke insistiert also, bei allem Agnostizismus gegenüber der Materialitäts/Immaterialitäts-Frage, auf dem einschneidenden Unterschied zwischen dem Innen des Geistes und dem Außen der sinnlich wahrnehmbaren Welt. Betrachten wir kurz, wie Locke im Rahmen dieses Innen/Außen-Bilds die Beziehung zwischen Idee (innerem Zeichen) und Ideatum (äußere Eigenschaft) konzipiert, und konzentrieren wir uns zunächst auf den Fall, den Locke für den grundlegenden hält: auf den Fall einer sog. simplen Idee, die vermittels der Sinneswahrnehmung erworben wird. Die wichtigsten dramatis personae in diesem Stück sind, auf der Außenseite: Ein körperliches Ding, das körperliche Ei-
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genschaften (darunter insbesondere auch Sinnesqualitäten) hat; die reale Essenz oder wahre Natur dieses Dings, die wir zwar nicht kennen, die zu unterstellen wir allerdings nicht umhinkommen. Und auf der Innenseite sind es: der Verstand, der Ideen empfängt; die Sinneswahrnehmung, die sie ihm bringt; und die simple Idee, die der Verstand durch die Sinneswahrnehmung empfängt (II.1.23; II.9.3). (Alles Weitere blende ich der Einfachheit halber aus.) Es verhält sich nun, nach Locke, so: Die Sinnesqualität (im Ding draußen) ist nichts anderes als das Vermögen des Gegenstands, (auf Grund des Verhaltens seiner selbst nicht wahrnehmbaren Korpuskeln) im Verstand eine Idee zu erzeugen; und die erzeugte Idee zeigt einen Gegenstand mit dieser Sinnesqualität an. Sie zeigt, im Klartext, an, daß da draußen etwas ist, das das Vermögen hat, sie selbst zu erzeugen. Darüber hinaus zeigt sie nichts an (II.31.2; II.32.16). Gott hat es so eingerichtet, daß Sinnesideen vom Typ I immer nur von Gegenständen hervorgerufen werden, die die Qualität Q haben (wobei Q nicht anderes ist als das Vermögen von Gegenständen, justament Ideen vom Typ I hervorzurufen). Was ist demnach die Anzeige-Beziehung zwischen einer einzelnen simplen Sinnes-Idee, nennen wir sie i, und ihrem externen Ideatum, nennen wir es Q (wie Qualität), wodurch erstere gerade letzteres anzeigt und nichts anderes? Lockes Auskunft läßt sich so fassen: i zeigt Q genau dann an, wenn gilt: Q ist dasjenige Vermögen beliebiger äußerer Gegenstände, aufgrund ihrer (wie auch immer korpuskular realisierten) realen Natur unter geeigneten Umständen gerade die Idee i (und Ideen desselben Typs) hervorzubringen, wobei gilt: hinsichtlich ihrer realen Natur gleichartige und gleichbleibende Gegenstände bringen beständig gleichartige Ideen hervor. Das ist Lockes Auskunft über die Idee/Ideatum-Beziehung bei simplen Ideen der Sinneswahrnehmung; diese Beziehung ist eine komplexe Kausalbeziehung zwischen Ideen und körperlichen Gegenständen; Gott steht für die konstante Zuverlässigkeit der Beziehung ein; die mechanistisch-korpuskulare Realisierung geschieht vermittels unwahrnehmbar kleiner Teilchen und ihrer selbst nichtwahrnehmbaren Eigenschaften. Aber nicht alle Ideen sind simple Ideen der sinnlichen Wahrnehmung; diese Ideen sind zwar basal für Locke im Hinblick auf den Erwerb aller übrigen Ideen, aber in der sprachlichen Verständigung z.B., und auch bei der sprachlichen Fixierung unseres Wissens, spielen sie fast keine Rolle. Wir haben keine Wörter für sie. Wörter bezeichnen abstrakte Ideen: Ergebnisse eines geistigen Prozesses (II.11.9; IV.4.2). Betrachten wir zwei andere wichtige Arten von Ideen und fragen uns, was bei ihnen die Beziehung zu ihren Ideata ist. Erstens die simplen Ideen der Reflexion und zweitens eine besondere Teilklasse der komplexen Ideen.
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Was sind einfache Ideen der Reflexion? Es sind nicht weiter zerlegbare Ideen, die wir dadurch gewinnen, daß wir die Tätigkeiten [operations] unseres eigenen Geistes perzipieren; Locke nennt die Idee des Denkens und die des Wollens, wobei Denken und Wollen als konkrete einzelne, sozusagen datierbare Geistestätigkeiten zu nehmen sind, und Tätigkeiten auch rein rezeptiver Art sein dürfen (II.1.4). Wie die Idee/Ideatum-Beziehung bei diesen Ideen beschaffen ist, dazu sagt er uns gar nichts. Vielleicht hielt er das für überflüssig, weil er Reflexion als etwas zur Sinneswahrnehmung trivial Analoges betrachtet hat, worauf seine häufig auftauchende Wendung vom ‘inneren Sinn’ als Hinweis gedeutet werden mag. Aber dies wäre falsch. Eine Konzeption der ‘inneren’ Sinneswahrnehmung erübrigt sich nicht, und sie erübrigt sich gerade in Lockes theoretischem Rahmen nicht; sie kann keine platte Analogie zur Konzeption der Idee/Ideatum-Beziehung bei den Ideen der ‘äußeren’ Wahrnehmung sein. Warum nicht? Nun, versuchen wir einmal, die Analogie möglichst exakt zu entwickeln. Daraus ergäbe sich folgendes: Eine simple Idee i der Reflexion zeigt Q genau dann an, wenn gilt: Q ist das Vermögen beliebiger innerer Tätigkeiten, aufgrund ihrer (wie auch immer realisierten) realen Natur unter geeigneten Umständen gerade i (und Ideen desselben Typs) hervorzubringen; und hinsichtlich ihrer realen Natur gleiche innere Tätigkeiten bringen beständig gleiche Ideen hervor. Das klingt reichlich merkwürdig, und angesichts einer derartigen Erläuterung müßten wir fragen: Haben alle Denkakte aufgrund ihrer inneren, realen Beschaffenheit das Vermögen, in uns die Idee des Denkens, was auch immer sie sei, hervorzubringen? Was ist überhaupt die innere Beschaffenheit, die Realessenz, eines Denkakts? Gibt es etwa, um die Analogie in der materialistischen Version komplett zu machen, unwahrnehmbare innere Korpuskeln, in deren unwahrnehmbaren Eigenschaften das Vermögen von Denkakten realisiert ist, in uns die Idee des Denkens hervorzurufen? Und sind Willensakte aus anderen inneren Korpuskeln zusammengesetzt, so daß sie es vermögen, in uns die ganz andere Idee des Wollens hervorzurufen? Man mag diese Fragen für kategorial schräg halten; man mag sie (angesichts neurowissenschaftlicher Spekulationen etwa über die willenskonstitutive Kraft gewisser Zellen und letztlich der Aktivitäten ihrer Ionenkanäle im anterioren Sulcus cinguli, siehe Francis Crick9) für aufregend aktuell halten – bei Locke jedenfalls findet sich kein Wort zu alledem. Kein Wort über die Realessenz von Denkakten, kein Wort über innere Korpuskeln. Es findet sich im Text des Essay kein Ansatzpunkt, um die Behauptung aufrechtzuerhalten, er habe eine zur 9
Francis Crick, Was die Seele wirklich ist, München 1994, 327 f.
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äußeren Wahrnehmung trivial-analoge (und deshalb des eigenen Nennens nicht werte) Konzeption davon gehabt, wie eine simple Idee der Reflexion auf ihr Ideatum bezogen ist. Locke präsentiert im Hinblick auf diese Ideen schlicht und ergreifend keinerlei Konzeption dieser Art. Wenden wir uns als letztes einer umfangreichen Teilklasse der komplexen Ideen zu, nämlich den Ideen von Modi. Komplexe Ideen sind etwas, das uns weder von ‘außen’ noch von ‘innen’ vorgegeben ist; wir bilden sie sozusagen in eigener Regie aus dem Material dessen, was uns in Form einfacher Ideen vorgegeben ist. Wir bilden sie, indem wir verschiedene einfache Ideen zu einer zusammengesetzten Idee kombinieren. Als Beispiele für komplexe Ideen von Modi nennt Locke: Schönheit, Dankbarkeit, ein Mensch, eine Armee, das Universum, Dreieck, Lüge und Mord (vgl. dazu II.12 und II.22). Was ist das Ideatum einer solchen komplexen Idee? Es ist, nach Locke, letztlich sie selbst. Wenn eine komplexe Idee eine konsistente Zusammenfügung von Ideen ist, dann ist sie ihr eigenes Original (II.30.4) und soll nur sich selbst repräsentieren (IV.4.5). Was heißt das für die Beziehung zwischen Idee und Ideatum bei diesen komplexen Ideen? Sie ist jedenfalls eine wesentlich andere als die zwischen den simplen Ideen der Sinneswahrnehmung und ihren Ideata. Bei den komplexen Ideen und dem, was sie repräsentieren, handelt es sich um die Beziehung der Identität – und das ist eine wesentlich andere als jede Art von kausaler Anzeigebeziehung. Ich breche an diesem Punkt meinen Versuch, den zweiten Teil der These zu untermauern, ab. Denn schon das bisher Betrachtete zeigt: Locke hat keine allgemeine Konzeption der Idee/Ideatum-Beziehung. Zwar hat er eine Konzeption der speziellen Beziehung, die zwischen einer simplen Idee der Sinneswahrnehmung und der von ihr repräsentierten Eigenschaft im Gegenstand besteht. Aber er entwickelt schon gar keine Konzeption mehr über die andersartige Beziehung, die zwischen einer simplen Idee der Reflexion und dem von ihr Repräsentierten besteht. Und die Beziehung zwischen komplexen Ideen von Modi und dem, was sie repräsentieren, skizziert er noch einmal grundsätzlich anders, nämlich als die der Identität. Zusammengenommen heißt das: Locke sagt uns nicht, was Ideen in seinem Verständnis sind. Er sagt uns vielerlei darüber, was sie tun und erleiden, und wie sie in mannigfache Kategorien unterteilt und unterunterteilt werden können. Er sagt uns jedoch nicht, was sie sind – weder mit Hilfe einer expliziten Definition, noch wenigstens mit Hilfe einer allgemeinen Erläuterung der Beziehung, in der ein Geisteszustand zu irgendeiner Entität x stehen muß, um eine Idee von x zu sein. Es gibt eine andere tiefgreifende Undeutlichkeit, von der Lockes Ideenbegriff befallen ist. Sind Ideen für ihn eigentlich Vorgänge des geistigen Perzipierens von Objekten, oder sind sie geistige Objekte sui generis, Objekte die selbst
Andreas Kemmerling
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vermittels geistiger Vorgänge perzipiert werden? Betrachten wir, um den Unterschied zu verstehen, die beiden Möglichkeiten der Reihe nach. Wenn Ideen Perzeptionsvorgänge sind, dann ist die Idee von Peter, dem Hasen, nichts anderes als irgendein Gedanke (oder eine Sinneswahrnehmung) an (bzw. von) Peter. Im Lichte dieser prozessualen Lesart sind drei markante Entitäten im Spiel, wenn an Peter gedacht wird: Der Geist, der denkt; der Hase, an den gedacht wird; und der geistige Vorgang, in dem der Geist an den Hasen denkt. – Wenn Ideen hingegen geistige Objekte sind, dann ist die Idee von Peter ein geistiges Stellvertreter-Objekt von Peter, das in einem Gedanken an (oder einer Sinneswahrnehmung von) Peter perzipiert wird; und weil die Idee von Peter in einer besonderen Beziehung zu Peter steht, ist eine geeignete Perzeption der Idee von Peter eben ein Gedanke an (oder eine Sinneswahrnehmung von) Peter. In dieser zweiten, objektualen Lesart ist eine zusätzliche Entität im Spiel, und zwar ein geistiges Objekt, das in dem geistigen Vorgang perzipiert wird, in dem der Geist an außergeistige Objekte denkt. Der Unterschied zwischen diesen beiden Lesarten ist ontologisch bedeutsam; es ist klar, daß die zweite ontologisch voraussetzungsreicher ist als die erste. Es gibt im Essay Stellen, an denen Locke wie jemand schreibt, der das Wort ‘idea’ ganz entschieden im Vorgangssinn verwendet (z.B. II.10.2); und es gibt Stellen, an denen er es ohne Einschränkung im Objektsinn zu gebrauchen scheint (z.B. IV.1.1). Thomas Reid vermutet, daß Locke diese Mehrdeutigkeit seiner Verwendung von ‘idea’ gar nicht bemerkt hat;10 und bis heute ist unter den Exegeten umstritten, wie Locke in diesem grundsätzlichen Punkt zu verstehen ist. Descartes gab uns immerhin noch beides: erstens eine Definition und zweitens eine Erläuterung dessen, worin ganz allgemein die entscheidende Beziehung besteht, dank der eine Idee gerade ihr Ideatum und nichts anderes repräsentiert. Locke tut schon beides nicht mehr. Daß er keine Definition gibt, könnte daran liegen, daß er es unbestimmt lassen möchte (ja meint, es unbestimmt lassen zu müssen), ob Ideen etwas Materielles oder etwas Immaterielles sind. Daß er nicht erläutert, worin ganz allgemein die Idee/Ideatum-Beziehung besteht, dürfte erstens daran liegen, daß es bei ihm keine einheitliche Beziehung dieser Art gibt. Und es könnte, zweitens, auch daran liegen, daß er für gewisse Arten von Ideen (z.B. solche der Reflexion) über eine Konzeption der Idee/Ideatum-Beziehung gar nicht verfügte. Lockes Begriff der Idee ist ein anderer als der Cartesische, der ihm zwar vertraut ist, auf den er aber gar nicht eingeht. Locke akzeptiert weder die Cartesische Definition, wonach Ideen wesentlich immateriell sind, noch die Cartesische Konzeption der Idee/Ideatum-Beziehung. Descartes’ Ideenbegriff hatte noch das Erfreuliche an sich, explizit erläutert zu sein, und zugleich das 10
Reid, Essays (wie Anm. 3), 279.
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Bedauerliche, daß diese Erläuterungen unverständlich sind. Lockes Begriff der Idee bringt viele Neuerungen, unter anderem das Unerfreuliche, nicht definiert und auch in der wesentlichen Hinsicht nicht erläutert zu sein, aber dadurch hat er eben auch den Vorteil: nicht unverständlich erläutert zu sein. Ein Begriff, der gar nicht mehr erläutert, aber vehement eingesetzt wird, hat leider auch in der Philosophie das Zeug dazu, für selbstverständlich genommen zu werden. Ich möchte abschließend noch einmal verdeutlichen, worauf ich mit alldem aufmerksam machen wollte und inwiefern sich das, worum es mir hier geht, von einigem andern unterscheidet, was gegen Lockes Ideenlehre eingewandt worden ist. In den berühmtesten der frühen Einwände gegen Lockes Lehre, ich denke etwa an Leibniz oder Berkeley, wird, so weit ich sehe, bereits unterstellt, daß Lockes Begriff verständlich und wohlumrissen genug sei, um nun gewisse Aspekte der Lockeschen Lehre inhaltlich zu kritisieren. Wenn Berkeley Lockes Abstraktionstheorie ad absurdum zu führen versucht, dann glaubt er offenbar, Lockes Ideenbegriff sehr gut zu verstehen; es geht ihm nur um eine Widerlegung gewisser Behauptungen Lockes zu der Frage, wie wir zu allgemeinen Ideen gelangen. Wenn Leibniz Locke z.B. den Vorwurf macht, nicht zwischen der Verstandes-Idee eines Tausendecks und dem Vorstellungsbildchen eines Tausendecks zu unterscheiden – also, allgemeiner gesagt: den Vorwurf, bei den Ideen nicht ausreichend zwischen dem Sinnlichen und dem Intellektiven zu unterscheiden –, dann tut auch er dies, ohne je in den Nouveaux Essais die Frage aufzuwerfen: Was sind denn eigentlich Ideen à la Locke? – Locke läßt dies, wie wir gesehen haben, viel offener, als solche Kritiken es erahnen lassen. Daß Locke nicht definiert, was eine Idee ist, war des beiläufigen Erwähnens wert. Eine Definition wäre verzichtbar, wenn er uns eine allgemeine Konzeption der charakteristischen Beziehung anböte, die zwischen einem inneren Akt (oder Objekt) und etwas anderem besteht, dank welcher ersterer eben eine Idee des letzteren ist. Wer keine derartige Konzeption präsentiert, läßt in der wesentlichen Hinsicht unbestimmt, was eine Idee ist. Locke bietet uns nichts dergleichen an. Dadurch, daß er es nicht tut, verwendet er das Wort ‘idea’ in einer Weise, die seinen eigenen Ansprüchen nicht genügt. Denn in seiner Verwendung des Wortes ‘idea’ exemplifiziert Locke, wie mir scheint, vier der sechs Arten des Mißbrauchs von Wörtern, die er im Dritten Buch des Essay nennt: erstens Gebrauch eines Wortes ohne klare und deutliche Bedeutung (und vielleicht ohne eine bezeichnete Sache); zweitens inkonstante Verwendung eines Worts; drittens unnötige Dunkelheit; und viertens die Unterstellung, die Wortbedeutung müsse für jedermann ohne weiteres verständlich sein. Dadurch, daß Locke keine verbindliche Auskunft darüber gibt, was Ideen sind, ermöglicht er es unter anderem auch, daß Berkeley bald darauf eine durch und durch nicht-repräsentationalistische Theorie des Geistes guten Gewissens als eine Ideenlehre präsentieren kann.
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Welche charakteristische Beziehung zwischen einer mentalen Repräsentation und dem von ihr Repräsentierten besteht, ist bis auf den heutigen Tag heftig umstritten. Diese Frage wird auch heute noch vorzugsweise unter der stillschweigenden Voraussetzung diskutiert, es sei hinreichend deutlich, was mentale Repräsentationen sind – hinreichend deutlich jedenfalls, um anzunehmen, daß es sie gibt. Darauf wollte ich aufmerksam machen: daß diese Voraussetzung sich mit Lockes Erläuterungsverzicht durchzusetzen beginnt. Es ist dies ein sehr markanter, wiewohl ein kaum beachteter Einschnitt in der neuzeitlichen Erfolgsgeschichte des Ideenbegriffs. Im 17. Jahrhundert beginnt der Aufstieg des Begriffs der Idee zu einem Schlüsselbegriff der neuzeitlichen Philosophie. Descartes hatte seinen Ideenbegriff unverständlich erläutert, und seine Erklärung, wie Ideen repräsentieren, war voll von zweifelhaften metaphysischen Annahmen. Locke mißbilligt Descartes’ Erklärung, übernimmt jedoch den neuen philosophischen Fachbegriff. In seinem Essay läßt er den Begriff der Idee allerdings in wesentlichen Hinsichten unbestimmt. Er gibt keine Definition; die Beziehung zwischen einer Idee und dem, was sie repräsentiert, wird nicht allgemein charakterisiert. Auch der ontologische Status der Ideen wird nicht genau festgelegt; es bleibt unklar, ob Ideen materiell oder immateriell und ob sie Vorgänge des Perzipierens oder perzipierte Objekte sind. Trotzdem verwendet Locke den philosophischen Fachterminus ‘Idee’ mit der Voraussetzung, es sei ohne weiteres deutlich, wie er zu verstehen sei. Darin besteht ein bedeutsamer Schritt in der Erfolgsgeschichte des neuzeitlichen Ideenbegriffs. Ever since the 17th century ‘idea’ has been a crucial notion in modern philosophy. Descartes’s explicit definition was unintelligible and his account of how ideas represent full of dubious metaphysical assumptions. Locke disapproves of the Cartesian account but takes over the new technical term. As used by Locke, ‘idea’ becomes a highly indeterminate notion in many respects. In his Essay, there is neither a definition nor a general account of the relation obtaining between an idea and what it represents. Moreover, the fundamental ontological status of ideas is left undecided: material/immaterial, operation/object. Nevertheless, Locke uses the term as if its meaning and reference could be taken for granted. This marks a significant step in the success story of the concept ‘idea’ in modern philosophy. Prof. Dr. Andreas Kemmerling, Schulgasse 6, 69117 Heidelberg, E-Mail: [email protected]
R ALPH S CHUMACHER Locke über die Intentionalität sinnlicher Ideen
I. Einleitung Die Theorie der Ideen ist die Grundlage von John Lockes Theorie des menschlichen Verstandes. Jeder sinnlichen Wahrnehmung, die wir von externen Objekten haben, liegt die unmittelbare Wahrnehmung sinnlicher Ideen zugrunde. Da die direkte Wahrnehmung sinnlicher Ideen Erkenntnis dieser Objekte ermöglicht, stellt sich die Frage, wie einfache sinnliche Ideen zu einer Erkenntnis externer Dinge überhaupt beitragen können. Gegenwärtig gibt es zwei miteinander konkurrierende Interpretationen. John Yolton vertritt die Auffassung, Ideen an sich seien intrinsisch intentional. Es sei ihre Natur, als Inhalt unmittelbarer Erkenntnis geradewegs das zu zeigen, was sie direkt von den Dingen repräsentieren.1 Nach Yoltons Interpretation ist Lockes Konzeption von ‘Ideen’ weitgehend mit der cartesischen Doktrin identisch, wie sie von Arnauld vertreten wird. Yoltons Ziel ist es zu zeigen, daß Lockes Modell der Ideen mit dem direkten Realismus vereinbar ist. Hingegen behauptet Michael Ayers, daß einfache sinnliche Ideen nicht intrinsisch intentional, sondern inhaltlich opak sind. Sie repräsentieren ausschließlich aufgrund derjenigen extrinsischen Beziehungen, die sie zu ihren Ursachen haben, und sie sind, als Inhalte unmittelbarer Wahrnehmung, ohne jeden repräsentationalen Charakter.2 Sinnliche Ideen besitzen demnach nur insofern einen repräsentationalen Inhalt, als sie vom wahrnehmenden Subjekt auf die Objekte bezogen werden, die auf unsere Sinnesorgane einwirken und diese Ideen in uns hervorrufen. Nach Ayers hält der Geist es für offensichtlich, daß seine sinnlichen Ideen Wirkungen sind, die von außen hervorgerufen werden. Diese Interpretation unterstützt ein indirektes realistisches Verständnis von Lockes Theorie sinnlicher Wahrnehmung.
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John Yolton, Perceptional Acquaintance from Descartes to Reid, Oxford 1984. Michael Ayers, Locke, Bd. 1: Epistemology, London 1991.
Aufklärung 18 · © Felix Meiner Verlag 2006 · ISSN 0178-7128
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Trotz ihrer Differenzen legen beide Interpretationen die Annahme zugrunde, daß Locke eine einheitliche Theorie über die Intentionalität sinnlicher Ideen vertritt. Aber schafft er es wirklich, eine einheitliche und kohärente Theorie sinnlicher Wahrnehmung zu entwickeln? Gibt es nicht fundamentale Unterschiede in der Intentionalität unserer Ideen von primären und sekundären Qualitäten? Um diese Fragen zu beantworten, werde ich mich im Folgenden näher mit Lockes Aussage befassen, daß alle einfachen Ideen real sind. Unser Wissen von den sinnlichen Qualitäten der Dinge besteht hauptsächlich aus dem Wissen darüber, wie deren Qualitäten uns unter verschiedenen Wahrnehmungsbedingungen erscheinen. Wenn ich also zum Beispiel den Farbbegriff ‘gelb’ kenne und dadurch fähig bin, gelbe Zitronen im Tageslicht zu erkennen, dann weiß ich auch, daß sie unter anderen Bedingungen anders erscheinen können, daß sie für mich beispielsweise unter blauem Licht grün aussehen. Das trifft nicht nur auf sekundäre Qualitäten wie Farben, sondern auch auf primäre Qualitäten wie Formen zu. Dementsprechend enthält mein Wissen über das Prädikat ‘gerade’ nicht nur die Information, wie mir gerade Stäbe unter normalen Bedingungen erscheinen, sondern auch das Wissen, wie sie mir erscheinen, wenn sie zum Beispiel ins Wasser gehalten werden. Ohne dieses Wissen würde ich nicht in der Lage sein, Farben und Formen unter verschiedenen wechselnden Bedingungen als konstante Qualitäten von Dingen wahrzunehmen. Die unterschiedlichen Erscheinungsformen der Dinge unter verschiedenen Wahrnehmungsbedingungen haben gemeinsam, daß sie alle auf Grund von Naturgesetzen in uns erzeugt werden – und zwar als Wirkungen, die von externen Ursachen in unserem Sinnesapparat hervorgerufen werden. Aus diesem Grund gibt es keine metaphysische Differenz zwischen den äußeren Tatsachen, die Eindrücke von ‘gelb’ oder ‘grün’ verursachen, wenn uns beispielsweise Zitronen bei Tageslicht oder unter blauem Licht gezeigt werden. Da es in bezug auf die Realität externer Ursachen keinen Unterschied gibt zwischen Eindrücken von Qualitäten, die real, und solchen, die bloß scheinbar sind, können folglich beide dazu genutzt werden, um Dinge durch die Qualitäten zu unterscheiden, die wir an ihnen unter verschiedenen Wahrnehmungsbedingungen wahrnehmen. Obwohl wir uns normalerweise auf die realen Eigenschaften von Dingen beziehen, um sie voneinander zu unterscheiden, ist es doch ohne weiteres möglich, sie anhand ihrer scheinbaren Eigenschaften zu differenzieren, wenn wir dabei die spezifische Situation berücksichtigen, unter der wir sie wahrnehmen. Demnach ist es also gleichermaßen möglich, weiße Billardkugeln von gelben Zitronen im Tageslicht zu unterscheiden, wie auch Billardkugeln, die unter blauem Licht blau erscheinen, von Zitronen zu unterscheiden, die unter den gleichen Bedingungen grün aussehen. Darüber hinaus ist es für die meisten praktischen Zwecke vollkommen irrelevant, ob das Kriterium zur Unterschei-
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dung zwischen zwei Dingen etwas über die Natur der betreffenden Qualitäten aussagt. Zum Beispiel benötigen wir keine wissenschaftliche Erkenntnis der physikalischen Eigenschaften von Farben, um gelbe Zitronen von weißen Billardkugeln zu unterscheiden. Es ist das zentrale Anliegen von Lockes Theorie der einfachen Ideen, Gründe für unseren faktischen Gebrauch von realen und scheinbaren Eigenschaften von Dingen zu nennen, mittels derer wir reale Differenzen zwischen ihnen finden können. In diesem Beitrag wird untersucht, wie Lockes Theorie der Individuation einfacher Ideen zu seinem Konzept von deren Realität paßt.
II. Die Realität einfacher Ideen Nach Locke sind diejenigen Ideen real, „die in der Natur eine Grundlage haben“, „die mit dem realen Sein und Dasein der Dinge [...] worauf sie als ihre Vorbilder stillschweigend bezogen werden“, übereinstimmen (II.30.1).3 Ideen sind also real, wenn sie tatsächlich mit den Entitäten korrespondieren, für die sie stehen. In bezug auf die einfachen Ideen sinnlicher Wahrnehmung beabsichtigt Locke eine Beschreibung zu liefern, die weit genug gefaßt ist, um Ideen von primären und gleichwohl auch sekundären Qualitäten zu berücksichtigen. Aus diesem Grunde hebt er hervor, daß die Realität einfacher Ideen keine Relationen der Ähnlichkeit zwischen Ideen und deren Objekten benötigt – diese werden nur im Falle von Ideen primärer Qualitäten vorausgesetzt. Statt dessen beschränkt er sich darauf, daß Ideen ihren externen Gründen „regelmäßig entsprechen“ (II.30.2), was auf primäre wie sekundäre Qualitäten gleichermaßen zutrifft. Nach dieser Aussage ist es also eine notwendige und hinreichende Bedingung für eine reale einfache Idee, daß ihr Auftreten mit dem Auftreten ihrer äußeren Ursachen kovariiert. Lockes These, nach der alle einfachen Ideen real sind, ist die Konsequenz aus seiner Behauptung, daß wir einfache Ideen in unserem Geist vorfinden, und seiner empiristischen These, daß wir unfähig sind, diese Ideen selbst zu produzieren. Aus diesem Grund deutet die Anwesenheit einfacher Ideen im Geist immer auf die Anwesenheit bestimmter äußerer Ursachen hin, die diese Ideen verursachen. Allerdings muß man hervorheben, daß die Realität von einfachen Ideen nicht bedeutet, daß diese Ideen notwendigerweise die Anwesenheit reaJohn Locke, An Essay concerning human understanding, dt. Übersetzung zit. nach: John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Hamburg 52000. Die Verweise auf Lockes Essay erfolgen hier und im folgenden im Text wie üblich nach dessen Binnenzählung. Die römische Ziffer bezieht sich auf das Buch, die zweite Ziffer auf das Kapitel und die dritte Ziffer auf den Abschnitt. 3
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ler Eigenschaften von Dingen anzeigen. Sie weisen nämlich bloß auf die Anwesenheit realer äußerer Ursachen hin, weil auch einfachen Ideen von scheinbaren Qualitäten äußere Ursachen zugrunde liegen, womit diese Ideen real sind. Wenn ich also zum Beispiel einen geraden Stab sehe, der ins Wasser gehalten wird, dann ist meine einfache sinnliche Idee einer gebrochenen Form real, weil sie von äußeren Ursachen hervorgerufen wurde, nämlich von bestimmten Wirkungen des Lichtes, das nach dem optischen Gesetz der Lichtbrechung auf meine Augen trifft. Nur wenn wir annehmen, daß Locke implizit der Meinung ist, die einfachen Ideen, über die er redet, würden unter normalen Wahrnehmungsbedingungen wahrgenommen werden, ist es plausibel anzunehmen, daß die Realität einfacher Ideen impliziert, daß sie für reale Eigenschaften von Dingen stehen. Das Problem wird allerdings durch seine Überlegungen zum Einfluß von Urteilen auf Wahrnehmungsinhalte verkompliziert, weil diese Gedanken die Sicht unterstützen, daß sogar einfache Ideen, die unter normalen Bedingungen wahrgenommen werden, für bloß scheinbare Sinnesinhalte stehen können (II.9.8 f.). Um den Einfluß von Urteilen auf Wahrnehmungsinhalte zu verdeutlichen, beschreibt Locke die verschiedenen Stufen der visuellen Wahrnehmung am Beispiel der Wahrnehmung einer einfarbigen Kugel: Wenn wir auf diese einfarbige Kugel schauen, erhalten wir zunächst die Idee eines flachen Kreises mit einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Farben. Aber weil wir durch Erfahrung gelernt haben, daß diese Art von Idee durch eine Kugel verursacht wird, interpretieren wir die Idee des ungleichmäßig gefärbten Kreises als Idee einer einfarbigen Kugel. Folglich müssen wir erst lernen, die realen Eigenschaften von Dingen wahrzunehmen. Denn auch wenn wir die einfachen Ideen unter normalen Bedingungen wahrnehmen, garantiert uns das noch nicht, daß sie allesamt für reale Eigenschaften von Dingen stehen. Dies unterstützt die Sichtweise, nach der es plausibler ist, Locke so zu verstehen, daß einfache Ideen nur auf die Anwesenheit bestimmter Kräfte hindeuten, die den Dingen innewohnen. Ein weiterer wichtiger Aspekt einfacher Ideen besteht in deren Rolle als Unterscheidungsmerkmal von Dingen. Obwohl einfache Ideen nicht ihren äußeren Ursachen zwangsläufig als Abbilder entsprechen, stehen sie als Zeichen für diese Ursachen. Locke weist wiederholt darauf hin, daß Gott eine Beziehung zwischen einfachen Ideen und bestimmten äußeren Gründen hergestellt hat, um einfache Ideen als Merkmale realer Unterschiede zu konzipieren (II.30.2; II.31.2; II.32.14). Es gibt mehrere Stellen im Essay, welche die Interpretation stützen, daß einfache Ideen Unterschiede zwischen den realen Eigenschaften der Dinge bezeichnen. Locke schreibt zum Beispiel, daß sie „reale Ideen in uns [sind], durch die wir die Qualitäten unterscheiden, die in den Dingen selbst tatsächlich vorhanden sind“ (II.30.2). Im gleichen Abschnitt spricht er außerdem
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davon, „daß sie [die einfachen Ideen] der verschiedenen Beschaffenheit der Dinge regelmäßig entsprechen“. Darüber hinaus vertritt Locke die Meinung, daß unsere einfachen Ideen von Farben mit unterschiedlichen Oberflächenbeschaffenheiten korrespondieren (II.32.14). Würde diese Interpretation zutreffen, könnten nur einfache Ideen, die unter normalen Bedingungen wahrgenommen werden, als Merkmale zur Unterscheidung von Dingen benutzt werden, weil nur diese Ideen sinnvoll für reale Eigenschaften von Dingen stehen könnten. Diese Lesart bekommt zusätzliche Unterstützung von Passagen, in denen Locke normale sinnliche Wahrnehmungen dadurch charakterisiert, daß einfache Ideen in uns „nach feststehenden Gesetzen und auf bestimmten Wegen“ entstehen (II.34.14). Da aber Locke das Konzept der Realität einfacher Ideen in einem allgemeineren Sinn bestimmt, der nicht nur Ideen realer Eigenschaften, sondern auch Ideen bloß scheinbarer Eigenschaften umfaßt, würde es unplausibel sein, die Ideen dieser zweiten Art auszuschließen und die Unterscheidungsfunktion nur auf diejenigen einfachen Ideen zu begrenzen, die für reale Eigenschaften stehen. Aus diesem Grund ist es angemessener, Locke so zu verstehen, daß einfache Ideen uns dazu befähigen, Dinge anhand ihrer Kräfte oder Dispositionen zu unterscheiden. Übereinstimmend mit dieser Interpretation kann man diese Kräfte oder Dispositionen disjunktiv verstehen, so daß ihre Beschreibung charakterisiert, welche einfachen Ideen von diesen Kräften unter verschiedenen Wahrnehmungsbedingungen hervorgerufen werden. Beispielsweise besitzen Zitronen die Kraft, in unserem Geist die einfache Idee von ‘gelb’ im Tageslicht, die einfache Idee von ‘grün’ unter blauem Licht, usw. zu erzeugen. Unter der Annahme dieses disjunktiven Verständnisses des Konzepts der Kraft oder Disposition können wir alle einfachen Ideen als Zeichen ansehen, um Dinge anhand ihrer Dispositionen zu unterscheiden. Es gibt mehrere Stellen, an denen Locke behauptet, daß einfache Ideen für bestimmte Kräfte von Dingen stehen – und das kann als Unterstützung für die eben dargestellte Interpretation angesehen werden. Zum Beispiel sagt er, einfache Ideen entsprächen „den Kräften der Dinge, durch die sie in unserem Geist erzeugt werden und stimmen mit ihnen überein“ (II.30.2) und daß unsere Konzepte von sekundären Qualitäten „in Wahrheit nichts anderes [sind] als jene Kräfte, die in den Dingen vorhanden sind, um bestimmte Sensationen oder Ideen in uns wachzurufen“ (II.31.2). Ich denke, daß das entscheidende Argument für diese Interpretation aus Lockes Rechtfertigung für die Behauptung gezogen werden kann, daß alle einfachen Ideen adäquat sind. Nach ihm sind solche Ideen adäquat, „die die Urbilder vollkommen darstellen, von denen sie unserer Auffassung nach hergenommen sind“ (II.31.1). Er vertritt die Meinung, daß alle einfachen Ideen adäquat sind, weil sie alle real sind. Dieses Argument ist jedoch nur unter der Annahme gültig, daß reale Ideen nicht für reale Eigen-
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schaften von Dingen stehen, sondern nur für bestimmte Kräfte! Diese Interpretation wird weiterhin dadurch gestützt, daß Locke unmittelbar nach diesem Argument das folgende Beispiel zur Illustration seiner Überlegungen anführt: Die einfachen Ideen von weißer Farbe und süßem Geschmack sind real und daher adäquat, weil sie für bestimmte Kräfte stehen, die dem Zucker innewohnen und durch welche die einfachen Ideen in unserem Geist hervorgerufen werden. Aus diesem Grund ist es gerechtfertigt zu behaupten, daß es Lockes Sichtweise entspricht, daß wir einfache Ideen benutzen, um Dinge nicht anhand ihrer realen Eigenschaften, sondern durch ihre Kräfte zu unterscheiden. III. Wie individuieren wir einfache Ideen? Im Folgenden werde ich Lockes Sichtweise auf das Kriterium für Identität einfacher Ideen untersuchen: Wie individuieren wir einfache Ideen? Was macht eine einfache Idee zum Beispiel zu einer Idee von ‘rot’? Beginnen wir bei der Darstellung der Individuation einfacher Ideen sekundärer Qualitäten. Locke wiederholt mehrfach, daß einfache Ideen „Sinneseindrücke“ und „Erscheinungen“ sind, die unmittelbar von uns wahrgenommen werden und als Unterscheidungsmerkmale genutzt werden können, um Dinge anhand ihrer Kräfte zu unterscheiden (II.30.2; II.31.2; II.32.14 f.). Nun ist es wichtig, daß diese Grenzziehung zwischen den Kräften der Dinge durch einfache Ideen als Merkmale dieser Kräfte voraussetzt, daß wir in der Lage sind, diese unmittelbar wahrgenommenen Erscheinungen unabhängig von deren Bezug auf ihre äußeren Gründe zu identifizieren. Das ist notwendig, um einfache Ideen als Unterscheidungsmerkmale ansehen zu können. Denn wir müssen in der Lage sein, bestimmte Arten von einfachen Ideen zu erkennen und von anderen Arten einfacher Ideen zu unterscheiden, damit wir die Unterschiede zwischen unseren einfachen Ideen zur Differenzierung zwischen externen Objekten heranziehen können. Darum muß man den Unterschied zwischen einfachen Ideen zum Beispiel von ‘rot’ und ‘grün’ bereits erfassen können, ohne ein Wissen von den äußeren Entsprechungen dieser Ideen zu haben. Da also das Wissen vom Bezug der einfachen Ideen auf deren äußere Ursachen nicht geeignet ist, eine Rolle in deren Individuation zu spielen, müssen wir sie anhand ihres nicht-repräsentationalen bzw. phänomenalen Gehalts individuieren. Demnach ist es der phänomenale Gehalt, der zum Beispiel aus einer einfachen Idee eine Idee von ‘rot’ macht. Locke verdeutlicht die Annahme, daß die Identität einfacher Ideen von deren Bezug auf externe Ursachen unabhängig ist, durch ein Gedankenexperiment von einer Person mit vertauschtem Farbspektrum: Diese nimmt Ideen von ‘gelb’ wahr, wenn sie Veilchen sieht, und Ideen von ‘blau’, wenn sie Ringelblumen sieht (II.32.15). Der Zweck dieses Gedankenexperiments liegt darin
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zu zeigen, daß, sogar wenn Ideen von blau und gelb für vollkommen andere Kräfte von Dingen stehen, als sie es normalerweise tun, sie immer noch dieselben einfachen Ideen von blau und gelb sind. Da wir nach Locke einfache Ideen von sekundären Qualitäten anhand ihres phänomenalen Inhalts individuieren, können wir uns auf diese Ideen beziehen, wenn es um die Individuation sekundärer Qualitäten geht. Unser Verständnis sekundärer Qualitäten beruht daher auf unserem Verständnis, welche einfachen Ideen aufgrund ihres phänomenalen Inhalts als Ideen bestimmter sekundärer Qualitäten gelten. Dementsprechend muß beispielsweise die sekundäre Qualität ‘rot’ als diejenige Kraft in Gegenständen definiert werden, die unter normalen Wahrnehmungsbedingungen die einfache Idee von ‘rot’ im Geist menschlicher Personen hervorbringt. Diese Definition berücksichtigt die Tatsache, daß für uns Gegenstände unter verschiedenen Wahrnehmungsbedingungen unterschiedlich aussehen, weil es möglich ist, daß die gleiche Kraft, die unter normalen Bedingungen wie Tageslicht unsere Ideen von ‘rot’ erzeugt, andere Farbideen unter anderen Bedingungen hervorbringt. Dieses internalistische Modell, nach dem einfache Ideen nicht nur anhand ihres phänomenalen Gehalts individuiert werden, sondern darüber hinaus auch für die Individuierung bestimmter Kräfte von Dingen benutzt werden können, stimmt auch mit Lockes Überzeugung überein, daß es für die Unterscheidungsfunktion einfacher Ideen unwichtig ist, ob „sie nur beständige Wirkungen sind, wie wenn sie die genauen Abbilder von etwas sind, das in den Dingen selber vorhanden ist“ (II.30.2). Das bedeutet, daß einfache Ideen von sekundären Qualitäten eine Rolle als Unterscheidungsmerkmal spielen können, obwohl sie an sich nur phänomenalen Inhalt besitzen und nichts über die Dinge zu vermitteln vermögen, für die sie stehen. Insbesondere müssen sie uns keinen epistemischen Zugang zu der Natur der Eigenschaften von Dingen geben, um uns als Unterscheidungsmerkmale von Dingen zu dienen. Die nächste Frage ist nun, ob dieses Modell auch eine brauchbare Interpretation von Lockes Überlegungen zur Individuation der Ideen primärer Qualitäten abgibt. Ist es plausibel anzunehmen, daß wir die einfache Idee eines geraden Stabes ausschließlich durch ihren phänomenalen Inhalt und vollkommen unabhängig von ihrem Bezug auf Eigenschaften von Dingen außerhalb des Geistes individuieren können? Wenn das wahr wäre, dann sollte es auch möglich sein, Ideen von unterschiedlichen Formen ohne Identitätsverlust auszutauschen, genauso wie die Ideen von ‘gelb’ und ‘blau’ in Lockes Gedankenexperiment des vertauschten Farbspektrums ausgetauscht wurden. Zum Beispiel sollte es für eine Person möglich sein, eine einfache Idee einer geraden Form wahrzunehmen, wenn sie einen ins Wasser getauchten geraden Stab sieht, und eine einfache Idee einer gebrochenen Form, wenn sie einen geraden Stab außerhalb des Wassers sieht. Aber diese Art der Austauschbarkeit ist im Falle von Ideen pri-
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märer Qualitäten ausgeschlossen, weil nach Locke von diesen Ideen angenommen wird, daß sie ihren Objekten ähnlich sind und darum viel enger mit den von ihnen repräsentierten Eigenschaften verknüpft sind, als es die Ideen sekundärer Qualitäten sind (II.8.15). Aus diesem Grund können Ideen von primären Qualitäten nicht unabhängig von den Eigenschaften der Dinge individuiert werden, auf die sie als Repräsentationen verweisen. Es gibt einen weiteren Grund, warum das internalistische Modell nichts zur Erklärung der Identität von einfachen Ideen primärer Qualitäten beitragen kann. Nach Locke können nämlich bestimmte primäre Qualitäten von mehr als einem Sinn wahrgenommen werden (II.5). Zum Beispiel können wir Formen durch den Gesichts- und Tastsinn gleichermaßen wahrnehmen. Aber wenn wir Ideen primärer Qualitäten anhand ihres phänomenalen Gehalts individuieren würden, dann würde es für uns unmöglich sein zu sagen, daß dasjenige, was durch Sehen und durch Fühlen wahrgenommen wird, dieselbe Idee ist, weil der phänomenale Inhalt visueller und taktiler Wahrnehmungen vollkommen unterschiedlich ist. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, eine externalistische Interpretation von Lockes Überlegungen zur Individuation einfacher Ideen primärer Qualitäten anzunehmen. Während einfache Ideen von sekundären Qualitäten durch ihren phänomenalen Inhalt individuiert werden, müssen einfache Ideen primärer Qualitäten durch ihren repräsentationalen oder intentionalen Inhalt individuiert werden. Darum nehmen verschiedene Personen die gleiche einfache Idee einer bestimmten primären Qualität wahr, wenn ihre Wahrnehmungserfahrungen den gleichen repräsentationalen Inhalt besitzen. Und daher müssen wir voraussetzen, daß Locke primäre Qualitäten als natürliche Arten ansieht, die unabhängig von den Ideen, die durch sie in uns hervorgerufen werden, individuiert werden können. Vielmehr verhält es sich so, daß wir die Konzepte dieser Qualitäten zugrunde legen müssen, um die Ideen von ihnen individuieren zu können. Bevor wir also das Konzept zum Beispiel der Idee einer geraden Form verstehen können, müssen wir bereits in der Lage sein, das Konzept einer geraden Form zu verstehen. Damit übereinstimmend muß die einfache Idee einer geraden Form als diejenige Idee definiert werden, die durch Objekte mit geraden Formen unter normalen Wahrnehmungsbedingungen in unserem Geist erzeugt wird. Diese Definition hat den Vorteil, daß sie in der Lage ist, Sinnestäuschungen zu berücksichtigen, weil es durchaus möglich ist, daß die gleichen primären Qualitäten, die unter normalen Bedingungen einfache Ideen gerader Formen hervorrufen, unter ungewöhnlichen Bedingungen Ideen anderer Formen produzieren können. In Übereinstimmung damit ist es also eine hinreichende Bedingung, um eine einfache Idee von F zu sein, durch die primäre Qualität F unter normalen Bedingungen verursacht zu werden. Aber auch diese Interpretation von Lockes Verständnis der Individuation
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einfacher Ideen primärer Qualitäten bleibt nicht ohne Schwierigkeiten. Es bestehen nämlich die beiden folgenden Probleme: (1) Das erste Problem liegt darin, daß Locke alle einfachen Ideen als Sinneseindrücke beschreibt, die durch ihre „einheitliche Erscheinung“ charakterisiert werden (II.2.1). Wenn wir diese Erscheinung als den phänomenalen Inhalt einfacher Ideen verstehen, dann hat sie keine Funktion für die Individuation einfacher Ideen von primären Qualitäten, denn eine Idee von einer bestimmten Qualität F zu sein beruht vollständig darauf, in unserem Geist durch diese Qualität unter normalen Bedingungen erzeugt zu werden. Konsequenterweise müßte es für zwei verschiedene Personen möglich sein, zwei einfache Ideen mit vollkommen unterschiedlichen „einheitlichen Erscheinungen“ (uniform appearances) wahrzunehmen, die aber immer noch Ideen der gleichen Form bleiben. Dies ist aber nicht vereinbar mit Lockes Ansicht, daß einfache Ideen von primären Qualitäten den von ihnen repräsentierten Eigenschaften ähneln, die eher für die gegenteilige Auffassung spricht, daß es nur eine einheitliche Erscheinung für jede primäre Qualität geben kann. (2) Das zweite Problem ist schwerwiegender. Es ist mit der Unterscheidungsfunktion einfacher Ideen verbunden. Objekte nach bestimmten Merkmalen zu unterscheiden setzt normalerweise voraus, daß wir in der Lage sind, diese Merkmale unabhängig von den Objekten zu identifizieren, für die sie stehen. Wenn wir zum Beispiel reife Erdbeeren und Zitronen anhand ihrer Farben als zwei Arten von Früchten unterscheiden wollen, müssen wir zuerst die Farbe ‘rot’ und die Farbe ‘gelb’ unabhängig von unserem Wissen über Erdbeeren und Zitronen erkennen können. Das heißt, daß wir in der Lage sein müssen, beispielsweise die Eigenschaft, rot zu sein, unabhängig von der Eigenschaft, eine Erdbeere zu sein, zu erkennen. Das trifft gleichermaßen auch auf einfache Ideen zu. Um sie zur Unterscheidung von Dingen zu benutzen, müssen wir sie unabhängig von unserem Wissen von den Unterschieden in den Dingen, für die diese Ideen stehen, individuieren können. Aber wenn die externalistische Interpretation wahr ist, dann ist das eben gerade jene Bedingung, die nicht erfüllt ist! Ganz im Gegenteil, es ist genau andersherum. Denn nach der externalistischen Interpretation müssen wir in der Lage sein, primäre Qualitäten zu individuieren, bevor wir einfache Ideen von primären Qualitäten individuieren können. Das heißt, wir können diese Ideen nicht erkennen, ohne etwas darüber zu wissen, was sie repräsentieren. Daher setzt die Fähigkeit zur Identifikation einfacher Ideen von primären Qualitäten schon voraus, daß wir die betreffenden primären Qualitäten kennen. Aus diesem Grunde ist eine grundlegende Bedingung für die Verwendung einfacher Ideen als Unterscheidungsmerkmale nicht erfüllt. Obwohl wir Unterschiede in Dingen dadurch verstehen können, daß wir in unserem Geist Ideen von deren unterschiedlichen Qualitäten haben, können wir diese Ideen nicht als Unterscheidungsmerkmale benutzen, weil wir sie nur
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dann individuieren könnten, wenn wir schon etwas von den betreffenden primären Qualitäten wissen. Vielleicht kann dieses Problem gelöst werden, wenn wir annehmen, Locke habe implizit eine intentionale Sichtweise vertreten.4 Nach dieser Interpretation besitzen sinnliche Ideen zusätzlich zu ihrem intentionalen Gehalt einen phänomenalen Gehalt, wobei dieser phänomenale Gehalt durch den intentionalen Gehalt festgelegt wird. Ideen, die die gleiche primäre Qualität repräsentieren, haben demnach auch den gleichen phänomenalen Gehalt. Die Verbindung der intentionalistischen Interpretation mit der externalistischen Sicht von der Individuierung einfacher Ideen von primären Qualitäten würde die Möglichkeit ausschließen, daß unterschiedliche wahrnehmende Personen, welche die gleiche Form wahrnehmen, Ideen mit unterschiedlichen „einheitlichen Erscheinungen“ (uniform appearances) wahrnehmen, weil diese Erscheinungen vom intentionalen Inhalt ihrer Ideen determiniert werden. Ergänzend würden wir zudem in der Lage sein, die Verwendung einfacher Ideen von primären Qualitäten zur Unterscheidung von Dingen zu erklären, weil es für jede Differenz im phänomenalen Inhalt eine entsprechende Differenz in den von ihnen repräsentierten primären Qualitäten geben würde. Wenn daher die intentionalistische Interpretation wahr wäre, würde es sogar im Falle von Ideen von primären Qualitäten möglich sein, die Voraussetzung zu erfüllen, daß wir in der Lage sein müssen, Unterscheidungsmerkmale unabhängig von den Objekten, für die sie stehen, zu erkennen, weil die Wahrnehmenden nur in der Lage sein müssen, die Unterschiede im phänomenalen Gehalt ihrer Ideen zu erfassen, um eine Unterscheidung zwischen den von ihnen repräsentierten primären Qualitäten vorzunehmen. Diese intentionalistische Interpretation ist jedoch aus den folgenden drei Gründen nicht überzeugend: Erstens, weil Locke nur eine implizite Unterscheidung zwischen dem intentionalen Gehalt und dem phänomenalen Gehalt sinnlicher Ideen vornimmt, gibt es keine direkte textliche Unterstützung für diese Interpretation. Folglich würde der Hauptgrund für eine Übernahme dieser Interpretation sein, daß sie dazu beiträgt, ein bestimmtes Problem in seiner Theorie zu lösen. Zweitens würde dieser Intentionalismus auf Ideen von primären Qualitäten beschränkt bleiben, weil Lockes Gedankenexperiment vom umgekehrten Farbspektrum die Sichtweise stützt, daß für ihn der intentionale und der phänomenale Inhalt der Ideen von sekundären Qualitäten vollkommen kontingent sind. Drittens würde dieser Intentionalismus die Wahrnehmung von primären Qualitäten auf genau einen Sinn einschränken, weil Lockes Überlegungen hinsichtlich des Molineux-Problems zeigen, daß sich für ihn die visuelMeine Bemerkungen über Intentionalismus basieren auf Alex Byrne, Intentionalism Defended, in: Philosophical Review 110 (2001), 199–240. 4
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le und die taktile Idee einer bestimmten Form in deren phänomenalem Gehalt unterscheiden, obwohl sie den gleichen intentionalen Inhalt besitzen. Aus diesen drei Gründen ist es unwahrscheinlich, daß Locke in bezug auf Ideen von primären Qualitäten eine intentionalistische Position vertritt. So kommen wir zu der überraschenden Feststellung, daß es innerhalb der Lockeschen Theorie von der Realität einfacher Ideen keinen Platz für einfache Ideen von primären Qualitäten gibt. Die internalistische Interpretation steht im Widerspruch mit seiner Behauptung, daß Ideen primärer Qualitäten aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit externen Objekten nicht wie die Ideen von Farben im Gedankenexperiment des invertierten Farbspektrums ohne Verlust ihrer Identität vertauscht werden können. Die externalistische Interpretation ist wiederum nicht mit der Unterscheidungsfunktion einfacher Ideen kompatibel, weil diese Interpretation nicht damit vereinbar ist, Ideen von primären Qualitäten unabhängig von den Qualitäten zu individuieren, für die sie stehen. Was ist nun die Ursache dieses Problems? Die Quelle liegt nicht in Lockes repräsentationaler Theorie des Geistes, nach der kognitiven Prozessen wie Wahrnehmen und Denken mentale Repräsentationen zugrunde liegen, welche durch ihren intentionalen Inhalt auf Objekte verweisen. Statt dessen liegt sie in einer von Lockes epistemologischen Annahmen über das Verhältnis der unmittelbaren Wahrnehmung zwischen Geist und einfachen Ideen – der Annahme nämlich, daß Ideen nicht nur mentale Repräsentationen sind, sondern zudem Objekte direkter Wahrnehmung. Weil Locke einfache Ideen als Objekte direkter Wahrnehmung behandelt, müssen wir sie durch ihre unterschiedlichen Erscheinungen oder phänomenalen Inhalte individuieren, bevor wir sie auf die Eigenschaften und Kräfte von Dingen beziehen können. Aufgrund dieser epistemologischen Annahme ist Locke versucht zu glauben, daß die einfachen Ideen als Zeichen benutzt werden können, die für wirkliche Unterschiede in Dingen stehen. Wie wir aber gesehen haben, ist diese Konzeption von einfachen Ideen als Merkmale zur Unterscheidung von Dingen grundsätzlich problematisch. Dies ist nämlich der zentrale Grund dafür, warum es in Lockes Theorie von der Realität einfacher Ideen keinen Platz für einfache Ideen von primären Qualitäten gibt. Locke hätte also genauer zwischen zwei Aussagen unterscheiden sollen: Und zwar zwischen der Behauptung, daß wir die Unterschiede von Dingen dadurch erfassen, daß wir Ideen von deren verschiedenen Qualitäten in unserem Geist haben und daß wir Dinge unterscheiden, indem wir unsere Ideen von deren Qualitäten als Unterscheidungsmerkmale verwenden. Während die erste Behauptung unproblematisch ist, mündet die zweite in das hier dargestellte Problem, weil sie die Annahme mit einbezieht, daß Ideen Objekte direkter Wahrnehmung sind, die als Unterscheidungsmerkmale benutzt werden können. Warum hält Locke an dieser problematischen epistemologischen Annahme
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fest? Ein wichtiger Grund scheint zu sein, daß es ihm dadurch möglich wird zu erklären, warum sinnliche Wahrnehmung uns nicht die Natur sekundärer Qualitäten enthüllen kann. Wie Descartes, Arnauld und Malebranche vor ihm, ist auch Locke der Meinung, daß uns sinnliche Wahrnehmung keine Information über die Natur sekundärer Qualitäten liefern kann, sondern nur Informationen über die Sinneseindrücke, die diese Qualitäten im Geist der wahrnehmenden Personen erzeugen (II.8.14–17; II.31.2; II.32.14 f.). Auch wenn wir den Inhalt der Sinneseindrücke erfassen, die durch die sekundären Qualitäten verursacht werden, bleibt uns die Natur der Eigenschaften selbst vollkommen unbekannt. Die sinnliche Erfahrung dieser Qualitäten informiert uns also bloß darüber, ob bestimmte Dinge für uns nützlich oder gefährlich sind. Lockes Ansicht über einfache Ideen als bloßer Unterscheidungsmerkmale bietet eine Erklärung dafür, warum die sinnliche Wahrnehmung von sekundären Qualitäten nur diese Art von pragmatischer Information, aber kein Wissen über deren wahre Beschaffenheit liefern kann. Das Problem von Lockes Theorie der Intentionalität sinnlicher Ideen ist die Folge von seinem Versuch, alle einfachen Ideen in ein einheitliches Modell zu integrieren. Dabei übersieht er die grundsätzlichen Unterschiede in der Art und Weise, in der sich die Ideen primärer und sekundärer Qualitäten auf äußere Objekte beziehen. Während wir durch die Wahrnehmung der Ideen primärer Qualitäten unmittelbar die durch sie repräsentierten Eigenschaften erfassen, erfahren wir bei der Wahrnehmung der Ideen sekundärer Qualitäten zunächst nur einen phänomenalen Gehalt. Darum sind bei ihnen weitere kognitive Operationen erforderlich, um sie mit repräsentationalem Inhalt zu füllen. Nach Locke ist es für den Geist offensichtlich, daß Ideen sekundärer Qualitäten von außen kommen und sich daher auf externe Ursachen beziehen. Ideen von sekundären Qualitäten dürften daher nicht als intrinsisch intentional angesehen werden, weil sie unser Bewußtsein nur auf bestimmte phänomenale Qualitäten lenken, aber nicht auf die Kräfte selbst für die sie stehen. Das ist der Grund, warum Locke zwischen sekundären Qualitäten „as they are preceived by us“ und „as they exist in things“ unterscheidet (II.31.2). Nur die Idee sekundärer Qualitäten eignet sich, um als Unterscheidungsmerkmal zur Differenzierung von Dingen verwendet zu werden. Locke bekommt dadurch ein Problem, daß er die Differenzen der verschiedenen Arten sinnlicher Intentionalität vernachlässigt und darum versucht, diese Unterscheidungsfunktion allen einfachen sinnlichen Ideen zuzuschreiben.
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IV. Arnauld und Malebranche über sinnliche Intentionalität Wie Locke sind auch Arnauld und Malebranche der Meinung, daß uns die sinnliche Wahrnehmung von sekundären Qualitäten keinen epistemischen Zugang zu den realen Beschaffenheiten von Gegenständen geben kann, sondern uns nur darüber informieren, ob bestimmte Dinge nützlich oder schädlich für uns sind. Jedoch entsteht innerhalb ihrer Theorien nicht Lockes spezielles Problem in bezug auf die Individuation von Ideen, weil ihr Ansatz sich in einigen wichtigen Beziehungen von seiner Theorie unterscheidet. Arnauld behandelt nicht nur Ideen von primären Qualitäten, sondern auch Ideen von sekundären Qualitäten als intrinsisch intentional. Ein weiterer Unterschied zwischen seiner und Lockes Theorie ist, daß Arnaulds Modell von geistiger Intentionalität nicht repräsentationalistisch ist. Er meint im Gegenteil, daß eine Idee nichts anderes als das Objekt der Gedanken oder der Wahrnehmung selber ist, sofern es im Geist existiert. Daher haben mentale Zustände intentionalen Inhalt, weil ihre Objekte selbst irgendwie im Geist vorhanden sind. Dieses Modell basiert auf der scholastischen Unterscheidung zwischen zwei Modi von Existenz, und zwar der formalen und der objektiven Realität von Objekten. Wenn die formale Realität eines Objektes in seiner Existenz innerhalb der physischen Welt besteht, liegt seine objektive Realität in seiner Existenz als Objekt der Gedanken oder der Wahrnehmung innerhalb des Geistes. Weil ein und dasselbe Ding in zwei verschiedenen Modi existieren kann, nämlich innerhalb und außerhalb des Geistes, vertritt Arnauld eine externalistische Position in bezug auf die Individuation von Ideen, weil eine Idee nichts als ein Ding oder eine Qualität ist, insofern sie im Geist existiert. Weil daher alle Ideen intrinsisch intentional sind, wird von Ideen primärer Qualitäten angenommen, daß sie von Ideen sekundärer Qualitäten nur graduell in bezug auf die Weise, in der ihr Inhalt dem Geist vermittelt wird, abweichen. Demgemäß können uns Ideen von sekundären Qualitäten nur praktische Informationen liefern, weil die Sinne sie nicht auf klare und deutliche Art präsentieren – wie die Vernunft uns die Ideen von primären Qualitäten darlegt –, sondern nur in einer unklaren und wirren Weise. Unsere Wahrnehmungen von Farben beispielsweise sind unklar und wirr in der Ausprägung, weil wir nicht wissen, wie die Partikel auf der Oberfläche eines Körpers angeordnet sein müssen, um die Ursache für unsere Wahrnehmung der Farbe ‘rot’ zu sein. Dennoch gibt es für jede physische Disposition eine eins-zueins Beziehung zwischen dem korpuskularen Arrangement und der wahrgenommenen Farbe, weil unsere Farbeindrücke sonst nach Arnauld die Qualitäten von Objekten nicht authentisch repräsentieren würden. Folglich ist es eine weitere Konsequenz dieses Ansatzes, daß es nicht möglich ist, zum Beispiel die Ideen von Farben ohne Verlust von Identität auszutauschen. Für
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Arnauld ist also eine spektrale Umkehrung unmöglich.5 Aus diesem Grunde lehnt Arnauld die Hypothese des umgekehrten Spektrums ab, die schon von Malebranche in Erforschung der Wahrheit fünfzehn Jahre vor dem Erscheinen von Lockes Essay präsentiert wurde.6 So vermeidet er Lockes Problem bezüglich der Individuation von Ideen primärer Qualitäten, weil er eine Theorie von mentaler Intentionalität vertritt, die auf beides, nämlich auf Ideen von primären Qualitäten sowie auf Ideen von sekundären Qualitäten, gleichermaßen zutrifft. Hinzu kommt, daß Ideen nach Arnauld ontologisch nicht verschieden sind von ihren Objekten, so daß das Lockesche Konzept von Ideen als Unterscheidungsmerkmalen keinen Platz in seiner Theorie hat. Im Unterschied zu Arnauld behandelt Malebranche die Wahrnehmung primärer Qualitäten grundsätzlich anders als die Wahrnehmung sekundärer Qualitäten. Malebranche zufolge haben nur Wahrnehmungen primärer Qualitäten intentionalen Inhalt, während Wahrnehmungen sekundärer Qualitäten ein solcher Inhalt fehlt. Da Ideen nach Malebranche nur Vehikel der mentalen Intentionalität sind, müssen wir annehmen, daß wir nur Ideen von primären, nicht aber von sekundären Qualitäten haben. Wie Berkeley meint auch Malebranche, daß sekundäre Qualitäten nichts anderes als Sinneseindrücke sind, die allein im Geist existieren. Folglich ist der Inhalt dieser Sinneserfahrungen kein intentionaler, sondern ein phänomenaler. Malebranche vertritt eine projektivistische Theorie der Wahrnehmung sekundärer Qualitäten, nach der wir durch sogenannte „natürliche Urteile“ dazu gebracht werden, sekundäre Qualitäten als reale Eigenschaften von Dingen anzusehen. Darum schreiben wir gewohnheitsmäßig unsere eigenen Sinneserfahrungen den externen Dingen selbst zu. Die Gemeinsamkeit mit der Theorie von Locke besteht darin, daß beide Ansätze der Individuation von Ideen primärer und sekundärer Qualitäten vollkommen unterschiedliche Prinzipien zugrunde legen. Malebranche jedoch steuert an Lockes Problem vorbei, weil er sich der Unterschiede in der Wahrnehmung dieser beiden Arten von Ideen vollkommen bewußt ist und darum nicht versucht, sie in eine einzige einheitliche Theorie von mentaler Intentionalität zu integrieren.
Antoine Arnauld, On True or False Ideas, hg. von Elmar J. Kremer, Lewiston 1990, Kap. 16. Nicholas Malebranche, The Search After Truth, hg. von Thomas M. Lennon und Paul J. Olscamp, Cambridge 1997, Buch 1, Kapitel 13, Abschnitt 5. Locke war mit der Diskussion vertraut, die durch Malebranches Search verursacht wurde. Unter den Büchern in Lockes Bibliothek gab es mehrere Ausgaben der Search, Fouchers Critique de la Recherche de la Vérité (1675), Malebranches Traité de la Nature et de la Grace (1680) und Arnaulds Antwort Des Vrayes et des Fausses Idées (1683), vgl. John Harrison, Peter Laslett, The Library of John Locke, Oxford 1965. 5 6
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V. Schlußfolgerung Wie können wir nun Lockes Problem innerhalb des Lockeschen Theorierahmens vermeiden? Der direkteste Weg wäre es, sowohl die Behauptungen, daß einfache Ideen eine Unterscheidungsfunktion haben, wie auch die zugrundeliegende epistemologische Prämisse, daß diese Ideen Objekte der unmittelbaren Wahrnehmung sind, die unabhängig von ihrem Bezug auf ihre externen Ursachen individuiert werden können, zu verwerfen. Folglich würde dann Lockes Konzeption der Wahrnehmung auf eine repräsentationale Sichtweise beschränkt sein, nach der unserer sinnlichen Wahrnehmung von primären und sekundären Qualitäten Ideen als mentale Repräsentationen zugrunde liegen, die als Träger mentaler Intentionalität fungieren. Unter dieser Annahme könnte Locke weiterhin behaupten, daß alle einfachen sinnlichen Ideen real sind, denn jeder einfachen sinnlichen Idee ließe sich in diesem revidierten Modell eine korrespondierende externe Ursache zuordnen. Die Annahme, daß sinnliche Ideen Objekte der unmittelbaren Wahrnehmung sind, die unabhängig von den Objekten, für die sie stehen, individuiert werden und als Unterscheidungsmerkmale verwendet werden können, ist nicht allein für die Probleme in Lockes Theorie verantwortlich. Ähnliche Probleme finden sich auch in neueren Betrachtungen über die Natur sekundärer Qualitäten. Betrachten wir zum Beispiel die dispositionalistischen Theorien der Farbe von Mark Johnston und Christopher Peacocke.7 Diese Theorien basieren ebenfalls auf der Annahme, daß Farbwahrnehmungen unabhängig von ihrem Bezug auf externe Entitäten wie zum Beispiel Oberflächenstrukturen realer physischer Dinge individuiert werden können. Wenn wir die Bedingung, daß ein Objekt gelb ist, folgendermaßen definieren: x ist ausschließlich dann gelb, wenn die wahrnehmende Person die in einer bestimmten Relation R zu x steht in bestimmten Wahrnehmungsumständen C die Wahrnehmung von ‘gelb’ hat,
dann muß es möglich sein, Farbwahrnehmungen, die auf der rechten Seite dieses Konditionals stehen, unabhängig von der Farbe des Objektes auf der linken Seite zu erkennen. Die Farbwahrnehmungen müssen unabhängig von der Zuschreibung von Farben zu physischen Objekten erkennbar sein, weil sonst das Wissen von den Farben der Dinge schon vorausgesetzt würde. Da überzeugende Argumente zeigen, daß diese Art der internalistischen Individuation nicht plausibel ist, haben wir also nicht nur historische, sondern auch systematische
7 Mark Johnston, How we Speak of the Colours, in: Philosophical Studies 68 (1992), 221– 263; Christopher Peacocke, Colour Concepts and Colour Experience, in: Synthese 58 (1984), 365–382.
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Gründe dafür, sinnlichen Ideen keine Unterscheidungsfunktion im Lockeschen Sinne zuzuschreiben. In diesem Aufsatz geht es um die Frage, auf welche Weise Locke die Intentionalität sinnlicher Ideen erklärt. Es wird dafür argumentiert, daß er für die Ideen primärer Qualitäten und für die Ideen sekundärer Qualitäten zwei grundsätzlich verschiedene Ansätze zur Erklärung ihrer Intentionalität entwickelt. Dieser Unterschied manifestiert sich vor allem darin, daß die Ideen primärer Qualitäten über die von ihnen repräsentierten Eigenschaften individuiert werden, während die Individuation von Ideen sekundärer Qualitäten über deren phänomenalen Gehalt erfolgt, so daß zum Beispiel ein und dieselbe Farb-Idee wie ‘rot’ für ganz unterschiedliche Eigenschaften von Dingen stehen kann. Allerdings berücksichtigt Locke diesen Unterschied nur unzureichend und schreibt daher den einfachen Ideen primärer Qualitäten Funktionen zu, die mit der Erklärung ihrer Intentionalität unverträglich sind. Die Quelle der Probleme, die in diesem Zusammenhang auftreten, liegt letztlich in der erkenntnistheoretischen Grundannahme Lockes, daß es sich bei sinnlichen Ideen nicht nur um mentale Repräsentationen, sondern zudem um Objekte der direkten Wahrnehmung handelt. This paper focuses on Locke’s explanation of the intentionality of sensory ideas. I defend the view that he presents two fundamentally different models to explain the intentionality of ideas of primary and secondary qualities. As a consequence of this difference, ideas of primary qualities are individuated by their representational contents, whereas ideas of secondary qualities are individuated by their phenomenal contents so that one and the same idea of a colour, for instance, may stand for entirely different surface properties of things. However, since Locke does not sufficiently take this difference into account, he ascribes certain functions to ideas of primary qualities which are incompatible with the explanation of their intentionality. The source of the problems of Locke’s approach lies in his epistemological assumption that sensory ideas are not just mental representations, but also objects of direct perception. PD Dr. Ralph Schumacher, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin, E-Mail: [email protected]
R EINHARD B RANDT John Lockes Konzept der persönlichen Identität Ein Resümee1
Vorbemerkung Locke traf auf Selbst- und Ich- oder Personen-Vorstellungen in der Philosophie, die den Mangel hatten, daß sie mit meinem Ich und Selbst partout nichts zu tun haben. Während ich schlafe, soll ich eine identische ‘res cogitans’ sein, ich bin also über mein eigenes angebliches Denken weniger gut informiert als der theoretische Metaphysiker René Descartes. Es soll im Folgenden kurz auf diesen handgreiflichen Mißstand eingegangen werden. Die Lockesche Alternative wird meistens so dargestellt, als habe er an die Stelle der cartesischen Denksubstanz nur das Bewußtsein gestellt, das mein Selbst und dessen Identität in der Zeit konstituiere; für diese Auffassung lassen sich gute Belege beibringen, sie ist jedoch trotzdem falsch, denn Locke denkt nicht an ein abgehobenes Ichbewußtsein, sondern an das Bewußtsein, das die konkrete persönliche Sorge um sich selbst, das je eigene Gefühl der Lust und Unlust und der Hoffnung und der Angst begleitet – ohne diese subjektiven Affektzustände gibt es kein Ich. Die Grundidee zu diesem involvierten, an sich selbst interessierten Die folgenden Ausführungen bringen Korrekturen und Ergänzungen zu: Lüder Gäbe, Zur Aprioritätsproblematik bei Leibniz-Locke in ihrem Verhältnis zu Descartes und Kant, in: Hans Wagner (Hg.), Sinnlichkeit und Verstand in der deutschen und französischen Philosophie von Descartes bis Hegel, Bonn 1976, 75–106; Reinhard Brandt, Locke und die Auseinandersetzungen über sein Denken, in: Jean-Pierre Schobinger (Hg.), Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 3: England, Basel 1988, 607–758 und 782–802; Reinhard Brandt, Selbstbewußtsein und Selbstsorge – Zur Tradition der ‘oikeiosis’ in der Neuzeit, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 85 (2003), 179–197, und besonders Reinhard Brandt, ‘Personal identity’ bei John Locke, in: Philosophia practica universalis. Festschrift für Joachim Hruschka zum 70. Geburtstag, Jahrbuch für Recht und Ethik 13 (2005), 45–61. – Der Essay Concerning Human Understanding wird nach der Ausgabe von P. H. Nidditch, Oxford 1975, mit Buch-, Kapitel- und Paragraphenangabe zitiert. 1
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Ich fand Locke in der stoischen Philosophie. Aber des weiteren bedarf es konstanter machthabender Gesetze, die Lohn verheißen und Strafe androhen; nur durch diese Gesetze ist es möglich, daß Locke die persönliche Identität resümierend als forensischen Begriff bezeichnet. Durch die Beziehung der persönlichen Identität auf das eigene Tun wird ausgeschlossen, daß wir für die Erbsünde, deren wir uns nicht bewußt sind, verantwortlich gemacht werden können – Locke befreit die Menschen von dem jüdisch-christlichen Inkubus, sie litten zu Recht für den Sündenfall von Adam und Eva. Der Terminus des ‘forensick term’ macht sinnfällig, daß wir uns auf dem Gebiet der praktischen Vernunft bewegen, des ‘concern’ oder Interesses an der eigenen Gegenwart und Zukunft und nicht eines abgehobenen Ich-Bewußtseins, das sich um sich selbst dreht und von dem David Hume in Übereinstimmung mit John Locke sagen wird, es sei ihm nie begegnet.
I. Das ‘Ich selbst’ und die Person in der rationalistischen Metaphysik Eines der Hauptziele der Metaphysik vor Locke ist der Nachweis, daß unsere Seele und damit unser eigentliches Ich nicht ein materieller Teil dieser Welt ist, sondern eine immaterielle Substanz, die, so Gott will, unseren physischen Tod überleben wird. Hierin sind sich Descartes und die Scholastik einig: Gott, Welt und Seele sind getrennte, wiewohl miteinander kommunizierende Entitäten, wie die ‘metaphysica specialis’ zu beweisen hat und dies auch kann. Über den wahren Status meines Ich und meiner Person sind die Theologen und Philosophen dabei besser informiert als ich selbst, so wie der Mediziner meinen Körper paradoxerweise besser kennt als ich selbst und der Jurist u.U. meinen Vermögensstand. Der Philosoph weiß, daß meine Denkakte in einer zeitlosen einheitlichen Seelensubstanz begründet sein müssen, während mir selbst vielleicht nicht einmal klar ist, daß ich beim Reden Prosa spreche. Für Descartes war die Notwendigkeit, das Denken in einer immateriellen Substanz zu fundieren, noch so selbstverständlich, daß er ohne große Umstände von dem ‘cogito’ zur ‘res cogitans’ überging,2 wohl wissend, daß dieser Übergang dem geübten Metaphysiker sogleich einleuchtet, während der Nichtphilosoph sich sowieso hüten wird, irgend etwas verstehen zu wollen. Bis hin zu Locke sind die Cartesianer und Metaphysiker davon überzeugt, daß es widersprüchlich wäre, zu denken und dieses Denken nicht einer immateriellen Substanz zuzuordnen. Diese Auffassung läßt sich gut in den einschlägigen 2 Vgl. Descartes, Meditationes de prima philosophia II, in: René Descartes, Œuvres complètes, hg. von Charles Adam und Paul Tannery, Paris 1897–1913 (Nachdruck Paris 1964–76), Bd. 7, 27.
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Auseinandersetzungen des 17. Jahrhunderts belegen.3 Immer ist das Ich, oder besser: die ‘res cogitans’, dabei der allgemeine Gegenstand einer ich-neutralen objektiven Erkenntnis, wodurch zwei Aspekte verloren gehen, die das Personalpronomen ‘ich’ mit sich führt: Eine subjektive Erkenntnis des Ich aus der privilegierten Binnenperspektive des „Ich“-sagenden Subjekts, und die exklusive Individualität, die gerade nicht allgemein ist. Der Theologe und der Metaphysiker suchen dagegen die allgemeine und notwendige Erkenntnis aus der damit unverzichtbaren Außenperspektive. Mit Locke setzt sich das seiner selbst bewußte Subjekt gegen die Macht der objektiven Erkenntnis der Metaphysiker inklusive Descartes durch. Schlechthin gar nichts hat die theologische Spekulation der Heiligen Dreieinigkeit mit den Lockeschen Problemen zu tun. Udo Thiel hat sich bemüht, das „problem of trinity“4 ins Zentrum zu rücken und für die Exposition der Lockeschen „personal identity“ zu benutzen; tatsächlich jedoch finden sich keine Überschneidungen, sondern getrennte Diskurse. Die drei Personen Gottes (Vater, Sohn und Heiliger Geist), die eine substantielle Einheit bilden, haben keine Bewußtseinssorgen, und umgekehrt ist die menschliche Person weder trinitarisch aufgespalten noch argwöhnt sie, nur ein Drittel einer höheren, heiligen Einheit zu sein. Die Philosophiegeschichte deckt sich hier nicht mit der Wortgeschichte.
II. Die persönliche Identität: eine reine Bewußtseinsleistung? Zuerst zur kognitiven Bewußtseinsthese, also zur These, daß das pure Denken bzw. Bewußtsein seiner selbst die notwendige und zureichende Bedingung für persönliche Identität ist. Die zentrale Passage am Anfang von II, 27, 9 lautet: This being premised to find wherein personal Identity consists, we must consider what Person stands for; which, I think, is a thinking intelligent Being, that has reason and reflection, and can consider it self, the same thinking thing in different times and places; which it does only by that consciousness, which is inseparable from thinking, and it seems to me essential to it.
Das unser Denken begleitende Selbstbewußtsein alleine stiftet demnach die Identität der Person über Zeit- und Raumdifferenzen hinweg; es bedarf dazu keiner im Zeitfluß identischen immateriellen Substanz, auf die mein Identitätsbewußtsein sich beziehen muß, wie die von Locke bekämpfte Gegenthese lautet. Notwendig und hinreichend ist vielmehr, so scheint die Quintessenz zu lauten, das epistemische Vermögen, sich auf sich selbst reflexiv zu beziehen, und 3 Vgl. Udo Thiel, Personal Identity, in: Daniel Garber, Michael Ayers (Hg.), The Cambridge History of the Seventeenth-Century Philosophy, Bd. 1, Cambridge 1998, 868–911, hier 873–876. 4 Ebd., 872.
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dies geschehe unausweichlich durch das Begleitbewußtsein, das allen Denkakten des Menschen beigegeben sei. Mit dieser Auffassung stimmen alle Angaben im Inhaltsverzeichnis und in den Randtiteln des Essay überein. In der Übersicht „The Contents“ heißt es zu den einschlägigen Sektionen von II, 27: „10. Consciousness makes Personal Identity.“ „16. Consciousness makes the same Person.“ „17. Self depends on Consciousness.“ „23. Consciousness alone makes self.” Die Randnoten zu den einzelnen Sektionen bzw. Paragraphen stimmen mit dieser Fassung jeweils überein. Wenn diese Titel von Locke selbst stammen, stellen sie ein wichtiges Argument für die kognitive Bewußtseinsthese dar. Sowohl die referierende Interpretation wie auch zweitens die Kritik des Lockeschen Konzepts haben sich wesentlich an dieser Bewußtseinsidentität orientiert. Sie ermöglicht die positive Rückführung auf Vorbilder in der Theologie, man denke nur an die Bestimmung Gottes als der ‘noesis noeseos’ bei Aristoteles.5 Udo Thiel resümiert Lockes Auffassung: „Locke argues that loss of consciousness brings about the loss of personal identity, because consciousness is what constitutes personal identity“.6 Der erste Satzteil ist korrekt, denn das Bewußtsein ist tatsächlich die conditio sine qua non der persönlichen Identität, auch im Hinblick auf bestimmte Felder der vorgeblichen Schuld: Da wir uns keiner eigenen Handlung zur Zeit von Adam und Eva bewußt sind, können wir für damals begangene Sünden nicht gut verantwortlich sein. Umgekehrt jedoch ist der zweite Satzteil problematisch, denn das Bewußtsein kann nur mentale Handlungen und Gefühle und Willensbildungen begleiten und ist keineswegs neben der notwendigen auch die hinreichende Bedingung. Bloße bewußte Denkakte eines göttlichen Wesens, das über keine weiteren psychischen Eigenschaften verfügt als nur das reine Denken, sind keine Basis für die Stiftung einer persönlichen Identität. Der erste Satz, mit dem Locke seine eigene Lehre über den menschlichen Verstand beginnt, setzt mit der Formulierung ein: „Every Man being conscious to himself, That he thinks [...]“ (II, 1, 1). Aber die rein noetische Tätigkeit, der sich auch der Aristotelische Gott hingibt, führt zu keiner persönlichen Identität, wie sie Locke entwickelt. Die Lockesche Theorie wird durch die gesamte Rezeptionsgeschichte nicht nur fälschlich auf das Bewußtsein reduziert, sondern auch auf Grund dieser Unterstellung kritisiert. Dafür sollen später zwei Fälle genannt werden. Korrekt an der rein bewußtseinstheoretischen Konzeption der persönlichen Identität bei Locke ist der Punkt, daß die Identität sich rein mental ausweisen Vgl. Udo Thiel, Lockes Theorie der persönlichen Identität, Bonn 1983, 175–201, und Udo Thiel, Person und persönliche Identität in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Dieter Sturma (Hg.), Person, Paderborn 2001, 79–101, hier 85–88. 6 Thiel, Personal Indentity (wie Anm. 3), 880. 5
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muß und auf keine wie immer geartete substantielle Identität rekurrieren darf; was ich nicht selbst bewußt vergegenwärtigen kann – und dazu gehören materielle oder spirituelle Substanzen –, ist für meine Identitätsgestaltung irrelevant. An die Stelle der Prärogative der Metaphysik oder Kirche tritt jetzt das Subjekt selbst mit seinem privilegierten Selbstbewußtsein, in dem Substanzen nicht vorkommen. In Pflanzen und Tieren stiftet das individuelle Leben die eigentümliche Identität des jeweiligen Organismus; es ist eine Art innerer Handwerker, der mit eigener Kraft und Kunst nicht von außen, wie der menschliche Handwerker bei einer Maschine, sondern „from within“ (II, 27, 331) das Lebewesen organisiert. Locke stellt das menschliche Bewußtsein in eine Linie mit dem physischen Leben als Nachfolge-, aber auch Parallelphänomen im Mentalen. Das die einzelnen psychischen Akte begleitende Bewußtsein verbindet diese „from within“ in einem Pool aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ist dabei jedoch angewiesen auf ein originäres vorgängiges Selbstinteresse des Individuums. Was das Bewußtsein in einem identischen Selbst verbindet, ist von sich aus schon durch ein identisches Selbstinteresse auf diese Einheit hin angelegt.
III. Die Selbstsorge, Lust und Unlust Es gibt zahlreiche Äußerungen bei Locke, die besagen, daß die persönliche Identität unter bestimmten Bedingungen der vorgängigen Selbstqualifikation steht und daß sie keineswegs nur vom Bewußtsein abhängt. Die erste hier zu nennende wesentliche Bedingung der Ausbildung einer persönlichen Identität ist die Sorge (‘concern’, ‘concernment’), die die Person um sich selbst haben muß, um in einer zeitlichen Erstreckung identitätsfähig zu werden. Die Sorge ergibt sich nicht aus dem rein intellektuellen Bewußtseinsbezug, sondern bildet ein davon trennbares Fundament. Das läßt sich vielfältig dokumentieren. In seiner ersten Exposition der „personal identity“ in der Auflage von 1690 wird dargelegt, daß die Seele im Schlafzustand des Individuums, z.B. des Sokrates, bestimmte im Wachzustand nicht erinnerte Zuständlichkeiten hat: Thinking, Enjoyments, and Concerns, its Pleasure or Pain apart, which the Man7 is not conscious of, nor partakes in: It is certain, that Socrates asleep, and Socrates awake, is not the same Person; [...]. Since waking Socrates, has no knowledge of, or Concernment for that Happiness, or Misery of his Soul, which it enjoys alone by it self whilst he sleeps, without perceiving any thing of it. [...] For if we take wholly away all Consciousness of our Actions and Sensations, especially of Pleasure and Pain, and the conDie Identität des „Man“ (nicht des „whole Man“ II, 1, 11) ist die seines Körpers; die Identität ist hierbei durch die auch von außen wahrnehmbare Lebenslinie gewährleistet. 7
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cernment that accompanies it, it will be hard to know wherein to place personal Identity (II, 1, 11).
Man sieht, daß hier die Sorge um sich selbst gleichrangig neben dem Bewußtsein genannt wird. Die Sorge oder das Interesse, das wir an uns nehmen, gibt der persönlichen Identität erst einen existentiellen Gehalt; wir sind in unserem Handeln um uns selbst besorgt und können in der Retrospektive des Bewußtseins auf diese um uns selbst intentional besorgten Ich-Akte zurückgreifen. Die Affizierbarkeit der menschlichen Person durch Lust oder Glück einerseits und Unlust oder Unglück andererseits wurde schon in dem eben zitierten Text der 1. Auflage genannt; wären wir gefühllos, würden wir kein weiteres Interesse an uns nehmen und hätten kein „concernment“ im Hinblick auf uns selbst, und umgekehrt: Die Sorge setzt ein Empfindungsvermögen voraus, sonst wären wir uns gleichgültig. Locke zeigt dies höchst anschaulich: Ohne die mit Lust oder Unlust empfindbare Rückbindung des Denkens, Fühlens und Wollens an mich selbst können diese Akte die Seele durchstreifen „like unregarded shadows“, wie Vorstellungen „in a lazy lethargick Dream“ (II, 7, 3). Sie sind jedoch meine Aktivitäten, durch sie und in ihnen realisiere ich mich selbst im Wachzustand, und ich bin ich selbst nur und ausschließlich in dieser selbsttransparenten, mit Lust und Unlust begleiteten Tätigkeit. Um diese Selbstbefindlichkeit weiß ich als selbstbewußter und selbstbesorgter Mensch. Mein Selbst kann entsprechend nicht in einer Substanz oder einer Zuständlichkeit lokalisiert werden, deren ich mir nicht unmittelbar und unverwechselbar bewußt bin und die nicht eingeschlossen sind in den Bereich meiner Selbstsorge und meines Selbstgefühls von Lust und Schmerz. „Unregarded shadows“ – die Natur hat dafür gesorgt, daß wir uns nicht gleichgültig sind, sondern daß wir unser intensivstes Interesse auf die Zuständlichkeit unseres Selbst konzentrieren. Wesen also, die nicht über die Sorge und Lust oder Unlust und damit Angst und Hoffnung verfügen, sind nicht fähig, eine persönliche Identität auszubilden. Das große Zwangsinstrument, uns für uns selbst zu interessieren, sind nach Locke letztlich Lust und Schmerz; ohne sie bleibt alles Identitätsbewußtsein chimärisch, man kann sich vielleicht als verantwortliche Person konstituieren, aber man kann es auch lassen, wenn es keine gefühlte Notwendigkeit gibt. Deshalb konnten wir einem nur denkenden Wesen, das interesselos sich selbst zum Gegenstand seines Denkens machte, die Bewußtheit nicht absprechen, wohl aber die Fähigkeit, eine persönliche Identität auszubilden. Die Komponente der Selbstsorge, des ‘concern’ oder ‘concernment’, wird in fast allen Darstellungen der Lockeschen Theorie der persönlichen Identität fortgelassen; sie fehlt z.B. bei Walter Jaeschke, der in dem sonst sehr informativen Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie nicht auf die antiken
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Vorlagen und nicht auf das Konzept der Lockeschen Selbstsorge hinweist.8 Auch Udo Thiel geht in seinen zahlreichen Publikationen zum Identitätsproblem nicht auf die Rolle der Selbstsorge ein. Im Kommentar von Etienne Balibar fehlen im Index die genannten Stichworte.9
IV. Die stoische Quelle Das im Gefühl fundierte Selbstinteresse ist eine unabdingbare Voraussetzung für persönliche Identität. Die Konstitution nun verläuft zunächst durch die bewußten Akte der Selbstaneignung früherer Ichbereiche: Locke spricht vom ‘appropriate’, ‘einverleiben’.10 Wer sich einer früheren Handlung als seiner eigenen, von Selbstsorge und mit Lust- oder Unlusterwartungen gesteuerten Tat bewußt wird, eignet sich diese Tat aus t1 in t2 als die eigene an. Eine analoge Aneignung durch einen eigenen Akt der Arbeit und Einverleibung ermöglicht nach Lockes Eigentumstheorie im Second Treatise of Government die rechtliche Überführung von ursprünglichem Gemeinbesitz in den Privatbesitz. Während die Eigentumstheorie die Extension des Ich im Raum darstellt, haben wir es hier mit dem zeitlichen Pendant zu tun; in beiden Fällen wird mit der stoischen ‘oikeiosis’-Lehre die rechtliche Ich-Behauptung auf naturaler Grundlage konstruiert.11 In beiden Fälle wird diese extensionale Ich-Behauptung sorgfältig als physische bzw. psychische Leistung des Subjekts selbst nachgewiesen und dann die rechtliche Konsequenz gezogen. Andere Menschen sollen das natürliche Faktum der Selbst-Erweiterung bzw. Einverleibung als forensische Selbstbehauptung anerkennen. Das durch Arbeit oder Erinnerung Einverleibte hat denselben Status wie die Rechtsperson selbst, ist also wie ein integrierter Teil dieser präsenten Person anzuerkennen.
