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German Pages [242] Year 2011
Arbeit am europäischen Gedächtnis
Europäische Diktaturen und ihre Überwindung Schriften der Stiftung Ettersberg
Herausgegeben von Hans-Joachim Veen Volkhard Knigge Renate Müller-Krumbach in Verbindung mit Jorge Semprún † Bernhard Vogel Hans-Peter Schwarz Eckhard Jesse Gilbert Merlio Ehrhart Neubert Lutz Niethammer Mária Schmidt Karl Schmitt Robert Traba
Arbeit am europäischen Gedächtnis Diktaturerfahrung und Demokratieentwicklung
Herausgegeben von Volkhard Knigge, Hans-Joachim Veen, Ulrich Mählert und Franz-Josef Schlichting
Redaktion: Daniela Frölich
2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gefördert durch das Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur
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Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Kornelia Trinkaus, Meerbusch Druck und Bindung: Wilco, NL-Amersfoort Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-412-20794-6
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Inhalt
Hans-Joachim Veen Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Etienne François Europa als Erinnerungsgemeinschaft? Anmerkungen zur Frage nach einem europäischen Gedächtnis . . . . . . . . 13 Wie europäisch ist die nationale Erinnerung? Heidemarie Uhl Vom »ersten Opfer« zum Land der unbewältigten Vergangenheit: Österreich im Kontext der Transformationen des europäischen Gedächtnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Eckart Conze Wie europäisch ist die nationale Erinnerung Deutschlands? . . . . . . . . . . . 47 Günther Heydemann Italiens Beitrag zur europäischen Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Robert Traba Zu den Leitmotiven der kollektiven Erinnerung in Polen . . . . . . . . . . . . . 71 Gilbert Merlio Über das französische Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Walther L. Bernecker Zum Umgang mit konfliktiver Geschichte. Vergangenheitsdiskurse in Spanien zwischen Verdrängung und Polarisierung . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Alexander Vatlin Die sowjetische Vergangenheit im heutigen Russland . . . . . . . . . . . . . . . 123
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Inhalt
Das Haus der Europäischen Geschichte: Auf dem Weg zu einem europäischen Gedächtnis? Włodzimierz Borodziej Das Haus der Europäischen Geschichte – ein Erinnerungskonzept mit dem Mut zur Lücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Franziska Augstein Ein Europäisches Museum – warum, wozu? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Zsuzsa Breier Entspannung als Ergebnis der europäischen Geschichtsaufarbeitung?
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Volkhard Knigge Forum oder Identitätsfabrik – Anmerkungen zum Haus der Europäischen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Mária Schmidt Auf dem Weg zu einem europäischen Gedächtnis? Eine ungarische Sicht auf das geplante Haus der Europäischen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Stefan Troebst Für einen europäischen Süd-Ost-Diktatur(erinnerungs)vergleich . . . . . 169 Podiumsdiskussion der Referenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Anhang Sachverständigenausschuss Haus der Europäischen Geschichte Konzeptionelle Grundlagen für ein Haus der Europäischen Geschichte 197 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
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Hans-Joachim Veen
Einführung
Das 9. Internationale Symposium der Stiftung Ettersberg, das im Oktober 2010 in Zusammenarbeit mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, dem Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften und der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen durchgeführt wurde, war der Arbeit am europäischen Gedächtnis, den Diktaturerfahrungen und der Demokratieentwicklung in Europa gewidmet. Diese Arbeit wurde in Deutschland erst vor wenigen Jahren aufgenommen und gleich zu Beginn von Jorge Semprún, dem kürzlich verstorbenen geistigen Vater der Stiftung Ettersberg, nachdrücklich unterstützt. Semprún hat am 10. April 2005 im Weimarer Nationaltheater anlässlich der zentralen Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager eine mutige Rede gehalten, die ihm auch offenen Unmut einbrachte. Am Schluss seiner Rede beschrieb er das letztliche Ziel der Arbeit an einem europäischen Gedächtnis: »Eine der wirksamsten Möglichkeiten, der Zukunft eines vereinten Europas, besser gesagt, des wiedervereinten Europas einen Weg zu bahnen, besteht darin, unsere Vergangenheit miteinander zu teilen, unser Gedächtnis, unsere bislang getrennten Erinnerungen zu einen. Der kürzlich erfolgte Beitritt von zehn neuen Ländern aus Mittel- und Osteuropa – dem anderen Europa, das im sowjetischen Totalitarismus gefangen war – kann kulturell und existentiell erst dann wirksam erfolgen, wenn wir unsere Erinnerungen miteinander geteilt und vereinigt haben werden. Hoffen wir, dass bei der nächsten Gedenkfeier in zehn Jahren, 2015, die Erfahrung des Gulag in unser kollektives europäisches Gedächtnis eingegliedert worden ist. Hoffen wir, dass neben die Bücher von Primo Levi, Imre Kertész oder David Rousset auch die ›Erzählungen aus Kolyma‹ von Warlam Schalamow gerückt wurden. Das würde zum einen bedeuten, dass wir nicht länger halbseitig gelähmt wären, zum anderen aber, dass Russland einen entscheidenden Schritt auf dem Weg in die Demokratisierung getan hätte.«1
1 Ansprache von Jorge Semprún, Schriftsteller, Widerstandskämpfer, Überlebender des KZ Buchenwald, Spanischer Kulturminister 1988–1991, in: Stiftung Gedenk-
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Diesen Schritt hat Russland zwar bis heute nicht getan, es hat sich unter Putin vielmehr zu einem plebiszitär-legitimierten autoritären Regime zurückentwickelt.2 Aber die Arbeit am europäischen Gedächtnis wurde in Deutschland gleichwohl weitergeführt, zunächst behutsam tastend in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, um dann mit dem Beschluss des Europäischen Parlaments von 2007, ein Haus der Europäischen Geschichte zu gründen und 2014 in Brüssel zu eröffnen, beträchtlich Fahrt aufzunehmen. Initiiert hatte diesen Beschluss der Präsident des Europäischen Parlaments Hans-Gert Pöttering in seiner programmatischen Rede am 13. Februar 2007: »Ich möchte einen Ort der Erinnerung und der Zukunft anregen, an dem das Konzept der Idee Europas weiter wachsen kann. Ich möchte den Aufbau eines ›Hauses der Europäischen Geschichte‹ vorschlagen. Es soll […] ein Ort sein, der unsere Erinnerung an die europäische Geschichte und das europäische Einigungswerk gemeinsam pflegt und zugleich offen ist für die weitere Gestaltung der Identität Europas durch alle jetzigen und künftigen Bürger der Europäischen Union.«3
Das Haus der Europäischen Geschichte soll nach dem Willen des Europäischen Parlaments eine Verbindung zwischen der gemeinsamen Geschichte und allen Bürgerinnen und Bürgern der Union schaffen. Es soll ein moderner, attraktiver und interaktiver Ort der Begegnung und des Dialogs werden, um die Kenntnisse der Europäer aller Generationen über die jüngere Geschichte zu vertiefen, und so zu einem besseren Verständnis der Entwicklung Europas in Gegenwart und Zukunft beitragen und die europäische Identität stärken. So weit zu der Initiative, die auf den ersten Blick plausibel klingt und sich bei näherer Betrachtung zu einem ebenso gewaltigen wie wagemutigen und konfliktgeladenen Unternehmen auswächst. Sie hat auch politisch bereits Widerspruch von Europaabgeordneten vor allem aus den jungen Mitglieds-
(Fortsetzung Fußnote 1) stätten Buchenwald und Mittelbau-Dora (Hg.): 60. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora, 6.–12. April 2005, Weimar 2005, S. 54–57, hier S. 57. 2 Vgl. jüngst Margareta Mommsen: Oligarchie und Autokratie. Das hybride politische System Russlands, in: Osteuropa, Heft 8/2010, S. 25 ff. 3 Hans-Gert Pöttering: Europas Werte verteidigen – für ein Europa der Bürger. Die Reformen verwirklichen – für Demokratie und Parlamentarismus. Den Dialog der Kulturen fördern – für Partnerschaft und Toleranz, Programmrede vom 13. Februar 2007, Ms., Straßburg 2007, S. 12; im Internet unter: URL: http://cdu-europa.de/ blog/2007/02/13/programmrede-von-prof-dr-hans-gert-pottering-prasidentdes-europaischen-parlaments [06.06.2011].
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ländern ausgelöst.4 Geht es doch nicht nur um zentrale Marksteine, Weichenstellungen und Ereignisse der europäischen Geschichte als solcher und ihre Interpretationen, die umstritten genug sind, sondern um Anknüpfungspunkte für ein gemeinsames europäisches Gedächtnis und damit um die Frage, die Etienne François auf den Punkt gebracht hat: Ist eine gesamteuropäische Erinnerungskultur überhaupt vorstellbar?5 Auch im politisch vereinten Europa konstatieren wir zum Teil tief kontroverse und national, um nicht zu sagen nationalistisch fokussierte kollektive Gedächtnisse seiner Völker. Bereits die deutsche Erinnerungskultur ist mehrfach gespalten. Für viele Westdeutsche ist die SED-Diktatur immer fremdes Terrain geblieben, mit dem sie sich kaum näher auseinandergesetzt haben. Deshalb können sie die Unterdrückung und Unfreiheit des Lebens in der Diktatur oft nicht ermessen und wissen auch die Friedliche Revolution als Akt der Selbstbefreiung nicht hinreichend zu würdigen. Aber auch im Osten Deutschlands gibt es bis heute keinen Konsens über den Diktaturcharakter der DDR. Gesamtdeutscher Konsens ist allenfalls der totalitäre Charakter der nationalsozialistischen Diktatur. Wohin die DDRErinnerung treibt, ist noch nicht ausgemacht. Noch hat die DDR keinen festen historischen Platz in der deutschen Erinnerungskultur gefunden. Sie ist bis heute, wie Edgar Wolfrum bündig konstatiert, »geschichtspolitisch umkämpft, erinnerungskulturell fragmentiert und erfahrungsgeschichtlich geteilt«.6 Gilt analog Trennendes nicht aber ebenso für Europa, trotz seiner weitgehenden politischen Einigung? Gegenwärtig sind wir jedenfalls von einem gemeinsamen europäischen Erinnerungsraum weit entfernt. Die Geschichtsschreibung ist primär nationale Geschichtsschreibung, stellt die nationalen Gründungsmythen, Legitimationsgrundlagen, historischen Zäsuren, Wendepunkte und Konflikte, die eigenen Großereignisse, auch Verbrechen und nationale Leistungen in das Zentrum ihrer Betrachtung, und vieles erfolgt in dezidierter Abgrenzung gegenüber anderen Nationen. Nationale Erinnerungsgeschichte, die daraus erwächst, ist dann eben oft Konfliktgeschichte. Auch zwischen Ost- und Westeuropa gibt es grundlegende Unterschiede in
4 Vgl. zur Kritik des Vorhabens Stefan Auer: Die EU und die Geburt des freien Europa. Identität, Legitimität und das Erbe von 1989, in: Osteuropa, Heft 8/2010, S. 3 ff. 5 Siehe Etienne François: Ist eine gesamteuropäische Erinnerungskultur vorstellbar?, in: Thomas Flierl/Elfriede Müller (Hg.): Vom kritischen Gebrauch der Erinnerung, Berlin 2009, S. 83 ff. 6 Siehe Edgar Wolfrum: Das Erbe zweier Diktaturen und die politische Kultur des gegenwärtigen Deutschland im europäischen Kontext, in: Steffen Sigmund/Gert Albert/Agathe Bienfait/Mateusz Stachura (Hg.): Soziale Konstellation und historische Perspektive. Festschrift für M. Rainer Lepsius, Wiesbaden 2008, S. 310.