Vgl. Walter Jaeschke, Selbstbewußtsein. Neuzeit, in: Joachim Ritter, Karlfriedrich Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel 1995, 352–371. 9 John Locke, Identité et différence, hg. von Etienne Balibar, Paris 1998, 183–261. Der Untertitel „L’invention de la conscience“ ist wohl einer durch Foucault angeregten Mode geschuldet, denn daß die Antike das Phänomen des Gewissens und des Bewußtseins kannte, ist ein Faktum, das man nur als Narr oder Genie bezweifeln kann. Im sonst nützlichen Glossar fehlen Einträge zu den entscheidenden Begriffen ‘forensick’, ‘law’, ‘right’ und ‘justice’. Zum Gesamttitel der Ausgabe „Identité et différence“: Die französische Übersetzung von Pierre Coste (1705) übersetzt den Titel von Locke „Identity and Diversity“ korrekt mit „Identité et diversité“. 10 Vgl. dazu und zum Folgenden ausführlich Brandt, Selbstbewußtsein und Selbstsorge (wie Anm. 1). 11 Zur stoischen Theorie der persönlichen Identität vgl. auch George B. Kerferd, The Search for Personal Identity in Stoic Thought, in: Bulletin of the John Rylands University Library of Manchester 55 (1972), 177–196. 8
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Bündeln wir die bisher getrennten Elemente, so können wir feststellen, daß sie zum größten Teil der stoischen ‘oikeiosis’-Lehre entstammen. Ich zitiere nur folgenden Text, in dem die stoische Vorstellung der Selbstheit angedeutet wird. Es ist die bekannte Paraphrase der stoischen ‘oikeiosis’-Lehre von Diogenes Laertius: Der erste Trieb, so sagen sie, der sich in einem lebenden Wesen regt, sei der der Selbsterhaltung; die Natur eigne es sich selbst von Anbeginn an zu, wie Chrysipp im ersten Buch ‘Über die Endziele’ sagt mit den Worten: für jedes lebende Wesen sei seine erste ihm von selbst zugewiesene Angelegenheit sein eigenes Bestehen sowie das Bewußtsein [syneidesin] davon. Denn es war doch nicht zu erwarten, daß die Natur das lebende Wesen sich selbst entfremde, oder auch, daß sie, nachdem sie das Geschöpf einmal hervorgebracht, sich weder die Selbstentfremdung noch die Selbstbefreundung habe angelegen sein lassen. Es bleibt also nur übrig zu sagen, daß sie es nach vollzogener Schöpfung mit sich selbst befreundet habe. Denn so wehrt es alles Schädliche ab und verschafft allem, was seiner Eigenart dienlich ist, freien Zutritt. Wenn aber einige [sc. die Epikureer] behaupten, die Lust sei der erste Trieb für die lebenden Wesen, so weisen sie [sc. die Stoiker] dies als falsch nach.12 Denn wenn es überhaupt eine Lust gibt, so sei sie, sagen sie, nur eine Folgeerscheinung, die dann eintritt, wenn die Natur nach Aufsuchen des ihr Gemäßen in den Besitz des für ihren Bestand Erwünschten gekommen sei. Das ist, was den lebenden Wesen die heitere Stimmung und den Pflanzen das fröhliche Wachstum bringt. [...] Da aber den Vernünftigen die Vernunft zu vollkommener Führung verliehen sei, so sei das vernunftgemäße Leben die richtige Entwicklung des naturgemäßen Lebens; denn die Vernunft wird zur eigentlichen Bildnerin des Triebes.13
Ein weiterer wichtiger Referenztext der Sorgestruktur des menschlichen Daseins ist Senecas Brief 121 der Epistulae morales ad Lucilium. Der Mensch habe ein Selbstbewußtsein, „constitutionis suae sensum“, nicht in expliziter Erkenntnis, sondern als unmittelbares Bewußtsein, und verfüge bei allem Lebenswechsel über Selbstidentität, „ego tamen idem sum“. Die Selbstsorge begleite seine Existenz: „Primum sibi ipsum conciliatur animal; debet enim aliquid esse, ad quod alia referantur. Voluptatem peto, cui? Mihi: ergo mei curam
Bei Diogenes Laertius, Leben und Meinungen VII, 202, wird der Titel der Schrift von Chrysipp angeführt: „Beweise zu dem Satz, daß die Lust nicht Endziel sei“ (zit. nach: Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, hg. von Hans Günter Zekl, Hamburg 1967). 13 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen VII, 85 f. Vgl. Julia Annas, The Morality of Happiness, Oxford u.a. 1993, 263 ff. Für ihre Auffassung: „[...] it is illegitimate to contrast primitive instinctual self-concern with rationally developed impartial concern for others“ (271) fehlt m.E. die Textgrundlage; eine überzeugende Analyse liefert dagegen Gisela Striker, The Role of oikeiosis in Stoic Ethics, in: Julia Annas (Hg.), Oxford Studies in Ancient Philosophy I, Oxford 1983, 145–167. – Eine einschlägige Textsammlung findet sich bei Hans von Arnim (Hg.), Stoicorum Veterum Fragmenta, 4 Bde., Leipzig 1903-1905 (Nachdruck Stuttgart 1964), Bd. 3, 43–45 (Fragmente 178–189). 12
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ago. Si omnia propter curam mei facio, ante omnia est cura mei“.14 In diesem vorgängigen Selbstbewußtsein und der Selbstsorge sind die einzelnen Lebensakte fundiert. Es gibt jedoch eine tiefgreifende Änderung der stoischen Vorlage. Es wurde schon angedeutet, daß Locke ‘pleasure and pain’ nicht mehr normativ an die gesunde Selbstbefindlichkeit des fühlenden Wesens anbindet, sondern es offen läßt, woher das Selbstgefühl mit seiner Lust und Unlust sich rekrutiert. Das bedeutet aber, daß Locke nicht mehr polemisch gegen die epikureische LustAkkumulations-Theorie argumentieren kann, im Gegenteil: Er importiert den Epikureismus in die Selbstkonstitution des denkenden, fühlenden und sich sorgenden Ich. Ich bin nicht mehr wie in der Stoa primär um das Echogefühl meiner gesunden Selbstbefindlichkeit besorgt, sondern kümmere mich um ‘pain and pleasure’ als solche, woher sie auch kommen. Die mentale Selbstanalyse führt dazu, daß die Lust als faktisches Lebensziel fungiert und die drohende Unlust mich zu Vermeidungsstrategien nötigt, ob diese Unlust mich jetzt vor meiner Haustür erwartet oder, nach glaubwürdigen Autoritäten, in der Hölle des Jüngsten Gerichts mit der Lockung und Drohung von „infinite pain and pleasure“ (II, 21, 36–39).15 V. Das Gericht Jetzt fehlt noch ein Element, das spezifisch christlich und neuzeitlich ist und seinerseits erst die Etablierung von persönlicher Identität bei Locke ermöglicht. Dieses Theoriestück ist das mit Straf- oder Lohnandrohung begleitete staatliche oder auch göttliche Gesetz mit einer gerichtlichen Instanz: Ohne ein konstantes Gesetz, das für die Handlungen der sich konstituierenden Person Folgen in Form von Lohn und Strafe androht und nach einem Gerichtsurteil auch wirklich vollzieht, kommt das Ich nicht zustande. Erst auf Grund dieser Komponente kann Locke vom Begriff der persönlichen Identität sagen, es handle sich um einen „Forensick Term appropriating Actions and their Merit; and so belongs to intelligent Agents capable of a Law, and Happiness and Misery“ (II, 27, 26). Zur Konstitution persönlicher Identität reichen also weder das rein kognitive Selbstbewußtsein noch die Sorge um das affektiv besetzte Selbst hin. Ohne die Einbettung in eine konstante, die Einzelperson übergreifende Gesetzlichkeit gibt es keine persönliche Identität. „In this personal Identity is founded all the Right and Justice of Reward or Punishment; Happiness and Misery, being that, Ad Lucilium epistulae morales 121, 9–17 (zit. nach: Lucius Annaeus Seneca, Ad Lucilium epistulae morales, Bd. 2, hg. von Leighton D. Reynolds, Oxford 1965). 15 Es ist wohl auszuschließen, daß der Mythos eines Totengerichts, der sich noch bei Platon findet (vgl. Politeia 613e-621d und Gorgias 523a-527e), einen Einfluß auf Locke hatte. 14
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for which every one is concerned for himself, not mattering what becomes of any Substance, not joined to, or affected with that consciousness“ (II, 27, 18). Wenn der Mensch zwar affektive Zustände hat und sich um sich selbst sorgt, sich für sich selbst und seinen affektiven Zustand interessiert, dann ist also des weiteren zur Ausbildung einer persönlichen Identität die Beziehung auf eine Gesetzgebung nötig, die Handlungen befiehlt, erlaubt oder verbietet und mit der Ausführung Lohn und Strafe, also ‘pain and pleasure’ verbindet. Fehlt eine derartige Gesetzgebung oder wechselt sie, so daß das heute Verbotene morgen belohnt, das heute Erlaubte oder Gebotene morgen verboten wird, kann ich mein Handeln nicht mit einem konstant zu erwartenden Affektzustand verbinden und keine Identität der Person mit einer konstanten Einheit der Erkenntnis, des Fühlens und des Wollens ausbilden. Es gibt keine Person und persönliche Identität ohne Gesetz und Gericht, das ist die These, die ganz im Einklang mit dem Second Treatise of Government steht. Dort untersteht der Mensch als Person im Naturzustand ausschließlich dem Naturgesetz und der göttlichen Gerichtsbarkeit, im Zivilzustand dagegen zusätzlich der staatlichen Gesetzgebung und Justiz, während der Essay analog mit den irdischen und den göttlichen Gesetzen und ihrer jeweiligen Gerichtsbarkeit rechnet. Diese der Person jeweils übergeordnete Gerichtsbarkeit ist also eine Bedingung ihrer Identitätsbildung und kohärenten Verantwortbarkeit ihrer Handlungen. Negativ formuliert: Wenn der Mensch unter rein naturalen Bedingungen für sein Glück sorgt, dann bleibt er ein in sich zerrissenes, den jeweiligen Augenblickserwartungen unterworfenes Naturwesen, dem es verwehrt ist, den Sprung vom biologischen Menschen zur sittlichen Person zu tun.16 Erst die komplexe Konstellation also von Bewußtsein, Selbstsorge mit Lust und Unlust, der Gesetzlichkeit und einer Gerichtsbarkeit ergibt die Möglichkeit und die Wirklichkeit einer sich mit sich selbst identifizierenden und also sich selbst konstituierenden verantwortlichen Person. Lockes endgültige Formulierung findet sich in folgender Passage: Person, as I take it, is the name for this self. Where-ever a Man finds, what he calls himself, there I think another may say is the same Person. It is a Forensick Term appropriating Actions and their Merit; and so belongs to intelligent Agents capable of a Law, and Happiness and Misery. This personality extends it self beyond present Existence to what is past, only by consciousness, whereby it comes concerned and accountable, owns and imputes to it self past Actions, just upon the same ground, and for the same 16 Auch hier kann Locke noch auf eine stoische Tradition der Zwei-Reiche-Lehre mit ihren zwei Gesetzesformen zurückgreifen. „Duas res publicas animo complectamur, alteram magnam et vere publicam, qua dii atque homines continentur, in qua non ad hunc angulum respicimus aut ad illum sed terminos civitatis nostrae cum sole metimur, alteram cui nos adscripsit condicio nascendi [...]“ (Seneca, De otio 4, zit. nach: Lucius Annaeus Seneca, Dialogorum Libri Duodecim, Oxford 1988, 200 f.).
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reason, that it does the present. All which is founded in a concern for Happiness the unavoidable concomitant of consciousness, that which is conscious of Pleasure and Pain, desiring, that that self, that is conscious, should be happy. And therefore whatever past Actions it cannot reconcile or appropriate to that present self by consciousness, it can be no more concerned in [...] (II, 27, 26).
Der letzte Satz zielt auf die biblische Erbsündenlehre; wir können, so die These von Locke, keine Sünden anderer Personen erben, sondern müssen sie selbst begehen. Wir jetzigen Menschen können nicht verantwortlich sein für Handlungen Adams und Evas, deren wir uns nicht als unserer Handlungen erinnern können. Die persönliche Identität, die als ‘Forensick Term’ charakterisiert wird, erstreckt sich nur auf die identische Person, die sich ihre eigenen Taten, aber keine eindeutig fremden, nämlich die unserer Urahnen, zuschreiben kann. Mit dieser These ist der christliche Erlösungsgedanke sozinianisch gekappt: Es gibt für uns keine Erbsünde, und Christus braucht uns entsprechend von dieser Sünde, die wir uns nicht zuschreiben können, nicht zu erlösen. In der politischen Philosophie steht an der entsprechenden Stelle der Abweis der für uns irrwitzigen Theorie von Robert Filmer, der die Herrschaftsansprüche der heutigen Regenten auf angestammte Rechte aus dem Alten Testament zurückführen will. Mit Locke stellt sich die neuzeitliche Aufklärung mit einem geradezu trivialen Argument gegen eine Deformation des menschlichen Selbst- und Schuldbewußtseins durch den christlichen Erlösungsglauben und -mythos. Um dieses negative Ziel des Ausschlusses von Fremdem aus meiner eigenen Person zu erreichen, genügt die These, daß sich meine eigene Identität nicht auf das erstreckt, dessen ich mir auf keine Weise als meiner selbst bewußt werden kann. Aber im Vordergrund steht die irdische Gerichtsbarkeit. Man beachte schon bei der näheren Bestimmung des Personbegriffs die Trennung des Selbstbewußtseins und der Außenbeurteilung, es hieß: „Where-ever a Man finds, what he calls himself, there I think another may say is the same Person“. „Another“: Das ist nicht Gott, sondern ein anderer Mensch. Das Selbst soll, wie wir anfangs erfuhren, „capable of a Law“ sein. Was bedeutet das gegenüber der normfreien Selbstanalyse als eines sich um sich selbst und sein Glück bewußt sorgenden Lebewesens? Es ist sicher dieses: Lust und Unlust begleiten die eigenen Handlungen und Unterlassungen nicht nur in Form natürlicher Wirkungen, sondern auch in Form der Erwartung von Lohn und Strafe, die mit den gesetzlichen Normen verbunden sind. In der ersten Ebene wird das unkluge Verhalten unmittelbar durch natürliche Sanktionen belegt; ernähre ich mich falsch, trage ich selbst den Schaden davon. In der zweiten Ebene muß ich in Kenntnis des Gesetzes antizipieren, wie es um meinen affektiven Zustand bestellt sein wird, wenn mich die im Gesetz angekündigte Strafe (oder der Lohn) ereilt. Zur naturalen Lust-Unlust-Verteilung: „As to my
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self, I think GOD has given me assurance enough of the Existence of Things without me: since by their different application, I can produce in my self both Pleasure and Pain, which is one great Concernment of my present state“ (IV, 11, 3). Der Realitätsbeweis der Außenwelt wird also über die Sorge um meinen Lust-Unlust-Pegel in Abhängigkeit von etwas, was ich nicht selbst bin, geführt! Zur gesetzesabhängigen Glückssorge heißt es z.B. bei der Erörterung unserer Gotteserkenntnis: „Nor can we justly complain of our Ignorance in this great Point, since he has so plentifully provided us with the means to discover, and know him, so far as it is necessary to the end of our Being, and the great concernment of our Happiness“ (IV, 10, 1). Wir können, so meint Locke, problemlos die von Gott erlassenen Gesetze erkennen und unser Verhalten auf kluge Weise so einrichten, daß wir auch im Jenseits mit einem maximalen Lustgewinn rechnen können. Aber dasselbe gilt für die Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft; auch sie verkünden die mit ihnen verbundenen künstlichen Sanktionen von ‘pain and pleasure’ und ermöglichen es, die Folgen meines Handelns nicht auf der naturalen und religiösen, sondern der durch Konventionen geschaffenen Ebene zu antizipieren und entsprechend mit Lust-Schmerz-Kalkül zu handeln. Robinson hat es nur mit den Gesetzen der ersten und zweiten Art zu tun, der normale Bürger eines Staats darüber hinaus mit den positiven Gesetzen des jeweiligen Landes und mit den Regeln der öffentlichen Meinung. Für den Menschen, nicht den Bürger, ist die Erwartung des Jüngsten Gerichts essentiell und identitätsbildend; für Locke ist die moralische Sicherung der Bürger als Menschen so wichtig, daß er die Atheisten aus dem Toleranzbereich des Staats ausschließt.17 Die Lockesche Theorie der persönlichen Identität setzt sich also aus vielen Komponenten zusammen und ist ohne die Berücksichtigung ihrer Beziehung zur Stoa und zum Epikureismus und ohne Einbeziehung ihrer juridischen Dimension nicht zu begreifen. Das reine Bewußtsein ist eine Falle, die einen einfachen Zugang verspricht und im Debakel endet. Wir haben es einerseits mit einer affektiv besetzten Selbstbeziehung zu tun, andererseits ist das Ich mit seiner persönlichen Identität als Mensch und Bürger integriert in eine doppelte Gesetzgebung. Diese göttliche und staatliche Gesetzgebung kann sich in der Lockeschen Moral- und Rechtstheorie nicht mehr mit einem bloßen äußerlichen Subsumtionsakt von Handlungen unter ein Gesetz begnügen, sondern hat es mit einer Person zu tun, die sich selbst „from within“ dazu qualifiziert, verurteilt oder freigesprochen zu werden. Die Ausbildung von persönlicher Identität ist also nur möglich in einem institutionell gefaßten Raum der Öffentlichkeit. Hiervon hat die Rezeptionsgeschichte bislang John Locke, Ein Brief über Toleranz, hg. von Julius Ebbinghaus, Hamburg 1966, LXIILXIII, 94–96. 17
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abgelenkt, sofern sie sich nur auf das Denkbewußtsein kaprizierte. Dadurch wurde ausgeblendet, daß die Theorie der persönlichen Identität eine politische Dimension hat: Der Mensch bestimmt sich selbst in seiner Identität und läßt sich nicht durch Metaphysiker im Dienst von Thron und Altar dekretieren, wer er ist, ohne es selbst zu wissen. Es folgen jetzt drei Nachträge.
VI. Sind Tiere nicht um sich selbst besorgt? Die für die Realisierung der Selbstidentität essentielle Selbstsorge entnimmt Locke der stoischen Tradition, in der unter dem Stichwort der ‘cura’ eben diese unabdingbare Komponente verhandelt wird. Aber dort heißt es nicht, der Mensch, sondern jedes Lebewesen sei um sich selbst besorgt, es nehme an sich selbst durch seine eigene Natur ein Interesse.18 Diese Sorge um sich kann sich auf zwei Ebenen unseres Daseins beziehen, die naturale und die rein seelische. In der naturalen Ebene teilen wir bei den Stoikern die Selbstsorge um unser leibliches Wohlergehen und Glück mit den Tieren, können sie jedoch auch auf nur menschliche Bereiche, etwa der Sorge um den Seelenfrieden, erweitern. Die erweiterte Sorge um unser menschliches Selbst betrifft auch unser Nachleben nach dem Tod, so weit es von den Stoikern eingeräumt wird. Nun fällt bei Locke auf, daß das ‘concern’ nur bei Personen konstatiert wird, nicht aber bei Tieren. Und wir stellen mit Erstaunen fest, daß die Identität des Menschen als eines nur biologischen Lebewesens dieselbe Kontinuität des Lebens ist, über die auch eine Eiche verfügt. An ihr exemplifiziert Locke ausführlich die identitätsstiftende Organisation, zu der Lebewesen über die Anhäufung von Materie hinaus in der Lage sind (II, 27, 3–4). „The Case is not so much different in Brutes“, das ist die einzige Bemerkung, die den Tieren gewidmet ist (II, 27, 5). Aber verfügen nicht Tiere über eine Selbstsorge, die von der bloßen Organisationskraft der Pflanzen unterschieden ist? Fühlen sie nicht Lust und Schmerz wie der Mensch? Locke scheint ein gewissermaßen strategisches Interesse daran zu haben, die Tiere aus seiner Theorie auszuschließen. Über den Grund kann man nur Vermutungen anstellen wie etwa die folgende, die auf die Spur des Cartesianismus führt. Descartes gewann in den Meditationen den archimedischen Punkt einer gewissen Erkenntnis durch die These, daß der Zweifel selbst zweifelsimmun ist; er verschlingt sich nicht, sondern setzt sich als ein „fundamentum inconcussum“ voraus. Der Zweifel aber ist ein Akt der „cogitatio“, die bei einer näheren Introspektion noch folgende Kompetenzen unter sich begreift: „Sed quid igitur 18
Vgl. dazu ausführlich Brandt, Selbstbewußtsein und Selbstsorge (wie Anm. 1).
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sum? Res cogitans. Quid est hoc? Nempe dubitans, intelligens, affirmans, negans, volens, nolens, imaginans quoque, et sentiens“.19 Die Einbildungskraft und das Gefühl sind somit Domänen des Denkens und können den Tieren, die über keine Denkfähigkeit verfügen, nicht mehr zukommen; Tiere unterscheiden sich damit so wenig wie die Pflanzen von komplizierten Maschinen. Hier schreitet Locke ein, indem er den Pflanzen und in deren Gefolge auch den Tieren ein inneres Lebens- und Organisationsprinzip zuspricht; aber so wenig wie Descartes untersucht er die psychischen Kompetenzen der Tiere für sich. Ohne viel Federlesen wird ihnen das Bewußtsein und Selbstbewußtsein abgesprochen, auf der simplen Grundlage ihrer erwiesenen Unfähigkeit zu denken. Die positive Lehre des Essay setzte mit der Feststellung ein: „Every Man being conscious to himself, That he thinks [...].“ Damit wird faktisch wie bei Descartes das Bewußtsein für den Menschen reserviert und wird nicht den bloßen Perzeptionen zugebilligt, zu denen die Tiere im Unterschied zu den Pflanzen fähig sind (II, 9, 11–15). So verhindert die Bewußtseinskomponente in der persönlichen Identität, daß die Selbstsorge zunächst nach stoischem Vorbild auch auf das animalische Leben allgemein bezogen wird und dann erst eine nähere Bestimmung beim einzigen denkfähigen Lebewesen, dem Menschen, erfährt. Wenn Locke annimmt, daß die Gefühle von Lust und Schmerz selbstredend nur als bewußte möglich sind und er diese Gefühle auch Tieren zusprechen muß, dann muß er ihnen auch eine niedere Form von Selbstsein „from within“ gewähren. VII. Kritik Leibniz wirft John Locke vor, er setze eine substantielle Identität voraus, wenn er sich ihrer bewußt werden könne; also sei sein Versuch, die Identität ohne Rekurs auf eine Seelensubstanz zu begründen, gescheitert.20 Leibniz nimmt innerhalb des Kommentars der Nouveaux Essais an der Selbstkonstitution eines identitätsfähigen Wesens und an der Einblendung des „capable of a Law“ in die Selbstkonstitution der Person kein Interesse. Um die grundsätzliche Blickrichtung zu verstehen, aus der das Desinteresse resultiert, muß sich der Leser vergegenwärtigen, daß Locke und Leibniz von diametral entgegengesetzten Punkten ausgehen. Lockes Essay ist ein Traktat des Selbstbewußtseins; er will dieses Bewußtsein aus der Binnenperspektive der Person begreifen, das Selbst aus dem Selbst, und er läßt sich den Menschen und Bürger aus eigenen Kräften Descartes, Meditationes (wie Anm. 2), Bd. 7, 28. Gottfried Wilhelm Leibniz, Nouveaux Essais II, 27, 9 ff. (zit. nach: Gottfried Wilhelm Leibniz, Die philosophischen Schriften, Bd. 5, hg, von Carl I. Gerhardt, Berlin 1882 (Nachdruck Hildesheim 1965). 19 20
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rekrutieren. Locke ist Republikaner, und er ist ein zu gründlicher Philosoph, um diesen politisch-rechtlichen Republikanismus nicht in einem so zentralen Punkt wie dem der persönlichen Identität zu artikulieren. Leibniz ist dagegen Absolutist; er hat umgekehrt sogleich das schon fertige System im ganzen vor Augen, in dem wir nach dem on-dit dieses Systems irgendwo lokalisiert sind, ohne daß wir es vor und außerhalb der Leibnizschen Philosophie wußten. Locke kann gegen Leibniz einwenden, er selbst, John Locke, oder auch sein Diener und sein Schneider, kämen im System nicht vor (wie Kierkegaard gegen Hegel sagen wird) und damit sei es widerlegt. Leibniz wirft Locke umgekehrt vor, er könne den Wahrheitsanspruch seiner Schrift mit den Mitteln, die er offeriere, nicht rechtfertigen; er verbleibe immer nur in den „vérités de fait“, aber damit lasse sich keine Philosophie der notwendigen Wahrheit begründen. Locke und Leibniz können einander vorwerfen, sie verstünden sich selbst nicht und a fortiori auch nicht die Gegenposition. Das System besagt, daß Lockes „Every man [...]“ (II, 1, 1) eine substanzielle Einheit in der unendlichen Vielfalt der monadologischen Substanzen sei; jede Substanz sei dadurch individuiert, daß sie das Ganze aus einer bestimmten Perspektive wahrnehme. Während nun dieser philosophische Gedanke selbst allgemeiner und objektiver Natur sei, sei die positionierte Individualwahrnehmung privater Natur und an die Erscheinungsform von Raum und Zeit gebunden. Während Lockes Selbstbewußtsein sich selbst als irrtumsimmun annimmt, also als letzte und höchste souveräne Wahrheitsinstanz, spricht Leibniz ihm nur einen niederen Grad von Gewißheit und Erkenntnis zu. Ich kann mich, so Leibniz implizit, selbst im Selbstbewußtsein täuschen; andere Personen wissen u.U. mehr über mein früheres Tun und Lassen als ich selbst. Der Fels, auf dem Locke sein home und sein castle erbaut, ist Treibsand, denn über die Festigkeit des Platzes entscheidet nach Leibniz nicht das illusionsanfällige Selbstgefühl, sondern der metaphysische Fachmann. Die Metaphysik hat ihre Erkenntnis apriori und weiß um die objektive Natur der Dinge, ihre „connaissance“ ist „physique et reelle“; das Selbstwissen dagegen ist „apparente et morale“.21 Das Wort ‘moralisch’ hat wie das Wort ‘conscience’ eine epistemische und eine praktische Bedeutung, im letzteren Fall: ‘Bewußtsein’ und ‘Gewissen’. Die zweite Kritikform setzt nicht beim Mangel der vorgängigen Substantialität des Ich an, auf die sich das Ich erkennend zu beziehen habe, sondern bei einem Mangel in der Identitätsrelation, der Beziehung des Bewußtseins auf vergangene Akte des Selbst. Ein besonders schönes Beispiel ist der Fall eines Menschen, der sich in t3 einer bestimmten Tat im Zeitpunkt t2 erinnern kann und so die persönliche Identität bis t2 konstituiert; in t2 jedoch konnte sich die Person an bestimmte Ereignisse der Kindheit in t1 erinnern, die der Person in t3 21
Ebd., 27, 9.
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nicht mehr bewußt sind – gehören sie zur identischen Person oder nicht?22 Diese letztere Frage läßt sich m. E. innerhalb der Lockeschen Theorie nicht beantworten.
VIII. David Hume und Immanuel Kant als Nachfolger Lockes David Hume, neben Kant der wichtigste Locke-Erbe, bestreitet in Buch I seines Treatise of Human Nature (1739) das Gegebensein eines ‘Ich’ im bloß epistemischen Bewußtsein: For my part, when I enter most intimately into what I call myself, I always stumble on some particular perception or other, of heat or cold, light or shade, love or hatred, pain or pleasure. I never catch myself at any time without a perception, and never can observe any thing but the perception. When my perceptions are remov’d for any time, as by sound sleep; so long am I insensible of myself, and may truly be said not to exist. […] I may venture to affirm of the rest of mankind, that they are nothing but a bundle or collection of different perceptions, which succeed each other with an inconceivable rapidity, and are in a perpetual flux and movement.23
Und dann folgt die Rettung des Ich: „[...] we must distinguish betwixt personal identity, as it regards our thought or imagination, and as it regards our passions or the concern we take in ourselves“.24 Wenn unsere Analyse zutrifft, kann Locke insgesamt mit Hume übereinstimmen, denn das pure Bewußtsein hat kein stabiles Objekt, auf das es sich beziehen könnte, sondern bliebe auch bei Locke ein bloßes „bundle of perceptions“. Hume setzt, durch Locke besser als die meisten späteren Interpreten belehrt, das Ich- und Identitätsbewußtsein in Buch II und III des Treatise wieder in Geltung. Jetzt werden die Affekte und der Wille behandelt, und diese haben im Ich den konstanten Punkt der Referenz. Das Gefühl des Stolzes und der Demut, der Liebe und des Hasses sind so selbstbezogen und ich-verankert wie mein Wille; sie entspringen der Sorge um mein Wohlergehen und den Affekten von Lust und Schmerz, dieses Selbst aber, entblößt von unseren „passions or the concern“, entzieht sich jeder Erkennbarkeit, weil es für sich nicht existent ist.
Zu diesem von George Berkeley und Thomas Reid entwickelten Problem vgl. Antony Flew, Locke and the Problem of Personal Identity, in: Charles B. Martin, David M. Armstrong (Hg.), Locke and Berkeley, London, Melbourne o. J., 155–178, hier 161 f., und Henry E. Allison, Locke’s Theory of Personal Identity: A Re-Examination, in: Ian C. Tipton (Hg.), Locke on human Understanding. Selected Essays, Oxford 1977, 105–122, hier 117 f. 23 David Hume, A Treatise of Human Nature I, 4, 6 (zit. nach: David Hume, A Treatise of Human Nature, hg. von Lewis A. Selby-Bigge, Oxford 1896). 24 Ebd., 253. 22
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Bei Kant erfahren wir wenig über den Problembereich ‘persönliche Identität’; es gibt nur hin und wieder Verweise auf diesen Komplex, jedoch kein gesondertes Kapitel oder gar eine eigenständige Publikation. Ich will eine Unterscheidung aus der Spätzeit aufgreifen, weil sie Licht auf die Intention von Locke wirft. Kant unterscheidet zwischen psychologischer und eigentlich persönlicher Identität. In der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ heißt es: Person ist dasjenige Subject, dessen Handlung einer Zurechnung fähig ist. Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen (die psychologische aber bloß das Vermögen, sich der Identität seiner selbst in den verschiedenen Zuständen seines Daseins bewußt zu werden) [...].25
Die psychologische Identität kommt den Menschen (und vielleicht irgendwelchen Dämonen wie den fiktiven Teufeln aus dem Ewigen Frieden26) als vernünftigen Wesen zu; die moralische betrifft sie als Vernunftwesen, denn nur die letzteren sind zurechnungsfähig.27 Für Kant ist es essentiell, daß es zwischen vernünftigen Wesen mit einer nach neuerer Diktion nur technischen, instrumentellen Vernunft und dem moralischen Vernunftwesen keinen Übergang gibt. Eben dies ist jedoch Lockes Meinung, dessen Philosophie Kant verschiedentlich als inkonsequent bezeichnet und dabei besonders an die empiristisch gewonnene Theologie gedacht hat;28 er würde jedoch in der Konzeption der persönlichen Identität denselben Mangel monieren, daß Locke empirischpsychologisch mit dem Phänomen des Selbstbewußtseins und der nur psychologischen Identität anhebt und dann hinübergleitet zum Soll der Moralität, für die der Mensch als Vernunftwesen verantwortlich ist. Kant könnte gegen Locke einwenden, daß dieser zwar von der persönlichen Identität als einem forensischen Begriff spreche, aber nicht zeige (und nicht zeigen könne), woher die verpflichtende Kraft des Gesetzes komme – warum soll ich mich ihm unterwerfen? Hier ist Locke noch theologischer und vielleicht auch politischer Absolutist, sein Mensch und Bürger kennt keine Autonomie im Kantischen Sinn, sondern richtet sein Handeln letztlich nach Lustgewinn und Schmerzvermeidung. Die theologiefreie Begründung der Moralität bei Kant führt zu einer anImmanuel Kant, Gesammelte Schriften (Akademieausgabe), Berlin 1900 ff., Bd. 6, 223. Diese Bestimmung des Personbegriffs ist Kant in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1781 (vgl. A 361–366) noch fremd. 26 Ebd., Bd. 8, 366. 27 Ebd., Bd. 6, 26 und 418. Die Dreiteilung von Tier, vernünftigem und Vernunftwesen ist deckungsgleich mit der Dreiteilung von möglichen Freundschaften bei Aristoteles (die der Lust, des Nutzens und des Guten an sich), siehe Aristoteles, Nikomachische Ethik VIII 3. Kant schließt sich also einer längeren Tradition an, ohne daß dies unmittelbar aus dem Text sichtbar wird. 28 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft A 854 f., in: Kant, Gesammelte Schriften (wie Anm. 25), Bd. 4, 551 f. 25
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deren Beurteilung der Toleranzfrage, als wir sie bei Locke fanden: „Ein Fürst, der es seiner nicht unwürdig findet, zu sagen, daß er es für Pflicht halte, in Religionsdingen den Menschen nichts vorzuschreiben, sondern ihnen darin volle Freiheit zu lassen, der also selbst den hochmüthigen Namen der Toleranz von sich ablehnt, ist selbst aufgeklärt […]“.29 Locke dagegen gelangte auf Grund seiner sensualistischen und theonomen Moral zu der Konsequenz: „Those are not at all to be tolerated who deny the being of God“.30 Die Identität der menschlichen Person beruht nach Locke weder auf einer identischen Substanz, einer res cogitans, noch ist sie das Ergebnis eines bloßen Ichbewußtseins oder Ichgedankens, in dem ich mich mit meinen früheren Zuständen identifiziere. Die persönliche Identität ist ein forensischer Begriff, der durch verschiedene Komponenten zustande kommt. Grundlegend ist die Sorge um mich selbst, die mich zum Handeln bestimmt; ohne dieses affektive Selbstinteresse wäre ich mir gleichgültig, ich würde in unverbundene Fragmente zerfallen. Sodann muß ich mein ich-interessiertes Handeln nach konstanten Gesetzen richten, die Lohn und Strafe verheißen. Diese Gesetze können staatlicher Natur sein, aber sie sind auch immer die göttlichen Gesetze der Menschheitsgesellschaft, als deren Bürger ich als identische selbstbewußte Person ermöglicht werde. The identity of human person in Locke’s philosophy is not founded on an substantive identity, a res cogitans, nor is it the product of mere consciousness or thought, by which I appropriate the previous states of my being. Personal identity is a forensic term, which is realized by different factors. One is the concern I have for myself, which determines me to act; without this emotional self-interest I should be indifferent to myself and disintegrate into fragments. Furthermore, my selfinterested actions must be guided by constant laws which promise reward and punishment. These laws can be the laws of civil society, but also and always the divine laws of human society in general, which enable me to become a citizen of the world and an identical self-conscious person. Prof. Dr. Reinhard Brandt, Augustinergasse 2, 35037 Marburg, E-Mail: [email protected]
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Kant, Gesammelte Schriften (wie Anm. 25), Bd. 8, 40. Locke, Ein Brief über Toleranz (wie Anm. 17), 94.
R OLF W. P U ST E R Eine Klippe für die Selbsttransparenz des Bewußtseins? Zu Lockes Begriff der Erinnerung
I. Erinnerung – ein Stiefkind der Epistemologie Die Erinnerung bzw. das Gedächtnis erfreut sich nicht in demselben Maße philosophischer, insonderheit: epistemologischer, Aufmerksamkeit, wie sie von alters her der Sinneswahrnehmung und neuerdings den Gefühlen geschenkt wird. Zwar betritt das Erinnerungsphänomen unter dem Namen anamnêsis bei Platon mit einem metaphysischen Paukenschlag die philosophische Bühne, kann sich als memoria bei Augustinus als begrifflicher Protagonist profilieren und spornt den von Descartes bewiesenen Gott zu besonderen, gewißheitsverbürgenden Leistungen an – doch trotz solch gelegentlichen Stehens im Rampenlicht der Philosophiegeschichte wird dem Gedächtnis in systematischen Diskussionen wie in historischen Untersuchungen oft nur eine Statistenrolle zugewiesen. Der sachlogische Hauptgrund für diese Unterprivilegierung liegt sicherlich zum Teil darin, daß nach der üblichen Sicht die Erinnerung immer erst dann ins Spiel kommt, wenn epistemologisch basalere Erkenntnisvermögen den Stoff, aus dem Wissen gemacht wird, schon anderweitig akquiriert haben – die kühne Inversion dieses Gedankens durch Platon hat den vorherrschenden Eindruck vom erkenntnistheoretisch sekundären Charakter der Erinnerung nicht nachhaltig behindern können. Dessen ungeachtet sind jüngere Untersuchungen des Erinnerungsbegriffs, namentlich solche, die ihn in belangvolle Weise zum Wissensbegriff ins Verhältnis setzen, nicht nur systematisch reizvoll, sondern auch historisch anregend:1 Sie geben ein Analyseinstrumentarium an die Hand, mit dessen Hilfe klassische Texte sachlich gezielter auf ihr Problem- und Problemlösungspotential hin befragt werden können, als es eine ausschließlich an den doxographischen Hauptlinien orientierte Lektüre vermöchte.
1
Vgl. z.B. Mark Siebel, Erinnerung, Wahrnehmung, Wissen, Paderborn 2000.
Aufklärung 18 · © Felix Meiner Verlag 2006 · ISSN 0178-7128
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Der Essay concerning human understanding gibt an mehr als einer Stelle Anlaß, sich mit dem Erinnerungsbegriff zu beschäftigen. In vorliegendem Beitrag kann und soll es nicht darum gehen, Lockes entsprechende Einlassungen vollständig zu sichten; zu vielgestaltig sind hierfür die Themenkreise, für welche Gedächtnisleistungen des Geistes von Belang sind (allein schon deren Relevanz für das Problem der personalen Identität zu diskutieren, würde einen eigenen Beitrag füllen). Es seien vielmehr Punkte herausgegriffen, die in besonderer Weise beim Zusammenspiel mit der für Lockes theoretische Philosophie zutiefst charakteristischen Position der Selbsttransparenz des Bewußtseins begriffliche Schwierigkeiten generieren;2 das Aufsuchen und Ausleuchten solcher in den philosophischen Fundamenten eines klassischen Werkes angesiedelten Schwierigkeiten bietet nämlich nicht selten den Ertrag, systematisch besonders lehrreich zu sein.
II. Die Selbsttransparenz des Bewußtseins und die Lagerhaustheorie der Erinnerung Im doktrinalen Kern des Essay, in seiner Fassung des Ideenbegriffs, liegt der Keim zu einem grundlegenden Problem, das Locke mit der Erinnerung hat: Weil er eine Idee als dasjenige bestimmt, womit sich der Geist – wenn er denkt – beschäftigt,3 und weil nach seinem (aber nicht nur nach seinem) Verständnis unter den Begriff des Denkens alle bewußten Vollzüge seelischer Vermögen fallen, ist sämtlichen Operationen mit und an Ideen wesentlich, dem sie vollziehenden Geist bewußt zu sein. Wenn also ein epistemisches Subjekt S Schlußfolgerungen zieht, sich etwas wünscht, sich etwas vorstellt oder etwas wahrnimmt, so finden im Geist von S Akte statt, deren Inhalte während des Aktvollzugs im Geist von S gegenwärtig sind.4 Im frühneuzeitlichen Ideismus ist also hinsichtlich jeglichen Seelenlebens Bewußtsein aus begrifflichen Gründen sozusagen ubiquitär. „John Locke was pre-eminently a philosopher of consciousness. The Essay can be read as an attempt to account for all the workings of the human mind solely in terms of conscious states and processes. As a result, Locke had trouble giving a convicting account of memory“ (Jeffrey Wieand, Locke on memory, in: The Locke newsletter 11 [1980], 63–75, hier 63 [Hervorh. im Orig.]). 3 Vgl. John Locke, An essay concerning human understanding, ed. by Peter H. Nidditch, Oxford 1975, I.1.8 und II.8.8. – Die Verweise auf Lockes Essay erfolgen hier und im folgenden wie üblich nach dessen Binnenzählung. Die römische Ziffer bezieht sich auf das Buch, die zweite Ziffer auf das Kapitel und die dritte Ziffer auf den Abschnitt. 4 „For to imprint any thing on the Mind without the Mind’s perceiving it, seems to me hardly intelligible“ (ebd., I.2.5.). 2
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Lassen wir zunächst die Frage noch beiseite, ob Erinnerungen sich auf einzelne Ideen oder auf (propositional geformte) Ideengefüge beziehen. Gleichgültig, welche inneren Strukturen Erinnerungsakte auch aufweisen mögen, sie können im Rahmen von Lockes theoretischer Philosophie von der oben namhaft gemachten Bewußtheitskautele keinesfalls ausgenommen werden. Wer sich an etwas erinnert, der vollzieht einen spezifischen und im Vollzug bewußten Akt. Das erwähnte Problem kommt in Sicht, wenn man sich klarmacht, daß im Phänomen der Erinnerung stets mehr als ein Zeitpunkt involviert ist, zu welchem Bewußtseinsprozesse ablaufen: Da ist zum einen t1, der Zeitpunkt, zu dem der erinnernde Akt stattfindet, und da ist zum anderen (der vor t1 liegende) Zeitpunkt t0, zu dem der kognitive Erstkontakt mit dem zu tt erinnerten Inhalt stattfindet.5 Da mit den beiden Zeitpunkten t0 und t1 auch die zwischen ihnen liegende Zeitspanne ins Spiel kommt, wird die Frage drängend, wie die besagte Bewußtheitskautele mit Blick auf diese drei zeitlichen Requisiten genau auszubuchstabieren ist. Prekär ist für Locke – wie er erst durch die (in den 1690 erschienenen Cursory Reflections upon a Book called, An Essay concerning Human Understanding geäußerten) Einwände des englischen Malebranchisten John Norris bemerkt hat6 – die Spanne zwischen t0 und t1; sie ist es für ihn deshalb, weil er in der Erstauflage seines Essay das Gedächtnis wie folgt mit einem Lagerhaus vergleicht: This is Memory, which is as it were the Store-house of our Ideas. For the narrow Mind of Man, not being capable of having many Ideas under View and Consideration at once, it was necessary to have a Repository, to lay up those Ideas, which at another time it might have use of.7
Diese Struktur hat gelegentlich zu der voreiligen Annahme geführt, daß der Gegenstand der Erinnerung etwas Vergangenes sei bzw. in der Vergangenheit liege. Das ist aber offensichtlich falsch, denn wenn ich mich daran erinnere, daß ich Schuhgröße 45 habe, dann erinnere ich ein Faktum, das gegenwärtig besteht; ähnlich kann ich mich sogar daran erinnern, daß in der nächsten Woche – mithin in der Zukunft – das Oktoberfest eröffnet werden wird. Die vorstehende Überlegung ist ein gewichtiges Indiz dafür, daß wir „verschiedene Typen der Erinnerung“ (Siebel, Erinnerung [wie Anm. 1], 10) unterscheiden müssen: „die Erinnerung an Einzeldinge [...], die Erinnerung an Ereignisse [...] und die Erinnerung an Tatsachen“ (ebd.). Entsprechend müssen wir – analog zu der (mindestens aus der Übersetzung des Englischen „to know“ geläufigen) kennen/wissen-Unterscheidung – mit unterschiedlichen, teils propositionalen, teils nicht-propositionalen syntaktischen Konstruktionen rechnen, in denen das Vorliegen von Erinnerungen sprachlich ausgedrückt wird. 6 Vgl. hierzu G. A. John Rogers, Die Cambridger Platoniker, in: Jean-Pierre Schobinger (Hg.), Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 3: England, Basel 1988, 240–290, hier 279 f., und besonders Richard I. Aaron, John Locke, Oxford 31971, 137 f., sowie Richard Acworth, The philosophy of John Norris of Bemerton (1657–1712), Hildesheim, New York 1979, 254 f. 7 Locke, Essay (wie Anm. 3), II.10.2 (Hervorh. im Orig.). 5
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Die hellsichtige Diagnose von Norris besagt, daß Lockes Lagerhausmodell des Gedächtnisses mit denjenigen Argumenten kollidiert, die er im ersten Buch des Essay gegen den Innatismus vorgetragen hat, gegen jene Position also, deren Verwerfung den Weg für die grundlegende empiristische These Lockes frei macht, daß unsere Ideen allesamt – und zwar durch Erfahrung – erworben werden. Nimmt man nämlich Lockes anti-innatistische Überlegungen sämtlich ernst, so ist die Annahme von Ideen ein begriffliches Unding, die sich angeblich ‘im Geist’ befinden, dort aber von eben diesem Geist nicht bemerkt werden. Norris unterstreicht also einerseits die universale Geltung, die Locke der Bewußtheitskautele bezüglich aller Denkoperationen des Geistes beigelegt hat, deckt zugleich aber auch auf, daß das aus ihr abgeleitete Verdikt gegen angeborene Ideen ohne Abstriche auch „those dormant Ideas“8 trifft, „that are lodg’d in the Memory“.9 Damit wird deutlich, daß die Verbindung des anti-innatistischen Ideenempirismus, der argumentativ von der Selbsttransparenz des Bewußtseins in allen seinen Vollzügen zehrt, mit dem Lagerhausmodell des Gedächtnisses deswegen in Schwierigkeiten kommt, weil die – offenbar phänomengerechte – mentale Nicht-Präsenz des Erinnerten in der Spanne zwischen t0 und t1 sich im begrifflichen Rahmen des Lockeschen Ideismus nicht rekonstruieren läßt. Der Rettungsversuch, kognitiven Gehalten zwischen Ersterwerb und Erinnerung (und damit zwischen t0 und t1) eine fortwährende, ideismuskonforme Bewußtseinsgegenwart zu attestieren, wäre eine flagrante Vergewaltigung des Erinnerungsphänomens und ist daher zum Scheitern verurteilt.
III. Die dispositionale Erinnerungstheorie und ihre Schwierigkeiten Unter dem Eindruck von Norris’ Kritik rudert Locke kräftig zurück, indem er von der zweiten Auflage des Essay (1694) an einen Zusatz in den Text einfügt, der direkt an den zuletzt zitierten Passus anschließt: But our Ideas being nothing, but actual Perceptions in the Mind, which cease to be any thing, when there is no perception of them, this laying up of our Ideas in the Repository of the Memory, signifies no more but this, that the Mind has a Power, in many cases, to Ebd., II.10.8 (Hervorh. im Orig.). Ebd., II.10.7 (Hervorh. im Orig.) – Beide Arten von Ideen – die angeborenen wie die aktuell nicht erinnerten – lassen sich in einem guten Sinne auch als „latent Ideas“ bezeichnen; so drückte sich Locke zwar nicht mehr im Essay, wohl aber noch im „retention/memory“-Abschnitt (§ 23) des 1671 entstandenen Draft B (John Locke, Draft B, in: J. L., Drafts for the „Essay concerning human understanding“ and other philosophical writings, Vol. I, ed. by Peter H. Nidditch and G. A. J. Rogers, Oxford 1990, 85–270, hier 134 f.) aus. 8 9
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revive Perceptions, which it has once had, with this additional Perception annexed to them, that it has had them before. And in this Sense it is, that our Ideas are said to be in our Memories, when indeed, they are actually no where, but only there is an ability in the Mind, when it will, to revive them again; and as it were paint them anew on it self, though some with more, some with less difficulty; some more lively, and others more obscurely.10
Lockes Reparaturversuch ist – an Norris’ Einspruch gemessen – überaus zweckmäßig:11 Zum einen unterstreicht er den essentiellen, dem Bewußtsein jederzeit transparenten Aktcharakter der Ideen, und zum anderen deklariert er die räumliche Metaphorik seines Lagerhausvergleichs zu einer harmlosen façon de parler, mit welcher letztlich kein anderer theoretischer Gehalt verbunden sei als mit seiner eigentlichen, einer dispositionalen Theorie des Gedächtnisses: Letzteres ist im Kern eine Fähigkeit zur Wiederbelebung bereits früher gehabter Ideen. Die implizite Distanzierung zu den Ausführungen der Erstauflage geht sogar soweit, daß die räumliche Metaphorik des Ideenaufenthalts im Gedächtnis ‘sprachkritisch’ zu einem sachlich belanglosen Schein depotenziert wird: „[T]hey [= die zu erinnernden Ideen; R.W.P.] are actually no where“.12 Man hat in der Forschung auf die Parallele hingewiesen, die zwischen Lockes Erinnerungsauffassung und Ockhams Sicht des Sprechens besteht:13 So wenig ein Sprecher Worte in einem Kehlsack aufbewahrt, die er dann, wenn er spricht, aus dem Kehlsack hervorholt und danach wieder in ihn zurücklegt, so wenig lagert eine Person Ideen in ihrem Gedächtnis ein, die sie dann, wenn sie sich erinnert, aus dem Gedächtnis hervorholt und danach wieder dorthin zurücklegt. In beiden Fällen soll eine jeweils spezifisch gefaßte – einmal auf Wörter, einmal auf Ideen bezogene – Reproduktionsfähigkeit die fraglichen Phänomene erklären. Dieser historische Hinweis ist systematisch äußerst aufschlußreich, enthüllt er doch eine wissenschaftstheoretische Pointe, die aus Lockes Sicht mit seinem Schwenk von der Lagerhaustheorie zu ihrem dispositionalen Gegenstück verbunden ist: Beide erbringen, so will es scheinen, hinsichtlich des Gedächtnisses die gleiche Erklärungsleistung, aber letztere tut
Locke, Essay (wie Anm. 3), II.10.2 (Hervorh. im Orig.). Wieand, Locke on memory (wie Anm. 2), unternimmt den wenig überzeugenden Versuch, die Lockeschen Zusätze der Zweitauflage nicht als Schwenk hin zu einer inhaltlich andersartigen Gedächtnistheorie zu interpretieren. Er greift dabei auf eine reichlich ad hoc wirkende Unterscheidung zwischen ideas und impressions zurück, wobei letztere als physiologisch greifbare Entitäten erstens die physischen Träger der mentalen Ideen sein sollen und zweitens tatsächlich nach Lagerhausmanier aufbewahrt werden können – nämlich im Gehirn. 12 Locke, Essay (wie Anm. 3), II.10.2. 13 Vgl. Rainer Specht, John Locke, München 1989, 46–48. 10 11
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dies mit wesentlich sparsameren Mitteln als erstere und verdient deshalb offenbar den Vorzug. Lockes Reaktion auf die Norrisschen Monita wirft indes ein anderes, neues Problem auf, welches für die Abwägung, ob die Lagerhaustheorie oder die dispositionale Gedächtnistheorie die überlegene ist, beträchtlich ins Gewicht fällt, welches aber gleichwohl vom Verfasser des Essay nicht bemerkt wurde; nämlich das Problem, wie beide Theorien verständlich machen können, daß in jeder echten Erinnerung die erinnerte Idee mit einer früher gehabten identisch ist. Es stellt sich mit anderen Worten die folgende Frage: Welche Konzeption der Selbigkeit des Erinnerten haben die beiden Konkurrenzentwürfe anzubieten, und schneidet die von Locke präferierte dispositionale Theorie auch hierin besser ab?14 Die Lagerhaustheorie, welcher Locke so rasch den Rücken gekehrt hat, kann für die Frage der Rekonstruktion der Selbigkeit des Erinnerten eine vergleichsweise simple, aber überzeugende Antwort vorweisen. Gliche nämlich der Erinnerungsvorgang der Hervorholung eines zuvor eingelagerten Gegenstandes, so läge die Natur jener Selbigkeit offen zu Tage: Denn die eingelagerte Idee würde ja während der ganzen Zeitspanne bis zu ihrem Rücktransport ins Bewußtsein unverändert fortexistieren; in ihrer transtemporalen Persistenz läge der Garant dafür, daß die früher gehabte Idee dieselbe ist wie die später wiedererinnerte. Nach dem Lagerhausmodell wird also die Selbigkeit des Erinnerten auf numerische Identität zurückgeführt: Es ist eben ein und dieselbe Idee, die zunächst deponiert und dann erneut hervorgeholt wird.15 Der dispositionalen Gedächtnistheorie hingegen steht diese schlichte Lösung offensichtlich nicht zu Gebote, da sie nicht mit eingelagerten Ideen arbeitet und somit auch deren Persistenz nicht identitätstheoretisch ausmünzen kann. In ihrem Rahmen ist es also eine anspruchsvollere Aufgabe, plausibel zu machen, daß die zu t1 erinnerte Idee zu der zu t0 gehabten nicht nur in einer Ähnlichkeits-, sondern in einer Identitätsbeziehung steht. Die (oben bereits zitierte und nunmehr kursivierte) Zusatzkautele – „[…] the Mind has a Power, […] to revive Perceptions, which it has once had, with this additional Perception annexed to them, that it has had them before“16 – hilft hier nur zum Schein, denn diese Da ich diesen Fragen an anderer Stelle (siehe Rolf W. Puster, Die Selbigkeit des Erinnerten. Zu einem Dilemma des Lockeschen Konzeptualismus, in: Mark Siebel, Mark Textor [Hg.], Semantik und Ontologie. Beiträge zur philosophischen Forschung, Frankfurt a.M., Lancaster 2004, 305–318) ausführlich nachgegangen bin, rekurriere ich im folgenden auf die Resultate meiner früheren Untersuchung. 15 Für die Frage, wie die Einlagerung von Ideen physisch realisiert ist, sind im Prinzip alle Antworten brauchbar, die die besagte Ideenpersistenz verbürgen. – In diesem Sinne dürfen wir die Frage der Realisierung als philosophisch belanglos auf sich beruhen lassen. 16 Locke, Essay (wie Anm. 3), II.10.2 (Hervorh. R. W. P.). 14
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‘additional Perception’ iteriert nur das Problem: Lockes Forderung, bei der Wiederbelebung einer Idee in der Erinnerung müsse man zusätzlich „wahrnehmen“, daß man sie (!) bereits früher gehabt habe, kann zum Verständnis, wie die Selbigkeit des Erinnerten in seiner dispositionalen Gedächtnistheorie zu rekonstruieren ist, nichts beitragen, weil sie ihrerseits von jener Selbigkeit des Erinnerten bereits Gebrauch macht bzw. das Selbigkeitsproblem schon als gelöst voraussetzt – obige Zusatzkautele erweist sich mithin als explanatorisch zirkulär. Da nun (wie gesehen) ein Begleitbewußtsein des Schon-einmal-gehabtHabens einer Idee deren neuralgische Selbigkeit mit einer früheren weder zu erklären noch sicherzustellen vermag, müssen die zu t0 und zu t1 dem Geist präsenten Ideen selbst Charakteristika aufweisen, die ihre Identifikation rechtfertigen. Systematisch gesehen, stehen hierfür nicht sehr viele Möglichkeiten offen; relevant sind ersichtlich vor allem die beiden Alternativen, (a) Ideen als Akte oder als Inhalte aufzufassen, und (b) die in Rede stehende Ideenselbigkeit auf numerische oder generische Identität zurückzuführen. (i) Faßt man Ideen als Akte auf, so sind Ideen, die zu zwei verschiedenen Zeitpunkten auftreten, niemals numerisch identisch. Damit fällt (da auch der Rückgriff auf die generische Identität der Akte inhaltlich offensichtlich nicht weiterhilft) die Möglichkeit dahin, unter Rekurs auf ihren mentalen Episodencharakter die Identität zweier nacheinander auftretender Ideen theoretisch zu rekonstruieren. (ii) Faßt man Ideen als Inhalte auf und setzt dabei dergestalt auf numerische Identität, daß inhaltsidentische Ideen auch als numerisch identisch gelten dürfen, so verleiht man (der Sache nach) derartigen Inhalten den ontologischen Charakter von klassischen Universalien, d.h. von räumlich unlokalisierbaren, zeitlich undatierbaren und der mehrfachen Instantiierung fähigen Entitäten. So sehr dieser Vorschlag dazu angetan wäre, das Selbigkeitsproblem zu lösen, so wenig kann er von Locke, einem (konzeptualistischen) Universalienfeind bzw. Partikularisten,17 bei Strafe schwerster Inkonsistenz ergriffen werden. (iii) Eine eingehendere Untersuchung, als sie hier möglich ist, zeigt, daß auch der letzte Ausweg – die Kombination der Inhaltsauffassung von Ideen mit generischer Identität – sachlich unbefriedigend bleibt:18 Die ‘harte’ Selbigkeit des Erinnerten (welche garantiert, daß nicht die Assoziation bloß ähnlicher Ideen phänomenwidrig zur Erinnerung deklariert wird) läßt sich auf dem Fundament einer lediglich generisch konzipierten Identität von Ideeninhalten nicht überzeugend aufbauen. 17 „All Things, that exist, being Particulars“ lauten die ersten Worte von Essay III.3.1, des Abschnitts also, der die generellen Terme zum Thema hat. 18 Vgl. Puster, Selbigkeit (wie Anm. 14), 312–314.
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Es ist also Lockes Konzeptualismus, der letztlich das entscheidende Hindernis dafür bildet, (in einer mit den Grundlinien des Essay kompatiblen Weise) sicherzustellen, daß der zu t1 erinnerte Inhalt strictissime derselbe ist wie der zu t0 bewußte Inhalt.
IV. Erinnerung als Ingrediens habituellen Wissens Ein Nachhall der besprochenen Schwierigkeit, ein plausibles Gedächtnismodell zu entwerfen, das mit der Überzeugung der durchgängigen Selbsttransparenz aller seelischen Aktivitäten glatt zusammengeht, ist auch im vierten Buch des Essay spürbar. Bekanntlich findet sich dort19 jene eigentümliche Definition, in welcher Locke Wissen als Wahrnehmung der Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung von Ideen bestimmt.20 In dieser Definition dokumentiert sich sehr schön die basale Rolle des Ideenbegriffs, da letzterer den Grundstein bildet, auf dem Locke (systematisch an seine Wahrheitsdefinition21 anschließend) den epistemologisch zentralen Begriff des Wissens aufbaut. Allerdings erbt dieser Wissensbegriff gewissermaßen die Eigenart des Stoffes, aus welchem er gemacht ist: So wie es der Idee wesentlich ist, dem mit ihr befaßten Geist bewußt zu sein, so ist knowledge – folgt man streng dem Wortlaut der oben erwähnten Definition – ein dem Geist gegenwärtiges Wissen. Diese Besonderheit wird durch die Zuspitzung unterstrichen, die Locke dem gleichen Gedanken in seinem nachgelassenen Conduct of the understanding mit der prägnanten Formulierung „Knowing is Seeing“22 hat angedeihen lassen. Ersichtlich braucht Locke darin nur noch von der Propositionalität des Wissens abzusehen, um unversehens an das Modell der visuellen Objektwahrnehmung anknüpfen zu können und damit an den paradigmatischen Fall des bewußten Habens einer Idee. Überraschen kann dieser Befund nicht, da die
Vgl. auch Locke, Essay (wie Anm. 3), II.21.5. „Knowledge then seems to me to be nothing but the perception of the connexion and agreement, or disagreement and repugnancy of any of our Ideas. In this alone it consists. Where this Perception is, there is Knowledge, and where it is not, there, though we may fancy, guess, or believe, yet we always come short of Knowledge“ (ebd., IV.1.2 [Hervorh. im Orig.]). – Zu der genauen Formulierung siehe Specht, Locke (wie Anm. 13), 121. 21 Siehe Locke, Essay (wie Anm. 3), IV.5.2 („Truth then seems to me, in the proper import of the Word, to signify nothing but the joining or separating of Signs, as the Things signified by them, do agree or disagree one with another“ [Hervorh. im Orig.]); vgl. auch ebd., II.32.19. 22 John Locke, Of the conduct of the understanding, ed. by John Yolton, Bristol 1993 (repr. from: Posthumous works of Mr. John Locke, London 1706), 77. 19 20
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Parallele Verstand/Auge für den Essay ohnehin nicht bloß ornamentale Rhetorik23 darstellt, sondern zu seiner sachlichen Substanz gehört. Das Problem, das sich Locke mit der so verstandenen Definition von knowledge einhandelt, liegt auf der Hand: Ein Wissensbegriff, der nur dem Geist gegenwärtiges Wissen anerkennt, ist – an der Elle der alltäglichen Verwendung des Wortes gemessen – bei weitem zu eng. Dieser Mangel ist so eklatant, daß Locke ihn nicht nur wenige Seiten nach seiner Wissensdefinition selbst diagnostiziert,24 sondern ihn auch im selben Kapitel noch zu beheben sucht. Das Mittel, dessen er sich dabei bedient, ist die Einführung des habituellen Wissens zusätzlich zu dem mit der Grunddefinition gegebenen aktuellen Wissen. Und als ein wesentlicher Bestandteil der Definition des habituellen Wissens begegnet uns erneut der Begriff der Erinnerung. Zunächst zum aktuellen Wissen: Seine Definition25 liest sich wie die Kurzfassung der allgemeinen Wissensdefinition, und sie ist auch sachlich nichts anderes: Dem Auge des Geistes bietet sich die wissenskonstitutive (Nicht-) Übereinstimmung zweier Ideen tatsächlich unmittelbar dar; aktuelles Wissen ist Locke zufolge eine bewußte Einsichtnahme in die für die Wahrheit eines Satzes relevanten Ideenverhältnisse, eine – sit venia verbo – kognitive Autopsie. Habituelles Wissen hingegen ist die Kenntnis von Sätzen, hinsichtlich deren die kognitive Autopsie zwar einmal stattgefunden hat, nun aber dem Geist nicht mehr als solche gegenwärtig ist; nur noch das Resultat jener Autopsie, die Einsicht des Geistes in die Wahrheit26 der betreffenden Sätze, hat überdauert – und zwar nirgendwo anders als im Gedächtnis des habituell Wissenden. Die näheren Einlassungen zum habituellen Wissen enthalten streng genommen eine Weggabelung: Als einen ersten Grad des habituellen Wissens zeichnet Locke das auf solche Sätze bezogene Wissen aus, deren Wahrheit bei aktueller kognitiver Zuwendung dem Geist intuitiv (d.h. instantan und ohne Zuhilfenahmen weiterer Ideen) einsichtig wird. Ihm ist eigentümlich, mit der Erinnerung an den habituell gewußten Satz zugleich die ihm zugrundeliegenden (und zwischenzeitlich vergessenen), stets intuitiv erfaßbaren IdeenverhältVgl. beispielsweise die Wendung im Epistle to the Reader: „the Understanding, like the Eye, judging of Objects, only by its own Sight“ (Locke, Essay [wie Anm. 3], 6 [Hervorh. im Orig.]). 24 Vgl. ebd., IV.1.8. 25 „There is actual Knowledge, which is the present view the Mind has of the Agreement, or Disagreement of any of its Ideas, or of the Relation they have one to another“ (ebd., IV.1.8 [Hervorh. im Orig.]). 26 Ich erspare dem Leser und mir, genauer als Locke stets von beiden Wahrheitswerten und den Gründen zu sprechen, vom Vorliegen eines dieser beiden Wahrheitswerte überzeugt zu sein. Die Beschränkung auf die Wahrheit vereinfacht nur die Darstellung der Sache und muß daher cum grano salis genommen werden. 23
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nisse ins Bewußtsein dergestalt zurückzurufen, daß sich das habituelle Wissen gleichsam in aktuelles verwandelt. Habituelles Wissen ersten Grades weist demnach das Merkmal der Selbstauffrischung anläßlich der Erinnerung des habituell gewußten Satzes auf. Fällt dieses exquisite Merkmal der Selbstauffrischung weg, dann liegt der (häufigere) Standardfall des habituellen Wissens vor: Die epistemische Konfrontation mit einem wahren Satz evoziert im Geist die Überzeugung, die Wahrheitsgründe jenes Satzes bereits früher einmal (im Lockeschen Sinne:) gesehen zu haben, jedoch ohne daß der Geist sie sich anläßlich jener Konfrontation idem actu zu vergegenwärtigen vermag. Ersichtlich intendiert Locke mit der Einführung des habituellen Wissens die Integration jener zahllosen Fälle von Wissen, die er mit seiner technisch-engen Wissensdefinition nicht erfaßt hatte, also die Schließung der extensionalen Lücke zwischen dem Wissensbegriff des Essay und dem des Alltags; zugleich soll auf diesem Wege eine systematische Anbindung des letzteren an ersteren (welcher im Begriff des actual knowledge wiederkehrt bzw. mit ihm zusammenfällt) gestiftet werden. – Unabhängig davon, wie wohlwollend man diesem Manöver insgesamt gegenübertritt, ist offenbar geworden, daß es seine Pointe einer spezifischen Indienstnahme des Erinnerungsbegriffs verdankt. Werden wir ein wenig genauer: Die geläufige Praxis der Wissenszuschreibung, der zufolge ein epistemisches Subjekt S auch dann weiß, daß p, wenn dem Bewußtsein von S die Proposition p in keiner Weise gegenwärtig ist (vulgo: wenn S gar nicht an p denkt) wird von Locke theoretisch folgendermaßen rekonstruiert: 1. Zu einem Zeitpunkt t0 nimmt S die für die Wahrheit von p konstitutive (Nicht-)Übereinstimmung von Ideen wahr. Mithin hat der Satz „S weiß bzw. hat Wissen davon, daß p“ zu t0 einen aktualen Sinn (also genau den, der in Lockes allgemeiner und ‘enger’ Wissensdefinition niedergelegt ist). 2. Wann immer S zu einem nach t0 liegenden Zeitpunkt tn mit p epistemisch konfrontiert wird, ist S der (wie wir zugunsten Lockes annehmen wollen: zutreffenden) Meinung, (A) daß p wahr ist und (B) daß S sich zu t0 von der Wahrheit von p in geeigneter Weise überzeugt hat. Mithin hat der Satz „S weiß bzw. hat Wissen davon, daß p“ nach t0 einen dispositionalen Sinn. In der vorstehenden Analyse tritt hervor, daß der dispositionale Sinn des Wissen-Habens, welcher Lockes Standardfall des habitual knowledge kennzeichnet, zwar auf dem aktualen Sinn aufsetzt, aber seine Besonderheit durch jene auf (A) und (B) bezüglichen Gedächtnisleistungen erlangt. Lockes Resultat – die Rekonstruktion eines zum gewöhnlichen Wissensbegriff koextensionalen Wissensbegriffs auf der Basis seiner ideistisch fundierten Definition von knowledge – fußt demnach einerseits auf einem verdeckten Sinnunterschied bei der Zuschreibung von Wissen (weil es ja, wie gesehen, ei-
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nen Unterschied macht, ob die Zuschreibung zum Zeitpunkt t0 oder später erfolgt) und andererseits auf der Unterstellung, daß der herangezogene Erinnerungsbegriff als theoretisch unproblematisch und explanatorisch belastbar anzusehen ist. Gerade in der letztgenannten Hinsicht sind indes Zweifel anzumelden. Bevor wir mit dem vorliegenden Abschnitt explizit die Ebene propositional strukturierter Erinnerungsgegenstände betreten haben, war schon ganz grundsätzlich deutlich geworden, daß das Lockesche Verständnis der Erinnerung als dispositional verstandener Fähigkeit der Wiederbelebung bereits früher im Bewußtsein präsent gewesener kognitiver Gehalte mit dem – seinem Konzeptualismus geschuldeten – wesentlichen Makel behaftet ist, die Selbigkeit des Erinnerten theoretisch nicht zufriedenstellend absichern zu können. Folglich müssen wir Locke ankreiden, daß er den von ihm selbst empfundenen Mangel, Wissen untunlich eng definiert zu haben, dadurch zu beheben trachtet, daß er unter der Flagge des habitual knowledge einen dem Alltagsverständnis zwar nahen, aber theoretisch nicht näher geklärten Erinnerungsbegriff ins Spiel bringt. Damit wird jedoch auch der oben skizzierte Anspruch Lockes hinfällig, seine ganz auf dem Boden des Ideismus stehende Wissensdefinition organisch mit dem gewöhnlichen Begriffsverständnis verknüpft zu haben. Bleibt all diese Kritik rein destruktiv oder legt sie vielleicht auch positive Einsichten frei? Einige der durchlaufenen Räsonnements enthielten, so denke ich, zumindest Fingerzeige für Lehren, die sich aus den aufgetretenen Schwierigkeiten im Umfeld von Lockes Erinnerungsdoktrin ziehen lassen: – Die Position uneingeschränkter Selbsttransparenz des Bewußtseins scheint überzogen zu sein. Es ist nicht nur fraglich, ob sie sich phänomenal ausweisen läßt, sondern sie engt auch den Spielraum für Gedächtnistheorien einseitig zugunsten dispositionaler Theorien ein, welche ihrerseits keineswegs unproblematisch sind. – Die Dominanz der optischen Metaphorik des sehenden Verstandes (der im 17. Jahrhundert nicht zu erliegen eine besondere Traditionsresistenz vorausgesetzt hätte) setzt die Wissensdefinition Lockes auf eine schiefe Bahn, weil sie den Extrem- und Ausnahmefall des intuitiven Wissens in den Rang eines Modellfalls erhebt. – Wenn man sich schon (im Sinne des letzten Punktes) singuläre Idealfälle von Wissen definitorisch zum Vorbild nimmt und sich insofern vom alltäglichen Begriffsverständnis erst einmal vorsätzlich und denkbar weit entfernt, dann wird es zu einer merkwürdigen Ambition, auf der Grundlage einer so gewonnenen philosophisch-technischen Terminologie die Extension jenes zuvor souverän mißachteten Alltagsbegriffs von Wissen wieder einholen zu wollen.
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– Locke wohl schwerlich vorwerfbar, aber gleichwohl problemgenerierend, ist schließlich der Umstand, daß er den Wissensbegriff zwar offenbar im Einklang mit der üblichen Zuschreibungspraxis von Wissen extensional nachzeichnen möchte, aber kein Auge dafür hat, daß in unserer Zuschreibungspraxis sowohl externalistische wie internalistische Kriterien eine Rolle spielen. Locke setzt (in Übereinstimmung mit der hierin fast uniformen Tradition) ausschließlich auf den Internalismus. Damit schließt sich der Kreis, denn offensichtlich weist die (von Externalisten bestrittene) Annahme, rechtfertigende Gründe für Überzeugungen müßten dem Überzeugungssubjekt epistemisch zugänglich sein, eine tiefliegende Verwandtschaft mit der Position der Selbsttransparenz des Bewußtseins auf. Das Phänomen der Erinnerung zeichnet sich unter anderem dadurch aus, daß in ihm ein zeitweilig unterbrochener epistemischer Kontakt mit kognitiven Gehalten wieder auflebt. Diese für das Phänomen konstitutive Phase der temporären Abgewandtheit des Bewußtseins von solchen Gehalten stellt für jede philosophische Theorie eine doppelte Herausforderung dar, in der die Selbsttransparenz des Bewußtseins so weitreichend konzipiert ist wie im Ideismus der frühen Neuzeit (und somit auch wie in Lockes Essay): Einerseits ist es keine triviale Aufgabe, überzeugende Kriterien der Selbigkeit des Erinnerten zu benennen (besonders dann, wenn man – wie Locke – zugleich Anti-Innatist und Konzeptualist ist); andererseits steht dahin, ob die Erinnerung dazu taugt, einem ideistisch grundierten Wissensbegriff ohne theoretische Winkelzüge den weiten Umfang zu verschaffen, den er als Rekonstruktion des alltäglichen Wissensbegriffs benötigt. Ob sich diese doppelte Herausforderung tatsächlich meistern läßt, müssen wir offen lassen – zumindest für Locke ist sie allem Anschein nach zur Klippe geworden. Der vorliegende Beitrag befaßt sich mit Schwierigkeiten, die aus Lockes Versuch erwachsen, eine plausible Gedächtnistheorie im Rahmen seiner Ideenlehre und dem ihr wesentlichen Postulat der Selbsttransparenz des Bewußtseins zu liefern. In Abschnitt II zeigt sich die Unhaltbarkeit von Lockes ursprünglicher Gedächtnistheorie, der Lagerhaustheorie, im Lichte jenes Postulats. Die in Abschnitt III erfolgende Diskussion der dispositionalen Gedächtnistheorie, welcher Locke seit der Zweitauflage des Essay den Vorzug gibt, fördert ebenfalls ein unlösbares Problem zutage: Die Rekonstruktion der Identität von früher gehabter und später erinnerter Idee wäre für Locke nur unter der Preisgabe seines universalienfeindlichen Konzeptualismus möglich. Da Locke habituelles Wissen unter Rekurs auf Erinnerungsleistungen des Geistes definiert, machen sich die Schwächen seiner Gedächtnistheorie auch auf diesem Feld bemerkbar: In Abschnitt IV wird unterstrichen, daß Lockes Epistemologie den besagten Rekurs auf das habituelle Wissen benötigt, um von seiner ideistischen Wissensdefinition (die aufgrund ihrer Restriktion auf be-
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wußtseinsgegenwärtiges Wissen zu eng ausfällt) einen mittelbaren Anschluß an den Begriffsumfang der alltäglichen Wortverwendung zu finden. This contribution deals with difficulties resulting from Locke’s attempt to give a plausible account of memory within the framework of his theory of ideas and its essential feature of self-transparency of consciousness. Section II shows the failure of Locke’s original theory of memory – the store-house theory – given the selftransparency assumption. The examination of the subsequent dispositional theory (presented by Locke in the second edition of the Essay) in section III again reveals an unsolvable problem: Locke cannot reconstruct the identity of the idea appearing in an act of remembering to the corresponding idea the mind had in the past unless he withdraws his conceptualistic hostility towards universals. Locke’s memory puzzle has an impact on his concept of habitual knowledge, for the latter depends on memory as an essential element in its definition. This point made in section IV is of considerable importance for Locke’s epistemology as he needs the concept of habitual knowledge to bridge the gap between his too narrow (ideistic) definition of knowledge (which cannot account for cases of unaware knowledge) and our ordinary use of this concept. Prof. Dr. Rolf W. Puster, Universität Hamburg, Philosophisches Seminar, Von-MellePark 6, 20146 Hamburg, E-Mail: [email protected]
R AINER S PE CHT John Lockes Lehre vom Allgemeinen1
Der Mediziner Thomas Sydenham, ein Freund von Locke, berichtete von Epidemien, die in verschiedenen Jahren unter dem Namen ‘Pest’ auftraten, aber nicht auf dieselbe Therapie reagierten. Pest war also nicht dasselbe wie Pest. Lockes Freund Robert Boyle beschrieb ein chemisches Experiment und fügte hinzu, daß es nur funktionierte, wenn man die Substanzen in einer bestimmten Apotheke kaufte. Schwefel war also nicht dasselbe wie Schwefel. Lockes Lehre vom Allgemeinen erklärt, wie Klassifikationen und Fehlklassifikationen zustande kommen und was sie leisten und nicht leisten können. Locke knüpft bei Annahmen über das Individuationsprinzip an, also über das Prinzip, das bewirkt, daß etwas individuell wird. Er erklärt die Existenz zum Individuationsprinzip und örtliche und zeitliche Bestimmtheit (time und place, also schulsprachlich quando und ubi) zu Umständen (circumstances) der Individualität.2 Diese Meinung hatten schon vor ihm Scholastiker vertreten, und kein Geringerer als Suárez machte klar, in welchem Sinn er sie für vertretbar hält: Was existiert, das ist von selbst individuell.3 Wenn es aber von selbst individuell ist, dann braucht man keine besondere Erklärung dafür, weshalb es individuell ist. Vielmehr muß man fragen, woher das Allgemeine kommt. Lockes Antwort auf Eine frühere Fassung dieses Aufsatzes erschien in: Michael Oberhausen u.a. (Hg.), Vernunftkritik und Aufklärung. Studien zur Philosophie Kants und seines Jahrhunderts. Norbert Hinske zum 70. Geburtstag, Stuttgart 2001, 329–339. 2 John Locke, An Essay concerning human understanding, edited with an introduction, critical apparatus and glossary by Peter H. Nidditch, Oxford 1975, hier Buch 2, Kapitel 27, § 3, 330, Z. 1–5. Bei späteren Zitaten aus diesem Werk verwende ich Kurzangaben, z.B. „Essay II.27.3; 330, 1–5“. 3 Francisco Suárez, Disputationes metaphysicae I, reprographischer Nachdruck der Ausgabe Paris 1866, Hildesheim 1965, hier Disputatio 5, sect. 5, num. 2, Sp. 177b, Z. 34–40: „[...] juxta opinionem asserentem, existentiam nihil aliud esse quam actualem entitatem uniuscujusque rei. Hoc posteriori modo haec sententia [principium individuationis esse existentiam rei singularis] in re coincidit cum opinione asserente unamquamque rem individuari seipsa, nulloque alio principio individuationis indigere, praeter entitatem suam [...]“. Bei späteren Zitaten aus diesem Werk verwende ich Kurzangaben, z.B. „Suárez, DM (wie Anm. 3) 5.5.2; I 177b, 34–43“. 1
Aufklärung 18 · © Felix Meiner Verlag 2006 · ISSN 0178-7128
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diese Frage klingt nicht besonders originell: Allgemeinheit entsteht durch Abstraktion. Das Wort ‘abstraction’ kommt in den frühen Drafts noch nicht vor;4 im Essay dient es als allgemeine Bezeichnung für die Herstellung genereller Ideen.5 Locke geht bei der Zuschreibung kognitiver Eigenschaften an Tiere gelegentlich sehr weit, versichert aber im Gegensatz zu Gassendi, daß nur Menschen abstrahieren und generelle Zeichen verwenden können. Andererseits ist das menschliche Abstraktionsvermögen, das er hier als „Excellency“ des Menschen bezeichnet,6 im Grunde für ihn kein Ausweis geistiger Vollkommenheit, sondern ein Ausweis geistiger Schwäche. Gottes Verstand ist so leistungsfähig, daß er jedes Individuum als Individuum erkennt und würdigt. Aber unser begrenzter Verstand kann nur von wenigen Individuen halbwegs genaue Vorstellungen bilden, obgleich er täglich auf viele Individuen zu reagieren hat. Deshalb greift er zu einem Notbehelf, nämlich zur Abstraktion, die es ihm erlaubt, viele Individuen zwar nicht in ihrer Individualität, aber zumindest mit einer gedachten Schablone zu erfassen. Allerdings führt die Entindividuierung von Ideen zu ihrer Verarmung, denn sie beraubt sie vieler Bestimmungen. Für Locke sind generelle Ideen absichtlich verstümmelte Ideen von Individuen, die durch die erlittenen Verluste so ungenau geworden sind, daß sie für mehrere Individuen stehen können.7 Ohnehin verhindern die Grenzen unserer Erfahrung die Angemessenheit unserer Ideen von Geistern, und unsere begrenzte Aufnahmefähigkeit und die Beschränkung unserer Wahrnehmung auf wenige Sinne schließt die Angemessenheit unserer Ideen von Körpern von vornherein aus.8 Weil Gott unsere Sinne auf Alltagsbedürfnisse eingestellt hat, können wir weder unendlich große Gegenstände noch Atome wahrnehmen, und dadurch entgehen uns wichtige InJohn Locke, Drafts for the Essay concerning human understanding, and other philosophical writings, edited by Peter H. Nidditch and G. A. J. Rogers in three volumes, volume I: Drafts A and B, Oxford 1990, hier Draft A (1–83) § 27, 42, Z. 14: „[the minde] hath a power to abstract“. Bei späteren Zitaten aus diesem Werk verwende ich Kurzangaben, z.B. „Drafts (wie Anm. 4), Draft A, § 27; 42, 14“. – Bei den übrigen Vorkommen (Draft A § 1; 4, 25–26. – Ebd. § 20; 35, 31–32. – Ebd. § 43; 75, 13–14) wird ‘abstract’ nicht im Zusammenhang mit der Bildung genereller Ideen verwendet. Ein ähnlicher Befund ergibt sich für Draft B (85–270) mit folgenden Stellen: Draft B, § 5; 107, 5–6. – Ebd. § 6; 114,1. – Ebd. § 71; 175, 20. – Ebd. ; 203, 12. 5 Essay II.12.1; 163, 26–29. 6 Essay II.11.10; 159, 31–35. – Die Gegenmeinung, daß Tiere rudimentäre Universalien bilden können, wird vertreten in: Petrus Gassendi, Opera omnia, Faksimile-Nachdruck der Ausgabe von Lyon 1658 in 6 Bänden mit einer Einleitung von Tullio Gregory, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, hier Bd. 2, „Physicae pars II und III“, Sectio tertia, membrum posterius, liber IX, cap. 4, Sp. 458b, Z. 14–41. 7 Essay III.6.32; 459, 7–16. 8 Essay IV.3.27; 557, 34–558, 8. – Essay II.2.3; 120, 18–31. 4
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formationen.9 Schließlich leiden wir noch an der moralischen Schwäche, daß wir uns ungern anstrengen. In der Regel arbeiten wir nur flüchtig und übersehen dadurch auch solche Details, die wir grundsätzlich wahrnehmen könnten. In unseren generellen Substanzideen verstauen wir meistens Ideen von Eigenschaften, die wir zufällig wahrgenommen haben; ihre dürftige Anzahl ist zum Teil unseren konstitutionellen Schwächen, vor allem aber (hier denkt Locke anders als Gassendi) unserer Ungeduld und unserem Mangel an Sorgfalt anzulasten.10 Lockes Darstellung wirkt u.a. deshalb originell, weil er die Frage stellt, weshalb man generelle Ausdrücke bildet. Man tut es seiner Ansicht nach deshalb, weil sonst keine angemessene sprachliche Verständigung möglich wäre. Verständigung beginnt damit, daß jemand für die Ohren eines Hörers gesprochene Zeichen oder für die Augen eines Lesers schriftliche Zeichen erzeugt, die für Ideen in seinem Verstand stehen sollen. Man kann aber nicht mit jeder individuellen Wahrnehmungsidee eine eigene Vokabel verbinden, denn dafür bekommt man zu viele.11 Auch hätte man, wenn man es könnte, nur wenig gewonnen, denn für andere Menschen bliebe der größte Teil der an sie gerichteten Mitteilungen unverständlich, weil sie aufgrund ihrer andersartigen Lebensumstände andere singuläre Ideen erführen und im Gedächtnis aufbewahrten und infolgedessen auch über einen anderen Wortschatz von Eigennamen verfügten.12 Dieses Problem löst der Verstand durch Abstraktion. Mit ihrer Hilfe kann er ganze Bündel von Individuen mit einem einzigen Wort bezeichnen, und die Erfahrung zeigt, daß in der Tat in allen Sprachen die meisten Vokabeln nicht Eigennamen, sondern Art- oder Gattungsnamen sind.13 Abgesehen davon, daß uns die Abstraktion Verständigung durch generelle Wörter ermöglicht, bietet sie aber noch einen weiteren Vorteil. Menschen möchten sich nicht nur verständigen, sondern streben auch nach Wissen, und wenn unser Wissen allein aus Informationen über Einzeldinge bestände, dann kämen wir nicht weit. Dank der Abstraktion ist uns nun bündelweises, d.h. generelles Wissen über Individuen möglich,14 und dadurch vervielfacht sich die Zahl der Situationen, denen wir gewachsen sind. Locke erklärt in mehreren Texten, was er unter Abstraktion versteht. Nach der Beschreibung in Essay II.11.9 verwandelt der Geist individuelle Ideen, die er von individuellen Dingen bekommt, in generelle Ideen, indem er sie von anderen Existenzen und von den Umständen realer Existenz wie Zeit und Ort so9 10 11 12 13 14
Essay II.23.12; 302, 10–303, 33. Essay III.6.29; 456, 13–20. Essay III.3.2; 409, 7–23. Essay III.3.3; 409, 24–410, 4. Essay III.3.1; 409, 4–6. Essay III.3.20; 420, 19–22.
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wie von sonstigen begleitenden Ideen abtrennt und sie als bloße Vorstellungen im Geist betrachtet. Eine abstrahierte Idee hat ihre kausale Beziehung zum Affizierenden, ihre Repräsentationsbeziehung zu dem Individuum, das ursprünglich durch sie wahrgenommen wurde, und ihre Beziehung zu dessen Umgebung verloren. Die Verbindung zu den Ideen, die sie bei ihrer Ankunft im Geist begleiteten, wurde ihr genommen. Nach Lockes ergänzender Beschreibung ist sie nackt und sozusagen aus allem herausgeschnitten, denn der Geist hat sie isoliert und ihrer Außenrelationen entkleidet.15 Nach einer benachbarten allgemeinen Charakterisierung besteht Abstraktion darin, daß man bestimmte Ideen von allen Ideen trennt, die sie in ihrer wirklichen Existenz begleiten; auf diese Weise bildet der Verstand alle seine generellen Ideen.16 Abstraktion gilt also für den Essay als das einzige Verfahren zur Verallgemeinerung von Ideen. Eine weitere Beschreibung findet sich in Essay III.3.6: Ideen werden generell, indem man die Umstände von Zeit und Ort und alle anderen Ideen von ihnen abtrennt, die sie zu dieser oder jener individuellen Existenz bestimmen könnten; durch dieses Verfahren der Abstraktion werden sie fähig, mehr als ein Individuum zu repräsentieren.17 Daß man abstrakte Ideen bloß so betrachten soll, wie sie im Geist sind, kommt an dieser Stelle nicht zur Sprache, wird aber später wieder erwähnt.18 Die Darstellungen der Abstraktion in den Elements of Natural Philosophy und im Abstract sind ebenfalls knapp; auch hier wird Abstraktion als Abtrennung charakterisiert.19 In dem Abstract-Passus findet sich Essay II.11.9; 159, 10–23. Essay II.12.1; 163, 26–29. 17 Essay III.3.6; 411, 1–5. 18 Z.B. Essay IV.1.9; 618, 1–6. Hier gibt es Reminiszenzen an die schulphilosophische ‘notitia abstractiva’, die es nicht mit unmittelbaren Wahrnehmungen, sondern mit erinnerten Vorstellungen zu tun hat. 19 The Works of John Locke in ten Volumes (1823), Nachdruck Aalen 1963, hier Bd.3, Elements of natural philosophy (301–330), hier 329, Z. 26–29: „A general idea is an idea in the mind, considered there as separated from time and place; and so capable to represent any particular being that is conformable to it.“ – Hier gibt es deutliche Formulierungsunterschiede gegenüber den Angaben eines Gassendisten wie Bernier; siehe François Bernier, Abregé de la philosophie de Gassendi Bd. 1–7 (1684), texte revu par Sylvia Murr et Geneviève Stefani, Paris 1992, hier Bd. 6, livre 4, chap. 1, 197, Z. 32–35: „[...] la nature des Universaux est d’estre abstraits ou depoüillez de toutes conditions materielles, et differences de singularité, telle qu’est la grandeur, la figure, la couleur, etc. [...]“. Von Zeit und Ort ist hier allenfalls mittelbar die Rede. – Lord King, Life and Letters of John Locke with extracts from his journals and common-place books, New York 1972 (Nachdruck der Ausgabe von 1884), hier „Abstract of the Essay“ (365–399), hier Lib. 3, chap. 3, 380, Z. 1–5: „[...] ideas become general only by being abstracted from time and place and other particularities, that make them the representatives only of individuals, by which separation of some ideas which annexed to them make them particular, they are made capable of agreeing to several particulars [...]“. Bei späteren Zitaten aus diesem Werk verwende ich Kurzangaben, z.B.: „Abstract (wie Anm. 19) 3.3; 380, 1–5“. 15 16
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die anschauliche Formulierung „Abtrennung von einigen Teilideen, die an Ideen angehängt sind und sie individuell machen“; etwas, das angehängt ist, kann man auch wieder abhängen. Diesen Beschreibungen ist es gemeinsam, daß sie Abstraktion nicht als Erschließung der innersten Wesenheiten von Dingen, sondern als einen Akt betrachten, bei dem man die Aufmerksamkeit so lenkt, daß sie die individuierenden Bestimmungen übersieht. Vergleicht man Lockes Angaben mit denen anderer Autoren, so fällt zunächst auf, daß er nicht mehr als ein Verallgemeinerungsverfahren nennt. Ein Schulphilosoph wie Suárez nennt immerhin zwei, wenngleich nicht ohne Vorbehalt. Das, was er als Abstraktion durch Vergleichung bezeichnet, steht Meinungen Lockes weniger nahe als die von ihm beschriebene bloße Abstraktion. Suárez macht bei der Darstellung beider Verfahren darauf aufmerksam, daß man das Produkt der Abstraktion als „natura communis“ (gemeinsame Wesenheit) bezeichnet;20 bei Locke ist es dagegen zunächst nicht mehr als eine Sammlung von Teilideen, die mehreren Individuen gemeinsam sind; erst nach weiteren Schritten wird es zur Wesenheit (essence) ernannt. Das, was Gassendi im Unterschied zum Verfahren der Abstraktion als Verfahren der Generalisierung von Ideen durch Bildung einer Sammlung (aggregando) beschreibt, kommt Lockes Vorstellungen von der Abstraktion komplexer Ideen recht nahe: Der Geist bildet aus Teilideen, in denen mehrere individuelle Ideen einander ähnlich sind, eine Sammlung, die zur Idee von ihnen allen wird. Diese Sammlung nennt er allgemein, damit man sie auch als Gattung bezeichnet.21 Bei Gassendi handelt es sich wie bei Locke bei der Abstraktion komplexer Ideen nicht mehr um die Freilegung einer gemeinsamen Wesenheit, sondern um die Abstraktion und Sammlung gemeinsamer Teilideen; aber bei Locke erfordert die Suárez, DM (wie Anm. 3) 6.6.12; 228b, 6–18 (Abstraktion durch Vergleichung). – Dagegen ebd. 6.6.9; 227, 29–33 (bloße Abstraktion): „Universale igitur priori modo conceptum fit per directam operationem intellectus [d.h. durch eine Verstandestätigkeit, die sich nicht auf Vorstellungen, sondern auf Gegenstände richtet], quae praecise et abstracte concipit naturam communem absque differentiis contrahentibus [...]“. 21 Gassendi, Opera (wie Anm. 6), hier Bd. 1: Institutio logica (91–124), hier Pars 1, canon 4, Sp. 93a, Z. 59–64 (Beschreibung der Verallgemeinerung von Ideen aggregando): „Priore enim modo Mens simileis ideas veluti seponens in vnam cogit aggeriem, quae omneis proinde continens, vniuersarum Idea fit, ac vniuersalis proinde, & communis, generalisque dicitur; imo & sub vno nomine communi appellatur Genus“. – Demgegenüber lautet die Beschreibung der Verallgemeinerung durch Abstraktion, ebd. Sp. 93b, Z. 5–15: „[...] cum licet Ideae illae singulares in aliquo similes sint, seu mutuo conueniant, multa tamen simul discrimina habeant, quibus inter se differant, ideo Mens seorsim spectando, ac veluti abstrahendo id, in quo omnes conueniunt, & detractis, seu non spectatis discriminibus, quibus differunt; illud sic abstracte spectatum, nihilque non commune habens, pro Idea communi, vniuersali, generali habet, quae & ipsa dicatur Genus.“ Bei späteren Zitaten aus diesem Werk verwende ich Kurzangaben, z.B. „Gassendi, Institutio logica (wie Anm. 21) I, can. 4; I 93b, 5 15“. 20
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Überführung einer solchen Sammlung in eine Gattung zusätzliche Verstandestätigkeiten, auch nennt er nur ein einziges Verfahren zur Bildung genereller Ideen. Abstrakte Ideen sind für Locke mentale Tätigkeiten und bleiben als solche immer individuell. Aber die Abstraktion verändert etwas an ihnen: Sie deaktiviert die Komponenten, die etwas Singuläres repräsentieren, und macht auf diese Weise Ideen zumindest ihrer Bedeutung nach allgemein.22 Als geistige Tätigkeiten sind sie etwas Individuelles, aber ihre Repräsentationsleistung ist generell. Weil generelle Ideen ihre Beziehung zu örtlich und zeitlich bestimmten individuellen Existenzen verloren haben, werden sie manchmal in der Schulphilosophie als absolutes Allgemeines bezeichnet, das heißt, als nichtrelatives Allgemeines oder als Allgemeines ohne unmittelbare Beziehung zu Individuen.23 Locke verwendet die Schulausdrücke ‘absolutes Allgemeines’ und ‘relatives Allgemeines’ nicht, orientiert sich aber an den von ihnen bezeichneten Sachverhalten, denn er unterscheidet das Allgemeine der Ideen und Wörter deutlich vom Allgemeinen der Gattungen und Arten. Die Abstraktion verschafft uns generelle Ideen und mittelbar auch generelle Wörter, das heißt mit schulphilosophischen Ausdrücken, sie verschafft uns das absolute oder nichtrelative Allgemeine. Dagegen verschafft sie uns nicht das Allgemeine der Gattungen und Arten, das manchmal in der Schulphilosophie als relatives Allgemeines bezeichnet wird. Locke behandelt die Abstraktion von einfachen Ideen und einfachen Modi, gemischten Modi und Substanzen; er glaubt, daß die Abstraktion von Relationen mit der Abstraktion gemischter Modi schon abgehandelt ist.24 Daran, daß man auch einfache Ideen abstrahieren kann, hegt er keinen Zweifel. Z.B. teilt er mit, daß der Geist drei Arten abstrakter Ideen hat, und zwar erstens einfache Ideen.25 Bezeichnenderweise illustriert er seine erste Beschreibung der Abstraktion mit dem Beispiel einer einfachen Idee. Der Geist, berichtet er, beobachtet heute an Kalk oder Schnee die gleiche Farbe, die er gestern von Milch bekommen hat; diese Erscheinung betrachtet er für sich allein, macht sie zum Repräsentanten aller Exemplare derselben Art, gibt ihr den Namen ‘weiß’ und bezeichnet diese Qualität, wo immer er sie wahrnimmt oder sich vorstellt, mit dieser Folge von Lauten.26 Einige Interpreten erklären, daß sich Locke hier irrt, Essay III.3.11; 414, 8–10. Z.B. Suárez, DM (wie Anm. 3) 6.6.8; 227a, 20–26: „[...] advertendum est universale dupliciter posse a nobis concipi vel denominari. Primo, ut quid absolutum secundum esse, quod potest relationem aliquam fundare. Secundo, ut relativum secundum esse, dicens ordinem ad inferiora.“ 24 Essay III.5,16; 437, 26–28. 25 Essay II.31.12; 382, 35 – 383, 1. 26 Essay II.11.9; 159, 23–29. 22 23
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weil einfache Ideen schon von Natur aus abstrakt sind, so daß man sie weder zu abstrahieren braucht noch abstrahieren kann. Andere Autoren respektieren Lockes Angaben, z.B. Reinhard Brandt in seiner Locke-Darstellung im Neuen Ueberweg.27 Man kann einfache Ideen im Sinne Lockes in der Tat nicht in derselben Weise abstrahieren wie individuelle Lockesche Substanzideen. Diese enthalten außer sonstigen einfachen Ideen und der undeutlichen Trägeridee noch die Idee der Existenz sowie Umstandsbestimmungen des Ortes und der Zeit. Deren Entfernung durch Abstraktion macht Substanzideen zu generellen Ideen. Dagegen enthalten einfache Ideen nur eine einzige Vorstellung, in der sich keine Komponenten unterscheiden lassen.28 Deshalb kann man aus ihnen auch keine Komponenten entfernen, z.B. keine Existenzideen und keine Umstandsbestimmungen des Ortes und der Zeit. Die Frage ist, wieso sie dann individuell sein können. Locke scheint anzunehmen, daß sie bei ihrem Aufenthalt in Wahrnehmungskomplexen von den darin enthaltenen individuierenden Bestimmungen mitindividuiert werden: Das Rot vom Schühchen Chloes ist kein abstraktes Rot, sondern es ist gekennzeichnet als dasjenige Rot, welches Chloes Schühchen schöner macht. Sobald man diese Kennzeichnung übersieht, erhält man die abstrakte Vorstellung ‘rot’. Übersehen ist in diesem Fall ein komplexer Vorgang, der sich in drei Schritten vollzieht. Allerdings hat die Sinnlichkeit dem Verstand den ersten dieser Schritte schon abgenommen. Nach Meinung Lockes sind die Qualitäten, die einfache Ideen in uns hervorrufen, in den Dingen so miteinander verquickt, daß zwischen ihnen keine Trennung oder Entfernung besteht. Trotzdem treffen die von ihnen hervorgerufenen Ideen einfach und unvermischt bei uns ein, und wir nehmen jede einzelne von ihnen trotz der Verquickung der sie erzeugenden Qualitäten deutlich wahr.29 Das Sinnesvermögen leistet also für den Verstand so etwas wie eine Vorabstraktion, denn es bewirkt, daß die Bestandteile unserer Wahrnehmungen von gegenständlichen Komplexen klar unterscheidbar sind.
Reinhard Brandt, John Locke und die Auseinandersetzung mit seinem Denken, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, begründet von Friedrich Ueberweg, Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Band 3: England, hg. von Jean-Pierre Schobinger, Basel 1988, hier Kapitel 9, § 29: „John Locke“, 607–713, hier 660: „Die einfache Idee wird durch Abstraktion, d.h. durch die Konzentration der Aufmerksamkeit auf gleiche Elemente in Wahrnehmungskomplexen und die Nichtbeachtung der variierenden partikulären Umstände gewonnen. Sie ist somit ein bestimmtes Diesda und zugleich eine Idee von hoher Allgemeinheit; sie kann zugleich als Sinnesdatum und als Produkt einer Abstraktionstätigkeit begriffen werden.“ 28 Essay II.2.1; 119, 16–20. 29 Essay II.2.1; 119, 5–13. 27
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Bei diesen unterscheidbaren Bestandteilen setzt die Arbeit des abstrahierenden Verstandes ein. Einfache Ideen gelangen bündelweise in unseren Geist,30 weil die Dinge mehrere Sinne zugleich affizieren.31 Deshalb besteht der zweite Schritt auf dem Weg zur Abstraktion darin, solche Bündel zu entflechten. Aber dadurch gelangt man in der Regel noch nicht zu den einfachen Ideen selbst, sofern sie uns in einfachen Modi begegnen. Aus diesen muß sie der Verstand in einem dritten Schritt herausarbeiten. Einfache Modi sind komplexe Ideen, die aus einfachen Ideen nur einer einzigen Art bestehen. Sie werden durch eine Verstandestätigkeit gebildet, die Locke als Wiederholung (repetition) oder – vielleicht in Anlehnung an Gassendi – als Erweiterung (enlarging) bezeichnet32 und die in der Hinzufügung oder Entfernung einfacher Ideen derselben Art und in der Vereinigung der dann noch vorhandenen Ideenmenge zu einer neuen Idee besteht.33 ‘Erweiterung’ ist insofern ein mehrdeutiger Ausdruck, als einige einfache Ideen kontinuierliche oder diskrete Quantitäten bilden34 (qualities capable of parts), während andere in intensivierten oder abgeschwächten Qualitäten erscheinen (qualities capable of degrees); dies gilt nach der Meinung von Schulphilosophen für Fertigkeiten, Neigungen, Zustände wie flüssig/fest und wahrnehmbare Qualitäten. Deswegen gibt es verschiedene Weisen der Erweiterung, z.B. die Vergrößerung eines Kontinuums oder einer diskreten Quantität durch Hinzufügung oder Fortnahme von Teilen oder die Intensivierung beziehungsweise Abschwächung einer intensiven Qualität durch das Hinzukommen oder Entfallen von Graden.35 Wenn der Geist einfache Ideen aus einfachen Modi abstrahieren will, dann muß er aus diesen einen Teil oder Grad herauslösen. Locke betrachtet z.B. ‘fünf’ als einfachen Modus, der aus fünf Einsen oder Einheiten besteht. Wer die einfache Idee ‘eins’ oder ‘Einheit’ aus dem einfachen Modus ‘fünf’ abstrahieren will, der muß eins ihrer Vorkommen, anstatt es noch einmal zu der diskreten Quantität hinzuzufügen oder von ihr fortzunehmen, für sich allein betrachten. Entsprechendes gilt für die übrigen einfachen Modi, doch sind die Einzelheiten bei Kontinuen und erst recht bei Gradmengen (degrees) weniger Essay II.1.3; 105, 1–4. Essay II.2.1; 118,18–19. 32 Essay II.11.6; 158, 9. – Vgl. Gassendi, Opera, „Institutio logica“ (wie Anm. 21) I, can. 3; 93a, 14–20: „Deinde vero, ex iis, quae per Sensum transierunt, ac in Mente sunt, variae [Ideae] variisque modis formantur: vt compositione, & quasi adunatione plurium, ampliatione, aut imminutione eiusdem, & accommodatione vnius ad rem aliam, quam illam, de qua sumpta est.“ 33 Essay II.11.6; 158, 10–14. 34 Einen Eindruck vermitteln Essay II.25.9, Anm.; 201–202, und Essay II.17.6–7; 212, 23– 214,2. 35 Essay II.17.1; 209, 25–28. – Essay IV.2.11; 535, 18–19. – Essay II.28.1; 349, 1–2 nennt beide Arten von einfachen Ideen: „[...] some one simple Idea; which being capable of Parts or Degrees [...]“. 30 31
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einfach zu rekonstruieren als bei diskreten Größen. Bei intensivierbaren Qualitäten ist Lockes Kurzsilbigkeit wahrscheinlich nicht von Schaden, denn er verwendet die zu seiner Zeit schon veralteten Wörter ‘intensio’ (im Essay ‘intention’ statt ‘intension’) und ‘remissio’ (remission) nicht mehr wie ein Schulphilosoph als physikalische Termini, sondern nur als figürliche Ausdrücke zur nichtmechanischen Beschreibung von Zuständen phänomenaler Qualitäten. Lockes Überlegungen kann man entnehmen, daß einfache Ideen nicht von Natur aus abstrakt sind. Sie werden es erst durch Abstraktion. Solange sie in den Wahrnehmungskomplexen verbleiben, in denen sie zu uns gelangen, werden sie durch deren individuierende Bestimmungen mitindividuiert, und erst dadurch, daß sie der abstrahierende Verstand aus diesen Wahrnehmungskomplexen herauslöst, werden sie zu abstrakten Ideen. Daß bei der Abstraktion einfacher Ideen nicht Bestandteile dieser selbst, sondern benachbarte Teilideen abgetrennt werden, die sie vorher sozusagen überschattet haben, ist eine Besonderheit, die Locke anscheinend weniger stört als seine Interpreten. Weil einfache Ideen einfach sind, bekommt man bei ihnen zusätzliche Schwierigkeiten, wenn man zu höheren Stufen der Abstraktion aufsteigen will, denn anders als von komplexen Ideen kann man von ihnen keine spezifischen Differenzen abtrennen, um zu nächsthöheren Gattungen und generelleren Namen zu gelangen.36 Wenn der Verstand verschiedene einfache Ideen wie ‘weiß’ und ‘rot’ mit einem einzigen Namen erfassen möchte, dann muß er sich vielmehr mit einem Ausdruck behelfen, der nur den Weg bezeichnet, auf dem sie in den Geist gelangt sind. Wenn er sie unter dem gemeinsamen Namen ‘Farbe’ erfaßt, um die nächsthöhere Gattung zu bilden, dann stützt er sich darauf, daß sie über den Gesichtssinn zu ihm gekommen sind. Der noch generellere Ausdruck ‘Qualität’ macht klar, daß alle unter ihn subsumierbaren Ideen nicht über mehrere Sinne, sondern über einen einzigen Sinn in den Geist gelangen; das gilt z.B. für Farben, Töne, Geschmäcke, Gerüche und fühlbare Qualitäten im Gegensatz zu Ausdehnung, Zahl, Bewegung, Lust und Schmerz, deren Ideen wir von mehr als einem Sinn empfangen.37 Weil sich der Inhalt einfacher Ideen bei der Abstraktion nicht verändert, ist es nicht abwegig, daß sie sowohl abstrakte substantivische als auch konkrete adjektivische Namen bekommen, z.B. ‘Weiße’ und ‘weiß’, ‘Süße’ und ‘süß’.38 Die Verwendung von Adjektiven ist deshalb angemessen, weil Qualitäten zunächst Substanzen inhärieren. Andererseits ist die Verwendung von Substantiven deshalb angemessen, weil sie durch die Herauslösung aus ihren Wahrnehmungskomplexen bei der Abstraktion so unabhängig werden, daß sie gleich36 37 38
Essay III.4.16; 427, 27–428, 1. Essay III.4.16; 428, 3–18. Essay III.8.2; 474, 28–31.
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sam für sich bestehen und in sich selbst vollkommen sind.39 Bereits Gassendi bemerkt, daß man Qualitätsideen mit abstrakten Substanzausdrücken bezeichnet, wenn man sie unter Absehung von Substanzen betrachtet. Betrachtet man sie dagegen unter dem Gesichtspunkt, daß Qualitäten in Wirklichkeit Substanzen inhärieren, dann verwendet man Adjektive.40 Diese Auslegung von Lockes Mitteilungen über die Abstraktion einfacher Ideen ist mit Lockes allgemeinen Beschreibungen der Abstraktion verträglich. Essay II.11.9 verlangt, daß man Ideen, die man abstrahieren will, getrennt von allen anderen Existenzen und von den Umständen realer Existenz wie Zeit, Ort und sonstigen sie begleitenden Ideen anschaut; ferner muß man einfache Ideen, die man abstrahieren will, als bloße Erscheinungen im Geist betrachten, ohne zu berücksichtigen, unter welchen Umständen und mit welchen anderen Ideen sie bei uns angekommen sind;41 diese beiden Forderungen sind hier erfüllt. Lockes Wortlaut läßt offen, ob die abzutrennenden Ideen Bestandteile der zu abstrahierenden Ideen sein müssen oder nicht; er macht nur klar, daß Ideen, die abstrahiert werden sollen, von den Ideen der Existenz und ihrer Umstände und überhaupt von allen sie begleitenden Ideen abzutrennen sind. Daß der Text die Explikation von ‘Abstraktion’ am Beispiel einer einfachen Idee illustriert, ist ein ernstzunehmender Hinweis. Nach der Beschreibung in Essay III.3.6 werden Ideen generell, wenn man sie von den Umständen der Zeit und des Ortes sowie von allen anderen Ideen abtrennt, die sie zu dieser oder jener individuellen Existenz bestimmen könnten.42 Die Herauslösung aus Ideenpaketen und einfachen Modi trennt in der Tat die zu abstrahierenden einfachen Ideen von den Umständen der Zeit und des Ortes und von den übrigen individuierenden Umstandsbestimmungen. Auch hier gibt der Wortlaut keine Auskunft darüber, ob die abzutrennenden Ideen Bestandteile der zu abstrahierenden Idee sein müssen oder nicht; aber daß der Autor nicht „by leaving out of them“, sondern „by separating them“ sagt, ist vielleicht ebenfalls ein Hinweis. Die Elements of Natural Philosophy verlangen, daß man eine Idee, die man abstrahieren möchte, als getrennt von Zeit und Locke, Works (wie Anm. 19), Bd. 3: A Defence of Mr. Locke’s Opinion concerning Personal Identity (177–201), hier 186, Z. 13–18: „Thus qualities of a certain kind, when abstracted, or taken apart from nature, and set up for common standards, are so far independent as to become absolute, unmixed, or perfect in themselves, however different they may be found in their respective concretes.“ 40 Gassendi, Institutio Logica (wie Anm. 21) I, can. 7; I 95b, 12–20: „Nota & suas quoque esse adiunctorum, seu proprietatum, qualitatumque ideas, provt illae quidem abstractis exprimuntur nominibus, dum spectantur, quasi secretae a suis subiectis, quae nominibus concretis vulgo exprimuntur. Ita non modo ideam candidi subiecti habemus, sed seorsim quoque candoris; non modo iusti, sed seorsim quoque iustitiae; atque ita de caeteris.“ 41 Essay II.11.9; 159, 10–15. 42 Essay III.3.6; 411, 1–4. 39
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Ort betrachtet;43 auch dieser Text schließt die Besonderheiten bei der Abstraktion von einfachen Ideen nicht aus. Bei komplexen Ideen endet der Abstraktionsvorgang mit einem Akt der Zusammenstellung abstrahierter Teilideen. Der Gedanke an die Zusammenstellung abstrakter Teilideen zu einer Sammlung spielt bei Lockes Darstellung der Bildung komplexer genereller Ideen eine wichtige Rolle. Die Annahme, daß man gemischte Modi wie ‘Beschaulichkeit’ und imaginäre Substanzideen wie ‘Einhorn’ selbst zusammenstellt, ist unmittelbar plausibel. Bei Substanzideen, die man durch Erfahrung erwirbt, ist sie zumindest insofern plausibel, als man die Idee des angenommenen Trägers mit den jeweils gegebenen einfachen Ideen zusammendenken muß; sie leuchtet aber auch deshalb ein, weil nur solche Ideen zu einer komplexen Idee vereinigt werden, die der Verstand als Einheit denkt, das heißt, die er zu einer Einheit verbindet („gives them connexion“).44 Auf die Verallgemeinerung gemischter Modi geht Locke zwar ein, doch kommt es nicht zu einer systematischen Ausarbeitung. Gemischte Modi sind wahrscheinlich die interessanteste Erfindung Lockes; zu ihnen gehören Vorstellungen wie ‘göttliches Recht der Könige’, ‘Wohlverhalten’ und ‘Rechtgläubigkeit’, aber auch Ideen wie ‘Parallelogramm’, ‘Dominante’ und ‘Regenbogen’. ‘Gemischte Modi’ ist also ein sehr weiter Terminus, der Kombinationen von einfachen Ideen verschiedener Arten bezeichnet.45 Während z.B. Akkorde und Mischungen von Farben, Geschmäcken oder Düften als einfache Modi gelten, weil sie jeweils aus Qualitäten derselben Art bestehen, gelten beispielsweise Kombinationen von Farben und Gestalten, z.B. malerische Sujets und Regenbögen, als gemischte Modi, denn Farben und Gestalten bilden verschiedene Arten einfacher Ideen.46 Locke geht eher beiläufig auf die Abstraktion gemischter Modi ein. Vor allem Essay II.22 („Of Mixed Modes“) und Essay III.5 („Of the Names of mixed Modes and Relations“), das mehr Informationen über gemischte Modi als über deren Namen enthält, kann man einige Einzelheiten entnehmen. Die Ausgangslage variiert anscheinend von Modusart zu Modusart, und zwar in Abhängigkeit von der Entstehungsweise. An manchen Stellen scheint Locke anzunehmen, daß gemischte Modi schon immer allgemein sind; das kann aber nur für solche gemischte Modi gelten, die der Verstand auf eigene Der Wortlaut der Stellen aus Abstract 3.3 und aus Elements of Natural Philosophy wurde in Anm. 19 zitiert. 44 Essay III.5.4; 429, 31–36. Die beiden ersten dort genannten Tätigkeiten des Verstandes („chuse“ und „make them into one Idea“) finden bei der Bildung aller generellen komplexen Ideen statt; die dritte („tie them together by a Name“) betrifft zunächst gemischte Modi. 45 Essay II.22.1; 288, 3–9. 46 Essay II.18.4; 224, 20–27. 43
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Faust zusammensetzt. Für gemischte Modi, die er durch Erfahrung erwirbt, trifft es sicher nicht zu. Daran, daß es erfahrbare gemischte Modi gibt, zweifelt Locke nicht. Schon Draft C erklärt, daß man Modifikationen einfacher Ideen nicht nur im Geist, sondern auch in existierenden Dingen findet;47 und der Essay bestätigt, daß wir Ideen gemischter Modi auf dreierlei Weise bekommen, nämlich durch Erfahrung, Erfindung und Explikation.48 Um Erwerb durch Erfahrung handelt es sich zunächst bei alltäglichen Modi wie ‘naßkalt’ oder ‘Regenbogen’, aber Locke nennt als Beispiel einen komplizierteren Fall: Jemand sieht zwei Männer ringen oder fechten und bildet daraufhin die Ideen ‘Ringen’ oder ‘Fechten’. Modi, die man durch Erfahrung erwirbt, enthalten mit Sicherheit individuierende Bestimmungen und werden nicht nur nach Gutdünken zusammengestellt; man bekommt sie zumindest zum Teil durch Beobachtung,49 und was man beobachtet, das bestimmt man nicht allein. Locke sagt zwar, daß wir bei erfahrenen Ideen gemischter Modi in der Regel eine gewisse Kombinationsfreiheit haben,50 aber er erklärt nicht, was er damit meint. Demgegenüber trifft es für gemischte Modi, die man durch Erfindung erwirbt, unmittelbar zu, daß man ihre Ideenkombinationen ohne Rücksicht auf Vorbilder in der Natur zusammenstellt; sie müssen also keine individuierenden Bestimmungen enthalten. Locke nennt als Beispiele ‘Buchdruck’ und ‘Kupferstich’, die man schon deshalb nicht nach vorhandenen Vorbildern zusammenstellen konnte, weil es noch keine Vorbilder gab.51 In Essay III.5.4 heißt es, daß der Geist zur Erzeugung gemischter Modi Sammlungen verschiedenartiger einfacher Ideen zusammenstellt. Sofern es sich um bereits abstrahierte Ideen handelt, erübrigt sich eine weitere Abstraktion. Aber bei wahrgenommenen gemischten Modi sind individuelle Ideen im Spiel, die man abstrahieren muß, wenn man einen generellen Modus erhalten will. In Modi wie ‘Fechten’ und ‘Ringen’, die zumindest von ihren Nichterfindern durch Erfahrung erworben werden, gehen außer erfahrenen auch hinzugedachte Elemente ein. Soweit diese bereits generell sind, erfordern sie keine Abstraktion; soweit sie aber noch individuell sind, muß man abstrahieren. Der Text sagt nicht ausdrücklich, daß man danach den generellen Modus neu zusammenstellen muß. In Essay III.5.5 erscheinen als Beispiele ‘Sakrileg’ und ‘Ehebruch’.52 Die Annahme, daß bei deren Bildung Wahrnehmungsideen mit im Spiel sind, liegt nahe, läßt sich aber nicht textlich belegen. Dagegen zeigt die Lamech-Ge47 48 49 50 51 52
Richard Aaron, John Locke, Oxford ²1963, hier „Draft C of Locke’s Essay“, 55–73, hier 66. Essay II.22.9; 291, 34–292, 6. Essay II.22.2; 288, 29–289, 1. Essay III.5.6; 431, 22–27. Essay II.22.9; 292, 2–5. Essay III.5.5; 430, 10–15.
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schichte in Essay III.6, daß die Bildung des gemischten Modus ‘Eifersucht eines Ehemanns’ (Kinneah) mit Erfahrungen Adams zusammenhängt. Adah ist freundlich zu einem anderen Mann, und zwar, wie Adam glaubt, nach Meinung ihres Ehemanns Lamech zu freundlich. Darin erblickt Adam den Grund für Lamechs Schwermut, die ihn zur Bildung des gemischten Modus ‘Eifersucht’ veranlaßt.53 Einige Teilideen des Modus ‘Lamechs Eifersucht’ stammen vermutlich nicht unmittelbar aus der Erfahrung, aber andere tun es gewiß. Um den teils individuellen Modus ‘Lamechs Eifersucht’ in den generellen Modus ‘Eifersucht’ zu überführen, bedarf es also einiger Abstraktionen.54 Auch hier geht der Text nicht auf die Frage ein, ob man danach diesen Modus neu zusammenstellen muß. Locke sagt, daß der Geist bei der Bildung gemischter Modi in drei Schritten vorgeht. Erstens wählt er mehrere einfache Ideen aus, zweitens verknüpft er sie miteinander, um eine einzige Idee aus ihnen zu machen, und drittens verknotet er sie mit einem Namen.55 Ideen gemischter Modi haben also anders als die übrigen Ideen zwei Einheitsgründe: Erstens den Akt, mit dem der Geist die ausgewählten einfachen Ideen als Einheit betrachtet, und zweitens den Namen, der als Abschluß und Merkzeichen der Einheit gemischter Modi dient.56 Daß diese überleben, ist ihren Namen zu verdanken, denn vor der Namensgebung sind sie bloß flüchtige Ideenkombinationen, denen in der Regel kein Vorbild in der Natur entspricht und die aufhören zu existieren, sobald man sie nicht mehr aktuell denkt. Ohne Namen zerbröselte die lockere Verbindung ihrer Teilideen, aber die Sprache bewahrt Namen und Bedeutungen auf, und deshalb sind bei gemischten Modi die Namen sozusagen Knoten, die die Teilideen zusammenhalten.57 Andererseits haben sie den Nachteil, daß ihre genaue Bedeutung schwer festzustellen ist, weil sie meistens nicht für allgemein zugängliche Außenphänomene stehen. Deswegen muß man bei ihnen mit stärkeren Bedeutungsschwankungen rechnen als bei Namen anderer Ideenklassen,58 zumal da unsere Neigung zur Lässigkeit bewirkt, daß wir uns bei der Rekonstruktion der Komponenten so komplizierter genereller Ideen wie ‘Gerechtigkeit’ oder ‘Erfahrung’ nicht genug Mühe geben.59 Zu generellen Ideen wirklicher Substanzen gelangt man, wenn man solche Sammlungen einfacher Ideen zusammenstellt, die wiederholt bei mehreren Einzelsubstanzen aufgetreten sind, und sie mit der undeutlichen Idee von etwas 53 54 55 56 57 58 59
Essay III.6.44; 466, 21–467, 16. Essay III.6.44; 467, 5–13. Essay III.5.4; 429, 31–36. Essay II.22.4; 289, 29–290, 1. Essay II.22.8; 291, 19–25. Essay III.9.7; 478, 17–19. Essay III.9.9; 480, 5–24.
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zusammendenkt, in dem sie subsistieren;60 die betreffenden einfachen Ideen wurden schon beim Vergleich der Einzelsubstanzen abstrahiert. Nach Locke sind Sammlungen einfacher Ideen, die für generelle Substanzideen verwendet werden, nicht unmittelbar durch Erfahrung gegeben. Ideensammlungen fiktiver Substanzarten, die nicht aus der Erfahrung stammen können, enthalten ohnehin nur Ideen unserer Wahl; nicht die Natur, sondern der Geist stellt sie zusammen.61 Aber auch Sammlungen, die bei der Bildung genereller Ideen von wirklichen Substanzen verwendet werden, stammen nicht unmittelbar von der Natur. Sonst könnten sie nicht von Mensch zu Mensch verschieden sein: Je nach Genauigkeit, Erfahrung oder Beobachtungsgabe läßt der eine bestimmte einfache Ideen aus, die ein anderer in seine Sammlung aufnimmt.62 Stellt man die einfache Idee einer trüben weißlichen Farbe und bestimmter Grade von Gewicht, Härte, Biegsamkeit und Schmelzbarkeit mit der undeutlichen Trägeridee zusammen, dann erhält man die generelle Alltagsidee ‘Blei’; verbindet man mit der Trägeridee die Idee einer bestimmten Gestalt und des Vermögens, sich zu bewegen, zu denken und Schlüsse zu ziehen, dann erhält man die generelle Alltagsidee ‘Mensch’.63 Geistigen Tätigkeiten wie Denken, Schließen und Fürchten ergeht es dabei nicht anders als körperlichen Qualitäten: Wir nehmen an, daß sie nicht aus eigener Kraft subsistieren, aber auch nicht vom Körper herrühren können, und erklären sie deshalb zu Tätigkeiten einer anderen Art von Substanz, die wir als Geist bezeichnen. In Wirklichkeit ist für uns ‘Geist’ keine klarere generelle Idee als ‘Körper’:64 Beide sind gleichermaßen Sammlungen von einfachen Ideen, verbunden mit dem Gedanken an ein unbekanntes Etwas, zu dem sie gehören und in dem sie subsistieren. Davon, wie dieses Etwas beschaffen ist, haben wir keine klare und deutliche Idee.65 Locke nimmt an, daß generellere Ideen in der Regel aus weniger generellen durch Auslassung gebildet werden. Sofern abstrakte Ideen ihre individuierenden Bestimmungen verloren haben, sind sie unvollständige Begriffe von Individuen. Auf ähnliche Weise betrachtet der Essay allgemeinere Ideen als ausgedünnte Versionen von weniger allgemeinen.66 Wenn man z.B. aus einer abstrakten Idee wie ‘Sinneswesen’ (animal) absichtlich die Bestimmungen ‘sinnesbegabt’ und ‘spontane Bewegung’ ausläßt und nur die Bestimmungen ‘Körper’, ‘Leben’ und ‘vegetatives Vermögen’ übrig läßt, dann bekommt man 60 61 62 63 64 65 66
Essay II.23.3; 296, 20–297, 14. Essay II.32.22; 392, 16–19. Essay III.6.31; 458, 23–459, 2. Essay II.12.6; 165, 24–32. Essay II.23.5; 297, 24–298, 1. Essay II.23.37; 316, 26–29. Essay III.6.32; 460, 4–7 und 13–21. – Abstract (wie Anm. 19) 3.6; 383, 4–8 und 15–18.
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eine Idee von größerem Umfang, mit der der Name ‘Lebewesen’ (vivens) verbunden wird. Weniger allgemeine Ideen, die man unter solche Ideen subsumieren kann, stehen für weniger Individuen als allgemeinere Ideen, weil sie noch nicht so vieler Bestimmungen beraubt sind.67 Gattungsideen stehen dagegen für mehr Individuen als Artideen, weil sie als Reste unter sie subsumierbarer Ideen noch unbestimmter sind als diese. Wenn man bei sehr allgemeinen Ideen noch mehr ausläßt, dann erhält man noch umfassendere Ideen. Läßt man z.B. aus ‘Lebewesen’ die Bestimmungen ‘lebendig’ und ‘vegetativ’ aus, dann behält man die Idee ‘materielle Substanz’ oder ‘Körper’. Läßt man aus dieser ‘materiell’ aus, dann behält man nur noch die Idee ‘Substanz’, die nicht allein für Körper, sondern auch für Geister steht. Abstrahiert man bis zur letzten Möglichkeit, dann erhält man schließlich allgemeinste Ausdrücke wie ‘Seiendes’ oder ‘Ding’, die für beliebige Ideen stehen können. In der Regel bezeichnet Locke nur Termini wie diese als Universalien (universal terms). Für die allgemeinste und unserem Denken vertrauteste allgemeine Vorstellung hält er auch im Essay die Idee ‘eins’, die zu allen existierenden oder vorstellbaren Dingen paßt, weil alle Dinge gleichermaßen individuell sind und weil Individualität eine Form von Einheit ist.68 Es ist eins der Verdienste der Lehre des Essay vom Allgemeinen, daß sie im Gegensatz zu den meisten Vorgängern nicht nur Art- und Gattungsideen, sondern auch Art- und Gattungsnamen ausführlich erörtert. Generelle Ideen sind etwas Internes und Privates, zu dem nur der Verstand, der sie jeweils vorstellt, unmittelbaren Zugang hat;69 man kann sie als gedachtes absolutes Allgemeines bezeichnen.70 Wenn man anderen das gedachte Allgemeine mit Hilfe sprachlicher Zeichen zugänglich macht, dann bedient man sich des sprachlichen absoluten Allgemeinen. Wörter transportieren Vorstellungen aber nicht so wie ein Wagen Waren, sondern sie regen nur den Geist des Hörers zur Vergegenwärtigung der Ideen an, die er selbst mit den Wörtern, die er hört, zu verbinden pflegt;71 der Hörer hat also keinen direkten Zugang zu Ideen des Sprechers. Ideen, für die Wörter stehen, bezeichnet Locke als Wortbedeutungen.72 Ein geEssay III.3.9; 412, 21–24. – Essay III.6.32; 459, 7–10. Essay III.3.9; 412, 25–27. – Essay II.16.1; 205, 1–10. – ‘Universal’ ist bei Locke nicht häufig. In Essay II.11.9; 159, 28, hat es nicht den bei Locke häufigeren Spezialsinn ‘ganz allgemein’, sondern den üblichen Sinn von Universalien. Ferner ist an der Stelle „Remarks upon some of Mr. Norris’s Books, wherein he asserts P. Malebranche’s Opinion of our Seeing all Things in God“, in: Locke, Works (wie Anm. 19), Bd. 10; 250, 21, ‘universality’ synonym mit dem ebenfalls seltenen ‘generality’. 69 Essay III.2.2; 405, 27–33. 70 Die Verwendung des Ausdrucks ‘mental’ empfiehlt sich hier nicht, weil ihn Locke im Essay für Aussagen und nicht für Begriffe verwendet. 71 Essay III.2.6; 407, 19–27. – Essay III.2.8; 408, 10–19. 72 Essay III.4.6; 422, 6–7. 67 68
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nerelles Wort ist generell, weil es für eine generelle Idee steht;73 generelle Wörter setzen also generelle Ideen voraus. Wenn der Sprachstifter, wer immer das sein mag, eine neue Idee gebildet hat, dann erfindet er einen Namen für sie und macht sie mit dessen Hilfe der Sprachgemeinschaft zugänglich. Daß generelle Wörter ursprünglich nicht für Mengen von Artexemplaren, sondern für abstrakte Ideen stehen, wird mehrmals betont.74 Eine andere Lösung läge schon deshalb nicht nahe, weil es auf der Stufe des Allgemeinen der Ideen und Wörter noch keine Arten und Artexemplare gibt. Erst später werden generelle Namen zu Zeichen für Artindividuen, aber sie sind es immer nur mittelbar, nämlich deshalb, weil sie Zeichen für abstrakte Ideen sind.75 Nach Locke dienen generelle sprachliche Zeichen außer zur Kommunikation auch zur Erleichterung des eigenen Denkens; sie sind sogar für manche Denkvorgänge unentbehrlich, wie Locke am Beispiel des Rechnens mit hohen Zahlen zeigt.76 Mißglückte Wortwahlen können daher nicht nur der Verständigung, sondern auch dem Denken schaden. Vom gedachten und sprachlichen absoluten Allgemeinen, das aus generellen Ideen und generellen Wörtern besteht, ist das relative Allgemeine oder das Allgemeine der Gattungen und Arten zu unterscheiden. In der Philosophiegeschichte ist oft darüber gestritten worden, was Gattungen und Arten sind. Locke äußert an mehreren Stellen die Ansicht, daß sie dasselbe sind wie abstrakte Ideen, sofern sich Individuen unter sie subsumieren lassen. Andere Passus bezeichnen generelle Ideen, verbunden mit Namen, und wieder andere kurzerhand generelle Namen als Gattungen oder Arten;77 die Kurzformulierung ist nicht anstößig, weil es für Locke ohne Ideen keine Namen gibt. Auch ist die Gleichsetzung von generellen Ideen und Namen mit Gattungen oder Arten nicht abwegig, denn generelle Ideen und Namen haben die Fähigkeit, als Intensionen möglicher Arten zu dienen, und sind daher, um in der Schulsprache zu reden, in unmittelbarer Potenz zum Subsumptions-Allgemeinen. Mit Rücksicht darauf kann man sie als Arten im intensionalen Sinn oder als Arten unter dem Aspekt der Intension bezeichnen. Das wird unter Umständen plausibler, wenn man sich an Bedeutungen des Ausdrucks ειδος erinnert: Er steht sowohl für
73 74 75 76 77
Z.B. Essay III.3.6; 410, 36–411,1. Z.B. Essay II.32.7; 386, 13–18, Essay III.3.9; 412, 28–31, und Essay IV.6.4; 581, 4–7. Essay III.3.12; 414, 23–27. Essay II.16.5–6; 207, 1–16. Ideen: Essay II.28.18; 360, 32–34. Essay III.6.32; 460, 4–7. Namen: Essay III.3.10; 412, 34–36. Essay III.4.16; 428, 7–8. Essay IV.8.13; 617, 12–15. Ideen mit Namen: Essay III.3.9; 412, 28–31. Essay III.3.20; 420, 17–22. Essay III.6.13; 448, 7–8.
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Ideen als auch für Arten, in welchem Sinn auch immer, und Locke war sehr gelehrt. Sobald man Individuen unter generelle Ideen oder Namen subsumiert, hat man den Gegenstand der Lehre vom absoluten oder nichtrelativen Allgemeinen verlassen und ist bei der Lehre vom Art- oder Gattungsallgemeinen angelangt, das auf einer Relation von Individuen zu abstrakten Ideen beruht und deshalb in der Schulphilosophie manchmal als relatives Allgemeines bezeichnet wurde. Auch dieses Schulwort verwendet Locke nicht, er hält sich aber an die Unterscheidung, bei der es eine Rolle spielt. Heute spricht man von Gattungen und Arten im extensionalen Sinn im Unterschied zu Gattungen und Arten im intensionalen Sinn. Locke verwendet für beide den Ausdruck ‘species’, aber für Gattungen und Arten im extensionalen Sinn oft nicht attributlos, sondern mit Genitivattributen wie ‘species of men’ oder ‘species of things’.78 Übliche Synonyma für ‘genus’ und ‘species’ sind im Essay ‘kind’, ‘sort’ und ‘class[is]’.79 Wenn der Verstand erkennt, daß ein Individuum einer abstrakten Idee gleichförmig ist, dann ordnet er es unter deren Namen ein. Bei solchen Beschreibungen der Entstehung von Arten geht Locke davon aus, daß generelle Ideen ihre unmittelbare Beziehung zu örtlich und zeitlich bestimmten wirklichen Individuen durch den Abstraktionsakt verloren haben. Wenn sie wieder in Beziehung zur Wirklichkeit treten sollen, dann müssen sie in ein neues Verhältnis zu Individuen treten. Dementsprechend entsteht das relative Allgemeine dadurch, daß der Verstand generellen Ausdrücken Individuen zuordnet. Wie für Scholastiker ähnlicher Richtung80 und anders als für Gassendi81 beruhen Gattungen und Arten für Locke nicht unmittelbar auf Relationen zwischen Individuen, die einander ähnlich sind, sondern auf gedachten Relationen zwischen Individuen und generellen Ideen, mit denen sie übereinstimmen. Caesar wird nicht deshalb als Mensch bezeichnet, weil er anderen Individuen ähnlich ist, die ebenfalls mit dem Wort ‘Mensch’ bezeichnet werden, sondern er wird es deshalb, weil der Verstand zwischen der Idee von ihm und der generellen Idee ‘Mensch’ bestimmte Übereinstimmungen feststellt.82 Die Zuordnung eines Individuums zu Z.B. Essay II.9.2; 148, 4. – Essay III.3.17; 418, 14. Z.B. Essay II.32.6; 386, 9–10. – Essay III.6.32; 459, 6–7. – Essay III.6.8; 443, 35 – 444, 1. – ‘Tribe’ ist selten; siehe Essay II.11.4; 157, 25, Essay II.13.7; 169, 13–14, und Essay III.6.23; 451, 21. – ‘Band’ findet sich in Essay III.3.19; 419, 20. 80 Z.B. Suárez, DM (wie Anm. 3) 6.6.5; I 225b, 3–9: „Tertia sententia est, universale fieri per notitiam comparativam, qua intellectus possibilis, postquam naturam praecise et abstracte apprehendit, confert illam sic conceptam cum rebus in quibus existit, et intelligit illam ut unum quid aptum ut sit in multis inferioribus, et de illis praedicetur.“ 81 Z.B. Gassendi, Opera (wie Anm. 6) Bd. 3, hier „Exercitationes Paradoxicae adversus Aristoteleos“ (95–210), Liber II, Exercitatio 2, § 4; 159b, Z. 24–56. 82 Essay II.11.9; 159, 16–18. – Essay III.6.8; 443, 15–16. – Essay IV.6.4; 581, 4–7. 78 79
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einem generellen Ausdruck, die als Klassifikation bezeichnet wird, greift nicht innerlich in es ein. Der Verstand denkt den Artnamen mehr oder weniger so zu ihm hinzu, wie man einer Ware ein Etikett anhängt. Zugeordnete Individuen stehen nach Locke unter ihren Artnamen wie Soldaten unter ihrer Fahne; die Fahne verändert sie nicht physisch, sondern teilt nur mit, welchem Regiment sie angehören. Aussagen wie „This is a man, and that a drill“ machen nach Locke nur klar, daß der Sprecher das eine Individuum der Artidee ‘Mensch’ und das andere der Artidee ‘Mandrill’ zuordnet.83 Sofern man Individuen erst dann in Gattungen und Arten einordnet, wenn man generelle Ideen hat, mit denen man sie vergleichen kann, sind generelle Ideen für extensionale Gattungen oder Arten konstitutiv. Schulphilosophen nennen das, was für Gattungen oder Arten konstitutiv ist, ‘essentia’, und deshalb bezeichnet Locke im Essay (noch nicht in den frühen Drafts) generelle Ideen als ‘essences’, das heißt, als Wesenheiten, an denen Artindividuen teilhaben.84 Der Ausdruck ‘Wesenheit’ gehört in den Bereich des relativen Allgemeinen; er bezeichnet jedoch bei Locke nicht wie bei vielen Schulphilosophen Dingnaturen, sondern abstrakte Ideen im Sinn von Merkmalsammlungen, die wir zu unserer Orientierung beim Klassifizieren zusammenstellen. Zu solchen Merkmalsammlungen kann man ganze Trupps von Individuen ins Verhältnis setzen, wenn man sich vergewissert hat, daß sie der betreffenden Merkmalsammlung oder abstrakten Idee gleichförmig sind. Wenn sie es sind, dann wird der Name der betreffenden Idee auf sie übertragen und dient fortan auch als Name für Art- oder Gattungsexemplare.85 Dieser sprachlichen Zuordnung geht so, wie es Lockes Bedeutungslehre erwarten läßt, eine nur gedachte Zuordnung von Individuen zu abstrakten Ideen voraus. Sie ist eine intramentale Privattätigkeit, die Locke nicht ausdrücklich behandelt, aber immerhin andeutet.86 Durch den Akt der Übertragung des Namens einer abstrakten Idee auf ein Individuum, das mit ihr übereinstimmt (denomination), entsteht dagegen ein öffentliches Faktum. Weil generelle Ideen als Maßstäbe dafür dienen, ob einem Individuum ein Artname zukommt oder nicht, bezeichnet sie Locke als vermittelndes Band zwischen Dingen und Namen.87 Durch die Benennung wird ein Individuum sozusagen per adoptionem in die Art aufgenommen. Deshalb versteht Locke (nicht erst im Essay)88 das
Essay III.3.36; 462, 17–25. Essay III.3.12; 414, 28–34. 85 Essay III.3.13; 415, 17–24. 86 Z.B. Essay III.6.25; 452, 33–453, 2. – Essay III.6.4; 441, 5–8. 87 Essay III.3.13; 415, 28–34 . – Essay II.32.8; 386, 24–25. 88 Z.B. Locke, Drafts (wie Anm. 4), Draft A, § 24; 39, 19–21, und § 27; 49, 29. – Ferner Draft B, § 73; 179, 23–25, § 83; 190, 32–191, 3, und § 155; 266, 10–12. 83 84
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Verhältnis von Artexemplaren und Artnamen geradezu als Rechtsverhältnis89 und gibt dadurch einerseits zu verstehen, daß es kein natürliches Verhältnis ist, sondern auf menschlicher Einsetzung beruht. Arten sind nicht von Natur aus da, sondern Menschen bilden und benennen die abstrakten Ideen, die Arten konstituieren und begrenzen; es wirft ein Licht auf Lockes Intentionen, daß ‘denominatio’ damals als Schulterminus für solche Relationen dient, die einem Ding nicht innerlich zukommen, sondern ihm sozusagen von außen her angehängt werden. Zugleich teilt Locke durch die Andeutung eines Rechtsverhältnisses zwischen Artexemplaren und Artnamen mit, daß jeder, der die Regeln respektieren will, gehalten ist, ein Individuum, das mit einer generellen Idee übereinstimmt, mit deren Namen zu bezeichnen. Durch die Benennung mit dem Namen einer generellen Idee wird nicht nur deren Name, sondern auch ihre Erkennbarkeit auf die Artexemplare übertragen. Allaussagen über Artexemplare sind im Grunde Aussagen im Blick auf die Artidee und erfordern keine über deren Kenntnis hinausgehenden Informationen. Ihre Wahrheit ist jedoch durch die Überprüfung der Übereinstimmung von Artexemplaren und Artidee gesichert, die jeder ordnungsgemäßen Benennung vorauszugehen hat. Bei seiner Behandlung der Zuordnung von Individuen zu Artideen geht Locke von der Annahme aus, daß Einzeldinge mit generellen Ideen übereinstimmen können. George Berkeley entgegnet darauf im Rahmen einer berühmten Polemik in § 8 der Principles of human knowledge, daß eine Idee nur einer Idee ähnlich sein kann. Den Ausdruck ‘like’, der soviel wie ‘gleich’ oder ‘ähnlich’ bedeutet, hat der junge Berkeley eher willkürlich gewählt, denn Locke verwendet je nach Fall Ausdrücke wie ‘agree’, ‘answer’, ‘correspond’, ‘conform’, ‘resemble’ und ‘convenience’. Für ihn bedeutet ‘Übereinstimmung’ bei jeder Ideenklasse etwas anderes, und er verwendet für jede Übereinstimmungsart einen charakteristischen Terminus. Zunächst stimmen primäre Qualitäten mit ihren dinglichen Korrelaten in der Weise der Abbildlichkeit überein: Wahrgenommene Gestalt, Bewegung und Schwere bilden dingliche Gestalt, Bewegung und Schwere getreulich ab.90 Zweitens stimmen auch sekundäre Qualitäten mit ihren dinglichen Korrelaten überein, aber nicht in der Weise der Abbildlichkeit, sondern in der Weise verläßlicher Verursachung (answer, answer as to causes).91 Denn sekundäre Qualitäten entsprechen Kräften von Dingen insofern, als sie deren regelmäßige Wirkungen sind; bei ihnen beruht die Entsprechung auf einem zuverlässigen Kausalverhältnis. Die Übereinstimmung einer Substanzidee mit ihren dinglichen Korrelaten (conformity) beruht darauf, 89 90 91
Essay III.3.12; 414, 30–33. – Essay III.6.5; 441, 20–23. Essay II.8.15; 137, 9–11. Essay II.30.2; 372, 19–373, 12. – Essay II.31.2; 375, 12–20. – Essay IV.4.4; 564, 4–16.
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daß in dem Korrelat die Eigenschaften vereinigt sind, deren Ideen die generelle Substanzidee enthält,92 und zwar unabhängig davon, ob das Korrelat darüber hinaus noch weitere Eigenschaften besitzt, die in der Substanzidee nicht berücksichtigt werden. Schließlich besteht die Gleichförmigkeit (conformity) gemischter Modusideen und Relationen mit ihren Archetypen darin, daß in beiden die gleichen Teilideen in der gleichen Anordnung enthalten sind.93 Die Frage nach der Zuverlässigkeit unserer Erkenntnis durch generelle Ideen stellt Locke häufig. Generelle Ideen primärer Qualitäten hält er für ganz verläßlich, desgleichen generelle Ideen sekundärer Qualitäten, solange sie nicht als Abbilder, sondern nur als Hervorbringungen von Kräften in den Dingen angesehen werden.94 Das wahre Wesen von gemischten Modi und Relationen ist für uns zuverlässig erkennbar, denn wir machen sie selbst.95 In diesem Umfang sind uns wahre und informative allgemeine Erkenntnisse möglich. Weil wir dagegen von reinen Geistern keine Erfahrung haben und nie das innerste Wesen von Körpern, sondern immer nur Teile ihrer äußeren Schale entdecken, läßt unsere generelle Substanzerkenntnis viel zu wünschen übrig.96 Auf der einen Seite stehen die realen Konstitutionen der Einzeldinge als wirklicher Ursprung ihrer Eigenschaften, die Locke als reale Wesenheiten bezeichnet und atomistisch als Teilchenkonfigurationen deutet.97 Sie sind nicht spezifisch, sondern individuell, und machen die Dinge so, wie sie an sich sind; aber sie sind uns verborgen. Auf der anderen Seite erlaubt uns unser begrenztes Wahrnehmungsvermögen die Bildung notdürftiger genereller Substanzideen, die sich aus wenigen uns zugänglichen Wahrnehmungsideen zusammensetzen. Locke bezeichnet sie im Unterschied zu realen Wesenheiten als nominale Wesenheiten,98 weil sie Bedeutungen von Artnamen sind. Nominale Wesenheiten von Substanzen sind abstrakte Ideen, die wir mit den Art- oder Gattungsnamen verbinden, mit denen wir uns faute de mieux das Wesen von Substanzen zu vergegenwärtigen versuchen und die uns bei der Zuordnung von Individuen zu Arten als Maßstäbe dienen. Sie repräsentieren nicht die realen Wesenheiten der Körper und konstituieren keine realen Arten von Dingen so, wie sie an sich sind (as they are in themselves), sondern lediglich Arten für uns (Species of Things to us).99 Essay II.30.5; 374, 15–19. Essay II.31.14; 383, 35–384, 9. 94 Essay IV.4.4; 564, 4–16. 95 Essay III.10.33; 507, 24–29. 96 Essay IV.3.27; 557, 34–558, 6. – Essay III.6.22; 450, 35–456, 2. – Essay IV.6.5; 581, 35– 582, 3. 97 Essay III.3.17; 417, 34–418, 9. 98 Essay III.6.2; 439, 20–24. 99 Essay II.25.1; 319, 2. – Essay III.6.8; 443, 15. 92 93
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Artideen von guten Naturbeobachtern enthalten zwar mehr Bestimmungen als umgangssprachliche Artideen, aber immer noch wenige im Vergleich zu denen, die sich aus der inneren Konstitution der Körper tatsächlich ergeben.100 Die nominalen Wesenheiten von Substanzen, auf die wir uns bei unseren Klassifikationen von Naturdingen stützen, sind nicht nur immer lückenhaft. Sie lassen uns auch zwischen den Qualitätsideen, die sie enthalten, keine notwendige Verknüpfung erkennen, informieren uns also nur über faktische, aber nicht über notwendige Koexistenzen von Eigenschaften.101 Wenn wir dagegen die reale Wesenheit kennten, aus der sich beispielsweise die wahrnehmbaren Eigenschaften von Gold ergeben, dann könnten wir die adäquate Bedeutung des Wortes ‘Gold’ so sicher herleiten wie jetzt die adäquate Bedeutung des Wortes ‘Dreieck’.102 Wir kennen aber nun einmal keine realen Substanzwesenheiten und müssen uns trotz ihrer Schwächen mit unseren nominalen Wesenheiten behelfen. Sie konstituieren die Arten von Dingen, zu denen wir Zugang haben, und versehen uns mit groben Orientierungen in der Welt. Arten, die auf realen Wesenheiten von Substanzen beruhen, können wir nicht bilden, weil uns reale Wesenheiten verborgen sind. Selbst dann, wenn wir es könnten, wären auch solche Arten nur etwas Gedachtes. Ein fiktiver Mensch, der Atome wahrnehmen könnte, könnte Ideen individueller realer Konstitutionen von Körpern empfangen und sie durch Abstraktion von ihren individuierenden Bestimmungen befreien. Die abstrakten Ideen, die dann entständen, registrierten in der Tat gemeinsame Eigenschaften von individuellen realen Wesenheiten, und sie würden vermutlich in Kenntnis des Grundes ihrer Koexistenz zusammengestellt. Aber der Verstand hätte nach wie vor zu entscheiden, welche Qualitäten wesentlich sind und welche nicht. Dann wäre auch bei generellen Substanzideen der Zustand erreicht, in dem wir uns bei abstrakten einfachen Ideen und Modi sowie bei abstrakten gemischten Modi und Relationen befinden, denn deren Arten bilden wir in Kenntnis der realen Wesenheiten. Eine umstrittene Frage ist die nach der Konstanz nominaler Wesenheiten. Locke erklärt nominale Wesenheiten im Brief an Bischof Stillingfleet für unveränderlich: Jede deutliche abstrakte Idee mit einem Namen bildet eine eigene Art, und zwar unabhängig von der realen Artwesenheit, die wir nicht kennen.103 Sobald man an einer solchen Idee etwas verändert, erhält man nicht einfach eiEssay II.32.24; 392, 29–393, 7. Essay IV.3.6; 548, 1–11. 102 Essay III.11.22; 520, 9–13. 103 Locke, Works (wie Anm. 19), Bd. 4, hier „A letter to the right reverend Edward, Lord Bishop of Worcester” (1–96), hier 90, Z. 24–27: „The truth is, every distinct, abstract idea, with a name to it, makes a real, distinct kind, whatever the real essence (which we know not of any of them) be.“ 100 101
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ne veränderte, sondern eine neue abstrakte Idee. Das klingt nicht nur in diesem Kontext plausibel, sondern eröffnet auch einen Ausweg aus Beschwerlichkeiten, die mit der damals obligatorischen Theorie von der Konstanz der Arten verbunden waren. Sobald man diese wie Locke, der an fließende Übergänge in der Welt der Intelligenzen und Lebewesen glaubt,104 in den Bereich der nominalen Wesenheiten abschiebt, ist sie neutralisiert und nicht mehr hinderlich. In Lockes Darlegung der Lehre vom Allgemeinen nehmen generelle Wörter einen großen Raum ein. Die meisten Universalienlehren vor ihm bezogen sich auf die Erschaffung und gegebenenfalls noch auf die Erstbenennung neuer genereller Ideen, also auf die Tätigkeit von Ideenbildnern und Wortschöpfern. Aber Locke behandelt außerdem eine viel verbreitetere Form des Umgangs mit Universalien, nämlich Wörterlernen, Sprechen und Verstehen. Bei ihm ist die Verbindung zwischen dem Allgemeinen und der Sprache sehr eng. Er interessiert sich mehr für Wörter als für Syntax, und bezeichnenderweise lautet die Überschrift des Dritten Buchs des Essay: „Of Words or Language in General“.105 Unter den Wörtern sind wiederum generelle Ausdrücke von besonderer Bedeutung: In allen bekannten Sprachen sind weitaus die meisten Wörter generell, und der Nutzen von Sprachen besteht darin, daß sie generelle Ideen bequem und schnell durch kurze Lautfolgen bezeichnen.106 Auch hier ist Locke nicht zu einer abschließenden Systematisierung gelangt, doch lassen sich einige Grundlinien erkennen. Er geht davon aus, daß die Zeit der Sprachentstehung vorüber ist; die Hauptarbeit besteht inzwischen nicht mehr darin, Wörter zu erfinden, sondern bestehende Wörter zu lernen, und zwar nicht nur Wörter der eigenen Sprache. Wer sich mit Mitgliedern anderer Sprachgemeinschaften verständigen will, der muß sich gegebenenfalls die Mühe machen zu lernen, für welche Ideen dort welche Wörter stehen.107 Beim Lernen genereller Wörter kann man vom sprachlichen oder vom gedachten Allgemeinen ausgehen. Man kann sich einerseits nach der Bedeutung gehörter Wörter erkundigen, man kann aber auch danach fragen, welches Wort für eine bestimmte Bedeutung steht, die man dem Hörer durch Zeigen oder Explikation zur Kenntnis bringt. Das ist bei Körpern in der Regel einfach, aber bei gemischten Modi nicht, denn sie können sehr komplex sein, und man kann nicht auf sie zeigen. Darüber hinaus sind viele gemischte Modi situations- und kulturgebunden und nicht nur für anders sozialisierte Personen schwer zugänglich, sondern auch vergänglich, weil unter dem Druck neuer Bedürfnisse oft neue Wörter akzeptiert und vorhandene Wörter umdefiniert oder ausrangiert werden.108 104 105 106 107 108
Essay III.6.12; 446, 25–447, 29. Essay 3,1; 402. Essay III.3.1; 409, 1–6. – Essay III.5.7; 432, 2–3. Essay III.9.5; 477, 12–15. Essay II.22.7; 291, 7–12.
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Bei der sprachlichen Kommunikation richtet der Sprecher Wörter an den Hörer in der Erwartung, daß sich dieser die mit den sprachlichen Zeichen verbundenen Ideen vergegenwärtigt. Einem gewissenhaften Sprecher ist das gedachte Allgemeine schon vor dem sprachlichen präsent,109 einem sachlichen Hörer das sprachliche Allgemeine vor dem gedachten. Er muß nach bestem Wissen die Ideen rekonstruieren, die der Sprecher vermutlich mit den von ihm geäußerten Wörtern verbindet.110 Die Verständigung wird verfehlt, wenn ein Wort im Hörer nicht die gleiche Idee erweckt, für die es beim Sprecher steht.111 Das Minimum an Genauigkeit bei der Übereinstimmung von Sprecheridee und Höreridee hängt vom Kommunikationszweck ab. Bei alltäglichen Unterhaltungen kommt es weniger auf Genauigkeit an als bei wissenschaftlicher Kommunikation;112 und zwischen diesen beiden Arten von Verständigung gibt es viele Zwischenstufen. Zwei Menschen können sich nie auf dieselbe Idee beziehen, denn niemand hat unmittelbaren Zugriff auf Ideen im Geiste anderer, und deshalb stehen gesprochene Wörter immer nur für Ideen im Geist des Sprechers.113 Man kann auch dann, wenn beide Seiten die gleichen generellen Wörter verwenden, nicht ohne weiteres sicher sein, daß sie mit ihnen die gleichen generellen Ideen verbinden.114 Sprecher wie Hörer können vielmehr mit den gleichen Wörtern sehr verschiedene generelle Ideen bezeichnen; heutige Leser können hier an die Vieldeutigkeit von Ausdrücken wie ‘Gerechtigkeit’ oder ‘Freiheit’ denken. Locke selbst zeigt am Beispiel der Frage, ob ein bestimmter Organismus als Mensch zu betrachten ist oder nicht, daß Mehrdeutigkeiten genereller Ausdrücke und die sich daraus ergebenden Divergenzen bei der Klassifikation zu schwierigen Situationen führen können.115 Selbst dann, wenn Sprecher und Hörer die Absicht haben, sich an eingeführte Wortbedeutungen zu halten, sind sie vor Mißverständnissen nicht sicher, weil im alltäglichen Sprachgebrauch oft mehrere Bedeutungen miteinander konkurrieren.116 Auch können Unterschiede im Sachverstand zu verschiedenen Klassifikationen führen. Ein Uhrmacher verfügt z.B. über einen viel differenzierteren Wortschatz zur Klassifikation von Uhren als ein Laie.117 Bei Dissonanzen werden in der Regel Bemühungen zur Angleichung der Ideen von Sprecher und Hörer erforderlich, bei denen Zeigen 109 110 111 112 113 114 115 116 117
Essay III.2.7; 408, 1–9. Essay III.9.4; 476, 33–477, 1. – Essay II.31.4; 377, 26–29. Essay III.2.8; 408, 28–30. Essay III.9.3; 476, 19–32. Essay III.2.2; 405, 27–33. – Essay III.4.1; 420, 26–27. Essay III.10.22; 503, 6–12. Essay III.6.22; 450, 33–35. – Essay III.11.16; 516, 31–517, 6. Essay III.9.8; 479, 13–26. Essay III.6.39; 463, 18–25.
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und Definieren als friedliche und zudringliche Überredung und Zwang als unfriedliche Mittel dienen. Überlegt man zum Schluß, wie Lockes in diesem Aufsatz skizzierte Bemühungen einzuschätzen sind, dann kann man sagen, daß er bei der Lehre vom gedachten Allgemeinen nicht in jeder Hinsicht originell ist, weil er sich an Schulvorbilder anlehnt. An Gassendi finden sich – abgesehen von der Lehre von der Unerkennbarkeit realer Substanzwesenheiten und ihrer Präsentation – nur wenige textliche Erinnerungen, doch lassen sich sachliche Entsprechungen erkennen. Originell wirkt die Behandlung des Zwecks der Verallgemeinerung und die sich daraus ergebende Verquickung von Schulvorgaben mit sprachtheoretischen Überlegungen. Lockes Behandlung des sprachlichen Allgemeinen ist selbst dann bemerkenswert, wenn man den Reichtum der sprachphilosophischen Literatur des späten 17. Jahrhunderts berücksichtigt. Sie öffnet nicht nur den Blick für die sehr schwierige Situation des Menschen bei seiner sprachlichen Kommunikation, sondern läßt den Leser zugleich die praktische Relevanz der Lehre vom Allgemeinen erkennen. Bei philosophiehistorischen Klassifikationen bezeichnet heute der Ausdruck ‘Nominalismus’ die Theorie, daß das Allgemeine aus Art- oder Gattungsnamen besteht, also etwas Sprachliches ist. Der jüngere Ausdruck ‘Konzeptualismus’ bezeichnet dagegen die ältere Theorie, daß Art- und Gattungsvorstellungen bereits vor generellen Wörtern allgemein sind, so daß das Allgemeine teils etwas Gedachtes und teils etwas Sprachliches ist. Es wäre nicht hilfreich, Lockes reife Universalientheorie als nominalistisch zu bezeichnen, obgleich sie an einigen Stellen intensionale Gattungen und Arten mit generellen Namen identifiziert. In Wirklichkeit entspricht sie am ehesten konzeptualistischen Vorbildern. Denn im Bereich des absoluten Allgemeinen sind für den Essay nicht Wörter, sondern Ideen das Ursprüngliche: Namen werden nur dadurch generell, daß sie für generelle Ideen stehen. Im Bereich des relativen Allgemeinen ist der Akt der Zuordnung von Individuen zu generellen Ideen zunächst etwas Gedachtes; generelle Wörter sind also nicht für die Entstehung und Existenz von Arten, sondern nur für ihre Vollendung und für ihre Akzeptierung durch Hörer erforderlich.118 Doch träfe auch die Behauptung, daß Locke ein Konzeptualist ist, nur teilweise zu, denn sie würde seiner Leistung bei der Behandlung des sprachlichen Allgemeinen nicht gerecht. Es wäre auch nicht hilfreich, Lockes Lehre vom Allgemeinen als idealistisch zu bezeichnen. Wenn der Verstand abstrakte Ideen bildet und benennt, dann erzeugt er zwar nur Zeichen von größerem oder geringerem Umfang, und wenn er nominale Wesenheiten von Substanzen selbst herstellt, dann stellt er im Grunde auch Substanzarten selbst her. Dabei richtet er sich nicht nach realen 118
Essay III.6.39; 463, 14–18.
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Dingnaturen, sondern faute de mieux nach seinen eigenen Vorstellungen, und die Ergebnisse fallen um so beklagenswerter aus, je ungenauer er beobachtet. Wegen der Begrenztheit unserer Sinne können wir Dinge nicht nach ihren realen Konstitutionen, sondern nur nach selbstgemachten abstrakten Ideen beurteilen. Daher decken sich z.B. die Grenzen biologischer Arten, die wir in unseren Lehrbüchern festlegen, nur selten mit Grenzen in der Natur. Locke moniert, daß wir Lebewesen bloß nach ihrer äußeren Gestalt unterscheiden, und findet es verständlich, daß sich Tiere und Pflanzen bei ihrer Fortpflanzung um unsere Grenzziehungen nicht kümmern.119 Aber das ist nur die eine Seite der Angelegenheit, und Locke warnt davor, sie zu überschätzen. Unsere Klassifikationen sind Menschenwerk, aber die Dinge selbst und ihre Ähnlichkeiten sind kein Menschenwerk.120 Unser Verstand produziert weder wirkliche Substanzen noch deren Ähnlichkeiten. Beides entsteht nicht durch unser Denken und Sprechen, sondern durch die Natur. Hinter der Unterscheidung von realer und nominaler Wesenheit, in der die konzeptualistische Überzeugung von der Unerkennbarkeit des Wesens von Substanzen fortlebt, steht der Glaube, daß wir in diesem Pilgerstand die Dinge nicht so erkennen, wie sie wirklich sind.121 Gott hat gewollt, daß die Natur, die wir in diesem Leben erfahren, eine Natur aus Erscheinungen und nominalen Wesenheiten ist. Locke konzediert die Existenz individueller realer Substanzwesenheiten, weiß aber auf die Frage nach ihrer Beschaffenheit keine sichere Antwort und besteht auf der condicio humana: Wir können in diesem Leben keine realen Substanzwesenheiten erkennen, und deshalb ist unsere Dingerkenntnis, sofern sie auf abstrakten Begriffen beruht, grundsätzlich verbesserbar. Aber der Grund dafür liegt nicht bei der Wirklichkeit, sondern bei uns. Wir machen unsere Erkenntnis, aber Gott macht die Welt. Abstraktion als Entindividuierung. Anlaß der Bildung genereller Ausdrücke. Explikationen von ‚Abstraktion’. Das Allgemeine der Ideen und Wörter. Abstraktion von einfachen Ideen, Modusideen und Substanzideen. Stufen der Abstraktion. Generelle Essay III.6.23; 451, 17–19. Das äußert Locke am bestimmtesten in seinem Brief an Molyneux, Oates, 20. Januar 1692/3. Ich zitiere nach Locke, Works (wie Anm. 19), Bd. 9, Some Familiar Letters between Mr. Locke, and several of his Friends (285–472), hier 305, 38 – 306, 11: „[...] I hope I have nowhere said, ‘there is no such sort of creatures in nature as birds’; if I have, it is both contrary to truth and to my opinion. This I do say, that there are real constitutions in things, from whence these simple ideas flow, which we observe combined in them. And this farther I say, that there are real distinctions and differences in those real constitutions, one from another; whereby they are distinguished one from another, whether we think of them, or name them, or no: but that that, whereby we distinguish and rank particular substances into sorts, or genera and species, is not those real essences, or internal constitutions, but such combinations of simple ideas as we observe in them.“ 121 Essay IV.12.10; 645, 20–35. 119 120
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Wörter. Das Allgemeine der Gattungen und Arten. Zweierlei Wesenheiten. Benennung. Übereinstimmung von Individuen mit abstrakten Ideen. Erkenntnis durch generelle Ideen. Unveränderlichkeit nominaler Wesenheiten. Kommunikation als Operieren mit allgemeinen Ausdrücken durch Sprecher und Hörer. Kurze Würdigung. Abstraction is de-individuation. Advantages of the formation of general expressions. Explications of ‘‚abstraction’. Generality of ideas and words. Abstraction of simple ideas, ideas of modes and ideas of substances. Levels of abstraction. General words. Generality of genera and species. Two kinds of essences. Denomination. Correspondence of individuals and abstract ideas. Knowledge by general ideas. Invariability of nominal essences. Communication as application of general expressions by speakers and hearers. Short appreciation. Prof. Dr. Rainer Specht, Neue Anlage 25, 69198 Schriesheim, E-Mail: [email protected]
U DO T H I E L Der Begriff der Intuition bei Locke
I. Erkenntnis durch Intuition, Vernunft und Sinneswahrnehmung Lockes zuerst 1690 erschienenes Hauptwerk, der Essay concerning Human Understanding, hat eine klare erkenntniskritische Zielsetzung.1 Locke sagt, es sei sein Ziel, „to enquire into the Original, Certainty, and Extent of humane Knowledge“ (I.1.2). Was ist aber Erkenntnis, ‘knowledge’, für Locke? Man könnte erwarten, daß er dem Leser gleich zu Anfang mitteilt, was gemäß seiner Auffassung Erkenntnis ausmacht, um dann ihren Ursprung und ihre Grenzen zu untersuchen. Aber Locke setzt sich erst im vierten und letzten Buch des Essay mit der Frage auseinander, wie der menschliche Verstand Erkenntnis konstituieren kann. Hier beginnt er seine Erörterung mit dem Hinweis, daß Erkenntnis es nur mit Ideen zu tun habe, denn „the Mind, in all its Thoughts and Reasonings, hath no other immediate Object but its own Ideas“ (IV.1.1). Und der Terminus ‘Idea’ steht für alle bewußten Denkgehalte. Dieser Ausdruck, meint Locke, „serves best to stand for whatsoever is the Object of the Understanding when a Man thinks“ (I.1.8). Im ersten Buch des Essay trägt Locke eine ausführliche Kritik der damals weitverbreiteten Lehre über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis vor, dergemäß grundlegende theoretische und praktische Prinzipien dem menschlichen Geist eingeboren sind. Das zweite Buch setzt die Diskussion der Ursprungsfrage fort, konzentriert sich dabei aber nicht auf allgemeine Prinzipien, sondern auf das „Material“ der Erkenntnis, die Ideen. Bekanntlich argumentiert Locke, daß der Ursprung unserer Ideen in der inneren und äußeren Erfahrung liege, in ‘Sensation’ und ‘Reflection’ (II.1.3 f). Der menschliche Verstand habe zwar die Fähigkeit, auf das von der Erfahrung John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, hg. von Peter H. Nidditch, Oxford 1975. Im folgenden wird auf Lockes Essay wie üblich dreigliedrig nach Buch, Kapitel und Paragraphen verwiesen. Beispielsweise bezieht sich ‘II.27.4’ auf den vierten Paragraphen im 27. Kapitel des zweiten Buches des Essay. 1
Aufklärung 18 · © Felix Meiner Verlag 2006 · ISSN 0178-7128
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sich herleitende Material bestimmte Operationen wie Vergleichen, Zusammensetzen und Abstrahieren anzuwenden, so daß er auf diese Weise neue Ideen bilden könne, „infinitely beyond what Sensation and Reflection furnished it with“ (II.12.2). Aber letzten Endes („ultimately“) betont Locke, stamme noch die abstrakteste Idee, eine Idee wie die des ‘Seins’ beispielsweise, aus der Erfahrung (II.1.2). Die abstrakten oder allgemeinen Ideen und die Funktion der Sprache werden im dritten Buch des Essay behandelt. Im vierten Buch bestimmt Locke dann Erkenntnis als Perzeption von Ideenverknüpfungen – genauer als „the perception of the connexion and agreement, or disagreement and repugnancy of any of our Ideas“ (IV.1.2). Wenn wir etwa erkennen, daß die drei Winkel eines Dreiecks gleich zwei rechten sind, so bedeutet dies: „we […] perceive, that Equality to two right ones, does necessarily agree to, and is inseparable from the three Angles of a Triangle“ (IV.1.2). Lokke geht es hier offensichtlich um solche Ideenverknüpfungen, die Urteile sind. Nur Urteile sind geltungsdifferent, das heißt, können wahr oder falsch sein. Für Locke ist Erkenntnis demnach wesentlich propositional. „Our knowledge“, heißt es bei ihm, „all consists in Propositions“ (II.33.19).2 Gelegentlich ist behauptet worden, daß nach Locke für Erkenntnis nicht nur Verknüpfungen zwischen Ideen wesentlich seien, sondern auch solche, die zwischen Ideen und Gegenständen bestehen.3 Dieser Interpretation ist in der Literatur zu Recht widersprochen worden. Es gibt zahlreiche Stellen, wo Locke Erkenntnis ausdrücklich in bezug auf Relationen zwischen Ideen bestimmt (vgl. beispielsweise II.21.5).4 Locke unterscheidet nun zwischen drei Stufen („degrees“) der Erkenntnis, die er intuitive, demonstrative und sensitive Erkenntnis nennt (IV.2).5 Sie werVgl. auch III.1.6: „Knowledge … [is] conversant about Propositions“; und IV.6.3: „Certainty of Knowledge is, to perceive the agreement or disagreement of Ideas, as expressed in any Proposition“. Vgl. III.9.21: „Knowledge […] being conversant about Truth, had constantly to do with Propositions“; und IV.5.2: „Truth properly belongs only to Propositions“. Vgl. hierzu auch Lorenz Krüger, Der Begriff des Empirismus. Erkenntnistheoretische Studien am Beispiel John Lockes, Berlin, New York 1973, 146 f.; und Ruth Mattern, Locke: ‘Our Knowledge, which all consists in Propositions’, in: Canadian Journal of Philosophy 8 (1978), 677–695. Zitiert nach dem Nachdruck in Vere Chappell (Hg.), Locke (Oxford Readings in Philosophy), Oxford 1998, 226– 241, hier 229. 3 Vgl. John Yolton, Locke and the Compass of Human Understanding, Cambridge 1970, hier 110 f. 4 Vgl. hierzu ausführlich Mattern, Locke (wie Anm. 2), 228 f. 5 Lockes Unterscheidung zwischen intuitiver und demonstrativer Erkenntnis ist keineswegs originell. Es bestehen offensichtliche Ähnlichkeiten zur Unterscheidung von Intuition und Deduktion in Descartes’ Regulae ad directionem ingenii. Descartes’ frühe Schrift wurde zwar erst postum 1701 publiziert, und es ist auch auf wesentliche Unterschiede zwischen den Erkenntniskonzeptionen von Descartes und Locke hingewiesen worden (H.A.S. Schankula, Locke, Descartes and the Science of Nature, in: Reinhard Brandt [Hg.], Symposium Wolfenbüttel 1979, Berlin, 2
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den von ihm als unterschiedliche Weisen der Perzeption von Ideenverknüpfungen aufgefaßt.6 Dementsprechend sind für die Stufen der Erkenntnis unterschiedliche mentale Vermögen oder Fähigkeiten verantwortlich: Intuition, Vernunft und Sinneswahrnehmung. Dieser drei-stufige Erkenntnisbegriff ist ein wesentliches Charakteristikum von Lockes erkenntnistheoretischer Position und hat weitreichende Implikationen für diese. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß dabei der Erkenntnis durch Intuition eine zentrale Rolle zukommt. Obwohl dies in der Literatur auch unbestritten ist, wird Lockes Begriff der intuitiven Erkenntnis nur selten einer detaillierten Untersuchung unterzogen. Meist wird dieses Thema nur kurz in Gesamtdarstellungen skizziert. Nur gelegentlich sind einzelne Probleme, die sich auf den Intuitionsbegriff beziehen, zum Gegenstand von Spezialuntersuchungen gemacht worden; und diese sind zum größten Teil älteren Datums.7 Dabei wirft Lockes Begriff der Intuition eine Reihe von Fragen auf, die angesichts der fundamentalen Rolle, die Locke diesem Begriff zuspricht, seine gesamte Erkenntniskonzeption in Frage stellen können. Intuitive Erkenntnis ist für Locke durch Unmittelbarkeit und den höchst möglichen Grad von Gewißheit gekennzeichnet. Sie sei so unmittelbar wie die Sinneswahrnehmung und bedürfe weder eines Beweises, noch der Vermittlung anderer Ideen. Hier nehme der menschliche Geist die Wahrheit auf, „as the Eye doth light, only by being directed toward it“ (IV.2.1). Wenn Locke also von der Unmittelbarkeit der Intuition spricht, so bezieht sich dies auf die Weise, in der eine Ideenverknüpfung perzipiert wird. Wir vergleichen zwei Ideen miteinander und erkennen unmittelbar, wie sie miteinander verknüpft sind. Locke bezeichnet die Intuition in diesem Zusammenhang auch als die Handlung einer New York 1981, 163–180). Aber eine Verwandtschaft zwischen Lockes Unterscheidung von Intuition und Demonstration und Descartes’ Unterscheidung von Intuition und Deduktion läßt sich nur schwer leugnen (Rainer Specht, John Locke, München 1989, 123). Freilich ist auch auf vorcartesische Quellen verwiesen worden. Specht hat deutlich gemacht, daß Lockes Unterscheidung an die Tradition erinnert, „in der auch Ockham steht“, obwohl Ockham selber nicht die Quelle für Locke gewesen sein dürfte (ebd., 1989, 131). Vgl. zu nicht-cartesischen Quellen auch Michael Ayers, Locke, 2 Bde., London, New York 1991, Bd. 1, 89. 6 Vgl. IV.2.1: „the different way of Perception, the Mind has of the Agreement, or Disagreement of any of its Ideas“. 7 Vgl. Richard I. Aaron, John Locke, Oxford 31971, 220–227, 335–343; Thomas A. O’Kelley, Locke’s Doctrine of Intuition was not borrowed from Descartes, in: Philosophy 46 (1971), 148– 151; Anthony D. Woozley, Some Remarks on Locke’s Account of Knowledge, in: Locke Newsletter 3 (1972), 7–17; Krüger, Der Begriff des Empirismus (wie Anm. 2), 153–154, 159–161, 173– 174; Robert J. Roth, Locke on Ideas and the Intuition of the Self, in: International Philosophical Quarterly 28 (1988), 163–169; Thomas Heyd, Reply to Roth: Locke is Not a Cartesian with Respect to Knowledge of our own Existence, in: International Philosophical Quarterly 29 (1989), 463–467; Robert J. Roth, Reply to Heyd, in: International Philosophical Quarterly 29 (1989), 469–472.
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„immediate comparison“.8 Durch diesen Aspekt des Vergleichens unterscheidet sich die Intuition von der Sinneswahrnehmung, mit der sie die Unmittelbarkeit der Perzeption gemein hat. Bei der demonstrativen Erkenntnis, die von Locke auch Vernunfterkenntnis oder „rational Knowledge“ genannt wird (IV.17.17), perzipieren wir „the certain Agreement, or Disagreement of any two Ideas, by the intervention of one or more other Ideas“ (IV.17.17; vgl. IV.2.2). Der Vernunftgebrauch besteht gerade darin, solche vermittelnden Ideen ausfindig zu machen, die es uns erlauben, den Zusammenhang entfernt liegender Ideen zu perzipieren. Die Erkenntnis durch Vernunft hat mit der Erkenntnis durch Intuition das Merkmal absoluter Geltung gemein, unterscheidet sich aber von ihr durch ihre Mittelbarkeit. Demonstrative Erkenntnis muß schrittweise geleistet werden; so bedarf die Erkenntnis, daß die drei Winkel eines Dreiecks mit zwei rechten an Größe übereinstimmen, einer Reihe vermittelnder Beweisschritte. Dennoch kommt der Intuition auch hier eine zentrale Funktion zu: Jeder einzelne Schritt bei der Demonstration muß durch intuitive Erkenntnis abgesichert sein; nur so kann es sich bei dem Ergebnis um eine absolut gültige Erkenntnis handeln. Locke wendet sich damit gegen die traditionelle, syllogistische Erkenntniskonzeption. Der Syllogismus liefere uns keine Erkenntnis, die wir nicht schon auf andere Weise gewonnen hätten: „For the natural order of the connecting Ideas must direct the order of the Syllogisms, and a Man must see the connexion of each intermediate Idea with those that it connects, before he can with Reason make use of it in a Syllogism“ (IV.17.4). Die Präsentation des Wissens in Form von Syllogismen könne allenfalls didaktischen Zwecken dienlich sein. Bei der Konstitution der demonstrativen Erkenntnis sei aber etwas anderes entscheidend, nämlich das Auffinden derjenigen vermittelnden Ideen, die den Zusammenhang entfernt liegender Ideen aufzeigen können (IV.17.6). Locke teilt Erkenntnis in die Erkenntnis von allgemeinen Wahrheiten und die von partikulären, besonderen Wahrheiten ein: „All the Knowledge we have […is] only of particular or general Truths“ (IV.6.2). Sowohl die demonstrative als auch intuitive Erkenntnis können sich auf allgemeine Wahrheiten und auf partikuläre Wahrheiten beziehen. Insofern es sich um allgemeine Wahrheiten handelt, restringiert Locke Erkenntnis ganz auf Intuition und Demonstration: „These two, (viz.) Intuition and Demonstration, are the degrees of our Knowledge; whatever comes short of one of these, with what assurance soever embraced, is but Faith, or Opinion, but not Knowledge, at least in all general Truths“ (IV.2.14). Dennoch läßt Locke wie angedeutet noch eine dritte Erkenntnisstufe zu, die sensitive Erkenntnis. Während die demonstrative Erkenntnis die absolute Gewißheit und Geltung mit der intuitiven Erkenntnis ge8
Vgl. IV.3.2: „Intuition, or the immediate comparing any two Ideas“.
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mein hat, sich aber von dieser dadurch unterscheidet, daß sie vermittelt ist, hat die sensitive Erkenntnis das Charakteristikum der Unmittelbarkeit mit der intuitiven Erkenntnis gemein, unterscheidet sich aber von dieser und der demonstrativen Erkenntnis dadurch, daß ihr ein geringerer Gewißheitsgrad zukommt. Anders als Intuition und Demonstration hat sensitive Erkenntnis nur partikuläre Wahrheiten zum Gegenstand, denn bei ihr geht es nur um das Wissen von der Existenz der „particular existence of finite Beings without us“ (IV.2.14). Locke scheint zuzugeben, daß es für die Existenz der Außenwelt keinen absolut sicheren philosophischen Beweis geben kann und sie auch nicht intuitiv gewiß ist. Dennoch geht der Gewißheitsgrad der sensitiven Erkenntnis für ihn über den bloßer Wahrscheinlichkeit hinaus. „For I think no body can, in earnest, be so sceptical, as to be uncertain of the Existence of those Things which he sees and feels“ (IV.11.3). Allerdings sei bezüglich der sensitiven Erkenntnis immerhin sinnvolles Zweifeln darüber möglich, ob eine Idee in unserem Geist tatsächlich eine Entsprechung in der Außenwelt habe. Demnach ist die sensitive Erkenntnis nicht so gewiß wie unsere intuitive Erkenntnis oder wie die Deduktionen unserer Vernunft, die sich mit klaren, abstrakten Ideen unseres Geistes befaßt (IV.11.3). Erkenntnis durch Intuition ist für Locke nicht nur dadurch von zentraler Bedeutung, daß die Vernunft bei jedem Schritt von ihr Gebrauch machen muß, sondern auch und vor allem aus dem Grund, daß eine bestimmte Art von intuitiver Erkenntnis für alle weiteren Erkenntnisse die Grundlage darstellt.
II. Erkenntnis durch Intuition als Grundlage aller weiteren Erkenntnisse Erkenntnis durch Intuition hat den eben erwähnten fundamentalen Charakter für jede weitere Erkenntnis, insofern sie die Identität und den Gehalt unserer Ideen betrifft. Locke sagt: „There can be no Idea in the Mind, which it does not presently, by an intuitive Knowledge, perceive to be what it is, and to be different from any other“ (IV.3.8). Als Beispiel führt Locke an: „Thus the Mind perceives, that White is not Black, That a Circle is not a Triangle […] Such kind of Truths, the Mind perceives at the first sight of the Ideas together, by bare Intuition, without the intervention of any other Idea“ (IV.2.1). Daß diese intuitive Erkenntnis bezüglich unserer Ideen als Grundlage aller weiteren Erkenntnisse fungiert, wird von Locke deutlich zum Ausdruck gebracht: „The foundation of all our Knowledge lies in the Faculty we have of perceiving the same Idea to be the same, and of discerning it, from those that are different“ (IV.8.3). An anderer Stelle heißt es:
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Every one that has any Knowledge at all, has, as the Foundation of it, various and distinct Ideas: And it is the first Act of the Mind, (without which, it can never be capable of any Knowledge,) to know every one of its Ideas by it self, and distinguish it from others (IV.7.4).