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der Geschichtsschreibung und in ihren Erinnerungskulturen. Auf der anderen Seite lässt sich europäische Geschichte und die ihr folgende Erinnerung nicht auf die topografischen Grenzen Europas beschränken. Europa hat weltweit Wirkungen entfaltet, von denen nur drei markante benannt werden sollen. Die europäische Aufklärung hat auch die Neue Welt geprägt, und die Theorien von Marx und Engels wirken weltweit bis heute nach. Die in Europa begonnenen Weltkriege haben eine globale Wirkungsgeschichte, und nicht zuletzt hat die europäische Kolonialgeschichte bis heute tiefe Spuren in Lateinamerika, Afrika und Asien hinterlassen. Umgekehrt haben seit dem frühen Mittelalter mächtige externe Kräfte weite Teile Europas politisch, kulturell und auch religiös geprägt: Die Mauren herrschten seit dem 8. Jahrhundert bis zum Ende des 15. Jahrhunderts in weiten Teilen der Iberischen Halbinsel. Das Osmanische Reich reichte bis zum Ende des Ersten Weltkriegs in Teile Südeuropas und Osteuropas bis nach Ungarn hinein. Erinnerungskulturell lässt sich Europa demnach nicht auf seinen Kontinent begrenzen. »Über Grenzen« hieß das Motto des 48. Deutschen Historikertages 2010 in Berlin. Es hätte auch das Motto für unser Symposium sein können, für das Bemühen, über ein europäisches Gedächtnis zu reflektieren, das die Grenzen der Nationalgeschichte überschreitet und eine europäische Erinnerungskultur wachsen lassen könnte. Doch wie könnte das geschehen, und wie könnte eine solche europäische Erinnerungskultur aussehen? Wege und Ziele stehen gleichermaßen zur Debatte. Erreicht werden kann das Ziel jedenfalls nicht durch die abwegige Vorstellung, dass nationale Erinnerungen in Brüssel museal oder administrativ homogenisiert würden. Einheitliche Erinnerung, hierauf hat Volkhard Knigge früh hingewiesen, ist nur mit einer totalitären Geschichtspolitik in einem ebensolchen System möglich.7 Um einen homogenen europäischen Erinnerungsraum kann es demnach nicht gehen. Aber wie steht es mit dem Versuch, gemeinsame Berührungspunkte, »lieux de mémoire«, materielle und ideelle Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung zu identifizieren? Claus Leggewie hat hierzu 2009 hypothetische sieben Kreise transnationaler Erinnerung in Europa in die Diskussion gebracht, vom Holocaust über den Sowjetkommunismus, Vertreibungen und Kolonialismus bis hin zur, wie er es nennt, »Erfolgsgeschichte Europas nach 1945«8. Und Etienne François wies 7 Volkhard Knigge: Europäische Erinnerungskultur. Identitätspolitik oder kritischkommunikative historische Selbstvergewisserung, in: Kulturpolitische Gesellschaft e. V. (Hg.): kultur.macht.europa – europa.macht.kultur, Edition Umbruch, Band 23, Essen 2008, S. 150 ff., insbes. S. 156. 8 Vgl. Claus Leggewie: Schlachtfeld Europa, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 2/2009, S. 81 ff.
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in einem sehr nachdenklichen Beitrag im selben Jahr am Ende weise darauf hin, das Thema »der im Entstehen begriffenen europäischen ›lieux de mémoire‹« sei »ein sehr weites Feld«9. Wohl wahr! Auf dieses Feld der europäischen »lieux de mémoire« hat sich bisher am weitesten der 2007 vom Europäischen Parlament berufene internationale Sachverständigenausschuss für das Haus der Europäischen Geschichte vorgewagt. Zwei seiner Mitglieder, die Kollegen Włodzimierz Borodziej (Universität Warschau) und Mária Schmidt (Direktorin des »Haus des Terrors« in Budapest), konnten wir für die Mitwirkung an unserer Konferenz gewinnen, und ihre Beiträge finden sich nun auch im vorliegenden Band. Der Sachverständigenausschuss hatte im Oktober 2008 die »Konzeptionellen Grundlagen für ein Haus der Europäischen Geschichte« vorgelegt,10 die auf unserem Symposium erstmals einer breiteren öffentlichen Fachdiskussion unterzogen wurden. Wir konnten also quasi an einer Premiere teilnehmen.11 Dieser wissenschaftliche Diskurs war meines Erachtens überfällig: Während es ein schönes Grundstück für das Haus am denkmalgeschützten Leopoldspark in Brüssel bereits gibt, die Architektenausschreibung läuft, für die das Europäische Parlament für das Haushaltsjahr 2011 bereits 2,5 Millionen Euro eingestellt hat, und die Leitung des Hauses bestellt wird, obwohl also viele Fakten bereits geschaffen wurden, hat es bisher kaum eine öffentliche Debatte über dieses erinnerungskulturelle Großprojekt der Europäischen Union gegeben. Wenn das nicht symptomatisch für die europäische Öffentlichkeit sein sollte, war es höchste Zeit, zumindest einen quasi nachholenden Diskurs zu den getroffenen Entscheidungen zu führen. Dabei bin ich mir sicher, dass dieser Diskurs erst wirklich begonnen hat und uns wohl noch lange beschäftigen wird. Denn wenn es richtig ist, dass die Arbeit an einem europäischen Gedächtnis weniger eine in die Vergangenheit zurückgreifende als vielmehr eine in die Zukunft gerichtete ist, dann könnte daraus nach und nach eine geistig-politische Festigung der europäischen Unionsidee erwachsen. Ob dies am Ende gelingen kann, ist offen, aber das hat die Zukunft nun einmal so an sich.
9 Etienne François: Ist eine gesamteuropäische Erinnerungskultur vorstellbar?, a. a. O. 10 Intern gedruckt in Brüssel 2008. Der Text ist im Anhang dieses Bandes erstmals vollständig abgedruckt. 11 Bald nach dem Symposium ist ein kurzer kritischer Kommentar von Claus Leggewie zum geplanten Haus der Europäischen Geschichte erschienen: Claus Leggewie: Ausblick: Ein Haus der Geschichte. Wie Europa politische Identität gewinnen kann, in: ders.: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011, S. 182–188.
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Etienne François
Europa als Erinnerungsgemeinschaft? Anmerkungen zur Frage nach einem europäischen Gedächtnis*
Zu den Merkmalen unserer Zeit gehören zweifelsohne zwei Erscheinungen: erstens eine beschleunigte Europäisierung im Kontext der Globalisierung, sodass Austausch, Zirkulation und Verflechtung vor allem seit 1989 immer mehr zu unserem Alltag gehören; jeder beruft sich inzwischen auf Internationalität und Transnationalität unter europäischen Vorzeichen. Zum Zweiten sind wir seit ungefähr einem Vierteljahrhundert überall in Europa in das so genannte Zeitalter des Gedenkens und des Gedächtnisses eingetreten. Vielleicht war in Europa die Gegenwart des Vergangenen nie so deutlich. Überall hört man den Aufruf zur Erinnerung – das Vergessen ist verpönt. Auch dieser Tagungsband ist ein Beispiel für diese Gegenwart der Vergangenheit. Von Madrid bis Kiew oder Lemberg ist das Thema Vergangenheitsbewältigung und Geschichtsaufarbeitung mehr denn je aktuell. In beiden Fällen haben wir es mit genuin transnationalen Erscheinungen zu tun, die sich über den gesamten Kontinent erstrecken und darüber hinaus. Wenn man aber die Frage stellt, ob es angesichts der überall in Europa zu beobachtenden Gegenwart des Vergangenen so etwas wie ein europäisches Gedächtnis gibt und ob sich Europa als eine Erinnerungsgemeinschaft fassen lässt, fällt uns die Antwort meist schwer. Nicht ohne Grund neigen viele sogar eher dazu, diese Frage negativ zu beantworten. Ich möchte dies anhand von zwei Beobachtungen ausführen: Vor etwas mehr als 90 Jahren endete der Erste Weltkrieg, der den ganzen Kontinent in Mitleidenschaft zog. Dieser Krieg wird nicht nur als die Ur-Matrix des 20. Jahrhunderts betrachtet, sondern zunehmend als europäischer Bürgerkrieg. Kann das aber bedeuten, dass dieses Krieges inzwischen in Europa auch europäisch gedacht wird? Das ist nicht der * Der vorliegende Beitrag lehnt sich an meinen Vortrag an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften im Jahr 2008 an. Vgl. Etienne François: »Auf der Suche nach dem europäischen Gedächtnis«, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Berichte und Abhandlungen, Bd. 15: Akademievorlesungen Wintersemester 2008/2009, Berlin 2009, S. 203–215.
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Fall, wie man vor zwei Jahren beobachten konnte. Ich war am 11. November 2008, d. h. am Tag des Waffenstillstandes für die Westfront, zufällig in England. Der 11. November war dort wie jedes Jahr der große Remembrance Day, und die meisten Menschen trugen am Revers ihrer Jacken die poppies als Erinnerung an die Mohnblumen, die auf den Feldern Flanderns wachsen – eine sehr britisch geprägte Form der Erinnerung, die übrigens nicht nur in Großbritannien gilt, sondern auch im gesamten Commonwealth. Der gleiche Tag, der 11. November, wird auch in Frankreich gefeiert – als Tag des Sieges und noch mehr als ein Tag der Trauer. Wie in jedem Jahr organisierte der Präsident der Republik auch 2008 eine feierliche Gedenkveranstaltung, diesmal in Douaumont. Nicolas Sarkozy hielt dort eine sehr beachtenswerte Rede über das Ende des Ersten Weltkrieges. Auch in Polen ist der 11. November sehr bedeutsam: Es ist der Tag der Wiedergeburt Polens als Nationalstaat, nachdem ihm mehr als ein Jahrhundert lang das nationale Existenzrecht in völliger Eintracht von Deutschen, Österreichern und Russen verwehrt worden war. In vielen europäischen Ländern ist also der 11. November ein wichtiger Erinnerungstag. Wie sieht es aber in Deutschland aus? Hier feiert man zwar Martinstag oder den Beginn des Karnevals, aber an den 11. November als Tag, an dem der Erste Weltkrieg zu Ende ging und der für Deutschland genauso bedeutend war wie für die zuvor angeführten Länder, erinnert so gut wie nichts. Ist Deutschland demnach ein geschichtsvergessenes Land, ein Land, das sich nicht mit der Vergangenheit beschäftigt? Nein, auf keinen Fall. Es zeigt jedoch, dass die Deutschen andere Erfahrungen mit dem Ersten Weltkrieg gemacht haben und vor allem die Erinnerung daran ganz anders ist als in den erwähnten Ländern. Denn zwischen dem Ersten Weltkrieg und heute steht der Zweiten Weltkrieg, der für Deutschland entschieden wichtiger ist. Wenn es ein historisches Datum gibt, dann ist es nicht der 11. November, sondern der 9. November: 1918 die doppelte Ausrufung der Republik; 1923 der Putschversuch Hitlers in München; 1938 die so genannte »Reichskristallnacht«; schließlich der 9. November 1989. Diese Dichte der Erinnerungen am 9. November, die speziell für Deutschland prägend sind, erklärt, warum hier letztendlich am 11. November nicht mehr des Endes des Ersten Weltkrieges gedacht wird, denn es gibt in Deutschland andere Erinnerungsmerkmale, eine anders geartete Erinnerungskultur als in den anderen europäischen Ländern. Kurzum: Der Erste Weltkrieg stellt zwar einen wesentlichen Bestandteil der gemeinsamen europäischen Geschichte dar, aber es gibt noch immer keine gemeinsame europäische Erinnerung an diesen Krieg und sein Ende. In puncto Erinnerung und Gedächtnis scheint der nationale Rahmen wichtiger als der europäische zu sein. Die nationalen Unterschiede sind stärker als die europäischen Gemeinsamkeiten, was uns übrigens zu der Beobachtung führen
Europa als Erinnerungsgemeinschaft?