Um Erkenntnis über welche Gegenstände auch immer zustande bringen zu können, müssen die Ideen, die im Urteil verknüpft werden sollen, als inhaltlich bestimmte, je mit sich identische und von anderen unterschiedene gewußt werden können. Aber kann die Intuition Grundlage aller Erkenntnis sein, wenn sie selber eine Art von Erkenntnis ist? Diese Frage kann mit dem Hinweis beantwortet werden, daß Locke betont, die Grundlagenfunktion komme nicht der Intuition im aktualen Sinne, sondern unserem Vermögen zu, die Identität und Verschiedenheit von Ideen zu perzipieren. Dies sagt Locke beispielsweise in dem oben zitierten Passus aus IV.8.3 (vgl. auch II.11.1). In konkreten Fällen von intuitiver Erkenntnis wird diese Perzeption der Identität oder Verschiedenheit wie jede andere Erkenntnis propositional ausgedrückt, in den Aussagen etwa, daß ein Kreis ein Kreis und nicht ein Quadrat ist, und daß Schwarz nicht Weiß ist. Locke nennt solche Aussagen „identical Propositions“ (IV.8.2). In diesem Zusammenhang kommt Locke auf das Thema der theoretischen Prinzipien zurück, von denen er in Buch I des Essay nachgewiesen hatte, daß sie dem menschlichen Geist nicht eingeboren seien. Denn die theoretischen Prinzipien, um die es sich bei der Widerlegung des Innatismus im ersten Buch dreht, sind von vielen Philosophen als die logische Grundlage aller Erkenntnis angesehen worden. Zu diesen Grundsätzen gehören der Satz vom verbotenen Widerspruch, der in Lockes Formulierung lautet: „‘Tis impossible for the same thing to be, and not to be“, und der Satz der Identität, der besagt, „Whatsoever is, is“ (I.2.4). Locke zweifelt keineswegs an der Wahrheit dieser Grundsätze. Er sagt von ihnen sogar, daß sie unmittelbar evident seien. Er stellt also weder die Geltung noch die unmittelbare Evidenz dieser Prinzipien in Frage, sondern lediglich die These, gemäß der sie dem menschlichen Geist eingeboren sind. Aus der unmittelbaren Evidenz der theoretischen Prinzipien sei keinesfalls Eingeborenheit zu erschließen. Es gebe unzählig viele unmittelbar evidente Urteile, von denen die Innatisten selber nicht behaupten wollten, daß sie alle angeboren seien. Im vierten Buch des Essay zeigt Locke nun in seinen Ausführungen zur intuitiven Erkenntnis, daß die Evidenz der theoretischen Prinzipien in der Intuition der Identität und Distinktheit der Ideengehalte gründe. Wie alle evidenten Urteile drücken auch die allgemeinen Prinzipien nur das aus, was wir schon durch Intuition bezüglich unserer Ideen wissen können. Wenn wir also das Prinzip der Identität formulieren, stiften wir damit keine neue Erkenntnis. Für Locke hat darum nicht das Prinzip der Identität (als allgemeines Urteil) erkenntnisfundierende Funktion, sondern die Intuition der Identität. Locke bringt
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dies an anderer Stelle deutlich zum Ausdruck: „On this faculty of Distinguishing one thing from another, depends the evidence and certainty of several, even very general Propositions, which have passed for innate Truths“ (II.11.1). Als in die Form von Urteilen gebrachte Prinzipien können Identität und verbotener Widerspruch nach Locke wie der Syllogismus allenfalls eine didaktische Funktion erfüllen. Man könne auf sie verweisen, um bei Disputen „obstinate Wranglers“ zum Schweigen zu bringen; und: „They are of use […] in the ordinary Methods of teaching Sciences as far as they are advanced“ (IV.7.11). Lockes Position ist allerdings nicht ohne Probleme. Er scheint anzunehmen, daß sich die These von der Intuition der Identität und Verschiedenheit auf alle Ideen bezieht. Es ist aber beispielsweise gefragt worden, ob sie sich nach Lokkes eigener Theorie überhaupt auf komplexe Ideen anwenden lasse. Darüber hinaus bleibt Lockes These, daß wir inhaltlich scharf umrissene Ideengehalte intuitiv erkennen können, eine durch nichts erwiesene und überaus problematische Behauptung.9 Weitere Probleme ergeben sich, wenn Locke von der intuitven Erkenntnis der Existenz handelt. Hier ist bisweilen gar ein Widerspruch zu Lockes allgemeiner Definition von Erkenntnis gesehen worden.
III. Intuitive Erkenntnis von der Existenz des Ich Locke scheint, was das intuitive Existenzwissen betrifft, nur einen Gegenstandstyp zu kennen: das jeweils eigene Ich. Er spricht zwar bisweilen auch davon, daß wir nicht nur der Ideengehalte, sondern auch der Existenz der Ideen intuitiv versichert seien. So heißt es in IV.7.4: „He can never be in doubt when any Idea is in his Mind, that it is there, and is that Idea it is; and that two distinct Ideas, when they are in his Mind, are there, and are not one and the same Idea” (zweite Hervorhebung U.T.).10 Doch erläutert Locke den Begriff der Intuition in bezug auf die Existenz von Ideen nicht weiter. Wir kommen auf dieses Thema im letzten Teil unseres Beitrags zurück. Zum Ich führt Locke offensichtlich im Anschluß an Descartes aus, daß wir von seiner Existenz als etwas, das Denkvermögen besitzt und ‘Seele’ genannt wird, durch intuitive Erkenntnis unzweifelhaft versichert seien (IV.9.1–3).11 Vgl. zu diesen Fragen Krüger, Der Begriff des Empirismus (wie Anm. 2), hier 166. Vgl. auch II.7.7: „When Ideas are in our Minds, we consider them as being actually there […] which is, that they exist, or have Existence “. 11 In den frühen Entwürfen zum Essay von 1671 weist Locke in diesem Zusammenhang auch namentlich auf Descartes hin, ohne allerdings den Begriff der Intuition zu verwenden. Vgl. Peter H. Nidditch, G. A. J. Rogers (Hg.), John Locke, Drafts for the Essay Concerning Human Under9
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Die innere Erfahrung meiner eigenen mentalen Aktivitäten, wie Denken, Schmerzempfinden usw., führe unmittelbar, also intuitiv, zu der Erkenntnis unserer eigenen Existenz. Diese Erkenntnis „neither needs, nor is capable of any proof“ (IV.9.3). Ähnlich wie Descartes sagt Locke: „If I doubt of all other Things, that very doubt makes me perceive my own Existence, and will not suffer me to doubt of that“ (IV.9.3).12 Wie oben angedeutet, ist in der Literatur gefragt worden, ob Lockes Erklärung der intuitiven Erkenntnis von der Ich-Existenz mit seiner allgemeinen Definition von Erkenntnis vereinbar sei. Denn bei ersterer scheint es sich nicht um eine Perzeption von Ideenverknüpfungen zu handeln, sondern um die unmittelbare Perzeption einer realen Existenz, des Subjekts der Ideen und Perzeptionen. Richard Aaron beispielsweise meint, bei Locke gebe es „two theories of knowledge“, betreffend einmal die Ideenverknüpfungen, ein anderes Mal die reale Existenz von Ich, Gott und Welt.13 Lockes Theorie des Existenzwissens stelle gegenüber der ursprünglichen Definition von Erkenntnis als Perzeption von Ideenverknüpfungen eine „new view of knowledge“ dar.14 Dieser Interpretation ist mit Recht widersprochen worden. Immerhin wird „actual existence“ als eine der vier Arten von Erkenntnis gleich am Anfang der allgemeinen Definition von Erkenntnis angeführt (IV.1.1).15 Vor allem ist aber darauf hinzuweisen, daß die intuitive Erkenntnis von der Existenz des eigenen Ich durchaus als Perzeption einer Ideenverknüpfung zu verstehen ist. Sie beruht zwar wie die sensitive Erkenntnis von der Existenz äußerer Gegenstände auf direkter Erfahrung, nämlich auf der inneren Erfahrung des Denkens bzw. des Habens von Ideen; aber Locke macht deutlich, daß die innere Erfahrung nicht mit dem intuitiven Existenzwissen identisch sei. Vielmehr sagt er, daß die innere Erfahrung uns von diesem überzeuge: „Experience then convinces us, that we have an intuitive Knowledge of our own Existence, and an internal infallible Perception that we are“ (IV.9.3). Die Intuition ist demnach nicht mit innerer Erfahrung vom Denken identisch, sondern bestanding, and other Philosophical Writings (The Clarendon Edition of the Works of John Locke), Bd. 1: Drafts A and B, Oxford 1990 (Draft A, §§ 10, 27; Draft B, § 35). 12 Anders als Descartes ist Locke jedoch der Auffassung, daß wir das Wesen dieses Subjekts, dem wir Denkvermögen zuschreiben, nicht erkennen könnten. Was für Substanzen überhaupt gelte, gelte auch für die Ich-Substanz. Von deren Operationen (wie Denken, Wahrnehmen, Glauben, Zweifeln, Wollen, usw.) erhielten wir zwar durch Reflexion Ideen, und wir wüßten intuitiv, daß es etwas geben muß, ein Ich, das diese Operationen ausführt. Aber weiter reiche unsere Kenntnis nicht. Metaphysische Fragen danach, ob die Seele materiell oder immateriell sei, gehen für Locke über das hinaus, was mit dem menschlichen Erkenntnisvermögen letztgültig beantwortet werden kann. 13 Aaron, John Locke (wie Anm. 7), 246. 14 Ebd., 239. 15 Vgl. hierzu Nicholas Jolley, Locke. His Philosophical Thought, Oxford 1999, 187.
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trifft die Verknüpfung des ‘Ich denke’ mit dem ‘Ich existiere’. In der Tat sagt Locke, daß es bei der intuiven Ich-Erkenntnis um die Idee des Ich geht, die mit ‘realer Existenz’ verknüpft werde. „Real Existence“, sagt Locke, „has no connexion with any other of our Ideas, but that of our selves, and of a first Being“ (IV.7.7). Was wir dank der Handlung des „immediate comparing“ anschauten, sei eine Ideenverknüpfung. Und diese bestehe zwischen ‘realer Existenz’ und der Idee von unserem Ich.16 Es bedürfe nicht des Auffindens weiterer Ideen, die zwischen dem ‘Ich denke’ und dem ‘Ich existiere’ vermitteln müßten. Wenn diese Interpretation zutrifft, setzt Lockes Argumentation allerdings voraus, daß das Ich in der Erfahrung des Denkens bereits mitgegeben ist. Locke muß annehmen, daß es sich nicht um eine Erfahrung des bloßen Denkens handelt, sondern auch um die eines Ich, eines Subjekts des Denkens. Es ist jedoch zweifelhaft, ob diese Voraussetzung ohne weiteres akzeptiert werden kann. David Hume hat bekanntlich argumentiert, daß wir uns direkt nur bestimmter Gedanken und Gefühle bewußt seien, nicht aber eines Ich, das als Träger dieser Gedanken und Gefühle fungiert. Wenn man also die oben erwähnte, von Locke unausgesprochene Voraussetzung nicht akzeptiert, wäre es nicht mehr so offensichtlich, daß die Existenz des Ich intuitiv erkannt wird. Locke könnte dann zwar immer noch von der bloßen Erfahrung des Denkens ausgehen und sagen, daß auf Grund dieser die Existenz des Denkens oder Schmerzempfindens intuitiv erkannt werde, nicht aber, daß auch die Existenz eines Ich, das als Subjekt des Denkens und Empfindens fungiert, intuitiv erkannt werde. Locke selber scheint an anderer Stelle sogar zu behaupten, daß wir die Existenz des Ich nicht intuitiv erkennen, sondern durch einen Akt des Schließens. Es heißt im ersten Kapitel des zweiten Buches, also an prominenter Stelle des Essay: We know certainly by Experience, that we sometimes think, and thence draw this infallible Consequence, That there is something in us, that has a Power to think [Hervorheb. U.T.] (II.1.10).
Zwar spricht Locke hier nicht ausdrücklich von der Existenz des Ich, sondern von dem Dasein eines Wesens in uns, dem wir Denkfähigkeit zusprechen. Aber nichts anderes sagt er letztlich, wenn es um die Erkenntnis der Ich-Existenz durch Intuition geht: If I know I doubt, I have as certain a Perception of the Existence of the thing doubting, as of that Thought, which I call doubt. Experience then convinces us, that we have an intuitive Knowledge of our own Existence, and an internal infallible Perception that we are [letzte Hervorheb. U.T.] (IV.9.3).
Vgl. Specht, John Locke (wie Anm. 5), 124 f. Siehe auch Anthony D. Woozley, Some Remarks (wie Anm. 7). 16
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Offensichtlich entspricht dem „something in us, that has a Power to think“ von II.1.10 das „thing doubting“ von IV.9.3. Locke macht in IV.9.3 deutlich, daß das Zweifeln eine Form des Denkens ist, und an beiden Stellen gilt die Erfahrung des Denkens oder Zweifelns als Grundlage für die „unfehlbare“ Erkenntnis, daß ein Ich, ein Subjekt des Denkens, existiert. In II.1.10 spricht Locke vom Existenzwissen als „infallible Consequence“, als etwas, das aus der Erfahrung des Denkens erschlossen wird, während er in IV.9.3 eine „infallible Perception“ (=Intuition) der Ich-Existenz zu der Erfahrung des Denkens hinzutreten läßt. Wie läßt sich die „infallible Consequence“ in II.1.10 mit Lockeschen Mitteln rekonstruieren? Um von der Erfahrung des Denkens auf die Existenz eines denkenden Ich oder Subjekts schließen zu können, muß als vermittelnd mindestens angenommen werden, daß für jede Handlung ein Wesen existieren muß, das diese Handlung hervorbringt. Locke formuliert diese Annahme an anderer Stelle, wenn er auf das Prinzip hinweist, daß das „reine Nichts“ kein „reales Sein hervorbringen“ könne. Locke betont gleichzeitig, daß dieses Prinzip von uns intuitiv gewußt werde: „Man knows by an intuitive Certainty, that bare nothing […cannot] produce any real Being“ (IV.10.3). Da nun ein „reines Nichts“ nicht in der Lage ist, ein reales Sein (wie das des Denkens) hervorzubringen, können wir („unfehlbar“) schließen, daß ein Wesen existiert (Ich oder Seele genannt), das die Denkhandlungen hervorbringt. Wenn man Lockes Argumentation auf diese Weise rekonstruiert, kommt sie der Auffassung des Cambridger Platonikers Ralph Cudworth nahe, dessen True Intellectual System of the Universe von 1678 Locke wohlbekannt war: We are certain of the Existence of our own Souls, partly from that inward Consciousness of our own Cogitations, and partly from that Principle of Reason, That Nothing can not Act.17
Wissen von der Existenz des eigenen Ich verlangt demnach zweierlei: Bewußtsein von Ideen bzw. vom Denken, und Kenntnis des Prinzips, daß Aktivität ein handelndes, also existierendes Subjekt verlangt. Wir verknüpfen dann drittens die Ideen vom Denken mit der von einem Subjekts des Denkens. Cudworth schließt hieraus, und Locke würde ihm sicher folgen, daß nur Vernunftwesen sich ihrer eigenen Existenz gewiß sein könnten, denn nur Vernunftwesen seien des Schließens fähig und in der Lage, ein Prinzip wie „Nothing can not Act“ zu verstehen. Folgten wir dieser Interpretation, wäre der Status der Erkenntnis von der Existenz des Ich als intuitiver Erkenntnis allerdings sehr fraglich. Denn die Ich-Erkenntnis wäre dann durch ein allgemeines Prinzip vermittelt und verlöre das für die Intuition wesentliche Charakteristikum der Unmittelbarkeit. Eine 17
Ralph Cudworth, The True Intellectual System of the Universe, London 1678, 637.
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Möglichkeit, den intuitiven Charakter der Ich-Erkenntnis mit dem Passus in II.1.10 zu vereinbaren, besteht darin, die Intuition selber inferentiell zu deuten, das heißt, sie als einen Schluß zu verstehen, der unmittelbar vom Denken auf die Ich-Existenz geht. Dann könnte Lockes „infallible Consequence“ von II.1.10 einfach als „Intuition“ interpretiert werden. In bezug auf Descartes’ intuitus ist eine inferentielle Deutung durchaus üblich.18 Läßt sich Ähnliches auch von Lockes Konzeption der Intuition sagen? Ist die Intuition eine Form unmittelbaren Schließens? Nach dem oben Gesagten scheint es zunächst, daß diese Fragen verneint werden müssen. Denn wie wir sahen, wird die „infallible Consequence“ nicht unmittelbar aus der Erfahrung des Denkens gezogen, sondern nur in Verbindung mit der allgemeinen Prämisse, wonach ein „reines Nichts“ nicht in der Lage ist, ein reales Sein (wie das des Denkens) hervorzubringen. Andererseits könnte Locke dies akzeptieren, ohne behaupten zu müssen, daß dieses allgemeine Prinzip bei der Intuition der Ich-Erkenntnis auch separat erkannt werde. Die Intuition der Ich-Existenz könnte vielmehr ein besonderer Fall sein, in dem das allgemeine Prinzip instantiiert wird, ohne aber dabei in seiner Allgemeinheit erkannt zu werden. Diese Lesart stünde im Einklang mit Lockes Analyse unserer Erkenntnis einiger theoretischer Prinzipien. Wie wir sahen, erkennen wir nach Locke die Identität und Distinktheit unserer Ideen, bevor wir das allgemeine Prinzip der Identität erkennen. Ähnlich könnten wir demnach aus der Erfahrung des Denkens unmittelbar auf die Existenz eines Subjekts des Denkens schließen, ohne das allgemeine Prinzip zu erfassen, das diesen Schluß gültig macht. Obwohl das allgemeine Prinzip logische Priorität hat, wird es der Zeit nach später erfaßt. Diese Interpretation bringt allerdings einige Probleme mit sich. Locke behauptet, daß bei der demonstrativen Erkenntnis jeder Schritt durch intuitive Erkenntnis vermittelt sein müsse, aber er spricht nirgendwo davon, daß die Intuition selber eine Art des Schließens sei. Locke scheint im Gegenteil immer wieder die Analogie zur Sinneswahrnehmung zu betonen. Und hätte Locke sich irgendwo dafür ausgesprochen, daß die Intuition als Schluß aufzufassen sei, hätte er nicht gleichzeitig erklären können, daß die Existenz des Ich in analoger Weise zur Sinneswahrnehmung perzipiert werde. Erkenntnis durch Intuition, sagt er, „is irresistible, and like the bright Sun-shine, forces it self immediately to be perceived, as soon as ever the Mind turns its view that way“ (IV.2.1). Letzten Endes läßt sich der Gegensatz von „Consequence“ und „Intuition“ in Vgl. beispielsweise Stephen Gaukroger, Descartes. An Intellectual Biography, Oxford 1995, 341; Anthony Kenny, Descartes. A Study of his Philosophy, New York 1968, 50–55; Peter Markie, The Cogito and its Importance, in: John Cottingham (Hg.), The Cambridge Companion to Descartes, Cambridge 1992, 140–173; Charles Larmore, Descartes and Skepticism, in: Stephen Gaukroger (Hg), The Blackwell Guide to Descartes’ Meditations, Oxford 2006, 17–29, hier 24–26. 18
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bezug auf die Ich-Erkenntnis mit den Mitteln der Lockeschen Erkenntnislehre nicht auflösen. IV. Intuition und Selbstbezüglichkeit Der Begriff der intuitiven Erkenntnis macht nicht zuletzt aus dem Grund Schwierigkeiten, daß Locke kaum etwas darüber sagt, um was für eine Art von mentalen Akt es sich bei der Intuition handelt. Wir wissen, daß Intuition für Locke eine Art von Perzeption sein muß; denn dies gilt für jede Erkenntnis. Wir sahen auch, daß intuitive Erkenntnis als ein Akt des „immediate comparing“ zu verstehen ist und daß Locke die Intuition bezüglich ihrer Unmittelbarkeit analog zur Sinneswahrnehmung auffaßt. Aber anders als die Sinneswahrnehmung bezieht sich die Intuition auf Verknüpfungen zwischen unseren Ideen. Hieraus wird ersichtlich, daß die Intuition ein selbstbezüglicher mentaler Akt bzw. ein Vermögen zu solchen mentalen Akten sein muß. Dies wirft die Frage danach auf, was für eine Art des Selbstbezugs die Intuition nach Locke ist. Um diese Frage beantworten zu können, muß zunächst geklärt werden, welche anderen Arten von Selbstbezug Locke kennt. Eine Art von Selbstbezug wurde schon gleich zu Beginn erwähnt: die Reflexion. Die Reflexion ist für Locke neben der Sensation die einzige direkte Erfahrungsquelle für unsere Ideen. Sie bezeichnet eine innere Erfahrung oder die Fähigkeit dazu, den inneren Sinn. Aber auch das Bewußtsein scheint von Locke als eine innere Erfahrung verstanden zu werden. Ist nun Bewußtsein dasselbe wie Reflexion? Es wird gelegentlich behauptet, daß Lockes Äußerungen zu diesem Thema einfach konfus sind.19 Denn an einigen Stellen scheint Locke dem Leser nahezulegen, daß Bewußtsein und Reflexion dasselbe seien. Beispielsweise heißt es im ersten Kapitel des zweiten Buches des Essay, die Reflexion sei „the Perception of the Operations of our own Minds within us“ (II.1.4). Und nur wenige Abschnitte weiter sagt Locke, das Bewußtsein sei zu charakterisieren als „the perception of what passes in a Man’s own mind“ (II.1.19). Diese Formulierungen sind sich offensichtlich sehr ähnlich, und man könnte in der Tat meinen, daß Bewußtsein und Reflexion hier in identischer Weise dargestellt werden. Um dies entweder zu bestätigen oder zu widerlegen, könnte man nun darüber spekulieren, ob ein Unterschied zwischen den Ausdrücken „Operations of our own Minds“ einerseits und „what passes in a Man’s own mind“ bestehe oder
19 Vgl. Mark Kulstad, Leibniz on Apperception, Consciousness, and Reflection, München 1991, 115. Siehe zu dieser Frage und zum Folgenden auch Udo Thiel, Leibniz and the Concept of Apperception, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 76 (1994), 195–209.
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nicht, was auch getan worden ist.20 Wenn sich dabei herausstellen sollte, daß kein Unterschied zwischen beiden Ausdrücken besteht, dann könnte man die Gleichsetzung von Bewußtsein und Reflexion in bezug auf Locke vornehmen. Andernfalls müßte man ihn eben der Konfusion bezichtigen. Unseres Erachtens führt dieser Vergleich zweier isolierter Textstellen jedoch nicht sehr weit. Wenn man diese und andere Stellen in ihrem Kontext genau untersucht, wird man entdecken, daß Locke eine Unterscheidung zwischen Bewußtsein und Reflexion zwar nicht ausdrücklich formuliert, aber doch in seinen Äußerungen eindeutig impliziert. So spricht Locke davon, daß Bewußtsein vom Denken untrennbar und diesem wesentlich sei: Consciousness [...] is inseparable from thinking, and as it seems to me essential to it: [...] When we see, hear, smell, taste, feel, meditate, or will any thing, we know that we do so. Thus it is always as to our present Sensations and Perceptions [Hervorheb. U.T.] (II.27.9).21
Mit anderen Worten, Bewußtsein ist ein unmittelbares Gewahrsein, das dem Denken überhaupt wesentlich zukommt. Locke sagt, daß das Denken geradezu darin bestehe, daß man sich dieses Denkens bewußt sei: „thinking consists in being conscious that one thinks“ (II.1.19). Schon hieraus wird ersichtlich, daß Locke das Bewußtsein nicht mit der Reflexion gleichsetzen wird. Denn die Reflexion ist gerade kein wesentlicher Bestandteil jeglichen Denkens. Locke sagt keineswegs, daß das Denken überhaupt in der Reflexion bestehe. Reflexion, verstanden als Quelle von Ideen unserer geistigen Operationen, erfordere vielmehr eine besondere Aufmerksamkeit (II.1.24). Lockes Gleichsetzung von Reflexion und innerem Sinn bedeutet also gerade nicht, daß es sich hier wie beim Bewußtsein um einen unmittelbaren Selbstbezug handelt. Reflexion bezeichnet für Locke eine Bezugnahme auf den eigenen Geist, die durch Beobachtungshandlungen vonstatten geht, damit wir auf diese Weise Ideen von den Operationen des Geistes produzieren.22 Und Locke verknüpft die Reflexion, aber nicht das Bewußtsein, mit dem Begriff der contemplation.23 Das heißt, im Bewußtsein bezieht sich der menschliche Geist auf fundamentalere Weise auf sich selbst als im Fall der Reflexion, die die Operationen Vgl. ebd., 87–92. Vgl. II.1.10: „Our being sensible of it is not necessary to any thing, but to our thoughts; and to them it is; and to them it will always be necessary, till we can think without being conscious of it“. 22 „By REFLECTION then [...] I would be understood to mean, that notice which the Mind takes of its own Operations, and the manner of them, by reason, whereof there come to be Ideas of these Operations in the Understanding“ (II.1.4). „In time, the Mind comes to reflect on its own Operations [...] and thereby stores it self with a new set of Ideas, which I call Ideas of Reflection“ (II.1.24). 23 Vgl. II.6.1; II.1.4; II.1.7; II.1.8. 20 21
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des Geistes zu Gegenständen macht. Anders als die Reflexion ist das Bewußtsein nicht als Perzeption zweiter Ordnung zu verstehen. Vielmehr hätte die Reflexion ohne das Bewußtsein gar keine Gegenstände, auf die es reflektieren könnte. Für Locke sind sowohl die Sensation als auch die Reflexion mentale Akte, die immer von Bewußtsein, aber keineswegs immer und notwendigerweise auch von einem Akt der Reflexion begleitet werden. Man kann die These von der Differenz zwischen Bewußtsein und Reflexion auch dadurch erhärten, daß man auf Änderungen verweist, die Locke in spätere Auflagen des Essay eingearbeitet hat, um diese begrifflichen Verhältnisse zu klären. Sehen wir uns beispielsweise IV.3.23 an. In den ersten vier Auflagen heißt es hier: „All the simple Ideas we have are confined [...] to those we receive from corporeal Objects by Sensation, and from the Operations of our own Minds, that we are conscious of in our selves“ (Letzte Hervorhebungen U.T.). Diese Formulierung ließe sich so interpretieren, daß Bewußtsein als Quelle der Ideen von den Operationen des eigenen Geistes gilt. Daraus könnte man folgern, daß keine wesentliche Differenz zwischen Bewußtsein und Reflexion besteht. Offensichtlich in der Absicht, solchen Fehlinterpretationen vorzubeugen, hat Locke in der fünften Auflage des Essay in diesem Passus die Terminologie des Bewußtseins durch die der Reflexion ersetzt. Jetzt spricht er von „the Operations of our own Minds as the Objects of Reflection“. Diese Überlegungen sind von Bedeutung für das Verständnis von Intuition als Form der Selbstbezüglichkeit. Denn Locke verknüpft mehr als einmal den Bewußtseinsbegriff mit dem der Intuition. Wie das Bewußtsein (aber im Gegensatz zur Reflexion) ist auch die Intuition ein unmittelbarer Selbstbezug. Wenn Locke im Essay die intuitive Erkenntnis diskutiert, die wir von unserer eigenen Existenz haben, erklärt er diese Erkenntnis auch mit Hilfe der Bewußtseinsterminologie: „In every Act of Sensation, Reasoning, or Thinking, we are conscious to our selves of our own Being“ (IV.9.3; Hervorhebung U.T.). An anderer Stelle scheint Locke ‘Intuition’ und ‘Bewußtsein’ synonym zu verwenden. In einer Tagebuchnotiz von 1696 zur Frage des Existenzwissens heißt es: „Our own existence is known to us by a certainty yet higher than our senses can give us of the existence of other things, and that is internal perception, a self-consciousness, or intuition“.24 Wird hier nicht Intuition mit Selbstbewußtsein einfach gleichgesetzt? Nun haben Bewußtsein und Intuition gewiß Unmittelbarkeit und absolute Gewißheit gemein; aber sind sie darum schlicht identisch, wie dieser Passus aus Lockes Tagebuch zu suggerieren scheint? Wir sahen, daß Locke der Intuition der Identität und Unterschiedenheit unserer 24 Locke’s Tagebuchnotiz „DEUS. – Descartes’s Proof of a God, from the Idea of necessary Existence, examined. 1696“ (MS Locke c. 28, fols. 119r.-120v). Abgedruckt in Lord Peter King, The Life of John Locke, London 1830, Bd. 2, 138 f.
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Ideen eine zentrale Rolle bei der demonstrativen Erkenntnis zuspricht. Ähnliches sagt er jedoch nicht über das Bewußtsein. Die evidenten Wahrheiten, die andere Philosophen zur Annahme angeborener Prinzipien verleitet haben, liegen bei Locke, wie oben gezeigt wurde, in der Intuition der Ideengehalte begründet. Locke bezieht aber nicht das Bewußtsein auf die evidenten Wahrheiten. Wenn nun die Intuition nicht mit dem Bewußtsein identisch sein kann, wodurch unterscheidet sie sich dann von ihm? Diese Frage nach dem Verhältnis von Intuition und Bewußtsein ist schon sehr früh an Locke gerichtet worden, in einem Brief von einem gewissen John Wynne. Wynne war ein Bewunderer Lockes, der eine gekürzte Fassung des Essay edieren wollte – eine Edition, die das Wesentliche beibehält, aber, so Wynne, einige der „larger Explications“ sowie die häufigen Wiederholungen ausläßt.25 Locke war von diesem Vorhaben begeistert, und Wynnes von Locke autorisierte Kurzfassung des Essay wurde bereits 1696 publiziert, ein Jahr nachdem die dritte Auflage des ganzen Werks erschienen war. Wynnes Edition erwies sich als überaus erfolgreich und erreichte im 18. Jahrhundert zahlreiche Neuauflagen. Viele Leser, die sich an das Riesenwerk von Locke nicht herantrauten, machten sich mittels Wynnes Kurzausgabe mit den zentralen Lehrstücken des Essay vertraut. Es gab im 18. Jahrhundert noch andere Kurzfassungen, aber Wynnes Edition scheint die populärste gewesen zu sein – vielleicht, weil sie noch mit Lockes Segen publiziert worden war. Es liegt auf der Hand, daß diese Kurzfassungen in ihrer Bedeutung für die Verbreitung und Wirkungsgeschichte der Lockeschen Philosophie kaum zu überschätzen sind. In dem Briefwechsel zwischen Wynne und Locke, in dem es zunächst und hauptsächlich um Wynnes Edition und den Austausch von Höflichkeiten geht, werden gelegentlich auch philosophische Detailprobleme diskutiert. Und im März 1695, als Wynne behauptet, er habe seine Projekt schon fast abgeschlossen, unterbreitet er Locke eine Frage, die sich auf das Verhältnis von Bewußtsein und Intuition bezieht. Wahrscheinlich um den Eindruck zu erwecken, daß nicht er selber Kritik an Locke üben wolle, stellt Wynne die Situation so dar, als hätte ein (nicht namentlich genannter) „Freund“ ihm diese Frage gestellt, die er jetzt lediglich weiterleite. Das Problem des mysteriösen Freundes besteht in folgendem: Whether the knowledge we have of our own Existence, and the perception of our Sensations, be not A sort of knowledge Sui generis as we say, and different from Intuitive; and might not more properly be accounted A distinct sort, under the Name of consciousness?26
25 Wynnes Brief an Locke vom 30. März 1695, in: The Correspondence of John Locke, ed. by Esmond S. de Beer , Bd. 5, Oxford 1979, 318 f. (Brief Nr. 1869). 26 Ebd., 319.
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Das heißt, Wynne (bzw. sein „Freund“) möchte, anders als Locke dies zu tun scheint, zwischen Bewußtsein und Intuition genau unterscheiden. Wynne schlägt vor, neben der intuitiven, demonstrativen und sensitiven Erkenntnis noch eine vierte Erkenntnisart anzunehmen, nämlich das Bewußtsein („consciousness“). ‘Bewußtsein’ würde sich demnach auf die unmittelbare Erkenntnis unserer eigenen Existenz und Perzeptionen (oder Ideen) beziehen, während die intuitive Erkenntnis auf die Erkenntnis evidenter Wahrheiten eingeschränkt werden solle. Die Frage spricht also auch das oben im dritten Abschnitt angesprochene Problem an, daß Locke explizit nur das Ich als Gegenstand der Existenz-Intuition ansieht, aber dann auch vom intuitiven Wissen von der Existenz der Ideen spricht. Lockes Antwort auf Wynnes Brief ist verlorengegangen, aber Wynne hat in seinem nächsten Brief an Locke kurz zusammengefaßt, was dieser auf die Frage zum Intuitionsbegriff geantwortet hatte – „What you have said in answer to the quaere propos’d in my last“.27 Und dieser Brief ist erhalten. Wynne fügt hinzu, daß Lockes Antwort ganz und gar zufriedenstellend sei („satisfactory“); und der Freund, der wieder erwähnt wird, dürfe nun keine Einwände mehr haben. Lockes Antwort läßt sich aus Wynnes Brief wie folgt rekonstruieren. Demnach unterscheidet Locke unter dem allgemeinen Titel der Intuition sowohl die Erkenntnis unserer eigenen Existenz und unserer Ideen als auch die, die wir von evidenten Wahrheiten haben („you comprehend under the general Name of Intuition, the Knowledge we have of our own existence and Thoughts as well as of self-evident Truths“). Sie gehören alle zu derselben Art von Erkenntnis, und zwar dank ihrer Unmittelbarkeit und ihrem Gewißheitsgrad, der bei allen gleich sei („an equal degree of certainty“). Aber eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten intuitiver Erkenntnis kann in bezug auf die Gegenstände der Erkenntnis gemacht werden. Die Intuition kann nämlich sein: (1) eine innere Wahrnehmung unserer eigenen Existenz („the Internal perception or Sensation of our own Existence“); dann (2) das Bewußtsein, das wir von unseren eigenen Gedanken oder Ideen haben („the Consciousnes of our thoughts“), und (3) die Perzeption evidenter Wahrheiten („the perception of Self-evident Truths“). Indirekt unterstützt Lockes Argument, daß Bewußtsein eine Art intuitiver Erkenntnis sei, unsere Interpretation, dergemäß Bewußtsein und Reflexion für Locke nicht identisch sein können. Denn anders als das Bewußtsein wird die Reflexion von ihm keineswegs als eine Art intuitiver Erkenntnis bezeichnet, sondern muß ihr als vermittelter Selbstbezug entgegengesetzt werden. Man kann das Resultat dieses Briefwechsels wie folgt graphisch darstellen.
27
Wynnes Brief an Locke vom 20. April 1695, in: ebd., 346 f. (Brief Nr. 1884).
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Selbstbezug („Contemplation“, „Memory“ etc nicht berücksichtigt) Reflexion (mittelbar)
Operationen des Geistes
Intuition (unmittelbar)
Ich-Existenz
Ideen
Evidente Wahrheiten
Allerdings löst Wynnes Rekonstruktion nicht die Probleme, die wir oben in bezug auf Lockes Begriff der Intuition angeführt haben. Sie wirft in gewisser Hinsicht sogar noch weitere Fragen auf. Beispielsweise wird hier die Intuition offenbar mit Sensation identifiziert – wenn von der „Internal perception or Sensation of our own Existence“ die Rede ist. Dies steht aber im Widerspruch zur Theorie des Essay, wonach Intuition und Sensation zwar das Charateristikum der Unmittelbarkeit gemein haben, aber nicht gleichzusetzen sind. Auch die oben zitierte Tagebuchnotiz von 1696 impliziert eine Unterscheidung zwischen der Intuition der Ich-Existenz und der Sensation. Möglicherweise ist die Gleichsetzung von Sensation und Perzeption der Ich-Existenz ein Zusatz von Wynne, der nicht im Original von Lockes Brief stand. Außerdem fehlt in Wynnes Zusammenfassung von Locke eine Erläuterung der verschiedenen Weisen der Perzeption bei den drei Arten der Intuition. Es wird zwar angedeutet, daß sich die drei nicht nur nach ihren Gegenständen, sondern auch nach ihrer Perzeptionsweise unterscheiden („differing in the objects and manner of perception“; Hervorhebung U.T.); doch dies bleibt eine Behauptung und wird nicht erklärt. Eine solche Erläuterung bleibt uns allerdings nicht nur Wynnes Rekonstruktion, sondern auch Locke selber in seinen erhaltenen Schriften schuldig. Dennoch kann die Korrespondenz mit Wynne helfen, einige wichtige Aspekte von Lockes Konzeption der Intuition als Selbstbezüglichkeit zu präzisieren. Obwohl Locke zwischen den drei Arten von Erkenntnis unterscheiden will (da sie sich auf je unterschiedliche Gegenstände beziehen), sollte man sie alle als Arten intuitiver Erkenntnis ansehen, da sie alle gleichermaßen durch Unmittelbarkeit und absolute Gewißheit charakterisiert sind. Was Locke als Bewußtsein bezeichnen will, ist also nicht mit der Intuition einfach identisch, sondern eine Art von Intuition und bezieht sich nur auf die Ideen oder Perzeptionen. Dies ist eine Klärung, die wir zwar nicht aus Lockes eigener Feder haben, die wir ihm angesichts seiner Korrespondenz mit Wynne aber dennoch zuschreiben kön-
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nen. Und sie scheint nicht nur mit Lockes Ausführungen im Essay vereinbar, sondern auch systematisch sinnvoll zu sein.28 Der Beitrag geht Fragen nach, die durch Lockes Lehre von der Erkenntnis durch Intuition aufgeworfen werden. Obwohl diese für Lockes theoretische Philosophie von zentraler Bedeutung ist, wird sie in der Literatur kaum ausführlich behandelt. Lockes Auffassung von der Intuition der Identität von Ideengehalten und der IchExistenz führen auf Probleme, für die Lockes Erkenntnislehre keine Lösung anbietet. Ein Studium des Briefwechsels ermöglicht jedoch eine Präzisierung des Lockeschen Intuitionsbegriffs, insofern dieser eine Form der Selbstbezüglichkeit bezeichnet. This paper discusses questions raised by Locke’s account of intuitive knowledge. Although this type of knowledge is central to Locke’s epistemology as a whole, there are few detailed analyses of it in the literature. Both Locke’s views about the intuition of the identity of ideas, and of the existence of the self, give rise to problems which, it seems, cannot be resolved within the framework of his epistemology. A study of Locke’s correspondence, however, can be helpful in achieving a more precise understanding of Lockean intuition as a form of relating to one’s own self. Dr. Udo Thiel, Senior Lecturer, Philosophy Programme, School of Humanities, Australian National University, Canberra, ACT 0200, Australia, E-Mail: [email protected]
Vgl zu einer ausführlichen Behandlung unterschiedlicher Konzeptionen von Selbstbezüglichkeit im 17. und 18. Jahrhundert folgende Abhandlungen des Verfassers: Cudworth and Seventeenth-Century Theories of Consciousness, in: Stephen Gaukroger (Hg.), The Uses of Antiquity. The Scientific Revolution and the Classical Tradition, Dordrecht 1991, 79–99; Hume’s Notions of Consciousness and Reflection in Context, in: British Journal for the History of Philosophy 2 (1994), 75–115; Between Wolff and Kant: Merian’s Theory of Apperception, in: Journal of the History of Philosophy 34 (1996) 213–232; Varieties of Inner Sense. Two Pre-Kantian Theories, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 79 (1997) 58–79; Kant’s Notion of Self-Consciousness in Context, in: Volker Gerhardt, Rolf-Peter Horstmann, Ralph Schumacher (Hg.), Kant und die Berliner Aufklärung, Berlin 2001, Bd. 2, 468–476; Self-Consciousness and Personal Identity, in: Knud Haakonssen (Hg.), The Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy, Cambridge 2006, 286–318. 28
K AT I A S APORITI Locke und Berkeley über abstrakte Ideen
I. Die Frage Alle Dinge, die existieren, sind Einzeldinge. Sie sind numerisch eins und qualitativ vollständig bestimmt. Diese nominalistische Auffassung teilt Locke nicht nur mit vielen Denkern des 17. und 18. Jahrhunderts, sondern auch mit den meisten Philosophen unserer Tage.1 Es gibt Tische, Stühle und Menschen, weiße Dinge, rote Dinge und dreieckige Dinge. Aber es gibt kein Tischsein, kein Menschsein und kein Weißsein. Neben den dreieckigen und den roten Dingen existieren nicht auch noch die Eigenschaften, dreieckig zu sein oder rot zu sein.2 Es gibt nur Dinge, die diese Eigenschaften haben, die sie exemplifizieren oder instantiieren. Gold, Metall oder Farben existieren nur insofern, als es Dinge gibt, die aus Gold sind, Dinge, die aus Metall sind, und Dinge, die farbig sind: „[A]ll things that exist are only particulars“.3 Locke zufolge sind auch unsere Ideen der Dinge und auch die Wörter, mit denen wir über die Dinge sprechen, Einzeldinge: „[B]ut universality belongs not to things themselves, which are all of them particular in their Existence, even those Words, and Ideas, which in their signification, are general“.4 Jedes Vorkommnis einer Idee, beispielsweise der Idee der Sonne, ist ein Einzelding. Als Vorkommnisse existieren Ideen nur, solange sie gehabt werden; niemand Siehe das dritte Kapitel des dritten Buchs von John Lockes Versuch über den menschlichen Verstand, insbesondere die Abschnitte 1, 6 und 11. John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, London 1690, hg. von Peter H. Nidditch, Oxford 1975. Zitiert wird im folgenden nach dieser Ausgabe mit Buch-, Kapitel- und Abschnittsangabe. „Essay, III.2.1“ bezeichnet z.B. den ersten Abschnitt des zweiten Kapitels des drittens Buchs. 2 Eine gegenteilige Meinung vertritt heute z.B. Wolfgang Künne, Abstrakte Gegenstände: Semantik und Ontologie, Frankfurt am Main 1983. 3 Locke, Essay (wie Anm. 1), III.3.6. 4 Ebd., III.3.11; siehe auch ebd., IV.7.8: „Every Man’s Reasoning and Knowledge, is only about the Ideas existing in his own Mind, which are truly, every one of them, particular Existences“. 1
Aufklärung 18 · © Felix Meiner Verlag 2006 · ISSN 0178-7128
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kann eine Idee zweimal haben, und niemand kann die Idee eines anderen haben. Meine Idee der Sonne hingegen kann ich mehrmals haben, und die Idee der Sonne können ganz verschiedene Personen haben. Dabei klingt Locke manchmal so, als sei letzteres eine Idealisierung. Wenn wir sprechen und einander unsere Gedanken mitteilen, vernachlässigen wir die Unterschiede, die zwischen den Ideen bestehen, die verschiedene Personen von ein und derselben Sache haben.5 Weder meine Idee der Sonne noch die Idee der Sonne ist also ein Einzelding. Meine Idee der Sonne existiert daher nur insofern, als ich Ideen habe, die Vorkommnisse dieser Idee sind. Die Idee der Sonne existiert nur insofern, als irgend jemand eine Idee hat, die ein Vorkommnis der Idee der Sonne ist – „our Ideas being nothing, but actual Perceptions in the Mind, which cease to be any thing, when there is no perception of them“.6 Obwohl nur Einzeldinge existieren, verfügt unsere Sprache keinesfalls nur über Namen für Einzeldinge. Wir verwenden eine Fülle allgemeiner Ausdrücke – sogenannte generelle Termini, mit denen wir uns gleichermaßen auf jedes einzelne Ding einer bestimmten Art von Dingen beziehen können. Auch allgemeine Ausdrücke, also Wörter, die keine Einzeldinge bezeichnen, sind Locke zufolge selbst Einzeldinge. Allgemein sind sie nur insofern, als sie etwas Allgemeines bezeichnen. ‘Mensch’ bezeichnet nicht einen bestimmten Menschen, sondern Menschen im allgemeinen. All Things, that exist, being Particulars, it may perhaps be thought reasonable, that Words, which ought to be conformed to Things, should be so too, I mean in their Signification: but yet we find the quite contrary. The far greatest part of Words, that make all Languages, are general Terms: which has not been the Effect of Neglect, or Chance, but of Reason, and Necessity.7
Nach Auffassung Lockes zwingt uns unser beschränktes Fassungsvermögen zur Verwendung allgemeiner Ausdrücke. Denn als endliche Wesen sind wir nicht in der Lage, uns jedes Einzelding einzuprägen, mit dem wir es in unserem Leben zu tun bekommen. Häuften wir außerdem bloß Namen für all die Einzeldinge an, die uns begegnen, könnte die Sprache ihren eigentlichen Zweck nicht erfüllen. Sprache dient uns, so glaubt Locke, in erster Linie zur Mitteilung unserer Gedanken. Namen für Einzeldinge aber blieben jedem unverständlich, der mit den betreffenden Einzeldingen nicht vertraut wäre. Schließlich erkennt Locke in der Zusammenfassung von Einzeldingen zu Arten unter gemeinsamen Namen eine notwendige Bedingung des Erkenntnisfortschritts, weil Erkenntnis zwar vom Einzelding ausgehe, sich aber nur mit Hilfe allge-
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Ebd., III.3.3, 4 und 8. Ebd., II.10.2. Ebd., III.3.1, Hervorh. K. S.
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meiner Beobachtungen erweitere.8 Um einander unsere Gedanken mitzuteilen, verwenden wir Locke zufolge Wörter als Zeichen für unsere Ideen. Indem wir eine Sprache erlernen, lernen wir, unseren Ideen Namen zu geben. Wenn wir dann sprechen, sind unsere Worte sinnlich wahrnehmbare Kennzeichen unserer Ideen. Locke ist davon überzeugt, daß Wörter – eigentlich und unmittelbar – nur für Ideen stehen, und zwar für die Ideen des jeweiligen Sprechers: […] Words in their primary or immediate Signification, stand for nothing, but the Ideas in the Mind of him that uses them, how imperfectly soever, or carelessly those Ideas are collected from the Things, which they are supposed to represent. When a Man speaks to another, it is, that he may be understood; and the end of Speech is, that those Sounds, as Marks, may make known his Ideas to the Hearer. That then which Words are the Marks of, are the Ideas of the Speaker: Nor can any one apply them, as Marks, immediately to any thing else, but the Ideas, that he himself hath.9
Mittelbar allerdings beziehen wir uns Locke zufolge mit unseren Wörtern nicht nur auf unsere eigenen Ideen, sondern erstens auch auf die Ideen anderer und zweitens auch auf die Realität, d.h. auf diejenigen Dinge, die unsere Ideen, wie wir annehmen, repräsentieren, auf dasjenige, wovon sie Ideen sind.10 Hierfür muß Locke voraussetzen, daß es Dinge gibt, die in konstanter Weise Ideen in uns hervorrufen, daß wir Vorkommnisse derselben Idee als solche erkennen und ein und dasselbe Wort für sie verwenden können. Auch nimmt er an, daß die Ideen, die die Dinge in uns hervorrufen, den Ideen, die sie in anderen Menschen hervorrufen, hinreichend ähnlich sind, um eine Verständigung zu ermöglichen. Ob diese Voraussetzungen erfüllbar sind und wenn ja, ob Locke sie begründen könnte, wird hier nicht unser Thema sein. Locke geht jedenfalls davon aus, daß Wörter für Ideen stehen, und daß Ideen für dasjenige stehen, wovon sie Ideen sind. Damit ist allerdings nicht gesagt, daß die Beziehung, die zwischen Wörtern und Ideen besteht, auf dieselbe Weise zustande kommt wie die Beziehung, die zwischen Ideen und den Dingen besteht, die sie repräsentieren. Nach Locke können wir uns mit Wörtern nur vermittels unserer Ideen auf die Welt beziehen. Wörter, die nicht für eine bestimmte Idee stehen, haben keine Bedeutung. Wer Wörter verwendet, ohne sie mit einer klaren und deutlichen Idee zu verbinden, dessen Rede ergibt keinen Sinn. Sie gleicht den Lauten, die ein Papagei von sich gibt. „But so far as Words are of Use and Signification, so far is there a constant connexion between the Sound and the Idea; and a Designation, that the one stand for the other: without which Application of them, they are nothing but so much insignificant Noise“.11 Jedes sinnvoll verwendete 8 9 10 11
Ebd., III.3.2 bis 4. Ebd., III.2.2. Ebd., III.2.4. Ebd., III.2.7.
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Wort bezeichnet eine Idee.12 Mit dieser ‘kognitivistischen These’ legt sich Locke darauf fest, daß auch die allgemeinen Ausdrücke unserer Sprache, generelle Termini wie ‘weiß’, ‘Mensch’, ‘Dreieck’ oder ‘Gold’, jeweils für eine bestimmte Idee stehen. Doch worüber sprechen wir mit Hilfe unserer allgemeinen Ausdrücke? Locke bemerkt, daß generelle Termini sich mittelbar weder auf ein Einzelding noch auf mehrere Einzeldinge beziehen können. Bezeichneten sie Einzeldinge, wären sie Namen, also singuläre und keine generellen Termini. Bezeichneten sie eine Menge von Einzeldingen, stünde das Wort ‘Mensch’ beispielsweise für eine Mehrzahl von Menschen, so wären die Worte ‘Mensch’ und ‘Menschen’ gleichbedeutend und die grammatische Unterscheidung zwischen Singular und Plural hinfällig. Aus dieser Überlegung ergibt sich für Locke, daß wir mit allgemeinen Ausdrücken mittelbar Arten von Einzeldingen bezeichnen.13 Damit stellt sich für Locke die Frage, durch welche Ideen unsere Bezugnahme auf Arten von Dingen vermittelt wird. Als Empirist, der die rationalistische Lehre von den angeborenen Ideen und Prinzipien ablehnt, bemüht sich Locke nachzuweisen, daß wir alle unsere Ideen letztlich aus der Erfahrung gewinnen können. Sein empiristisches Programm zwingt ihn, auch den Ursprung derjenigen Ideen in der Erfahrung zu suchen, für die unsere allgemeinen Ausdrücke stehen. Dies scheint für Locke deshalb eine besondere Herausforderung zu sein, weil er als Nominalist der Auffassung ist, daß es nur Einzeldinge gibt. In der Erfahrung begegnen uns mithin immer nur Einzeldinge: Wir haben es mit weißen Dingen und mit Menschen zu tun, aber niemals treffen wir auf das Menschsein oder auf die Eigenschaft, weiß zu sein. Wie können wir aus unserer Erfahrung also andere Ideen gewinnen als Ideen von Einzeldingen? Wie gelangen wir zur Idee einer Art von Dingen? II. Lockes Antwort Locke widmet das zweite Buch seines Essay Concerning Human Understanding der Frage, wie der Geist mit Ideen ausgestattet wird. Er beginnt seine Untersuchung mit den einfachen Ideen, die im Unterschied zu komplexen Ideen nichts in sich enthalten als eine einheitliche Erscheinung und die deshalb nicht in weitere Ideen zerlegt werden können.14 Die ersten Ideen, die im KinEbd., III.2.1 f. Eine Ausnahme bilden für Locke logische Ausdrücke (particles), die Tätigkeiten des Geistes bezeichnen, wie z.B. ‘ist’, ‘ist nicht’, ‘und’, ‘aber’, ‘alle’, ‘einige’ usw. (ebd., III.7.1 und III.7.4), und negative Bezeichnungen (negative or privative words), die die Abwesenheit bestimmter Ideen bezeichnen, wie das lateinische ‘nihil’ oder die englischen Wörter ‘ignorance’ und ‘barrenness’ (ebd., III.1.4). 13 Ebd., III.3.12. 14 Ebd., II.2.1. 12
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desalter in unseren Geist gelangen, entstammen Locke zufolge der Wahrnehmung. Bei ihrer Aufnahme verhalte sich der Geist passiv. Weil alle existierenden Dinge Einzeldinge sind, kann uns freilich weder die äußere noch die innere Wahrnehmung (reflexion) mit Ideen von Arten von Dingen versehen. Auch daß uns ein Erinnerungsvermögen eignet, erklärt nicht, wie wir zu allgemeinen Ideen gelangen. Zusätzlich zu den Fähigkeiten, etwas wahrzunehmen und uns an etwas zu erinnern, verfügen wir Locke zufolge über die Möglichkeit, an unseren Ideen eine Reihe von Operationen vorzunehmen. Wir können sie voneinander unterscheiden, sie miteinander vergleichen, sie zusammensetzen, sie benennen und von ihnen abstrahieren. Nach Meinung Lockes ist es insbesondere diese letzte Fähigkeit, die es uns ermöglicht, uns gedanklich und sprachlich auf Arten von Dingen zu beziehen. Durch das Abstrahieren gewinnt der Geist allgemeine Ideen. Er macht Ideen, die von Einzeldingen herrühren, zu allgemeinen Ideen, d.h. zu Ideen von Arten von Dingen. Locke beschreibt, wie wir von der Wahrnehmung einzelner weißer Dinge zur Idee von Weiß im allgemeinen oder zur allgemeinen Idee des Weißen oder des Weißseins gelangen: Wir bemerken wiederkehrende Elemente in unseren aus der Wahrnehmung gewonnenen Ideen. Wir beobachten beispielsweise an einem Stück Kreide, das wir sehen, etwas Ähnliches wie an der Milch, die wir zuvor gesehen haben. Wir isolieren diese Idee von allen anderen Ideen, von denen sie begleitet wird (der Gestalt der Kreide, dem Geschmack der Milch usw.), und geben ihr den Namen ‘Weiß’. Diese isolierte Idee dient uns nun als Muster, mit dessen Hilfe wir Dinge als weiße Dinge klassifizieren und das Wort ‘weiß’ richtig verwenden können. Etwas ist genau dann weiß und darf ‘weiß’ genannt werden, wenn es mit unserem Muster übereinstimmt. Wir können uns mit dem Wort ‘weiß’ auf weiße Dinge im allgemeinen beziehen, weil es für die allgemeine Idee des Weißen steht, die ihrerseits eine Art von Dingen repräsentiert, nämlich weiße Dinge. [T]he Mind makes the particular Ideas, received from particular Objects, to become general; which is done by considering them as they are in the Mind such Appearances, separate from all other Existences, and the circumstances of real Existence, as Time, Place, or any other concomitant Ideas. This is called ABSTRACTION, whereby Ideas taken from particular Beings, become general Representatives of all of the same kind; and their Names general Names, applicable to whatever exists conformable to such abstract Ideas. Such precise, naked Appearances in the Mind, without considering, how, whence, or with what others they came there, the Understanding lays up (with Names commonly annexed to them) as the Standards to rank real Existences into sorts, as they agree with these Patterns, and to denominate them accordingly. Thus the same Colour being observed to day in Chalk or Snow, which the Mind yesterday received from Milk, it considers that Appearance alone, makes it a representative of all of that kind; and having given it the name Whiteness, it by that sound signifies the same quality
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wheresoever to be imagin’d or met with; and thus Universals, whether Ideas or Terms, are made.15
Diese Beschreibung des Abstrahierens wirft eine Reihe von Fragen auf und birgt einige Schwierigkeiten in sich. Eine in der Locke-Literatur oft erörterte Frage betrifft die Natur der postulierten allgemeinen Ideen. Ist Locke der Meinung, daß wir beim Abstrahieren neue Ideen bilden oder nicht? Man kann die zitierte Textstelle so lesen, als formten wir beim Abstrahieren keine neue Idee, sondern erwürben lediglich die Fähigkeit, eine bereits erworbene Idee in einer bestimmten Weise zu verwenden. Einer anderen Lesart zufolge resultiert der von Locke beschriebene Prozeß in einer neuen (abstrakten) Idee: Wir bilden beim Abstrahieren eine mentale Repräsentation eines wiederkehrenden Merkmals verschiedener komplexer Sinneseindrücke und damit eine von allen partikularen Ideen numerisch verschiedene, allgemeine Idee. Nach der ersten Lesart besteht das Abstrahieren also nur darin, einen Sinneseindruck als Repräsentation eines wiederkehrenden Aspekts komplexer Sinneseindrücke zu begreifen, indem man alle anderen Aspekte dieses Sinneseindrucks ignoriert. Nach der zweiten Lesart hingegen erschaffen wir beim Abstrahieren eine neue Repräsentation, die nur jenen wiederkehrenden Aspekt zum Inhalt hat. Aber bilden wir Locke zufolge tatsächlich die Idee von etwas Weißem, das keine bestimmte Gestalt oder Größe hat, wie es die zweite Lesart nahelegt? Die wenigen Textstellen, an denen Locke über das Abstrahieren schreibt, scheinen für sich genommen diese Frage nicht eindeutig zu entscheiden. Während Locke an der bereits zitierten Textstelle davon spricht, daß partikulare Ideen zu allgemeinen gemacht werden, indem sie auf eine bestimmte Weise betrachtet oder als etwas Bestimmtes aufgefaßt werden (considering them as), nämlich als eine von allem anderen Existierenden jeweils verschiedene Erscheinung, spricht er vom Abstrahieren an anderer Stelle als von einer gedanklichen Abtrennung (separating). Er führt die Abstraktion als eine der drei wichtigsten Operationen an, die der Geist an Ideen vornimmt, bei deren Erhalt er zunächst passiv ist, aus denen er mit Hilfe dieser Operationen sodann aber weitere Ideen neu erschaffen kann: „The 3d. is separating them [simple Ideas received from Sensation and Reflexion] from all other Ideas that accompany them in their real existence; this is called Abstraction: And thus all its [the Mind’s] General Ideas are made“.16 In einem anderen Zusammenhang unterscheidet Locke zwischen dem getrennten Erwägen von Dingen oder Eigenschaften und der gedanklichen Trennung von Dingen oder Eigenschaften:
15 16
Ebd., II.11.9. Ebd., II.12.1.
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But a partial consideration is not separating. A Man may consider Light in the Sun, without its Heat; or Mobility in Body without its Extension, without thinking of their separation. One is only a partial Consideration, terminating in one alone; and the other is a Consideration of both, as existing separately.17
Aber da es Locke hier um den Unterschied geht zwischen der getrennten Erwägung von Dingen oder Eigenschaften, die getrennt nicht existieren können, und der Annahme, diese Dinge oder Eigenschaften könnten realiter getrennt voneinander existieren, ist nicht klar, wie diese Textstelle zur Entscheidung der Frage beitragen kann, ob wir beim Abstrahieren neue Ideen bilden oder nicht. Denn nichts spricht dafür und vieles dagegen, daß Locke annimmt, abstrahierbare Eigenschaften wie das Weißsein von Dingen könnten getrennt von allen Einzeldingen existieren und getrennt von allen anderen Eigenschaften einzelner Dinge. Es ist vielmehr wahrscheinlich, daß Locke wie viele andere Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts das Abstrahieren als eine Tätigkeit begreift, bei der wir in Gedanken etwas trennen, das in der Realität nicht getrennt vorkommen kann (oder nicht getrennt vorkommt). So schreibt z.B. John Norris: „But where things are really separate or distinct, the considering them apart is not Abstraction, but only a mere divided Consideration“.18 Und Isaac Watts unterscheidet zwischen einer ‘absprechenden Abstraktion’ (negative abstraction), die wir dann vornehmen, wenn wir ein Ding von etwas getrennt denken, ohne das dieses Ding existieren könnte, und einer ‘abschneidenden Abstraktion’ (precisive abstraction), die wir dann vollziehen, wenn wir Dinge voneinander getrennt denken, die in Wirklichkeit nicht getrennt voneinander existieren können.19 Locke scheint in seiner Darstellung der Abstraktion auf einen Unterschied zwischen getrenntem Erwägen und gedanklicher Trennung jedenfalls keinen Wert zu legen. Denn er charakterisiert das Abstrahieren einmal als ein Trennen (separation) von Ideen, ein anderes Mal als Betrachtung oder Berücksichtigung (consideration) jeweils nur bestimmter Teile von Ideen. Im dritten Buch des Essay Concerning Human Understanding, das von Sprache handelt, kommt Locke auf das Abstrahieren im Zusammenhang mit der Frage nach der Bedeutung allgemeiner Ausdrücke zurück. Allgemeine Ausdrücke, so versichert Locke auch hier, stehen für allgemeine Ideen. Diese gewinnen wir nicht unmittelbar aus der Erfahrung, sondern erst durch eine
Ebd., II.13.13. John Norris, An Essay towards the Theory of the Ideal or Intelligible World, London 1701– 1704, Nachdruck New York, London 1974, Part II, 174. 19 Isaac Watts, Logick; Or, The Right Use of Reason in the Enquiry after Truth, Nachdruck London 1925, I.6.9; vgl. auch Antoine Arnauld und Pierre Nicole, Logique ou L’art de penser, 1662, 61685, I.5, und George Berkeley, A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge, Dublin 1720, Einleitung § 10 und Haupttext § 5. 17 18
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Operation des Verstandes, nämlich durch das Abstrahieren. Im Einklang mit seinen Ausführungen im zweiten Buch beschreibt Locke diesen Vorgang zunächst als Tätigkeit, die bei einer partikularen Idee ansetzt, von der in Gedanken etwas abgetrennt wird oder von der nur ein bestimmter Teil erwogen wird, und die dadurch zu einer allgemeinen Idee wird: The next thing to be considered is, how general Words come to be made. For since all things that exist are only particulars, how come we by general Terms, or where find we those general Natures they are supposed to stand for? Words become general, by being made the signs of general Ideas: and Ideas become general, by separating from them the circumstances of Time, and Place, and any other Ideas, that may determine them to this or that particular Existence. By this way of abstraction they are made capable of representing more Individuals than one; each of which, having in it a conformity to that abstract Idea, is (as we call it) of that sort.20
Obwohl Locke hier von einem gedanklichen Abtrennen spricht, läßt sich auch diese Textstelle mit der These vereinbaren, daß wir beim Abstrahieren keine ganz neue Idee bilden. Wir könnten es vom Beginn bis zum Ende des Prozesses mit nur einer Idee bzw. einem Teil einer Idee zu tun haben. Anschließend erläutert Locke seine Vorstellung davon, wie wir zu allgemeinen Ideen gelangen, anhand mehrerer Beispiele. Er beschreibt, wie Kleinkinder zunächst Ideen von den sie ständig umgebenden Personen gewinnen, dann aber, weil sie Gemeinsamkeiten zwischen diesen Personen entdecken, auch die allgemeine Idee des Menschen entwickeln. Dabei behielten sie von ihren Ideen einzelner Personen gerade dasjenige zurück, was diesen Personen gemeinsam sei, und ließen dasjenige aus, worin sie sich unterschieden. Auf dieselbe Weise, so versichert Locke, gewinnen wir die Idee des Tieres, die Idee des Lebewesens oder die Idee des Pferdes. Wir lassen jeweils das aus, worin sich verschiedene Tiere, Pferde oder Lebewesen unterscheiden, und behalten das zurück, worin sich jeweils alle Tiere, Pferde oder Lebewesen gleichen. By the same way, that they come by the general Name and Idea of Man, they easily advance to more general Names and Notions. For observing, that several Things that differ from their Idea of Man, and cannot therefore be comprehended under that Name, have yet certain Qualities, wherein they agree with Man, by retaining only those Qualities, and uniting them into one Idea, they have again another and more general Idea; to which having given a Name, they make a term of a more comprehensive extension: Which new Idea is made, not by any new addition, but only, as before, by leaving out the shape, and some other Properties signified by the name Man, and retaining only a Body, with Life, Sense, and spontaneous Motion, comprehended under the Name Animal.21
20 21
Locke, Essay (wie Anm.1), III.3.6. Ebd., III.3.8.
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Hier wie auch im nachfolgenden Abschnitt spricht Locke nun explizit davon, daß wir im Prozeß des Abstrahierens eine neue Idee gewinnen. Andrerseits betont er, daß beim Bilden dieser Idee nichts Neues hinzugefügt wird und daß Kinder, die die Idee des Menschen aus den Ideen einzelner ihnen bekannter Personen entwickeln, dabei nichts Neues erschaffen.22 Auch diese Bemerkungen können die Frage nicht entscheiden, ob wir Locke zufolge beim Abstrahieren neue, allgemeine Ideen bilden. Sie belegen keinesfalls, daß das Abstrahieren nach Locke in nichts anderem besteht als einem partiellen oder selektiven Erwägen partikularer Ideen. Locke will hier in erster Linie darauf hinweisen, daß wir beim Abstrahieren insofern nichts Neues erschaffen, als auch alles das, was in den allgemeinen Ideen enthalten ist, der Erfahrung entnommen ist. Wir bilden allgemeine Ideen auf der Grundlage partikularer Ideen, die wir der Sinneswahrnehmung oder Reflexion entnehmen. Selbst wenn man das Abstrahieren als ein Weglassen bestimmter Teile komplexer allgemeiner Ideen beschreibt, wie Locke dies in der zuletzt zitierten Textstelle tut, so erfinden wir dabei nichts Neues, fügen nicht einer oder mehreren unserer Ideen etwas hinzu, sondern lassen vielmehr etwas weg. In diesem Sinne geht es hier nur um die für Locke zentrale, empiristische Annahme, daß alle unsere Ideen letztlich auf Ideen zurückgeführt werden können, die der Erfahrung entstammen. Zusammenfassend können wir festhalten, daß Locke im Essay das Abstrahieren auf unterschiedliche Weise beschreibt. Die im dritten Buch geschilderten Prozesse unterscheiden sich in mehreren Hinsichten von dem zuvor im zweiten Buch geschilderten. Zum einen resultieren sie in einer komplexen, nicht in einer einfachen allgemeinen Idee. Zum anderen nehmen sie ihren Ausgang ganz offensichtlich nicht allein von partikularen Ideen, denn das, was von den Ideen einzelner Dinge jeweils zurückbehalten wird, sind bereits allgemeine Ideen wie z.B. die Ideen des Körpers, des Lebendigseins, der Empfindungsfähigkeit und der selbsttätigen Bewegung als Bestandteile der Idee des Tieres. Sie setzen deshalb die Abstraktionsleistung voraus, die uns zu diesen allgemeinen Ideen verhilft. Aber Lockes Beschreibungen der Bildung komplexer allgemeiner Ideen variieren. Eine komplexe allgemeine Idee (wie die Idee des Tieres) scheint erstens dadurch gewonnen werden zu können, daß an Einzeldingen (einzelnen Tieren) gemeinsame Eigenschaften bemerkt werden und die Ideen dieser Eigenschaften in einer Idee vereint werden. Zweitens läßt sich eine komplexe allgemeine Idee gewinnen, indem man aus bestimmten Teilen einer komplexen allgemeinen Idee eine neue komplexe allgemeine Idee formt, während man die anderen Teile wegläßt. In diesem Fall ist die gewonnene Idee allgemeiner als die Ausgangsidee. So erhält man die Idee des Tieres aus der „[…] they frame an Idea, […]. And thus they come to have a general Name, and a general Idea. Wherein they make nothing new“ (ebd., III.3.7). 22
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Idee des Menschen, indem man das wegläßt, worin sich Tiere von Menschen unterscheiden (worin Tiere nicht mit der Idee des Menschen übereinstimmen), während man das beibehält, was Tieren und Menschen gemein ist (das, worin Tiere der Idee vom Menschen entsprechen). Der Wortlaut der oben zitierten Textstelle legt nahe, daß Locke meint, es handle sich hierbei um ein und denselben Vorgang. Drittens schließlich kann man eine komplexe allgemeine Idee bilden, indem man von zwei verschiedenen komplexen allgemeinen Ideen ausgeht und die ihnen gemeinsamen Teile zu einer neuen Idee macht. Auch auf diese Weise scheinen wir Locke zufolge zur Idee vom Tier gelangen zu können: Of the complex Ideas, signified by the names Man, and Horse, leaving out but those particulars wherein they differ, and retaining only those wherein they agree, and of those making a new distinct complex Idea, and giving the name Animal to it, one has a more general term, that comprehends, with Man, several other Creatures.23
III. Zirkularität, Regreß und Redundanz Lockes Antwort auf die Frage, was uns in Anbetracht des Umstands, daß alle existierenden Dinge Einzeldinge sind, in die Lage versetzt, allgemeine Ausdrücke, die sich offenbar nicht auf jeweils nur ein Einzelding beziehen, sinnvoll zu verwenden, ist mit mindestens drei gravierenden Schwierigkeiten behaftet. Sie ist erstens zirkulär, führt zweitens in einen unendlichen Regreß und ist drittens in einem gewissen Sinn redundant. Betrachten wir die drei soeben genannten Probleme etwas genauer:
1. Das Zirkularitätsproblem Woher wissen wir, welche Dinge zu gerade der Art von Dingen gehören, die wir mit einem Wort bezeichnen wollen? Locke zufolge erkennen wir ein weißes Ding als ein weißes, indem wir seine Übereinstimmung mit der abstrakten Idee von Weiß feststellen, der wir den Namen ‘weiß’ gegeben haben. Woher aber rührt diese Idee? Wir haben sie gebildet, weil wir verschiedene weiße Dinge wahrgenommen und eine Gemeinsamkeit an ihnen erkannt haben. Um aber eine Gemeinsamkeit zwischen dem Glas Milch, das wir gestern getrunken haben, und dem Stück Kreide zu erkennen, das wir heute in der Hand halten, müssen wir wiederkehrende Aspekte numerisch verschiedener Sinneseindrücke 23
Ebd., III.3.9.
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bemerken. Ein wiederkehrender Aspekt in unseren Sinneseindrücken aber ist selbst schon etwas Allgemeines. Locke setzt also eben jene Fähigkeit voraus, die er mit Hilfe der Abstraktion zu erklären scheint: die Fähigkeit, Einzeldinge nach Arten zu ordnen bzw. partikulare Ideen nach Arten von Ideen zu ordnen. Unsere unmittelbar aus der Erfahrung gewonnenen partikularen Ideen rühren von einzelnen Dingen her, die jeweils einer Vielfalt von Arten angehören und Gemeinsamkeiten mit einer Vielfalt von anderen Einzeldingen aufweisen. Ein kleines Stück weißer Kreide hat nicht nur mit allen Dingen etwas gemeinsam, die weiß sind, sondern auch mit allen kleinen Dingen, allen Kreidestükken, allen zerbrechlichen Dingen, allen Dingen, mit denen man auf eine Tafel schreiben kann, usw. Die meisten Gemeinsamkeiten hat es mit sich selbst, die größte Übereinstimmung mit der partikularen Idee, die wir von ihm haben. Um eine Gemeinsamkeit jener komplexen partikularen Idee, die das Glas Milch gestern in uns hervorgerufen hat, mit der komplexen partikularen Idee zu bemerken, die heute das Stückchen Kreide in uns hervorruft, müssen wir bereits über die abstrakte Idee dieser Gemeinsamkeit verfügen. Dasselbe gilt für das zweite Beispiel, das Locke für seine Erläuterung des Abstrahierens verwendet. Unsere von einzelnen Personen herrührenden Ideen stimmen nicht nur mit der allgemeinen Idee des Menschen oder mit der Idee eines Lebewesens überein. Sie stimmen mit den Ideen aller Menschen gleicher Haut-, Haar- oder Augenfarbe, gleichen Geschlechts, gleicher Statur überein, und insbesondere stimmen sie mit den Ideen von den Personen überein, von denen sie Ideen sind, d.h. mit sich selbst. Lockes Ausführungen geben uns keinen Aufschluß darüber, wie wir eine dieser Übereinstimmungen feststellen und sie isolieren können, ohne bereits über die allgemeine Idee dieser Übereinstimmung (einer Übereinstimmung in gerade der relevanten Hinsicht) zu verfügen. Eine Hinsicht, in der Einzeldinge miteinander übereinstimmen können, ist selbst immer schon etwas Allgemeines. 2. Das Regreßproblem Mit dem Zirkel, in den sich Locke mit seinen Überlegungen zum Vorgang des Abstrahierens verstrickt, hängt ein bestimmter Regreß zusammen, in den seine Erklärung unseres Klassifizierungsverhaltens und unserer Verwendung allgemeiner Ausdrücke zu geraten droht. Locke zufolge benötigen wir eine abstrakte Idee, um einen Gemeinnamen mit einer konstanten Bedeutung zu verwenden. Um zu wissen, ob wir einen Gemeinnamen seiner Bedeutung entsprechend verwenden, wenn wir ihn auf ein bestimmtes Einzelding anwenden, ob wir ihn so verwenden, wie wir ihn bisher verwendet haben, müssen wir dieses Einzelding auf seine Übereinstimmung mit einer bestimmten abstrakten Idee hin überprüfen. Nur so können wir Locke zufolge feststellen, ob das Einzelding zu
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der Art von Dingen gehört, die wir mit dem Gemeinnamen bezeichnen wollen. Das aber kann aus folgendem Grund nicht richtig sein: Bedürfte unsere Praxis, uns mit Gemeinnamen auf Dinge derselben Art zu beziehen (Dinge, die in relevanter Hinsicht miteinander übereinstimmen), tatsächlich einer solchen Rechtfertigung, führte Lockes Vorschlag in einen infiniten Regreß. Denn die Frage, ob es sich bei einem gegebenen Einzelding um ein Ding einer bestimmten Art handelt (derjenigen Art von Dingen, die wir mit dem jeweiligen Gemeinnamen bezeichnen), läßt sich immer auch im Hinblick auf die jeweils als Muster dienende abstrakte Idee aufwerfen, die Locke zufolge selbst ein Einzelding ist. Stets dieselbe abstrakte Idee zum Vergleich heranzuziehen, heißt nichts anderes als Ideen derselben Art zu verwenden. Wenn wir unsere Praxis der Verwendung eines allgemeinen Ausdrucks durch den Vergleich mit einem Muster rechtfertigen müssen, dann gilt dies auch für die Praxis des Vergleichs selbst: Wir brauchten zunächst ein zweites Muster für die korrekte Verwendung dieses Musters, dann noch ein drittes Muster für die Verwendung des zweiten Musters usw. ad infinitum. Offenbar führt uns hier die Annahme, wir brauchten eine Regel zur korrekten Befolgung einer Regel, in einen infiniten Regreß – eine Annahme, vor der uns Wittgenstein aus genau diesem Grund nachdrücklich gewarnt hat. Wittgensteins Überlegungen lassen es zweifelhaft erscheinen, ob der Versuch, unsere Praxis zu rechtfertigen und die Verwendung allgemeiner Ausdrücke auf etwas ihr Zugrundeliegendes zurückzuführen, überhaupt ein sinnvolles Unterfangen ist.24 Die Verwendung eines Gemeinnamens in einer bestimmten Bedeutung kann als Befolgung einer Regel für dessen korrekten Gebrauch beschrieben werden. („Nenne Dinge, die von derselben Art sind wie dieses, jenes usw. so und so“). Der Versuch, die Fähigkeit, einer solchen Regel zu folgen, auf etwas anderes zurückzuführen, etwa auf das Vorhandensein einer bestimmten geistigen Entität, die als Vergleichsmuster dient oder Bestandteil einer Deutung oder Interpretation der Regel ist, scheint unweigerlich in einen Regelregreß hineinzuführen.
3. Das Redundanzproblem Lockes Antwort auf die Frage, was uns denn in die Lage versetze, allgemeine Ausdrücke sinnvoll zu verwenden, ist in folgender Hinsicht redundant: Die Fähigkeit, die allgemeine Idee des Menschen in der von Locke beschriebenen Weise als Muster für das Menschsein zu verwenden, setzt die Fähigkeit voraus, diejenigen Merkmale eines Menschen, hinsichtlich deren er mit der allgemeiLudwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Oxford 1953, §§ 198–242; siehe auch §§ 85–87. 24
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nen Idee übereinstimmt, zu erkennen und von seinen anderen Eigenschaften zu unterscheiden. Wären wir dazu in der Lage, könnten wir uns mit dem Wort ‘Mensch’ auch unmittelbar auf die miteinander hinsichtlich dieser Merkmale übereinstimmenden Menschen beziehen. Es bestünde kein Grund für die Postulierung einer Priorität des Mentalen, d.h. für die Behauptung, wir bezögen uns mit Gemeinnamen unmittelbar auf abstrakte Ideen und nur mittelbar auf die Dinge, die diese Ideen ihrerseits repräsentieren.
IV. Berkeleys Kritik Es lohnt sich, Lockes Vorstellung davon, wie wir zu den Ideen gelangen, für die unsere allgemeinen Ausdrücke stehen, noch in einem etwas anderen Licht zu betrachten als dem, das die im letzten Abschnitt erhobenen Einwände auf sie werfen. Zu diesem Zweck werden wir im Folgenden die Kritik erwägen, die George Berkeley an der Lehre von den abstrakten Ideen geübt hat. Denn sie kann uns auf weitere Schwierigkeiten aufmerksam machen, die den Versuch betreffen, die Gewinnung einer mentalen Repräsentation, d.h. einer allgemeinen Idee oder eines Begriffs, die unserer Verwendung allgemeiner Ausdrücke zugrunde liegen könnte, zu erklären. Berkeley stellt seinem philosophischen Hauptwerk, der Abhandlung über die Prinzipien des menschlichen Erkenntnis, eine Einleitung voran, in der er die Existenz abstrakter Ideen bestreitet. Am Ende dieser Einleitung rühmt sich Berkeley, gezeigt zu haben, daß es keine abstrakten Ideen geben kann. Obgleich sich Berkeleys Kritik an der Lehre von den abstrakten Ideen vermutlich nicht allein gegen Locke richtet,25 wäre Lokkes Auffassung doch mit Sicherheit betroffen. Denn die beiden Thesen, die Locke zu einem Anhänger der Lehre von den abstrakten Ideen gemacht haben mögen – die These, einziger Zweck der Verwendung von Sprache sei das Hervorrufen von Ideen, sowie die These, jedes sinnvoll verwendete Wort stehe für eine Idee –, hält Berkeley für falsch.26 Hingegen bekennt auch er sich zum Vgl. hierzu Daniel E. Flage, Berkeley’s Doctrine of Notions: A Reconstruction Based on his Theory of Meaning, New York 1987. 26 Berkeley formuliert Teile seiner Kritik der Lehre von den abstrakten Ideen bereits in seinem Versuch über eine neue Theorie des Sehens (George Berkeley, An Essay Towards a New Theory of Vision, Dublin 1709, §§ 122–125) und in der Manuskriptversion der Einleitung zur Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis (George Berkeley, First Draft of the Introduction to the Principles, Works, Bd. 2, 121–145); vgl. außerdem den ersten der Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous (George Berkeley, Three Dialogues between Hylas and Philonous, London 1713, Works, Bd. 2, 192–194), die §§ 5–9 im VII. Dialog des Alciphron (George Berkeley, Alciphron; or, The Minute Philosopher in Seven Dialogues, London 1732) und die §§ 45–48 der Verteidigung des freien Denkens in der Mathematik (George Berkeley, A Defense of Free25
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Nominalismus. Im ersten der Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous heißt es: „But it is an universally received maxim, that every thing which exists, is particular“.27 Weil Berkeley zudem Empirist ist und den Ursprung unserer Ideen in der Erfahrung sucht, stellt sich auch für ihn die Frage, wie wir uns gedanklich und sprachlich auf Dinge einer Art beziehen können. Aber er bemüht sich, diese Frage zu beantworten, ohne Zuflucht zu abstrakten Ideen zu nehmen. Für Berkeley beruht unsere Fähigkeit, allgemeine Urteile zu fällen und Gemeinnamen zu verwenden, nicht darauf, daß wir in der Lage wären zu abstrahieren, d.h. Dinge gedanklich voneinander abzutrennen und so eine besondere Art von Ideen, nämlich abstrakte Ideen zu bilden. Gemeinnamen bezeichnen nach Berkeley keine abstrakten Ideen, sondern werden dadurch allgemein, daß wir sie in einer bestimmten Art und Weise verwenden: Wir gebrauchen sie jeweils als Zeichen für mehrere Einzeldinge oder für mehrere partikulare Ideen, die sie alle gleichermaßen im Geist anregen. Dasselbe gilt für unsere Ideen. Auch sie werden nicht dadurch allgemein, daß sie abstrakte Gegenstände repräsentieren (Eigenschaften oder Arten von Dingen), sondern durch einen bestimmten Gebrauch, den wir von ihnen machen. Wenn wir beispielsweise anhand einer einzelnen (gezeichneten) Linie zeigen, wie Linien in zwei gleiche Teile zu zerlegen sind, dann benutzen wir diese Linie als Repräsentation aller Linien. In gleicher Weise verdankt das Wort ‘Linie’ seine Allgemeinheit dem Umstand, daß wir mit ihm unterschiedslos alle Linien bezeichnen. Wenn wir anhand eines einzelnen Dreiecks beweisen, daß die Winkelsumme im Dreieck 180° beträgt, dann liegt die Beweiskraft unserer Ausführungen nicht darin, daß sie von der abstrakten Idee des Dreiecks im allgemeinen handelten. Der bewiesene Satz gilt deshalb für alle Dreiecke, weil wir uns in ihm nicht auf Eigenschaften des im Beweis verwendeten Dreiecks beziehen, die es nicht mit allen anderen Dreiecken teilte. Auf diese Weise benutzen wir ein Dreieck stellvertretend für alle Dreiecke. Mit seiner Deutung der Allgemeinheit von sprachlichen Ausdrücken und Ideen als einer Repräsentationsbeziehung, die auf der Verwendung von Zeichen beruht, glaubt Berkeley zufriedenstellend erklären zu Thinking in Mathematics, London 1735). Auch im Philosophischen Tagebuch finden sich viele Einträge, die Berkeleys kritische Haltung gegenüber abstrakten Ideen belegen (George Berkeley, Philosophical Commentaries, Works, Bd. 1, 7–104, Einträge 53a, 238, 318, 494, 497, 561, 564, 566, 586, 594, 602, 687, 688, 703, 727, 748, 779 und 865). Wo Textstellen nicht eindeutig durch die Angabe eines Paragraphen oder Abschnitts identifizierbar sind, wird mit „Works“ gefolgt von der Angabe des Bands und der Seitenzahl auf die von Luce und Jessop besorgte Gesamtausgabe der Werke Berkeleys verwiesen: George Berkeley, The Works of George Berkeley, Bishop of Cloyne, hg. von A.A. Luce und T.E. Jessop, Edinburgh 1948–1957. 27 Berkeley, Three Dialogues (wie Anm. 26), Works, Bd. 2, 192; siehe auch Berkeley, Principles of Human Knowledge (wie Anm. 26), §§ 7 und 10.
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können, wie wir allgemeine Ausdrücke verwenden. Damit wird die Annahme abstrakter Ideen nach seinem Dafürhalten überflüssig. Abstrakte Ideen werden nicht mehr zur Erklärung unserer Fähigkeit benötigt, uns einer Sprache zu bedienen, die über allgemeine Ausdrücke verfügt. Die Fähigkeit zur Abstraktion ist keine notwendige Bedingung dafür, einen Erkenntniszuwachs durch das Aufstellen, Überprüfen oder Beweisen von Allgemeinaussagen erlangen zu können. Seinen eigentlichen Angriff auf die Lehre von den abstrakten Ideen beginnt Berkeley mit einer Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Abstraktionsleistungen, die wir dieser Lehre zufolge erbringen. Zum einen isolieren wir angeblich aus den komplexen, aus mehreren Teilideen bestehenden Ideen, die wahrgenommene Gegenstände in uns hervorrufen, einzelne Teilideen. So können wir beispielsweise die Idee einer bestimmten Farbe bzw. die Idee einer Exemplifizierung dieser Farbe gewinnen, indem wir von allen anderen Eigenschaften absehen, die ein wahrgenommener Gegenstand dieser Farbe aufweisen mag. Wir isolieren die Idee dieser Exemplifizierung der Farbe. Wir trennen sie von allen anderen Ideen ab, die sie begleiten. Auf diese Weise formen wir die Idee einer Farbe bzw. einer Exemplifizierung einer Farbe (z.B. die Idee des Weißseins der Milch), die nicht zugleich die Idee einer Ausdehnung bzw. einer Exemplifizierung einer Ausdehnung ist. In gleicher Weise können wir Ideen von Exemplifizierungen von Ausdehnungen und Bewegungen formen. Auf diese Weise erhalten wir Ideen von Farbvorkommnissen ohne Ausdehnung, obgleich Farbe nicht ohne Ausdehnung vorkommen kann; Ideen von Ausdehnungsvorkommnissen ohne Farbe, obwohl Ausdehnung nicht ohne Farbe vorkommen kann; und Ideen von Bewegungsvorkommnissen ohne Ausdehnung, obwohl auch Bewegung ohne Ausdehnung nicht existieren kann. Das Ergebnis dieser ersten Abstraktionsleistung sind abstrakte partikulare Ideen. Eine weitere Abstraktionsleistung erbringen wir, wenn wir von allen Exemplifizierungen und damit von allen spezifischen Ausprägungen einer Eigenschaft absehen und so die allgemeine Idee der betreffenden Eigenschaft gewinnen. So bilden wir beispielsweise die abstrakte Idee der Ausdehnung, indem wir dasjenige isolieren, was allen von uns wahrgenommenen Ausdehnungen bzw. allen von uns bezeugten Exemplifizierungen des Ausgedehntseins gemeinsam ist. Wir trennen in Gedanken alles von einer Ausdehnung ab, was sie von anderen Ausdehnungen unterscheidet, und halten nur das fest, was sie mit allen Ausdehnungen teilt. Auf diese Weise formen wir die Idee der Ausdehnung im allgemeinen – einer Ausdehnung, die, wie Berkeley bemerkt, weder eine Linie noch eine Fläche noch ein Körper ist und keine bestimmte Größe oder Form aufweist. In gleicher Weise gelangen wir zu einer abstrakten Idee der Bewegung, die weder eine schnelle, noch eine langsame ist, noch geradlinig oder im Kreis verläuft, oder zur abstrakten Idee der Farbe, die weder Rot noch
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Blau noch Weiß noch sonst irgendeine Farbe ist. Das Ergebnis der zweiten Abstraktionsleistung sind abstrakte allgemeine Ideen. Abstrakte allgemeine Ideen sollen das Ergebnis einer gedanklichen Leistung sein, mit der wir dasjenige erfassen, was mehreren Dingen einer Art gemeinsam ist. Die abstrakten Ideen der Farbe und der Ausdehnung beispielsweise sollen Ideen davon sein, worin alle farbigen bzw. alle ausgedehnten Dinge einander gleichen. Abstrakte allgemeine Ideen nennt Berkeley „höchst abstrakt“, weil sie das Ergebnis einer doppelten Abstraktion sind. Die zweite Abstraktionsleistung setzt eine Abstraktionsleistung der ersten Art voraus. Denn die jeweiligen Eigenschaften sollen in Gedanken nicht nur von allen ihren Exemplifizierungen abgetrennt werden, sondern auch von allen anderen Eigenschaften, mit denen sie gemeinsam vorkommen. Beide Abstraktionsleistungen können als Subtraktionen beschrieben werden. Im ersten Fall ziehen wir von einer Exemplifikation einer Eigenschaft alle Exemplifikationen anderer Eigenschaften ab, mit denen sie gemeinsam vorkommt. Im zweiten Fall ziehen wir von einer Exemplifikation einer Eigenschaft alles ab, was sie von anderen Exemplifikationen derselben Eigenschaft unterscheidet. Wir ziehen von einer Eigenschaft alle ihre Ausprägungen ab. Insofern die Subtraktion im zweiten Fall die Idee der Eigenschaft, deren spezifische Ausprägungen in Abzug gebracht werden sollen, bereits voraussetzt, ist sie allerdings nicht als Beschreibung eines Vorgangs geeignet, mit dem wir diese Idee erst gewinnen. Hierin liegt eines der zentralen Probleme des Modells der Abstraktion als Subtraktion. Die Tragweite dieses Problems wird deutlich, wenn man bedenkt, daß unsere Ideen von Eigenschaften keineswegs abstrakte partikulare Ideen, sondern immer schon abstrakte allgemeine Ideen sind. Auch die Idee von Weiß ist eine abstrakte allgemeine Idee, mit der wir von allen Weißvorkommnissen und vielen verschiedenen Weißschattierungen abstrahieren und eben nicht nur von den Eigenschaften, mit denen gemeinsam Weiß exemplifiziert wird. Beide Formen der Abstraktion können als gedankliches Trennen von etwas verstanden werden, das getrennt nicht existieren kann. Denn weder kann eine Farbe ohne Ausdehnung existieren noch kann eine Farbe in keiner ihrer Ausprägungen vorkommen. Für einen Nominalisten existieren Eigenschaften nicht unabhängig von ihren Exemplifikationen. Anders als Locke beschreibt Berkeley die Bildung komplexer allgemeiner Ideen nicht als ein Zusammensetzen mehrerer allgemeiner Ideen. Nach Berkeley üben wir bei der Bildung komplexer abstrakter Ideen dieselbe Tätigkeit aus wie bei der Bildung einfacher abstrakter Ideen. Wir abstrahieren von allem, was einzelne Menschen voneinander unterscheidet, um die Idee des Menschen zu erhalten. Wir ziehen von den Ideen einzelner Tiere alles ab, worin sich Tiere unterscheiden, um dasjenige übrig zu behalten, worin sich alle Tiere gleichen, und gewinnen so die Idee des Tieres. Thomas Reid dagegen kennt neben den
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beiden beschriebenen Abstraktionsleistungen (die er als „abstraction strictly so called“ und als „generalization“ bezeichnet)28 noch eine dritte Art der Abstraktion: „A third operation of the understanding, by which we form abstract conceptions, is the combining into one whole a certain number of those attributes of which we have formed abstract notions, and giving a name to that combination“.29 Locke, der das Abstrahieren, wie wir gesehen hatten, auf mehrerlei Weise beschreibt, unterscheidet hingegen nicht zwischen verschiedenen Abstraktionsleistungen. Er scheint vielmehr davon auszugehen, daß ein und dieselbe Operation des Verstandes uns einfache und komplexe allgemeine Ideen liefert. Insbesondere unterscheidet er auch nicht zwischen der Bildung abstrakter partikularer und abstrakter allgemeiner Ideen. Das ist insofern von Bedeutung, als die erste der von Berkeley und Reid beschriebenen Abstraktionsleistungen allein uns ja noch keine allgemeinen Ideen liefert, die zweite und die dritte aber offenbar den Besitz allgemeiner Ideen immer schon voraussetzen. Wenn wir aus dem komplexen Sinneseindruck, den das Glas Milch in uns hervorruft, das Weiß isolieren, indem wir es von allen anderen Eigenschaften, die das Glas Milch exemplifiziert, abtrennen, dann erhalten wir die Idee einer einzelnen Exemplifikation des Weißen und damit eine Einzelidee, aber eben noch nicht die Idee einer Eigenschaft als solcher, d.h. noch nicht die Idee des Weißen oder des Weißseins selbst. Nun scheint Locke aber gerade zu behaupten, daß die Abtrennung einer Idee von all den anderen Ideen, mit denen sie gemeinsam in unseren Geist gelangt, in einer allgemeinen Idee resultiert. Er charakterisiert dieses Prozedere als Trennung der Idee nicht nur von den Ideen, mit denen sie gemeinsam in unseren Geist gelangt, sondern auch von zeitlichen und räumlichen Bestimmungen: „Ideas become general, by separating from them the circumstances of Time, and Place, and any other Ideas, that may determine them to this or that particular Existence“.30 Dabei wird die Idee als eine von allen Umständen der realen Existenz losgelöste Erscheinung betrachtet. „[T]he Mind makes the particular Ideas, received from particular Objects, to become general; which is done by considering them as they are in the Mind such Appearances, separate from all other Existences, and the circumstances of real Existence, as Time, Place, or any other concomitant Ideas“.31 Offenbar soll die gedankliche Trennung der von einer Exemplifikation einer Eigenschaft hervorgerufenen Idee von allen sie begleitenden Ideen in einer allgemeinen Idee (der Idee der exemplifizierten Ei28 Thomas Reid, Essays on the Intellectual Powers of Man, Edinburgh 1785, Essay V.3. (Thomas Reid, The Works of Thomas Reid, hg. von Sir William Hamilton, reprograph. Nachdruck der 8. Auflage Edinburgh 1895, Hildesheim, Zürich, New York 1967). 29 Ebd., Bd. 1, 394. 30 Locke, Essay (wie Anm. 1), III.3.6. 31 Ebd., II.11.9.
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genschaft) resultieren. Wie dies zugehen kann, ist unklar, und Locke erläutert diesen Prozeß, indem er etwas beschreibt, das der zweiten der von Berkeley unterschiedenen Abstraktionsleistungen entspricht, die ihrerseits eine allgemeine Idee voraussetzt. Vielleicht ist Locke der Ansicht, daß einfache allgemeine Ideen wie etwa die Idee des Weißen bereits mit der Wahrnehmung in unseren Geist gelangen, und zwar als Bestandteile von Ideenkomplexen, aus denen sie durch eine Operation des Verstandes herausgelöst werden. Das reimt sich nicht ganz mit dem Wortlaut der Textstellen zur Abstraktion, paßt dafür aber um so besser zu Lockes Meinung, daß der menschliche Geist einfache Ideen weder schaffen noch vernichten kann. Berkeley vertritt nun die Auffassung, daß es uns nicht möglich ist, auch nur eine der beschriebenen Abstraktionsleistungen zu erbringen. Weder können wir Eigenschaften, die nicht getrennt voneinander existieren können, in Gedanken voneinander trennen – wir können keine Idee einer Exemplifikation von Weiß bilden, die nicht zugleich die Idee einer Exemplifikation einer bestimmten Ausdehnung ist –, noch sind wir in der Lage, allgemeine Ideen zu bilden, indem wir von allen Ausprägungen einer Eigenschaft absehen und dennoch etwas im Verstand zurückbehalten. Weil abstrakte Ideen ihren Anhängern als schwierige und nur durch geistige Anstrengungen zu erlangende Ideen gelten, ist es, wie Berkeley bemerkt, von vornherein nicht plausibel, sie zu einer notwendigen Bedingung der Verwendung allgemeiner Ausdrücke zu erklären. In diesem Zusammenhang zitiert Berkeley Lockes Beschreibung der abstrakten Idee des Dreiecks und kommentiert diese mit einer Aufforderung an seine Leser, sich selbst davon zu überzeugen, ob sie eine solche Idee bilden könnten: For abstract Ideas are not so obvious or easie to Children, or the yet unexercised Mind, as particular ones. If they seem so to grown Men, ‘tis only because by constant and familiar use they are made so. For when we nicely reflect upon them, we shall find, that general Ideas are Fictions and Contrivances of the Mind, that carry difficulty with them, and do not so easily offer themselves, as we are apt to imagine. For example, Does it not require some pains and skill to form the general Idea of a Triangle, (which is yet none of the most abstract, comprehensive, and difficult,) for it must be neither Oblique, nor Rectangle, neither Equilateral, Equicrural, nor Scalenon; but all and none of these at once. In effect, it is something imperfect, that cannot exist; an Idea wherein some parts of several different and inconsistent Ideas are put together.32
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Ebd., IV.7.9.
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V. Das allgemeine Dreieck Ein naheliegendes Argument dafür, daß es abstrakte Ideen nicht geben kann, bestünde im Nachweis, daß abstrakte Ideen in sich widersprüchlich sind. Denn Dinge, die einen Widerspruch in sich bergen, die z.B. einander ausschließende Eigenschaften in sich vereinen, kann es nicht geben. In Berkeleys Drei Dialogen fragt Philonous Hylas mehrmals, ob er es für möglich halte, daß etwas existieren könne, das einen Widerspruch enthalte, und Hylas verneint dies jedesmal: „PHILONOUS. And can you think it possible, that should really exist in Nature, which implies a repugnancy in its conception? HYLAS. By no means“.33 Widersprüchliches ist Berkeley zufolge auch undenkbar: „[…] that a Contradiction cannot be conceiv’d by any Human Understanding whatsoever is, I think, agreed upon all hands“.34 In § 129 der Prinzipien heißt es: „As though it were not impossible even for an infinite mind to reconcile contradictions“.35 In diesem Punkt ist sich Berkeley mit vielen Anhängern abstrakter Ideen einig: Widersprüchliches kann nicht existieren, und von etwas, das einen Widerspruch enthält, kann man keine Idee haben. Auch Locke behauptet im Hinblick auf unsere Fähigkeit, Ideen gemischter Modi und Relationen zu bilden, daß es uns nicht möglich sei, widersprüchliche Ideen zu bilden, und daß widersprüchlichen Ideen nichts in der Wirklichkeit entsprechen könne: „Only if I put in my Ideas of mixed Modes or Relations, any inconsistent Ideas together, I fill my Head also with Chimæras; since such Ideas, if well examined, cannot so much as exist in the Mind, much less any real Being, be ever denominated from them“.36 Viele Kommentatoren sind der Auffassung, Berkeley wolle anhand von Lockes Beschreibung der allgemeinen Idee des Dreiecks die Widersprüchlichkeit abstrakter Ideen beweisen. In diesem Zusammenhang ist aber zu Recht darauf hingewiesen worden, daß dies nicht gelingen kann.37 Denn erstens ist Berkeley, Three Dialogues (wie Anm. 26), Works, Bd. 2, 194; siehe auch Works, Bd. 2, 225 und 232 f. 34 George Berkeley, Berkeley’s Manuscript Introduction. An editio diplomatica transcribed and edited with introduction and commentary by Bertil Belfrage, Oxford 1987, 74. 35 Siehe auch Berkeley, Alciphron (wie Anm. 26), VII, § [6], Works, Bd. 3, 334, und Berkeley, Defense (wie Anm. 26), § 46. 36 Locke, Essay (wie Anm. 1), III.10.33; siehedort auch III.3.9 und IV.3.6. 37 Siehe z.B. Robert Muehlmann, Berkeley’s Ontology, Indianapolis, Cambridge 1992; Daniel Flage, Berkeley’s Doctrine of Notions (wie Anm. 25); Richard I. Aaron, John Locke, Oxford ³1971, 195 ff.; Jonathan Bennett, Locke, Berkeley, Hume. Central Themes, Oxford 1971, Kap. 2, § 6; Edward J. Craig, Berkeley’s attack on abstract ideas, in: Philosophical Review 77 (1968), 425–437; George Pitcher, Berkeley, London 1977, Kap. 5, 65–67; Ian Tipton, Berkeley. The Philosophy of Immaterialism, London 1974, 150 ff.; James O. Urmson, Berkeley, Oxford 1982, 27 f.; Kenneth Winkler, Berkeley. An Interpretation, Oxford 1982, Kap. 2. 33
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diese Stelle nicht repräsentativ für das, was Locke über abstrakte Ideen dachte. Sie steht im Versuch über den menschlichen Verstand nicht im Zusammenhang einer theoretischen Erörterung der Abstraktion oder Bedeutung allgemeiner Ausdrücke. Sie ist Teil einer Erläuterung der These, daß wir die Wahrheit sehr allgemeiner Aussagen wie ‘Was immer ist, ist’ später einsehen als die Wahrheit weniger allgemeiner Aussagen. Locke führt dies darauf zurück, daß sie abstrakte Ideen von höchstem Allgemeinheitsgrad enthalten, die im Leben später erworben werden als weniger allgemeine Ideen, die ihrerseits, wie alle abstrakten Ideen, später erworben werden als Einzelideen. Zweitens kann Berkeley Locke anhand der allgemeinen Idee des Dreiecks auch deshalb nicht der Auffassung überführen, abstrakte Ideen seien in sich widersprüchlich, weil er selbst das Abstrahieren als ein Subtrahieren versteht, also als ein gedankliches Abtrennen von Eigenschaften. Damit aber ist unklar, wie der von Locke angeblich eingeräumte Widerspruch überhaupt entstehen kann. Wie kann man durch das Weglassen von Eigenschaften aus einer Menge von miteinander verträglichen Eigenschaften eine inkonsistente Menge von Eigenschaften erhalten? Das Entstehen einer in sich widersprüchlichen Idee durch Abstraktion wäre nur dann denkbar, wenn man die Bildung komplexer allgemeiner Ideen als eine Summierung mehrerer allgemeiner Ideen verstünde. Aber gerade das tut Berkeley im Unterschied zu Reid nicht, wie wir gesehen hatten. Locke selbst allerdings beschreibt die Bildung komplexer allgemeiner Ideen auch als ein Zusammenfügen verschiedener allgemeiner Ideen. Trotzdem kann auch dabei keine in sich widersprüchliche Idee entstehen. Denn zu einer Idee zusammengefügt werden beim Abstrahieren diejenigen Eigenschaften, die allen Dreiekken gemeinsam sind. Unter der Voraussetzung, daß kein Dreieck einander ausschließende Eigenschaften besitzt, haben wir es daher mit einer Schnittmenge von Mengen von Eigenschaften zu tun, die keine einander ausschließenden Eigenschaften enthalten kann. Tatsächlich führt Berkeley Lockes Beschreibung des Dreiecks in der Einleitung zu seiner Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis gar nicht zu dem Zweck an, die Widersprüchlichkeit abstrakter Ideen und damit ihre Unmöglichkeit zu belegen. Das Locke-Zitat dient ihm nur dazu, seine Behauptung zu untermauern, daß die Erklärung unserer Fähigkeit zur Generalisierung mit Hilfe abstrakter Ideen unplausibel ist, weil abstrakte Ideen selbst nach dem Dafürhalten ihrer Anhänger äußerst schwierig zu erlangende Gebilde sind. Dies geht erstens aus der Positionierung des Zitats innerhalb des Argumentationsganges der Einleitung hervor. Es wird dort im Rahmen einer Erörterung der Frage angeführt, wie Allgemeinheit zu erklären sei. Dabei stellt Berkeley seine eigene Theorie der zurückgewiesenen Lehre gegenüber und sagt unmittelbar nach dem Zitat, wie wenig einleuchtend es sei, eine angeblich so schwierige gedankliche Leistung wie das Abstrahieren als Voraussetzung des
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Gebrauchs einer Sprache anzusehen. Zweitens zeigt auch die Art und Weise, in der Berkeley das Locke-Zitat ausbeutet (bzw. nicht ausbeutet), daß er es nicht dazu benutzt, die Unmöglichkeit abstrakter Ideen zu beweisen. Auf die Widersprüchlichkeit abstrakter Ideen bezieht er sich nur innerhalb einer rhetorischen Frage. Er fragt, ob es nicht schwer sei, sich vorzustellen, daß Kinder nur dann miteinander reden könnten, wenn sie zuvor zahllose Widersprüche miteinander vereinigt und so in ihrem Geist abstrakte, allgemeine Ideen gebildet hätten.38 Das klingt eher nach einer ironischen Randbemerkung als nach jenem berüchtigten „Todesstoß“ für abstrakte Ideen, den Berkeley in seinen Notizen erwähnt.39 Drittens schließlich belegen Berkeleys Ausführungen an anderer Stelle, daß er Lockes Beschreibung des Dreiecks keineswegs so mißversteht (oder böswillig auslegt), als belege sie, daß alle abstrakten Ideen nach Lockes eigener Auffassung Widersprüche in sich vereinten.40 Einer nachsichtigeren und viel plausibleren Lesart zufolge will Locke mit seiner Beschreibung zum Ausdruck bringen, daß die abstrakte Idee des Dreiecks insofern schwierig zu bilden ist, als es sich um eine Idee handelt, die auf der einen Seite mit allen Dreiecken übereinstimmt (mögen diese nun gleichoder ungleichseitig, spitz- oder rechtwinklig usw. sein), auf der anderen Seite aber mit keinem Dreieck (weder einem gleich- noch einem ungleichseitigen, weder einem spitz- noch einem rechtwinkligen usw.). Es handelt sich also um eine Idee, die keine der genannten Eigenschaften eines Dreiecks enthält, gleichwohl aber auf Dinge zutrifft, die diese Eigenschaften aufweisen. Die abstrakte Idee des Dreiecks im allgemeinen ist eine unvollständige, partielle Idee, eine Idee von etwas, das realiter nicht existieren kann. Realiter existieren nur Einzeldinge, die qualitativ vollständig bestimmt sind. Abstrakte, allgemeine Ideen sind partielle Ideen, weil sie unvollständig sind im Hinblick auf die Einzeldinge, die mit ihnen übereinstimmen. Sie bestimmen diese Dinge gerade nicht in jeder Hinsicht.41 John Sergeant schreibt: „General Ideas (as every good Reflecter may observe) are nothing but Imperfect Ideas of the Thing;
Vgl. Berkeley, Principles of Human Knowledge (wie Anm. 26), 33. Berkeley hatte dort vermerkt: „Mem: to bring the killing blow at the last v.g. in the matter of Abstraction to bring Lockes general triangle at the last“. Berkeley, Philosophical Commentaries (wie Anm. 26), Eintrag 687. 40 Berkeley, Alciphron (wie Anm. 26), VII, § 5, und Berkeley, Defense (wie Anm. 26), §§ 45– 47. Die beschriebene Fehlinterpretation Lockes wird Berkeley u.a. von Aaron, Craig und Pitcher (wie Anm. 37) sowie von Weinberg und Chappell unterstellt (Julius Weinberg, Abstraction, Relations and Induction, Madison 1965, Kap. 1, Abschn. 1; Vere Chappell, Locke’s Theory of Ideas, in: Vere Chappell [Hg.], The Cambridge Companion to Locke, Cambridge 1944, 26–55). 41 Siehe z.B. Locke, Essay (wie Anm.1), III.3.9, III.6.32. 38 39
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[…]“.42 Daß wir solche partiellen und unvollständigen Ideen für unsere Erkenntnis benötigen, verdankt sich Locke zufolge dem beschränkten Fassungsvermögen unseres endlichen Verstandes.43 Berkeley will die Annahme zurückweisen, daß unsere Fähigkeit, allgemeine Erkenntnisse über Einzeldinge zu gewinnen, von der Bildung solcher unvollständigen Ideen der Dinge abhängt. Das abstraktionistische Modell des Verstehens von Allgemeinaussagen durch eine partielle Repräsentation, der eine beliebige Anzahl von Einzeldingen entspricht, hält er für verfehlt, weil es einem Essentialismus verpflichtet zu sein scheint, nach dem wir mit unseren Ideen von Arten von Dingen gerade die wesentlichen Eigenschaften dieser Dinge erfassen, d.h. dasjenige, was sie zu Dingen dieser Art macht. Wenn Berkeley abstrakte Ideen aber nicht für in sich widersprüchliche Gebilde hält, welche Argumente kann er dann gegen ihre Existenz vorbringen?
VI. Das empiristische Argument Berkeleys Kritik an der Lehre von den abstrakten Ideen bezieht sich insbesondere auf den geistigen Prozeß des Abstrahierens. Wie Locke geht Berkeley davon aus, daß wir sinnliche Eigenschaften nicht isoliert wahrnehmen, sondern immer nur zusammen mit anderen wahrnehmbaren Eigenschaften. Wenn wir beispielsweise etwas sehen, dann ist das, was wir sehen, gleichzeitig ausgedehnt und farbig. Um eine allgemeine Idee einer dieser Eigenschaften zu bilden, z.B. der Ausdehnung, müßten wir, von unserer Sinneserfahrung ausgehend, zunächst jede Art abschälen, in der das Wahrgenommene farbig ist, und dann jede Art, in der die wahrgenommene Ausdehnung sich von irgendeiner anderen wahrnehmbaren Ausdehnung unterscheidet. Berkeley bestreitet, daß wir dieser Anweisung zum Wegdenken folgen und eine Idee mit irgendeinem Inhalt übrig behalten können. Wenn wir uns jede Hinsicht wegdenken, in der das Ausgedehnte farbig ist, dann haben wir alle Weisen fortgenommen, in denen etwas sichtbar ausgedehnt sein kann. Denn sichtbaren Raum nimmt etwas ein, indem es farbig ist. Man kann die Farbe nicht wegnehmen und etwas Sichtbares übrig behalten, etwas, das sichtbar Raum einnimmt. Wir können unsere Aufmerksamkeit auf die eine oder die andere Eigenschaft richten, d.h. über die sichtbare Ausdehnung eines Objektes nachdenken, ohne an seine Farbe zu denken, aber das ist nicht dasselbe wie an eine farblose Ausdehnung zu denken. Aber eben das ist es, wozu uns die Anleitung zur Bildung einer ab42 John Sergeant, Solid Philosophy Asserted. Against the Fancies of the Ideists, London 1697, Nachdruck New York und London 1984, Refl. VI.1. 43 Locke, Essay (wie Anm.1), III.3.2 und IV.7.9.
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strakten Idee in Berkeleys Augen auffordert: Sie schreibt uns vor, eine Eigenschaft getrennt von allen Weisen zu denken, in denen sie in unserer Erfahrung bestimmt ist. Unsere Fähigkeiten zur Bildung von Ideen sind für Berkeley jedoch durch die Bedingungen der Wahrnehmung sinnlicher Eigenschaften beschränkt. Welche Eigenschaften von welchen anderen Eigenschaften gedanklich abgetrennt werden können, hängt davon ab, wie wir diese Eigenschaften wahrnehmen. „But my conceiving or imagining power does not extend beyond the possibility of real existence or perception“.44 Aus den gleichen Gründen, aus denen wir keine abstrakte Idee einer sichtbaren Ausdehnung ohne Farbe gewinnen können, ist es uns nicht möglich, eine abstrakte Idee der Ausdehnung im allgemeinen zu bilden. Eine solche Idee würde nur diejenigen wahrnehmbaren Eigenschaften repräsentieren, die alle Vorkommnisse von Ausgedehntsein miteinander teilen. Um eine solche Idee zu bilden, müßten wir von den wahrnehmbaren Ausdehnungen alles wegdenken, was ein Vorkommnis von Ausgedehntsein von einem anderen unterscheidet. Aber das können wir nicht. Denn wenn man alle Hinsichten wegstreicht, in denen ein Fall von Ausgedehntsein sich von allen anderen Fällen von Ausgedehntsein unterscheidet, dann hat man alle Arten und Weisen weggestrichen, in denen etwas ausgedehnt sein kann. Es bliebe nichts wahrnehmbar Ausgedehntes mehr übrig. Aufgrund der Beschaffenheit unserer Sinneserfahrung besteht für uns nicht die Möglichkeit, Ideen zu bilden, die das zum Inhalt haben, was angeblich Gegenstand abstrakter Ideen ist. Weil solche Ideen gedanklich nicht faßbar sind, sind sie als Ideen unmöglich. Es kann sie nicht geben. Denn eine Idee existiert genau dann, wenn sie von jemandem gehabt wird. Die Existenz von Ideen besteht in ihrem Perzipiertwerden. Eine Reihe von Autoren hat zu zeigen versucht, daß Berkeleys Kritik Locke gar nicht treffe, weil dieser eine Theorie selektiver Aufmerksamkeit vertreten habe, die Berkeleys Theorie allgemeiner Ideen sehr ähnlich sei.45 Locke sei der Auffassung gewesen, daß wir beim Abstrahieren keine neuen, ihrer Natur nach allgemeinen Ideen erschaffen, sondern unsere Aufmerksamkeit selektiv auf Teile partikularer Ideen richten. Im Gegensatz dazu hat z.B. Warnock die Ansicht vertreten, Locke habe die konventionelle Bedeutung allgemeiner sprachlicher Ausdrücke durch die Postulierung einer Klasse mentaler Entitäten zu erklären versucht, die ihrer Natur nach allgemein sind. Erst Berkeley habe den
Berkeley, Principles of Human Knowledge (wie Anm. 26), § 5. So z.B. Michael Ayers, Locke’s Doctrine of Abstraction: Some Aspects of its Historical and Philosophical Significance, in: Reinhard Brandt (Hg.), John Locke, Berlin 1981, 5–24; J. L. Mackie, Problems from Locke, Oxford 1976, 107–112; C. C. W. Taylor, Berkeley’s Theory of Abstract Ideas, in: Philosophical Quarterly 28 (1978), 97–115; Kenneth Winkler, Berkeley. An Interpretation, Oxford 1989. 44 45
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konventionalen Charakter der Allgemeinheit von Wörtern und Ideen erkannt.46 Ob Berkeleys Kritik Locke überhaupt trifft, hängt davon ab, ob Locke die Meinung zugeschrieben werden kann, daß wir beim Abstrahieren neue Ideen bilden. Wie wir gesehen hatten, ist der Wortlaut der Textstellen, in denen Locke den Prozeß des Abstrahierens beschreibt, diesbezüglich nicht eindeutig. Mir scheinen aber zumindest drei Gründe dafür zu sprechen, daß der Abstraktionsvorgang Locke zufolge in Ideen resultiert, die numerisch verschieden sind von allen partikularen Ideen, über die wir verfügen. a) Insofern Locke den Begriff der Idee sehr weit faßt und alles, was in irgendeinem Sinn Gegenstand des Bewußtseins ist, als Idee bezeichnet, wäre auch der bei einer partiellen Erwägung ins Auge gefaßte Teil einer Idee wieder eine Idee. b) Daß beim Abstrahieren Ideen neu gebildet werden, ergibt sich auch daraus, daß abstrakte Ideen nach Locke keinesfalls zu den uns in der Sinneswahrnehmung gegebenen Ideen gehören, bei deren Perzeption der Geist passiv ist. Es bedarf Locke zufolge geistiger Anstrengungen, um abstrakte Ideen zu bilden, und wir erwerben abstrakte Ideen erst nachdem wir bereits über eine Reihe partikularer Ideen verfügen. Locke beschreibt im zweiten Buch seines Versuchs über den menschlichen Verstand, wie wir den Bestand unserer Ideen durch verschiedene Operationen des Geistes über die Ideen hinaus erweitern, die wir aus der Wahrnehmung gewonnen haben. c) Im dritten Buch schließlich stellt sich Locke die Frage, für welche Ideen unsere allgemeinen Ausdrücke stehen, da ein Wort nur dann sinnvoll verwendet wird, wenn es für eine bestimmte Idee steht. Seine Antwort, daß allgemeine Ausdrücke für allgemeine Ideen stehen, kann im Lichte der kognitivistischen These nur befriedigen, wenn unsere allgemeinen Ideen auch tatsächlich eigenständige Ideen sind. Sollte Locke der Auffassung gewesen sein, daß wir beim Abstrahieren keine neuen Ideen schaffen, sondern partikulare Ideen partiell erwägen und im Hinblick auf die erwogenen Aspekte miteinander vergleichen, dann wirft dies zudem mindestens eine weitere Schwierigkeit auf. Worin sollte das Achthaben auf bestimmte Teile oder Aspekte eines Einzeldings oder einer Idee bestehen? Worauf genau richtet sich unsere Aufmerksamkeit, wenn wir ein Dreieck nur als Dreieck, aber nicht als ein gleich- oder ungleichseitiges Dreieck betrachten, oder eine Person nur als Menschen oder als Lebewesen? Die naheliegende und in der Sekundärliteratur gängige Antwort, daß man dabei die Aufmerksamkeit auf Teile von Ideen bzw. auf diejenigen Eigenschaften eines Einzeldings richte, in denen es mit allen anderen Einzeldingen der betreffenden Art übereinstimmt, ist letztlich nicht plausibel. Welcher Teil eines rotbackigen Apfels oder der Idee 46
Geoffrey J. Warnock, Berkeley, Harmondsworth 1953, Neudruck London 1992, 72 f.
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eines rotbackigen Apfels ist es, dem wir unsere besondere Aufmerksamkeit schenken, wenn wir ihn als roten, hellroten oder farbigen Gegenstand betrachten, als einen Apfel, ein Stück Obst oder etwas Eßbares? Der Apfel gleicht allen roten Dingen darin, daß er rot ist, allen hellroten Dingen darin, daß er hellrot ist, und allen farbigen Dingen darin, daß er farbig ist. Aber er hat nur eine Farbe, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten können. Wie also könnten wir durch die gezielte Betrachtung dieser Farbe dazu gelangen, ihn einmal als roten, das andere Mal als hellroten, und das nächste Mal als farbigen Gegenstand zu betrachten, der jeweils allen roten, allen hellroten und allen farbigen Dingen hinsichtlich seiner (von uns mit Aufmerksamkeit bedachten) Farbe ähnelt? Welcher Teil der Idee eines hellroten Apfels ist es, hinsichtlich dessen diese Idee mit den Ideen auch aller dunkelroten Gegenstände (oder aller Gegenstände, deren Farbe um die kleinste Nuance vom Rot des Apfels abweicht) übereinstimmt? Welcher Teil der Idee unseres hellroten Apfels ist einem Teil der Idee eines dunkelblauen und damit farbigen Lampenschirms ähnlich? Wir können Einzeldinge sehr viel mehr Arten zurechnen, als wir spezifische (vollständig bestimmte) Eigenschaften an ihnen wahrnehmen können, oder als unsere Ideen von ihnen Bestandteile aufweisen. Das Problem rührt daher, daß das Allgemeinere das Spezifischere in einem bestimmten Sinn enthält, aber nicht umgekehrt. Deshalb läßt sich ein Einzelding nicht in Teile zerlegen, die jeweils nur genau einer seiner wahrnehmbaren Eigenschaften entsprechen. Das Vorkommnis einer bestimmten Eigenschaft ist immer auch ein Vorkommnis all der Eigenschaften, die als allgemeinere Eigenschaften angesehen werden können, die also die erste Eigenschaft als spezifischere mit einschließen. Ein Vorkommnis von Hellrot ist z.B. auch ein Vorkommnis von Rot, ein Vorkommnis einer Farbe, ein Vorkommnis von Sichtbarsein oder von Wahrnehmbarsein, es ist ein Vorkommnis einer bestimmten sichtbaren Ausdehnung und ein Vorkommnis von Sichtbar-Ausgedehntsein.
VII. Die Widersprüchlichkeit der Lehre Wir haben gesehen, daß Berkeley nicht versucht, abstrakte Ideen anhand von Lockes Beschreibung des allgemeinen Dreiecks als in sich widersprüchlich zu entlarven. Widersprüchlichkeit kommt auf eine andere Weise ins Spiel. Im Alciphron bringt Berkeley ein Argument gegen die Existenz abstrakter Ideen vor, in dem von der Widersprüchlichkeit der Gegenstände abstrakter Ideen die Rede ist.47 Das Argument lautet: Etwas ist genau dann unmöglich (kann nicht existieDieses Argument findet sich entgegen einer verbreiteten Meinung nicht in der Einleitung zur Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. Vgl. dagegen Flage, Berkeley’s 47
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ren), wenn es in sich widersprüchlich ist (1. Prämisse). Von etwas Widersprüchlichem kann man keine Idee haben (2. Prämisse). Das, wovon abstrakte Ideen Ideen sein sollen, kann nicht existieren (3. Prämisse). Also kann es keine abstrakten Ideen geben (Konklusion). EUPHRANOR. […] Pray, Alciphron, which are those things you would call absolutely impossible? ALCIPHRON. Such as include a contradiction. EUPHRANOR. Can you frame an idea of what includes a contradiction? ALCIPHRON. I cannot. EUPHRANOR. Consequently, whatever is absolutely impossible you cannot form an idea of. ALCIPHRON. This I grant. EUPHRANOR. But can a colour or triangle, such as you describe their abstract general ideas, really exist? ALCIPHRON. It is absolutely impossible such things should exist in Nature. EUPHRANOR. Should it not follow, then, that they cannot exist in your mind, or, in other words, that you cannot conceive or frame an idea of them?48
In einer abgewandelten Version findet sich dieses Argument auch in der Manuskriptversion der Einleitung zu den Prinzipien. Dort enthält das Argument keinen Hinweis auf die Widersprüchlichkeit abstrakter Ideen oder ihrer Gegenstände. Die Undenkbarkeit des Unmöglichen wird dort damit begründet, daß alles Denkbare möglich sei, da Gott es erschaffen könne: It is, I think, a receiv’d axiom that an impossibility cannot be conceiv’d. For what created intelligence will pretend to conceive, that which God cannot cause to be? Now it is on all hands agreed, that nothing abstract or general can be made really to exist, whence it should seem to follow, that it cannot have so much as an ideal existence in the understanding.49
Hier geht Berkeley davon aus, daß etwas, von dem man eine Idee haben kann, von Gott geschaffen werden und somit existieren kann. Dieses Prinzip und seine Kontraposition, der zufolge man von etwas, das nicht existieren kann, auch keine Idee haben kann, ersetzen die ersten beiden Prämissen der veröffentlichten Version des Arguments, in denen es um Widersprüchlichkeit geht. Die Widersprüchlichkeit der Gegenstände abstrakter Ideen ist also gar nicht so wichtig für das Argument gegen abstrakte Ideen. Für dieses Argument kommt es nur darauf an, daß man von etwas, das nicht existieren kann, keine Idee haben Doctrine (wie Anm. 25), Kap. 1; Muehlmann, Berkeley’s Ontology (wie Anm. 37), Kap.2; Pitcher, Berkeley (wie Anm. 37), Kap. 5; Winkler, Berkeley (wie Anm. 37), Kap. 2; Weinberg, Abstraction, Relation, and Induction (wie Anm. 40), Kap. 1. 48 Berkeley, Alciphron (wie Anm. 26), VII, § [6], Works, Bd. 3, 333 f., siehe auch Berkeley, Defense (wie Anm. 26), §§ 45–47, und Berkeley, Three Dialogues, Works, Bd. 2, 225. 49 Berkeley, First Draft (wie Anm. 26), Works, Bd. 2, 125.
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kann. Dies ergibt sich als unmittelbare Konsequenz jeweils der ersten beiden Prämissen beider Argumente. Den Kern der Berkeleyschen Argumentation gegen abstrakte Ideen könnte man also folgendermaßen rekonstruieren: (P1) Von etwas, das nicht existieren kann, kann man keine Idee haben. (P2) Abstrakte Ideen wären Ideen von etwas, das nicht existieren kann. (K) Also kann es keine abstrakten Ideen geben. Falls Locke beide Prämissen dieses Arguments akzeptieren würde, hätte Berkeley tatsächlich eine Ungereimtheit in seiner Lehre von den abstrakten Ideen aufgedeckt. Die erste Prämisse ergibt sich als Kontraposition aus einem Denkbarkeitskriterium der Möglichkeit, das in der einen oder anderen Form von vielen Anhängern dieser Lehre für richtig gehalten wird. Danach ist es möglich, daß x, wenn es denkbar ist, daß x; und x kann existieren, wenn man eine (klare und deutliche) Idee von x haben kann. Die zweite Prämisse müßte Locke als Nominalist wohl akzeptieren. Qualitäten oder Modi können seiner Meinung nach nicht isoliert von allen anderen Qualitäten oder ohne eine Substanz existieren, der sie inhärieren. Alle Dinge, die existieren, sind Einzeldinge, und die Gegenstände abstrakter Ideen (das, wovon sie Ideen sind) existieren nur im Denken und nicht in der Realität. Der Witz der Abstraktion ist es gerade, getrennt zu denken, was getrennt nicht existieren kann, Eigenschaften in Gedanken von den Dingen loszulösen, deren Attribute sie sind, und sie gedanklich von anderen Eigenschaften abzutrennen, mit denen sie realiter stets gemeinsam vorkommen. Ob Locke sich mit seiner Lehre von den abstrakten Ideen tatsächlich in der von Berkeley angedeuteten Weise in einen Widerspruch verstrickt, hängt also davon ab, ob Locke das Denkbarkeitskriterium der Möglichkeit akzeptiert hätte. Im Rahmen seiner Erörterung der Teilbarkeit des Raums scheint Locke sich darauf festzulegen, daß man in Gedanken nur das trennen kann, von dem man annimmt, es könne auch getrennt existieren. Er schreibt: „And to divide mentally, is to make in the Mind two Superficies, where before there was a Continuity, and consider them as removed one from the other; which can only be done in things considered by the Mind, as capable of being separated“.50
50 Locke, Essay (wie Anm. 1), II.13.13. Walter Ott hat unlängst bezweifelt, daß diese Textstelle als Beleg dafür gelten kann, daß Locke ein Denkbarkeitskriterium der Möglichkeit vorausgesetzt hat (Walter Ott, Locke’s Philosophy of Language, Cambridge 2004, 59–63).
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VIII. Abstrakte Ideen als Repräsentationen Für Berkeley, und hierin liegt eine seiner wichtigen Einsichten, kann die auf Ähnlichkeit basierende Repräsentationsbeziehung zwischen Ideen und den von ihnen repräsentierten Dingen nur zwischen Einzeldingen bestehen. Deshalb kann es keine Idee von mehreren Dingen geben (z.B. von allen Dreiecken oder vom Dreieck im allgemeinen). Die Idee eines Dreiecks mag allen Dreiecken ähnlich sein, aber sie kann unmöglich allen Dreiecken gleichermaßen ähnlich sei. Denn dazu dürfte sie keinem Dreieck mehr als einem anderen ähneln. Ähnelte sie einem Dreieck mehr als einem anderen, repräsentierte sie eher dieses als jenes und nicht beide. Sie wäre eine Idee dieses, aber nicht jenes Dreiecks. Ähnelte sie keinem Dreieck mehr als einem anderen, wäre sie nicht die Idee eines Dreiecks. Eine Idee kann nur dann allen Dreiecken gleichermaßen ähneln, wenn sie nicht die Idee eines Dreiecks ist. Die Idee eines Quadrates beispielsweise könnte insofern allen Dreiecken in gleichem Maße ähnlich sein, als sie die Idee einer geometrischen Figur ist, die mit geraden Linien eine Fläche umschließt. Diese Überlegung scheint zumindest in der Manuskriptversion der Einleitung zur Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis eine Rolle in Berkeleys Kritik der abstrakten Ideen zu spielen. Unmittelbar anschließend an die Feststellung, daß Ideen Dinge auf andere Weise repräsentieren, als Worte dies tun, schreibt Berkeley dort: Whence it follows, that an idea is not capable of representing indifferently any thing or number of things it being limited by the likeness it beares to some particular existence, to represent it rather than any other. The word Man may equally be put to signify any particular man I can think of. But I cannot frame an idea of man, which shall equally represent & correspond to each particular of that sort of creatures that may possibly exist.51
Eine Idee kann nicht allen Menschen gleichermaßen ähnlich sein und gleichzeitig allen Dingen, die keine Menschen sind, weniger ähnlich sein als allen Menschen. Deshalb kann es keine Idee von allen Menschen geben (oder vom Menschen im allgemeinen). In einer auf Ähnlichkeit beruhenden Repräsentationsbeziehung können Ideen nur zu Einzeldingen stehen – zu Dingen, die numerisch eins und qualitativ vollständig bestimmt sind. Ob sich Berkeleys Kritik gegen Locke anbringen läßt, hängt in diesem Fall davon ab, worauf die Repräsentationsbeziehung beruht, die zwischen einer allgemeinen Idee und der Art von Einzeldingen besteht, die sie repräsentiert. Locke spricht davon, daß die Einzeldinge einer Art mit der allgemeinen Idee dieser Art übereinstimmen. Genaugenommen können wir Übereinstimmungen aber natürlich immer nur zwischen unseren Ideen feststellen, z.B. zwischen unseren partikularen Ideen. Wie 51
Berkeley, First Draft (wie Anm. 26), Works, Bd. 2, 129.
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eine Idee in gleichem Maß mit allen Ideen von einzelnen Menschen übereinstimmen und gleichzeitig mit allen Ideen, die keine Ideen von Menschen sind, in geringerem Maß übereinstimmen könnte, ist unklar. Auch aus diesem Grund bleibt Lockes Antwort auf die Frage, wie wir uns gedanklich und sprachlich auf die Dinge einer Art beziehen können, letztlich unbefriedigend. Um zu erklären, wie wir uns gedanklich und sprachlich auf mehr als nur Einzeldinge beziehen können, postuliert Locke die Existenz allgemeiner Ideen, die wir durch die geistige Operation des Abstrahierens gewinnen. Lockes Auffassung wird in diesem Beitrag zunächst in den Zusammenhang seiner empiristischen und nominalistischen Grundhaltung gestellt und erläutert (I, II). Anschließend wird dargelegt, inwiefern Lockes Vorstellung davon, wie wir vom Einzelnen abstrahieren, zirkulär ist, weshalb sie in einen Regreß führt und in welchem Sinn sie redundant ist (III). In den folgenden Abschnitten wird Lockes Ansatz mit der Kritik konfrontiert, die George Berkeley an der Lehre von den abstrakten Ideen geübt hat. Bereits Berkeleys Darstellung dieser Lehre vermag ein genaueres Licht auf Lockes Auffassung zu werfen (IV). Lockes notorische Beschreibung der Idee des allgemeinen Dreiecks wird in Abschnitt (V) erörtert. In Abschnitt (VI) wird ein empiristisches Argument untersucht, das Berkeley gegen die Existenz abstrakter Ideen vorbringt. Ob dieses Argument gegen Locke gerichtet werden kann, hängt davon ab, ob Locke eine Theorie selektiver Aufmerksamkeit vertreten hat oder nicht. Die letzten beiden Abschnitte sind zwei weiteren Argumenten Berkeleys gewidmet. Berkeley versucht, einen Widerspruch in der Lehre von den abstrakten Ideen auszumachen, der Locke aber nur dann angelastet werden kann, wenn dieser ein Denkbarkeitskriterium der Möglichkeit akzeptiert (VII). Im letzten Abschnitt dieses Beitrags erweist es sich schließlich als unklar, wie allgemeine Ideen ihre Funktion als mentale Repräsentationen erfüllen können (VIII). To explain how it is possible in thought and language to refer to more than mere particulars Locke postulates the existence of general ideas that are arrived at through a mental operation of abstraction. In this paper, Locke’s conception is first examined in the context of his empiricist and nominalist attitude (I, II). As a next step, it is pointed out in which respects Locke’s view of our ways of abstracting from particulars is circular, why it leads into a regress, and in which sense it can be seen to be redundant (III). Subsequent sections compare Locke’s approach with Berkeley’s criticism of the doctrine of abstract ideas. Berkeley’s account of Locke’s theory turns out to shed some light on what Locke may have had in mind (IV). In the next section (V) Locke’s notorious characterization of the idea of a general triangle is discussed, and in section (VI) an empiricist argument is considered that Berkeley used to disprove the existence of abstract ideas. Whether Locke is really open to this kind of attack depends on whether or not he held a theory of selective attention. The last two sections of this paper discuss two further arguments put forward by Berkeley. He tries to show that the doctrine of abstract ideas involves a contradiction, but it can be seen that this objection works against Locke
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only if the latter can be found to have accepted a principle of conceivability (VII). In the concluding section (VIII) of this paper it turns out that there is no clear way in which general ideas can be understood to fulfil their supposed function as mental representations. Prof. Dr. Katia Saporiti, Universität Zürich, Philosophisches Seminar, Zürichbergstr. 43, CH – 8044 Zürich, E-Mail: [email protected]
I VANO P ETROCCHI Die Rezeption von Lockes Nachlaßschrift Of the Conduct of the Understanding in der deutschen Aufklärung
In einem kurz vor seinem Tod verfaßten Brief an seinen Vetter und späteren Testamentsvollstrecker Peter King berichtet Locke, daß sich unter seinen Papieren noch „mehrere Gegenstände“ befänden, die zwar kaum mehr als „Gelegenheitsansichten“ darstellten, jedoch bereits zu seiner Zufriedenheit ausgearbeitet seien.1 Zu den hier angesprochenen Gegenständen zählt auch die 1706 posthum veröffentlichte Schrift Of The Conduct of the Understanding.2 Daß gerade diese Nachlaßschrift Lockes auf die deutsche Aufklärung im allgemeinen und auf Kant insbesondere einen erheblichen Einfluß ausgeübt hat, ist nicht selbstverständlich. Einerseits wird in der Kantforschung zwar die Meinung vertreten, daß Locke zu den wichtigsten Vorgängern Kants zählt.3 Kant selbst hat dieser Einschätzung Vorschub geleistet,4 und ähnlich wie Kant selbst haben sich die Kantforscher an Lockes opus magnum, dem Essay concerning Human Understanding, orientiert. Andererseits wird das Verhältnis zwischen Vgl. The Correspondence of John Locke, ed. by Esmond S. de Beer, Bd. 8, Oxford 1989, 412. Dt. Übersetzung zit. nach: Terry Boswell, Riccardo Pozzo, Clemens Schwaiger, Einleitung, in: Johann Lockens Anleitung des menschlichen Verstandes zur Erkäntniß der Wahrheit nebst desselben Abhandlung von den Wunderwerken. Aus dem Englischen übersetzt von George David Kypke, Königsberg 1755 (Nachdruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, 2 Bde., hg. von Terry Boswell, Riccardo Pozzo, Clemens Schwaiger), Bd. 1, XI. 2 Johann Lockens Anleitung des menschlichen Verstandes (wie Anm. 1). Was die Auflagen und die Übersetzungen dieser Nachlaßschrift Lockes angeht, siehe John C. Attig, The Works of John Locke. A comprehensive Bibliography from the Seventeenth Century to the Present, Westport, London 1985, 117–123. 3 Schopenhauer z.B. unterscheidet „eine dreifache Beziehung“ der Philosophie Kants „zu der seiner Vorgänger“ und insbesondere „eine bestätigende und erweiternde zu der Locke’s“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Dresden 1818 [Nachdruck: Arthur Schopenhauer, Werke in zehn Bänden, Zürich 1977], Bd. 1, zweiter Teilband, 515). Siehe dazu auch Alois Riehl, Der philosophische Kritizismus. Geschichte und System, 3 Bde., Leipzig 21924–26 [11876–87], Bd. 1, 99 und 266. 4 Kritik der reinen Vernunft B 127. 1
Aufklärung 18 · © Felix Meiner Verlag 2006 · ISSN 0178-7128
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englischer und deutscher Aufklärung aber auch als unbedeutend, wenn nicht sogar als inexistent betrachtet.5 Ein differenzierteres Bild der Beziehung zwischen Locke und Kant läßt sich gewinnen, wenn man neben Lockes Hauptwerk auch die Schrift Of the Conduct of the Understanding hinzuzieht. Denn in dieser Schrift sind Themen zu finden, die für die deutsche Aufklärung von Christian Thomasius (der als deren Begründer gilt) bis Kant charakteristisch sind. Lockes Of the Conduct of the Understanding gehört ohne Zweifel zu einer der Quellen, die auf die deutsche Aufklärung Einfluß ausgeübt haben. Bereits Gerhard Lehmann, der Herausgeber der Kantschen Vorlesungen im Rahmen der vierten Abteilung der Akademie-Ausgabe, hat darauf hingewiesen, daß Kant Lockes Nachlaßschrift offensichtlich gekannt haben muß.6 Der erste Schritt der Forschung in diese Richtung ist jedoch dem bahnbrechenden Beitrag Alois Winters aus dem Jahr 1986 zu verdanken.7 Der zweite große Schritt der Forschung war dann 1996 die vergleichende Neuausgabe der Kypkeschen Übersetzung durch Terry Boswell, Riccardo Pozzo und Clemens Schwaiger.8 Ich werde im folgenden diese Nachlaßschrift Lockes nach der deutschen Übersetzung von Georg David Kypke mit dem Titel Anleitung des menschlichen Verstandes zur Erkäntniß der Wahrheit, die in Königsberg im Jahre 1755 erschienen ist, mit dem abgekürzten Titel Anleitung zitieren. Was die Rezeption der Nachlaßschrift Lockes im Deutschland des 18. Jahrhunderts betrifft,9 muß untersucht werden, inwieweit sie der deutschen Aufklärungsphilosophie bekannt war. Auf welchem Weg ist sie nach Deutschland gelangt? Handelt es sich um einen mittelbaren oder um einen unmittelbaren Einfluß? An dieser Stelle ist es nicht möglich, alle diese Punkte in Detail genau zu untersuchen.10 Ich werde jedoch versuchen, einen Überblick zu geben, und zwar dadurch, daß ich die Nachlaßschrift Lockes unter drei verschiedenen Blickwinkeln betrachten werde. Klaus P. Fischer, John Locke in the German Enlightenment: An Interpretation, in: The Journal of the History of Ideas 36 (1975), 431–436. 6 Vgl. AA XXIV/996 f. 7 Alois Winter, Selbstdenken – Antinomien – Schranken. Zum Einfluß des späten Locke auf die Philosophie Kants, in: Aufklärung 1 (1986), 27–66. 8 Vgl. Boswell, Pozzo, Schwaiger, Einleitung (wie Anm. 1), XXI: „Gewichtigster Beleg für Kants direkten Rückgriff auf den Text ist die auffällige metaphorische Verwendung der biblischen Redeweise vom Lande Gosen in der Logik Blomberg, die sich bisher bei keinem anderen deutschen Autor ausfindig machen ließ“. 9 Siehe dazu Gustav Zart, Einfluss der englischen Philosophen seit Bacon auf die deutsche Philosophie des 18. Jahrhunderts, Berlin 1881, 18 und 26. 10 Ich darf daher auf meine Dissertation: Ivano Petrocchi, Lockes Nachlaßschrift Of the Conduct of the Understanding und ihr Einfluß auf Kant, Frankfurt am Main u.a. 2004 (Studien zur Philosophie des 18. Jahrhunderts, 9), hinweisen. 5
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Zunächst werde ich in zusammengefaßter Form über die Hauptthemen der Nachlaßschrift Lockes berichten. Danach werde ich die philosophischen Schriften des englischen Pastors Isaac Watts vorstellen. Dieser bildet ein wichtiges Bindeglied zwischen der englischen und der deutschen Aufklärung. Letztendlich werde ich den Einfluß der Anleitung Lockes auf die deutsche Aufklärung am Beispiel von zwei bedeutenden Philosophen jener Epoche aufzeigen, nämlich am Beispiel Christian Wolffs und Immanuel Kants.
I. Die Hauptthemen der Nachlaßschrift Lockes Aus der Lektüre der nachgelassenen Schrift Lockes wird offensichtlich, aber nicht selbstverständlich, daß Locke sich mit Problemen beschäftigt, die die deutsche Aufklärung geradezu bestimmen. Es seien hier folgende Beispiele genannt: a) Die Aufforderung Lockes zur „Verbesserung“ der Kräfte der Vernunft, die als oberster „Probierstein“ betrachtet wird, um das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, fängt bei dem eigenen Nachdenken (thinking and examining for themselves) an. Gleich am Anfang der Anleitung nennt Locke den Begriff „des eignen [frei von Autoritäten urteilenden] Nachdenkens“.11 Bildlich gesprochen ist bei Locke zu lesen: „Gebrauchet die Beine, so habt ihr Beine“.12 Freilich ist es am Anfang schwer, selbst gehen zu lernen, weil es gewiß ist, daß unsere Beine zunächst schwach sind, aber derjenige, der anfängt, seine schwachen Beine zu gebrauchen, „wird [...] auf seinen eignen Füssen [upon his own Legs] stehen und mit seinem eignen Verstande erkennen“.13 Wer darauf verzichtet wird immer „nöthig haben, sich von [...] andeDas wird von Brandt als „Punkt 1 bei Locke und Kant“ angesehen. Vgl. Reinhard Brandt, Materialien zur Entstehung der Kritik der reinen Vernunft (John Locke und Johann Schultz), in: Ingeborg Heidemann, Wolfgang Ritzel (Hg.), Beiträge zur Kritik der reinen Vernunft 1781 – 1981 (Festschrift für Gerhard Lehmann zum 80. Geburtstag), Berlin, New York 1981, 37–68. 12 Kypke, Anleitung (wie Anm. 1), 143 (§ 82). 13 Ebd., 67 (§ 41). Auch bei Thomasius ist die Forderung, „alleine zu gehen“ (Einleitung zu der Vernunfft-Lehre, Halle 1961, 275, § 35) und „selbst zu raisoniren“ (306, § 45), zu finden. Das Bild vom „alleine [...] gehen“ kann in Verbindung mit der Forderung, „die Wahrheit durch eigenes Nachdencken zu erlangen“ (Ausübung der Vernunfft-Lehre, Halle 1961, 1), gelesen werden. Bei Borowski ist zu lesen: „Selbst denken – selbst forschen, – auf seinen eigenen Füßen stehen, – waren Ausdrücke, die [bei Kant] unablässig wieder vorkamen“; Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen, Die Biographien von Ludwig E. Borowski, Reinhold B. Jachmann, A. Chr. Wasianski, Königsberg 1804 (Nachdruck Darmstadt 1968), 86. In Erinnerung an Kants Lehrer Martin Knutzen schreibt Borowski: „Aber sein Knutzen galt ihm [Kant] doch vor allen Lehrern am meisten. Dieser zeichnete ihm und mehreren die Bahn vor, auf der sie nicht Nachbeter, sondern dereinst Selbstdenker werden könnten“ (S. 16). In Kants Aufsatz Was ist Aufklärung? 11
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re[n] leiten zu lassen“.14 Dieses Verhalten wird von Locke mit der Kurzfassung eines von Seneca übernommenen Mottos verglichen, welches lautet: „Sie sind damit zufrieden, dem gemeinen Haufen zu folgen und gehen also leichte fort, welches ihrer Meinung nach so viel ist, als den rechten Weg gehen, oder ihnen wenigstens eben so nutzbar ist“.15 Solche Leute verhalten sich so, nicht nur weil sie, „von Anfang an geblendet“, niemals gewagt haben, die Herrschaft der Gewohnheiten „streitig zu machen“, und niemals versucht haben, die Grundsätze des Denkens selbst einzusehen, sondern auch, weil die Anführer der „mehresten Secten“ (Sects) diese Freiheit nicht gestatten. b) Der Glaube an die Kräfte der Vernunft, der als Synonym für Aufklärung schlechthin verstanden werden kann, wobei auch das Motto „Prüfet alles und das Gute behaltet“ nicht fehlt, wird von Locke unter zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet. Einerseits bemerkt Locke, daß der menschlichen Vernunft unüberwindbare Grenzen gesetzt sind. Andererseits betont er, daß es Fehler gibt, die nur von einer falschen Leitung des Verstandes abhängen. Daher müsse man versuchen, die Fehler zu vermeiden bzw. zu verbessern. Denn die menschliche Vernunft ist zur Verbesserung fähig. Der Glaube an die Vernunft führt Locke auch zum Programm seines Essays: Die Hindernisse, welche einem rechten Gebrauch derselben im Weg stehen, aufzuzeigen und zu kritisieren. Bevor man anfängt zu kritisieren, muß man sich jedoch der Einseitigkeit des Denkens bewußt sein. Andernfalls läuft man Gefahr, eine parteiische Meinung nur durch eine andere zu ersetzen.16 An erster Stelle einer Anleitung zum richtigen Gebrauch des Verstandes ist deshalb das ist zu lesen: „Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken“ (A 482). Aufklärung dagegen heißt so viel wie „selbst zu denken“ (A 484). Dazu muß man aber erst die Freiheit haben, „allein zu gehen“ (A 483). Diese Freiheit, die freilich die Gefahr des Fallens einschließt, wird von den „Vormündern“ verhindert. Eine zugespitzte Formulierung des Begriffes des Selbstdenkens, wobei das Selbstdenken zum Inbegriff der Aufklärung selbst wird, ist bei Kant in dem Aufsatz Was heißt, sich im Denken orientieren? zu finden. Hier heißt es: „Die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung“ (A 330). 14 Kypke, Anleitung (wie Anm. 2), 67 (§ 41). 15 Ebd., 90 (§ 54). 16 Für Meier soll ein „vernünftiger Liebhaber der Wahrheit“ folgendes tun: Wenn er erkennt, daß „er aus Vorurtheil etwas bisher für wahr gehalten hat […], und er […] nunmehr seine bisherige Uebereilung“ entdeckt, dann sieht er zugleich, daß seine bisherige Erkenntnis auf ein Vorurteil gegründet war. Also muß er von diesen Augenblick an aufhören, „sie für wahr zu halten; allein er verwirft sie auch nicht“, sondern er muß anfangen, seine Erkenntnis „zu prüfen“, „weil er wiedringenfals einen Teufel durch den andern austreiben, und sich in ein anderes Vorurtheil stürzen würde“. Georg Friedrich Meier, Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts, Halle 1766, 29 (§ 13).
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Problem der Einseitigkeit selbst zu nennen. Weil wir nicht alles zugleich sehen können und „weil wir gemeiniglich, einerley Sache, sozusagen, unsern verschiedenen Stellungen [Prospects] gemäß, von verschiedenen Seiten [Positions] betrachten“, ist unsere Erkenntnis immer nur „Stückwerk“ (in part). Diese Art von Einseitigkeit wird von Locke durch die metaphorische Verwendung der biblischen Redeweise vom Lande Gosen charakterisiert. Es handelt sich um eine Art von Einseitigkeit, die sozusagen durch geographische Grenzen zustande kommt. Leute dieser Art halten sich in „einem kleinen Meerbusen“ auf, sie wagen sich nicht auf das „grosse Meer der Erkäntniß“ (the great Ocean of Knowledge) heraus. Um diese Einseitigkeit zu beschränken, empfiehl Locke, „sich mit andern zu unterreden und zu berathschlagen“ und zwar nicht nur mit Kollegen und Fachspezialisten, sondern „so gar mit denenjenigen, welche ihm [uns] an Fähigkeit, Lebhaftigkeit und tiefer Einsicht bey weiten nicht gleich sind“.17 Und eine solche Offenheit und Bescheidenheit ist noch heute ein Thema, das nicht selbstverständlich ist. Die Erkenntnismängel können also durch die Konfrontation mit anderen Menschen weitgehend behoben werden; ganz vermieden werden können sie nicht, weil sie dem menschlichen Erkenntnisvermögen eigen sind. Die Einseitigkeit ist, insoweit sie mit der Begrenztheit unserer Erkenntnisvermögen verbunden ist, den Menschen eigen, und „kein Mensch“18 ist von diesen Fehlern „frey“. Also ist es „kein Wunder“,19 daß die „Lehrgebäude“ (Systems) die „Möglichkeit des Fehlens“20 an sich haben. c) Die Hindernisse, die den rechten Gebrauch unserer Vernunft verhindern, werden bei Locke in erster Linie als „Schwäche“ der Vernunft betrachtet. Locke ist der Meinung, wenn man solche Schwächen wie Vorurteile, Parteilichkeit usw. aufgedeckt hat, kann und muß man versuchen, dieselben zu vermeiden bzw. zu verbessern. Wenn man sich bemüht, den Menschen die verschiedenen Fehler bzw. Vorurteile vor Augen zu führen, die sie hindern, ihren eigenen Verstand recht zu gebrauchen, wird man finden, daß das Vorurteil als ein großes Hindernis bei Erlangung der Wahrheit anzusehen ist. Das „Vorurtheil“21 (prejudice) ist der größte und gefährlichste „Betrieger“ (Impostor), weil es die Menschen „so geschickt verblendet“, daß sie sich Kypke, Anleitung (wie Anm. 2), 8 (§ 4). Ebd., 8 (§ 4). 19 Ebd. 20 Ebd., 15 (§ 7). Vgl. auch Immanuel Kant, Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, AA I/12 (§ 9). Siehe dazu Ivano Petrocchi, Immanuel Kant. Pensieri sulla vera valutazione delle forze vive […], mit einer Einleitung von Silvestro Marcucci, in: Biblioteca di Studi kantiani (11), Pisa, Rom 2000, 44. 21 Kypke, Anleitung (wie Anm. 2), 51 (§ 31). 17 18
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einbilden, „mehr im Lichte [...] als alle“ anderen, die nicht eben dieselbe Einsicht haben, zu wandeln; dadurch werden der „Irthum und die Wahrheit in eine gleiche Tracht“22 gekleidet. Es sei an dieser Stelle in Erinnerung gebracht, daß in der Forschung bisweilen die Meinung gilt, daß in England um 1700 und noch um 1750 das Problem des Vorurteils, geschweige denn eine eigene Lehre des Vorurteils, „keine wichtige Rolle“23 gespielt habe. Nun wendet sich Locke jedoch in seiner Anleitung gegen die verschiedenen „Fehler und Schwächen des Verstandes“,24 und gerade das Vorurteil ist für ihn „ein Fehler und eine Hinderung der Erkäntniß“.25 In dieser Hinsicht zählt er verschiedene Arten von Vorurteilen auf. Das Vorurteil „der Erziehung, der Parthey, der zu grossen Hochachtung, der Mode“.26 Er betrachtet das Vorurteil als eine Art von „Blindheit“, die uns von dem „Licht“ der „Wahrheit“ und der „Erkäntniß“ fernhält. Das Vorurteil wird mit der „Neigung“ zur „Übereilung“ oder auch mit der „Einbildung“ (Gosen) gleichgesetzt.27 Als Ursache dieses Verhaltens zieht Locke vor allem die üble Gewohnheit in Betracht, „Grundsätze“ als wahr anzunehmen, ohne daß man nach deren Begründung fragt. Solche Grundsätze sind z.B.: Die „Anführer meiner Parthey [Party] sind gute Leute, folglich sind ihre Lehrsätze wahr; es ist etwas eine Meinung einer irrenden Secte [Sect], folglich ist es falsch; es ist etwas in der Welt lange angenommen worden, folglich ist es wahr; oder es ist neu und folglich falsch“.28 Es ist eben diese Gewohnheit, die von Locke als eine Quelle des Vorurteils und zugleich als die Ursache der Parteilichkeit angesehen wird.
Ebd. Werner Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung, Abt. 2, Bd. 2), Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, 87 und 207. 24 Kypke, Anleitung (wie Anm. 2), 59 (§ 36). 25 Ebd., 49 (§ 30). 26 Ebd., 50. 27 Ebd., 10 (§ 5). Zur biblischen Redeweise vom Lande Gosen siehe Gen 47. Diese Redeweise verwendet Kant zweimal in der Logik Blomberg, bis dahin ist sie, soweit ich sehe, bei keinem anderen deutschen Autor zu finden. Hier ist zu lesen: „das Ausschließende Urtheil, da man sich allein den Besitz aller wahren Erkenntniße zuschreibt, anderen aber hingegen sie gantz abspricht, und lauter falsche erdichtet [ist] nichts als ein verderblicher Eigendünkel, da man sich selbst allein hochschätzet, und alle andere neben sich verachtet, Solche von diesem Eigendünckel eingenommene Köpfe dencken sich in ihrem Verstande allein ein Gosen, indeß daß alles andere in Aegyptische Finsternißen verhüllet ist“ (AA XXIV/9427–34). „Einige Menschen sind von der Art, daß sie sich […] einbilden, in ihrem Kopfe sey es einzig, und allein helle. Da hingegen andere Leute lauter dunckele, und verworrene Begriffe hätten. Es sey in ihrem Kopfe allein ein Gosen, in deßen daß im gegentheil alles andere mit einer Egyptischen Nacht bedecket sey“ (ebd., 14213–17). 28 Kypke, Anleitung (wie Anm. 2), 25 (§ 13). 22 23
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d) Die Nachlaßschrift Lockes bietet nun aber auch die Mittel zur Verbesserung der Vernunftschwäche bzw. der Vorurteile und der Parteilichkeit an. Diese sind: die Lockesche Methode der Gleichgültigkeit und der Begriff des Nachdenkens, und zwar im ausdrücklichen Gegensatz zum bloßen Nachlesen.
II. Ein wichtiges Bindeglied zwischen Lockes Nachlaßschrift und der deutschen Philosophie: Die Schriften Isaac Watts Der englische Pastor Isaac Watts (1674–1748), der in England als „one of the most popular writers of the day“29 betrachtet wird, ist gewöhnlich „as a sacred poet and hymnist“30 bekannt. Was hingegen seine „philosophical books“31 betrifft, sind sie bei der Erforschung des 18. Jahrhunderts bis heute weitgehend vernachlässigt worden. Indem ich im folgenden die philosophischen Schriften Watts’ näher in den Blick nehme, möchte ich zugleich versuchen, einen Schritt zur Schließung dieser Forschungslücke zu unternehmen. Um das Jahr 1740 zeigt sich in Deutschland, genauer in Preußen, insbesondere an den Universitäten Halle und Königsberg, ein zunehmendes Interesse an den Schriften Watts’. In Halle werden zahlreiche Schriften Watts’ übersetzt, und in Königsberg ist es Knutzen (der die englische Sprache beherrschte), der in seinem Philosophischen Beweiß die Übersetzung Reichards der Schrift Watts’: Die Stärke und Schwäche der menschlichen Vernunft,32 erwähnt und lobend empfiehlt.33 Von Bedeutung ist darüber hinaus die Schrift Dictionary of National Biography, hg. von George Smith, 63 Bde., London 1885–1900, Supp. London 1901 (Nachdruck: Dictionary of National Biography, hg. von Leslie Stephen und Sidney Lee, 22 Bde., London 1908–1909). Fortgesetzt von Sidney Lee u.a., 13 Bde, (Biographien bis zum Jahr 1985), London 1912–1993, Bd. 20, 979. 30 Wilbur Samuel Howell, Eighteenth-Century Britisch Logic and Rhetoric, Princeton, New Jersey 1971, 331. 31 Dictionary of National Biography (wie Anm. 29), Bd. 20, 979. 32 Isaac Watts, The strength and weakness of human reason, or the important question about the sufficiency of reason to conduct mankind to religion and future happiness, argued between an inquiring deist and a Christian divine: and the debate compromis’d and determin’d to the satisfaction of both, by an impartial moderator, London 21737 [11731]. Diese Schrift ist durch Elias Caspar Reichard unter dem Titel: Die Stärke und Schwäche der menschlichen Vernunft, oder Untersuchung der wichtigen Frage: Ob die Vernunft hinlänglich sey, die Menschen zum gottseligen Leben und zur künftigen Seligkeit zu bringen, Frankfurt, Leipzig 1740, ins Deutsche übersetzt worden. 33 Knutzen rühmt die Schrift von Watts in der vierten Auflage (1747) seiner Schrift Philosophischer Beweiß, die Friedrich dem Großen gewidmet ist. Der Autor der Schrift ist „der vortreffliche englische Theologus Isaac Watts“. Vgl. Martin Knutzen, Philosophischer Beweis von der Wahrheit der Christlichen Religion, darinnen die Nothwendigkeit einer geoffenbarten Religion 29
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The Improvement of the Mind,34 die als das „best of his works“35 betrachtet wird. In Watts’ Schrift Die Verbesserung ist die Nähe zu der Nachlaßschrift Lockes am deutlichsten zu erkennen. Hier ist das Thema der Gleichgültigkeit, der Grundgedanke der Anleitung Lockes als Mittel gegen Parteilichkeit und Vorurteile, wiederzufinden.36 Wolle man zu einer eigenen Einsicht gelangen, so müsse man der Lockeschen Methode der „Gleichgültigkeit“37 folgen. Dieser gemäß dürfe man nicht den geringsten „Hang pro oder contra“38 für eine der beiden Parteien haben. Und, wie Locke sagt, um dies zu verwirklichen, soll
insgemein, und die Wahrheit oder Gewißheit der christlichen insbesondere, aus ungezweiffelten Gründen der Vernunft nach mathematischer Lehr-Art dargethan und behauptet wird, Königsberg 61763 [11740], 266. Knutzen ist auch die Logick Watts’ bekannt. Denn wie Knutzen schreibt, verdient unter den neuesten Vernunftlehren auch die von Isaac Watts Beachtung; Martin Knutzen, Elementa philosophiae rationalis [...], Königsberg, Leipzig 1747 (Nachdruck Hildesheim, Zürich, New York 1991), 47 (§ 20). 34 Isaac Watts, The improvement of the mind; or a supplement to the art of logick: containing a variety of remarks and rules for the attainment and communication of useful knowledge, in religion, in the sciences, and in common life, London 1741. Diese Schrift ist von Gottfried Lebrecht Richter unter dem Titel: Die Verbesserung des Verstandes, oder Anweisung zur Erlangung nützlicher Wissenschaften (= Die Verbesserung), Leipzig 21772 [Danzig 11764], aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt worden. Es sei hier auf eine äußerliche Parallele zwischen dieser Schrift Watts’ und der Anleitung Lockes hingewiesen. So wie Locke seine nachgelassene Schrift, wie er ausdrücklich bemerkt (Kypke, Anleitung [wie Anm. 1] IX), als einen Zusatz zu seinem Hauptwerk verstanden wissen wollte, hat auch Watts seine zweite Schrift als einen Zusatz zu seiner Logick betrachtet. Isaac Watts, Logick: or the right use of reason in the enquiry after truth, with a variety of rules to guard against error, in the affairs of religion and human life, as well as in the sciences, hg. von John Clark u.a. 21726 [11725] (Nachdruck: The Philosophy of John Locke. Twenty-four of the most important publications on Locke’s philosophy reprinted in sixteen volumes, hg. von Peter A. Schouls, New York, London 1984, Bd. 16). In dieser Schrift werden die „principal Operations of the Mind“ (ebd., S. 4) in Betracht gezogen und in vier Teilen behandelt, und zwar: „Perception, Judgment, Argumentation and Disposition“ (ebd.). Besonders wichtig ist der zweite Teil, der vom Urteil handelt. Hier wird das dritte Kapitel der Vorurteilslehre gewidmet. Der Titel dieses Kapitels lautet: „The Spring of false Judgment, or the Doctrine of Prejudices” (ebd., 186). 35 Dictionary of National Biography (wie Anm. 29), Bd. 20, 979. 36 Vgl. Watts, Die Verbesserung (wie Anm. 34), 314. Im Kapitel „Von der Art und Weise, Streitfragen zu bestimmen“, wird neben Lockes Methode der Gleichgültigkeit auch das Problem der Vorurteile behandelt. In beiden Fällen ist deutlich erkennbar, daß Watts bei der Behandlung dieser Themen auf Lockes Anleitung Bezug nimmt. 37 Watts, Die Verbesserung (wie Anm. 34), 78. Lockes Methode der Gleichgültigkeit ist nach Watts offenbar mit Schwierigkeiten behaftet: „Ich gestehe, daß diese Methode mühsam ist“. Denn nach dieser Methode müsse man die Fähigkeit haben, „jeden Beweise [...] zu erwägen, und eine jede Sache auf ihrer ersten Grundsätze zurück zu bringen“ (ebd.). 38 Watts, Die Verbesserung (wie Anm. 34), 319.
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man „so wohl die Einwürfe als die Beweise“39 von beiden Seiten der Prüfung unterziehen und sehen, „auf welche Seite die Wage sich neiget“.40 Die „meisten Menschen“41 aber haben „niemals in Zweifel“ gezogen, „was in ihrer Familie, in ihrem Lande, in ihrer Parthey vor wahr gehalten wird. Sie kleiden ihre Seele wie ihren Körper, nach der herrschenden Mode, und unter Hunderten findet sich nicht einer, der seine Grundsätze zur Prüfung ziehet“.42 Das Vorurteil „der Mode“43 läßt einen „Beyfall ohne Beweise“44 zu. Die Wahrheit hingegen, „mag [sie] nach der Mode [...], oder nicht“ sein, müsse „der Maasstab unsrer Erkäntniß und der Vorwurf [= Gegenstand] unsers Verstandes“45 sein. Jedoch sei festzustellen, daß uns sehr häufig gelehrt wird, „sowol unsre Gemüther als unsre Leiber nach der herschenden Mode zu kleiden“.46 Watts zeigt jedoch auch Selbständigkeit in der Verarbeitung der Schrift Lockes. Was z.B. die Fähigkeiten der Vernunft angeht, so unterscheidet Watts zwischen einem theoretischen und einem praktischen Gebrauch der Vernunft. Zwar hat die Vernunft die Fähigkeit, die Wahrheit zu erreichen, im praktischen Sinne aber behindern die Vorurteile diese Annäherung. So schreibt Watts, daß die Vernunft im „entferntern Verstand“ genügt, um die Wahrheit zu erlangen. In der Tat aber sind die Vernunftkräfte der Menschen „in einem pracktischen Verstande nicht hinlänglich“,47 sie richtig zu leiten und zu führen. Die Vorurtei-
Ebd., 335. Ebd. Auf dieser Seite ist auch zu lesen: „Wenn aber die Gründe von beyden Seiten beynahe von gleichem Gewicht sind, so ist es unsere Pflicht, in Enthaltung oder im Zweifel zu bleiben“. 41 Ebd., 319. 42 Ebd., 319. Kypke, Anleitung (wie Anm. 2), 133 (§ 76). 43 Ebd., 50 (§ 30). 44 Ebd., 133 (§ 76). 45 Ebd., 92 (§ 54). 46 Ebd., 133 (§ 76). Was alte und neue Meinungen bei Watts betrifft, siehe Watts, Die Verbesserung (wie Anm. 35), 45 und 95; siehe dazu Kypke, Anleitung (wie Anm. 1), 25 (§ 13) und 87 (§ 53). In diesem letzten Paragraphen der Anleitung Lockes wird das Vorurteil für die Neueren (the Moderns) und das für die Alten (the Ancients) genannt, wobei beide Vorurteile als eine Art von Parteilichkeit angesehen werden. Hier ist zu lesen: „Man hat nicht Ursache [...] die Alten und Neueren (the Ancients and the Moderns) einander entgegen zu setzen“; (S. 89). Denn weder die bloße Neuheit noch das bloße Alter sind ausschlaggebende Gründe der Wahrheit. Was insbesondere das Vorurteil für die Alten „in Ansehung der Dichtkunst“ (S. 87) betrifft, weist Locke auf die Kritik an Horaz hin. Die Querelle des Anciens et des Modernes ist ein Thema, mit dem sich auch Kant beschäftigt hat. Was dieses Thema angeht, bezieht er sich jedoch ausdrücklich auf Fontenelle (vgl. Norbert Hinske, Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik. Studien zum Kantschen Logikcorpus, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998 [Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung, Abt. 2, Bd. 13], 64). 47 Vgl. Watts, Stärke (wie Anm. 32), 344. 39 40
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le hindern nicht nur die „edleren Kräfte“48 des Verstandes, sondern „verblenden“ ihn und leiten ihn zu allerlei Irrtümern. Im Unterschied zu Locke spielt bei Watts der Wille eine wichtige Rolle. Denn Watts bemerkt, daß man nicht übersehen dürfe, daß die Menschen „solche Vermögen und Kräfte des Verstandes nebst dem freyen Willen geschenket“49 bekommen haben. Da nun die Menschen einen freien Willen haben, so können bei ihnen viele Unterschiede in der Anwendung desselben auftreten. Gewiß verschafft die Erfahrung einem jeden Menschen auf der Erde den traurigen Beweis, „daß unsere Vernunftskräfte gar frühzeitig“50 durch Vorurteile, Gewohnheiten und Leidenschaften verführt werden und dadurch auch unser Wille zu irrigem Wählen verleitet wird. Wenn wir das nun aber anerkennen, müssen wir auch zugestehen, daß uns die „freye Wahl“ gelassen worden ist, diese Kräfte auszuüben oder nicht; wenn wir diese Kräfte nicht anwenden, mißbrauchen wir sie und sind selber daran schuld. Damit sind die Menschen zur Verantwortung für ihre Handlungen aufgerufen, und in letzter Analyse wird dem Menschen selber durch die freie Wahl die Verantwortung für sein Tun und Lassen zugeschrieben. Watts entfernt sich hier von Locke, der den Willen gleich am Anfang seiner Schrift dem Verstande untergeordnet hatte.51 Damit nimmt Watts einen Grundgedanken der deutschen Frühaufklärung (Thomasius) auf52 und schlägt so eine Brücke zwischen Locke und der deutschen Aufklärung.
III. Die frühe Aufnahme der Nachlaßschrift Lockes in Deutschland durch Christian Wolff Bei der Erfassung der Wirkung Lockes in Deutschland in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sind zunächst die Besprechungen Christian Wolffs zu berücksichtigen. Bereits im Jahr 1708 widmet er der ersten Ausgabe der Posthumous Ebd., 133. Kypke, Anleitung (wie Anm. 2), 14 (§ 6): „Die unterlassene Uebung derselben [der natürlichen Vernunft] in dem völligen Umfange der Dinge, die man erkennen kan, ist dasjenige, welches diese edle Kraft [noble Faculty] in uns schwächet und auslöschet“. 49 Watts, Stärke (wie Anm. 32), 345. Schon Thomasius betont, „daß der Verstand des Menschen und sein Wille stetswehrend mit einander vereiniget seyn und daß die menschliche Seele ausser diesen zweyen Kräfften keine Dritte habe“ (Christian Thomasius, Einleitung zur SittenLehre, Halle 1692, 81 [§ 55]). 50 Vgl. Watts, Stärke (wie Anm. 32), 349. 51 Vgl. Kypke, Anleitung (wie Anm. 2), 2 (§ 1). 52 Bei Thomasius ist zu lesen: „Man sagt, der Verstand sei tätig, wenn er vom Willen zum Nachdenken gedrängt wird, er leide, wenn er von anderen Gegenständen außer dem Willen zu einer Meinung bewogen wird. Um also genau zu sprechen, leidet der Verstand in beiden Fällen, nie bewegt er zuerst“ (Christian Thomasius, Fundamenta juris naturae et gentium, Halle, Leipzig 41718 [11705] [Nachdruck Aalen 1979], 42 [§ 49]). 48
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Works53 Lockes eine ehrenvolle Rezension. In Hinsicht auf unsere Arbeit kommt dieser Besprechung aus dem Jahre 1708 unter zwei Gesichtspunkten eine besondere Bedeutung zu. Erstens belegt sie die frühe Aufnahme des Conduct in Deutschland. Zweitens zeigt sie, daß Wolff, indem er zwischen dieser Nachlaßschrift und dem Essay unterscheidet, auch das Hauptwerk Lockes gekannt hat. Im Hinblick darauf heißt es, daß die Abhandlung Of the Conduct (Tractatus de dirigendo intellectu in cognoscenda veritate) von dem Hauptwerk Lockes: Tractatus de Intellectu humano, das schon in „varias linguas“ übersetzt worden sei, zu unterscheiden sei. Das Argument der nachgelassenen Schrift betreffe die „fontes“ und die „causae errorum“. Dabei gibt Wolff eine buchstäbliche Übersetzung einer Passage aus der Anleitung Lockes. Die „obstacula“ bei der Erforschung der Wahrheit hingen mehr von dem Wunsch, die Wahrheit zu besitzen, als von dem menschlichen Gemüt allein ab. Die Quelle dieser Hindernisse liege in der Gewohnheit, Prinzipien anzunehmen, die in Wahrheit bloße „praejudicia“ seien. Es sei die Aufgabe des Menschen, die Kräfte des Verstandes richtig zu gebrauchen. Ein jeder, insbesondere derjenige, der ein Gelehrter sein oder werden wolle, müsse nach dem richtigen Gebrauch des Verstandes streben. Die meisten aber machen aus der Gelehrsamkeit „ein bloßes Gedächtniß-Werck“, und daher „ist ihnen alles verhasset, was Nachdencken erfordert“.54 Das Nachdenken ist das wahre Mittel zur richtigen Leitung des Verstandes. Die meisten Leute sind aber statt dessen mit irgendeinem „Mährlein“ zufrieden, das sie „halb schlaffend fassen können“ und das es ihnen erlaubt, „bey der Art zu dencken“ zu bleiben, „welche sie von Kindheit auf mit ungelehrten Leuten gemein gehabt“ haben. Wer aber nicht durch das Nachdenken zu erkennen lernt, wird nicht zu einer gründlichen „Erkenntnis“55 gelangen. Von besonderer Wichtigkeit ist in diesem Zusammenhang Wolffs Dreiteilung der Philosophie und Lockes Begriffe des ‘Nachlesens’ und des ‘Nachdenkens’. Im ersten Kapitel des Discursus praeliminaris de philosophia in genere,56 der uns jetzt in der schönen zweisprachigen Ausgabe von Günter Gawlick und
Christian Wolff, Rezension zu: Posthumous Works of Mr. John Locke. H.e. Joannis Lockii Opera Posthuma. Londini 1706, in: Acta Eruditorum, Januar 1708, 40–44. 54 Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken Von den Kräfften des menschlichen Verstandes Und Ihrem richtigen Gebrauche in Erkäntniß der Wahrheit Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet (= Deutsche Logik), Halle 141754 [11713 bzw. 1712] (Nachdruck: Christian Wolff, Gesammelte Werke, hg. und bearb. von Jean École u.a., Hildesheim 1962 ff.), 105. 55 Ebd. 56 Christian Wolff, Philosophia rationalis sive Logica, methodo scientifica pertractata et ad usum scientiarum atque vitae aptata. Praemittitur Discursus praeliminaris de philosophia in genere, Verona 51779 [Frankfurt, Leipzig 11728] (Nachdruck: WW, Abt. 2, Bde. 1.1-1.3). 53
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Lothar Kreimendahl57 vorliegt, kommt die Unterscheidung „der dreifachen menschlichen Erkenntnis“, nämlich „der historischen, philosophischen und mathematischen“, zur Sprache. Trotz gewisser Vorformen darf diese Unterscheidung als eine genuine Leistung Wolffs bezeichnet werden. Eine dieser Vorformen ist nun bereits in der von Wolff rezensierten Nachlaßschrift Lockes Anleitung des menschlichen Verstandes zu finden.58 Die Lockesche Unterscheidung zwischen ‘Reading’ und ‘Thinking’, zwischen ‘Nachlesen’ und ‘Nachdenken’, und der Einfluß sowie die Verarbeitung derselben kommt bei Wolff am deutlichsten im Discursus praeliminaris de philosophia in genere ans Licht. Es handelt sich um die Unterscheidung zwischen historischer und philosophischer Erkenntnis, nämlich zwischen einer Erkenntnis, die auf bloßem „Hörensagen“ beruht, und der genuin philosophischen Erkenntnis, die nur insoweit eine solche ist, als wir fähig sind, „zu beweisen, daß der Grund einer Tatsache, den ein anderer anführt, [auch wirklich] deren Grund sei“.59 Im Paragraphen 47 ist schon bei Locke zu lesen: „Das Nachlesen (Reading) verschaffet dem Gemüthe (Mind) nur Stoff zur Erkenntnis; das Nachdenken (Thinking) aber machet uns dasjenige, was wir lesen, eigenthümlich (ours)“.60 Die wahre Erkenntnis kann nur durch das Nachdenken geschehen und ist nur „in so fern das unsrige, so fern wir den Zusammenhang der Begriffe (Connection of Ideas) fassen (apprehend) und einsehen (see)“61 können. Wenn wir im Gedächtnis einen Vorrat an Erkenntnis besitzen, aber nur „im Stande sind, dasjenige, was andre gesaget haben, zu widerholen, oder die Beweise, welche wir in ihnen gefunden haben, vorzutragen“, wird unsere Erkenntnis „nur eine Erkäntniß von Hörensagen (by hear-say)“62 sein. Es ist auffällig, daß Wolff Lockes Unterscheidung zwischen Nachlesen und Nachdenken bei der Definition der historischen und philosophischen Erkenntnis nicht erwähnt. Dies könnte zwei Gründe haben. Erstens, weil er, wenn er sich auf Locke bezogen hätte, historisch gesehen einen großen Irrtum begangen hätte. Denn die Unterscheidung zwischen ‘meditatio’ (Nachdenken) und ‘memoria’ (Gedächtnis) hat in der Philosophie schon seit Jahrhunderten ihren Platz gehabt, ja sie gehört zu den genuinen Problemen, welche die Philosophie als Christian Wolff, Discursus praeliminaris de philosophia in genere / Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen, Historisch-kritische Ausgabe, übers., eingel. und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung, Abt. 1, Bd. 1). 58 Vgl. Michael Albrecht, Kants Kritik der historischen Erkenntnis – Ein Bekenntnis zu Wolff?, in: Studia Leibnitiana 14 (1982). 59 Norbert Hinske, Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik (wie Anm. 46), 22. 60 Kypke, Anleitung (wie Anm. 2), 76 (§ 47). 61 Ebd., 77. 62 Ebd. 57
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Streben zur Wahrheit ausmachen. Zugleich sind diese beiden Begriffe für die deutsche Aufklärung charakteristisch. Zweitens, weil die Wolffsche Verarbeitung, zumindest gegenüber Locke, zugleich eine Zuspitzung der Lockeschen Unterscheidung zwischen den Begriffen ist. Denn bei Locke bietet das Nachlesen den „Stoff“ zum Nachdenken. Weil wir aber, wie bereits erwähnt, nur „im Stande sind, dasjenige, was andre gesaget haben, zu widerholen, oder die Beweise, welche wir in ihnen gefunden haben, vorzutragen“, besitzen wir nur eine Erkenntnis vom „Hörensagen“. Wir denken aber nur nach, indem wir imstande sind, die Gründe selber einzusehen und aufzufassen. Was nun bei Locke der bloße Stoff zur Erkenntnis war, wird bei Wolff der Stoff der historischen Erkenntnis, und zwar unter zwei ganz verschiedenen Gesichtspunkten: als Kenntnis der Tatsachen (empirische oder Erfahrungserkenntnis) oder der historischen Erkenntnis, z.B. der Philosophie. Was bei Locke eine Kenntnis vom Hörensagen genannt wird, wird bei Wolff als historische Erkenntnis der philosophischen Erkenntnis eines anderen definiert, nämlich wenn man erkennt, was für Gründe ein anderer zur Bestätigung seiner Lehre bringt. Die philosophische Erkenntnis ist aber nur insoweit eine solche, als man die Gründe selber einsehen und erfassen und infolgedessen auch die Wahrheit oder Falschheit derselben erkennen kann.
IV. Lockes Nachlaßschrift Of the Conduct of the Understanding spielt eine wichtige Rolle bei Kants Programm des skeptischen Gleichgewichts In der Kritik der reinen Vernunft erklärt Kant, was er unter skeptischer Methode versteht: Diese Methode, einem Streite der Behauptungen zuzusehen, oder vielmehr ihn selbst zu veranlassen, nicht, um endlich zum Vorteile des einen oder des andern Teils zu entscheiden, sondern, um zu untersuchen, ob der Gegenstand desselben nicht vielleicht ein bloßes Blendwerk sei [...], dieses Verfahren, sage ich, kann man die skeptische Methode nennen.63
Diese Methode, so Kant weiter, „geht auf Gewißheit, dadurch, daß sie, in einem solchen, auf beiden Seiten redlichgemeinten und mit Verstande geführten Streite, den Punkt des Mißverständnisses zu entdecken sucht“.64 Daß Kant mit dieser Erklärung etwas meint, das nicht als selbstverständlich anzusehen ist, ist augenscheinlich. Diesbezüglich betont er, daß seine Methode „vom Skeptizismus gänzlich unterschieden“65 ist. Denn die Skeptiker, so bemerkt Kant bei63 64 65
Kritik der reinen Vernunft B 451 f. Ebd. Ebd.