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könnte, dass bis heute die Nationen – auch wenn manchmal ihre politische Rolle in Frage gestellt wird – in ganz Europa immer noch primäre Erinnerungsgemeinschaften sind. Eine zweite Beobachtung, die diese Skepsis gegenüber einer europäischen Erinnerung bestärkt, kann man im Bereich von Wissenschaft und Forschung machen. Einer der ersten Kulturwissenschaftler, der sich mit der Thematik des kollektiven Gedächtnisses in Europa befasste, ist mein Kollege Pierre Nora in Frankreich gewesen, der zwischen 1984 und 1992 ein gewaltiges Werk über die »Erinnerungsorte« der französischen Gedächtniskultur herausgab, die er als lieux de mémoire bezeichnete. Die Studie war ein Riesenerfolg, die den Erwartungen des Publikums zweifellos entsprochen hat. Dieser große Erfolg ebnete Pierre Nora den Weg in die Académie Française, er genoss in Europa sofort Bewunderung und wurde nachgeahmt. Viele sprachen sogar davon, dass Noras Untersuchungen so etwas wie ein neues Paradigma der kulturwissenschaftlichen Forschung etabliert hätten. In der Tat gab es in den folgenden Jahren viele ähnlich angelegte Arbeiten – in Italien, Deutschland, Österreich, den Niederlanden, Belgien oder auch in Russland, und damit habe ich sicher nicht alle Länder erwähnt. Aber eines fällt doch auf: Diese Nachahmungen fanden überwiegend in einem nationalen und nicht in einem europäischen Rahmen statt. Bislang kenne ich kein einziges genuin europäisches Werk, das konkurrieren könnte mit den nationalen Erinnerungsorten, die wir inzwischen für viele Länder kennen. Soll das bedeuten, dass die Suche nach dem europäischen Gedächtnis die Suche nach einer Chimäre wäre, die sich unserem Zugriff entzieht? Lange Zeit habe ich das geglaubt, und ich habe erst in den letzten Jahren begonnen, meine Ansicht darüber allmählich zu ändern. Nicht als Konsequenz von Nachforschungen oder von Überlegungen darüber, sondern vielmehr aufgrund meiner konkreten beruflichen Erfahrung, und zwar in einem doppelten Sinne: durch die Arbeit mit den Studenten auf der einen Seite und durch meine Tätigkeit für das Deutsche Historische Museum (DHM) auf der anderen Seite. Ich bin in der Tat sehr glücklich und stolz darauf, dass ich gebeten worden war, an den beiden großen Ausstellungen »Mythen der Nationen« mitzuarbeiten, die das DHM in den Jahren 1998 und 2004 gezeigt hat. Diese konkrete Arbeit am Objekt zusammen mit den Studenten wie auch die Diskussionen mit den Kollegen haben mich zu der Erkenntnis gebracht, dass es doch so etwas wie Teile eines europäischen Gedächtnisses gibt und dass es sich lohnt, auf die Suche danach zu gehen, auf die gleiche Art und Weise wie mein geliebter Romanautor Marcel Proust sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit gemacht hat. Wo ist diese gemeinsame europäische Erinnerung zu finden, wo liegt sie? Sie liegt – und das wäre der rote Faden dieses Beitrags – nicht so sehr
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in den Gemeinsamkeiten als vielmehr in den zahlreichen Prozessen der Vielfalt und der Konflikte, des Austauschs und der Aneignung, der Einbeziehung und der Ausgrenzung, die die europäische Geschichte charakterisieren. Mein Freund, der polnisch-französische Historiker Krzysztof Pomian, sagte einmal – und ich finde diese Formulierung so zutreffend, dass ich sie zuerst auf Französisch zitieren möchte: »L’histoire de l’Europe est celle de ses frontières et de ses conflits.« »Die Geschichte Europas ist zuerst die Geschichte seiner Grenzen und seiner Konflikte.« Was bedeutet das? Es bedeutet: Wenn wir das Gemeinsame suchen, dann sollten wir dies auch in der Vielfalt suchen, in den Brechungen, in den Konflikten und Verwerfungen, ohne den Anspruch zu erheben, eine höhere Ebene zu finden, wo die lokalen Formen der Verwurzelung und die unterschiedlichen Erinnerungskulturen auf einmal aufgehoben wären. Ich möchte dies an einigen konkreten Beispielen verdeutlichen. Ein erster Ansatz, um diese Bestandteile einer europäischen Erinnerungskultur ausfindig zu machen, besteht darin, dass man sich auf die Suche nach den wenigen gemeinsamen Bezugspunkten begibt, die de facto für alle oder zumindet für fast alle Europäer noch immer prägend sind. Welche sind das? Es sind die europäischen Gründungsmythen, die eine unerschöpfliche Fülle von Identifikationsangeboten liefern, in denen wir noch heute Inspiration suchen. Nehmen wir etwa die drei mythischen Städte Jerusalem, Athen und Rom, die für uns bis heute die Städte par excellence darstellen – »mythisch«, weil sie gleichzeitig real und symbolisch sind. Wobei die Rolle Roms vermutlich die wichtigste ist, denn Rom ist nicht nur die Stadt der Antike, sondern auch die Stadt des Christentums und der katholischen Kirche. Was haben diese drei Städte gemeinsam? An ihnen orientieren sich alle europäischen bzw. europäisch geprägten Städte, auch außerhalb Europas, mit dem Versuch, so etwas wie ein zweites Rom oder ein zweites Athen zu werden oder Bezüge zu Jerusalem zu entwickeln. Es gibt kaum eine Stadt in Europa, in der es kein cardo und decumanus gibt, kaum eine Stadt ohne Forum, ohne Triumphbogen, ohne Obelisk, ohne Abbildung der Trajanssäule, ohne Kapitol oder Pantheon. Dies zeigt eben die prägende Kraft der römischen Idee für ganz Europa. Was im Bereich der städtebaulichen Gestaltung gilt, wirkt jedoch auch in den Institutionen fort. Welche Stadt in Europa hatte nicht auch ihre Konsuln und ihren Senat, welche Stadt orientierte sich nicht am römischen Bürgerrecht? Wenn wir heute von einer citoyenneté européenne, von einer europäischen »Bürgerschaft« sprechen, so in unmittelbarer Anknüpfung an das Vorbild des römischen Bürgerrechts. Bis heute steht Rom am Beginn unserer neuen Selbstfindung im europäischen Rahmen. Aber Rom, Athen und Jerusalem sind nicht nur die Orte, die unaufhörlich ausstrahlen und ein unerschöpfliches Reservoir an Motiven für unsere Städte
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darstellen; es sind auch diejenigen Städte, die jeder Europäer irgendwann in seinem Leben besuchen will. Sie wirken als Magneten innerhalb des europäischen Kontinents, und zu ihnen führen alle Wege hin, wie man das von Rom sagt. In der früheren Zeit waren es Millionen von Pilgern, heutzutage sind es Touristen, die es dorthin zieht. Daher erklären sich auch die zahlreichen Herbergen und Klöster, Kirchen und Forschungsinstitute, die man in jeder dieser Städte findet, als ob jedes Land in Europa das Bedürfnis hätte, zurück zu seinen Ursprüngen zu gelangen. In keiner anderen Stadt in Europa gibt es so viele Kunst- und Kulturinstitutionen wie in Rom, in einer Form des europäischen Wetteiferns, was ganz deutlich zeigt, dass es keine Gegensätze gibt zwischen der Bejahung der eigenen Kultur und der gleichzeitigen Anerkennung der prägenden und übergreifenden Kraft der antiken und römischen Zivilisation. Rom, Athen und Jerusalem sind, ehe sie zum Weltkulturerbe wurden, zuerst ein europäisches Kulturerbe, das allen gehört, auch wenn jeder einzelne davon einen anderen Gebrauch macht. Ein zweiter Ansatz für die Erfassung der europäischen Erinnerungskulturen ist die Suche nach dem, was ich gern die »geteilten europäischen Erinnerungsorte« nennen würde. Diese Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität sind zwar aus einer gemeinsamen Geschichte entstanden, wurden dann aber unterschiedlich angeeignet, weiterentwickelt und beansprucht, sodass sie heute unter ganz unterschiedlichen Erscheinungsformen auftreten. Damit dies nicht zu abstrakt bleibt, möchte ich einige Beispiele nennen: Da wäre zum einen die übergroße Gestalt von Napoleon. Sicher ist Napoleon eine zentrale, ja eine überragende Gestalt des französischen historischen Pantheons, die niemanden in Frankreich bis heute gleichgültig lässt, ob man ihm gegenüber nun positiv oder negativ eingestellt ist. Es ist eine Gestalt, an welcher sich die Geister scheiden – keine konsensuale, sondern eine umstrittene, umkämpfte und gleichzeitig umworbene Gestalt. Aber bekanntlich ist Napoleon nicht nur eine Gestalt der französischen Erinnerungskultur, sondern ebenso der deutschen, britischen, russischen, schwedischen, italienischen, spanischen und vielleicht noch mehr der polnischen Erinnerungskultur. Und überall ist er – wie in Frankreich – umstritten, und gerade deshalb bleibt er als Erinnerungsgestalt lebendig. Polen ist übrigens das einzige Land, wo die Gestalt Napoleons unumstritten ist; in den anderen Ländern aber wird er zugleich bewundert und gehasst. So kommt es, dass diese ambivalente Identifikationsfigur noch immer aktuell ist. Über kaum eine historische Gestalt in Europa entstanden so viele Romane, Filme und Fernsehsendungen wie über Napoleon. Hier haben wir eine genuin europäische Gedächtniskonstruktion, die sich aber nicht auf eine einfache Formel bringen lässt – »europäisch«, weil sich alle mehr oder weniger darauf beziehen, im Positiven wie im Negativen;
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»europäisch« aber auch, weil diese gemeinsamen Bezüge dazu beitragen, über die Vielfalt der lokalen oder spezifischen Erinnerungsformen ein Geflecht durch ganz Europa entstehen zu lassen, das aus Napoleon eine über-nationale Gestalt macht. Mein zweites Beispiel betrifft einen französischen Ort, der gleichzeitig und immer mehr ein europäischer ist: Versailles. Dass Versailles lieu de mémoire im ursprünglichen Sinne ist, sieht man daran, dass sich sein Erbauer, Ludwig XIV., an einem kleinen Jagdschloss seines Vaters, Ludwig XIII., orientierte und dieses Schloss von dem Riesenschloss, das er später erbauen ließ, wie eine Reliquie eingefasst wurde. Aber Versailles ist auch für die Franzosen ein Erinnerungsort par exellence, weil sich nach dem Fall der absoluten Monarchie alle anderen Regime trotz politischer Unterschiede dieses Erbes angenommen haben, es erhalten, ergänzt, wieder benutzt haben – bis heute. Nicht zuletzt deshalb gehört Versailles zu den meistbesuchten Schlössern in Frankreich; ein Ort, wo viele Franzosen sich gern in dem vergangenen Ruhm Frankreichs spiegeln. Aber das ist nur ein Aspekt. Versailles ist genauso ein deutscher Erinnerungsort, nicht zuletzt wegen der Proklamation des Kaiserreiches am 18. Januar 1871 und noch mehr wegen des Friedensvertrages von Versailles vom 28. Juni 1919: Das Menetekel von Versailles lastete auf der Weimarer Republik von Anfang an bis zu ihrem Ende. Versailles ist jedoch nicht nur die Stadt der Schmach und der Demütigung Deutschlands am Ende des Ersten Weltkrieges. Es ist auch die Stadt, in der – sei es in Versailles selber oder in seinen Vororten – die Nachfolgeverträge geschlossen wurden, die den Anspruch hatten, die politische Karte Europas neu zu gestalten und einen ewigen Frieden in Europa zu schaffen. Das sind die Verträge von Trianon, Saint Germain en Laye oder Neuillysur-Seine. Jeder, der Ungarn kennt, weiß, wie der Vertrag von Trianon, der eine Reduzierung seines Territoriums um mehr als die Hälfte zur Folge hatte, noch immer wie eine traumatische Erinnerung wirkt. Zusammengefasst lässt sich sagen: Versailles ist ein deutscher wie ein ungarischer, ein tschechischer wie ein polnischer Erinnerungsort, denn für die Tschechen oder Polen war es der Ort der Wiedergeburt oder der Geburt als Nation; Versailles ist auch ein italienischer und ein türkischer Erinnerungsort – kurzum ein Magnet für viele Europäer mit ganz unterschiedlichen Bezügen; ein Ort, der noch immer anzieht und gleichzeitig ein Ort, der unablässig ausgestrahlt hat. In ganz Europa und darüber hinaus gibt es zahlreiche Nachahmungen des Schlosses oder der Stadt Versailles. Zwei Städte sind in dieser Hinsicht besonders beeindruckend als lebendige Form der Erinnerung und der Implementierung von Versailles außerhalb Frankreichs: St. Petersburg und Washington. Ein dritter Ansatz, den ich kurz ansprechen möchte, umfasst jene Erinnerungskonstruktionen, die die Europäer im Laufe der Zeit erfunden und benutzt