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spielsweise in der Jäsche-Logik, die von dem Prinzip ausgehen, daß „die Philosophie [...] im Gleichgewichte des Urtheilens“66 besteht, halten es für die angemessene „Maxime“, immer das „Urtheil zurückzuhalten“,67 und verzichten damit auf jegliches Urteil. Im Unterschied zu dieser Bedeutung des skeptischen Gleichgewichtes, die sich als eine absolute „renunciatio judicii“68 versteht und daher mit dem „status indifferentiae“69 gleichzusetzen ist, meint die „Suspension des Urtheilens“70 bei Kant „diejenige Methode des Philosophierens“, mittels der „man die Quelle seiner Behauptungen oder Einwürfe untersucht, und die Gründe, worauf dieselben beruhen; eine Methode, welche Hoffnung giebt, zur Gewißheit zu gelangen“.71 Daher hält „der wahre Philosoph [...] bloß sein Urtheil“ zurück bzw. er hält sein Urteil im Gleichgewicht oder „in equilibrio“,72 solange „er noch nicht genugsame Gründe hat, etwas für wahr zu halten“.73 In der Logik Blomberg findet sich eine frühere Form der Idee der Zurückhaltung des Urteils. Diese ist für uns wichtig, weil die Präsenz des Terminus ‘Gleichgültigkeit’ als Beleg für den Einfluß Lockes auf Kants Verständnis des skeptischen Gleichgewichtes betrachtet werden kann. Wir dürfen nämlich nicht demjenigen „unseren Beyfall ertheilen, was uns vortheilhaft ist“.74 Denn in diesem Fall ist man „nicht frey genug, die Sache gleichgültig und unparteyisch auch von Beiden Seiten zu betrachten, die Gründe auf einer Seite, und die Gründe des Gegentheils auf der anderen Seite zu erwegen, die wichtigkeit aller dieser zweyerley Gründe gehörig gegen einander zu halten“.75 Dies ist der Grund, warum „ein wahrer Philosoph sehr dazu incliniert, seinen Beyfall [...] zurück zu halten, biß daß er genugsam und völlig zu reichende Gründe von der Wahrheit hat“.76 Die Zurückhaltung des Beifalls bzw. die „Suspensio“ dürfe Immanuel Kants Logik: Ein Handbuch zu Vorlesungen, hg. von Gottlob Benjamin Jäsche, AA IX/31. 67 Ebd. 68 Logik Pölitz, AA XXIV/546 . 3 69 Logik Dohna-Wundlacken, AA XXIV/737 . 3 70 Logik Jäsche (wie Anm. 66), AA IX/84. 71 Ebd. 72 Georg Friedrich Meier, Auszug aus der Vernunftlehre, Halle 1752 (Nachdruck: AA XVI), 399, Refl. 2511. Es handelt sich um die Unterscheidung zwischen der kritischen und der skeptischen ‘Suspension’. Die lateinische Übersetzung dieser Unterscheidung ist „suspensio judicii indagatoria“ und „suspensio judicii sceptica“ (vgl. Logik Jäsche [wie Anm. 66], AA IX/74). 73 Ebd. 74 Logik Blomberg, AA XXIV/159 . 5–6 75 Logik Blomberg, AA XXIV/158 37 f. In der Naturgeschichte und Theorie des Himmels schreibt Kant: „Man sieht bei unparteiischer Erwägung: daß die Gründe hier von beiden Seiten gleich stark und beide einer völligen Gewißheit gleich zu schätzen sein“ (AA I/262). 76 Ebd., 159 29–32. 66
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aber nicht der Art sein, „daß man [...] sich niemahls von der Sache überzeugen“77 läßt und so in eine „gänztliche Gleichgültigkeit“78 fällt. Es ist augenscheinlich, daß hier dem Terminus ‘Gleichgültigkeit’ einerseits eine positive und andererseits eine negative Bedeutung zugeschrieben wird. Zusammenfassend kann man sagen, daß bei Kant das Gleichgewicht der positiven Bedeutung der Gleichgültigkeit entspricht. Zugleich ist aber anzunehmen, daß der Terminus ‘Gleichgültigkeit’ deutlich auf Lockes Anleitung hinweist. Ferner kann Kants Verarbeitung und Hervorhebung des Gleichgewichtes des Urteils als der Keim zu seiner späteren Definition der skeptischen Methode angesehen werden. Daß Kant schon als Student die Anleitung gelesen hat, zeigt sich gerade bei seiner Redewendung vom Gleichgewicht des Verstandes bzw. der Gemütsneigungen. Sie weist eindeutig auf eine der Grundideen der Anleitung, nämlich auf die Lockesche Methode der Gleichgültigkeit hin. Locke schreibt dem Begriff der Gleichgültigkeit nämlich außer einer negativen79 auch eine positive Bedeutung zu. So erklärt Locke, was den positiven Begriff der Gleichgültigkeit angeht, daß es sich dabei um den einzigen sicheren Weg zur Entdeckung der Wahrheit handelt. „Gleichgültigkeit [...] ist die rechte Fassung des Gemüthes“ und bewahrt uns „vor dem Betruge“,80 weil sie uns geneigt macht, den Meinungen bis „zu der Quelle“,81 aus der sie entspringen, nachzugehen und sie zu prüfen. Von dieser Gemütsauffassung ausgehend sollen, um die Wahrheit „ausser Zweifel zu setzen“,82 die Beweisgründe, „nachdem sie [...] auf beyden Seiten geprüft worden, gegen einander auf die Waagschale geleget werden, und der Verstand muß nach dem Ganzen seinen Beyfall bestimmen“.83 Allem Anschein nach hat Kant eben diesen Begriff der Gleichgültigkeit vor Augen, wenn er bemerkt, daß man, wenn man zur Bestätigung einer Meinung, „die man sich vorgesetzt hat“,84 alle Arten von Beweisen herbeizieht, die der Verstand nur darbietet, sich mit eben derselben Aufmerksamkeit bemühen solle, auch das Gegenteil „auf allerei Arten von Beweisen zu gründen“.85 Der Verstand soll so-
Ebd., 16032–33. Ebd., 15621. 79 Was die negative Bedeutung der Gleichgültigkeit angeht, so heißt es bei Locke: „Aber gleichgültig dagegen zu seyn, ob man den Irthum oder die Wahrheit ergreife oder nicht, ist der breite Weg zum Irthume“ (Kypke, Anleitung [wie Anm. 2], 57 [§ 34]). 80 Ebd., 57 (§ 34); „das Vorurtheil“ ist „diese[r] grosse[n] und gefährliche[n] Betrieger“; ebd., 51 (§ 31). 81 Ebd., 38 (§ 22). 82 Ebd. 83 Ebd. 84 Kant, Gedanken (wie Anm. 20), AA I/68 (§ 58). 85 Ebd. 77 78
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lange „in seinem Gleichgewichte“86 erhalten werden, bis er „die Umstände, den Beweis, und das Gegentheil in genugsamer Prüfung“87 kennengelernt hat. Ein solches Gleichgewicht des Verstandes verlangt eine gewisse Gemütsverfassung. Man muß nämlich „die Seele zu allen Gründen [...], die von einer, oder der andern Seite in sie eindringen können“,88 offenlassen. Besonders schwierig sei dies, wenn es um einen Streit geht, bei dem die Parteien „allem Absehen nach gleich stark und gleich billig“89 sind. Und zugleich werde „von beiden Theilen über nichts als das Vorurtheil der Gegner geseufzt, und jedwede Partei hat geglaubt, ihre Meinung würde unmöglich können in Zweifel gezogen werden, wenn die Gegner derselben sich nur die Mühe nehmen wollten, sie in einem rechten Gleichgewichte der Gemüthsneigungen anzusehen“.90 Eben dieser Gedanke aus Kants Erstlingsschrift zeigt, wie stark Lockes Nachlaßschrift Kant von seinen ersten Anfängen an beeinflußt hat. Der Verfasser des vorliegenden Beitrags gibt zunächst einen Überblick über die Hauptthemen von Lockes 1706 posthum erschienener Schrift Of the Conduct of the Understanding. Daran anschließend beleuchtet er an drei Beispielen die Rezeption dieser Schrift in der deutschen Aufklärung. 1.) Die Rolle Isaac Watts’ als Vermittler Lockescher Ideen in Deutschland; 2.) Lockes Einfluß auf Christian Wolff und dessen Unterscheidung zwischen historischer, philosophischer und mathematischer Erkenntnis; 3.) Lockes Einfluß auf die Entwicklung von Kants skeptischer Methode. In this article the author first gives a survey of the main topics in Locke’s posthumously published work Of the Conduct of the Understanding (1706). Second, he exemplifies the reception of this work in the German Enlightenment based upon three cases: 1.) Isaac Watts’ role as a mediator of Locke’s ideas in Germany; 2.) Locke’s influence upon Christian Wolff and his distinction between historical, philosophical and mathematical knowledge; 3.) Locke’s influence upon the development of Kant’s sceptical method. Dr. Ivano Petrocchi, Mesenicher Str. 74, 54308 Langsur, E-Mail: [email protected]
Ebd., AA I/134 (§ 113: III. Zusätze zu den § 45, 46, 47). Ebd. 88 Ebd., AA I/132 (Gedanken über den Streit, zwischen der Frau Marquisin von Chastelet und dem Herrn von Mairan von den lebendigen Kräften). 89 Ebd., AA I/32 (§ 21). 90 Ebd., AA I/15 (§ 13). 86 87
W OLFGAN G L EIDHOLD Vernunft, Erfahrung, Religion Anmerkungen zu John Lockes Reasonableness of Christianity
Durch die Entgegensetzung von Vernunft und Glaube, von Erfahrung und Offenbarung kennzeichnet man in aller Regel das Verhältnis von Philosophie und Religion. Die Philosophie gründet demnach auf der Erfahrung als Quelle und der Vernunft als ihrem Denkwerkzeug. Die Religion hingegen geht zurück auf die Offenbarung als göttliche Mitteilung und beruht auf dem Glauben als einer besonderen Form des Geltenlassens von Wahrheit. Das beiderseitige Verhältnis ist prekär: Religion läßt sich nicht durch Erfahrung und Vernunft, Philosophie nicht durch Offenbarung und Glauben hinreichend begründen. Vielleicht ist der herkömmliche Gegensatz jedoch auch ganz falsch. Wenn nun ein Autor wie John Locke, ein Philosoph und Empiriker, die Religion untersucht, dann müssen diese Gegensätze zu einer Herausforderung für seine Untersuchung werden. Wird er für eine der Seiten Partei ergreifen oder versuchen, eine Brücke zu schlagen? Das letztere scheint bei Locke schon der Titel seiner einschlägigen Schrift, der Reasonableness of Christianity, anzudeuten.1 Die Frage, der ich hier nachgehen möchte, heißt darum: Wie konstruiert Locke eine Brücke zwischen Religion und Philosophie?
I. Offenbarung und Moral Zunächst ist allerdings zu klären, warum Locke sich überhaupt der christlichen Religion und damit dem von der Offenbarung getragenen Heilswissen zuwen-
Die Schriften Lockes werden zitiert nach: John Locke, The Works of John Locke, 10 Bde., London 1823. Der Essay Concerning Human Understanding wird im Text angeführt als „Essay“; die Reasonableness of Christianity erscheint mit der Abkürzung „RoCh“. Die Texte sind auch in digitaler Form und im Internet in der digitalen Bibliothek des Liberty Fund verfügbar: http://oll.libertyfund.org/Home3/index.php (06.07.2006). 1
Aufklärung 18 · © Felix Meiner Verlag 2006 · ISSN 0178-7128
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det. Die Antwort lautet: da die philosophisch, also rational begründete Moral den einfachen Menschen nicht erreicht, muß das Christentum die Grundlage für die allgemeine Moral der Gesellschaft liefern. Der Glaube fungiert als Ersatz für die Rationalität, die in Sachen Moral den entscheidenden Maßstab abgibt. Damit kehrt er das traditionelle Verhältnis von Philosophie und Religion um: Vormals hatte die Philosophie die Aufgabe, zu zeigen, wie weit die natürliche Vernunft an die Wahrheit der Offenbarung heranreicht; nun will sie zeigen, ob die Religion mit der Rationalität der Philosophie übereinstimmt. Die Reasonableness of Christianity prüft daher, ob das Christentum vernunftgemäß ist.2 Die Antwort lautet: Ja. Das überrascht nicht weiter, da niemand in jener Zeit gewagt hätte, öffentlich eine andere Antwort zu geben. Interessant ist daher der Weg, auf dem die Antwort erreicht wird. Im einzelnen fragt Locke danach, was der Kern des Heilswissens ist, worin es begründet liegt und welche Bedeutung es für den moralischen Alltag der Menschheit besitzt. Locke stellt dies am Anfang und noch ausführlicher gegen Ende der Schrift vor: [...] the moral part of Mose’s law, or the moral law, (which is everywhere the same, the eternal rule of right) obliges Christians, and all men, everywhere, and is to all men the standing law of works (RoCh, 15).
Belegt durch den Römerbrief (Kap. 14) erläutert Locke, daß dieses Mosaische Gesetz oder das law of works, das Gesetz der Werke, eben jenes law of nature (Naturrecht) sei, welches durch die Vernunft erkannt werden könne, „the law of nature [...] knowable by reason“ (RoCh, 13). Der Gehorsam gegenüber diesem Gesetz rechtfertigt den sündigen Menschen vor Gott und verschafft ihm die Hoffnung auf sein Heil und das Ewige Leben. Der Anreiz, das Seelenheil zu erlangen, dient als vermittelnder Grund dafür, dem moralischen Gesetz zu gehorchen. Das Gros der Menschen bemüht sich daher um Moral deswegen, weil sie um ihr ewiges Leben und ihr Seelenheil fürchten, nicht weil sie dem Naturrecht aus rationalen Gründen zustimmen: The greatest part of mankind want leisure or capacity for demonstration; nor can carry a train of proofs, which in that way they must always depend upon for conviction, and cannot be required to assent to, until they see the demonstration. Wherever they stick,
Zum Verhältnis von Moral und Religion bei Locke vgl.: Karl Douglas Hering, Happiness, virtue and divine command, the moral theology of John Locke, Dissertation (Ph.D., University of Southern California) 1995; Victor Nuovo (Hg.), John Locke and Christianity. Contemporary responses to ‘The Reasonableness of Christianity’, Bristol, Dulles 1997; Nicholas Wolterstorff, John Locke and the ethics of belief, Cambridge 1996 (Cambridge studies in religion and critical thought); Steven Forde, Natural law, theology, and morality in Locke, in: American journal of political science 45 (2001), 396–409. 2
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the teachers are always put upon proof, and must clear the doubt by a thread of coherent deductions from the first principles, how long, or how intricate soever they be. And you may as soon hope to have all the day-labourers and tradesmen, the spinsters and dairy-maids, perfect mathematicians, as to have them perfect in ethics this way. Hearing plain commands is the sure and only course to bring them to obedience and practice. The greatest part cannot know, and therefore they must believe (RoCh, 146).
Locke ist überzeugt, die menschliche Vernunft könne in Gestalt der Philosophen und Weisen zeigen, wie sehr sich die Tugend durch ihre Schönheit auszeichnet. Die Menschen stimmen dieser Darstellung zwar durchaus zu, doch kümmern sie sich in ihrer Praxis kaum darum, diesen Wahrheiten auch zu folgen. Erst das durch Jesus Christus erneuerte Gesetz macht den Gehorsam unwiderstehlich, indem der Messias Gott als Urheber dieses Gesetzes zweifelsfrei bekannt macht und das Gesetz mit starken Belohnungen und Strafen verstärkt (RoCh, 144). Die Tugend wird zu einem ausgezeichneten Geschäft („best bargain“) mit Gott: [...] virtue now is visibly the most enriching purchase, and by much the best bargain. [...] Open their eyes upon the endless, unspeakable joys of another life, and their hearts will find something solid and powerful to move them. The view of heaven and hell will [...] give attractions and encouragements to virtue, which reason and interest, and the care of ourselves, cannot but allow and prefer. Upon this foundation, and upon this only, morality stands firm [...] (RoCh, 150).
Der Glaube oder das Heilswissen der Offenbarung vertritt also in der Moral der Masse die Rolle der Rationalität, die bei der intellektuellen Elite notwendig und hinreichend ist, denn für sie sind Gründe, nicht Glauben, der kritische Maßstab. So scheint also zunächst einmal der Gegensatz zwischen Rationalität und Religion auf der gesellschaftlichen und politischen Ebene zu bestehen, nämlich einerseits zwischen einer Mehrheit von Menschen, welche aus Zeitmangel und wegen ihrer geringen geistigen Entwicklung die rationale Moral nicht begreifen können und für die darum ein Argument kein hinreichender Grund zur Tugend ist, und andererseits einer philosophisch gebildeten Minderheit, die ihrer Vernunft folgt. Die Religion fundiert dabei nicht mehr im Sinne einer politischen Religion3 die Ordnung der Gesellschaft, sondern fungiert als Ersatzmoral. Wenn nun der philosophische Maßstab der Moralbegründung auf Erfahrung und Vernunft zurückgeht, entsteht für Locke als nächstes die Aufgabe zu zeigen, daß Offenbarung und Glaubensinhalte des Christentums ein äquivalenter Ersatz dafür sein können. Ich werde daher als nächstes die Hauptkomponenten diskutieren, die den Gegensatz von Religion und Philosophie
Vgl. Eric Voegelin, Die politischen Religionen, hg. und mit einem Nachwort versehen von Peter J. Opitz, München 21996 [Wien 11938]. 3
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kennzeichnen. Zunächst geht es um die Rolle von Erfahrung und dann um die der Vernunft. II. Erfahrung und Offenbarung Die Erfahrung bezeichnet eine menschliche Dimension von Partizipation an der Wirklichkeit. Im Empirismus wird diese Partizipation als sinnliche Wahrnehmung verstanden. Locke fragt dementsprechend im Essay: Woher stammen „all the materials of reason and knowledge“? Er antwortet, sie kämen „in one word, from experience“ (Essay, II, 1, 2). Zugleich setzt Locke ‘Erfahrung’ in eins mit ‘Wahrnehmung’, denn es sei die „perception […] the first step and degree towards knowledge, and the inlet of all the materials of it“ (Essay, II, 9, 15). ‘Material’ meint hierbei das Unverarbeitete, das Unmittelbare. Vom Material ausgehend kommt es zu einer weiteren Verarbeitung. Sie geschieht durch die Vernunft (reason) und produziert Erkenntnis und Wissen (knowledge), wenn gewisse kritische Bedingungen erfüllt sind. Diese Gleichsetzung von Erfahrung und Wahrnehmung kennzeichnet den Empirismus bei Locke. Wenn dem so ist, stellt sich indes die theologische Frage: Woher stammt unser Heilswissen, das heißt das Wissen von Gott, von seinem Willen, seinen Geboten und Verheißungen? Die traditionelle theologische Antwort besagt: Es stammt von Gott selbst und wird dem Menschen durch Offenbarung zuteil, er kann es nicht aus eigener Kraft erwerben. Gott teilt es über seine Propheten und insbesondere durch seinen Sohn Jesus Christus mit. Aus der Sicht des Empirismus entsteht nun aber ein Problem mit dieser theologischen Antwort: Ist nämlich die Offenbarung4 auch eine Form der Erfahrung? Zunächst scheint die Antwort einfach zu sein. Denn ohne die Fähigkeit zu hören kann ein Mensch Gottes Wort schwerlich vernehmen. Also scheint auch mit der Offenbarung eine ‘sensation’ vorzuliegen. Dem stehen jedoch zwei Einwände entgegen. Als erstes stellen diejenigen, welche das Wort Gottes vernommen haben, eine privilegierte Minderheit dar, denn das Wort Gottes vernehmen im Alten Testament nur bestimmte Personen wie die Propheten und Richter, und im Neuen Testament ist der Kreis auf einige von Jesu Zeitgenossen, allen voran auf seine Apostel, beschränkt. Daher müssen alle anderen das Heilswissen auf das Zeugnis jener hin annehmen, die unmittelbar beteiligt waren. Die autoritative Verkündung tritt an die Stelle der eigenen Erfahrung und begründet den Glauben. Zum zweiten ist nach dem Zur Offenbarung bei Locke siehe auch: Stephen N. Williams, Revelation and reconciliation, a window on modernity, Cambridge, New York 1995, bes. 24–55; M. A. Stewart, Revelation and certainty, Paper presented at the John Locke Tercentenary Conference, St Anne’s College, Oxford, 2.–4. April 2004 (unveröff. Ms.). 4
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Zeugnis der Heiligen Schrift nicht ganz klar, ob das Hören von Gottes Wort tatsächlich mit den leiblichen Ohren geschieht, also eine sinnliche Wahrnehmung darstellt. Zwar wandelt Gott im Buch Genesis im Paradies umher und ist auch späterhin auf Erden immer wieder präsent, doch der Psalm 77 sagt ausdrücklich: „Und deine Spuren erkennt man nicht“ (Ps 77, 20). Das greift im Neuen Testament Johannes auf, wenn er uns von Gott sagt: „Du weiß nicht, woher er kommt und wohin er geht“ (Joh 3, 8). Moses begehrt am Berg Sinai tatsächlich Gott zu sehen, um seine Zeugenschaft untermauern zu können. Er steigt wiederholte Male auf den Berg, um Gott nahe zu sein. Schließlich bittet er den Herrn darum, ihn sehen zu dürfen. Dazu heißt es: Und Mose sprach: Laß mich deine Herrlichkeit sehen! Und ER sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will vor dir kundtun den Namen des HERRN: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. Und ER sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. Und der HERR sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen (Ex 33, 18–23).
Die Erfahrung Gottes beschränkt sich also auf das, was er dem Menschen zuwendet, nämlich Gnade und Erbarmen. Sehen jedoch kann selbst Moses ihn nicht, obschon er auserwählter Vermittler seines Willens ist. Immerhin vernimmt er deutliche Worte. In den Zehn Geboten wird ausdrücklich verboten, sich ein Bildnis oder Gleichnis von Gott zu machen. Gott verlangt gewissermaßen, Leerstelle zu bleiben. Während das Sehen Gottes unverkennbar ausgeschlossen ist, scheint unter gewissen Umständen das Hören seines Wortes doch möglich zu sein. Indes scheint dies an bestimmte Bedingungen geknüpft, die Johannes in der Offenbarung (Offb 1, 10) anspricht, nämlich eine vorhergehende Zuwendung des heiligen Geistes: „Ich wurde vom Geist ergriffen am Tag des Herrn und hörte hinter mir eine große Stimme wie von einer Posaune“. Diese Lage muß einen Empiristen doppelt irritieren. Erstens: Bei Erfahrung wird vorausgesetzt, daß jedermann daran teilhaben kann. Der Begriff der Erfahrung ist seit Francis Bacon demokratisch. Ein jeder hat die Chance, fundierte Erfahrungen zu sammeln, wenn er sich entsprechend Mühe gibt, also methodisch vorgeht. Doch die Gegenwart Christi und die Gabe der Prophetie sind nicht durch Mühe zu erwerben – es sind Gnadengaben, die aus der Hand Gottes, nicht aus der von Menschen empfangen werden. Zweitens: Wenn das Wort Gottes nicht mit den normalen Ohren zu hören ist, sondern auf einer Art spiritueller Wahrnehmung beruht, müßte der Empirismus sein Grundkonzept revidieren, wenn er Raum für die Offenbarung bieten will. Das könnte nur auf zwei Wegen geschehen: Entweder wird die Zahl der sinnlichen Wahrnehmungsmög-
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lichkeiten um ein Organ der spirituellen Erfahrung erweitert (dies tut etwa Schleiermacher durch das religiöse Gefühl der „schlechthinnigen Abhängigkeit“), oder die Religion wird einfach nicht auf Erfahrung gegründet. Dies scheint bei Locke der Fall zu sein, denn die Sprache der Erfahrung taucht in der Reasonableness of Christianity nicht auf: Das Wort ‘experience’ kommt nur zweimal vor (RoCh, 140, 157), von ‘perception’ und ‘sensation’ ist an keiner Stelle die Rede. Doch kommt in der Schrift ein anderes Stichwort nahezu auf jeder Seite vor, das die Stelle der im Essay allgegenwärtigen Erfahrung einnimmt: das Wunder. Während die Reasonableness of Christianity die Wunder mehr als achtzig Male5 erwähnt, taucht es im Essay nur dreimal auf. Die zentrale Stelle lautet: Though the common experience and the ordinary course of things have justly a mighty influence on the minds of men, to make them give or refuse credit to any thing proposed to their belief; yet there is one case, wherein the strangeness of the fact lessens not the assent to a fair testimony given of it. For where such supernatural events are suitable to ends aimed at by him, who has the power to change the course of nature, there, under such circumstances, they may be the fitter to procure belief, by how much the more they are beyond, or contrary to ordinary observation. This is the proper case of miracles, which well attested do not only find credit themselves, but give it also to other truths, which need such confirmation (Essay, IV, 16, 13).
Die allgemeine Erfahrung und die gewöhnliche Ordnung der Dinge sind der Normalfall, um Zustimmung zu erteilen oder zu verweigern. Im Fall der Wunder ist es jedoch gerade die Seltsamkeit der bezeugten übernatürlichen Ereignisse, welche die Zustimmung in Form des Glaubens erwecken und auch andere Wahrheiten bestätigen. Das Wunder ist ein Ereignis, bei dem „the course of nature“ durchbrochen wird. Dieses Ereignis ist wohl mit den gewöhnlichen Sinnen zu beobachten; dies jedenfalls scheint Locke im Essay zu implizieren, ohne es jedoch ausdrücklich als ein Fall von Wahrnehmung bzw. Erfahrung zu kennzeichnen. Wenn dem so ist, entsteht freilich ein anderes Problem. Wie verträgt sich nunmehr der Einbruch in die natürliche Ordnung mit der Vernunft? Kann die Vernunft Ereignissen zustimmen, welche nicht auf die „normale“ Weise miteinander verknüpft sind? Oder müßte die Vernunft in solchen Fällen nicht eher das Zeugnis von solchen Ereignissen anzweifeln? Oder stimmt der Mensch in solchen Fällen einer ‘höheren Vernunft’ zu? Kann allerdings die
5 Wunder werden in der Reasonableness of Christianity genau 84 mal erwähnt. Vgl. Patrick Thierry, L’épreuve du miracle, quelques remarques sur la religion de Locke, in: Cahiers de Fontenay 71/72, Lumières et religions (1993), 37–56; Jack J. MacIntosh, Locke and Boyle on miracles and God’s existence, in: Michael Hunter (Hg.), Robert Boyle reconsidered, Cambridge 1994, 193–214; Thomas Brian Mooney, Anthony Imbrosciano, The curious case of Mr. Locke’s miracles, in: International journal for philosophy of religion 57 (2005), 147–168.
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Vernunft, wie Locke sie im Essay begreift, diese Zustimmung hinnehmen? Der Brückenschlag droht zu mißlingen, denn es scheint zweifelhaft, ob die Vernunft in der Religion eine Rolle spielen kann.
III. Rationalität und Vernunft bei Locke Das Wunder trägt also den Glauben und zugleich widerstreitet es der Vernunft; dieser Widerstreit betrifft allerdings nicht die Verwendung des Wunders als Prämisse im logischen Zusammenhang. Es handelt sich vielmehr um einen Widerstreit mit dem rationalen Begriff von der Ordnung der Dinge. Das Wunder durchbricht diese Ordnung. Rational ist aber Ordnung nur dann, wenn sie regelmäßig ist, wenn also die Teile des Ganzen auf regelmäßige Weise – beispielsweise kausal – verknüpft sind. Wenn Hegel davon spricht, die Dinge seien vernünftig, meint er ihre rationale Ordnung; Heraklit verwendet dafür das Wort lógos. Verwendet Locke in seinen Schriften auch (zumindest gelegentlich) einen solchen ontologischen Vernunftbegriff? Wenn wir klären wollen, was Vernunftmäßigkeit und Vernunft in Lockes Schrift Reasonableness of Christianity bedeutet, stoßen wir zunächst auf Schwierigkeiten. Denn der Text bietet keine systematische und explizite Klärung dieser Begriffe. Daher wird der Interpret von Lockes Werk wohl als nächstes auf den Essay Concerning Human Understanding zurückgreifen, um sich dort zu bedienen. Im zweiten Schritt prüfen wir dann, ob der Vernunftbegriff des Essay auch die Argumente der Reasonableness trägt und tragen kann.6 Zunächst zur ‘Vernunft’ im Essay. Im Kapitel XVII des vierten Buches fragt Locke nach der Rolle der Vernunft und antwortet, sie diene zunächst der Mehrung unseres Wissens und der Kontrolle unserer Zustimmung. Die Vernunft beinhaltet vor allem zwei „intellectual faculties“, nämlich „sagacity“ und „illation“: „By the one, it finds out; and by the other, it so orders the intermediate Zur Vernunft siehe in diesem Zusammenhang: Michael S. Rabieh, The reasonableness of Locke, or the questionableness of Christianity, in: Journal of politics 53 (1991), 933–957; Nicholas Wolterstorff, John Locke’s epistemological piety. Reason is the candle of the Lord, in: Faith and philosophy 11 (1994), 572–591; Michael Heyd, Be sober and reasonable, the critique of enthusiasm in the seventeenth and early eighteenth centuries, Leiden, New York, Köln 1995 (Brill’s studies in intellectual history 63), bes. 165–190; Kim Ian Parker, John Locke and the Enlightenment metanarrative. A biblical corrective to a reasoned world, in: Scottish journal of theology 49 (1996), 57–73; Peter C. Myers, Locke on reasonable Christianity and reasonable politics, in: Douglas Kries (Hg.), Piety and humanity. Essays on religion and early modern philosophy, Lanham, Oxford 1997, 145–180; Wioleta Polinska, Faith and reason in John Locke, in: Philosophy and Theology 11 (1999), 287–309; Sudipta Dutta Roy, Reason or revelation? Locke on the ground of religion, in: Indian philosophical quarterly 29 (2002), 17–27. 6
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ideas as to discover what connexion there is in each link of the chain, whereby the extremes are held together“ (Essay, IV, 17, 2). Diese Fähigkeit, genannt „illation“ (also die Fähigkeit zum logischen Folgern), „consists in nothing but the perception of the connexion there is between the ideas, in each step of the deduction“ (ebd.). Locke verwendet also den Oberbegriff der Perzeption, um eine Fähigkeit der Vernunft zu definieren. Diese Fähigkeit ist äußerst wichtig, so fährt er fort, da der Großteil unseres Wissens nur durch Deduktionen und vermittelnde Begriffe (ideas) zustande kommt. Diese Fähigkeit, von Prämissen und Begriffen ausgehend die Mittel und Wege zu weiterem Wissen zu finden, heißt nach Locke eben ‘Vernunft’: This is the lowest degree of that which can be truly called reason. For where the mind does not perceive this probable connexion, where it does not discern whether there be any such connexion or no; there men's opinions are not the product of judgment, or the consequence of reason, but the effects of chance and hazard, of a mind floating at all adventures, without choice and without direction (Essay, IV, 17, 2).
Insgesamt unterscheidet Locke vier Stufen der Vernunft: The first and highest is the discovering and finding out of truths; the second, the regular and methodical disposition of them, and laying them in a clear and fit order, to make their connexion and force be plainly and easily perceived; the third is the perceiving their connexion; and the fourth, a making a right conclusion (Essay, IV, 17, 3).
Der Vernunft übergeordnet ist das intuitive Wissen: „Our highest degree of knowledge is intuitive, without reasoning“ (Essay, IV, 17, 14). Hierbei sind dem Geist Ideen gegenwärtig, die unmittelbar daraufhin überprüft werden können, ob sie übereinstimmen oder nicht, ein Vergleichen, welches Locke als Art von Wahrnehmung (perception) identifiziert: „Intuitive knowledge is the perception of the certain agreement or disagreement of two ideas immediately compared together.“ (Essay, IV, 17, 17) Diese Wahrheiten bedürfen nicht der Vermittlung durch die discursive faculty der Vernunft, sondern stellen eine „superior and higher degree of evidence“ dar, eine Evidenz, von der Locke glaubt, sie sei den Engeln (!) gewährt und werde in einem zukünftigen Leben auch den vervollkommneten Geistern der gerechten Menschen („the spirits of just men made perfect“) zuteil werden; wir hingegen seien Wesen mit einer kurzsichtigen Vernunft (ebd., IV, 17, 14). Es scheint nicht ganz klar, ob die Intuition zu den Fähigkeiten der Vernunft gehört. Jedenfalls wird das rationale Wissen vom intuitiven unterschieden: „Rational knowledge is the perception of the certain agreement or disagreement of any two ideas, by the intervention of one or more other ideas.“ (ebd., IV, 17, 17). Nunmehr unterscheidet Locke drei Typen von Dingen (things), insofern sie (1) vernunftgemäß (according to reason), (2) übervernünftig (above reason), oder (3) widervernünftig (contrary to reason) sind:
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1. According to reason are such propositions whose truth we can discover by examining and tracing those ideas we have from sensation and reflection; and by natural deduction find to be true or probable. 2. Above reason are such propositions whose truth or probability we cannot by reason derive from those principles. 3. Contrary to reason are such propositions as are inconsistent with or irreconcilable to our clear and distinct ideas. Thus the existence of one God is according to reason; the existence of more than one God, contrary to reason; the resurrection of the dead, above reason (Essay, IV, 17, 23).
Grundsätzlich betrachtet, besteht zwischen Glaube und Vernunft kein Widerspruch, denn der Glaube müsse durch die Vernunft geordnet werden („regulated by reason“, Essay, IV, 17, 24). Von einem Gegensatz zwischen Vernunft und Glauben kann man nach Locke nur in einem uneigentlichen Sinn sprechen, wobei diese Redeweise freilich, wie er zugesteht, sehr weit verbreitet ist. Denn der Glaube sei nichts anderes als eine feste Zustimmung durch unseren Geist („a firm assent of the mind“, ebd.). Diese Zustimmung bedürfe jedoch immer guter Gründe („good reasons“), andernfalls träfe man die Wahrheit nur durch Zufall. Der Gegensatz zur Vernunft ist demnach nicht der Glaube, sondern das Zufällige. Locke ist wohl so zu verstehen, als sei die Zustimmung im Glauben ebenso notwendig und auf gleiche Weise zwingend wie die Zustimmung zu profanen Wahrheiten. Beide beruhen auf guten Gründen. Die zufällig gefundene Wahrheit hingegen gilt als irregulär, und da Gott den Menschen ja als Vernunftwesen geschaffen hat, nimmt Locke an, Gott werde mehr gefallen an regulären geglaubten Wahrheiten haben. Er geht sogar noch einen Schritt weiter; Gott werde es eher belohnen, wenn jemand aus Vernunft die Wahrheit verfehlt, als wenn er sie aus Zufall trifft. Die Vernunft ist mithin die entscheidende regulative oder kritische Instanz dafür, ob eine Glaubenswahrheit gelten kann oder nicht. Die Vernunft reguliert allerdings in jedem Fall ein Material, das ihr präsentiert wird und das sie nicht selbst findet; intuitives und rationales Wissen setzen immer Ideen voraus, die aus anderer Quelle, mithin aus den natürlichen Fähigkeiten der Wahrnehmung oder Reflexion („natural faculties [...] by sensation or reflection“) stammen müssen (Essay, IV, 17, 24 und IV, 18, 2). Wenn der Glaube gegen die Vernunft gestellt wird, dann beruft er sich nach Locke jedoch auf andere Quellen, nämlich: […] upon the credit of the proposer, as coming from God, in some extraordinary way of communication. This way of discovering truths to men, we call revelation (Essay, IV, 18, 2).
Hier bemerken wir, wie Locke nun bei der Offenbarung die Sprache verändert, er spricht nicht mehr – wie bei der Diskussion von Vernunft und Erfahrung – von ‘perception’, ‘sensation’, ‘experience’ oder ‘reflection’, sondern von einer
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„außerordentlichen Form der Kommunikation“.7 Diese Kommunikation ist die sogenannte Offenbarung. Sie wird freilich von Locke nirgendwo näher analysiert: Die Offenbarung ist eine „impression, which is made immediately by God, on the mind of any man“ (Essay, IV, 18, 3). Der Terminus ‘impression’ ist weit gefaßt und schließt alle möglichen Zusammenhänge unter den Dingen ein: jede Form der Kausalverknüpfung, den Druck (auch den Buchdruck), den Eindruck und zwar auch im Sinn der sinnlichen Wahrnehmung. Doch eine genauere Klärung der Offenbarung mit Blick auf ihren Erfahrungscharakter unterbleibt. Welchen Grund mag das haben? Es mag der Gedanke sein, daß diese Form des Kontaktes nicht als eine reguläre, also ‘normal-menschliche’, d.h. von allen Menschen gleichermaßen vollziehbare Erfahrung gilt. Sonst könnte doch Locke auch hier von einer Perzeption sprechen, so wie er das bei Erfahrung, Intuition und rationalen Operationen immer wieder tut. Wenn man den Erfahrungscharakter der Offenbarung genauer analysiert, müßte man den engen Erfahrungsbegriff des Empirismus freilich aufgeben. Der Sinn dieser Ausgrenzung wird im darauf folgenden Paragraphen klar. Nur die normalen Vermögen von „sensation and reflection“ vermitteln dem Menschen neue „simple ideas“, also die Grundbestandteile unseres gesamten Erfahrungsmaterials. Die traditionelle Offenbarung liefert nichts dergleichen. Liefert sie es nicht – oder kann derjenige, welcher eine Offenbarung empfing, sie nur nicht weitergeben, da ihm die normalen Worte dafür fehlen? Die Gedanken Lockes sind hier unübersichtlich. Zunächst in der Überschrift des Paragraphen (Essay, IV, 18, 3): „No new simple idea can be conveyed by traditional revelation.“ Also: Die Offenbarung vermittelt keine neuen einfachen Ideen. Dann aber: „[W]hatsoever impressions he himself may have from the immediate hand of God, this revelation, if it be of new simple ideas, cannot be conveyed to another, either by words or any other signs“ (ebd.). Wenn man also dennoch durch Offenbarung eine neue Idee (etwa die Idee von Gottes Gegenwart?) empfangen hat, dann kann man sie nicht weitergeben. Die Sprache nämlich besteht nur aus natürlichen Lauten und vermittelt Ideen nur durch ihren Zeichencharakter, also indirekt, was heißt: Sie kann Ideen auslösen, soweit sie der Angesprochene selbst schon wahrgenommen hat. Da die Offenbarung aber eine Sonderform von Kommunikation und keine Normalform von Erfahrung ist, kann sie nicht die allen Menschen bekannten Ideen ansprechen und muß an dieser Stelle schweigen (vgl. ebd.). Locke nimmt hier den Apostel Paulus und seine spirituelle Vision als Beispiel. Die Apostelgeschichte berichtet hier von Dingen „as eye hath not seen,
James Danaher, Is communication from God really possible? A conceptual problem, in: Science and Christian belief 12 (2000), 99–114. 7
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nor ear heard, nor hath it entered into the heart of man to conceive“ (Essay, IV, 18, 3). Wenn Gott, so setzt Locke den Gedanken fort, uns auf übernatürliche Weise an dem sechsten Sinn eines Lebewesens von einem anderen Stern teilhaben ließe, so könnten wir doch die Eindrücke, welche wir so empfingen, niemandem mitteilen, da unsere Sprache diese neuen Ideen im Zuhörer nicht hervorrufen kann. Die Grenzen unserer Sprache sind die Grenzen unserer kommunikativen Welt. Locke scheint mithin sagen zu wollen: Wenn der Glaube in der Offenbarung eine Sonderform der Kommunikation von Wissen in Anspruch nimmt, dann läßt sich dieses Wissen doch nur dann mitteilen, wenn es sich auf die allgemein bekannten Ideen beschränkt. Wenn die Offenbarung sich darauf beschränkt, dann ist sie freilich auch nicht jenseits der Vernunft und ihrer kritischen Vermögen, sondern innerhalb ihrer Grenzen angesiedelt. Damit wendet er sich schließlich auch direkt gegen Tertullian, dessen einschlägige Schrift er wohl kennt, zumindest zitiert er korrekt daraus: So that, in effect, religion, which should most distinguish us from beasts, and ought most peculiarly to elevate us, as rational creatures, above brutes, is that wherein men often appear most irrational, and more senseless than beasts themselves. Credo, quia impossibile est: I believe, because it is impossible, might, in a good man, pass for a sally of zeal; but would prove a very ill rule for men to choose their opinions or religion by (Essay, IV, 18, 11).
Es bleibt die Frage, warum die besondere Form der Kommunikation, die für die Religion wichtig zu sein scheint, bei Locke nicht als spezielle Art von Erfahrung zumindest geprüft wird. Jedenfalls wird die enge Auffassung von Erfahrung für die Folgezeit, auch für Kant und über ihn hinaus bis in die Gegenwart, maßgebend. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem modernen Denken hat bei der Verengung des Erfahrungsbegriffs anzusetzen.8 Nun können wir die Beziehungen zwischen den Begriffen von Vernunft und Erfahrung im Vergleich von Essay und Reasonableness untersuchen. Im Essay sagte Locke: „[A]ll the materials of reason and knowledge“ stammten „in one word, from experience“ (Essay, II, 1, 2). ‘Erfahrung’ (experience) aber ist ‘Wahrnehmung’ (perception), denn diese sei „[…] the first step and degree towards knowledge, and the inlet of all the materials of it“ (Essay, II, 9, 15). In der Reasonableness lesen wir nun: Whatsoever should thus be universally useful, as a standard to which men should conform their manners, must have its authority, either from reason or revelation (RoCh, 142).
Hier fällt zunächst auf, daß die Erfahrung gar nicht genannt wird. Tatsächlich taucht ‘Erfahrung’ (experience) im ganzen Text, wie bereits gesagt, nur zwei8
Vgl. hierzu: Wolfgang Leidhold, Politische Philosophie, Würzburg 22004, insbes. Teil I.
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mal auf (RoCh, 140, 157). Sollen wir daher annehmen, daß sie als Quelle von Vernunft und Wissen nicht mehr wie im Essay das Monopol innehat? In der Tat. Denn weiter heißt es: He, that any one will pretend to set up in this kind, and have his rules pass for authentic directions, must show, that either he builds his doctrine upon principles of reason, selfevident in themselves; and that he deduces all parts of it from thence, by clear and evident demonstration: or must show his commission from heaven, that he comes with authority from God, to deliver his will and commands to the world (RoCh, 142).
Im Essay lehnte Locke den Gedanken ab, daß die moralischen Prinzipien angeboren oder selbst-evident sein könnten; er forderte statt dessen eine Begründung im Rahmen seiner erkenntnistheoretischen Prinzipien, nämlich aus den empirisch erworbenen Ideen, in diesem Fall aus den Ideen von Lust und Schmerz.9 In der Reasonableness hingegen wird die Moral nicht naturalistisch aus Lust und Schmerz, sondern aus selbst-evidenten Prinzipien der Vernunft hergeleitet, zu denen die göttliche Mission als Alternative gilt. Welche Rolle hier nun die Vernunft spielt und welchen Vernunftbegriff dies unterstellt, können wir nur durch eine stückweise Untersuchung der Verwendungsweise herausarbeiten. Zunächst verwendet Locke ‘reason’ im allgemeinen Sinn von ‘Grund’ oder ‘Begründung’ (RoCh, 6, 154). Es bedeutet dann also ‘causa’ im Sinne eines sachlichen Grundes, oder eines Prinzips bzw. einer Prämisse des Beweises. Diese Bedeutung können wir des weiteren außer acht lassen. Dann jedoch taucht Vernunft als ein besonderes Kennzeichen des Menschen auf, der ein „Vernunftwesen“ oder ein „rationales Geschöpf“ Gottes ist (rational creature, RoCh, 11, 112, 134). Als solches ist er begabt zur Suche nach der Wahrheit (search for truth, RoCh, 134). Die Rationalität im Sinne solcher Wahrheitssuche besitzt aber zwei Ausprägungen. Die eine betrifft die Ordnung des Denkens, d.h. die logische Ordnung der Denknotwendigkeit. In dieser Bedeutung, so heißt es an einer Stelle, ist ‘reasonableness’ identisch mit ‘Notwendigkeit’:
„But should that most unshaken rule of morality and foundation of all social virtue, ‘That one should do as he would be done unto,’ be proposed to one who never heard of it before, but yet is of capacity to understand its meaning; might he not without any absurdity ask a reason why? And were not he that proposed it bound to make out the truth and reasonableness of it to him? Which plainly shows it not to be innate; for if it were it could neither want nor receive any proof; but must needs (at least as soon as heard and understood) be received and assented to as an unquestionable truth, which a man can by no means doubt of. So that the truth of all these moral rules plainly depends upon some other antecedent to them, and from which they must be deduced; which could not be if either they were innate or so much as self-evident“ (Essay, I, 3, 4). – Eine solche Moral blieb jedoch zunächst ein Projekt; sie ist von Locke nicht verfaßt worden. 9
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These two, faith and repentance, i.e. believing in Jesus to be the Messiah, and a good life, are the indispensable condition of the new covenant, to be performed by all those who would obtain eternal life. The reasonableness, or rather necessity of which, that we may the better comprehend, we must a little look back to what was said in the beginning (RoCh, 105).
Die Ratio begreift jedoch nicht nur die Ordnung des logisch richtigen Denkens, sondern auch die Ordnung der Dinge; das ist die zweite Ausprägung des Vernunftbegriffes in der Reasonableness of Christianity. Anhand der Ordnung der Dinge kann der Mensch zweierlei erkennen: Gott (und zwar im Rahmen der natürlichen Religion) und das Gesetz der Vernunft (law of reason), d.h. das Naturrecht (law of nature). Zur Erkenntnis Gottes muß der Mensch nur die Werke der Natur, die ja Werke Gottes sind, betrachten: [T]he works of nature, in every part of them, sufficiently evidence a Deity; yet the world made so little use of their reason, that they saw him not, where, even by the impression of himself, he was easy to be found (RoCh, 135).
Die Vernunft ist mithin fähig, anhand der Natur die Evidenz für Gott und sein Wirken zu erkennen. Sie ist also das Organ der Ordnungserfahrung, ist die Fähigkeit, den Zusammenhang der Gründe (reasons) und den Zusammenhang der Teile mit dem Ganzen zu sehen. Wir haben offenkundig einen noëtischen und keinen instrumentellen Vernunftbegriff vor uns. Die so entdeckte Ordnung umfaßt zunächst einmal die Differenzierung in Mensch und Gott, sichtbare und intellektuale Welt (RoCh, 134). Gott selbst hat durch seine Schöpfung und ihre Ordnung ein Licht in die Welt gesetzt, das den Menschen zu ihm führt; es ist ein „light [...] in the works of creation and providence, to lead [men] to the true God“ (RoCh, 136, bezugnehmend auf Apg 17, 22–29). Daher taucht immer wieder dann, wenn von Ratio im Sinne der Ordnungserfahrung die Rede ist, der Gegensatz von Ordnung und Unordnung im Text auf: The duties of the law, arising from the constitution of his very nature [e.g. that man is a rational creature], are of eternal obligation; nor can it be taken away or dispensed with, without changing the nature of things, overturning the measures of right and wrong, and thereby introducing and authorizing irregularity, confusion, and disorder in the world (RoCh, 112; vgl. 8, 11, 140, 135).
Freilich ist dieses Licht der Vernunft in aller Regel verdunkelt. Dafür gibt es drei Gründe, einen anthropologischen, einen sozialen und, darauf aufbauend, einen politischen. Als erstes hat der Mensch in seinen Leidenschaften einen Widersacher der Vernunft: „Sense and lust blinded their minds in some, and careless inadvertency in others, and fearful apprehension in most [...]“ (RoCh, 135). Darüber hinaus läßt das Alltagsleben – d.h. insbesondere das Arbeitsleben – den Menschen gar keine Zeit, sich vernünftig mit den Dingen auseinan-
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derzusetzen: „The greates part of mankind has not leisure for learning and logic [...]“ (RoCh, 157). Das führt dazu, daß sie sich auf ihre Priester verlassen, die ihnen jedoch falsche Begriffe von der Gottheit vermitteln („false notions of the Deity“, RoCh, 135). Um schließlich ihre Herrschaft abzusichern, verbannen die Priester die Vernunft aus der Religion: [R]eason [...] could not be heard, and was judged to have nothing to do in the case; the priests, every where, to secure their empire, having excluded reason from having any thing to do in religion (RoCh, 135).
Die Vernunftnatur des Menschen ist aber auch dann, wenn sie nicht verdunkelt wird, unzureichend. Es fällt der Vernunft leicht, einer Wahrheit zuzustimmen, wenn man sie ihr vorhält, doch sie aus eigener Kraft zu entdecken, fällt dem rationalen Menschen in aller Regel schwer. Folglich bedürfen wir der Stütze durch die Tradition, die uns früher gefundene Wahrheiten überliefert (RoCh, 144). Manche moralische und religiöse Wahrheit liegt jedoch so tief verborgen, daß unsere natürliche Vernunft nicht dorthin gelangt (RoCh, 144). Daher, so stellt Locke öfters fest, hat die Moral in der Antike nur wenige Fortschritte gemacht (RoCh, 139 f.). Die Fortschritte durch die Vermittlung des Messias aber beruhen auf Offenbarung. Ist die Offenbarung einmal geschehen, fällt es der Vernunft jedoch leicht, ihrer Wahrheit nunmehr zuzustimmen (RoCh, 140, 143). Die Vernunft tut also nichts anderes, als den Wahrheiten, die ihr durch Offenbarung präsentiert werden, zuzustimmen, sofern sie ihr evident erscheinen. Die Offenbarung wiederum erfährt die Stütze ihrer autoritativen Geltung, wie wir schon sahen, durch die Vielzahl an Wundern, allen voran jener, die der Messias vollbracht hat. Lockes Position unterscheidet sich hierin nicht von der Tertullians, obschon er ihn kritisiert. So wollen wir abschließend die Rationalität Tertullians und Lockes Idee vom Christentum betrachten.
IV. Die Rationalität von Religion bei Tertullian und Locke Der besagte Gegensatz von Vernunft und Glauben, Erfahrung und Offenbarung ist heute ein gängiger Topos. Der Topos wird im modernen Denken oftmals hingenommen, ohne weiter nach seiner Begründung zu fragen. Damit handelt es sich eher um ein Vorurteil, als um eine begründete Prämisse. Zunächst bestritt die Aufklärung, daß es einen Sonderweg zur Wahrheit gäbe, und verwies mit Kant die Religion in die Grenzen der bloßen Vernunft. Die religiöse Wahrheit erschien jedoch seit dem 19. Jahrhundert, etwa bei Comte und bei Topitsch, nur mehr als eine überholte Vorstufe in der Wissensgeschichte der Menschheit, nicht mehr als ihr integraler Bestandteil. Damit verschärfte sich der Gegensatz zusehends. So nimmt es schon Wunder, wenn Locke im Titel seiner Schrift von der Vernünftig-
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keit des Christentums spricht. Soll das heißen, es gibt für Locke doch eine Rationalität im Christentum? Bevor ich Lockes Vernunftbegriff näher erörtere, will ich den Topos des Gegensatzes von Rationalität und Religion betrachten. Eine Kluft zwischen Rationalität und christlichem Glauben scheint früh schon im Christentum selbst aufzutauchen. In seinen Briefen spricht der Apostel Paulus öfters davon, so im ersten Brief an die Korinther: [D]ie Juden fordern Zeichen und die Griechen fragen nach Weisheit, wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit“ (1 Kor 1, 22 f.; vgl. 2 Kor 5, 7; Kol 2, 8).
Von den Kirchenvätern verwirft ein Jahrhundert später Tertullian die Philosophie als überflüssig und gefährlich für den Christen: „Was hat Athen mit Jerusalem zu tun? [...] Wenn wir glauben, so wünschen wir über das Glauben hinaus nichts weiter mehr“.10 Tertullian wird auch die prägnante Formel des credo quia absurdum (Ich glaube, weil es [für die Vernunft] abwegig ist) zugeschrieben. Die einschlägige Passage lautet genau genommen: „Et [dei filius] sepultus resurrexit; certum est, quia impossibile est.“ (Und [Gottes Sohn] ist vom Grabe auferstanden; das ist gewiß, weil es unmöglich ist).11 Die Formel gibt es also bei Tertullian zwar nicht, doch faßt sie das Problem gut zusammen; darum soll sie hier unser Beispiel bleiben. Der Satz vom credo quia absurdum scheint zunächst eine Absage des Sprechers an die Vernunft auszudrücken. Er bestätigt seinen Glauben gegen eine Einrede der Vernunft. Die Vernunft sagt: Da ist etwas absurd, abwegig, ungereimt, und damit kann man eigentlich den Glauben nicht begründen. Der Grund des Glaubens ist argumentativ untauglich. Der Grund begründet nicht richtig, er ist unlogisch, ist wider den lógos. Die Vernunft würde zulassen, etwas dann zu glauben, wenn es wahr oder hinreichend verbürgt wäre. Doch der Grund gilt als absurd. Was jedoch ist dieser absurde Grund? Die Kurzformel nennt ihn freilich nicht, doch spricht ihn Tertullian in seinem ursprünglichen Satz aus: Christus ist vom Grabe auferstanden. Was ist daran unlogisch? Es ist unmöglich, daß ein Toter wieder lebendig wird. Warum gilt dies als impossibile? Das Mögliche gehorcht dem lógos, also der Ordnung der Dinge, es ist das Rationale, das Vernunftgemäße; das Unmögliche durchbricht die Ordnung. Die Auferstehung ist mithin onto-logische Absurdität, das heißt: sie ist ein Wunder. Der Satz Tertullians jedoch sagt, daß gerade das Unmögliche den Glauben gewiß
Tertullian, De praescriptione haereticorum, Kap. 7 (zit. nach: Tertullianus, Quintus Septimius Florens, Ausgewählte Schriften, Band 2: Apologetische, dogmatische und montanistische Schriften, übers. und eingel. von Heinrich Kellner, in: Gerhard Esser [Hg.], Die Bibliothek der Kirchenväter, Bd. 24, Kempten, München 1915), 312 f. 11 Tertullian, De carne Christi (ebd.), 5. 10
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macht. Dasselbe sagt die Kurzformel: Der Glaube gründet im Absurden. Darin eben liegt der Sinn des Wunders: etwas gewiß zu machen, was die Vernunft sonst nicht akzeptieren würde. Aber ist dies tatsächlich eine Absage an die Vernunft? Der Satz selbst benutzt eine logische Form, indem er durch das quia einen Grund für das vorangegangene Urteil liefert. Das Urteil lautet: Ich glaube. Der Grund liegt darin, daß ein Wunder geschehen ist (das Wunder der Auferstehung). Die Auferstehung durchbricht die gewöhnliche Ordnung der Dinge. Für dieses Durchbrechen steht der Ausdruck ‘absurdum’. ‘Absurd’ bezieht sich in der Grundbedeutung auf das Hören einen leisen Tones (susurro), der nicht in das gewohnte Hörbild paßt: etwas klingt nicht harmonisch, es tönt falsch; allgemein dann bezeichnet es das Unstimmige. Das Wunder ist unstimmig mit der gewöhnlichen Ordnung der Dinge: Tote werden normalerweise nicht wieder lebendig. Dies ist nach dem Alten Testament eine Strafe für den Sündenfall. Das Heilsversprechen des Neuen Testaments ist jedoch die Revision dieser Strafe für den Sündenfall: Die Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Tod und Auferstehung Christi liefern den lebendigen Beweis für die Glaubhaftigkeit des Heilsversprechens. In diesem Sinne ist das Wunder der Grund des Glaubens. Insofern besitzt der Satz vom credo quia absurdum durchaus eine logische Ordnung. Er widerspricht gerade nicht dem rationalen Bedürfnis nach einer Begründung – doch widerspricht er einer bestimmten Auffassung von der Ordnung der Dinge. Der Begriff des Wunders, wie er sich schon in Lockes Essay findet, verträgt sich durchaus mit der Rolle des Absurden bei Tertullian. Um so eigenartiger ist es daher, daß Locke sich ausdrücklich gegen Tertullian wendet, wie wir gleich sehen werden. Die antike Religion kannte durchaus Formen, in denen ein ungewöhnliches Einwirken der Götter in die normale Welt gang und gäbe war. Dies bezeugt schon die verbreitete alltägliche Wahrsagerei, die ja in Rom selbst zum politischen Leben dazugehörte. Cicero etwa war Mitglied des Auguren-Kollegiums. Wenn wir eine dem Wunder abschwörende Denkrichtung suchen, müssen wir uns schon an die Epikureer halten. Der Satz vom credo quia absurdum wendet sich insgesamt gegen eine Kosmologie, die das Wunder im Grundsatz ausschließt. Der Satz baut statt dessen in der Begründung auf die Tatsache der Auferstehung als eines Ereignisses, das zwar aus dem Rahmen der gewöhnlichen Erfahrung fällt, welches aber dennoch eine unbezweifelbare Tatsache ist. Im übrigen findet sich die Argumentation aus dem Unwahrscheinlichen bereits in der Rhetorik des Aristoteles, der dort ausführt, manchmal seien Ereignisse derart außergewöhnlich, daß es vernünftig ist, sie für wahr zu halten.12
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Aristoteles, Rhetorik, 2.23.22. (1400a6). Darauf weisen hin: Robert S. Sider, Credo quia ab-
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Die gängige These, Tertullian sei ein Irrationalist, ist wohl falsch.13 Bei Tertullian besitzt das ‘credere’, das Glauben, noch gar nicht die Bedeutung eines Festhaltens an grundlosen Wahrheiten, sondern hat den Sinn der Zustimmung zu einer gut begründeten Wahrheit; auch ist der Glaube noch keineswegs ein Gegensatz zur Vernunft, sondern ‘fides’ bezeichnet damals noch die Gewißheit aufgrund einer Evidenz. Erst in der Neuzeit trennt sich der Glaube von jenen Gewißheiten, die nur noch durch sinnliche Erfahrung zu bestätigen sind. Und zugleich setzt man die Offenbarung der gewöhnlichen Erfahrung gegenüber, als eine Sonderform des Zuganges zur übernatürlichen Wahrheit. Mit anderen Worten: Sobald der Empirismus den Erfahrungsbegriff auf die sinnliche Wahrnehmung einschränkt, wird die Theologie genötigt, für die religiösen Wahrheiten eine Sonderform der Vermittlung aufzuzeigen. Die Wunder machen erst in der Neuzeit epistemologische Karriere, allen voran die Marienerscheinung.14 Damit entsteht die heutige gängige Konstellation: Vernunft und Erfahrung auf seiten der Wissenschaft, Glaube und Offenbarung (sowie die Wunder) auf seiten der Religion. Locke ist an der Entstehung dieses modernen Gegensatzes beteiligt, denn sein Erfahrungsbegriff macht in der Folgezeit Schule. Betrachten wir nun nochmals Lockes Vorstellungen vom Christentum und den Zusammenhang mit seinem Vernunftbegriff.15 Zentral sind hierbei das surdum? In: Classical World 73 (1980), 417–419, hier 417, sowie James Moffat, Aristotle and Tertullian, in: Journal of Theological Studies 17 (1916), 170–171. 13 Vgl. etwa Lotan H. DeWolf, The Religious Revolt against Reason, New York 1968, 40–41; Geoffrey Keynes (Hg.), The Works of Sir Thomas Browne, Bd.1, Chicago 1964; Charles N. Cochrane, Christianty and Classical Culture, New York 1957, 222–224. 14 Gottfried Hierzenberger, Otto Nedomansky, Erscheinungen und Botschaften der Gottesmutter Maria. Vollständige Dokumentation durch zwei Jahrtausende, Düsseldorf 1995. Vgl. auch Gerhard Stumpf, Erscheinungen und Visionen: Ihre Bedeutung und ihre Problematik, in: G. S. (Hg.), Maria – Mutter der Kirche, Landsberg 2004, 201–258. 15 Zu Lockes Auffassung vom Christentum siehe: John Marshall, John Locke and latitudinarianism, in: Richard Kroll u.a. (Hg.), Philosophy, science and religion in England, 1640– 1700, Cambridge 1992, 253–282; Michael Jinkins, Elements of federal theology in the religious thought of John Locke, in: Evangelical quarterly 66 (1994), 123–141; Jørn Schøsler, Le Christianisme raisonnable et le débat sur le ‘socianisme’ de John Locke dans la presse française de la première moitié du XVIIIe siècle, in: Lías 21 (1994), 295–319; Geneviève Brykman, Les deux christianismes de Locke et de Toland, in: Revue de synthèse 116 (1995), 281–301; John Marshall, Locke and Socinianism, in: The Locke newsletter 27 (1996), 147–148; Maurice Wiles, Archetypal heresy. Arianism through the centuries, Oxford 1996, bes. 70–79; Dale S. Kuehne, Reinventing Paul: From the Geneva Bible to Locke’s Paraphrases on Romans, in: Douglas Kries (Hg.), Piety and humanity. Essays on religion and early modern philosophy, Lanham, Oxford 1997, 213–232; Victor Nuovo (Hg.), John Locke and Christianity. Contemporary responses to The reasonableness of Christianity, Bristol, Dulles 1997; Martin Mulsow, Orientalistik im Kontext der sozinianischen und deistischen Debatten um 1700. Spencer, Crell, Locke und Newton, in: Scientia
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Heilsversprechen und die Aussicht auf ein ewiges Leben, verbürgt durch Jesus Christus. Dementsprechend nehmen die Überlegungen in der Reasonableness of Christianity ihren Ausgang bei Adams Sündenfall und gehen dann über zu einem zweiten Hauptpunkt, nämlich der Kritik an der Theologie seiner Zeit. Für Locke ist seine Zeit gekennzeichnet von „learned, artificial, and forced senses [...] in most of the systems of divinity“ (RoCh, 5). Die Kritik an dieser verkünstelten Theologie entwickelt ein hermeneutisches Prinzip für die Bibelinterpretation, worin Locke betont, Gottes Wort müsse einfach zu verstehen sein, da es sich ja an die ungebildete Masse der Menschen wendet; die Bibel sei daher […] a collection of writings, designed by God, for the instruction of the illiterate bulk of mankind, in the way to salvation, and therefore, generally, and in necessary points, to be understood in the plain direct meaning (RoCh, 5).
Auf der Grundlage dieser Hermeneutik entfaltet Locke ausgehend vom Sündenfall-Thema dann seine Rationalitätsprüfung. Sie ist eine Prüfung der ‘reasonableness’ im doppelten Sinn: (1) Sie prüft die Logik, d.h. die Identität der Aussagen, ihre Konsistenz, sowie ihre argumentative Ordnung. Die Bibel ist demnach keine Aphorismen-Sammlung, sondern ein logischer Diskurs, dessen Teile kohärent und konsistent sind. Sie besitzen eine erzählerische und argumentative Ordnung. (2) Zum zweiten prüft die Kritik die Zustimmung der Vernunft zu den selbst-evidenten Prinzipien. Zwar kann die Vernunft die Prinzipien so vollständig wie in der Bibel nicht aus sich selbst finden, doch vermag sie ihre Wahrheit zu erkennen, wenn sie ihr präsentiert werden. Wir haben es folglich mit dem Programm einer Exegese der Bibel in ihrem Alten und Neuen Testament durch die noëtische und die logisch-theoretische Vernunft zu tun. Dabei kommt Locke zu folgendem Ergebnis: Das Heil wird versprochen, wenn zwei Gesetze erfüllt werden, das Gesetz der Werke und das Gesetz des Glaubens. Das Gesetz des Glaubens ist identisch mit dem Glaubensbekenntnis, aber ohne die Formeln, welche auf die Kirche und auf die Trinität verweisen. Demnach faßt er das Glaubensgesetz zusammen als „the belief of Jesus of Nazareth to be the Messiah, together with those concomitant articles of his resurrection, rule, and coming again to judge the world“; dies sei „all the faith
poetica 2 (1998), 27–57; Brian W. Young, Religion and enlightenment in Eighteenth-century England. The theological debate from Locke to Burke, Oxford 1998, bes. 83–119; Robert E. Brown, Edwards, Locke, and the Bible, in: The Journal of religion 79 (1999), 361–384; John Marshall, Locke, Socinianism, ‘Socinianism,’ and Unitarianism, in: M. A. Stewart (Hg.), English philosophy in the age of Locke, Oxford 2000 (Oxford studies in the history of philosophy, Bd. 3), 111–182; Victor Nuovo, Locke’s theology, 1694–1704, in: M. A. Stewart (Hg.), English philosophy in the age of Locke, Oxford 2000 (Oxford studies in the history of philosophy, Bd. 3), 183–215.
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required, as necessary to justification“ (RoCh, 151). Das Gesetz der Werke ist hingegen in der Bergpredigt enthalten, und zwar in der dort vorgetragenen Goldenen Regel: „Jesus ... closes all his particular injunctions with this general golden rule, Matt. vii. 12, ‘All things whatsoever ye would that men should do to you, do you even so to them; for this is the law and the prophets’“ (RoCh, 114, 116). Die Einhaltung beider Gesetze ist die Bedingung für die Rechtfertigung des Menschen vor Gott, d.h. für Gottes Einlösung seines Heilsversprechens. Dabei wird dem Gläubigen, d.h. dem, der das Gesetz des Glaubens einhält, nach Gottes Gnade auch das unvollkommene Einhalten der Werkgerechtigkeit vergeben. Das Auftauchen der Goldenen Regel ist hier insofern besonders interessant, als der Essay ausdrücklich nach einer Begründung verlangt hatte, [...] that most unshaken rule of morality and foundation of all social virtue, that one should do as he would be done unto, [... and the] truth of all these moral rules plainly depends upon some other antecedent to them, and from which they must be deduced; which could not be if either they were innate or so much as self-evident (Essay, I, 3, 4).
Hier nun ist die Begründung hinfällig, denn die Regel gilt ja als self-evident und gewinnt zusätzlich ihre unbedingte Geltungskraft durch die göttliche Autorität. Woher aber kommt ihre Autorität? Wir haben schon gehört, daß der, welcher die göttliche Autorität beansprucht, „must show his commission from heaven, that he comes with authority from God, to deliver his will and commands to the world“ (RoCh, 142). Diese Demonstration bezieht sich natürlich auf die Frage, ob Jesus Christus der Messias, also der Gottgesandte ist. Die Prämissen dieser Demonstration aber liefert die ‘evidence’, welche wiederum drei Quellen heranziehen kann: (a) die Wunder, (b) indirekte Ausdrücke und Umschreibungen, die Jesu, insbesondere sein Kommen und sein Reich bezeichnen, sowie (c) ausdrückliche und direkte Aussagen, welche die Identität des Messias bestätigen (RoCh, 32–35). Für die Demonstration der Glaubensgewißheit scheint den Wundern eine herausragende Stellung zuzukommen, denn Locke stellt sie besonders heraus: The evidence of our Saviour’s mission from heaven is so great, in the multitude of miracles he did before all sorts of people, that what he delivered cannot but be received as the oracles of God, and unquestionable verity (RoCh, 135).
Lockes Argumentation, obschon wesentlich ausführlicher, unterscheidet sich in ihrer logischen Struktur nicht vom Gedankengang Tertullians. Beide verbinden eine logische Rationalität des Gedankens mit einer noëtischen Rationalität der Offenheit für die spirituelle Erfahrung der Schöpfungsordnung und der göttlichen Wahrheit. Beide fundieren ihren Glauben vornehmlich im Wunder – mit einem deutlichen Unterschied: Locke spricht nicht von der Überzeugungskraft des Absurden, sondern von der Evidenz. Tertullian und Locke wenden sich
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beide zurück an die klassische Philosophie, was bei Locke um so erstaunlicher ist, als er in der Reasonableness of Christianity seinen Vernunftbegriff durch die platonisch-aristotelische Dimension der Noëse erweitert. Zugleich kritisiert er die zeitgenössische Theologie und die religiöse Tradition der „Priester“ dafür, daß sie Vernunft und Religion in einen Gegensatz gebracht haben. Das Endergebnis ist nicht befriedigend: Locke unterwirft die Religion nicht der Prüfung durch die Erfahrung, um sie dann durch das Wunder (welches der Mensch ja erfahren kann und muß) zu begründen. Statt dessen unterwirft er die Religion der Prüfung durch die Vernunft, doch nur dadurch, daß die Vernunft der Offenbarung, die durch die Wunder bekräftigt wird, als evidente Wahrheit zustimmt. Den Erfahrungscharakter der Offenbarung analysiert Locke nicht. Den instrumentellen Vernunftbegriff des Essay freilich revidiert er stillschweigend. Von einer konsistenten rationalen und empirischen Theologie sind wir hier noch weit entfernt. Doch ihr Programm drängt sich auf. Eben dies scheint mir das Vermächtnis der Schrift zu sein: eine kritische Theologie zu entwerfen, die auf Erfahrung und Vernunft basiert. Nach verbreiteter Auffassung gründet die Philosophie auf Erfahrung als Quelle und auf Vernunft als ihrem Denkwerkzeug; die Religion hingegen geht zurück auf Offenbarung als göttliche Mitteilung und beruht auf dem Glauben als einer besonderen Form des Geltenlassens von Wahrheit. Diese Entgegensetzung ist prekär: Religion und Philosophie geraten hierdurch in einen tiefen Gegensatz. Vielleicht ist dieser Gegensatz jedoch auch ganz falsch. Dieser Beitrag untersucht, wie John Locke in seiner Schrift The Reasonableness of Christianity dieses Thema aufgreift, um die Vereinbarkeit von Vernunft und Christentum zu demonstrieren. Das kritische Interesse liegt bei der Frage, ob Locke dieses Ziel mit den Werkzeugen seiner eigenen empiristischen Philosophie tatsächlich erreichen kann. According to common wisdom, Philosophy is based on experience and reason as her source and instrument of thought; religion, on the other side, is based on revelation as a means of divine communication and on believe as a special type of acceptance of truth. This opposition is awkward: Religion and Philosophy hereby become divided by a deep cleavage. However, this opposition may be wrong after all. This essay studies how John Locke copes with the problem in his Reasonableness of Christianity, trying to show the compatibility of reason and Christianity. The critical question thereby is: Can Locke reach his goal by using his own empiricist approach? Prof. Dr. Wolfgang Leidhold, Seminar für Politische Wissenschaft, Universität zu Köln, Postfach 411020, 50870 Köln, E-Mail: [email protected]
G Ü N T E R G AWL I CK Lockes Theorie der Toleranz
Toleranz gilt als „philosophisch schwer faßbarer Begriff“,1 weshalb wir in der Fachliteratur sehr unterschiedliche Analysen dieses Begriffs finden.2 Logisch betrachtet, handelt es sich um eine dreigliedrige Relation von der Form ‘x toleriert y bei z’, wobei x und z für Einzelpersonen oder Kollektive stehen, y hingegen für so Verschiedenartiges wie politische Meinungen, religiöse Überzeugungen, Charakterzüge, äußerliche Attribute, einzelne Handlungen bzw. Unterlassungen sowie Bräuche. Eine semantische Analyse3 zeigt, daß sich am Tolerieren mehrere Aspekte unterscheiden lassen. Toleranz hat erstens eine Richtung, entweder in der Horizontalen zwischen Gleichberechtigten, was Gegenseitigkeit impliziert, oder aber in der Vertikalen zwischen Nichtgleichberechtigten, etwa wenn x das Recht hat, z irgendein y vorzuschreiben oder zu verbieten, aber von diesem Recht aus guten Gründen nicht Gebrauch macht, wobei diese Relation nicht umkehrbar ist. Toleranz schließt zweitens in der Regel eine Bewertung ihres Gegenstandes ein: Man kann widerwillig etwas dulden, was man als ein Übel ansieht, oder – über manche Zwischenstufen – etwas akzeptieren, was man als wertvoll anerkennt, wenngleich man es gar nicht teilt. Die Relation reicht also von bloßer ‘Erlaubnis-Toleranz’ bis hin zur ‘Wertschätzungs-Toleranz’. Mit der unterschiedlichen Bewertung des Gegenstandes verbindet sich eine unterschiedliche Erwartung der Bestandsfestigkeit Rainer Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt 2003, 16. 2 Aufschlußreich, obgleich sehr divergierend sind die Analysen in Joseph M. Bochenski, Was ist Autorität?, Freiburg 1974, 111–113; Peter Nicholson, Toleration as a Moral Ideal, in: John Horton, Susan Mendus (Hg.), Aspects of Toleration, London 1985, 158–173; Edgar Morscher, Toleranz. Eine Begriffsanalyse, in: Helmut Linneweber-Lammerskitten, Georg Mohr (Hg.), Interpretationen und Argumente. Festschrift für Gerhard Seel, Würzburg 2002, 180–202; Peter Kühn, Toleranz. Zur Lexikographie kultureller Schlüsselwörter, in: Hamid R. Yousefi, Klaus Fischer (Hg.), Interkulturelle Orientierung. Grundlegung des Toleranz-Dialogs, Teil l, Nordhausen 2004, 477–503. 3 Vgl. Forst, Toleranz (wie Anm. l), 42–48. 1
Aufklärung 18 · © Felix Meiner Verlag 2006 · ISSN 0178-7128
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Günter Gawlick
der Beziehung, die wir Toleranz nennen. Bloße Erlaubnis-Toleranz wird nicht sehr stabil sein, denn wer ein Übel widerwillig duldet, wird es bei sich bietender Gelegenheit beseitigen wollen, und wer andererseits seine Überzeugung usw. nur widerwillig geduldet weiß, wird auf eine Verbesserung seiner Lage hoffen, weil er nach Anerkennung strebt. Wertschätzungs-Toleranz hingegen wird in der Regel stabil sein, denn warum sollte man nicht weiterhin etwas gelten lassen, was man nach wie vor als wertvoll anerkennt? Was ergibt diese logisch-semantische Vergewisserung für Lockes Begriff der Toleranz? Ein Blick in seine einschlägigen Texte zeigt, daß er ausschließlich von religiöser Toleranz spricht, also vom Dulden oder Anerkennen der Glaubensüberzeugungen von Menschen. Adressaten seiner Forderung nach Toleranz sind einerseits Herrscher oder Obrigkeiten, andererseits Einzelpersonen und Glaubensgemeinschaften, die Andersgläubige bisher abgelehnt, unterdrückt oder verfolgt haben. Lockes Blick richtet sich also nicht auf den Gesamtbereich der Gegenstände von Toleranz oder Intoleranz, sondern auf einen Ausschnitt, die Religion. Seine Perspektive ist jedoch noch enger, denn es geht ihm nicht um die Duldung von Religionen im Allgemeinen, sondern erklärtermaßen nur um „die wechselseitige Duldung der Christen verschiedenen religiösen Bekenntnisses“, wie es zu Anfang seines Toleranzbriefs von 1689 heißt.4 Andere Religionen als die christliche spielen in seiner Argumentation keine Rolle, obwohl einige seiner Argumente auch auf andere Religionen anwendbar sind. Tatsächlich hat er an einer Stelle des Toleranzbriefs auch Heiden, Juden und Muslime in seine Forderung nach Duldung einbezogen,5 aber das geschah eher beiläufig und war zu seiner Zeit kein zentrales Thema. Lockes Konzentration auf religiöse Toleranz erklärt sich aus der historischen Situation, in der er stand. An dieser Stelle wären Anlaß, Besonderheit und Folgen der Reformation in England zwischen Heinrich VIII. und Jakob II., also zwischen 1530 und 1688, zu schildern, aber das würde den Rahmen sprengen. Der Leser sei auf die Handbücher der englischen Geschichte in der frühen Neuzeit und die klassischen Darstellungen der überaus lebhaften Debatte um das Problem der reli-
Zitate aus Lockes Toleranzbrief im Folgenden nach der deutschen Übersetzung durch Julius Ebbinghaus, der die englische Übersetzung von William Popple gegenübergestellt ist (John Locke, Ein Brief über Toleranz, übers. und eingel. von Julius Ebbinghaus, Hamburg 21966 [1957], abgekürzt E). Dazu wird auf die heute maßgebende Ausgabe des lateinischen Textes durch Raymond Klibansky verwiesen, dem die neue, näher am Original bleibende englische Übersetzung von John W. Gough gegenübergestellt ist (John Locke, Epistola de Tolerantia, Latin text ed. by Raymond Klibansky, English translation with an introduction and notes by J.W. Gough, Oxford 1968, abgekürzt K). Obiges Zitat E 3 / K 58. 5 E 107 / K 144. 4
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giösen Toleranz verwiesen.6 Was Locke angeht, so darf man sagen, daß er die wechselvolle religionspolitische Entwicklung nicht nur in England, sondern auch auf dem Kontinent sehr aufmerksam verfolgte. Wie sein Bücherverzeichnis beweist, besaß er die wichtigsten Schriften zum Toleranzproblem.7 Bereits in jungen Jahren hat er sich persönlich zum Thema geäußert, zum ersten Mal wohl in einem Brief des Jahres 1659, also mit 27 Jahren.8 Wenige Jahre später vertrat er in zwei Abhandlungen, die er nicht veröffentlichte,9 den Standpunkt, die Obrigkeit dürfe Einzelheiten des Gottesdienstes, die nicht Gott selbst in seiner Offenbarung festgelegt hat, für alle Bürger verbindlich regeln. 1667 kam er zu der entgegengesetzten Auffassung, bei der er dann geblieben ist: Jedermann habe ein Recht auf den Gottesdienst, der seiner persönlichen Überzeugung entspricht. Damit kam er den zahlreichen Sekten entgegen, die in England entstanden waren, aber als politisch unzuverlässig galten und publizistisch um ihre Duldung kämpften. Locke stellt fest, daß sie unter Umständen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit werden könnten und dann verboten werden müßten, bis dahin aber unbehelligt bleiben sollten.10 Als er das schrieb, stand Locke bereits in Verbindung mit Lord Ashley, dem späteren ersten Grafen von Shaftesbury. Dieser setzte sich lebhaft für die politisch gefährdete protestantische Thronfolge in England ein, was auch für Locke Konsequenzen hatte. Als der Lord bei Hof in Ungnade fiel und 1682 ins holländische Exil gehen mußte, folgte Locke ihm wenig später nach. Das halbe Jahrzehnt, das er anschließend in Holland verbrachte, war eine überaus fruchtbare Zeit für ihn. Er stand dort in ständigem Gedankenaustausch mit engliNeben den Standardwerken von Wilbur K. Jordan, The Development of Religious Toleration in England, 4 Bde., London 1932–1940, und Joseph Lecler, Histoire de la tolérance au siècle de la réforme, 2 Bde., Paris 1955, deutsche Übersetzung Stuttgart 1965, sind vor allem Gerald R. Cragg, Puritanism in the Period of the Great Persecution 1660–1668, Cambridge 1957, John Miller, Popery and Politics 1660–1688, Cambridge 1973, und Ole Peter Grell, Jonathan I. Israel, Nicholas Tyacke (Hg.), From Persecution to Toleration. The Glorious Revolution and Religion in England, Oxford 1991, heranzuziehen. 7 Siehe Klibansky in der Vorrede zu seiner Ausgabe des Toleranzbriefs (wie Anm. 4), XXX f., wo Beispiele genannt werden. 8 Im Brief vom September 1659 an Henry Stubbe, worin Locke dessen Essay in Defence of the Good Old Cause; or a Discourse concerning the Rise and Extent of the Power of the Magistrate in Reference to Spiritual Affairs (1659) würdigt, ohne dessen Eintreten für die Duldung der Katholiken gutzuheißen. Siehe The Correspondence of John Locke, ed. by Esmond S. De Beer, Bd. 1, Oxford 1976, 109–112. 9 Erstmals ediert in: John Locke, Scritti editi e inediti sulla tolleranza, hg. von Carlo A. Viano, Torino 1960, 20–61 bzw. 62–80. 10 John Locke, An Essay concerning Toleration (1667), erstmals veröffentlicht in Henry R. Fox Bourne, The Life of John Locke, London 1876, Bd. l, 174–194, danach in Locke, Scritti (wie Anm. 9), 81–103, heute greifbar in: John Locke, Political Essays, ed. by Mark Goldie, Cambridge 1997, 134–159. 6
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schen Kaufleuten und Emigranten, die dort lebten, und nicht zuletzt auch mit toleranten Theologen der reformierten Kirche Hollands. Hier schloß Locke die Arbeit an seinen Hauptwerken ab, hier entstand auf Anregung des Theologen Philipp van Limborch seine maßgebliche Stellungnahme zum Toleranzproblem, die lateinisch abgefaßte Epistola de Tolerantia. Diese wurde 1689, als Locke bereits im Gefolge Wilhelms von Oranien nach England zurückgekehrt war, von Limborch mit verschlüsselter Verfasserangabe herausgegeben11 und erregte sofort große Aufmerksamkeit, weil sie sich wie das Programm der neuen, liberalen Religionspolitik des gerade auf den Thron gelangten Königs Wilhelm III. las. Zum Erfolg dieser Publikation trug nicht wenig die englische Übersetzung durch William Popple bei, die sehr schnell zwar mit Wissen, aber ohne Mitwirkung Lockes entstanden war und wenige Monate nach dem Original herauskam. Sie enthielt neben einigen tendenziösen, Lockes Thesen verstärkenden Formulierungen auch ein anonymes Vorwort, das sich für absolute Freiheit aussprach, aber nicht von Locke stammte. Dieser hat die Anonymität des Toleranzbriefs konsequent bis kurz vor seinem Tod gewahrt, auch als er sich mit seinen Kritikern auseinandersetzen mußte. Ob das Publikum nun wußte oder ahnte, von wem der Toleranzbrief stammte, oder ob es ganz im Dunkeln tappte, auf jeden Fall stieß er in seiner Zeit vor allem auf Zustimmung, wenngleich die philosophiehistorische Forschung sich primär für die vereinzelte Kritik interessiert hat. Zwar war der Ruf nach Toleranz als solcher schon oft erschallt und viele Argumente, die Locke vorbrachte, waren gar nicht neu, aber die Kombination und Konzentration der Argumente auf hohem gedanklichen und sprachlichen Niveau, die seinen Text auszeichnete, sprach die Leser an. Der Toleranzbrief galt schon bald als großer Wurf. Nicht nur bei den Zeitgenossen, sondern auch später gab es viele, die ihn als siegreiches Plädoyer empfanden, sozusagen als die Ouvertüre zum Liberalismus der Folgezeit. Es ist erstaunlich, wie spät fundierte Kritik am Toleranzbrief laut geworden ist, bis vor fünfzig Jahren Julius Ebbinghaus den gesamten Argumentationserfolg der Schrift in Frage stellte, nachdem er sie mit der ganzen Strenge eines Kantianers analysiert hatte.12
Epistola de Tolerantia ad Clarissimum Virum T.A.R.P.T.O.L.A. Scripta a P.A.P.O.I.L.A. Goudae, apud Justum ab Hoeve MDCLXXXIX. Die Verschlüsselung kann mit „Professor der Theologie bei den Remonstranten, Feind der Tyrannei, Limborch in Amsterdam“ bzw. „Freund des Friedens, Feind der Verfolgung, John Locke aus England“ wiedergegeben werden. Zu den Umständen der Veröffentlichung des Toleranzbriefs vgl. Klibansky in der Vorrede zu seiner Ausgabe des Toleranzbriefs (wie Anm. 4), XVIII-XXVI; zu Popples Übersetzung vgl. John W. Gough, ebd., 43–51. 12 Ebbinghaus in der Einleitung zu seiner Ausgabe des Toleranzbriefs (wie Anm. 4), XXVIIXLIV. 11
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In der Tat ist bei der Lektüre des Toleranzbriefs Vorsicht geboten. Locke bedient sich einer eingängigen Sprache und sucht das Publikum nicht allein durch Argumente, sondern auch durch den Appell an das Gefühl für seine Sache einzunehmen. Gelegentlich kommt eine gewisse Rhetorik ins Spiel, die manchen Leser über die Untiefen der Argumentation hinweggetragen haben mag. Z.B. stellt Locke gleich in der Einleitung seines Textes klar, daß, wer sich unter das Banner Christi stellen will, nicht gegen Andersgläubige, sondern gegen die eigenen Laster und Begierden kämpfen muß; er fährt mit den Worten fort: „Nun appelliere ich an das Gewissen derer, die andere unter dem Vorwand der Religion verfolgen, martern, zu Grunde richten oder töten, ob sie es aus Freundschaft und Güte gegen sie tun oder nicht“.13 Hat er vielleicht erwartet, daß die Verfolger aufgrund dieser Worte die Unaufrichtigkeit ihrer vorgeschobenen Motive zugeben und sich reumütig zur Toleranz bekehren würden? Diese dachten nicht im mindesten daran, denn sie verfügten über eine Theorie der Intoleranz zur Rechtfertigung ihres Verhaltens – eine Theorie, auf die Locke nicht eingeht.14 Damit der heutige Leser nicht in den Sog des allgemeinen Einverständnisses mit Lockes Forderung und ihrer Begründung gerät, müssen die Argumente, die Locke vorbringt, einzeln herausgearbeitet und geprüft werden. Das ist schon deshalb wichtig, weil Toleranz ein sogenannter „normativ abhängiger Begriff“15 ist: Sie erhält ihren Wert erst durch die Begründung. Zur Begründung seiner Toleranzforderung führt Locke ein ganzes Bündel von Argumenten unterschiedlichen Gewichts an. Drei „Nebenargumente“, die offensichtlich nicht weit tragen, seien nur erwähnt: Sein eigenwilliger Versuch, das Problem sozusagen im Handstreich zu lösen, indem er schon im ersten Satz der Schrift die Toleranz zum „hauptsächlichsten Merkmal der wahren Kirche“
E 5 / K 58. Der gründlichste Verfechter einer Theorie der Intoleranz war zweifellos Samuel Rutherford, dessen Schrift A Free Disputation against Pretended Liberty of Conscience (London 1649) nach Ansicht von Joseph Lecler, deutsche Übersetzung (wie Anm. 6), Bd. 2, 550, einen „regelrechten Angriff auf die Independenten, die Baptisten, die Latitudinaristen, die Arminianer, die Sozinianer und ganz allgemein alle, die damals eine allgemeine Gewissensfreiheit forderten“, darstellt. Zu nennen ist aber auch Henry Hesketh, der sich in der Schrift The Case of Compelling Men to the Holy Sacrament (London 1684) auf den Locus classicus derartiger Theorien, nämlich das „Compelle intrare“ (Luk 14, 23) beruft und den auf Nonkonformisten ausgeübten Zwang ausdrücklich als einen Akt selbstloser Nächstenliebe hinstellt; vgl. John Hunt, Religious Thought in England, London 1871, Bd. 2, 28 Anm. Um sich mit derartigen Theorien ernsthaft auseinanderzusetzen, hätte Locke wohl seine Überzeugung von der Heilsnotwendigkeit eines Offenbarungsglaubens in Frage stellen müssen. Das taten damals aber nur die sogenannten Deisten, von denen Locke sich ausdrücklich distanziert. Vgl. meinen Beitrag: The English Deists’ Contribution to the Theory of Toleration, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 152 (1976), 823–855. 15 Der Begriff bei Forst, Toleranz (wie Anm. 1), 49. 13 14
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erklärt;16 ferner die eher rhetorische Berufung auf die Kraft der Wahrheit, die sich auch ohne staatliches Eingreifen durchsetzen werde17 und schließlich das politische Argument, daß Toleranz das beste Mittel sei, um den inneren Frieden und den materiellen Wohlstand eines Landes zu sichern.18 In der Hauptsache stützt sich Lockes Theorie der Toleranz auf sieben Pfeiler, genauer gesagt auf drei allgemeine Prämissen, die auch in anderen Zusammenhängen auftreten, und vier spezielle Argumente, die nur in der Toleranzdebatte begegnen; sie alle sind ausführlicher vorzustellen und eingehender zu prüfen. Im Toleranzbrief trägt Locke seine Prämissen nicht in der hier gewählten Reihenfolge, sondern in einer Anordnung vor, die anderen Gesichtspunkten folgt. Als erste sei die metphysisch-religiöse Prämisse genannt: Es gibt einen Gott, und dieser will von den Menschen gemeinschaftlich verehrt werden. Diese Prämisse wurde damals und wird noch heute von den allermeisten Religionen, insbesondere von den drei großen Offenbarungsreligionen, geteilt. Sie zerfällt offensichtlich in zwei Teile, einen theoretischen und einen praktischen. Der erste, theoretische Teil wird von Locke gar nicht eigens als Prämisse hervorgehoben, denn er stand damals in der breiten Öffentlichkeit nicht in Frage. Manche Philosophen, darunter auch Locke, glaubten sogar, das Dasein Gottes zwingend beweisen zu können, und bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts gab es überhaupt nur sehr wenige, die es nicht nur aus einem Affekt heraus, sondern mit Argumenten leugneten, und diese wenigen wagten sich kaum an die Öf-
E 3 / K 58. Im Verlauf seiner Ausführungen schiebt Locke eine Diskussion des Begriffs ‘wahre Kirche’ nach, an deren Ende er allerdings feststellt, daß „dies hier nicht der geeignete Platz ist, die Merkmale der wahren Kirche zu untersuchen“ (E 25 / K 74), weshalb die eingangs aufgestellte Behauptung, Toleranz sei das hauptsächlichste Kennzeichen der wahren Kirche, gewissermaßen in der Luft hängt. Locke begründet sie kurz mit Hinweisen auf Stellen des Neuen Testaments, die belegen sollen, daß sich die Begriffe ‘Kirche’ und ‘Herrschaft’ gegenseitig ausschließen. Locke übersieht oder übergeht aber andere Stellen, die ein ganz anderes Verständnis von ‘Kirche’ vorauszusetzen und die Durchsetzung der Heilsbotschaft Jesu Christi für vordringlich zu erklären scheinen. Solche Stellen wurden zur Rechtfertigung der Intoleranz herangezogen. 17 Die alte Metapher von der Kraft der Wahrheit, die sich am Ende auch ohne Unterstützung der Mächtigen durchsetzen wird, ist zwar geeignet, den Verfolgten Mut und Hoffnung zu geben, aber ungeeignet, die Verfolger zu zügeln, weil diese ja die Kraft der Wahrheit in sich zu spüren meinen. Metaphern können generell keine begrifflichen Argumente ersetzen und haben ihren Platz eher in der Rhetorik der Toleranz. 18 Wenn Locke schließlich – nach Abschluß der eigentlichen Argumentation – noch das politische Argument einführt (E 109 / K 144), hat er gewiß das Beispiel Hollands vor Augen, das dank der religiösen Toleranz im 17. Jahrhundert sein ‘goldenes Zeitalter’ erlebte und kulturell wie wirtschaftlich florierte. Ein empirisches Argument, das die Toleranz von äußeren Faktoren abhängig macht, legt jedoch kein festes Fundament für Toleranz; es verliert seine Plausibilität, wenn die bislang tolerante Mehrheit sich durch den wachsenden Einfluß der tolerierten Minderheit bedroht fühlt, und dann brechen Konflikte auf, wie die jüngste Entwicklung auch in Holland gezeigt hat. 16
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fentlichkeit.19 Was den praktischen Teil der Prämisse angeht, der sie allererst zu einer religiösen Prämisse macht, so zeigt er, daß es hier nicht um den ‘Gott der Philosophen’ geht, nicht um ein bloßes Weltprinzip, sondern um einen persönlichen Gott, der alles um eines Zweckes willen geschaffen hat und der von den vernünftigen Geschöpfen nicht nur die Anerkennung seines Daseins, sondern auch Gehorsam gegenüber seinem Willen fordert: Er will verehrt werden,20 und zwar nicht von jedem Einzelnen für sich, sondern von allen gemeinschaftlich, d.h. in Versammlungen, in denen die Gläubigen ein gemeinsames Glaubensbekenntnis ablegen und durch einen äußerlichen Gottesdienst bekräftigen. Dieser Teil der Prämisse wurde damals ebenfalls von allen miteinander streitenden Religionsparteien bejaht; als Beweis dient Locke das praktische Verhalten der Menschen: „Warum sonst zwingen sie sich gegenseitig, sich zu öffentlichem Kult zu versammeln?“21 Aber hier lag damals und liegt noch heute die Ursache des Streits der christlichen Religionsparteien, denn die Meinungen über den wahren Glauben und den rechten Gottesdienst gingen und gehen weit auseinander. Insbesondere in der frühen Neuzeit glaubte sich jede der streitenden Parteien im exklusiven Besitz der Wahrheit und suchte sie im wohlverstandenen Interesse aller mit allen Mitteln, notfalls mit Gewalt, durchzusetzen. Locke ist sich dessen bewußt („Jeder ist in seinen eigenen Augen orthodox.“22). Trotzdem kann er auf diesen Teil der Prämisse nicht verzichten. Der zweite Pfeiler der Lockeschen Theorie ist die anthropologische Prämisse: Der Mensch besitzt eine unsterbliche Seele, für deren ewiges Heil zu sorgen seine oberste Verpflichtung ist.23 Auch bei diesem Satz konnte Locke sich der Zustimmung aller streitenden Parteien seiner Zeit sicher sein, denn sie alle waren davon überzeugt, daß der Mensch mehr als nur ein Sinnenwesen ist, daß vielmehr seine Seele den Tod des Leibes überdauert und ins Gericht kommt, wo sie von ihrem Schöpfer je nach Verdienst bzw. je nach dem Maß der göttlichen Gnade mit der ewigen Seligkeit belohnt oder mit der ewigen Verdammnis bestraft wird. Alle folgerten daraus, daß es das ureigenste Recht und die oberste Pflicht des Menschen sei, auf dem Weg des wahren Glaubens und des rechten Gottesdienstes das Wohlgefallen Gottes zu erwerben. Anders als der Satz vom Dasein Gottes ist jedoch die erste Hälfte der zweiten Prämisse nach Lockes Überzeugung nicht mit den Kräften des Verstandes 19 Das belegt die materialreiche Arbeit von Winfried Schröder, Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1998. 20 E 55 / K 100. 21 Ebd. 22 E 3 / K 58. 23 E 83 / K 122.