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haben, entweder, um sich in einem Prozess der negativen Identifikation besser von der Außenwelt abzugrenzen, oder in einem umgekehrten Sinne, um sich über Europa hinaus zu projizieren. Zur ersten Gruppe gehört vor allem der »Intimfeind« Europas, ja der »innere Feind« Europas, sei es zur Zeit der Christenheit oder zur Zeit der säkularisierten Form von Europa, d. h. der Islam und die muslimische Welt, egal unter welcher Erscheinung sie zu fassen ist. Die Sarazenen waren es im Hochmittelalter, die Araber später, die Osmanen während der Frühneuzeit und im 19. Jahrhundert und heutzutage sind es die Islamisten. Ohne Islam kein Europa, könnte man kaum zugespitzt formulieren, was noch einmal ganz deutlich zeigt, wie konstitutiv der Islam für die Selbstfindung und Weiterentwicklung der europäischen Identität ist. Zur zweiten Gruppe, zur Gruppe der Projektionen von Erinnerungsformen und -konstruktionen außerhalb Europas, zähle ich die Länder und Kontinente, die im Zusammenhang mit der europäischen Expansion, dem Kolonialismus, dem Sklavenhandel und später dem Imperialismus unter europäische Herrschaft geraten sind. Das gilt vor allem für Nord- und Südamerika, für Australien und Neuseeland, aber darüber hinaus auch für die kolonisierten oder beherrschten Teile der Welt. Ich war vor kurzem in Shanghai anlässlich einer Tagung, die sich zum Ziel gesetzt hatte, den Verlauf des Zweiten Weltkrieges in Europa und in Asien wie auch die Erinnerung daran zu vergleichen. In Shanghai wurde ich ständig mit diesen Projektionen von Europa außerhalb Europas konfrontiert: auf der einen Seite mit dem so genannten Bund am Ufer des Flusses Huangpu mit den prächtigen Hotels und Bankhäusern, die Europäer, Japaner und Amerikaner am Anfang des 20. Jahrhunderts erbauten, wie auch mit den Bauten der französischen, britischen und europäischen Konzessionen, an denen bis heute die europäische Prägung von Shanghai greifbar ist. Dazu steht nicht im Widerspruch, dass in Shanghai 1921 eine Gruppe von chinesischen Intellektuellen, die in Europa gewesen waren, die Kommunistische Partei Chinas gründeten: eine Partei, die sich eine europäische Schöpfung aneignete, nämlich den Marxismus-Leninismus, um eine politische Bewegung zu gründen, die sich zum Ziel setzte, China von der Fremdherrschaft zu befreien. In diesen beiden Dimensionen scheint mir Shanghai ein besonders plastisches Beispiel dessen, was ich unter dieser projizierten Erinnerungsproduktion Europas verstehe. Bis jetzt habe ich vor allem den Blick von oben gewählt: Ich habe versucht, Europa als Ganzes zu nehmen, wenn auch immer unter Berücksichtigung der inneren Vielfalt. Wobei ich leider – wieder einmal – eingestehen muss, dass ich mehr Beispiele aus dem westlichen als aus dem östlichen Teil Europas ausgewählt habe. Es handelt sich hier um ein strukturelles Ungleichgewicht, worunter wir noch immer leiden, und es wäre höchste Zeit, dies auszugleichen,
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aber das ist leichter gesagt als getan. Nach diesen Versuchen, die Aspekte der europäischen Gedächtniskultur von oben zu erfassen, möchte ich jetzt in einem letzten Schritt aufzeigen, wie man von der Basis her ansetzen könnte, das heißt, wie man Europa auch in den lokalen und regionalen Gedächtniskulturen finden kann. Da es keine bessere Form der lokalen Erinnerung gibt als die Erinnerung an die Heimat, spreche ich von meiner Heimat, nämlich von meiner Heimatstadt Nancy und der Provinz Lothringen. Nancy ist eine typische französische Provinzstadt: nicht herausragend, nicht groß, keine Stadt, an die man spontan denkt, wenn man nicht in Frankreich lebt – vielleicht mit einer Ausnahme: dem großen Stanislaus-Platz in der Mitte, der inzwischen zum Weltkulturerbe gehört. Aber was findet man auf dieser Place Stanislas, der in der Tat ein wunderschöner Platz ist? Nicht die Statue eines lothringischen Herzogs, sondern die eines polnischen Königs. Stanislaus Leszczyński hatte zwar seine Krone in Polen verloren, weil August II. stärker war, erhielt aber in einem komplizierten Austauschverfahren, da er gleichzeitig der Schwiegervater des französischen Königs Ludwig XV. war, als Ersatz für Polen das damals noch selbstständige Herzogtum Lothringen – mit der Folge, dass mitten in dieser französischen Stadt eine polnische Gestalt steht, die vielerlei Bedeutung für Nancy hat. Wunderschöne Tore aus Eisengitter rahmen den Stanislaus-Platz ein, und in diesem Eisengitter findet man den polnischen Adler neben der französischen Lilie. Die Familie des Architekten dieses Platzes, Emmanuel Héré, stammt aus Tirol, und damit kommt Österreich ins Spiel. Ganz nah an diesem Platz befindet sich ein großer Turnierplatz, die so genannte Place de la Carrière, und als Verbindung zwischen der Place Stanislas und diesem Platz steht ein Triumphbogen. Nun ist dieser Triumphbogen eine genaue Nachahmung des Triumphbogens des Septimus Severus in Rom und somit ein römischer Bezug. Nicht weit davon liegt ein kleiner, fast intimer Platz, der auch im 18. Jahrhundert erbaut wurde, die so genannte Place d’Alliance, der in Erinnerung an das Bündnis zwischen Frankreich und Österreich um die Mitte des 18. Jahrhunderts errichtet wurde. Was steht in der Mitte des Platzes: ein sehr eleganter barocker Brunnen mit einem Obelisken in der Mitte, ein Zitat des prächtigen Brunnens der vier Weltflüsse von Bernini auf der Piazza Navona in Rom. Das alles findet sich mitten in einer Stadt, deren Stadtplan von einem italienischen Baumeister Ende des 16. Jahrhunderts entworfen wurde mit dem schachbrettartigen Grundriss, wie ihn zum Beispiel auch Turin aufweist, dessen Struktur allerdings auf die Römer zurückgeht. Das große befestigte Tor, das die Stadt schützt, trägt einen für viele Franzosen rätselhaften Namen: Porte de la Craffe. »Craffe« bedeutet nichts anderes als die Französisierung von »Kraft«, das heißt, ein kraftvolles Tor, das die Stadt schützt – zweifellos ein Bezug zum deutschsprachigen Raum. In der Nähe steht eine spätgotische
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Franziskaner-Kirche, die Eglise des Cordeliers, in der sich eine sehr ergreifende kleine Statue aus spätromanischer Zeit befindet. Sie stellt die Rückkehr eines Kreuzritters aus dem Heiligen Land dar – hier in der Provinz finden wir also auch eine Anspielung auf das Heilige Land. Unmittelbar an dieser Kirche steht die Grabkapelle der Herzöge von Lothringen, die im 18. Jahrhundert verwandt wurden mit den Habsburgern. Diese Grabkapelle ist eine Nachahmung der Florentiner Medici-Kapelle, und in dieser Kapelle wurde 1951 Otto von Habsburg vermählt. Ich habe noch eine vage Erinnerung an dieses große Ereignis, das natürlich für die Provinzstadt Nancy ein Ereignis sondergleichen darstellte. Und schließlich: Die Provinzstadt Nancy entwickelte sich im 19. und 20. Jahrhundert nach der französischen Niederlage von 1870/71 zu einer Frontstadt. Diese Frontstadt-Existenz hatte nicht nur die Errichtung vieler Kasernen zur Folge, sondern auch die Entwicklung einer bestimmten Kunstrichtung, die sich bewusst von anderen Kunstrichtungen im deutschsprachigen Raum absetzte, nämlich eine französische Version des Jugendstils, die man die École de Nancy nannte und als deren berühmteste Künstler Jacques Gruber, Antonin Daum, Louis Majorelle und Émile Gallé gelten. Auch hier gibt es eine Verbindung zum deutschsprachigen Kulturraum, diesmal in Form der Abgrenzung. Anstatt sich an Deutschland zu orientieren, näherte man sich der japanischen Kunst, vor allem deren wunderschönen Blumenmotiven. In dieser mittelmäßigen Provinzstadt lässt sich also eine Fülle von gesamteuropäischen Verflechtungen und Anspielungen entdecken. Lothringen ist schließlich ein Riesenschlachtfeld, auf dem der Krieg von 1870 und vor allem der Erste Weltkrieg stattfanden und Narben hinterlassen haben, wie man an der ununterbrochenen Folge von französischen und deutschen Soldatenfriedhöfen sehen kann. Ob im Blick auf die Stadt oder die Region, auf das Lokale oder das Regionale, überall wird man auf die europäische Dimension aufmerksam. Die Region wirkt wie ein Brennglas, in dem sich eine Vielfalt europäischer Bezüge vereinigt. Und was ich hier am Beispiel meiner Heimatstadt angedeutet habe, gilt selbstverständlich auch für die anderen Regionen Europas. Überall sind die lokalen und regionalen Erinnerungen gleichzeitig auch europäische Erinnerungen. Europa ist inzwischen mehr als ein Erinnerungsraum; es ist in vielerlei Hinsicht auch eine Erinnerungsgemeinschaft. Das wiederum hat Auswirkungen auf unsere Arbeit als Wissenschaftler. Auf drei Konsequenzen möchte ich deshalb abschließend hinweisen: 1. Es ist an der Zeit, die Arbeit am europäischen Gedächtnis ernst zu nehmen. Was bedeutet das konkret? Nicht, dass wir den Anspruch erheben, Lehrmeister der europäischen Identität zu werden oder dass wir uns anmaßen, Schöpfer
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einer Identität zu sein oder gar Europa eine Seele zu geben. Ich will nicht sagen, dass dies keinen Zweck hätte, aber das ist nicht unsere Aufgabe als Wissenschaftler. Das ist eine Aufgabe, die jeden von uns als Bürger betrifft. Was Europa sein wird, werden die Bürger von Europa selber bestimmen. Das ist eine politische und keine wissenschaftliche Aufgabe. Was bedeutet es dann aber, die Arbeit am europäischen Gedächtnis ernst zu nehmen? Es bedeutet Zusammenarbeit, nicht nur von Europäern des ehemaligen West- und Osteuropa, sondern auch von Historikern und Kulturwissenschaftlern, Soziologen und Ethnologen. Mit den Methoden unserer Disziplinen werden wir aufmerksam für die europäische Dimension unserer Erinnerungen wie auch für das sich entwickelnde europäische Gedächtnis. Wir unterwerfen diese europäischen Erinnerungskonstruktionen einem kritisch-analytischen Blick, dessen drei Hauptregeln lauten: differenzieren, kontextualisieren und historisieren. Wir dürfen nicht vergessen, dass es sich bei den kollektiven Erinnerungen immer um Realitäten handelt, die mit Emotionen und oft auch mit Traumata verbunden sind. Das heißt, wir sollen sie mit Einfühlungsvermögen und Respekt behandeln. 2. Unsere Aufgabe als Wissenschaftler ist nicht nur eine analytisch-kritische, sie sollte auch eine pädagogisch-aufklärerische sein. Das ist im Grunde eine Erfahrung, die ich in den letzten Jahren ganz intensiv gemacht habe, als ich an dem deutsch-französischen Geschichtsbuch arbeitete. Es geht im Kern darum, so etwas wie ein europäisches Wissen über uns selbst zu fördern, um Péter Esterházy zu zitieren; dass wir auf der Basis gegenseitiger Anerkennung und Akzeptanz lernen, voneinander mehr zu wissen. Das Entscheidende bei der Europäisierung Europas ist der Perspektivenwechsel, der dazu führt, dass man den anderen aus seinem Blickwinkel sieht und nicht aus dem eigenen. Dabei sollten wir zwei große Gefahren unbedingt vermeiden: die Gefahr der Schuldaufrechnung und die Gefahr der Opferkonkurrenz. Nichts wäre tödlicher als der Versuch, den Holocaust gegen den Gulag aufrechnen zu wollen oder Nationalsozialismus und Faschismus gegenüber Stalinismus und Kommunismus – beides gehört zu unserem gemeinsamen Erbe, beides soll irgendwie auch zu unserer gemeinsamen Erinnerung gehören. Gerne zitiere ich in diesem Zusammenhang einen Satz von Pierre Nora aus seinem Nachwort zu den »Deutschen Erinnerungsorten« (München 2009), der mir sehr aufschlussreich erscheint: »Das genaue Wissen um die einzelnen Erinnerungskulturen schärft den Blick für das, was das Gemeinsame an Europa ausmacht. Nur aus einem vertieften Verständnis der Unterschiede kann das Gefühl einer echten gemeinsamen Zugehörigkeit erwachsen.«
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3. Wir sollten das europäische Gedächtnis immer in einen größeren, das heißt einen globalen Kontext einordnen. Spätestens seit der europäischen Expansion zu Beginn der Frühen Neuzeit ist die europäische Geschichte gleichzeitig immer auch Weltgeschichte. Dadurch hat eine Europäisierung der Welt wie auch umgekehrt eine Globalisierung von Europa stattgefunden. Was für die Geschichte gilt, gilt gleichermaßen für das europäische Gedächtnis. Es gibt kein abgeschottetes, selbstgenügsames europäisches Gedächtnis, ebenso wie es kein abgeschottetes, selbstgenügsames deutsches, französisches oder polnisches Gedächtnis gibt. Wenn wir also europäische Erinnerungskulturen untersuchen, sollten wir das nicht nur von innen her, sondern auch von außen betrachten. Der Blick von außen auf Europa scheint mir ebenso wichtig wie der interne Blick der Europäer auf ihre Kultur und Geschichte. Es gibt eine ständige Verflechtung zwischen Europa und der Welt außerhalb Europas. Das macht unsere Arbeit ohne Zweifel nicht leichter, aber sicher anregender.