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zu sichern. Für die Unsterblichkeit als Voraussetzung der ewigen Seligkeit oder Unseligkeit kennt er keinen überzeugenden rationalen Beweis, sondern nur die Gewißheit des Glaubens. In einer Tagebuchnotiz24 erwähnt er seine vergebliche Suche nach einem wirklichen Beweis der Unsterblichkeit in der philosophischen Tradition. Denn was die Metaphysiker lieferten, waren entweder Beweise für die Unzerstörbarkeit der Seele durch natürliche Ursachen, was zu wenig ist, weil darunter auch eine bewußtlos, wie im Schlaf verbrachte Ewigkeit begriffen sein kann; oder es waren Beweise für die ewige Existenz der Seele, also zuviel, weil diese Ewigkeit sowohl eine unendliche Vergangenheit wie eine unendliche Zukunft umfaßt. Weder die eine noch die andere Klasse von Beweisen führt daher zu einem Satz, welcher der damals herrschenden christlichen Auffassung vom Jenseits entspricht. Worauf sich die christliche Auffassung stützt, geht klar aus Lockes Schrift von 1695 über die Vernünftigkeit des Christentums hervor.25 Die antiken Philosophen, heißt es da sinngemäß,26 haben bestenfalls geahnt, daß die Seele unsterblich ist, und konnten es daher nicht mit solcher Autorität lehren, daß die Menschen ihnen voll und ganz vertrauten und unbeirrt am Gehorsam gegenüber Gottes Geboten festhielten. Erst Jesus Christus etablierte diese Wahrheit verläßlich durch Lehre und Tat; ihm, dem von Gott gesandten Messias, können wir vertrauen. Die Unsterblichkeit der Seele ist somit für Locke eine Offenbarungswahrheit. Als solche erschien sie ihm und seinen offenbarungsgläubigen Zeitgenossen als taugliche Prämisse in der Theorie der Toleranz. Ob sie auch heute noch als solche gelten kann, sei dahingestellt, denn die Metaphysikkritik der Neuzeit, vor allem Kants, hat auch in der Theologie ihre Spuren hinterlassen. ‘Seele’ und ‘ewiges Leben’ werden heute oft nicht mehr als Fingerzeig auf das Jenseits verstanden, sondern als Chiffre für ein sinnerfülltes, gelingendes Leben im Diesseits, das der Mensch guten Gewissens bejahen kann. Ob ein solches allerdings vom ‘wahren Glauben’ und ‘rechten Gottesdienst’ im Sinne Lockes abhängt, wird vielen zweifelhaft erscheinen. Der dritte Pfeiler der Lockeschen Theorie ist die sozialphilosophische Prämisse: Staat und Kirche haben je verschiedene Aufgaben und Befugnisse.27 Der Staat ist in Lockes Augen eine notwendige Institution zur Wahrung der irdischen Interessen der Menschen, d.h. zur Sicherung von Leben, körperlicher An Early Draft of Locke’s Essay Together with Excerpts from his Journals, ed. by Richard I. Aaron und Jocelyn Gibb, Oxford 1936, 121–123. 25 John Locke, The Reasonableness of Christianity as Delivered in the Scriptures, London 1695. Die Schrift ist abgedruckt in: The Works of John Locke, London 1823, Neudruck Aalen 1963, Bd. 7, 1–158. Eine deutsche Übersetzung von Carl Winckler liegt vor unter dem Titel Die Vernünftigkeit des biblischen Christentums, Giessen 1914. 26 Locke, Reasonableness (wie Anm. 25), 148–151. 27 E 11 / K 64. 24
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Unversehrtheit, Freiheit und Eigentum. Zu diesem Zweck erläßt der Staat allgemeine Gesetze, in denen er Rechte und Pflichten der Bürger fixiert und deren Übertretungen mit Strafe bedroht. Um diesen Gesetzen Geltung zu verschaffen, verfügt er über eine Zwangsgewalt. Mit dem überirdischen Interesse der Menschen, mit ihrer Sorge für das Seelenheil, hat der Staat nichts zu schaffen, das ist Sache der Kirchen. Unter einer Kirche versteht Locke eine freiwillige Vereinigung von Menschen, die Gott gemeinschaftlich nach ihrer Überzeugung verehren wollen, um so ihr Seelenheil zu befördern.28 Kirchen regeln ihre Verfassung und Ordnung selbst, d.h. sie legen Aufnahmebedingungen fest, bestimmen Amtsträger sowie Ort und Zeit des Zusammenkommens zum Gottesdienst nebst dessen Ausgestaltung im einzelnen. Das sind überwiegend äußerliche, an sich gleichgültige Dinge, ohne die jedoch kein gemeinschaftlicher Gottesdienst zustandekommt. Gerade diese Dinge sind aber immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen gewesen, weil sich kein dauerhaftes Einverständnis über die Angemessenheit von Einzelheiten des Gottesdienstes erzielen ließ. Eine Kirchenordnung ist natürlich nur für die Gläubigen dieser Kirche bindend, aber von diesen wird Zustimmung erwartet. Wenn ein Gläubiger an einem Punkt der Lehre oder der Liturgie seiner Kirche Anstoß nimmt, weil er überzeugt ist, Gott habe etwas anderes gemeint oder gewollt, so hat er die Möglichkeit, seine Kirche, diesen freiwilligen Zusammenschluß von Gleichgesinnten, zu verlassen. Wenn er diese Möglichkeit nicht wählt, aber bei seiner abweichenden Meinung bleibt und sie weiterhin äußert, kann er belehrt, ermahnt, gerügt und letztlich aus dieser Kirche ausgeschlossen werden. Der Ausschluß, die Exkommunikation, darf jedoch keinerlei Auswirkung auf seine bürgerlichen Rechte haben, denn die Sphären von Staat und Kirche sind getrennt.29 Die Trennung von Staat und Kirche gilt als Errungenschaft der Moderne. Sie ist keine Erfindung Lockes, sondern begegnet schon Jahrzehnte vor dem Toleranzbrief in der Toleranzdebatte auf Seiten der Sekten, die sich durch das vom Staat geschaffene und gestützte Monopol der Kirche von England benachteiligt, ja unterdrückt sahen. Ihre Vertreter erhoben daher eine radikalere Forderung als Locke: Sie verlangten die völlige Trennung von Staat und Kirche, E 19 / K 70. E 27 / K 76. Hinsichtlich der Möglichkeit, die Auswirkungen einer kirchlichen Sanktion streng auf die kirchliche Sphäre zu beschränken, ist Locke vielleicht zu optimistisch. Ist sie überhaupt realistisch, wenn z.B. den Gläubigen einer Kirche jeder Kontakt mit Exkommunizierten untersagt und selbst Nachbarschaftshilfe in Notfällen verpönt ist? Pierre Bayle hat aus dem Fall des Juden Uriel Acosta, der aus seiner Amsterdamer Gemeinde ausgestoßen wurde, die Lehre gezogen, daß die Auswirkungen einer kirchlichen Sanktion auf das Leben des Betroffenen viel einschneidender sein können als die einer staatlichen Strafe. Vgl. Bayles Dictionnaire Historique et Critique, Artikel „ACOSTA“, Anm. (C), Amsterdam u.a. 1740, Bd. l, 68. 28 29
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folglich auch die Aufhebung der Kirche von England als Staatskirche. Davon findet sich bei Locke kein Wort. Er wollte die Kirche von England, der er auch in der Zeit des von den Dissentern dominierten Commonwealth (1649–1660) treu geblieben war, nicht abschaffen. Auch im Toleranzbrief geht er vom Bestehen einer Kirche aus, die das Staatsoberhaupt in ihren Reihen hat; er stellt aber klar, daß ihr hieraus kein Recht über andere Kirchen erwächst.30 Es fragt sich allerdings, ob seine Trennung von Staat und Kirche nicht eher eine regulative Idee als ein empirischer Begriff ist. In der Auseinandersetzung mit einem für seine Zeit typischen, weil auf das Alte Testament gegründeten Einwand, muß er einräumen, daß es Staaten geben kann, die sich wie der jüdische Staat unter der mosaischen Verfassung als „absolute Theokratie“ verstehen, in denen „Gott selbst der Gesetzgeber“ ist und die daher keinen Unterschied zwischen dem politischen Gemeinwesen und der Kirche kennen und wo folglich die Untertanen „durch die bürgerliche Gewalt in strikter Übereinstimmung mit dieser Kirche gehalten werden können und müssen“.31 Soviel zu den drei allgemeinen Prämissen der Lockeschen Theorie, die ihren Platz in den metaphysischen, anthropologischen und sozialphilosophischen Diskursen bis heute behaupten. Nun zu den vier speziellen Argumenten, die ausschließlich in der Toleranzdebatte begegnen. Hier ist als erstes das althergebrachte psychologische Argument zu nennen: Der Glaube kann nicht durch äußere Gewalt erzwungen werden.32 Druck, der von außen auf die Menschen ausgeübt wird, z.B. durch Einschüchterungen, Drohungen, Schikanen und Strafen jeden Grades, bewirken keine Änderung ihrer Gesinnung, sondern höchstens ihres Verhaltens. Selbst wenn die Betroffenen sich äußerlich anpassen, werden sie im Innern bei ihrer bisherigen Überzeugung bleiben, auch wenn sie diese nun verschweigen müssen. Der Verdacht, daß es schlecht um eine Sache stehen muß, die mit Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden soll, bestärkt sie noch in ihrer bisherigen Überzeugung. Zu der Einsicht „Der Glaube läßt sich nicht erzwingen“ („Fides cogi non potest“) waren bereits spätantike Autoren gekommen, und sie ist auch später oft von den Fürsprechern der Toleranz geltend gemacht worden, aber sie hat sich nicht durchgesetzt, weil sie schon sehr früh auf ein scheinbar plausibles Gegenargument stieß. Auch Locke mußte das erfahren. Im Jahr nach dem Erscheinen des Toleranzbriefs veröffentlichte Jonas Proast, ein Geistlicher in Oxford, eine GegenE 31 / K 80. E 75 / K 116. Vgl. William Walker, The Limits of Locke’s Toleration, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 332 (1995), 133–154, der sogar einen Widerspruch zwischen Lockes Definition des Staates und seiner praktischen Anwendung dieses Begriffs konstatiert. 32 E 15 / K 68 und E 79 / K 120. 30 31
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schrift, in der er eine Art fürsorglicher Intoleranz befürwortete.33 Als Locke eine Erwiderung druckte, legte Proast mit neuen Gegenschriften nach, die Locke wiederum in geradezu selbstquälerischer Ausführlichkeit beantwortete, bis ihm beim dritten Mal der Tod die Feder aus der Hand nahm.34 Proast ging so vor: Er reduzierte Lockes komplexe Theorie auf ein einziges Argument, nämlich das psychologische, setzte diesem einen Einwand entgegen, den schon der Kirchenvater Augustinus verwendet hatte, und erklärte sodann Lockes Theorie im ganzen für gescheitert. Proast macht geltend, daß äußere Gewalt zwar nicht unmittelbar den wahren Glauben bei den Menschen bewirken kann, wohl aber mittelbar. Denn wenn die Gewalt wohldosiert angewendet wird, führt sie seines Erachtens dazu, daß die Menschen ihren falschen Glauben in Frage stellen und die Gründe, die für den wahren Glauben sprechen, allererst zur Kenntnis nehmen und ernsthaft erwägen, so daß sie von ihnen überzeugt werden können. Derartiger Druck von außen ist deshalb nützlich, ja notwendig, sagt Proast, weil viele Menschen ihren Glauben gedankenlos angenommen haben und daher nicht wirklich von ihm überzeugt sein können. Sie würden, wenn man Lockes Toleranzforderung nachgäbe, von ihrem Irrglauben verführt, unausweichlich ins Verderben laufen, wohingegen sie durch ein gewisses Maß an Intoleranz gerettet werden könnten. Locke erkannte, daß dieser Einwand die erhoffte Akzeptanz seiner Theorie gefährdete, und reagierte unverzüglich. Eine unbefangene Glaubensprüfung, sagt er in seiner noch im gleichen Jahr erschienenen Erwiderung, ist bei Druck von außen gar nicht zu erwarten. Wer den Glauben, von dem sein ewiges Heil abhängt, gedankenlos angenommen hat, wird bei der verlangten Glaubensprüfung wahrscheinlich ebenso gedankenlos den Glauben annehmen, der ihm aufgedrungen wird, nur damit er Ruhe bekommt. Das wird zwar der Glaube der Obrigkeit sein, sagt Locke weiter, aber muß das immer der wahre Glaube sein? Wenn Proast behauptet, daß der Druck von außen nicht dem Glauben der Obrigkeit, sondern dem wahren Glauben zum Durchbruch verhelfen soll, so muß man ihn doch fragen: Glaubt er wirklich, daß irgendeine Obrigkeit Druck aus-
Jonas Proast, The Argument of the Letter concerning Toleration Briefly Consider’d and Answer’d, Oxford 1690. Dieser nicht umfangreiche Text liegt mitsamt Proasts weiteren Gegenschriften von 1691 und 1704 im Neudruck vor, London, New York 1984. Vgl. Richard Vernon, The Career of Toleration: John Locke, Jonas Proast, and After, Montreal 1997. 34 Lockes insgesamt drei Erwiderungen auf Proast (A Second, Third, Fourth Letter for Toleration, London 1690, 1691, 1704) liegen vor in: Locke, Works (wie Anm. 25), Bd. 7, 59–574. Die erste Erwiderung umfaßt 80 Seiten, die zweite 408 Seiten, die dritte bricht nach 28 Seiten Text mitten im Satz ab. Zu diesen Erwiderungen vgl. Peter Nicholson, John Locke’s Later Letters on Toleration, in: John Horton, Susan Mendus (Hg.), John Locke: A Letter on Toleration in Focus, London 1991, 163–187. 33
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üben wird, um einen anderen Glauben als ihren eigenen durchzusetzen, welcher immer das sein mag? Und wenn jemand unter Druck von außen tatsächlich unbefangen seinen Glauben prüft und dabei zu dem Ergebnis kommt, das sei doch der wahre Glaube und der ihm aufgedrungene ein falscher Glaube – was soll dann geschehen? Soll die Obrigkeit den Druck verstärken, bis der Andersgläubige nachgibt, oder soll sie ihn bei seinem nunmehr geprüften und von ihm für wahr befundenen Glauben belassen? Außerdem ist ja zu fragen, wie es mit denen steht, die sich zwar zur Staatskirche bekennen, ihren Glauben aber ebenso gedankenlos angenommen haben wie angeblich manche Andersgläubige. Wenn sie unbehelligt bleiben, nur weil sie auf der richtigen Seite stehen, werden sie womöglich ebenso in ihr Verderben laufen wie die Bekenner eines falschen Glaubens, weil Gott kein nachgeplappertes Bekenntnis akzeptiert. Proast kann diese Fragen natürlich nicht beantworten. Trotzdem hat Locke im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung auf das Argument der Unerzwingbarkeit des Glaubens verzichtet und seine Sache ganz auf die anderen Argumente gestellt. Sein zweites spezifisches Argument für Toleranz ist schwerer anfechtbar. Es ist das logische Argument: Glauben heißt Fürwahrhalten, und dieses richtet sich nicht nach dem Willen eines anderen, sondern nach der Evidenz von Gründen. Locke nimmt ‘Glauben’ als Akt des Verstandes mit propositionalem Gehalt. Ein gläubiger Christ hält demzufolge Sätze für wahr, z.B. „Gott hat Jesus Christus gesandt, damit er sein Gnadenangebot verkünde“ oder „Jesus Christus hat durch seine Auferstehung Zeugnis für die Unsterblichkeit abgelegt“. Kein Mensch kann aber irgendeinen Satz für wahr halten, weil ein anderer es ihm befiehlt, sondern jeder muß der Evidenz der Gründe folgen, die für den Satz sprechen. In unserem Fall heißt das: Bevor er sich für einen Glauben entscheidet, muß er die Evangelien und die anderen neutestamentlichen Texte studieren, auf die christliche Kirchen in erster Linie ihren Glauben gründen. Diese Quellen galten zu Lockes Zeit noch als historische Quellen, die Leben und Lehre Jesu glaubwürdig bezeugen. Dort liest man z.B. von den Wundern, die Jesus vollbrachte, um seine göttliche Sendung zu beweisen. Locke hielt Wunder im Sinne von Ereignissen, die außerhalb der gewohnten Ordnung der Natur stehen, ausdrücklich für möglich und die biblischen Berichte über sie für glaubhaft und verläßlich.35 Daher kann er sagen, daß unser Glaube wie jede andere Überzeugung durch Gründe bestimmt wird. Daß der Glaube nicht die Vgl. John Locke, A Discourse of Miracles, der 1706 aus Lockes Nachlaß veröffentlicht wurde und jetzt in: Locke, Works (wie Anm. 25), Bd. 9, 256–265, vorliegt. Weitere Ausführungen zur Rolle der Wunder auch in Lockes Third Letter for Toleration, in: Lockes, Works (wie Anm. 25), Bd. 6, 442 ff. 35
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Evidenz der sinnlichen Anschauung oder der mathematischen Erkenntnis besitzt, ist für ihn kein Einwand. Der Glaube besitzt moralische Gewißheit, denn er stützt sich auf die Aussagen von Zeitzeugen der Ereignisse, denen wir weder eine Selbsttäuschung noch die Absicht, andere zu täuschen, unterstellen müssen. Diese Art von Gewißheit ist ja im täglichen Leben die unentbehrliche Grundlage des Handelns und reicht gewöhnlich aus. Locke argumentiert auf der Basis des damals üblichen Umgangs mit der Bibel. Die historisch-kritische Methode ihrer Erforschung stand noch ganz am Anfang, und die große Debatte über die Beglaubigung der christlichen Religion durch biblische Wunder und Weissagungen kam erst um die Wende zum 18. Jahrhundert auf und zog sich dann durch das ganze Zeitalter der Aufklärung. An ihrem Ende stand der Zweifel, ob die Bibel eine verläßliche historische Quelle darstellt und ob der Glaube im Kern ein Fürwahrhalten von Sätzen ist. Lockes drittes spezielles Argument für Toleranz ist ‘das epistemische Argument’ genannt worden, weil es das Wissen vom rechten Weg zu Gott betrifft: Niemand erkennt den rechten Weg zu Gott mit größerer Gewißheit als ich selbst; deshalb muß ich selbst und kein anderer über ihn entscheiden.36 Angenommen, jemand sei bereit, sich auf dem Weg zu Gott, den er um seines Seelenheils willen beschreiten muß, einem Führer anzuvertrauen – an wen soll er sich halten? Soll er sich dem Urteil seiner Kirche über den rechten Weg unterwerfen?37 Er sieht jedoch, daß andere Kirchen einen anderen Weg einschlagen. Soll er sich an seine Obrigkeit halten, die ihn in der Staatskirche sehen möchte? Er sieht aber, daß die Obrigkeit des Nachbarlandes ihren Bürgern andere Vorgaben macht. Woher weiß er, daß ausgerechnet seine Obrigkeit den rechten Weg kennt? Alle, die er fragt, halten sich für orthodox, alle halten ihre Art des Gottesdienstes für die gottgewollte Art. Ihre Ansprüche auf die Wahrheit neutralisieren sich somit gegenseitig, und der Suchende ist auf sich selbst verwiesen. Er muß sich durch eigenes Nachdenken und Studium, wie Locke sagt,39 Klarheit über den rechten Weg verschaffen, und kein anderer erkennt ihn mit größerer Gewißheit als er selbst, falls er mit der gebotenen Sorgfalt vorgeht. In diesem Fall ist er sich selbst die höchste Autorität in Glaubensdingen. Deshalb wäre es leichtfertig von ihm, die Entscheidung über seinen Glauben irgend jemand anderem zu überlassen: Er muß selbst urteilen und sein Urteil vor seinem Gewissen verantworten. Niemand kann ihm diese Entscheidung und Verantwortung abnehmen.
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E 47 / K 92, E 53 / K 98. E 49 / K 94. Ebd.
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Locke geht hier offenbar von seiner eigenen Praxis und Erfahrung aus. Er hat sich nämlich mit der größten Sorgfalt Gewißheit über seinen Glauben verschafft, wie die Schrift von der Vernünftigkeit des Christentums beweist, die auf gründlichem Bibelstudium beruht. Locke rekonstruiert hier Leben und Lehre Jesu bis ins Detail aus den Evangelien sowie den Glauben der urchristlichen Gemeinde aus den anderen Texten des Neuen Testaments und leitet daraus seinen persönlichen Glauben ab.40 Anscheinend meint er, daß jedermann, der gesunden Menschenverstand besitzt, hierzu imstande ist. Das entsprach der Überzeugung vieler Protestanten seiner Zeit; die katholische Kirche war anderer Auffassung und bevorzugte den ‘Weg der Autorität’. Das vierte spezielle Argument für Toleranz ist in Lockes Augen das ausschlaggebende: Kein Glaubensbekenntnis und kein Gottesdienst kann dem Menschen das ewige Heil verschaffen, wenn er selbst nicht zutiefst davon überzeugt ist, daß er damit auf dem rechten Weg zu Gott ist.41 Selbst wenn die Obrigkeit das Wissen um den wahren Glauben besäße und selbst wenn sie das Recht und die geeigneten Mittel hätte, die Menschen zu diesem Glauben und dem daraus abgeleiteten Gottesdienst zu zwingen, würde sie ihnen damit nicht zur ewigen Seligkeit verhelfen, solange sie diesen Glauben und Gottesdienst nicht in ihrem Herzen bejahten, denn Gott verlangt Aufrichtigkeit, nicht Anpassung und Heuchelei. Schon aus diesem Grund allein muß es jedermann erlaubt sein, den Glauben zu bekennen und zu praktizieren, von dessen Wahrheit er persönlich innig überzeugt ist. In Verbindung mit der anthropologischen Prämisse begründet dieses Argument ein absolutes Recht jedes Einzelnen auf den von ihm für gottgewollt gehaltenen Glauben und Kultus, in das keine irdische Instanz eingreifen darf: Jeder Staat, jede Kirche, jeder Mitbürger hat dieses Recht zu respektieren. Man könnte dies als ‘das Argument der Heilsnotwendigkeit authentischen Glaubens’ bezeichnen. Es war natürlich denen hochwillkommen, die sich allerlei Schikanen, Repressionen und Strafen ausgesetzt sahen, weil sie die geforderte Konformität mit der Staatskirche verweigerten. Das vierte Argument verhieß somit, wenn es sich durchsetzte, jedermann die ersehnte Freiheit der Religionsausübung. Das Argument ist jedoch nicht unproblematisch, wie Locke selber spürte. Es birgt nämlich die Gefahr eines Widerstreits der obersten Prinzipien des Handelns in sich. Als Bürger ist der Mensch verpflichtet, die Gesetze des Staates zu Locke hat das Trinitätsdogma, das zu besonders vielen Auseinandersetzungen Anlaß gab, in seiner Darlegung des Glaubens der Christen übergangen, weil er für diese Lehre keine ausreichende Stütze in den biblischen Quellen fand. Das führte zu heftigen Angriffen und zum Vorwurf des Sozinianismus gegen ihn, wobei sich insbesondere John Edwards hervortat, dessen zwei einschlägige Schriften gegen Locke jetzt im Neudruck (London, New York 1984) vorliegen. Lockes Erwiderungen auf sie (1695, 1697) in: Works (wie Anm. 25), Bd. 7, 159–424. 41 E 53 / K 98. 40
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befolgen, als Gläubiger schuldet er den höchsten Gehorsam seinem Schöpfer. Nun kennt Locke kein Prinzip, nach dem das Recht des Staates und der Wille Gottes notwendig übereinstimmen müssen, daher kann es jederzeit geschehen, daß sich ein Bürger staatlichen Gesetzen unter Berufung auf sein Gewissen vor Gott zu entziehen sucht. Sein Gewissen könnte ihm gebieten, etwas zu unterlassen, was der Staat befiehlt, oder umgekehrt etwas zu tun, was der Staat verbietet, und der Bürger könnte sich dabei womöglich auf einen besonderen Willen Gottes berufen, der ihm durch Offenbarung mitgeteilt worden sei. Dabei könnte es sich um die Verpflichtung zu einer gottesdienstlichen Handlung im strengen Sinne handeln. Locke möchte solche Situationen von vornherein ausschließen und stellt die Regel auf: Was im gewöhnlichen Leben nicht erlaubt ist, das ist auch im Gottesdienst nicht erlaubt, z.B. Kinder zu opfern oder sich sexuellen Ausschweifungen hinzugeben.42 Beim ersten Beispiel dachte er vielleicht an den im Alten Testament erwähnten Kult des Moloch oder an die Opferriten der Azteken, von denen die Missionare berichteten, beim zweiten Beispiel an gewisse Riten spätantiker und mittelalterlicher Sekten. Er geht jedoch nicht weiter darauf ein, die Fälle erschienen ihm wohl abseitig und nicht diskussionsbedürftig. Locke unterschätzt m.E. die Sprengkraft der Probleme, die hier stecken. Sein Begriff von Gott erlaubt es nämlich nicht, dem Willen Gottes eine Grenze zu setzen. Niemand kann a priori sagen: Dies ist eine Gott willkommene Handlung, die mir sein Wohlgefallen verschaffen wird, jene Handlung ist es nicht. In jedem Einzelfall ist der offenbarte Wille Gottes ausschlaggebend. Es ist jedoch nicht auszuschließen, daß Gott jemandem befiehlt, ihn durch befremdliche Riten zu verehren oder auch als Zeichen seines Glaubens und Gehorsams einen Menschen zu opfern. Einen derartigen Befehl soll bekanntlich Abraham erhalten haben,43 wenn auch nur zur Probe und ohne daß es zur Ausführung der Opferhandlung an seinem Sohn Isaak kam. Abraham war jedenfalls bereit, dem göttlichen Befehl zu gehorchen und gilt deshalb als „Vater der Gläubigen“, auch im Neuen Testament.44 Das Problematische des Vorgangs liegt auf der Hand und wurde gerade in England vom Ende des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts lebhaft und kontrovers diskutiert.45 Für Locke steht fest: Der Wille Gottes, nicht menschliches Urteil, macht eine an sich gleichgültige Handlung zu einer gottesdienstlichen Handlung, und nur wer sie im Bewußtsein ihrer Gottgewolltheit ausführt, dient damit Gott. Wer sie ohne dieses Bewußtsein ausführt, etwa weil sie von der Obrigkeit beE 65 / K 108. Gen 22. 44 Hebr 11, 17. 45 Vgl. meinen Beitrag Abraham’s Sacrifice of Isaac Viewed by the English Deists, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 56 (1967), 577–600. 42 43
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fohlen ist, beleidigt damit Gott, was dem Zweck der Religion zuwiderläuft.46 Eben deshalb fordert Locke, daß es jedermann erlaubt sein muß, den Gottesdienst auszuüben, der nach seiner aufrichtigen Überzeugung dem Willen Gottes entspricht. Die Obrigkeit, die den Menschen in diesem Zusammenhang nach ihrem eigenen Urteil etwas vorschreibt, zwingt sie zur Sünde.47 Was aber, wenn sich jemand zu einer gottesdienstlichen Handlung aufgerufen glaubt, die der Staat aus gutem Grund ausdrücklich untersagt hat, wenngleich sie nicht so kraß dem normalen sittlichen Empfinden widerstreitet wie ein Menschenopfer? Locke selber bringt das Beispiel des Hirten Meliboeus, der bei einem Bitt- oder Dankgottesdienst nach alter Sitte ein Kalb opfern möchte.48 Angenommen, der Viehbestand in seiner Heimat sei durch eine Seuche dezimiert und das Schlachten von Kälbern bis auf weiteres gesetzlich verboten, um den Wiederaufbau des Bestandes zu sichern: Wie soll der Hirte sich verhalten? Soll er Gott oder soll er dem staatlichen Gesetz gehorchen? Locke sagt, er müsse dem Gesetz gehorchen, denn der Staat halte sich hier in den Grenzen seiner Gesetzgebungskompetenz und habe das Gemeinwohl im Auge. Das Gesetz verletze auch nicht die Freiheit der Religionsausübung, denn es betreffe gar nicht das Opfern, sondern das Schlachten von Kälbern.49 Es ist fraglich, ob sich der Hirte mit dieser Lösung seines Gewissensproblems durch Umdefinition des Tötungsaktes zufrieden geben kann. Falls der fromme Hirte sich auf das Petrus-Wort besinnt: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen“50 und sich folglich über das staatliche Verbot des Kälberschlachtens hinwegsetzt, entsteht zwar ein Konflikt, aber Locke mißt ihm keine grundsätzliche Bedeutung zu: Der Hirte, sagt er, muß seinem Gewissen folgen und gegebenenfalls die Strafe auf sich nehmen, die der Staat für die Gesetzesübertretung festgesetzt hat.51 Ein grundsätzliches Problem ergibt sich in Lockes Augen erst dann, wenn der Staat etwas verordnet, was ihm als dem Gesetzgeber im Rahmen seiner Kompetenz zur Wahrnehmung der irdischen Interessen der Bürger zu liegen scheint, während die Bürger meinen, daß er damit seine Kompetenz überschreitet und in die religiöse Sphäre eingreift, die den Kirchen vorbehalten ist. In einer derartigen Situation ist Locke mit seinem Latein am Ende. Wer soll Richter zwischen ihnen sein? Ich antworte: Gott allein. Denn es gibt keinen Richter auf Erden zwischen dem Inhaber der höchsten Gewalt und dem Volk. Gott, behaupte ich, ist der einzige Richter in diesem Falle; er wird am Jüngsten Tag jedem nach 46 47 48 49 50 51
E 63 / K 106. E 57 / K 102. E 67 / K 108. E 67 / K 110. Apg 5, 29. Das ist auch Lockes Meinung, E 87 / K 126. E 87 / K 128.
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seinem Verdienst zuteilen, d.h. nach seiner Aufrichtigkeit und Unbeugsamkeit im Streben nach der Beförderung von Frömmigkeit, öffentlichem Wohl und Frieden für jedermann. Aber was soll in der Zwischenzeit geschehen? Ich antworte: Zuerst muß man für seine Seele sorgen, dann mit allen Kräften nach dem Frieden streben.52
Das sind düstere Aussichten für die Zwischenzeit, denn es ist gewiß riskant, den Überzeugungen der Menschen von der rechten Art der Gottesverehrung absoluten Rang einzuräumen. Hieraus können tiefgreifende Konflikte entstehen, denn so wenig Locke den Willen Gottes a priori bestimmen kann, so wenig kann er auch den Überzeugungen der Menschen vom Willen Gottes a priori eine Grenze setzen. Hier muß man auf alles Mögliche gefaßt sein, denn die staatlichen Gesetze könnten von jedermann unter Berufung auf sein Gewissen in Frage gestellt werden.53 Wenn Locke einen unlösbaren Konflikt nur dort für möglich hält, wo „die Untertanen“ (also nicht nur ein Einzelner) die religiöse Sphäre verletzt sehen und sich deshalb zum Widerstand verpflichtet glauben, so mag das für Lockes pragmatische Landsleute ein ausreichender Schutzwall gegen das Chaos gewesen sein, nicht aber für einen prinzipienstrengen Kantianer. So hat denn Julius Ebbinghaus in seiner Einleitung zur englischdeutschen Ausgabe des Toleranzbriefs mit Nachdruck die Ansicht vertreten, mit zwei unabhängigen Prinzipien des Wollens, die jederzeit miteinander in Konflikt kommen können, sei kein Staat zu machen, und aus diesem Grund hat er Lockes gesamte Theorie der Toleranz verworfen. Locke, sagt er, ist der groE 89 / K 130. Man könnte nicht ohne Plausibilität einwenden, das natürliche Gesetz verbiete doch die Tötung Unschuldiger und die Aneignung fremden Eigentums, aber das hilft nicht weiter. Denn obwohl Locke im siebten seiner frühen Essays on the Law of Nature die universale und ewige Gültigkeit des natürlichen Gesetzes bejaht, zwingt die Rücksicht auf die damals noch für sakrosankt erachtete biblische Geschichte ihn zu einem bemerkenswerten Zugeständnis. Auf das naheliegende Argument, der Bericht über den Exodus des Volkes Israel aus Ägypten beweise in Ex 12, 35, daß Gott bei dieser Gelegenheit das naturrechtliche Verbot des Diebstahls aufgehoben hat, um den Israeliten die Mitnahme der wertvollen Kultgefäße zu ermöglichen, die sie auf Anweisung ihres göttlich autorisierten Anführers Moses entliehen hatten, erwidert Locke: Gott hat damit nicht etwa das Recht der Ägypter an ihrem Eigentum verletzt und einen Diebstahl gutgeheißen, sondern vielmehr in seiner Eigenschaft als „supremus omnium rerum dominus“ das Eigentum der Ägypter auf die Israeliten übertragen. Wolfgang von Leyden, der verdiente Herausgeber dieser Essays, zeigt in den Anmerkungen zu der Stelle, daß Lockes Erwiderung in einer Tradition steht, die von Thomas von Aquino über Hugo Grotius zu den Naturrechtslehrern des späteren 17. Jahrhunderts reicht. Vgl. John Locke, Essays on the Law of Nature, Oxford 1954, 200–202. Lockes Erwiderung wirft aber auch die Frage auf, ob Gott nicht auch ein Menschenopfer befehlen kann, wenn er das Recht des Opfers auf sein Leben zuvor aufgehoben hat, denn schließlich steht das Leben des Menschen ebenso in Gottes Hand wie seine „bona fortunae“. Von Leyden geht darauf nicht ein, leider auch nicht Rainer Specht in seiner Studie John Lockes frühe Schrift über das Gesetz der Natur, in: Stefan Smid, Norbert Fehl (Hg.), Recht und Pluralismus. Hans-Martin Pawlowski zum 65. Geburtstag, Berlin 1996, 217–239. 52 53
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ße Wegbereiter der Toleranz als eines allgemeinen Menschenrechts nur der Absicht, nicht aber der Tat nach gewesen.54 Diese Kritik ist zwar in ihrer Radikalität überzogen, aber im Prinzip beachtlich, und es ist erstaunlich, daß sie in manchen neueren Studien zum Toleranzproblem bei Locke mit keinem Wort erwähnt wird.55 Es ist unleugbar, daß Lockes Zugeständnis an das individuelle Gewissen zu Konflikten führen kann, zumal er ausdrücklich sagt, daß im Gottesdienst nichts indifferent sei, sondern alles als gottgewollt geglaubt und ausgeführt werden muß, wenn es dem Seelenheil dienen soll. Das bezogen die damaligen Kirchen unter Verwischung des Unterschiedes zwischen der Hauptsache und den Nebenumständen des Gottesdienstes auch auf Äußerlichkeiten, wie das Gewand des Geistlichen bei sakralen Handlungen und die Haltung der Gläubigen im Gottesdienst, und stritten sich darüber, wie Locke nicht ohne einen Anflug von Ironie bemerkt.56 Man fragt sich wohl mit Recht, wie jemand zu der Überzeugung kommen kann, daß der Talar und nicht die Stola oder umgekehrt das gottgewollte Gewand des Geistlichen ist oder daß die Gläubigen das Abendmahl notwendig stehend oder aber knieend empfangen müssen. Bietet hier ein minutiöses Bibelstudium die Entscheidungshilfe oder bedarf es einer besonderen Erleuchtung durch den heiligen Geist? Auf letztere berief sich in Lockes Tagen mehr als ein Sektierer; doch wo hört die Erleuchtung auf, wo fängt die subjektive Willkür an? Die Auswirkungen des religiösen Subjektivismus hat Locke in der Zeit der Puritanerherrschaft zwischen 1649 und 1660 mißtrauisch beobachtet und skeptisch beurteilt. In einem Zusatzkapitel zum Essay concerning Human Understanding, das er 1695 in einem Brief skizzierte und das er in die vierte Auflage des Essay (1700) aufnahm, setzt er sich ausführlich unter der Bezeichnung ‘Enthusiasmus’ mit dem religiösen Subjektivismus auseinander und warnt vor Menschen, die ihre subjektiven Einbildungen für göttliche Eingebungen ausgeben.57 Möglicherweise hatte er in den Jahren seit dem Erscheinen des Toleranzbriefs erkannt, daß das von ihm für ausschlaggebend gehalte-
Ebbinghaus in der Einleitung zu seiner Ausgabe des Toleranzbriefs (wie Anm. 4), XLIV. Es verwundert nicht, daß seine deutsch-englische Studienausgabe im Ausland, wo man sie nicht benötigte, kaum zur Kenntnis genommen wurde. Nur John W. Gough hat sich in seiner Einleitung zur lateinisch-englischen Ausgabe (wie Anm. 4), 40–42, mit Ebbinghaus auseinandergesetzt und seine Kritik „trenchant (albeit sometimes rather captious)“ genannt. Daß Ebbinghaus die Überlegenheit der Lockeschen Schrift über die damalige Toleranzliteratur in England nicht anerkennt, bezeichnet Gough als „perverse“. Verwunderlich ist aber, daß Rainer Forst in seiner ausführlichen Würdigung des Lockeschen Toleranzbriefs (Forst, Toleranz [wie Anm. 1], 276–312) Ebbinghaus’ Ausgabe zwar benutzt, auf die darin vorgetragene Kritik an Locke aber gar nicht eingeht. 56 E 49 / K 92, E 65 / K 108. 57 John Locke, Essay concerning Human Understanding, Buch IV, Kap. 19. 54 55
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ne vierte Argument für Toleranz in Wirklichkeit die offene Flanke seiner Theorie darstellt. Soviel zu den sieben Pfeilern der Lockeschen Theorie der Toleranz. Ein paar Worte müssen noch zu den Grenzen gesagt werden, die Locke der Toleranz ziehen möchte. Diese betreffen nur praktische Lehren, d.h. solche, die sich auf das Handeln der Menschen auswirken. Hier sind vier Punkte zu nennen. – Lehren, die in Widerspruch zur menschlichen Gemeinschaft oder zu den guten Sitten stehen, sind nicht zu dulden. Locke nennt keine Beispiele, sondern sagt nur, daß wohl keine Sekte so verrückt sei, so etwas zu lehren.58 Vielleicht denkt er an den Anarchismus oder an die Befürwortung sexueller Freizügigkeit – auf jeden Fall ist klar, daß er nicht für allgemeines Laissezfaire eintrat. – Lehren, die ein besonderes Vorrecht über andere begründen, sind nicht zu dulden. Hier nennt Locke Beispiele, nämlich daß es keine Pflicht zu Treu und Glauben gegenüber Ketzern gebe oder daß Exkommunizierte ihren Anspruch auf den Thron verwirkten59 – Lehren, die so manchen das Leben gekostet und so manchen Staat in blutige Wirren gestürzt haben. – Kirchen, deren Gläubige kraft der Zugehörigkeit zu ihr Untertanen eines eines anderen Fürsten sind, können nicht geduldet werden. Als Beispiel nennt Locke die Mohammedaner, die über den Mufti von Konstantinopel dem osmanischen Sultan untertan seien.60 Damals wie heute sind sich alle darüber einig, daß er in Wirklichkeit die katholische Kirche meint, deren Oberhaupt, der Papst, damals noch über einen Kirchenstaat von politischem und militärischem Gewicht herrschte. Diese Ausschlußregelung entsprach zwar der antikatholischen Stimmung, die im 17. Jahrhundert in England herrschte, aber seit der Papst über keine Divisionen mehr verfügt, könnte sie, weil nur historisch bedingt, wegfallen. – Atheisten sind nicht zu dulden.61 Diese Ausnahme betrifft keine kirchliche, sondern eine philosophische Lehre. Obwohl Locke sicher sein konnte, daß die erdrückende Mehrheit im Land, Theologen und Philosophen eingeschlossen, dieser Ausschlußregelung zustimmte, ist sie höchst fragwürdig. Zu ihrer Begründung führt Locke an, daß der Atheismus alle gesellschaftlichen Bande auflöse, weil nur der Wille Gottes alle Normen verbindlich mache und ihnen Geltung auf Erden verschaffe. Diese theonome Auffassung von Recht und Moral, die in Lockes Empirismus und der damit verbundenen 58 59 60 61
E 91 / K 130. Ebd. E 93 / K 132. E 95 / K 134.
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Ablehnung apriorischer Normen wurzelt, war schon zu seiner Zeit nicht selbstverständlich, wie man an Hugo Grotius und Pierre Bayle sehen kann; heute wird sie nur noch von den wenigsten geteilt. Wenn Locke für den Ausschluß der Atheisten ferner geltend macht, daß diese sich für ihre Duldung auf keine Religion berufen können, so ist das zwar aus seiner Sicht konsequent, es macht aber auch die Grenzen seiner Theorie deutlich, der es nur um die religiöse Toleranz geht. Zum Schluß seien drei Fragen aufgeworfen und kurz beantwortet: – Was hat Locke mit seinem Toleranzbrief erreicht? Er selber sagt,62 und die Historiker stimmen ihm zu, daß er weniger erreicht hat, als er wollte. Er fordert nämlich Toleranz als Anerkennung des Rechts der Andersgläubigen. Der Einzelne, die Kirchen und der Staat müssen Andersgläubige akzeptieren, weil auch deren Überzeugung vom wahren Glauben und rechten Gottesdienst eine Dignität besitzt, die das Recht auf Duldung begründet. Das Toleranzgesetz Wilhelms III. von 168963 sah hingegen sehr viel weniger vor: Es setzte weiterhin den Primat der Staatskirche voraus und dispensierte lediglich die Mehrheit der protestantischen Sekten (nicht alle!) von den Sanktionen, die bis dahin diejenigen getroffen hatten, welche die Konformität mit der Kirche von England verweigerten, d.h. die nicht an deren Gottesdienst teilnehmen und insbesondere nicht das Abendmahl nach deren Ritus empfangen wollten. Das war Toleranz als widerwillige Zulassung eines Übels, also Toleranz der untersten Stufe. Allerdings hat Locke mit seiner weitergehenden Forderung, die bereits auf die Religionsfreiheit abzielte, das Tor zu einer echten Liberalisierung aufgestoßen, weshalb sein Toleranzbrief schon bald als zukunftsweisend angesehen wurde, in England ebenso wie auf dem Kontinent. Als z.B. Voltaire 1726 aus dem militant katholischen Frankreich nach England kam, war er von der dort herrschenden Freiheit begeistert und schrieb in seinen Lettres philosophiques: „Wenn es in England nur eine Religion gäbe, wäre Despotismus zu befürchten; wenn es deren zwei gäbe, würden sie sich gegenseitig die Kehle durchschneiden; es gibt jedoch deren dreißig, und so leben sie in Frieden und Glück“.64
62 Vgl. Lockes Brief an Limborch vom 6. Juni 1689, in: Locke, The Correspondence (wie Anm. 8), Bd. 3, 633 f. 63 Der Gesetzestext ist als Faksimile enthalten in: Grell, Israel, Tyacke (Hg.), From Persecution to Toleration (wie Anm. 6). Vgl. auch den Beitrag von Jonathan I. Israel, William III and Toleration, ebd., 129–170. 64 Voltaire, Lettres philosophiques ou lettres Anglaises, ed. Raymond Naves, Paris 1956, 29.
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– Gibt Lockes Schrift ein brauchbares Muster für eine moderne Theorie der Toleranz ab? Hier fällt die Antwort zurückhaltend aus. Denn abgesehen von dem ungelösten Problem, wie das von ihm für absolut gehaltene Recht des einzelnen Gewissens mit dem Recht des Staates zu vereinbaren ist, müssen Lockes gesamte Perspektive auf das Toleranzproblem heute als zu eng und manche seiner Argumente als zu zeitgebunden gelten, als daß sie unverändert rezipiert werden könnten. Heute geht es ja nicht mehr bloß um religiöse Toleranz, wenngleich auch diese gegenwärtig wieder zum Problem zu werden scheint. Heute geht es um viel mehr, um Toleranz gegenüber Menschen anderer Rasse und Hautfarbe oder anderer sexueller Orientierung, um Toleranz gegenüber Menschen mit einer Behinderung oder einer unbürgerlichen Lebensweise. Hier reichen Lockes Argumente nicht mehr aus, ein ganz neuer Ansatz ist erforderlich. – Sollen wir Lockes Toleranzbrief heute noch studieren? Die Antwort kann nur ein klares Ja sein, denn wir dürfen diesen Text als einen philosophischen Klassiker betrachten, der ein relevantes Problem erhellend und nachvollziehbar diskutiert, so daß wir über seinen Argumentationserfolg urteilen können. Er enthält neben einigen inzwischen überholten Prämissen und Thesen bleibende Einsichten, vor allem diese: Kein Staat darf den Menschen ein Glaubensbekenntnis vorschreiben. Dieses Ergebnis können wir aufnehmen und in eine neue Konzeption einfügen. Die fragwürdigen Thesen des Toleranzbriefs brauchen wir weder zu verschweigen noch schönzureden. Denn wo Locke Unrecht hat, können wir von ihm lernen, welche Fehler es zu vermeiden gilt. Daß er gelegentlich Unrecht hat, tut seiner Größe keinen Abbruch. Ein bedeutender Philosoph muß nicht immer Recht haben, er wird auch nicht immer Recht haben, denn er ist auch ein fehlbarer Mensch. Aber er muß die gute Sache, um die es ihm geht, durch die Klarheit seiner Gedanken und die Durchsichtigkeit seiner Sprache voranbringen. Das hat Locke im Toleranzbrief getan, und dafür verdient er heute noch Aufmerksamkeit und Respekt. Der Autor stellt zunächst kurz die früheren Phasen der Lockeschen Toleranztheorie vor und konzentriert sich dann auf deren endgültige Version im Toleranzbrief von 1689, wobei er drei allgemeine und vier spezielle Prämissen, die Lockes Theorie der Toleranz zugrunde liegen, einer näheren Prüfung unterzieht. Zum Abschluß skizziert er eine Antwort auf drei Fragen: 1) Was hat Locke mit seinen Bemühungen erreicht? 2) In welchem Umfang kann seine Lösung in aktuellen Diskussionen des Problems hilfreich sein? 3) Sollten wir seinen Toleranzbrief heute noch studieren?
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The author first gives an outline of the earlier stages of Locke’s theory of toleration, then focusses on its final version in the Epistola de Tolerantia of 1689, elaborating and examing three general and four specific premisses on which it is based. Finally, he sketches an answer to three questions, viz. 1) What did Locke achieve by his efforts? 2) To what extent can his solution be helpful in present-day discussions of the problem? 3) Should we still study his Epistola de Tolerantia? Prof. Dr. Günter Gawlick, Am Graffloh 6, 58452 Witten
J ÜRGEN S PRUT E Die Legitimität politischer Herrschaft bei John Locke
Fragt man nach den Bedingungen der Legitimität politischer Herrschaft, könnte man bei einem Vertreter der staatsphilosophischen Vertragstheorie vielleicht erwarten, daß aus seiner Sicht die Legitimität auf einer vorausgesetzten freiwilligen Vereinbarung oder Zustimmung derjenigen beruht, die der politischen Herrschaft unterworfen sind. Der Begriff des Sozialkontrakts selbst scheint eine solche Erwartung zu rechtfertigen; denn die Redeweise von einem ursprünglichen freiwilligen Vertrag, den die Menschen in einem vorstaatlichen Zustand zum Zweck ihres Zusammenschlusses zu einer politischen Gemeinschaft miteinander geschlossen haben, läßt sich kaum als Beschreibung eines historischen Faktums verstehen, sondern wird gewöhnlich als metaphorischer Ausdruck verstanden, der den Gedanken der freiwilligen Vereinbarkeit und Akzeptanz der Regierung seitens der Regierten vermittelt. Die Konzeption des Sozialkontrakts geht in den entsprechenden Theorien mit der Auffassung einher, daß die Menschen als frei und gleich zu betrachten sind und ein Interesse daran haben, u.a. den Zustand der Freiheit und Gleichheit in ihrem Leben realisiert zu sehen. Politische Herrschaft scheint dann gerechtfertigt zu sein, wenn die Art, wie die Regierung organisiert ist, von den Regierten grundsätzlich so gewollt und das Selbstbestimmungsrecht der Menschen nicht in Frage gestellt wird; denn gemäß dem Rechtsprinzip ‘Volenti non fit iniuria’ dürfte gegen eine freiwillig vereinbarte oder akzeptierte Regierung – so könnte man meinen – nichts einzuwenden sein und deren Legitimität damit auf sicherem Fundament ruhen. Aus einer solchen Perspektive scheint sich eine Theorie der Legitimität abzuzeichnen, die ohne metaphysische oder theologische Grundlagen auskommt und sich neben den natürlichen Bedürfnissen der Menschen bloß auf die Möglichkeit der eigenen Entscheidung und vernünftigen Interessenwahrnehmung stützt. So fortschrittlich das skizzierte Legitimitätskonzept auch anmuten mag – eine metaphysikfreie Grundlage der Legitimität hielt Locke anscheinend nicht für möglich. Zwar spielen die Begriffe der natürlichen Freiheit und Gleichheit der Menschen sowie des Sozialvertrags im Second Treatise of Go-
Aufklärung 18 · © Felix Meiner Verlag 2006 · ISSN 0178-7128
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vernment eine bedeutende Rolle, aber nichtsdestoweniger finden sich dort wie selbstverständlich ausführliche Rückgriffe Lockes auf das Naturrecht und den Begriff eines diesem Recht unterliegenden Naturzustandes. Außerdem setzt Locke das in der Bibel geoffenbarte Gesetz Gottes als allgemeinverbindlich voraus. Für die Frage nach den Bedingungen der Legitimität politischer Herrschaft gilt es im übrigen, Lockes Ansicht zu beachten, daß staatliche Gesetze nur insofern gerecht sind, „als sie auf dem Gesetz der Natur beruhen, nach dem sie zu ordnen und auszulegen sind“.1 Es erscheint daher empfehlenswert, sich im Hinblick auf das Legitimitätsproblem zunächst einmal darüber klar zu werden, was Locke unter dem ‘Naturgesetz’ versteht und wie er sich eine allgemeine Orientierung des positiven Staatsrechts am Naturgesetz vorgestellt hat.
I. Der Naturzustand Locke behauptet im Second Treatise nachdrücklich, daß die Menschen sich in der Anfangszeit ihrer Entwicklungsgeschichte in einem Naturzustand (state of nature) befanden.2 Der eigentliche Naturzustand ist für Locke ein Zustand, in dem die Menschen nach der Vernunft zusammenlebten, „ohne auf Erden einen gemeinsamen Oberherrn über sich zu haben mit der Macht, zwischen ihnen zu richten“.3 Dieses Defizit, der Mangel positiver Gesetze und das Fehlen einer institutionellen Gerichtsbarkeit,4 erweist sich nach Locke, wenn nicht gleich zu Anfang, dann jedoch recht bald, als unerträglicher Nachteil, der ein friedliches Leben der Menschen miteinander auf Dauer unmöglich macht.5 Wie ein friedliches Zusammenleben im Naturzustand – soweit es das dort gab – organisiert war, dazu erfährt man von Locke wenig. Offenbar fand es in Familien statt.6 Die Beziehung der Menschen in und zwischen den Familien unterlag der Regelung durch das Naturrecht, von Locke meistens ‘law of nature’ oder ‘natural law’ genannt. Daß Locke ein Zusammenleben der Menschen im Naturzustand John Locke, Two Treatises of Government, A Critical Edition with an Introduction and Apparatus Criticus by Peter Laslett, Book II: The Second Treatise of Government: An Essay concerning the True Original, Extent, and End of Civil Government, Cambridge 11960 (Nachdruck 1970), Kap. II, § 12, Z. 16–19. Die Übersetzung des englischen Textes folgt in der Regel John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, übersetzt von Hans Jörn Hoffmann, hg. und eingel. von Walter Euchner, Frankfurt am Main 1989. 2 Vgl. Locke, Second Treatise (wie Anm. 1), Kap. VIII, § 101, Z. 6–11. 3 Ebd., Kap. III, § 19, Z. 6–8. 4 Vgl. ebd., Kap. III, § 20, Z. 5–7. 5 Vgl. ebd., Kap. IX, § 123, Z. 4–12; § 127, Z. 1–9. 6 Vgl. ebd., Kap. VI, § 76, Z. 1 f.; Kap. VIII, §107, Z. 1–6. 1
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in einer natürlichen, vom Naturrecht regulierten Gesellschaft grundsätzlich für möglich gehalten hat, läßt sich u.a. daraus entnehmen, daß er den Naturzustand im Gegensatz zum Kriegszustand als „einen Zustand des Friedens, des Wohlwollens, der gegenseitigen Hilfe und Erhaltung“ nennt.7 Zu dieser optimistischen Einschätzung glaubt sich Locke wohl berechtigt, da es zu Anfang der Entwicklungsgeschichte der Menschheit längst nicht so viele Konflikte unter den Menschen gegeben hat wie später, als die Zahl der Menschen auf Erden erheblich zugenommen hatte. Jedenfalls scheint dies aus Äußerungen Lockes hervorzugehen, die er an einer Stelle macht, welche sich auf die Frühzeit des staatlichen Zustands bezieht, die aber aus den gleichen Gründen auch vom Naturzustand gelten müßten. Danach beschränkten sich die Wünsche der damaligen Menschen wegen ihrer einfachen und ärmlichen Lebensweise auf ihre kleinen Besitztümer und boten nur wenige Anlässe zu Streitigkeiten.8 Man muß wohl annehmen, daß es für Locke die äußeren Umstände waren, die es zu Anfang des Naturzustandes den Menschen leichter machten, nach den Gesetzen der Vernunft zusammenzuleben. Später, als sich diese Umstände mit der Entwicklung der Menschheit änderten, fiel das den Menschen offenbar schwerer, einerseits weil die Versuchungen größer geworden waren,9 andererseits sicherlich auch wegen der zunehmenden Komplexität von Handlungssituationen, in denen die subjektiven Entscheidungen – da sie positiv rechtlich nicht abzusichern waren – Mißbilligung und Widerstand bei anderen Menschen fanden, welche die sich ergebenden Konflikte aus ihrer jeweiligen Sicht unterschiedlich beurteilten. Es gab daher, abgesehen allenfalls von der Anfangszeit, immer wieder Streit unter den Menschen im Naturzustand, und es brachen dort in zunehmendem Maße Kriegszustände aus.10 Den Kriegszustand beschreibt Locke als „Zustand der Feindschaft und Vernichtung“.11 Es ist ein Zustand zwischen zwei oder mehreren Menschen wie auch ganzer Völker. Der Kriegszustand besteht nicht nur bei tatsächlich vollzogenen zerstörerischen Handlungen, sondern schon bei der erklärten Absicht dazu. Insgesamt betrachtet, ist der Naturzustand nach Locke ein für die Menschen sehr unerquicklicher und gefährlicher Zustand,12 dessen Mängel sich aus dem Fehlen politischer Herrschaft und dem Nichtvorhandensein eines staatlich institutionalisierten Rechtswesens ergeben.13 Ebd., Kap. III, § 19, Z. 3 f. Vgl. ebd., Kap. VIII, § 107, Z. 28–31. 9 Beispielsweise nach der Erfindung des Geldes. Mit Bezug auf eine allerdings spätere Zeit spricht Locke von „amor sceleratus habendi“ (ebd., Kap. VIII, § 111, Z. 1–3). 10 Vgl. ebd., u.a. Kap. III, § 20, Z. 5–11. 11 Ebd., Kap. III, § 16, Z. 1. 12 Vgl. ebd., Kap. IX, § 123, Z. 1–12. 13 Vgl. ebd., Kap. IX, § 127, Z. 1–9. 7 8
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Nun könnte man daran zweifeln, daß es unter Menschen auf einer gewissen Zivilisations- und Kulturstufe jemals ein Zeitalter gegeben hat, in dem grundsätzlich noch keine politische Ordnung etabliert war, in dem die Menschen zwar in Familien zusammenlebten, natürliche Rechte und Pflichten sowie Eigentum kannten,14 u.a. auch Verträge abschließen konnten,15 der Staat und politische Herrschaftsformen jedoch noch nicht erfunden waren. Anders ausgedrückt, es erhebt sich die Frage, ob der sogenannte Naturzustand als Inbegriff eines solchen Zeitalters überhaupt als geschichtlicher Zeitabschnitt verstanden werden kann. Locke selbst waren Zweifel an der Geschichtlichkeit des Naturzustands nicht unbekannt.16 Er hält es jedoch nicht für verwunderlich, daß es kaum historische Berichte über Menschen gibt, die im Naturzustand zusammengelebt haben,17 da Schriftzeugnisse aus der vorstaatlichen Zeit eines Volkes nur selten vorkommen.18 Locke glaubt aber, daß Berichte, die wir über das Aufkommen von Verfassungen in der Welt haben, entweder „klare Beispiele“ oder zumindest „deutliche Spuren“ eines solchen Anfangs aus dem Naturzustand zeigen.19 Und er weist auf Beispiele aus der Geschichte hin, die seiner Meinung nach die These von der Geschichtlichkeit des Naturzustands bestätigen. Dazu gehören „die Anfänge von Rom und Venedig“,20 die in politischer Hinsicht anarchischen Verhältnisse „in vielen Teilen Amerikas“21 sowie der Fall einer bestimmten Regierungsbildung in der Antike.22 Wie auch immer diese Vorkommnisse zu beurteilen sind, Locke war überzeugt, er habe „aus der Geschichte verschiedene Beispiele für freie und im Naturzustand lebende Völker angeführt, die sich nach erfolgter Vereinigung zu einem Körper verbanden und einen Staat gründeten“.23 Damit wird die Geschichtlichkeit des Naturzustandes zwar fest behauptet,24 aber wie sich das Zusammenleben der Menschen auf einer bereits entwickelten Zivilisations- und Kulturstufe ohne staatliche Organisation eigentlich vollzogen hat, ist keine Frage, der Locke viel Aufmerksamkeit gewidmet hat. Dies erscheint auch nicht verwunderlich, da Lockes Interesse am Begriff des Naturzustands normativen Reflexionen über eine Staatsform entsprungen ist, 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
Vgl. ebd., Kap. V, § 50, Z. 1–16. Vgl. ebd., Kap. II, § 14, Z. 11 f. Vgl. ebd., Kap. VIII, §§ 100 f. Vgl. ebd., Kap. VIII, § 101, Z. 1–3. Vgl. ebd., Kap. VIII, § 101, Z. 11–16. Ebd., Kap. VIII, § 101, Z. 20–25. Ebd., Kap. VIII, § 102, Z. 3–6. Ebd., Kap. VIII, § 102, Z. 6–13. Vgl. ebd., Kap. VIII, § 103, Z. 1–4. Ebd., Kap. VIII, § 103, Z. 4–7. Vgl. ebd., Kap. V, § 49, Z. 1.
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die der Natur des Menschen, wie er sie sah, angemessen sein sollte. Der Begriff des Naturzustands hat bei Locke neben der historischen denn auch eine theoretische Bedeutung. In theoretischer Hinsicht dient die Konzeption des Naturzustands als Modell, an dem die Notwendigkeit der Existenz des Staates sowie die notwendige Form der Verfassung und die erforderliche moralische Qualität des Staatswesens erklärt werden können. Theoretisch gesehen, ist der Naturzustand „ein Zustand vollkommener Freiheit [der Menschen], innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur ihre Handlungen zu regeln und über ihren Besitz und ihre Persönlichkeit so zu verfügen, wie es ihnen am besten scheint, ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein“.25 Er ist desgleichen „ein Zustand der Gleichheit, in dem alle Macht und Rechtsprechung wechselseitig sind, da niemand mehr [davon] besitzt als ein anderer“.26 Während das Fehlen einer organisierten unparteiischen Berufungsinstanz – an die sich die Menschen zur Schlichtung von Streitfällen wenden können27 und deren Fehlen mit dem Mangel eines gemeinsamen Oberherrn einhergeht28 – formal den Naturzustand vom staatlichen Zustand unterscheidet, ist mit der Zuschreibung von Freiheit und Gleichheit als natürlicher Qualitäten für alle Menschen nach Locke auch die Zuschreibung entsprechender natürlicher Rechte verbunden. Der Mensch hat grundsätzlich von Geburt an „einen Rechtsanspruch auf vollkommene Freiheit und uneingeschränkten Genuß aller Rechte und Privilegien des natürlichen Gesetzes in Gleichheit mit jedem anderen Menschen oder jeder Anzahl von Menschen auf dieser Welt“.29 Der Anspruch des Menschen auf Freiheit ist bei Locke um so gewichtiger, als der Freiheitsanspruch von ihm zu einem Anspruch auf die Erfüllung eines natürlichen Rechts gemacht worden ist. Der Naturzustand ist zwar ein Zustand der Freiheit, aber kein „Zustand der Zügellosigkeit“.30 Denn im Naturzustand gilt nach Locke das Naturgesetz, d.i. das Naturrecht. Die Menschen sind verpflichtet, das Naturgesetz zu befolgen und Verstöße gegen das Naturgesetz zu ahnden. Locke meint, die Vollstreckung des Naturgesetzes sei dort „in jedermanns Hände gelegt“.31 Von Natur ist jedermann verantwortlich für die Durchsetzung des natürlichen Rechts.
25 26 27 28 29 30 31
Ebd., Kap. II, § 4, Z. 3–6. Ebd., Kap. II, § 4, Z. 7 f. Vgl. ebd., Kap. II, § 13, Z. 10–14; Kap. III, § 20, Z. 5–7. Vgl. ebd., Kap. III, § 19, Z. 6–8. Ebd., Kap. VII, § 87, Z. 1–4. Ebd., Kap. II, § 6, Z. 1 f. Ebd., Kap. II, § 7, Z. 4–5.
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Der Naturzustand war an zweiter Stelle von Locke als „Zustand der Gleichheit“ bestimmt worden.32 Unter ‘Gleichheit’ versteht Locke die „Gleichheit aller Menschen in Hinsicht auf die Rechtsprechung und die Herrschaft des einen über den anderen“.33 Unter diesem Aspekt war der Naturzustand zu Anfang charakterisiert worden als ein Zustand, „in dem alle Macht und Rechtsprechung wechselseitig sind“, wobei niemand sie in höherem Maße besitzt als ein anderer.34 Es ist ein Zustand, in dem es keine im vorhinein geregelte „Unterordnung und Unterwerfung“35 des einen Menschen unter einen anderen gibt, so daß dort niemand ein ihm verliehenes Recht auf Herrschaft und Souveränität über andere hat.36 Der Zustand der Gleichheit wird von Locke vorwiegend negativ beschrieben,37 weil es im Naturzustand ja keine politische Organisation gibt, deren Funktionsstellen einzunehmen die Menschen gleichberechtigt sein könnten. Die einzige positive Bestimmung der Gleichheit ist die Wechselseitigkeit aller Macht und Rechtsprechung.38 Das hat seinen Grund in der uneingeschränkten Geltung des Naturgesetzes im Naturzustand. Wenn es grundsätzlich kein institutionell organisiertes Rechtswesen mit Sanktionsgewalt gibt, das Naturgesetz aber dennoch von den Menschen strikt befolgt werden soll, dann müssen die einzelnen Menschen selbst das Recht haben, dem Naturgesetz Respekt zu verschaffen, d.i. Verstöße gegen das Naturgesetz zu ahnden,39 von wem und wo auch immer sie begangen werden. Lockes These von der natürlichen Freiheit der Menschen ergibt sich aus seiner These von der natürlichen Gleichheit. Wenn die Menschen im Naturzustand gleich sind, d.h. wenn es im Naturzustand keine von Natur festgelegte Herrschaftshierarchie unter den Menschen gibt und niemand ein natürliches Herrschaftsrecht über den anderen hat, dann brauchen die Menschen bei ihren Absichten, etwas Bestimmtes zu tun, im Naturzustand niemanden um Erlaubnis zu fragen. Sie sind bei ihrem Handeln nicht vom Willen eines anderen Menschen abhängig,40 d.h. sie sind in dem von Locke beschriebenen Sinne frei, innerhalb der Grenzen des Naturgesetzes41 nach eigenem Gutdünken zu handeln, wobei die Motivation zum Handeln ausschließlich im Streben nach dem per-
32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Vgl. Anm. 26. Locke, Second Treatise (wie Anm. 1), Kap. VI, § 54, Z. 7–9. Ebd., Kap. II, § 4, Z. 7 f. Ebd., Kap. II, § 4, Z. 12. Vgl. ebd., Kap. II, § 4, Z. 15 f. Vgl. ebd., Kap. II, § 4, Z. 12–16. Vgl. ebd., Kap. II, § 4, Z. 7 f. Vgl. ebd., Kap. II, § 7, Z. 10–15. Vgl. ebd., Kap. II, § 4, Z. 5 f. Vgl. ebd., Kap. II, § 4, Z. 5.
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sönlichen Vorteil besteht. Mit der natürlichen Gleichheit der Menschen läßt sich somit deren Freiheit im Naturzustand begründen. Zur Begründung der These von der natürlichen Gleichheit greift Locke indessen auf Lehren des Christentums zurück. „Nichts“ – meint Locke – „ist einleuchtender, als daß Geschöpfe von gleicher Gattung und von gleichem Rang, die ohne Unterschied zum Genuß derselben Fähigkeiten geboren sind, ohne Unterordnung und Unterwerfung einander gleichgestellt leben sollten, es sei denn, ihr Herr und Meister würde durch eine deutliche Willensäußerung den einen über den anderen stellen und ihm durch eine überzeugende klare Ernennung ein unzweifelhaftes Recht auf Herrschaft und Souveränität verleihen“.42 Das hat Gott aber offensichtlich nicht getan. Mit diesem Argument scheint die Gleichheitsthese für Locke gesichert zu sein. Offenbar hat Locke dabei als selbstverständlich vorausgesetzt, daß die Menschen Gottes Geschöpfe sind und Gott das vollkommene Wesen ist, das alles auf vollkommene Weise geschaffen und geordnet hat, auch wenn dies den Menschen nicht immer so zu sein scheint. In dem Zustand der natürlichen Freiheit und Gleichheit, d.i. im Naturzustand, befinden sich nach Locke alle Menschen von Natur aus und bleiben darin so lange, „bis sie sich selbst auf Grund ihrer eigenen Zustimmung zu Gliedern einer politischen Gesellschaft [d.h. eines Staates] machen“.43
II. Das Naturgesetz Im Naturzustand unterliegen die Menschen dem Naturgesetz (law of nature). Der Ausdruck dient Locke im Second Treatise of Government zur Bezeichnung eines stark metaphysisch anmutenden Naturrechts. Wie sich Lockes Auffassung des Naturrechts hier zu seiner Einstellung im Essay concerning Human Understanding oder in anderen Schriften verhält, kann an dieser Stelle nicht erörtert werden.44 Wenn im folgenden vom Naturgesetz oder Naturrecht die Rede ist, handelt es sich stets um die Auffassung des Naturrechts, wie sie im Second Treatise of Government erscheint. Locke betont, daß das Naturgesetz jeden Menschen verpflichtet.45 Die natürlichen Pflichten sind Ausdruck des Naturgesetzes. Sie haben die Aufgabe, das Ebd., Kap. II, § 4, Z. 8–16. Ebd., Kap. II, § 15, Z. 13–15. 44 Vgl. dazu u.a. Peter Laslett, Introduction, in: Locke, Two Treatises (wie Anm. 1), 80–83; Walter Euchner, Naturrecht und Politik bei John Locke, Frankfurt am Main 1969, 7–14; John Dunn, Locke, Oxford 1984, 28–30. 45 Vgl. Locke, Second Treatise (wie Anm. 1), Kap. II, § 6, Z. 6 f. 42 43
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Handeln des Menschen zu leiten, so daß, theoretisch gesehen, durch ein pflichtgemäßes Verhalten ein friedliches, der jeweils eigenen Bedürfnisbefriedigung und Entfaltung förderliches Zusammenleben mit anderen möglich wird. Das Naturgesetz ist von Locke als „ewige Regel für alle Menschen“ verstanden worden.46 Es erfordert keine schriftliche Fixierung, sondern findet sich „in den Seelen der Menschen“47 und ist den Menschen von Natur aus kraft ihrer Vernunft bewußt. Daß es ein solches natürliches Gesetz überhaupt gibt, hält Locke für völlig sicher.48 Locke meint, das Naturgesetz sei für vernunftbegabte Wesen und für jemanden, der über diese Gesetz einmal nachgedacht habe, ebenso verständlich und klar wie die positiven Gesetze der Staaten, ja vielleicht noch klarer.49 Die Vernunft kann den Menschen in diesem Gesetz, das zu seiner Leitung bestimmt ist, auch unterweisen.50 Das Gesetz betrachtet Locke als von Gott gegeben. Neben dem mit der Vernunft erfaßbaren natürlichen Gesetz ist das in der Heiligen Schrift geoffenbarte göttliche Gesetz für Locke nicht weniger wichtig. Welche Normen im einzelnen genau zum Regelsystem des nach Locke rational erfaßbaren Naturgesetzes gehören, ist von Locke nicht ausgeführt worden. Es werden lediglich einige grundlegende Regeln genannt, die offenbar wichtige, durch das Naturgesetz gebotene Pflichten zur Sprache bringen. So redet Locke an einer Stelle von dem fundamentalen Gesetz der Natur, das „verlangt, daß die Menschheit so weit wie möglich erhalten werden soll“.51 An einer anderen Stelle wird deutlich, daß die Pflicht zur Selbsterhaltung nicht nur in das genannte Gesetz mit eingeschlossen ist, sondern gegenüber dem Gebot, möglichst weitgehend die Menschheit zu erhalten, sogar Vorrang hat. „Wie ein jeder verpflichtet ist, sich selbst zu erhalten, [...] so sollte er [...], wenn seine eigene Selbsterhaltung nicht dabei auf dem Spiele steht, nach Möglichkeit auch die übrige Menschheit erhalten“, erklärt Locke.52 Die Selbsterhaltung und danach die Erhaltung möglichst der gesamten Menschheit sind die beiden grundlegenden Normen des Naturgesetzes. Daneben werden von Locke gelegentlich auch einzelne Pflichten genannt, wie beispielsweise das Verbot des Selbstmords und der Vernichtung oder der Schädigung anderer an Leib, Leben, Freiheit und Besitz.53 Locke hält es jedoch nicht für zweckmäßig, zur Klärung grundlegender theoretischer Fragen „auf die Einzelheiten des Gesetzes der Na46 47 48 49 50 51 52 53
Ebd., Kap. XI, § 135, Z. 26 f. Ebd., Kap. XI, § 136, Z. 5 f. Vgl. ebd., Kap. II, § 12, Z. 10 f. Vgl. ebd., Kap. II, § 12, Z. 11–13. Vgl. ebd., Kap. VI, § 63, Z. 2 f. Ebd., Kap. III, § 16, Z. 9 f. Ebd., Kap. II, § 6, Z. 19–22. Vgl. ebd., z.B., Kap. II, § 6, Z. 3 f., 10–14.
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tur“ einzugehen.54 Die Vernunft erscheint im Second Treatise wie ein Organ der direkten Einsicht in normative Zusammenhänge.55 Gelegentlich wird die Vernunft von Locke sogar als Naturgesetz selbst apostrophiert.56 „Als gemeinsame Regel und Richtschnur“ ist sie der Menschheit von Gott gegeben worden.57 Von dieser richtigen Regel der Vernunft abzuweichen, läuft auf eine Entartung der menschlichen Natur hinaus.58 Die Menschen haben nach Locke jedoch nicht nur natürliche Pflichten, derer sie sich, auf welche Weise auch immer, kraft ihrer Vernunft bewußt sind, sondern ebenfalls natürliche Rechte. Auch über ihre natürlichen Rechte sind sich die Menschen auf Grund von Vernunfteinsichten klar. Zu den Vernunfteinsichten muß auch die Erkenntnis gehören, daß die Menschen „von Natur aus alle frei, gleich und unabhängig sind“.59 Diese Prädikate erschöpfen sich jedoch nicht in ihrer deskriptiven Funktion, sondern drücken zugleich einen natürlichen Rechtsanspruch auf die bezeichneten Zustände aus.60 Bezüglich des Naturgesetzes entspricht der Pflicht zur Selbsterhaltung ein Recht zur Selbsterhaltung, der Pflicht zur Erhaltung der ganzen Menschheit ein Recht zur Erhaltung der ganzen Menschheit.61 Der Selbsterhaltung dient auch das Recht, „Krieg gegen einen Angreifer zu führen“, wo – wie im Naturzustand – keine staatlich organisierte Hilfsmöglichkeit dagegen in Anspruch genommen werden kann. „Gewalt oder die erklärte Absicht, gegen einen anderen Gewalt anzuwenden“, gibt dem Bedrohten in einem derartigen Fall ein natürliches Recht zur Gegenwehr auch bei Konflikten in privaten Beziehungen.62 In Hinblick auf die Selbsterhaltung ist auch das Freiheitsrecht von großer Bedeutung. Die persönliche Freiheit hat Locke als Schutzzaun der eigenen Erhaltung charakterisiert.63 Er bewertet die Freiheit, die im Naturzustand jedermann zukommt, so hoch, daß er sie als „Grundlage alles übrigen“ auszeichnet.64 Die Bedrohung der Freiheit eines anderen mit absoluter Gewalt muß als Erklärung eines Anschlags auf dessen Leben aufgefaßt werden,65 da man Grund hat zu vermuten, daß derjenige, der jemanden in seine Gewalt zu brin-
54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65
Ebd., Kap. II, § 12, Z. 8–10. Vgl. dazu Laslett, Introduction (wie Anm. 44), 93– 95. Vgl. Locke, Second Treatise (wie Anm. 1), Kap. II, § 6, Z. 7. Ebd., Kap. II, § 11, Z. 22 f. Vgl. ebd., Kap. II, § 10, Z. 2–4. Ebd., Kap. VIII, § 95, Z. 1 f. Vgl. ebd., Kap. VII, § 87, Z. 1–4. Vgl. ebd., Kap. II, § 11, Z. 13, 15 und § 6, Z. 19, 21 f. Vgl. ebd., Kap. III, § 19, Z. 8–13. Vgl. ebd., Kap. III, § 17, Z. 12. Ebd., Kap. III, § 17, Z. 17. Vgl. ebd., Kap. III, § 17, Z. 1–4.
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gen versucht, mit ihm nach Belieben verfahren würde, wenn der Betreffende erst einmal unter seiner Botmäßigkeit stände, wobei die Vernichtung des anderen nicht ausgeschlossen ist.66 Daher gibt die Gefahr der Aufhebung der persönlichen Freiheit dem von Sklaverei Bedrohten nach Locke ein natürliches Recht, das zu vernichten, was ihm selbst letztlich mit Vernichtung droht.67 Rechte, deren Ausübung für das Leben im Naturzustand besonders wichtige Folgen haben, sind das Recht auf Wiedergutmachung erlittener Schäden durch Verstöße gegen das Naturgesetz und ein allen gemeinsames Recht auf Bestrafung jeden Täters, der sich gegen das Naturgesetz vergangen hat. Ein Recht auf Wiedergutmachung hat im gegebenen Fall nur der Geschädigte, aber „jeder andere, der es für richtig hält, kann sich mit dem Geschädigten verbinden und ihm helfen“, den Schaden vom Übeltäter oder aus dessen Mitteln reguliert zu bekommen.68 Demgegenüber kommt das Recht auf Bestrafung von Übertretungen des Naturgesetzes jedermann zu, denn das Naturgesetz wäre – wie Locke betont – wirkungslos, „wenn im Naturzustand niemand die Macht hätte, dieses Gesetz zu vollstrecken“.69 Von Natur aus ist aber niemand für eine solche Aufgabe ausgezeichnet, da die Menschen im Naturzustand alle gleich sind. Daher ist die Vollstreckung des Naturgesetzes in jenem Zustand in jedermanns Hände gelegt.70 Auch auf Grund seines Rechtes, die Menschheit im allgemeinen zu schützen, darf jeder dem Übeltäter, der das Naturgesetz übertreten hat, „so viel Schaden zufügen, wie es notwendig ist, ihn seine Tat bereuen zu lassen, um dadurch ihn und durch sein Beispiel andere davon abzuhalten, ein gleiches Unrecht zu begehen“.71 Spezialprävention und Generalprävention sind die einzigen Kriterien für die Höhe der Strafzumessung zum Zweck von Frieden und Sicherheit unter den Menschen im Naturzustand.
III. Vom Naturzustand zur politisch verfaßten Gesellschaft Unter den von Locke gemachten Voraussetzungen läßt sich nicht übersehen, daß der Naturzustand für die hypothetisch darin lebenden Menschen erhebliche Nachteile mit sich bringt.72 Wenn jedermann das Recht hat, das Naturgesetz zu vollstrecken, kommt es durch die Parteilichkeit, Leidenschaft und den Egoismus der Menschen mit Sicherheit zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und 66 67 68 69 70 71 72
Vgl. ebd., Kap. III, § 17, Z. 4–7. Vgl. ebd., Kap. III, § 16, Z. 7–9. Vgl. ebd., Kap. II, § 10, Z. 4–12. Ebd., Kap. II, § 7, Z. 7–9. Vgl. ebd., Kap. II, § 7, Z. 4 f. Ebd., Kap. II, § 8, Z. 16–22. Vgl. ebd., Kap. II, § 13, Z. 10 f.
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Ungerechtigkeiten bei der Rechtspflege.73 Schon der Umstand, daß die Menschen Richter in eigener Sache sein müssen, läßt Entscheidungen immer wieder einseitig und ungerecht ausfallen, so daß sie von ihren Kontrahenten nicht akzeptiert werden und zu neuen Auseinandersetzungen führen.74 Außerdem reicht die Macht bestimmter Personen oder Gruppen von Personen im Naturzustand oft nicht aus, selbst „dem gerechten Urteil einen Rückhalt zu geben, es zu unterstützen und ihm die gebührende Vollstreckung zu sichern“. Bereits der Versuch dazu ist häufig gefährlich und verderblich.75 Statt der Sicherung des Eigentums, „der Erhaltung von Leben, Freiheit und Besitz“76 kann es im Naturzustand nur „Verwirrung und Unordnung“ geben.77 Wegen dieser Unzuträglichkeiten sind die Menschen im Naturzustand „in einer schlechten Lage“ und werden deshalb nach Locke „schnell zur Gesellschaft gezwungen“.78 Die Gesellschaft, um die es sich in diesem Zusammenhang handelt, ist die ‘bürgerliche Gesellschaft’ (civil society), da Locke in seiner Staatstheorie einen Staat entwickelt, in dem die Staatsbürger den maßgeblichen politischen Einfluß haben müssen. Der Naturzustand ist ein von Locke konstruiertes Modell, an dem sich zeigen lassen soll, weshalb ein Staat notwendig ist und wie ein legitimer Staat beschaffen sein müßte. Da die Konzeption des Naturzustands eine Reihe normativer Voraussetzungen enthält, kann Locke im einzelnen beschreiben, weshalb man aus dem Naturzustand zu bestimmten Formen staatlicher Organisation übergehen soll und die bloße Errichtung einer möglichst starken Staatsgewalt gleich welcher Art nicht genügt. Der Grund, den Naturzustand überhaupt zu verlassen, sind die von ihm beschriebenen Unzuträglichkeiten dieses Zustands, welche die Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen mit sich bringen. Den „Kriegszustand zu vermeiden“ gibt Locke selbst als bedeutenden Grund an.79 An der Sicherheit vor Angriffen anderer ist natürlich einerseits jedermann aus Eigenliebe interessiert, andererseits gibt es aber auch die durch das Naturgesetz vorgegebenen Pflichten zur Selbsterhaltung und, soweit möglich, zur Erhaltung der gesamten Menschheit.80 Aus der letzteren Perspektive ist das Verlassen des Naturzustandes nicht nur eine kluge Maßnahme zur Vermeidung von Gefahren für Leib und Leben, sondern auch eine naturrechtliche Pflicht. Vgl. ebd., Kap. II, § 13, Z. 1–14. Allenfalls der Anfang der Menschheitsgeschichte bildet nach Lockes Meinung davon eine Ausnahme. Vgl. dazu weiter oben den Beginn des Abschnittes I. 75 Vgl. Locke, Second Treatise (wie Anm. 1), Kap. IX, § 126. 76 Ebd., Kap. IX, § 123, Z. 16. 77 Ebd., Kap. II, § 13, Z. 7 f. 78 Ebd., Kap. IX, § 127, Z. 1–3. 79 Ebd., Kap. III, § 21, Z. 1–5. 80 Vgl. dazu weiter oben Abschnitt II, 3. Absatz. 73 74
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Da die Menschen „von Natur alle frei, gleich und unabhängig sind“81 und darüber hinaus ein natürliches Recht auf Freiheit und Gleichbehandlung in ihrem Leben haben,82 „kann niemand ohne seine Einwilligung [...] der politischen Gewalt eines anderen unterworfen werden. Die einzige Möglichkeit, wodurch jemand seine natürliche Freiheit aufgibt und die Fesseln bürgerlicher Gesellschaft anlegt, liegt in der Übereinkunft mit anderen, sich zusammenzuschließen und in einer Gemeinschaft zu vereinigen“.83 Der Zweck der Vereinigung zur Gemeinschaft ist das sichere und friedliche Miteinanderleben im ungestörten Genuß des Eigentums, d.i. von Leben, Freiheit und Besitz. Die Übereinkunft zwischen den Menschen im Naturzustand, sich zu einer bürgerlichen, d.i. politischen Gemeinschaft, zusammenzuschließen, bezeichnet Locke auch als „ursprünglichen Vertrag“ (original compact).84 Dieser Sozialkontrakt, wie er zumeist genannt wird, ist nicht primär historisch zu verstehen, sondern ein theoretischer Begriff. Ein solcher Vertrag muß einer zu Recht bestehenden Verfassung unterstellt werden können. Er bildet die notwendige Bedingung dafür, daß die Etablierung einer positiv-rechtlichen Staatsverfassung und die damit verbundenen Einschränkungen der natürlichen Freiheit überhaupt rechtmäßig sein können. Auf Grund des Umstandes der Freiwilligkeit des ursprünglichen Vertrages ist die inhaltliche Ausgestaltung der Verfassung bei Locke aber keineswegs in das Belieben der zur staatlichen Vereinigung Kontrahierenden gestellt. Der Prüfstein für die Rechtmäßigkeit des Inhalts von Verfassungsgrundsätzen ist das Naturrecht. Locke hat ausdrücklich erklärt, daß die staatlichen Gesetze der Länder nur insoweit gerecht (right) seien, als sie im Naturgesetz ihre Begründung finden. Nach dem Naturgesetz sind die positiven Gesetze auch auszurichten und zu deuten.85 Wenn durch die Gründung einer politischen Gesellschaft der Naturzustand überwunden werden soll, hat die Übereinkunft, sich zu einer solchen Gesellschaft zusammenzuschließen, für jeden einzelnen der Kontrahierenden wichtige Folgen hinsichtlich seiner Lebensweise. Zur Etablierung einer bürgerlichen, d.i. politischen Gesellschaft, muß jedes ihrer zukünftigen Mitglieder zugunsten der Gemeinschaft auf seine natürliche Gewalt verzichten, abgesehen von denjenigen für den Staatsbürger gefährlichen Fällen, in denen von der Gemeinschaft kein Schutz für ihn zu erwarten ist.86 Die natürliche Gewalt besteht in der Hauptsache in zwei wichtigen Arten, die von Locke dem Handlungsbereich nach unterschieden sind: erstens die Gewalt, alles zu tun, was man „innerhalb 81 82 83 84 85 86
Locke, Second Treatise (wie Anm. 1), Kap. VIII, § 95, Z. 1 f. Vgl. weiter oben Abschnitt II, 4. Absatz. Locke, Second Treatise (wie Anm. 1), Kap. VIII, § 95, Z. 2–6. Ebd., Kap. VIII, § 97, Z. 5. Vgl. ebd., Kap. II, § 12, Z. 16–19. Vgl. ebd., Kap. VII, § 87, Z. 12–16.