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Vom »ersten Opfer« zum Land der unbewältigten Vergangenheit: Österreich im Kontext der Transformationen des europäischen Gedächtnisses
Im Februar 2000 erschienen in Le Monde einige Karikaturen von Plantu (Jean Plantureux), die auf die Virulenz der »unbewältigten« NS-Vergangenheit Österreichs Bezug nahmen. Anlass dafür war die Bildung einer Koalitionsregierung mit der von Jörg Haider geführten FPÖ, die in Europa und darüber hinaus kritische Reaktionen hervorrief. Auf einer Karikatur ist eine liebliche Landschaft zu sehen, mit Bergen, Dorfkirche und Figuren in Trachtenkleidung, durch die eine kleine Eisenbahn fährt. »Österreich, dieses Land, das einer Modelleisenbahn so ähnlich ist … So schön ist eine Bimmelbahn! …«, lautet der Text. Unter dieser kleinen »Bimmelbahn« ist eine andere Bahnlinie zu sehen, die durch das Tor mit der Inschrift »Arbeit macht frei« fährt. Ein anderes Bild zeigt einen besorgten Bürger mit einer Europafahne, einer der zwölf Sterne ist durch ein Hakenkreuz ersetzt.1 Die Plantu-Karikaturen in Le Monde sind drastische Beispiele für die neue »Geschichtsmoral«2 in den EU-Mitgliedsstaaten, eine wechselseitige Aufmerksamkeit und Sensibilität für die Verharmlosung und Verdrängung von Europas Geschichtstrauma, dem »Zivilisationsbruch Auschwitz«3. Österreich galt allerdings bereits seit der Waldheim-Debatte 1986 als paradigmatisches
1 Vgl. Pierre de Trégomain: Eine Strategie des Verdachts. Die Reaktionen der französischen Öffentlichkeit auf die politische »Wende« in Österreich von Februar bis September 2000, in: Zeitgeschichte, 29. Jg., Band 5/2002, S. 211–238, Abb. auf S. 222 u. 225. 2 Gerhard Botz: Nachhall und Modifikationen (1994–2007): Rückblick auf die Waldheim-Kontroversen und deren Folgen, in: ders./Gerald Sprengnagel (Hg.): Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, 2., erweiterte Aufl., Frankfurt am Main/New York 2008 (= Studien zur Historischen Sozialwissenschaft; 13), S. 574–635, hier S. 602. 3 Dan Diner (Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main 1988.
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Land der »unbewältigten Vergangenheit«, die Wahl von Kurt Waldheim zum Bundespräsidenten ungeachtet des Verdachts seiner Beteiligung an Kriegsverbrechen hatte den goldenen Mythos von der »Insel der Seligen« nachhaltig zerstört. Das Interesse der europäischen und internationalen Presse an der Kriegsvergangenheit des ÖVP-Präsidentschaftskandidaten und ehemaligen UN-Generalsekretärs war beachtlich, dennoch war der Konflikt um Kurt Waldheim eine »Austrian Affair«. Die internationale Kritik wurde mit dem Argument »Wir Österreicher wählen, wen wir wollen! Jetzt erst recht Waldheim« (Slogan eines ÖVP-Wahlplakats) als unangemessene Einmischung von außen zurückgewiesen.4 Das war im Februar 2000, als die Koalitionsregierung zwischen der konservativen Volkspartei (ÖVP) und der FPÖ gebildet wurde, nicht mehr möglich, Österreich war seit fünf Jahren EU-Mitglied. Die erstmalige Regierungsbeteiligung einer als rechtsextrem angesehenen Partei galt als Verletzung des europäischen Wertekonsenses, die zu Protesten in ganz Europa führte. Der Versuch der EU-Mitgliedsstaaten, diesem Tabubruch durch »Sanktionen« zu begegnen, war zwar rasch zum Scheitern verurteilt, führte aber doch dazu, dass Jörg Haider und Kanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) in einer Präambel zum Regierungsprogramm ein Bekenntnis zu den »grundlegenden Werten der Demokratie in Europa« ablegen mussten. Dazu zählte vor allem die Selbstverpflichtung zur »kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit«: »Österreich stellt sich seiner Verantwortung aus der […] Geschichte des 20. Jahrhunderts und den ungeheuerlichen Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes […]. Die Einmaligkeit und Unvergleichbarkeit des Verbrechens des Holocaust sind Mahnung zu […] Wachsamkeit gegen alle Formen von Diktatur und Totalitarismus. Die Bundesregierung […] wird für vorbehaltlose Aufklärung, Freilegung der Strukturen des Unrechts und Weitergabe dieses Wissens an nachkommende Generationen als Mahnung für die Zukunft sorgen.«5
Am Ende des 20. Jahrhunderts war die Anerkennung des Holocaust als negatives europäisches Erbe zum »Eintrittsticket« in den europäischen Wertekon-
4 Vgl. Barbara Tóth: Die »Jetzt erst recht« Wahlbewegung, in: dies./Hubertus Czernin (Hg.): 1986. Das Jahr, das Österreich veränderte, Wien 2006, S. 25–62 (Abb. auf S. 9); weiters: Richard Mitten: The Politics of Antisemitic Prejudice. The Waldheim Phenomenon in Austria, Boulder/Colorado 1992. 5 Die Präambel des Regierungsprogramms, zit. n. URL: http://www.welt.de/printwelt/article500574/Die_Praeambel_des_Regierungsprogramms.html [01.07.2011].
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sens geworden.6 Diese ethisch-moralische Dimension hatte sich in den Konflikten um die »verdrängte« NS-Vergangenheit herauskristallisiert, die seit Mitte der 1980er Jahre praktisch alle europäischen Gesellschaften erschüttert haben und geschichtspolitische Grundsatzdebatten auslösten: in der Bundesrepublik Deutschland die Weizsäcker-Rede zum 40. Jahrestag des 8. Mai (1985) und der Historikerstreit (1986), in Österreich die Waldheim-Debatte (1986) oder in Frankreich die Diskussion um das »Vichy-Syndrom«, 1987 ausgelöst durch das gleichnamige Buch von Henry Rousso. Nach 1989 wurde der Kampf um das Gedächtnis auch in den postkommunistischen Ländern ausgetragen, etwa in Polen mit der Debatte um Jan Tomasz Gross’ Buch »Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne« (2000).7 In diesem Rahmen wurde die Bereitschaft zur kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Verstrickung in den Judenmord und das nachholende Gedenken an die bislang »vergessenen« Opfer des Holocaust zum Maßstab und Indikator für die »europeanness« eines Staates.8 In den europäischen Hauptstädten entstanden neue Denkmäler und Gedenkstätten, und der politischen Bedeutung des Gedenkens an die Opfer der Shoah wurde durch die Gründung der ITF (International Task Force for Holocaust Education, Remembrance and Research) im Jahr 2000 Ausdruck verliehen, der mittlerweile 28 Länder angehören. Vor allem auch EU-Beitrittskandidaten bemühten sich um Aufnahme in diesen internationalen Zusammenschluss von Staaten, die sich zum Commitment hinsichtlich der Ziele der Stockholm Konferenz verpflichten.9 Die wissenschaftliche Konzeption von post-1945-Europa als einem gemeinsamen transnationalen Gedächtnisraum wurde erstmals Anfang der 1990er Jahre von Tony Judt (1948–2010), Historiker an der New York University, entwickelt. In seinem bahnbrechenden Artikel »The Past is another Country. Myth and Memory in Postwar Europe« wird der Blick aus transatlantischer Perspektive nicht mehr allein auf die einzelnen Nationen gerichtet,
6 Vgl. Tony Judt: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München/Wien 2006, S. 933 [Postwar. A History of Europe since 1945, London 2005]. 7 Vgl. dazu die einzelnen Länder-Kapitel im Katalog der Ausstellung »Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen« (Deutsches Historisches Museum Berlin 2004/05), der einen Überblick über die Verdrängungs- und Aufarbeitungsgeschichte der europäischen Nationen (und darüber hinaus) ermöglicht. Monika Flacke (Hg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Mainz 2004. 8 Vgl. Tony Judt: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, a. a. O., S. 933 f. 9 Vgl. URL: http://www.holocausttaskforce.org [01.07.2011]; Jens Kroh: Transnationale Erinnerung. Der Holocaust im Fokus geschichtspolitischer Initiativen, Frankfurt am Main 2008.
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sondern es wird nach europäischen Gemeinsamkeiten im Umgang mit den traumatischen Erfahrungen von Krieg und Holocaust gefragt. Die europäischen Staaten selbst haben in ihren jeweiligen Geschichtsnarrativen kaum aufeinander Bezug genommen. Judts vergleichender Blick zeigt jedoch, dass trotz der augenfälligen Unterschiede in den nationalen Geschichtserzählungen gemeinsame Signaturen eines europäischen »postwar myth« zu erkennen sind, die auch über die Ost-West-Grenze hinweg wirksam wurden. Dieser europäische Nachkriegsmythos, gewissermaßen der gemeinsame Nenner der nationalen Opfer- und Widerstandsnarrative, lässt sich folgendermaßen charakterisieren: Die NS-Phase wird als eine von außen aufgezwungene Fremdherrschaft dargestellt, das eigene Volk sei das unschuldige Opfer eines Aggressors, der durch militärische Gewalt und Terror ein brutales Okkupationsregime errichtet hat, dennoch habe sich ein heroischer nationaler bzw. »antifaschistischer« Widerstand gebildet. Die Berufung auf den Opferstatus der Bevölkerung und die Darstellung des Widerstands als nationaler Freiheitskampf ermöglichen es, den Nationalsozialismus und seine Verbrechen aus der nationalen Geschichte zu externalisieren. Für die Durchführung der Verfolgungs- und Terrorpolitik und insbesondere für den Holocaust wird allein Nazi-Deutschland verantwortlich gemacht – in der Projektion der Schuldfrage auf Deutschland (bzw. die Bundesrepublik) ist sich post-1945Europa einig.10 Bemerkenswert ist, dass bis zum Zerfall der europäischen Nachkriegsmythen in den 1980er Jahren der Holocaust in den europäischen Geschichtsdarstellungen praktisch keine Rolle spielte. Der Holocaust war das Leid der »anderen«, die jüdische Bevölkerung wurde nicht als Teil des »eigenen Volkes« begriffen.11 Tony Judt sieht Österreich als exemplarisch für die erfolgreiche Externalisierung des Nationalsozialismus in Nachkriegseuropa. Wenn Österreich, das seit dem »Anschluss« im März 1938 integraler Bestandteil von Nazi-Deutsch-
10 Eine Sonderstellung nimmt die Bundesrepublik Deutschland ein, die als einziges europäisches Land mit den NS-Verbrechen konfrontiert wurde. Aber auch in der Nachkriegs-BRD stand das »eigene Leid« als Opfer der Vertreibung und des Bombenkriegs im Vordergrund. Der Schuldabwehr diente auch die Vorstellung, dass es eine kleine terroristische Naziclique war, die das Volk in Geiselhaft genommen hat, dass also nur Hitler und die NS-Führungsspitzen für die Verbrechen des Regimes verantwortlich zu machen sind. 11 Tony Judt: Die Vergangenheit ist ein anderes Land. Politische Mythen im Nachkriegseuropa, in: Transit. Europäische Revue, Nr. 6/1993, S. 87–120 [The Past is Another Country: Myth and Memory in Postwar Europe, in: Daedalus, Nr. 1/1992, S. 83–118].
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land war, durch die Berufung auf seinen Opferstatus die NS-Vergangenheit gewissermaßen annullieren konnte, dann konnten sich andere Länder – mit weitaus besseren Argumenten – ebenfalls darauf berufen. »War Österreich schon schuldlos, so bedurfte offenbar auch die besondere Verantwortung anderer Nicht-Deutscher in anderen Ländern keiner genaueren Überprüfung.«12 Ist Österreich somit eine Variante im Prozess der Konstruktion der europäischen Nachkriegsmythen und ihrer Erosion in den 1980er Jahren oder doch das europäische Land der unbewältigten Vergangenheit par excellence? Ist das Judt’sche Modell adäquat für die Analyse des »österreichischen Gedächtnisses«13 und seiner Transformationen seit 1945? Welche spezifischen nationalen Elemente kennzeichnen den österreichischen Nachkriegsmythos? – Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden.
Die Opferthese als Gründungsnarrativ der Zweiten Republik Am 19. August 1945 wurde am Wiener Schwarzenbergplatz das von der sowjetischen Besatzungsmacht errichtete Denkmal für die Rote Armee enthüllt, die Wien im April 1945 befreit hatte. Die Feierlichkeiten eröffneten auch Vertretern der drei Gründungsparteien der Zweiten Republik – die Sozialistische Partei (SPÖ), die Volkspartei (ÖVP) und die Kommunistische Partei (KPÖ) – die Gelegenheit, wenige Monate nach Kriegsende ihrer Sichtweise auf die Jahre der NS-Herrschaft Ausdruck zu verleihen. So erklärte der spätere Kanzler Leopold Figl (ÖVP): »Sieben Jahre schmachtete das österreichische Volk unter dem Hitlerbarbarismus. Sieben Jahre wurde das österreichische Volk unterjocht und unterdrückt, kein freies Wort der Meinung, kein Bekenntnis zu einer Idee war möglich, brutaler Terror und Gewalt zwangen die Menschen zu blindem Untertanentum.«14
Leopold Figls Rede kann als exemplarisch für das Selbstverständnis Österreichs in der unmittelbaren Nachkriegszeit gesehen werden, wobei offen bleiben muss, ob es sich um taktisches Kalkül angesichts des prekären Status eines 12 Ebd., S. 91. 13 Vgl. Meinrad Ziegler/Waltraud Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit, 2. Aufl., Wien/Köln/ Weimar 1997 (1. Aufl. 1993). 14 Leopold Figl, zit. n. Mahnmal unerbittlicher Gerechtigkeit, in: Das Kleine Volksblatt vom 21. August 1945, S. 1 f.
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besetzten Landes handelte oder um Überzeugung – Figl wurde am 6. April 1945 »im letzten Augenblick« vor der Vollstreckung des Todesurteils wegen Hochverrats aus der Todeszelle des Wiener Landesgerichts befreit.15 Figls Worte geben Einblick in den »antifaschistischen« Grundkonsens des Jahres 1945, der in der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 grundgelegt worden war: Die Proklamation der Wiederherstellung der demokratischen Republik Österreich und der Annullierung des »Anschlusses« wurde durch eine ausführliche Präambel ergänzt, die der Darlegung des österreichischen Opferstatus diente. Unter wörtlicher Bezugnahme auf die Moskauer Deklaration der alliierten Außenminister vom 30. Oktober 1943 wurde Österreich als »das erste freie Land, das der Hitlerschen Aggression zum Opfer gefallen ist«, bezeichnet und der »Anschluss« vom März 1938 als Okkupation dargestellt, die durch »militärische kriegsmäßige Besetzung […] dem hilflos gewordenen Volke Österreichs aufgezwungen worden ist.«16 Die Moskauer Deklaration hatte sich allerdings vor allem auf die Kriegsteilnahme österreichischer Soldaten bezogen. In der so genannten Mitschuldklausel wurde Österreich »daran erinnert, daß es für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann, und daß anläßlich der endgültigen Abrechnung Bedachtnahme darauf, wie viel es selbst zu seiner Befreiung beigetragen haben wird, unvermeidlich sein wird«.17
In der Unabhängigkeitserklärung wird diesem Vorwurf die »Tatsache« entgegengehalten, »daß die nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers […] das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, den kein Österreicher jemals gewollt hat.«18 Es waren diese Textpassagen in der Unabhängigkeitserklärung, durch die die so genannte Opferthese ihre grundlegende Formulierung fand, und zwar
15 Vgl. Dieter A. Binder: Julius Raab und Leopold Figl, in: Emil Brix/Ernst Bruckmüller/Hannes Stekl (Hg.): Memoria Austriae I. Menschen – Mythen – Zeiten, Wien 2004, S. 81. 16 Proklamation vom 27. April 1945, in: Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich, 1. Mai 1945. 17 Deutsche Version nach Stephan Verosta: Die internationale Stellung Österreichs. Eine Sammlung von Erklärungen und Verträgen aus den Jahren 1938 bis 1947, Wien 1947, S. 52 f. 18 Proklamation vom 27. April 1945, a. a. O.
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in ihrer ersten, »antifaschistischen« Variante: Demnach wurde Österreich im März 1938 gewaltsam besetzt, die Jahre 1938 bis 1945 galten als Fremdherrschaft, gegen die sich trotz brutaler Unterdrückung ein Österreich-patriotischer Widerstand regte, während die in Hitlers Armee gepressten Soldaten »unter dem Zwang eines unerhörten Terrors in diesem Kriege auf der anderen Seite« stehen mussten.19 Der Versuch, der Mitverantwortung für das NSRegime durch Berufung auf den von der Moskauer Deklaration in Aussicht gestellten Opferstatus zu entgehen, ist naturgemäß eine Instrumentalisierung, denn die Beschlüsse der Konferenz der Außenminister der UdSSR, der USA und Großbritanniens waren nicht als Konzept für die österreichische Nachkriegsordnung, sondern als – letztlich wenig wirksames – Mittel psychologischer Kriegsführung zur Stärkung eines österreichischen Widerstandes gedacht.20 Nichtsdestotrotz erlangte diese Sichtweise durch die staatlichen Instrumente einer »invention of tradition« Realitätsgehalt: Unmittelbar nach Kriegsende wurde die politische Symbolik und Rhetorik in allen Bereichen des öffentlichen Lebens von der Opferthese durchdrungen. Im neuen Staatswappen, beschlossen am 1. Mai 1945, wurde der aus der Ersten Republik übernommene Adler mit gesprengten Ketten »zur Erinnerung an die Wiedererringung der Unabhängigkeit Österreichs und den Wiederaufbau des Staatswesens« versehen.21 Die Errichtung von Denkmälern für die Opfer des »österreichischen Freiheitskampfes« in Wien und in den Bundesländern22 sollte diese Geschichtsauffassung ebenso bekräftigen wie die Herausgabe des »Rot-Weiß-Rot-Buches« durch die Bundesregierung im Jahre 1946, das die 19 Leopold Figl, zit. n. Mahnmal unerbittlicher Gerechtigkeit, a. a. O. 20 Vgl. Robert H. Keyserlingk: Austria in World War II. An Anglo-American Dilemma, Kingston/Montreal 1988; Günter Bischof: Austria and the First Cold War, 1945–55: The Leverage of the Weak (= Cold War history series), Basingstoke 1999. 21 Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich, 1. Mai 1945, vgl. Gustav Spann: Zur Geschichte von Flagge und Wappen der Republik Österreich, in: Norbert Leser/Manfred Wagner (Hg.): Österreichs politische Symbole. Historisch, ästhetisch und ideologiekritisch beleuchtet, Wien/Köln/Weimar 1994, S. 59. 22 Vgl. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.): Gedenken und Mahnen in Wien 1934–1945. Gedenkstätten zu Widerstand und Verfolgung, Exil, Befreiung. Eine Dokumentation, bearb. v. Herbert Exenberger und Heinz Arnberger unter Mitarb. v. Claudia Kuretsidis-Haider, Wien 1998; Heinz Arnberger/Claudia Kuretsidis-Haider (Hg.): Gedenken und Mahnen in Niederösterreich. Erinnerungszeichen zu Widerstand, Verfolgung, Exil und Befreiung, Wien 2011.
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Argumentationsstrategie der Opferthese mit »amtlichen Quellen« untermauern und so den »Anspruch (Österreichs) auf den Status und die Behandlung als ›befreiter Staat‹ im Sinne der Moskauer Deklaration« begründen sollte. Besonders hervorgehoben wurde darin die Bedeutung des »Widerstandes des österreichischen Volkes gegen seine braunen Unterdrücker«, denn die Auffassung der Weltöffentlichkeit sei vielfach noch von den »optischen und akustischen Täuschungsmanövern der nationalsozialistischen Propaganda« geprägt.23 Gemeint waren damit die vielfach reproduzierten Bilddokumente vom triumphalen Empfang der deutschen Wehrmacht in Wien im März 1938 und vor allem von der Massenkundgebung am Heldenplatz, bei der Adolf Hitler vor einer jubelnden Menschenmenge den »Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich« verkündet hatte.24 Ein Kapitel des »Rot-Weiß-Rot-Buches« widmete sich dem brisanten Thema »Die Österreicher und der Krieg«, wobei erklärt wurde: »Die Einstellung der österreichischen Bevölkerung zum ›Hitlerkriege‹ war von allem Anfang ablehnend, sofern sie nicht von seinem Ausgange die einzige Möglichkeit einer Befreiung vom Nazijoche erhoffte.« Jeder österreichische Kriegsteilnehmer könne bestätigen, »daß die Behandlung der Österreicher in der deutschen Wehrmacht eine besonders harte und zurücksetzende war […], so daß für die meisten von ihnen erst die Kriegsgefangenschaft bei den Alliierten den Endpunkt ihrer Leiden […] bedeutete.«25 Die Interpretation des Nationalsozialismus als fremde Gewaltherrschaft lag auch der offiziösen antifaschistischen Ausstellung »Niemals vergessen!« zu Grunde, die 1946 im Wiener Künstlerhaus gezeigt wurde.26 Ein Abschnitt der Ausstellung war der Judenverfolgung gewidmet, die Ermordung von rund 65.000 österreichischen Jüdinnen und Juden wurde allerdings – wie die NS-Verbrechen generell – dem deutschen bzw. preußischen »Faschismus« zugeschrieben, einer per se als »unösterreichisch« interpretierten Ideologie, die im Widerspruch zum öster-
23 Rot-Weiß-Rot-Buch. Gerechtigkeit für Österreich! Darstellungen, Dokumente und Nachweise zur Vorgeschichte und Geschichte der Okkupation Österreichs. Nach amtlichen Quellen. Erster Teil, Wien 1946, S. 3. – Ein geplanter zweiter Band wurde nicht publiziert. 24 Zit. n. »Anschluß« 1938. Eine Dokumentation, hrsg. v. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 1988, S. 340. 25 Rot-Weiß-Rot-Buch., a. a. O., S. 94 f. 26 Wolfgang Kos: Die Schau mit dem Hammer. Zur Planung, Ideologie und Gestaltung der antifaschistischen Ausstellung »Niemals Vergessen!«, in: ders.: Eigenheim Österreich. Zu Politik, Kultur und Alltag nach 1945, Wien 1994, S. 7–58.
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reichischen Volkscharakter stehen würde, wie Felix Hurdes, 1945 bis 1952 Unterrichtsminister, im Ausstellungskatalog ausführte.27 1946 wurde auch die 950. Wiederkehr der ersten Nennung von »Ostarrichi« (in einer Urkunde des Jahres 996) zum Anlass für großangelegte Jubiläumsfeierlichkeiten genommen, in die praktisch alle gesellschaftlichen Kräfte, vor allem der Kultur-, Wissenschafts- und Schulbereich, einbezogen wurden. In diesen vielfältigen Aktivitäten wurde die zuvor als »deutsch« definierte Kultur und Geschichte nun mit einem österreichischen Rahmen versehen. Die Weckung und Stärkung eines Österreichbewusstseins hatte höchste Priorität, denn es galt den noch unklaren und ungefestigten Österreich-Begriff mit Inhalten zu füllen. Die Erste Republik war nicht zuletzt an einem Mangel an Nationalbewusstsein gescheitert, die vom »austrofaschistischen« Ständestaat (1933–1938) oktroyierte katholisch-konservative Österreich-Ideologie war durch Diktatur und Bürgerkrieg desavouiert.28 Auch in den ersten Nachkriegsjahrzehnten war die Frage, ob es eine österreichische Nation überhaupt gibt und welche Charakteristika sie ausmachen, vor dem Hintergrund der Kontinuität deutschnationaler Haltungen ein zentrales Konfliktthema.29 Als 1956 bei der ersten Umfrage zum Nationalbewusstsein die Frage gestellt wurde, »Sind Sie persönlich der Meinung, dass wir eine Gruppe des deutschen Volkes sind, oder sind wir ein eigenes österreichisches Volk?«, antworteten 49 Prozent, dass die Österreicher ein eigenes Volk seien, 46 Prozent entschieden sich für die Zugehörigkeit zum deutschen Volk.30 Erst in den 1960er Jahren verdichtete sich das österreichische Selbstverständnis in einer Weise, dass von einer stabilen nationalen Identität gesprochen werden kann.31 27 Vgl. Felix Hurdes: Von Friedrich bis Hitler: Totentanz Österreichs, in: »Niemals vergessen!« Ein Buch der Anklage, Mahnung und Verpflichtung, hrsg. v. d. Gemeinde Wien, Wien 1946, S. 72–74. 28 Vgl. Werner Suppanz: Österreichische Geschichtsbilder. Historische Legitimationen in Ständestaat und Zweiter Republik (= Böhlaus Zeitgeschichtliche Bibliothek 1998), Köln/Weimar/Wien 1998. 29 Vgl. zur Auseinandersetzung zwischen dem Konzept der deutschen Kulturnation und dem Österreichpatriotismus in der Kulturpolitik nach 1955/56: Matthias Pape: Ungleiche Brüder. Österreich und Deutschland 1945–1965, Köln/Weimar/ Wien 2000, S. 401–441. 30 Vgl. Ernst Bruckmüller: Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse. 2., erg. u. erw. Aufl. (= Studien zu Politik und Verwaltung; 4), Wien/Köln/Graz 1996, S. 61. 31 Vgl. Ernst Bruckmüller: Österreichbewußtsein im Wandel. Identität und Selbstverständnis in den 90er Jahren, Wien 1994, S. 15. 1993 lag die Zustimmung zur österreichischen Nation bei 80 Prozent (vgl. ebenda).