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der Grenzen des Gesetzes der Natur für die Erhaltung seiner selbst und der anderen Menschen als richtig ansieht“,87 zweitens die Gewalt, „Verbrechen zu bestrafen, die gegen das Naturgesetz begangen wurden“,88 Bei der Gründung einer bürgerlichen Gesellschaft oder beim Eintritt in eine bereits bestehende gibt der zukünftige Staatsbürger die zweite Gewalt vollständig auf, die erste nur teilweise, „damit sie durch die Gesetze der Gesellschaft so weit geregelt wird, wie es die Erhaltung seiner selbst und der übrigen Glieder dieser Gesellschaft erfordert“.89 Über die in die Hände der Gesellschaft gelegte Gewalt kann diese nur so weit verfügen, „wie es das Wohl der Gesellschaft erfordert“.90 Denn jeder einzelne hat nur deshalb auf seine Gewalt verzichtet, „um damit sich selbst, seine Freiheit und sein Eigentum besser zu erhalten“91 als es im Naturzustand möglich war. Aus dieser Absicht ergibt sich die Einschränkung des Verfügungsrechts der Gesellschaft über ihre Gewalt. Wäre das Verfügungsrecht der Gesellschaft unbeschränkt, müßte man voraussetzen, daß diejenigen, die ihre Gewalt an die Gesellschaft abgetreten haben, damit einverstanden waren, daß sich durch die Abtretung auch eine potentielle Verschlechterung ihrer Lebensweise ergeben würde. Bei einem vernünftigen Wesen hält Locke so etwas anscheinend für unmöglich.92 Wie die Funktion der natürlichen Freiheit in der Selbsterhaltung der am Naturgesetz orientierten natürlichen Gesellschaft besteht, die sich über die gesamte Menschheit erstreckt, liegt analog dazu der Zweck der politischen oder bürgerlichen Gesellschaft, dem die politischen Anstrengungen gelten sollen, in der Erhaltung des Eigentums der Staatsbürger, d.i. ihres Lebens, ihrer Freiheiten und ihres Besitzes.93 Das Naturgesetz, d.i. das nach Locke rational erfaßbare Naturrecht, verliert mit der Gründung der politischen Gesellschaft nicht seine Geltung, sondern bleibt auch in souveränen Staaten stets in Kraft.94 Das positive Recht der Staaten muß im Naturrecht seine Begründung finden können.95 Es verdankt seine Existenz – wie der Staat überhaupt – nur dem Umstand, daß die Menschen nicht in der Lage sind, das Naturgesetz ohne positiv-rechtliche Androhungen von Sanktionen angemessen zu erfüllen. „Gäbe es nicht die Verderbtheit und Schlechtigkeit entarteter Menschen [...] läge keinerlei Notwen87 88 89 90 91 92 93 94 95
Ebd., Kap. IX, § 128, Z. 3 f. Ebd., Kap. IX, § 128, Z. 11 f. Ebd., Kap. IX, § 129, Z. 1–4. Ebd., Kap. IX, § 131, Z. 4. Ebd., Kap. IX, § 131, Z. 5 f. Vgl. ebd., Kap. IX, § 131, Z. 6–8. Vgl. ebd., Kap. IX, § 123, Z. 16 f. Vgl. ebd., Kap. XI, § 135, Z. 23–26. Vgl. ebd., Kap. II, § 12, Z. 16–19.
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digkeit vor, daß sich die Menschen von dieser großen und natürlichen Gemeinschaft trennen sollten und sich durch positive Vereinbarungen zu kleineren oder Teilgemeinschaften vereinigen sollten“.96 Das Gesetz der Natur bleibt auch in den positiv-rechtlich organisierten Teilgemeinschaften, den souveränen Staaten, als „ewige Regel für alle Menschen“ bestehen.97 Alle Handlungsvorschriften, die im positiven Recht enthalten sind, müssen denn auch „mit dem Gesetz der Natur, d.i. mit dem Willen Gottes, der darin zum Ausdruck kommt, vereinbar sein“.98
IV. Grundzüge einer rechtmäßigen Verfassung In der Übertragung ihrer natürlichen Strafgewalt auf die politische Gesellschaft durch diejenigen, die sich zu dieser Gesellschaft im Naturzustand vereinigen, sieht Locke „das ursprüngliche Recht und den Ursprung der legislativen und exekutiven Gewalt“ des Staates.99 Allein das Volk, das sind diejenigen, die miteinander vereinbart haben, eine politische Gesellschaft zu bilden und dadurch den Naturzustand zu verlassen, kann nach Locke auch „die Staatsform festsetzen, und das geschieht durch Einsetzung der Legislative, indem man bestimmt, in wessen Händen sie liegen soll“.100 Nach dem Vereinigungsbeschluß der zukünftigen Staatsbürger, der einstimmig getroffen werden muß, betrifft deren „erstes und grundlegendes positives Gesetz“101 die Einsetzung der Legislative. Die Legislative ist die höchste Gewalt des Staates.102 Locke charakterisiert die Legislative auch als „Seele“ des Staates, die ihm „Form, Leben und Einheit verleiht“.103 Die Legislative liegt „geheiligt und unabänderlich in den Händen, in welche die Gemeinschaft sie einmal gelegt hat“.104 Das muß nach Locke eine Form der Volksvertretung sein, der das Volk mehrheitlich zugestimmt hat und der es vertraut.105 Obwohl die Legislative die höchste Gewalt im Staat ist, kann sie nach Locke nicht unumschränkt sein, sofern ihr Legitimität zukommen soll. „Sie ist nichts als die vereinigte Gewalt aller Glieder der Gesellschaft, die jener Person oder 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105
Ebd., Kap. IX, § 128, Z. 7–10. Ebd., Kap. XI, § 135, Z. 26 f. Ebd., Kap. XI, § 135, Z. 27–30. Ebd., Kap. IX, § 127, Z. 9–15. Ebd., Kap. XI, § 141, Z. 3–6. Ebd., Kap. XI, § 134, Z. 4 f. Vgl. ebd., Kap. XI, § 134, Z. 8 f. Ebd., Kap. XIX, § 212, Z. 9 f. Ebd., Kap. XI, § 134, Z. 9–11. Vgl. ebd., Kap. XI, § 134, Z. 11–18.
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Versammlung übertragen wurde, die der Gesetzgeber ist“.106 Die Gewalt der Legislative kann daher nicht größer sein als die vom Naturgesetz beschränkte und regulierte Gewalt, welche die Menschen vor der Bildung einer politischen Gesellschaft im Naturzustand besaßen und auf die Gesellschaft übertragen haben.107 Da das Naturgesetz ohnehin dem positiven Recht vorgeordnet ist und in den etablierten politischen Gesellschaften seine Geltung keineswegs verliert, bleibt auch die Legislative an die durch das Naturgesetz festgelegten Grenzen menschlichen Handelns gebunden und zur Verfolgung der Zwecke des Naturgesetzes verpflichtet. Die legislative Gewalt ist daher auf die Erhaltung und das Wohl der Gesellschaft und, soweit mit dem öffentlichen Wohl vereinbar, auch jeder einzelnen Person in ihr beschränkt.108 Ferner muß die Legislative stehende Gesetze erlassen, die öffentlich verkündigt werden, und sie muß „durch anerkannte autorisierte Richter für Gerechtigkeit sorgen“.109 Sie darf den Staatsbürgern ohne deren Zustimmung auch nichts von ihrem Eigentum wegnehmen, da die Erhaltung des Eigentums ja der Zweck ist, weshalb die Menschen ihre natürliche Freiheit aufgegeben haben und in die politische Gesellschaft eingetreten sind.110 Schließlich kann die Legislative die Befugnis, Gesetze zu geben, nicht an andere delegieren, da das Volk darüber zu entscheiden hat und auch nur Gesetzen verpflichtet ist, die von Männern beschlossen worden sind, die das Volk erwählt und ermächtigt hat, ihnen Gesetze zu geben.111 Die Legislative kann allein durch das Volk abberufen oder geändert werden, „wenn es der Ansicht ist, daß die Legislative dem in sie gesetzten Vertrauen zuwiderhandelt“.112 Locke betont, daß die Gemeinschaft ständig eine höchste Gewalt für sich behält, um sich ggf. vor Anschlägen von wem auch immer, sogar vor solchen der von ihr selbst eingesetzten legislativen Körperschaft zu sichern, sofern diese aus Torheit oder Verderbtheit darauf verfallen sollte, die Freiheiten und Eigentumsrechte der Bürger zu beeinträchtigen.113 Die Legislative ist zwar die höchste Staatsgewalt, der eigentliche Souverän bleibt aber stets das zu einer naturrechtlichen Gemeinschaft vereinigte Volk. Abgesehen von einem Ausnahmefall114 ist die Exekutivgewalt der Legis-
Vgl. ebd., Kap. XI, § 135, Z. 5–7. Vgl. ebd., Kap. XI, § 135, Z. 7–9. 108 Vgl. ebd., Kap. XI, § 134, Z. 7 f. u. § 135, Z. 19–21. 109 Ebd., Kap. XI, § 136, Z. 1–4. 110 Vgl. ebd., Kap. XI, § 138, Z. 1–8. 111 Vgl. ebd., Kap. XI, § 141, Z. 1–11. 112 Ebd., Kap. XIII, § 149, Z. 5–8. 113 Vgl. ebd., Kap. XIII, § 149, Z. 13–18. 114 Dieser Fall ist die staatsrechtliche Konstruktion, daß der Inhaber der Exekutivgewalt gleichzeitig einen unübergehbaren Anteil an der Legislative hat. Vgl. dazu ebd., Kap. XIII, §§ 151–152. 106 107
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lative untergeordnet und verantwortlich und kann von ihr „nach Belieben geändert und abgesetzt werden“.115
V. Legitimität von Verfassung und Regierungspraxis Die Bedingungen, unter denen politische Herrschaft nach der im Second Treatise entwickelten Theorie legitim sein kann, bestehen zum einen in einer Herrschaft nach verfassungsrechtlichen Grundsätzen, die dem von Locke als evident vorausgesetzten Naturrecht entsprechen. Der Inbegriff des Naturrechts ist das von Locke oft apostrophierte „Naturgesetz“. Locke hält es für rational erfaßbar und zumindest in seinen grundlegenden Normen für jedermann vertraut.116 Der Vernunft, die im Second Treatise anscheinend auch intuitive Kraft hat, ist u.a. die Erkenntnis zuzuschreiben, daß die Menschen neben den durch das Naturgesetz vorgeschriebenen natürlichen Pflichten auch natürliche Rechte haben. Dazu gehören u.a. das Freiheitsrecht und das Recht auf Gleichbehandlung.117 Diese von Locke vorausgesetzten natürlichen Rechte spielen bei seinem Entwurf von Verfassungsgrundsätzen für eine politisch verfaßte Gesellschaft eine wichtige Rolle. Da sich die Menschen in dem von Locke konstruierten Naturzustand der ständigen Bedrohung mit Kriegshandlungen ausgesetzt sahen, müssen die Menschen auch ein Eigeninteresse daran gehabt haben, aus diesem gefährlichen Zustand herauszukommen, zumal die Menschen nach Locke ganz allgemein an ihrem persönlichen Glück interessiert sind und aus entsprechenden Motiven handeln.118 Neben der Motivation aus Eigeninteresse, die Locke auch im Second Treatise nicht übersieht,119 wird dort der Übergang vom natürlichen in den bürgerlichen Zustand in einer Weise dargestellt, daß aus theoretischer Perspektive die Gründung von Staaten als Konsequenz des verpflichtenden Charakters des Naturgesetzes erscheint. Die Menschen sind durch das Naturgesetz kraft seiner grundlegenden Norm zur Friedenssicherung und zur Förderung des Allgemeinwohls verpflichtet.120 Um dieser naturrechtlichen Verpflichtung nachzukommen, mußte ein Übergang von der natürlichen Gesellschaft in die bürgerliche erfolgen, weil in der natürlichen Gesellschaft das ZusammenleEbd., Kap. XIII, § 152, Z. 1–3. Vgl. dazu weiter oben Abschnitt II, 2. Absatz. 117 Vgl. dazu weiter oben Abschnitt II, 4. Absatz. 118 Vgl. Jürgen Sprute, John Lockes Konzeption der Ethik, in: Udo Thiel (Hg.), John Locke, Essay über den menschlichen Verstand, Berlin 1997, 223–245, hier 225–231. 119 Vgl. Locke, Second Treatise (wie Anm. 1), u.a. Kap. III, § 21, Z. 1–5; Kap. VII, § 94, Z. 8 f; Kap. IX, § 131, Z. 5–8; Kap. IX, § 124, Z. 8–12. 120 Vgl. dazu weiter oben Abschnitt II, 3. Absatz. 115 116
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ben nach dem im Naturrecht vorgegebenen vernünftigen Maßstab nicht funktioniert. In der bürgerlichen Gesellschaft dagegen kann die Einhaltung der für das Zusammenleben erforderlichen Normen durch das mit Sanktionen bewehrte positive Recht und die Gerichtsbarkeit des Staates erzwungen werden. Für den Übergang in die bürgerliche Gesellschaft scheint es daher im Rahmen von Lockes Theorie zwei Gründe zu geben: die Erfüllung der durch das Naturgesetz auferlegten Pflichten und die überlegte Wahrnehmung des Eigeninteresses. Um den ersten Grund ersichtlich werden zu lassen, hat Locke offenbar mehr getan als für den zweiten. Daß die Menschen lieber in Frieden und Sicherheit leben wollen als den Gefahren von immer wieder aufbrechenden Kriegszuständen ausgesetzt zu sein, ist ohnehin klar. Die große Bedeutung, welche die Pflichten des Naturgesetzes und die Konsequenzen ihrer Befolgung im Second Treatise zu haben scheinen, hängt sicher zu einem Teil auch damit zusammen, daß Locke daran interessiert war, den Verfechtern der absoluten Monarchie und den Anhängern von Filmers paternalistischer Staatstheorie ein naturrechtlich abgesichertes staatstheoretisches Konzept entgegenzusetzen.121 Lockes egoistische Handlungstheorie steht diesem Konzept, das u.a. naturrechtliche Pflichten voraussetzt, nicht entgegen. Zum einen, weil die Erfüllung der naturrechtlichen Pflichten nach Locke Gottes Willen entspricht und ein pflichtgemäßes Leben von Gott im Jenseits belohnt wird.122 Zum andern zieht ein Leben nach den Forderungen des Naturgesetzes auch auf Erden Glück und Wohlergehen nach sich. Die Erfüllung der naturrechtlichen Pflichten dürfte nach Locke daher auch aus wohlüberlegtem Eigeninteresse empfehlenswert sein. Nun könnte man fragen, weshalb die deontologische Begrifflichkeit von Pflicht und Verbindlichkeit im Zusammenhang mit dem Naturgesetz im Second Treatise eine solch bedeutende Rolle spielt; denn die Befolgung der Normen des Naturgesetzes läßt sich im Rahmen von Lockes Theorie schwerlich aus Pflichtbewußtsein erklären. Man kann sie aber durchaus als kluges Handeln zum eigenen Vorteil interpretieren. Die Frage drängt sich um so eher auf, wenn man sich vergegenwärtigt, daß nach dem Essay concerning Human Understanding ein Handeln um der Pflicht selbst willen, wie es in Kants ethischen Schriften gefordert wird, unmöglich ist.123 Wahrscheinlich wollte Locke im Second Treatise of Government u.a. eine Rechtfertigungstheorie für den von ihm entwickelten Verfassungstyp vorlegen. Daß dieser Typ optimal auf die Natur Vgl. auch Laslett, Introduction (wie Anm. 44), 65 f. Vgl. auch Sprute, John Lockes Konzeption der Ethik (wie Anm. 118), 242 f. 123 Vgl. John Locke, An Essay concerning Human Understanding, edited with an introduction, critical apparatus and glossary by Peter H. Nidditch, Oxford 1975, Book II, Kap. 28, § 6. Zu Lokkes Handlungstheorie vgl. u.a. Sprute, John Lockes Konzeption der Ethik (wie Anm. 118), 225– 231. 121 122
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des Menschen zugeschnitten war, wie sie Locke auffaßte, hielt er anscheinend nicht für ausreichend, um seine staatsphilosophische Konzeption gegen andere Staatstheorien durchzusetzen. Die durch vernünftige Erwägungen gefundenen Verfassungsgrundsätze, die der menschlichen Natur adäquat sind, sollen nicht nur als kluge Mittel zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse einsichtig werden, sondern auch eine Rechtfertigung im Naturrecht finden, das nach Locke inhaltlich Gottes Willen entspricht und durch die enge Beziehung zur Heiligen Schrift eine zusätzliche Dignität erhält. Da das Naturgesetz, d.i. das Naturrecht, in der bürgerlichen Gesellschaft seine Geltung nicht verliert und im Naturrecht nicht nur Pflichten, sondern auch natürliche Rechte enthalten sind wie u.a. das natürliche Freiheits- und Gleichheitsrecht, müssen für eine legitime politische Herrschaft über Menschen Verfassungsgrundsätze entwickelt werden, die u.a. den Menschen ihre Freiheit und Gleichheit sichern. Um die natürlichen Freiheits- und Gleichheitsrechte beim Übergang in die bürgerliche Gesellschaft nicht zu verletzen, ist Locke von einer Übereinkunft (agreement, consent) der am Übergang interessierten Menschen ausgegangen, den Naturzustand zu verlassen. Dieser Übereinkunft muß jeder am Übergang interessierte spätere Staatsbürger zugestimmt haben. Durch die Übereinkunft bildet sich eine Gemeinschaft, die mehrheitlich die Legislative wählt, die ihrerseits den Träger der Exekutivgewalt bestimmt. Die Konstitution der Legislative wird verstanden als teilweise Abtretung der natürlichen Gewalten an eine staatliche Institution, welche die ihr übertragenen Gewalten nur zu dem Zweck und so weit ausüben oder über sie befinden darf, wie die entsprechenden Gewalten im Naturzustand dem einzelnen Menschen nach dem Naturgesetz zugekommen wären.124 Die Exekutivgewalt bemißt sich danach, was zur erfolgreichen Vollziehung der Gesetze erforderlich ist, um deren Zweck, d.i. die Sicherung des Eigentums, d.h. von Leben, Freiheit und Besitz der Staatsbürger, zu realisieren. Legitim oder gerecht im Sinne Lockes wäre eine Staatsverfassung, die den durch das Naturgesetz vorgegebenen natürlichen Pflichten, Rechten und Zwecksetzungen voll entspricht. Theoretisch betrachtet, müßte eine legitime Verfassung ihr Fundament im Naturgesetz haben können.125 Nun ist das Vorhandensein einer ihrer Form nach legitim erscheinenden Staatsverfassung zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Legitimität politischer Herrschaft; denn Locke hat keinen Zweifel daran gelassen, daß die Inhaber der Legislativ- oder Exekutivgewalt ihre Macht unter dem Deckmantel der Legalität auch mißbrauchen können.126 Die vom Volk ge124 125 126
Vgl. dazu weiter oben Abschnitt III, 2. Absatz. Vgl. Locke, Second Treatise (wie Anm. 1), Kap. II, § 12, Z. 16–19. Vgl. ebd., Kap. XIX, §§ 221 f.
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wählte und ernannte Legislative127 ist zwar die höchste Gewalt128 im Staat, ihre Macht ist aber keineswegs absolut,129 sondern auf „das öffentliche Wohl der Gesellschaft beschränkt“.130 Das Volk muß nicht nur seine Zustimmung (consent)131 zur Legislative durch deren mehrheitliche Wahl zum Ausdruck gebracht haben, sondern den Inhabern der Legislativgewalt auch Vertrauen (trust)132 entgegenbringen, daß sie durch die von ihnen erlassenen Gesetze das Eigentum der Bürger dauerhaft schützen. Handeln die Träger der Legislative nicht gemäß dem in sie gesetzten Vertrauen, sondern besteht im Gegenteil der berechtigte Argwohn, daß sie eigene Ziele mit der Gesetzgebung verfolgen, ist das Volk vom Gehorsam gegenüber der Legislative entbunden133 und kann erforderlichenfalls eine neue Legislative wählen und einsetzen.134 Ein grober fortgesetzter Vertrauensbruch der Legislative bedeutet Krieg ihrer Träger gegenüber dem Volk. Das gleiche gilt auch vom „höchsten Inhaber der Exekutive“,135 wenn dieser beispielsweise die Verfassung ignoriert oder mißbraucht.136 Aus fortgesetzten Vertauensbrüchen können durchaus Revolutionen entstehen, und das Volk hat nach Locke ein Recht, sich gegen ungerechtfertigte Übergriffe staatlicher Instanzen in sein Eigentum zu wehren.137 Locke betont immer wieder, wie wichtig das Vertrauen (trust) der Bürger in die staatlichen Institutionen und die mit öffentlichen Aufgaben bevollmächtigten Vertreter des Staates ist.138 Ohne Vertrauen, daß die politischen Amtsträger normalerweise so handeln, wie es allgemein als recht und billig empfunden wird, können die Bürger auch vor der Fassade einer legal korrekt erscheinenden Verfassung (constitution) keine positive Einstellung zu ihrem Staat entwikkeln. Wer sieht, wie Anspruch und tatsächliches Handeln bei den Regierenden zu deren Vorteil auseinanderfallen,139 kann sich mit dem Staat nicht identifizieren, sondern fühlt sich eher verraten oder um seine Freiheit betrogen. Eine Identifikation der Bürger mit ihrem Staatswesen ist nur möglich, wenn die Re-
Vgl. ebd., Kap. XI, § 134, Z. 13 f. Vgl. ebd., Kap. XI, § 135, Z. 1–3. 129 Vgl. ebd., u.a. Kap. XI, § 138, Z. 14–17. 130 Ebd., Kap. XI, § 135, Z. 19 f. 131 Vgl. ebd., Kap. XI, §134, Z. 14–17. 132 Vgl. ebd., Kap. IV, § 22, Z. 4–8. 133 Vgl. ebd., Kap. XIX, § 222, Z. 10–14. 134 Vgl. ebd., Kap. XIX, § 222, Z. 20–26. 135 Ebd., Kap. XIX, § 222, Z. 26–31. 136 Vgl. ebd., Kap. XVIII, § 210, Z. 1–15. 137 Vgl. ebd., u.a. Kap. XVIII, § 202, Z. 1–7; § 204. 138 Vgl. ebd., u.a. Kap. XI, § 134, Z. 21–24; § 136, Z. 20–24; Kap. XIII, § 149, Z. 5–13; § 155, Z. 5–8; Kap. XIV, § 161, Z. 1–3. 139 Vgl. ebd., Kap. XVIII, § 210, Z. 1–5. 127 128
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gierenden gewisse normative Standards einhalten, welche die Regierten als unverzichtbar ansehen. Die Gefahr, daß das Volk die guten Absichten seiner Regenten verkennt und verantwortungsvolle Träger der höchsten Exekutivgewalt falsch einschätzt, hält Locke für gering. Er meint, ein Regent, der wirklich die Erhaltung und das Wohl seines Volkes und die Pflege der Gesetze im Sinne hat, könnte es gar nicht fertig bringen, „das Volk dies nicht sehen und empfinden zu lassen“, ähnlich wie auch die Liebe und Fürsorge eines Familienvaters für seine Kinder kein Geheimnis vor diesen bleibt.140 Man darf wohl annehmen, daß das Volk in einem solchen Fall nach Locke Vertrauen zu seinem Regenten hat. Ganz allgemein gesehen, nährt sich das Vertrauen der Bürger zu den staatlichen Instanzen und politischen Funktionsträgern, das Locke für erforderlich hält, aus der Überzeugung, daß auch die Vertreter der Staatsmacht bei ihrer Politik oder Verwaltungstätigkeit den im Naturrecht verankerten Rechten und Pflichten verbunden bleiben, Rechte und Pflichten, die bei Locke von den Lehren und Geboten der christlichen Religion flankiert und bekräftigt werden. Fragt man danach, welche Rolle der Begriff des Sozialvertrags (social compact) in einer Theorie der legitimen politischen Herrschaft bei Locke spielen könnte, scheint wegen der Voraussetzungen Lockes kein Grund ersichtlich zu sein, weshalb ein der politischen Herrschaft theoretisch unterstellbarer Sozialvertrag Kriterium dafür sein könnte, daß diese Art von Herrschaft als legitim zu gelten hat. Locke hat nicht angenommen, daß eine Gruppe von Menschen, die alle Freiheiten eines Naturzustandes genossen, in dem es keine sozialen Regeln für das Zusammenleben gab, untereinander vereinbart haben, sich Regeln für das Zusammenleben in einer politischen Gesellschaft zu geben, die jeder zu befolgen versprochen hätte, so daß diese Menschen durch gegenseitige Vereinbarung oder Vertrag zu Mitgliedern einer bürgerlichen Gesellschaft geworden wären, während es vorher nur von einander isolierte Individuen oder Familien gegeben hat. Der Sozialvertrag kann bei Locke nicht als erster Akt der Vergesellschaftung überhaupt verstanden werden. Denn nach Lockes Theorie lebten die Menschen lange vor dem denkbaren Abschluß eines Sozialvertrags bereits in einer natürlichen Gesellschaft zusammen, die vom Naturgesetz reguliert wurde. Statt des positiven Rechts der Staaten herrschte allein das Naturrecht und hielt die Menschheit in einer großen Gesellschaft zusammen. Nicht von Menschen erfundene Regeln, die sie sich in einem ersten Akt der Vergesellschaftung, im sogenannten Sozialvertrag gegeben haben, können daher die höchste normative Instanz für das Zusammenleben in einer politischen Gesellschaft sein, sondern der höchste normsetzende Orientierungspunkt für die Politik und die Ausarbeitung von Verfassungen kann im Sinne Lockes nur im Na140
Ebd., Kap. XVIII, § 209, Z. 13–17.
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turgesetz bestehen, das ewig, auch nach der Bildung eines Staates für diese Staaten in Geltung bleibt. Der Sozialvertrag hat demgegenüber in Lockes Theorie eine mittelbare Funktion zur Realisierung der normativen Ansprüche des Naturgesetzes in der politischen Wirklichkeit. Da die natürliche Gesellschaft wegen der charakterlichen Schwächen der Menschen und aus anderen Gründen auf Dauer ihre Funktion nicht erfüllen konnte, sondern ständig Kriegszustände in ihr aufbrachen, mußte der Übergang in die bürgerliche Gesellschaft erfolgen, oder die Gebote des Naturgesetzes hinsichtlich der Erhaltung der Menschheit wären nicht beachtet worden. Zur Ermöglichung dieses Übergangs, d.i. zur Entwicklung einer angemessenen öffentlichen Ordnung der Gewalten, hat Locke das Modell des Sozialvertrags benutzt. Er hielt das Modell offenbar für hilfreich, um bei der Etablierung der Staatsautorität eine Verletzung der normativen Vorgaben des Naturgesetzes zu vermeiden. Einer solchen Verletzung mußte vorgebaut werden, da zu den Vorgaben des Naturgesetzes u.a. auch die natürlichen Rechte der Menschen auf Freiheit und Gleichheit gehören, die durch die Einführung einer bloß effektiven Herrschaft beliebiger Art hätten beeinträchtigt werden können. Durch die theoretische Unterstellung des Sozialvertrags bei der Staatsgründung konnten die natürlichen Rechte der Menschen, soweit dies erforderlich war, in der Staatsverfassung auf den Staat übertragen werden und auf unschädliche Art durch staatsrechtliche Äquivalente ersetzt werden. Legitim kann nach Locke nur eine politische Herrschaft sein, die sich auf eine Verfassung stützt und die auf eine Art ausgeübt wird, die voll und ganz dem von Locke im Second Treatise vorausgesetzten Naturrecht entspricht. Eine solche Herrschaft steht nach Locke auch im Einklang mit dem Willen Gottes, der nicht nur in den Offenbarungen der Heiligen Schrift, sondern – wie Locke annimmt – auch im Naturgesetz zum Ausdruck gekommen ist. John Locke wird üblicherweise zu denjenigen Philosophen gezählt, die eine Gesellschaftsvertragstheorie vertreten haben. Daher erscheint die Erwartung nicht völlig ungerechtfertigt, daß die Bedingung legitimer politischer Herrschaft darin liegt, den Gesellschaftsvertrag theoretisch als Grundlage dieser Herrschaft annehmen zu können. Durch die Analyse von Lockes Annahmen bezüglich des Naturrechts und der Art des Übergangs vom Naturzustand zur bürgerlichen Gesellschaft wird ein Versuch unternommen, die folgenden Punkte zu erweisen: Nach Locke ist der Gesellschaftsvertrag nur ein Mittel, um die Erfordernisse des Naturgesetzes in der politischen Wirklichkeit zu realisieren. Aber die Legitimität politischer Herrschaft läuft auf die Bedingung hinaus, daß die Staatsverfassung und die Regierung, die im Rahmen der Verfassung ausgeübt wird, dem Naturgesetz entsprechen, welches als natürliches Recht überall und zu allen Zeiten gültig ist.
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Usually John Locke is counted among those philosophers who argue for the social contract theory. Hence it does not seem wholly unwarranted to expect the criterion for the legitimacy of political dominion to be the condition that one can take theoretically the social contract as underlying that dominion. By analysing Locke’s suppositions of natural right and the way of transgressing from the state of nature into civil society, an attempt is made to show the following points: According to Locke the social contract is only a means to realize the demands of the law of nature in political reality. But the legitimacy of political dominion amounts to the condition that the constitution and the government practised within the compass of the constitution are corresponding to the law of nature that is the natural right being valid everywhere and at all times. Prof. Dr. Jürgen Sprute, Distelweg 7, 37077 Göttingen
J E A N -C LAUDE W O L F Strafe im Naturzustand
Im Unterschied zu Thomas Hobbes und in Übereinstimmung mit Hugo Grotius vertritt John Locke nicht nur ein Recht auf Selbsterhaltung bzw. Selbstverteidigung, sondern auch ein Recht zu strafen, das bereits im Naturzustand besteht.1 Diese Auffassung ist zwar bei Hobbes bereits im Keim angelegt (vgl. Leviathan, Kapitel XV, XVIII und XIX), wird aber nicht weiter ausgeführt, da Hobbes keinen Unterschied zwischen dem Naturzustand und einem latenten Kriegszustand macht. Für Locke dagegen weist der Naturzustand eine relative Stabilität auf. Dies erlaubt grundsätzlich eine Anwendung der moralischen Regeln des Naturrechts und damit auch die Begründung eines natürlichen Rechts zu strafen. Locke glaubt, daß bereits im Naturzustand, in dem es noch keine von allen anerkannte Regierung gibt, ein natürliches Recht besteht, Regelverletzer zu bestrafen. Die in diesem Zusammenhang einschlägigen Textstellen finden sich in der Zweiten Abhandlung über die Regierung, vorrangig in den Paragraphen 7–13; darüber hinaus aber auch in den Paragraphen 87, 88, 105, 128, 130, 151 und 235. Der Ausgangspunkt der Lockeschen Begründung eines natürlichen Rechts zu strafen, kann in folgender Überlegung gesehen werden: (1) A verletzt oder schädigt B im Naturzustand. (2) A hat eine Pflicht zur Entschädigung von B. (3) B (oder irgendein Mitglied der Gemeinschaft im Naturzustand) hat das Recht, A zu bestrafen, um Schadenersatz zu leisten und Regelverletzungen einzuschränken. Natürlich darf sich die Strafe nur gegen A richten, wenn B (oder das strafende Mitglied der Gemeinschaft) glaubt, daß A eine Regel wie „Respektiere das Leben, die vitalen Interessen bzw. das Eigentum anderer“ verletzt hat. Das heißt 1 Vgl. Wolfgang von Leyden, Locke and Natural Law, in: Philosophy 31 (1956), 23–25. Wieder abgedruckt in: Reinhard Brandt (Hg.), John Locke: Symposium Wolfenbüttel 1979, Berlin 1981.
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allerdings nicht, daß es genügt, daß ich bloß glaube, A habe gestohlen. Vielmehr muß ich eine begründete Überzeugung haben, d.h. ich muß es selber gesehen oder durch zuverlässige Augenzeugen bezeugt haben. Ein System der Bestrafung aufgrund leichtfertiger Verdächtigungen ist inakzeptabel. Das würde den Naturzustand unmittelbar verschlimmern, was nicht die Absicht der Einführung eines Rechts zur Strafe sein kann. Wie wir noch sehen werden, hat Locke in seine Auffassung von der natürlichen Strafe moralische Elemente eingebaut, welche die leichtfertige Verdächtigung oder unbewiesene Beschuldigung selbst zu einem Fehlverhalten erheben, das wiederum Kritik oder Strafe verdient. Diese moralischen Elemente, welche sich um den Begriff der ‘verdienten Strafe’ gruppieren, werden mutatis mutandis auch auf staatliches Strafen übertragen. Sie sind keineswegs willkürlich angesetzte Grenzen des Staates, sondern bilden das Rückgrat einer liberalen Regierung und Gesetzgebung, deren Funktion es ist, die bloße Instrumentalisierung der Bürger für kollektive Ziele zu begrenzen, d.h. Individuen nicht nur als Mittel, sondern auch als Zwecke zu betrachten.2 Die Ziele der Kompensation und Prävention werden durch die moralische Konzeption der verdienten Strafe dem Ziel der Strafgerechtigkeit deutlich untergeordnet. Dazu paßt, daß Locke die reformerische Straftheorie nicht einmal erwähnt, ganz im Geiste der Formel, daß der liberale Staat keine Erziehungsanstalt sei. Was könnte nun B dazu legitmieren, A zu bestrafen? Locke zieht mehrere Gründe in Betracht: (1) A ist zum Nutzen von B geschaffen, z.B. ein Tier oder eine Pflanze.3 Menschen unterliegen, sofern sie gleich und ebenbürtig sind, dem Instrumentalisierungsverbot; sie dürfen in Kants Worten nicht nur als Mittel verwendet werden. Allerdings scheint Locke der Auffassung zu sein, daß nicht alle Menschen gleich und ebenbürtig sind. Dies gilt etwa für Kinder oder Sklaven, die demgemäß auch nicht dem Instrumentalisierungsverbot unterliegen. Andere Menschen wiederum können ihren Status gleicher und ebenbürtiger Menschen infolge einer extremen Form der Rechtsverwirkung einbüßen. Nach dieser Auffassung regredieren etwa Mörder auf den Status von zum Abschuß freigegebenen Raubtieren.4 Der Mensch entartet („becomes degenerate“) durch sein Verbrechen.5
2 Eldon Eisenach, Crime, Death, and Loyality in English Liberalism, in: Political Theory 6 (1978), 213–232; Daniel Farrell, Punishment without the State, in: Nous 22 (1988), 437–453. 3 Vgl. John Locke, Second Treatise of Government, § 6, in: John Locke, Two Treatises of Government, hg. von Peter Laslett, Cambridge 1960 (Neudruck 1991), 270 f. 4 Ebd., § 11, 274. 5 Ebd., § 10, 273.
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(2) Ein edlerer Zweck als jener der bloßen Selbsterhaltung erfordert es, A zu töten, z.B. der Schutz unschuldigen Lebens gegen schuldhafte Angreifer wie in Lockes Theorie der Notwehrtötung,6 die Strafgerechtigkeit oder die Verteidigung des Vaterlandes. Man könnte auch sagen, daß es bei dieser Form von autorisierter Tötung nicht um den Schutz eines privaten Gutes, sondern öffentlicher Güter geht, welche das Zusammenleben der Menschen sichern oder erheblich verbessern. (3) Ein göttlicher Befehl könnte B autorisieren, A zu töten – wie im Fall der biblischen Geschichte von Abraham und Isaak. Da eine nichttheokratische Regierung sich nicht direkt vom göttlichen Willen ableiten oder darauf berufen kann, kommt dieser Strafgrund für staatliches Strafen jedoch nicht in Betracht. Er könnte jedoch für die Strafe im Naturzustand Bedeutung haben. (4) Die Zustimmung aller könnte B autorisieren, die Todesstrafe zu vollziehen. Wird die Zustimmung voluntaristisch als Wunsch aller interpretiert, so ist damit nach Lockes eigener Auffassung kein moralisch verbindlicher Grund zu strafen gegeben: „Hence, if the general consent of men is to be regarded as the rule of morality, there will either be no law of nature at all or it will vary from place to place [...]“.7 Weil Locke die voluntaristische Zustimmung zur Strafe nicht als deren Legitimationsbasis vorsieht, muß er auch nicht auf jenes Paradox antworten, daß besagt, daß normalerweise niemand seine eigene Bestrafung wünscht und ihr deshalb auch nicht zustimmen könne. Wird die Zustimmung dagegen als rationaler Akt verstanden, so fällt sie mit der von Locke vorausgesetzten intuitiven Einsicht in die Richtigkeit elementarer Strafprinzipien zusammen, welche unangemessene und unverdiente Strafen ausschließen. Sie ist das ethische Fundament dafür, daß mutatis mutandis auch eine Regierung dazu autorisiert werden kann, zu strafen. Dieser Gedanke steht allerdings in einem gewissen Spannungsverhältnis dazu, daß das Recht zur (Todes-)Strafe bereits der Definition oder dem Begriff von ‘political power’ eingeschrieben sein soll, wie der § 6 der Zweiten Abhandlung nahelegt. Im Folgenden soll nun versucht werden, die zuletzt angesprochene Auffassung, daß es ein natürliches Recht zu strafen bzw. zur Exekution einer Strafe gibt, bona fide darzustellen und – so weit als möglich – gegen Einwände zu vertei-
Ebd., § 16, 278 f. John Locke, Essays on the Law of Nature V, in: John Locke, Political Essays, hg. von Mark Goldie, Cambridge 1979, 110. 6 7
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digen. Lockes diesbezügliche Überlegungen lassen sich in insgesamt 17 Schritten rekonstruieren: 1. Wo es Verhaltensregeln gibt, besteht auch ein Bedürfnis danach, Regelverletzer zu bestrafen. Im Naturzustand gibt es Regeln, nämlich die Regeln des natürlichen Rechts, unter anderem die bekannten moralischen Grundsätze, die besagen, daß das Leben, die vitalen Interessen und das Eigentum anderer nicht verletzt werden dürfen. Der Einwand, daß es sich nicht bei allen Sanktionen um Strafen handelt, soll hier nicht ausführlich diskutiert werden. Entsprechende Versuche, den Strafbegriff eng zu definieren und damit den Begriff der natürlichen Strafe zur contradictio in adjecto abzustempeln,8 beruhen auf der Errichtung sogenannter „Definitionssperren“, tragen aber m.E. nicht zur Klärung der Sachlage bei.9 Daß Locke etliche interessante Elemente des Strafgedankens in den Begriff des natürlichen Strafens aufnimmt, werden wir gleich sehen. Zwar findet sich bei Locke sporadisch die Bezugnahme auf das Wort ‘Strafe’,10 doch sollte man die Sinnspitze seiner Argumentation nicht darin sehen, daß Locke sogenannte „definitional stops“11 aufrichtet, sondern vielmehr darin, daß er auf eine (von der Bezugnahme auf die Semantik der natürlichen Sprache letztlich unabhängige) Wesenseinsicht abzielt, d.h. auf ein intellektuelles Verstehen und Nachvollziehen dessen, was im Bereich des Strafens richtig und falsch ist. 2. Auch im Naturzustand gibt es gültige Auffassungen darüber, was eine gerechte Strafe ist. Es gibt entschiedene Proteste über ungerechte Strafen, die bereits im Kontext der Familie ihren Ursprung haben. Wer z.B. gegen die unter Punkt 1 genannten moralischen Grundsätze verstößt, verdient eine angemessene Strafe. Unangemessene oder unverdiente Strafen sind dagegen a) Strafen gegen Unschuldige, die ohne hinreichenden Grund verdächtigt werden oder von denen man sogar weiß, daß sie keine Regel verletzt haben; die Unschuldsvermutung gehört zu den moralischen Elementen, die der natürlichen Strafe zukommen; mangelnde Sorgfaltspflicht bei der Verurteilung läßt bereits im Naturzustand Zweifel an der Gerechtigkeit einer Strafe aufkommen; b) Mehrfachbestrafungen für ein und dieselbe Regelverletzung; c) exzessive Strafen, z.B. Todesstrafe wegen des Diebstahls eines Apfels; Vgl. Jeffry G. Murphy, A Paradox in Locke’s Theory of Natural Rights, in: Dialogue – Revue canadienne de philosophie – Canadian philosophical review 8 (1969), 256–271. 9 Vgl. Alan John Simmons, Locke and the Right to Punish, in: Philosophy & Public Affairs 20/4 (1991), 357–378; Alan John Simmons, The Lockean Theory of Rights, Princeton 1992, Kapitel 2. 10 Vgl. etwa Second Treatise of Government (wie Anm. 3), § 8, 272: „[…] which is that we call punishment“. 11 Herbert L. Hart, Punishment and responsibility: Essays in the Philosophy of Law, Oxford 1968, 5. 8
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d) kollektive oder stellvertretende Strafen, z.B. die Bestrafung der Schwester eines Mörders; e) mangelnde Proportionalität im System von Strafen, z.B. ein größeres Strafmaß gegen Diebstahl als gegen Mord. Der letzte Punkt betrifft die komparative Gerechtigkeit von Strafen und damit eine Überzeugung, welche nicht nur punktuell auf einen Typus von Strafen bezogen ist, sondern den Zusammenhang oder das System der Strafen betrifft. Nun mag man einwenden, daß Locke seine Darstellung der die Strafe moralisch begrenzenden Elemente nicht in der Ausführlichkeit vorgenommen hat, die vielleicht wünschenswert gewesen wäre. Soviel immerhin steht fest, daß er den Begriff der „verdienten Strafe“12 ausdrücklich erwähnt. Damit inspiriert Locke seine Leser zu weiterführenden Überlegungen hinsichtlich der Theorie einer natürlichen und verdienten Strafe. Einige Implikationen dieses Begriffes lassen sich in der oben angedeuteten Weise explizieren. Der Begriff der Verdienste findet in der zeitgenössischen Philosophie erneut Beachtung.13 Trotz aller Kontroversen im Detail scheint es, daß man sich leicht über einige besonders ungerechte, weil unverdiente Strafen einigen kann. 3. Die genannten Aspekte unverdienter Strafen könnten als Anlaß zur Verankerung der Theorie der natürlichen gerechten Strafen in unseren wohlerwogenen Überzeugungen über Fairneß beim Strafen dienen. Eine spezifische Anspielung Lockes auf den Fairneßgedanken könnte man in der Bemerkung sehen, daß das Strafmaß danach bemessen sein sollte, dem bestraften Täter seine Straftat als einen schlechten Handel erscheinen zu lassen: „I answer, Each Transgression may be punished to that degree, and with so much severity as will suffice to make it an ill bargain to the Offender“.14 Der Täter soll – übersetzt in die Sprache moderner Fairneß-Theorien der Strafe – daran gehindert werden, aus einer ungesühnten Straftat gegenüber allen anderen regelkonformen Individuen unfaire Vorteile zu ergattern. Strafe kann so auch unter dem Gesichtspunkt der Wiederherstellung eines Fairneß-Gleichgewichts betrachtet werden – ein Gedanke, der allerdings nicht über alle philosophischen Zweifel erhaben ist.15
12
Locke, Second Treatise (wie Anm. 3), § 87, 324; Locke, Law of Nature (wie Anm. 7), 118
(VI). Vgl. C. W. K. Mundle, Punishment and Desert, in: Philosophical Quarterly 4 (1954), 216– 228; Louis P. Pojman, Owen McLeod, What Do We Deserve? A Reader on Justice and Desert, New York, Oxford 1999; Serena Olsaretti (Hg.), Desert and Justice, Oxford 2003; George Sher, Desert, Princeton 1987. 14 Locke, Second Treatise (wie Anm. 3), § 12, 275. 15 Vgl. Jean-Claude Wolf, Strafe als Wiederherstellung eines Gleichgewichts, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), 199–216. 13
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4. Niemand sollte gleichgültig gegenüber Regelverletzungen bleiben, jedermann sollte sich an der Beurteilung, Verurteilung und Abschreckung von Regelverletzern beteiligen. Man könnte diese Pflicht zur Teilnahme als Korollarium der generellen Liebespflicht betrachten, die Locke aus der Gleichheit der Menschen folgert. Diese Liebespflicht schließt ein, daß wir gegenüber zu Unrecht Geschädigten nicht gleichgültig sind. Wer überhaupt keinen Beitrag zur Bestrafung von Übeltätern leistet, macht sich zu ihrem stillschweigenden Komplizen. Niemand sollte bei dieser Beteiligung an Strafen die moralischen Grenzen der gerechten Strafen überschreiten und andere willkürlich kontrollieren, bedrohen oder verfolgen. 5. Es gibt eine Pflicht zur Teilnahme an der moralischen Gemeinschaft, aus der vielleicht keine Pflicht, selber zu strafen, aber mindestens ein Recht zu strafen folgt. Es ist ein Recht aller.16 Es besagt, daß im Prinzip jede mündige Person zugleich Richter und Strafvollzugsbeamter sein kann oder in Analogie zu einem solchen Amt handeln darf, weil die unter 1 und 2 genannten Regeln allen bekannt sind und niemand von der Pflicht zur Partizipation an der moralischen Gemeinschaft dispensiert ist. Mit anderen Worten: Das Recht oder die moralische Fähigkeit zu strafen kommt im Naturzustand allen (erwachsenen) Menschen zu. Der rechtfertigende Hintergrund von Lockes Auffassung von Gleichheit findet sich in seiner christlichen Theologie.17 6. Zur Vermeidung von Mehrfachbestrafung könnte man sich an die Regel halten: „Wer zuerst kommt, straft zuerst“. Nicht alle Menschen werden jedoch das Recht auf Strafe als erstrebenswerten Vorteil betrachten. Für einige Menschen dürfte es kaum möglich oder jedenfalls sehr riskant sein, andere zu bestrafen. Den Gedanken, sich des Rechts zu strafen aus Gründen der eigenen Sicherheit zu enthalten, hat Locke selbst formuliert: „Every one as he is bound to preserve himself, and not to quit his Station wilfully; so by the like reason when his own Preservation comes not in competition, ought he, as much as he can, to preserve the rest of Mankind [...]“.18 7. Um das Risiko von Vergeltungsmaßnahmen, die sich gegen die Strafenden selbst richten, zu reduzieren, werden diese versuchen, Koalitionen zu bilden. Jedermann kann sich einer solchen Koalition anschließen. Locke erwähnt diese Koalitionen im Zusammenhang mit dem Recht auf Kompensation. „And any other Person who finds it just, may also joyn with him that is injur’d, and 16 Vgl. Robert Nozick, Anarchy, State, and Utopie, New York 1974, 137–142; Gerald Posterma, Nozick on Liberty, Compensation, and the Individual’s Right to Punish, in: Social Theory and Practice 6/3 (1980), 311–337. 17 Vgl. Jeremy Waldron, God, Locke and Equality. Christian Foundations in Locke’s Political Thought, Cambridge 2002. 18 Locke, Second Treatise (wie Anm. 3), § 6, 271, Hervorh. J.-C. W.
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assist him in recovering from the Offender, so much as may make satisfaction for the harm he has suffer’d“.19 Obwohl Locke Kompensation und Strafe trennt, ist es naheliegend, die Tendenz zum Beistand und zur Bildung von Koalitionen von der Kompensation auf die Strafe zu übertragen. 8. Es könnte sich herausstellen, daß sich einzelne Akteure oder Gruppen auf die Exekution von Strafen spezialisieren, die sich selber besser gegen das Risiko von Vergeltungsmaßnahmen schützen können. Die von Robert Nozick beschriebene Tendenz zur Bildung privater Schutzorganisationen trägt dazu bei, bestehende Konflikte in der Gesellschaft durch die Bildung einer Konkurrenz verschiedener Schutzorganisationen zu verschärfen und diese zu einem Instrument von Gruppeninteressen und Klassenkämpfen zu machen. Welche private Schutz- oder Straforganisation setzt sich durch? Bewähren sich im Wettkampf besonders brutale oder besonders heimtückische Verfahren? Oder sind es vorerst die besonders „professionellen“ Gruppen, die sich an die Regeln des Naturrechts halten? Die Tendenz zur Mehrfachbestrafung läßt sich in einer größeren und unübersichtlichen Gemeinschaft nur schwer vermeiden; es könnten beispielsweise zwei oder mehrere Schutzorganisationen mit der Bestrafung ein und desselben Täters beauftragt werden. So natürlich also die Einführung des Rechts auf Strafe erscheinen mag, so sehr bildet sie einen zusätzlichen Faktor der relativen Instabilität des Naturzustandes. Dies ist besonders dann der Fall, wenn der von einer Regelverletzung direkt Geschädigte oder Betroffene oder jemand, der sich mit ihm besonders identifiziert, selber straft und damit der Tendenz zum Übereifer, zur offenen oder latenten Rache und zum Exzeß der Gegenreaktion verfällt. Der Strafende als direkt Betroffener oder Partei neigt zum ‘special pleading’, d.h. zur Überschätzung des ihm angetanen Unrechts und zur Abwertung der Rechte der Beschuldigten. Schon im Naturzustand könnten sich z.B. Opferorganisationen bilden, welche schärfere Strafen erzwingen und die Rechte der Täter ignorieren. 9. Aus der Tendenz zur Verschärfung von Konflikten und der unkontrollierbaren Mehrfachbestrafung entsteht das Bedürfnis nach einem Staat, der das Monopol zur Strafe hat und diese ohne Konkurrenz durchsetzen kann. Die Anfälligkeiten für Irrtum und der Mißbrauch in der Umsetzung des natürlichen Rechts zur Strafe motivieren den Übergang vom Naturzustand zu einem bürgerlichen Zustand unter Gesetzen. Durch die Professionalisierung und Spezialisierung der Justiz und die Ausdifferenzierung von Kontrollverfahren unter den Rahmenbedingungen des Staates und der staatlichen Normkontrolle wird die Anfälligkeit für Fehlurteile reduziert, durch die Organisation von Anklage und Verteidigung werden alle Parteien angehört und vertreten; schließlich werden die praktischen und finanziellen Schwierigkeiten bei der Strafverfolgung, 19
Ebd., § 10, 273.
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der Verurteilung, der Umsetzung von Urteilen in Strafen und der Organisation des Strafvollzugs, denen sich private Straforganisationen gegenüber sahen, durch eine öffentliche Macht besser gelöst. 10. Da die Individuen dem Staat nicht eine willkürliche Macht zur Verfolgung oder Abschreckung von Regelverletzern anvertrauen, sondern nur das Recht, angemessen zu strafen, hat der Staat auch gegenüber Fremden, die sich auf seinem Territorium befinden und Regeln verletzen, nur das Recht zur Ausweisung oder zur angemessenen Bestrafung. Anders gesagt, der Staat kann bei manchen Delikten und Verbrechen die „Bedingung der Partikularität“20 ausblenden, nach der die Bürger nur den Gesetzen ihres Landes Gehorsam schulden. Ein Fremder wird nicht deshalb bestraft, weil er den Gesetzen des fremden Landes generell Gehorsam schuldete (was nach der Bedingung der Partikularität nicht zutrifft), sondern weil er den Regeln des natürlichen Rechts Gehorsam schuldet, wo auch immer er sich aufhält. Mit anderen Worten, das Recht des Staates zu strafen ergibt sich nicht allein aus der (expliziten oder stillschweigenden) Zustimmung der Bürger zur Autorität der Regierung, sondern primär aus der Tatsache, daß die Bürger dem Staat das allen zukommende natürliche Recht, angemessen zu strafen, delegieren. Dieser Transfer hat zwei Wirkungen, eine entgrenzende in bezug auf landesfremde Straftäter, und eine begrenzende in bezug auf angemessene und verdiente Strafen. Das Recht des Staates zu strafen wird nicht vom Souverän erschaffen, sondern lediglich übernommen. Er erbt kein moralisch unbegrenztes Recht zur Bedrohung, Verfolgung oder Abschreckung, sondern nur ein Recht auf Strafen in den naturrechtlich vorgegebenen Grenzen der Verhängung verdienter Strafen. Man könnte auch sagen, daß jedes Individuum seinem Staat ein a priori limitiertes Recht auf Strafe delegiert. Daher hat auch der Staat, dessen Macht sich aus dem (vernünftigen) Willen seiner Bürger addiert, eine a priori begrenzte Autorität, welche z.B. eine Verletzung der retributiven Grenzen der Strafe aus Gründen der Effizienz oder der Staatsräson verbietet. Eine drakonische Strafe gegen Bürger (oder Fremde), die man lediglich des Terrorismus verdächtigt, wäre ungerecht; ungerecht wäre auch die stellvertretende Bestrafung der Angehörigen eines überführten Terroristen. Nur ein absolutistischer (oder imperialistischer) Staat, der die Bindung an die naturrechtlichen Elemente des Retributivismus nicht akzeptiert oder eigenmächtig suspendiert, kann sich die Exzesse des Präventionismus gestatten, die im sogenannten ‘Krieg gegen den Terrorismus’ ins Kraut schießen. Was zählt im Krieg gegen den Terrorismus schon das Recht des Individuums auf seine Privatsphäre? 11. Lockes Theorie mündet in das vermeintliche Paradox, daß das natürliche Strafen ein normatives Ideal des staatlichen Strafens antizipiert, obwohl das 20
Alan John Simmons, Moral Principles and Political Obligations, Princeton 1979, 30–35.
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System des natürlichen Strafens ebenso wie die gesamte Konstruktion eines Naturzustandes instabil und damit kein moralisches Vorbild für den Staat sein kann. Die Auflösung des Paradoxes besteht darin, daß das staatliche Strafen die retributiven Elemente des natürlichen Strafens, d.h. die moralischen Grenzen der angemessenen und verdienten Strafe, zugleich als dominierende moralische Strafprinzipien integriert und deren Umsetzung durch eine öffentliche Macht flankiert und verbessert. 12. Ein Regelverletzer verwirkt (forfeits, forfeiture of rights) gewisse Rechte, aber nicht alle. Er verliert im Minimum seine Immunität vor Strafverfolgung, im Maximum vielleicht sein Lebensrecht. Die Theorie der partiellen Rechtsverwirkung ist vereinbar mit der Theorie der partiellen Rechtsbewahrung des Täters, insbesondere mit der Bewahrung der Rechte auf nicht mehr als die verdiente Strafe. Dies schließt nicht nur eine völlige Instrumentalisierung für den übergeordneten Zweck der Prävention aus, sondern auch die Ersetzung der Strafe durch eine therapeutische oder pädagogische Zwangsmaßnahme. Auch diese Idee müßte bereits im Kontext des natürlichen Strafens greifen, wenngleich nur im Verhältnis zwischen gleichrangigen Akteuren und nicht etwa im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Wichtiger noch wird die Idee der partiellen Rechtsbewahrung im Verhältnis des einzelnen Täters gegenüber dem übermächtigen Staat. 13. Ob die Betonung der moralischen Grenzen des Strafens mit Lockes Plädoyer für die Todesstrafe21 vereinbar ist, mag zweifelhaft erscheinen. Angreifbar ist hier insbesondere Lockes extreme Variante der Theorie der Rechtsverwirkung, die besagt, daß der Mörder nicht nur einige Rechte, sondern alle Rechte verliert. Er verliert seinen Status der Gleichheit unter Menschen und darf wie eine wilde Bestie behandelt werden, mit der keine Gemeinschaft und keine Sicherheit möglich ist. Der Mörder degeneriert so betrachtet zur rechtslosen Gefahrenquelle. Dies widerspricht allerdings der Auffassung, daß er als schuldfähige und schuldige Person betrachtet wird. Die von Locke in der extremen Variante der Theorie der Rechtsverwirkung begründete Todesstrafe ist keine Strafe mit inhärentem Schuldvorwurf, sondern eine bloße Maßnahme. Gerade der eines Mordes Verdächtigte, so lautet mein Einwand gegen Locke, ist ganz besonders auf grundlegende und unverlierbare Rechte angewiesen, unter anderem auf das Recht auf einen fairen Prozeß sowie das Recht, auch nach der Verurteilung und im Strafvollzug – oder in der Wartefrist bis zur Exekution – nicht zu einem bloßen Mittel instrumentalisiert zu werden, z.B. als unfreiwilliger Organspen21 Vgl. Locke, Second Treatise (wie Anm. 3), und Locke, Political Essays (wie Anm. 7), Index zu „death penalty“; Thomas Hurka, Rights and Capital Punishment, in: Dialogue – Revue canadienne de philosophie – Canadian philosophical review 21 (1982), 647–660.
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der oder als Sexualobjekt. Auch wenn der Mörder bereits im Naturzustand sein Recht auf Leben verwirken sollte, so verwirkt er damit weder das Recht auf einen fairen Prozeß noch auf die anderen weiter oben genannten moralischen Rücksichten, die im Naturzustand für eine gerechte Strafe konstitutiv sind. Lockes extreme Variante der Theorie der Rechtsverwirkung übersieht die besondere Verwundbarkeit jener Menschen, die eines Schwerverbrechens verdächtigt und überführt werden und die es gegen retributiven Übereifer zu schützen gilt. 14. Das Maß der Strafe orientiert sich auch am Ziel, dem Täter Gelegenheit zur Reue zu verschaffen.22 Strafe kann als solche nicht Reue bewirken, wie Locke meint, aber sie könnte idealiter so gestaltet werden, daß Raum bleibt für Einsicht und Reue. Diese kann als Reue des Täters darüber verstanden werden, daß er sich eine Strafe zugezogen hat. Dabei handelt es sich zunächst lediglich um eine Reue bezüglich der eigenen Unklugheit in der Vermeidung von Sanktionen; angesichts der zu erwartenden Strafe hat sich das Verbrechen eben nicht gelohnt. In letzter Instanz verwirft Locke jedoch eine rein prudentielle Begründung der Verpflichtung im Wunsch nach Belohnung und Vermeidung von negativen Sanktionen: „Utility is not the basis of the law or the ground of obligation“.23 Damit kommen wir zu einer zweiten Bedeutung des Wortes. Reue kann auch als tieferes Bedauern darüber verstanden werden, daß jemand Unrecht begangen und sich gegenüber anderen einen unfairen Vorteil verschafft hat. Versteht man Reue in diesem anspruchsvollen und moralischen Sinne als Unrechtsbewußtsein, so gerät die Absicht, durch Strafe Reue zu bewirken, in ein Spannungsverhältnis zu Lockes Beschränkung der Strafe auf verdiente Vergeltung, Kompensation und Abschreckung. Deshalb schlage ich vor, nur davon zu sprechen, daß die Strafe Gelegenheit zur Reue bieten sollte. 15. Nur wenn die Reue im ersten Sinne als Reue über die eigene Unklugheit verstanden wird, ist verständlich, daß ein zum Tode Verurteilter sofort nach der Urteilsverkündung Reue empfinden wird. Sofern die überstürzte Hinrichtung den Täter irreversibel daran hindert, zu Lebzeiten noch sittliche Reue für seine Tat zu empfinden, wäre sie kontraproduktiv. Auch wenn Locke keine Erziehungs- oder Reformtheorie der Strafe befürwortet, so gehört es doch zum Respekt vor der Person, der verurteilten und zu bestrafenden Person Gelegenheit zur Einsicht in ihr Unrecht und zur Reue zu gewähren. Die Todesstrafe schließt den Gedanken einer tätigen sittlichen Reue im Strafvollzug aus, wenn sie rasch vollzogen wird. Auch die Tatsache, daß die Todesstrafe die Revision von Urteilen oder gar die Rehabilitierung von unschuldig Verurteilten zur Farce macht, 22 23
Vgl. Locke, Second Treatise (wie Anm. 3), § 8, 272. Locke, Law of Nature (wie Anm. 7), 133 (VIII).
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spricht gegen sie. Völlig inakzeptabel ist die Todesstrafe, deren Vollzug sich um Jahre und Jahrzehnte verlängert und dadurch zwar viel Gelegenheit zur Reue bietet, aber auch zur seelischen Folter wird. 16. Lockes übertriebene Formulierung der Theorie der Rechtsverwirkung24 setzt nicht nur die problematische Gleichsetzung eines Mordes mit einem Verbrechen gegen die Menschheit voraus, so daß der Unterschied zwischen Mord und Völkermord verschwindet, sondern sie folgt einer buchstäblichen Deutung des ius talionis. Zieht man außerdem in Betracht, daß Locke die staatliche Souveränität auch durch das Recht definiert, die Todesstrafe als ultima ratio zu vollziehen,25 so erhält seine Theorie der Rechtsverwirkung überdies einen unfreiwillig absolutistischen Beigeschmack. Die Legitimation der Todesstrafe folgt aber keineswegs notwendigerweise aus seinen Überlegungen zur natürlichen Strafe, denn auch im Naturzustand läßt sich aus der Auffassung, daß gewisse Taten den Tod verdienen, keine Lizenz aller zum Vollzug der Todesstrafe ableiten. Die buchstäbliche Anwendung des ius talionis führt zu einer Verpflichtung, die Art und Weise von Verbrechen zu imitieren, also z.B. eine Tötung durch Verstümmelung mit Tötung durch Verstümmelung zu vergelten und dadurch zu einer Barbarisierung des Strafvollzugs. Die Erteilung einer solchen Lizenz an alle würde den Haß und die Rachsucht vermehren und den Naturzustand unmittelbar zu einem Krieg aller gegen alle machen – eine Konsequenz, die eher zu Hobbes paßt als zu Locke. Auch die Erwähnung der Irreversibilität des Todes, die im Falle des Mordes eine Kompensation unmöglich mache, ist für sich genommen kein durchschlagendes Argument für die Todesstrafe. Zum einen lassen sich manche andere Verbrechen wie z.B. der Diebstahl und die Zerstörung eines einmaligen und heiß geliebten Sammelobjekts nicht direkt ersetzen. Zum anderen gibt es andere Formen der indirekten Kompensation wie z.B. Leistungen der tätigen Reue oder Entschädigungen für die Angehörigen des Ermordeten. 17. Nach Locke enthält der Naturzustand gewisse Kräfte und Vorkehrungen zur Vermeidung der Eskalation, die ihn im Vergleich zu einer Tyrannis als geringeres Übel erscheinen lassen.26 Der Naturzustand ist charakterisiert durch eine Bemühung nicht nur eines, sondern vieler Menschen, unparteiisch zu urteilen. Diese Bemühung schließt die bereits genannte Sorgfaltspflicht und maßvolle Zurückhaltung bei der Überwachung und Verurteilung anderer ein (vgl. dazu oben Punkt 4). Der Mensch im Naturzustand hat gegenüber dem Schuldigen die Vollmacht, „only to retribute to him, so far as calm reason and
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Vgl. Locke, Second Treatise (wie Anm. 3), §§ 10, 11, 16, 183. Vgl. ebd., §§ 65, 74. Vgl. ebd., § 13, 276.
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conscience dictates“.27 Diese Vollmacht verpflichtet den Menschen, nur so zu strafen, „as he soberly judges the Case to require“.28 Daß dies manchen von ihnen, insbesondere wenn sie Richter in eigener Sache sind, nicht gelingt, macht den Naturzustand unerträglich („the inconveniences of the Natural State“);29 daß dies dem Tyrannen, dem der ganze Staat zur Privatsache wird, gar nicht erst gelingen kann, macht die Tyrannis so verwerflich. Anders gesagt: Da der Mensch im Naturzustand häufig vor der Aufgabe steht, in fremder Sache zu urteilen, ist die Wahrscheinlichkeit, daß der einzelne unparteiisch entscheidet, von vornherein viel größer als im Fall des Tyrannen, der nie in fremder Sache entscheidet, sondern immer nur aus dem Kalkül der Erhaltung oder Steigerung der eigenen Macht. Der Tyrann unterwirft alle seinem ungerechten Willen; im Naturzustand ist hingegen niemand dem ungerechten Willen eines anderen unterworfen. Auch wer mit ihrer naturrechtlichen und theologischen Begründung nichts anfangen kann, wird gleichwohl Anregungen zu einer Aktualisierung der Lockeschen Theorie der natürlichen Strafe in einem säkularen Begründungszusammenhang finden. Locke selber meint, man werde seine Lehre „seltsam“ finden. Wie die von ihm diskutierten Selbsteinwände nahelegen, könnte damit der Eindruck gemeint sein, daß sich die Situation im Naturzustand durch die Einführung eines Rechts auf Strafe nur verschlechtere. Wie unsere Diskussion gezeigt hat, ist dies jedoch nicht notwendigerweise der Fall. Ein relativ geordneter Naturzustand, der sich vom Kriegszustand oder von einem Unrechtsstaat vorteilhaft unterscheidet, ist nur denkbar, wenn sich alle möglichst unparteiisch an der Ahndung von Regelverletzungen beteiligen. Eine solche Ordnung ist alles andere als optimal, aber sie ist immer noch besser als ein Naturzustand, in dem in Bezug auf Regelverletzungen, die den Einzelnen nicht direkt schädigen oder benachteiligen, Gleichgültigkeit und Untätigkeit herrschen und in dem sich jeder nur um das eigene Überleben und die Selbstverteidigung kümmert. Weil für viele Menschen das Risiko einer selbständigen oder gar solitären Ausführung von Strafaktionen für ihr eigenes Leben zu hoch wäre, würde es im Naturzustand bereits genügen, daß sich die meisten, sofern sie nicht professionelle und organisierte Bestrafer sind, durch öffentliche Kritik und Beiträge an private Schutzorganisationen an der generellen Schärfung des Rechtsbewußtseins beteiligten. So betrachtet läßt sich die Pflicht der meisten im Naturzustand fast nahtlos in die Pflicht aller im bürgerlichen Zustand transponieren. Im Unterschied zu
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Ebd., § 8, 272. Ebd., § 9, 273. Ebd., § 13, 276.
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Hobbes verlangt Locke von den Bürgern nicht eine Suspendierung des politischen Urteilsvermögens. Die Anerkennung des staatlichen Monopols auf Strafe ist vereinbar mit einer regen Beteiligung der Bürger an Rechtsfragen. Das Zusammenleben unter Gesetzen setzt nicht nur eine effiziente und professionelle Justiz voraus, sondern auch ein wachsames, um Ausgewogenheit und Unparteilichkeit bemühtes Rechtsbewußtsein, das die Fragen der verdienten, angemessenen, wirksamen und wiedergutmachenden Strafen nicht dem Staat und seinen Richtern, den Opfern oder einigen lautstarken Opferorganisationen überläßt. Anders gesagt: Das Recht ist nicht nur eine Angelegenheit von Behörden und spezialisierten Eliten, sondern eine Angelegenheit der gemeinsam geteilten Rechtskultur sowie ihrer kritischen und selbstkritischen Mehrheiten- und Minderheitenverteter. Dies könnte die liberale Botschaft von Lockes Theorie für Leserinnen und Leser des 21. Jahrhunderts sein.30 In seinem Second Treatise on Government vertritt Locke die Auffassung, daß die Menschen bereits im Naturzustand ein Recht zu strafen besitzen. In diesem Beitrag wird Lockes Theorie des natürlichen Rechts zu strafen in ihren Grundzügen dargestellt und gegen einige Standardeinwände verteidigt. Die Aktualität von Lockes Theorie kann darin gesehen werden, daß die Strafrechtspraxis nicht nur eine Angelegenheit von Behörden und spezialisierten Eliten ist, sondern eingebunden sein muß in eine gesamtgesellschaftlich getragene Rechtskultur. In his Second Treatise on Government Locke argues for a natural right to inflict punishment upon others. In this article Locke’s argument will be reconstructed and defended against some standard objections. Finally, the author reflects on the relevance of Locke’s theory, which stems from the fact that the practice of criminal punishment is not a matter reserved for the authorities and specialized elites. Rather, it must be conducted in accordance with the consent of society as a whole. Prof. Dr. Jean-Claude Wolf, Departement Philosophie, Universität Miséricorde, Avenue de l’Europe 20, Ch-1700 Fribourg, E-Mail: [email protected]
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Für sorgfältige Lektüre und wertvolle Verbesserungsvorschläge danke ich Volker Dieringer.
K U R Z BI O G R A P H I E
JOHN LOCKE (1632–1704)
Grundlegung des neuzeitlichen erkenntnistheoretischen Empirismus, Toleranz, christlicher Glaube, Religionsphilosophie, Naturrecht, Staatsphilosophie, Fragen persönlicher Identität, Sprachphilosophie, Pädagogik, Nationalökonomie, Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Diplomatie, Medizin: Das ist nur eine Auswahl der Arbeitsgebiete des angelsächsischen Multitalents, Stammvaters des britischen Empirismus und Mitinitiators der europäischen Aufklärung John Locke. So vielgestaltig sein Lebenswerk war, so wechselvoll stellt sich sein Lebensweg dar, der oft genug vom Schicksal seines Gönners in politisch unruhigen Zeiten und einer labilen Gesundheit bestimmt wurde. Geboren wird Locke am 29. August 1632 als erstes Kind des Rechtsanwalts und Friedensrichters John Locke sen. und seiner Frau Agnes in Wrington (Somerset). Beide Eltern entstammen der puritanischen Mittelschicht. Ererbter Grundbesitz, Immobilien sowie erfolgreiche Aktivitäten im Kolonialhandel sichern Locke lebenslang soliden Wohlstand. Nach dem Besuch der Westminster-Schule in London nimmt er 1652 das Studium am „Christ Church College“ in Oxford auf, wo er Philosophie, später Medizin und Naturwissenschaften studiert und nach Erhalt des Magistertitels 1658 die akademische Lehrtätigkeit als Tutor für Philosophie und Grammatik aufnimmt. Von der Publikation erster akademischer Arbeiten sieht Locke ab (Essays on the Law of Nature, 11954). Im Novem-
ber 1665 geht er für vier Monate als Gesandtschaftssekretär an den brandenburgischen Hof nach Kleve, lehnt aber weitere Verwendung im diplomatischen Dienst ab. Zwei Jahre darauf erfolgt der Umzug nach London, wo er bei dem einflußreichen Politiker Lord Anthony Ashley Cooper Graf Shaftesbury (1621–1683) eine Stelle als Arzt, Berater und Erzieher des Sohnes und nachfolgend des Enkels, des späteren Philosophen Shaftesbury (1671–1713), antritt. Damit geht eine Abwendung von restaurativen Anschauungen einher, wie er sie in den vom Anfang der 60er Jahre stammenden Two Tracts on Government (11690 [recte: 1689]) vertrat, was sich in dem erst posthum veröffentlichten Essay concerning Toleration (11876) niederschlägt. 1668 wird er Mitglied der renommierten „Royal Society“ und pflegt den Austausch mit richtungsweisenden Naturwissenschaftlern wie dem Chemiker Boyle und dem ‘englischen Hippokrates’ Sydenham. Gegen Ende der 60er Jahre setzt sich Locke mit Themen der Nationalökonomie, Finanz- und Wirtschaftspolitik auseinander. Was Fragen des Geldwertes und der Zinsrate angeht, optiert er gegen staatliche Restriktionen und setzt auf Selbstregulierungskräfte des Kapitalmarktes (Some Considerations of the Consequences of the Lowering of Interest [1692], Further Considerations concerning Raising the Value of Money [1695]). Zu Anfang der 70er Jahre treten erkenntnistheoretische Fragen in den Vor-
Aufklärung 18 · © Felix Meiner Verlag 2006 · ISSN 0178-7128
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dergrund. Als Debatten im Bekanntenkreis über moralische oder theologische Gegenstände ergebnislos abgebrochen werden müssen, reift bei Locke die Überzeugung, daß vor jeder Bearbeitung philosophischer Sachfragen eine Erforschung der prinzipiellen Leistungsfähigkeit der Erkenntniskräfte selbst stehen müsse, um sicherzustellen, inwieweit der Verstand als Instrument zu ihrer Beantwortung geeignet sei. Aus derartigen Überlegungen gehen die ersten Entwürfe zum späteren Hauptwerk Essay concerning Human Understanding, der Draft A und B, hervor. Den Herbst 1672 verbringt Locke in Paris. Nach seiner Rückkehr engagiert er sich bis zu seinem Lebensende in Wirtschaftsorganisationen wie dem „Council for Trade and Foreign Plantations“, der Eigentümervertretung von Carolina, einer Steuerberufungskommission und dem nationalen „Board of Trade“, wo er für protektionistische Restriktionen in den Handelsbeziehungen mit den Kolonien sowie Irland und Schottland eintritt. Die Jahre ab 1675 verbringt Locke erneut in Frankreich, vor allem in Montpellier und Paris, und pflegt dort Kontakte mit Philosophen und Naturwissenschaftlern, u.a. mit dem späteren Grafen Pembroke, dem er seinen Essay widmen wird. Als sich das politische Klima 1679 entspannt, erfolgt die Rückkehr nach London zu Shaftesbury, der als Vertreter der protestantischen Liga in die Auseinandersetzungen um die Thronnachfolge eingriff und dessen politisches Schicksal sich nach zwölfmonatiger Towerhaft wendet. 1680–1682 verfaßt Locke den wesentlichen Teil der Two Tracts on Government. Doch bereits 1681 gerät er erneut in den Sog politischer Querelen um Shaftesbury. Letztlich muß auch Locke, der von der Geheimpolizei bespitzelt wird, Shaftesbury ins niederländische Exil folgen, wo dieser im gleichen Jahr stirbt. Locke hält sich
meist in Amsterdam, Utrecht und Rotterdam, den Zentren englischer Oppositioneller, unter falschem Namen auf. Die englische Regierung verlangt seine Auslieferung, und 1686 wird er in Utrecht zur ‘persona non grata’ erklärt. Erst im Februar des für Locke ereignisreichen Jahres 1689 ist an eine Rückkehr nach London zu denken, denn nach der ‘Glorreichen Revolution’ hatte Wilhelm von Oranien den englischen Thron bestiegen. Im April erscheint noch in Gouda anonym die Epistola de Tolerantia, eine Schrift, die, von den Religionsstreitigkeiten in Folge der Rekatholisierungsbestrebungen angestoßen, die Grenzen der Befugnisse von Kirche und Staat bestimmt. Sache der Religion ist die Sorge um das Seelenheil und das ewige Leben, die der Staatsgewalt der gesetzliche Schutz der Freiheit, der Unversehrtheit und der äußeren Güter der Bürger. Die Obrigkeit hat sich nicht in Glaubensangelegenheiten einzumischen. Sowohl die Vernunft als auch die Kirche gebieten Toleranz. Im Dezember erscheint, auf 1690 vorausdatiert, Lockes noch in den Niederlanden fertiggestellter Essay concerning Human Understanding in London. Als Honorar erhält er £ 30. Bis zu seinem Tode konzipiert er Zusätze und Verbesserungen, so etwa Of the Conduct of the Understanding (1706). Diese Abhandlung war als Abschluß des Essay gedacht und enthält Leitgedanken der Aufklärung, u.a. das Primat des Selbstdenkens und Vorurteilskritik. Neben der Grundlegung einer empiristischen Erkenntnistheorie ist der Essay auch für andere philosophische Problemfelder richtungsweisend. An 1694 hinzugetretene, vom irischen Mathematiker Molyneux angestoßene Erörterungen „Über Identität und Verschiedenheit“ ist da ebenso zu denken wie an bahnbrechende Ausführungen über Funktion der Sprache und Sprachkritik, mit denen Locke sich einen
Kurzbiographie
Platz in der Geschichte der Sprachphilosophie sichert. 1693 erscheinen Some Thoughts concerning Education, die neben Some Thoughts concerning Reading and Study for a Gentleman (1720) und Elements of Natural Philosophy (1720) Lockes pädagogische Positionen enthalten und aus Gesprächen und brieflichen Ratschlägen hervorgehen, die er der Tochter des Cambridger Platonikers Cudworth und späteren Lady Marsham bezüglich Kindererziehung gab. Locke vertritt zwar Grundsätze kindgerechter Erziehung, dies aber für Zöglinge, die es durch Privaterziehung und Elitebildung für den Stand des ‘gentleman’ vorzubereiten gilt, der künftig seinem Land nützen soll. Die nächsten Jahre sind von Kontroversen geprägt. 1695 tritt The Reasonableness of Christianity, as delivered in the Scriptures anonym ans Licht, in zweiter Auflage begleitet von der ersten Verteidigungsschrift A Vindication of the Reasonableness of Christianity (21696; A second Vindication [1697]). In ihr trägt Locke Ausführungen zur Rechtfertigung des christlichen Glaubens vor, jedoch keine rationale Theologie, denn die Offenbarungslehren seien „above reason“. Zwei Jahre darauf beginnt der Disput über den Essay mit Stillingfleet, Bischof von Worcester, der versucht, Lockes Positionen mit denen des Deisten Toland, der 1696 in einer programmatischen Schrift die Entmystifizierung des Christentums proklamiert hatte, zu identifizieren und damit verdächtig zu machen. Parallel verfaßt Locke eine berüchtigte Schrift About the better Relief and Unemployment of the Poor zur Sozialpolitik, in der er zur Bewältigung der Armut und Arbeitslosigkeit in England drakonische Maßnahmen vorschlägt. Im Sommer 1700 legt Locke aus gesundheitlichen Gründen alle öffentlichen Ämter nieder und zieht sich nach Oates
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(Essex) ins Haus der ihm nahestehenden Marshams zurück. Dort pflegt er den Austausch u.a. mit dem späteren Lordkanzler Peter King, seinem Verwandten, Biographen und Nachlaßverwalter sowie mit dem späteren Vorkämpfer der Denkfreiheit, Anthony Collins. Am Nachmittag des 28. Oktober 1704 stirbt John Locke inmitten seiner Bücher. Locke zählt zweifellos zu den einflußreichsten Philosophen des 18. Jahrhunderts. Sein Name ist nicht bloß mit dem britischen ‘Empiristendreigestirn’ Locke – Berkeley – Hume verbunden, und seine Wirkung erstreckt sich nicht nur auf die philosophische Fachwelt, sondern auf die ganze gebildete Öffentlichkeit. Sie erscheint exemplarisch für die Verknüpfung der inselbritischen mit der kontinentaleuropäischen Aufklärung sowie die zeitliche Priorität ersterer. Hutcheson versuchte in den Illustrations upon the Moral Sense (1728) den Lockeschen Empirismus für die Ethik fruchtbar zu machen, da dieser zur Ausarbeitung einer demonstrativen Moral als eigentlicher ‘Wissenschaft der Menschheit’ selbst nicht mehr gekommen war. Die bereits 1688 in LeClercs Bibliothèque Universelle et Historique, deren Mitarbeiter Locke damals war, erschienene französische Zusammenfassung des Essay und die 1700 gedruckte Übersetzung durch Coste begünstigten die Rezeption durch die ‘philosophes’. Voltaire rühmte Locke in den Lettres philosophiques (1734) als methodischen Geist, exakten Logiker und Anatom der Vernunft. Condillac betrieb im Traité des sensations (1754) eine Weiterentwicklung des Lockeschen Ansatzes hin zum Sensualismus. Trotz einer lateinischen Essay-Übersetzung 1701 durch Burridge verlief die Verbreitung der Lockeschen Philosophie in Deutschland schleppend, was auch die erste deutsche Übertragung durch Poley 1757 belegt. Zwar hatte Leibniz bereits 1703/05 den Essay in den
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Kurzbiographie
Nouveaux essais sur l’entendement humain (1765) einer kritischen Kommentierung in Dialogform unterworfen, sie aber nach Lockes Tod aus Pietätsgründen unveröffentlicht gelassen. Nachdem die Wolffsche Schulphilosophie an Dominanz eingebüßt hatte, hielt Georg Friedrich Meier im Wintersemester 1754/55 in Halle auf Befehl Friedrichs II. eine allerdings wenig frequentierte Vorlesung über den Essay. Auch wenn für die Ausbildung der Kantischen Transzendentalphilosophie in der Kritik der reinen Vernunft (1781) Locke eine bedeutsame Rolle spielte, kritische Töne finden sich auch; denn trotz zugestandener Verdienste um die Physiologie des menschlichen Verstandes und die Beilegung des ewigen Streites der Metaphysik sei Locke so inkonsequent gewesen, Erfahrungsbegriffe auf alle Erkenntnisgegenstände, d.h. auch erfahrungstranszendente Fragen, anzuwenden. Für den Deutschen Idealismus war Locke kaum mehr von Bedeutung. Auch wenn seine Rezeption geographischen und zeitlichen Schwankungen unterlag, so zählten John Lockes Schriften und besonders sein Essay zu den meistgelesenen und -gedruckten Werken der frühen Neuzeit, mit denen er einen prägenden Einfluß auf die Entwicklung der europäischen Geistesgeschichte ausübte. Noch heute geht man nur zum eigenen Schaden an seinen philosophischen Klassikern vorüber. Er selbst fordert die Nachwelt mit charakteristischer Bescheidenheit im von ihm selbst verfaßten Text seiner Grabschrift zur Lektüre auf: „Dies lerne aus seinen Schriften; sie werden Dir mitteilen, was von ihm übrig ist.“ Werkausgabe: John Locke, The Works. A new Ed., cor. 10 Bde. London 1823 (Nachdruck Aalen 1963). / Briefausgabe:
The Correspondence of John Locke, ed. by Esmond S. de Beer, 9 Bde., Oxford 1976 ff. / Biographien: Henry R. Fox Bourne, The Life of John Locke, 2 Bde., London 1876 (Nachdruck Aalen 1969); Maurice Cranston, John Locke. A Biography, London 11957 (31966); Udo Thiel, John Locke, Reinbek bei Hamburg 1990. / Literatur: Richard I. Aaron, John Locke, Oxford 31971; Reinhard Brandt (Hg.), John Locke. Symposium Wolfenbüttel 1979, Berlin, New York 1981; R. B., Locke und die Auseinandersetzung über sein Denken, in: Friedrich Ueberweg, Grundriss der Geschichte der Philosophie. Völlig neubearb. Ausg. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 3: England, hg. von Jean-Pierre Schobinger, Basel 1988, 605–758, §§ 29–30; Lothar Kreimendahl, John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, in: L. K., Interpretationen. Hauptwerke der Philosophie. Rationalismus und Empirismus, Stuttgart 1994, 51– 87; Lorenz Krüger, Der Begriff des Empirismus. Erkenntnistheoretische Studien am Beispiel John Lockes, Berlin, New York 1973; John L. Mackie, Problems from Locke, Oxford 1976; Rainer Specht, John Locke, München 1989; Roger S. Woolhouse, Locke’s Philosophy of Science and Knowledge. A Consideration of some Aspects of ‘An Essay Concerning human Understanding’, Oxford 1971; R. W., Locke, Brighton 1983; John W. Yolton, John Locke and the Way of Ideas, Oxford 1956 (Repr. 1968); J. Y. (Hg.), John Locke: Problems and Perspectives. A Collection of new Essays, Cambridge 1969; J. Y., Locke and the Compass of human Understanding. A selective Commentary on the ‘Essay’, Cambridge 1970; J. Y., Locke. An Introduction, Oxford 1985. Uta Golembek
AUFKLÄRUNG Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte
In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts herausgegeben von Karl Eibl, Norbert Hinske, Lothar Kreimendahl und Monika Neugebauer-Wölk unter Mitwirkung von Klaus Gerteis und Rudolf Vierhaus sowie Carsten Zelle. Gegenstand des Jahrbuches ist die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. Der Gedanke der erkenntnisfördernden Kraft der offenen, unparteiischen Diskussion war eine der wichtigsten Überzeugungen des Jahrhunderts. Es ist diese Grundhaltung der Aufklärung, die auch die Anlage des Jahrbuches bestimmt. Das Streben nach Interdisziplinarität war eine dominierende Tendenz und Ausdruck der Integrationskraft der Epoche. Der Umbruch des kulturellen und zivilisatorischen Selbstverständnisses sowie die Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft wurde von ihm mitbestimmt. Auch dieser Idee versucht die „Aufklärung“ zu entsprechen. Fachübergreifend angelegt, wird die „Aufklärung“ thematisch flexibel Ergebnisse und Perspektiven der verschiedenen Forschungsdisziplinen im Hinblick auf die jeweiligen sachlichen Schwerpunkte zusammenführen, die durch Kurzbiographien, Diskussionen sowie Forschungs- und Literaturberichte ergänzt werden. Anschrift der Redaktion Dr. Marianne Willems, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstraße 3, D-80799 München. Tel.: (089) 21 80 62 20 E-mail: [email protected]
Bezugsbedingungen Das interdisziplinäre Jahrbuch „Aufklärung“ erscheint im Umfang von mindestens 240 Seiten. Der Bezugspreis für den Jahrgang beträgt im Abonnement in Relation zum Umfang ab ‡.58,– zzgl. Versandspesen (Inland ‡.3,– / Ausland ‡.5,–). Einzelbände kosten ab ‡.68,– zzgl. Versandspesen. Mitglieder der „Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts“ bestellen Abonnements über die Geschäftsstelle der Gesellschaft (c/o Herzog August Bibliothek, Postfach 1364, D-38299 Wolfenbüttel) zum ermäßigten Mitgliederpreis ab ‡.42,– bzw. ab ‡.49,– pro Band, jeweils zzgl. Versandspesen (s.o.). Das Jahrbuch „Aufklärung“ und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. * * * © Felix Meiner Verlag, Richardstraße 47, D-22081 Hamburg. Tel. (040) 29 87 56-0, Fax (040) 29 87 56 20. Email: [email protected] Das Verlagsprogramm kann im Internet unter www.meiner.de eingesehen werden. ISSN 0178-7128.