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Kalter Krieg und Revision der Opferthese Der antifaschistische Geist des Jahres 1945 sollte nur kurzfristig das Selbstverständnis Österreichs prägen. Der Kalte Krieg und die Reintegration der ehemaligen NationalsozialistInnen veränderten die Rahmenbedingungen für die offiziell-staatliche wie auch für die parteispezifische geschichtspolitische Ausrichtung. Im Mai 1945 waren über 500.000 ÖsterreicherInnen gemäß dem Gesetz über das Verbot der NSDAP als Parteimitglieder registriert worden, 1947 wurden rund 482.000 ehemalige NationalsozialistInnen durch die Minderbelastetenamnestie von den Sühnefolgen befreit und erlangten damit wieder das Wahlrecht. Dieses beträchtliche Stimmenpotential wurde sowohl von beiden Großparteien als auch von dem 1949 als Sammelbecken für ehemalige NationalsozialistInnen gegründeten VdU (Verband der Unabhängigen), der Vorläuferorganisation der 1956 gegründeten FPÖ, umworben.32 In dieser Konstellation wurde das »würdelose Buhlen um die Stimmen der Ehemaligen«33 zur Signatur der politischen Kultur Österreichs. Das Zerbrechen des antifaschistischen Grundkonsenses und die Neupositionierung der politischen Lager im Hinblick auf ein Entgegenkommen gegenüber den »Ehemaligen« lässt sich 1948/49 an einem Richtungswechsel in Geschichtspolitk und Erinnerungskultur deutlich ablesen: Die Opferthese des Jahres 1945 erfuhr in entscheidenden Punkten eine Abschwächung, Umdeutung und Aushöhlung. Die Formel von Österreich als »erstem Opfer« des Nationalsozialismus erwies sich als biegsames Argument, das je nach Kontext strategisch eingesetzt werden konnte. Die Transformation der Opferthese vom antifaschistischen Erklärungsmodell für das Österreich der Jahre 1938 bis 1945 zur weitgehend sinnentleerten, konsensfähigen Phrase erforderte eine Revision jenes Geschichtsbildes, das der Unabhängigkeitserklärung zugrunde lag, vor allem in zwei entscheidenden Punkten: Widerstand und Kriegsdienst in der Wehrmacht. Das Argument vom »ersten Opfer« bezog sich seit dem Ende der 1940er Jahre nicht mehr auf die Opferthese des Jahres 1945, sondern auf ihre »entschärfte« Version, deren Formierung sich folgendermaßen beschreiben lässt: 32 Vgl. Winfried R. Garscha: Entnazifizierung und gerichtliche Ahndung von NSVerbrechen, in: Emmerich Tálos/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, S. 852–883. 33 Rudolf Neck, zit. n. Agnes Blänsdorf: Zur Konfrontation mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik, der DDR und in Österreich: Entnazifizierung und Wiedergutmachungsleistungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 16–17/1987, S. 11.
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1. Nach 1947/48 beschränkte sich die Opferthese im Wesentlichen auf die Selbstdarstellung nach außen, vor allem im Hinblick auf die Erlangung des Staatsvertrages. Der Opferstatus wurde allerdings (auch nach 1955) immer reaktiviert, wenn es um Fragen von Entschädigung und Wiedergutmachung ging, wobei das »Österreicher, aber kein Österreich«-Argument zum Tragen kam: Da es keinen österreichischen Staat und keine österreichische Regierung gegeben habe, bestehe auch keine Mitverantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes. Diese Antwort erhielt die Jewish Claims Conference, als sie nach Abschluss des Abkommens mit der Bundesrepublik Deutschland, wo 1953 das Bundesentschädigungsgesetz beschlossen worden war, ähnliche Forderungen an Österreich richtete. Die Regierung zog sich auf den Standpunkt zurück, Österreich sei als ein von den Deutschen besetztes Land staatsrechtlich nicht zu Leistungen verpflichtet und trage auch keine moralische Verantwortung, da die Verbrechen an den Juden von den Deutschen begangen worden wären. Den Mitgliedern des Committee for Jewish Claims on Austria wurde erklärt, »alle Leiden der Juden während dieser Zeit wurden ihnen von den Deutschen und nicht von den Österreichern zugefügt; Österreich trage an allen diesen bösen Dingen keine Schuld, und wo keine Schuld, da keine Verpflichtung zu einer Wiedergutmachung.«34 Erst auf Druck der Weltöffentlichkeit und des Alliierten Rates fand sich die Regierung schließlich zu Leistungen bereit, ohne jedoch das Prinzip der Verantwortlichkeit anzuerkennen.35 2. In Österreich selbst wurde der Opferstatus zunehmend als Argument gegen die Präsenz der Besatzungsmächte funktionalisiert. Wenn Österreich, wie in der Moskauer Deklaration festgehalten, 1938 besetzt und 1945 von den Alliierten befreit worden war, warum wurde dann dem »österreichischen Volk« die Freiheit zu Unrecht vorenthalten? Dieser Vorwurf bildete eine Grundkonstante politischer Erklärungen während der Besatzungszeit.36 Seit dem Ende der 1940er Jahre prägte die Vorstellung, eine Fremdherrschaft sei
34 Gustav Jellinek: Die Geschichte der österreichischen Wiedergutmachung, in: Josef Fraenkel (Hg.): The Jews of Austria, London 1967, S. 398, zit. n. Hans Safrian/Hans Witek: Und keiner war dabei. Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938, Wien 1988, S. 12. 35 Vgl. Brigitte Bailer: Wiedergutmachung kein Thema. Österreich und die Opfer des Nationalsozialismus, Wien 1993, S. 77–98. 36 Vgl. z. B. die Neujahrsansprachen von Bundeskanzler Leopold Figl am 1. Jänner 1948 und von Bundespräsident Karl Renner am 1. Jänner 1950, in: Manfred Jochum/Ferdinand Olbort (Hg.): 80 Jahre Republik. 1918 bis 1938 und 1945 bis 1998 in Reden und Statements, Wien 1998, S. 57 f., S. 60–62.
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durch eine andere abgelöst worden (und die damit verbundene implizite Gleichsetzung des NS-Regimes mit der Zeit nach 1945), den politischen Diskurs. Als am 15. Mai 1955 der Staatsvertrag unterzeichnet wurde, sprach Außenminister Figl von einem »siebzehn Jahre lang dauernden dornenvollen Weg der Unfreiheit«, der nun beendet sei.37 3. Die Berufung auf den Widerstand, 1945/46 noch die Basis des neuen Österreich, verlor mit dem Kalten Krieg und der Abgrenzung zur KPÖ an Legitimation. Die beiden Großparteien zogen sich aus Denkmalprojekten und Gedenkfeierlichkeiten (etwa den Befreiungsfeiern in Wien am 13. April) zurück, die Erinnerung an den Widerstand beschränkte sich in der Folge weitgehend auf die KPÖ bzw. den KP-nahen KZ-Verband. Denkmäler für die Opfer des Widerstandes waren allerdings kaum noch durchsetzbar, sie galten – wie der Widerstand insgesamt – als »kommunistisch«. So erklärte Gustav A. Canaval, Chefredakteur der Salzburger Nachrichten und ehemaliger Häftling im KZ Dachau, im Jahr 1954 zur Frage der Errichtung eines Denkmals für die »Opfer des Faschismus« in der Landeshauptstadt Salzburg, dass diese Diskussion obsolet sei, »schon allein aus dem Grunde, weil solche Denk- und Mahnmäler nun einmal in der heutigen Situation und Zeit nur den Zweck haben können, als praktisches Turn- und Vorführungsgerät kommunistischer Propaganda zu dienen.«38 4. Die weitreichendste Revision der Opferthese betraf die Beurteilung des Kriegsdienstes in der deutschen Wehrmacht. Während in den Verhandlungen um den Staatsvertrag noch betont wurde, dass die Österreicher ebenso wie die Bewohner anderer besetzter Gebiete gezwungen worden seien, in der »verhaßten Kriegsmaschine zu dienen«39, wurden in Österreich bereits die ersten Kriegerdenkmäler errichtet. Denkmäler für die gefallenen Wehrmachtssoldaten waren zunächst keine Selbstverständlichkeit, nach 1945 stand die Würdigung jener Menschen im Vordergrund, die ihr Leben im Widerstand gegen den Nationalsozialismus geopfert hatten. Diese Erinnerungskultur brach 1947/48 ab bzw. beschränkte sich in der Folge weitgehend auf kommunistische Orga-
37 Zit. n. ebd., S. 76. 38 G(ustav) A(dolf) Canaval: Paulus und das geistige KZ, in: Salzburger Nachrichten vom 27./28. März 1954. 39 Zit. n. Eva-Marie Csáky: Der Weg zu Freiheit und Neutralität. Dokumentation zur österreichischen Außenpolitik 1945–1955, Wien 1980, S. 130. Gerald Stourzh: Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-WestBesetzung Österreichs 1945–1955, 4., völlig überarb. u. erw. Aufl. (= Studien zu Politik und Verwaltung), Wien/Köln/Graz 1998, S. 519 f.
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nisationen. Anfangs war man sich allerdings durchaus bewusst, dass diese »Heldenehrungen« im Gegensatz zur nationalen Opferthese stehen, wonach die Wehrmachtssoldaten, wie erwähnt, als Opfer eines »sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg(s)«40 bezeichnet worden waren. »Von nun an«, heißt es in einem Zeitungskommentar zum Totengedenken aus dem Jahr 1949, werden die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs »auch im Gedächtnis unseres Volkes einen Ehrenplatz einnehmen«, und zwar nicht als Opfer des Krieges – »es ist nicht wahr, daß all die Hunderttausende nur durch ein raffiniertes System in den Tod getrieben« wurden –, sondern als »Helden der Pflichterfüllung und der Tapferkeit.«41 Bei der Enthüllung des Denkmals in der steirischen Landeshauptstadt Graz 1951 wurde mit Genugtuung vermerkt, dass sich »die Heimat durch die Erneuerung und Neugestaltung von Kriegerdenkmälern wieder zu ihren im härtesten Kampf gefallenen Söhnen bekennt.«42 Während insgesamt nur eine geringe Zahl von Denkmälern für den Widerstand realisiert wurde, die meisten davon in der unmittelbaren Nachkriegszeit, wurde in den 1950er Jahren in praktisch jeder Gemeinde ein Kriegerdenkmal errichtet bzw. ein bestehendes Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges erweitert. Getragen wurde das Gefallenengedenken von den Kameradschaftsverbänden, die bereits Anfang der 1950er Jahre zehntausende Mitglieder zählten. Die Unterzeichnung des Staatsvertrages und der Abzug der Besatzungsmächte im Jahr 1955 bedeuteten nur insofern eine Zäsur, als die Kameradschaftsverbände nun verstärkt ihr politisches Gewicht demonstrieren konnten. In dieser Phase wurden auch die »Landesehrenmäler« errichtet, darunter das Kärntner Landesehrenmal auf dem Ulrichsberg (1959). Die jährlichen Ulrichsbergfeiern sollten über den regionalen bzw. österreichischen Kontext hinaus zum Anziehungspunkt für ehemalige SS-Angehörige und Rechtsextremisten aus ganz Europa werden, eine Tradition, die erst in jüngster Zeit ein Ende gefunden hat.43
40 Proklamation vom 27. April 1945, a. a. O. 41 Helden und Opfer. Totengedenken im vierten Jahr nach Kriegsende, in: Murtaler Zeitung vom 29. Oktober 1949, S. 3. 42 Dem Andenken der Gefallenen, in: Kleine Zeitung vom 5. Juni 1951, S. 4. 43 Vgl. Heidemarie Uhl: Denkmäler als Medien gesellschaftlicher Erinnerung. Die Denkmallandschaft der Zweiten Republik und die Transformationen des österreichischen Gedächtnisses, in: Regina Fritz/Carola Sachse/Edgar Wolfrum (Hg.): Nationen und ihre Selbstbilder. Postdiktatorische Gesellschaften in Europa (= Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert; 1), Göttingen 2008, S. 62–89.
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In der hegemonialen Präsenz der Kriegerdenkmäler einerseits und der Marginalität von Erinnerungszeichen für den Widerstand und die Opfer des Nationalsozialismus andererseits finden die Widersprüche des österreichischen Gedächtnisses ihren materiellen Ausdruck. Die Struktur der Denkmallandschaft gibt Einblick in die Hierarchien des österreichischen Gedächtnisses und macht offenkundig, dass die offizielle Opferthese kaum Tiefenwirkung in der Gesellschaft entfaltete, in weiten Teilen des Landes, in den Dörfern und Kleinstädten, wurde das Geschichtsbild von den in den Veteranenverbänden organisierten ehemaligen Wehrmachtssoldaten definiert. In den ländlich-konservativ geprägten Räumen wurde das Gefallenengedenken zur »Normalkultur« und die Kriegerdenkmäler zum selbstverständlichen Inventar, eingebunden in die lokalen Traditionen. Im Gegensatz zur parteipolitisch fragmentierten Erinnerungskultur an den Widerstand, die als »links« galt, wurde das Gedenken für die Wehrmachtssoldaten in der Regel von allen politischen und gesellschaftlichen Kräften, von Vereinen, Schulen etc. unterstützt. Vor allem die katholische und die evangelische Kirche demonstrierten durch ihre aktive Teilnahme an Denkmalweihen und Gedenkfeiern ihre Zustimmung, unter Verleugnung der »Märtyrer« in den eigenen Reihen – man wollte, so die Argumentation im Fall des hingerichteten Kriegsdienstverweigerers Franz Jägerstätter, die ehemaligen Wehrmachtssoldaten nicht vor den Kopf stoßen.44 Mit dem ehrenden Gedenken an die Pflichterfüllung in der Wehrmacht wurde allerdings die Legitimität des Widerstandes in Frage gestellt. In der Phase des Erstarkens von neonazistischen Tendenzen nach 1955 wurde dies auch explizit geäußert: von »Verrat, Aufruhr und Widerstand gegen die legale Macht« war 1963 in Der Kamerad, dem Organ des niederösterreichischen Kameradschaftsbundes, zu lesen.45
Ausbalancierung des österreichischen Gedächtnisses in den 1960er Jahren Die zahlreichen geschichtspolitischen Konflikte der 1950er und frühen 1960er Jahre – u. a. die Entschärfung einer Gedenktafel für den Widerstand am Innsbrucker Landhaus, das provokante Auftreten deutschnationaler Burschenschaften bei der Schillerfeier in Wien 1959, die Diffamierung des Widerstandes
44 Vgl. Heidemarie Uhl: Kriegerdenkmäler, in: Emil Brix/Ernst Bruckmüller/ Hannes Stekl (Hg.): Memoria Austriae I, a. a. O., S. 545–559. 45 Widerständler stören Bürgerfrieden, in: Der Kamerad, 6. Jg., Nr. 11/1964 (Nov.), S. 1.
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durch den Kameradschaftsbund bei der Denkmalweihe für im KZ ermordete Priester im niederösterreichischen Wallfahrtsort Maria Langegg 1963 – waren Hinweise auf Tendenzen einer »Renazifizierung«46, deren Bedrohlichkeit bei der Affäre Borodajkewycz im März 1965 evident wurde. Taras Borodajkewycz, Professor für Neuere Geschichte an der Wiener Hochschule für Welthandel, war durch deutschnationale und antisemitische Äußerungen aufgefallen. Sein provokantes Auftreten in einer vom Fernsehen übertragenen Pressekonferenz löste Demonstrationen von Gegnern und Anhängern aus (unter anderem wurde dabei »Hoch Auschwitz!« gerufen), bei denen ein Demonstrant, der ehemalige kommunistische Widerstandskämpfer Ernst Kirchweger, von einem einschlägig vorbestraften Rechtsradikalen getötet wurde.47 Auf den durch die Borodajkewycz-Affäre ausgelösten Schock reagierten beide Großparteien mit einer klaren Abgrenzung vom Nationalsozialismus – die Politik des Entgegenkommens gegenüber den »Ehemaligen« war offenkundig an ihrer Grenze angelangt, wobei die eigentliche Gefahr nicht in der Verharmlosung des Judenmords, sondern im Deutschnationalismus gesehen wurde. Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der Gründung der Zweiten Republik wurde das erste staatliche Denkmal für den Widerstand seiner Bestimmung übergeben: der im Auftrag der Republik Österreich im linken Flügel des Äußeren Burgtors der Wiener Hofburg errichtete Weiheraum für den österreichischen Freiheitskampf. Im rechten Flügel befand sich das 1934 geweihte »Heldendenkmal« für die gefallenen Soldaten des Ersten Weltkrieges, das in der Nachkriegszeit durch die Jahreszahlen »1939–1945« erweitert wurde. In den politischen Erklärungen zu diesem Jahrestag finden sich unmissverständliche Worte der Abgrenzung gegenüber einer Verharmlosung des Nationalsozialismus, die ohne die kurz zuvor erfolgten Zusammenstöße wohl nicht in dieser Deutlichkeit erfolgt wären.48 In der Festsitzung von Nationalrat und Bundesrat im Parlament versicherte Nationalratspräsident Alfred Maleta (ÖVP), »wir lassen uns das Haus, das wir gebaut haben, nicht in Brand stecken«. Maleta bekannte sich zur »Einbeziehung der ehemaligen Nationalsozialisten in die demokratische Gemeinschaft«, erklärte jedoch:
46 Walter Hacker (Hg.): Warnung an Österreich. Neonazismus: Die Vergangenheit bedroht die Zukunft, Wien/Frankfurt am Main/Zürich 1966, S. 9 und passim. 47 Vgl. Gerard Kasemir: Spätes Ende für »wissenschaftlich« vorgetragenen Rassismus. Die Affäre Borodajkewycz, in: Michael Gehler/Hubert Sickinger (Hg.): Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim, Thaur/Wien/München 1995, S. 486–501. 48 Vgl. Das Vermächtnis der Toten – Aufruf an die Jugend, in: Volksblatt vom 28. April 1965.
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»Wir pardonierten Menschen, aber wir akzeptierten nicht das Geschichtsbild der nationalsozialistischen Vergangenheit.«49 Im Jahr 1965 wurde auch im Parlament der Beschluss über die Einrichtung eines Nationalfeiertags gefasst, trotz vehementer Kritik von Seiten der FPÖ, die sich zwar mit der österreichischen Staatsnation arrangieren konnte, aber weiterhin am Bekenntnis zur »deutschen Kulturnation« festhielt.50 1965, zwanzig Jahre nach Kriegsende und zehn Jahre nach Abschluss des Staatsvertrages, erscheint das österreichische Gedächtnis weitgehend ausverhandelt und ausbalanciert. Die beiden Gedenkräume im Äußeren Burgtor können als Symbole für den geschichtspolitischen Kompromiss gesehen werden, der sich in den Konflikten der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte herausgebildet hatte: die Koexistenz von Opferthese, in der Österreich als Opfer des Nationalsozialismus gilt, und ihrer Antithese, dem Gefallenengedenken, in dem die ÖsterreicherInnen als Opfer des Krieges gegen den Nationalsozialismus gesehen werden. Diese Gegenerzählungen hatten keine Schnittmengen, die zu Reibungen und Konflikten hätten führen können, sie existierten beziehungslos nebeneinander. Ihre Denkmäler markierten die politischen und sozialen Hegemonien auf lokaler, regionaler und staatlicher Ebene. Dennoch fungierten beide Narrative als Instrumente der Externalisierung des Nationalsozialismus, wenngleich in unterschiedlicher Form: Das Narrativ von Österreich als erstem Opfer hatte in der Phase 1945 bis 1965 jene Elemente fallen lassen, die ein Störpotential für die Integration der ehemaligen NationalsozialistInnen in den geschichtspolitischen Konsens darstellten – namentlich die Berufung auf den Widerstand und die ablehnende Haltung zum Kriegsdienst in der Wehrmacht. Die Rede vom »ersten Opfer« hatte sich vom antifaschistischen Kontext ihrer Entstehungszeit abgelöst und beschränkte sich nun weitgehend auf die lapidare Aussage, dass Österreich mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun habe, was der Suche nach einem harmonischen Geschichtsbild, in dem sich alle politischen Lager wiederfinden konnten, entgegenkam. Das Geschichtsbild des Gefallenengedenkens erzielte die Ausblendung des Nationalsozialismus hingegen durch die Beschränkung auf den Krieg und auf die Leiden des »eigenen Volkes« unter den Kriegseinwirkungen und den 49 Alfred Maleta: Wir lieben dich, Vaterland!, in: Wiener Zeitung vom 28. April 1965, S. 1 f. 50 Als Nationalfeiertag wurde der 26. Oktober gewählt, der Tag der Beschlussfassung über die Neutralität Österreichs. Vgl. Gustav Spann: Zur Geschichte des österreichischen Nationalfeiertages, in: Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Sport, Abteilung für Politische Bildung (Hg.): 26. Oktober. Zur Geschichte des österreichischen Nationalfeiertages, Wien 1989, S. 27–34.
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Entbehrungen der Nachkriegszeit, unter Ausklammerung des politischen, d. h. nationalsozialistischen Kontextes. Diesem Narrativ mangelt es an argumentativer Stringenz, es gibt kein Äquivalent zur argumentativen Darlegung, wie sie die Opferthese 1945/46 in den eingangs erwähnten Dokumenten erfuhr. Dieses Geschichtsverständnis erzielt seine Integrationskraft eher durch Leerstellen, Andeutungen und suggestive Bilder. Die visuellen Icons des österreichischen Nachkriegsgedächtnisses beziehen sich auf die Erzählungen des »eigenen Leids«: die emotional berührenden Heimkehrer-Fotos von Ernst Haas, vor allem aber das Bild vom brennenden Stephansdom, das durch seine vielfache Reproduktion in Schulbüchern und populären Geschichtsdarstellungen zum Super-Icon und Symbol für Österreich als Opfer des Krieges gegen den Nationalsozialismus wird. Der These vom »ersten Opfer« des Nationalsozialismus mangelt es hingegen an schlagkräftigen visuellen Repräsentationen. Auf Bilddokumente konnte man kaum zurückgreifen, die Bilder vom »Anschluss« zeigten nur jubelnde Menschen. Das einzige überzeugende Icon, die grafische Darstellung der Zerstörung Österreichs durch eine gewaltsame militärische Okkupation im März 1938, befindet sich in der 1978 eröffneten staatlichen Gedenkausstellung in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau und ist in Österreich praktisch unbekannt.
11. März 1938: Österreich – Erstes Opfer des Nationalsozialismus. Eingangsgrafik in der österreichischen Gedenkausstellung in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Foto: Peter Larndorfer.
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Das Konfliktpotential um das Datum des Kriegsendes – für die eine These bedeutete das Jahr 1945 die Befreiung vom Nationalsozialismus, für die andere Zusammenbruch und Besatzung – wurde dadurch gelöst, dass »1945« seit der Unterzeichnung des Staatsvertrages mit »1955« überschrieben wurde. Es ist nach wie vor eine österreichische Besonderheit, dass die »runden« Jahrestage des Kriegsendes in Österreich praktisch keine Rolle spielen. Denn in den »5er Jahren« wurde das Jubiläum des Staatsvertrages begangen, als Re-Inszenierung des eigentlichen Gründungsmythos der Zweiten Republik, der Erfolgsgeschichte eines kleinen Landes zwischen den Blöcken, das den Großmächten seine Freiheit abgetrotzt hatte. Damit unterblieben aber auch die Debatten und Aushandlungsprozesse um die Bedeutung des 8. Mai 1945, den der deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 als »Tag der Befreiung«51 bezeichnet hatte. In Österreich gilt weder die Republiksgründung am 27. April 1945 noch das Kriegsende am 8. Mai, sondern der 15. Mai 1955 als eigentlicher Tag der Freiheit. Als im Rahmen des Projekts »Memoria Austriae« im Jahr 1998 in einer Meinungsumfrage erhoben wurde, auf welche historischen Ereignisse die ÖsterreicherInnen stolz sind, erzielte der Staatsvertrag mit 20 Prozent den Spitzenplatz, für die Republiksgründung votierte nur ein Prozent der Befragten.52
Resümee: Österreich im Kontext der neuen europäischen Erinnerungskultur Das österreichische Gedächtnis verweist auf die vielschichtigen Aushandlungsprozesse und Transformationen des Nachkriegsmythos, die auf ein konsensfähiges Geschichtsbild im Hinblick auf die Integration der ehemaligen Parteigänger des NS-Regimes abzielten – unter Einschluss der weitaus größeren Gruppe der Bystander, die nach 1945 von den Verbrechen des Nationalsozialismus nichts hören wollten. 1986 hatte auch Österreich seine kathartische Diskussion um die verdrängte NS-Vergangenheit, 1991 erfolgte die offizielle Distanzierung von der Opferthese durch das Bekenntnis zur »Mitverantwortung für das Leid, das zwar nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger dieses Landes über andere Menschen und Völker gebracht 51 Im Internet unter: URL: http://www.hdg.de/lemo/html/dokumente/NeueHerausforderungen_redeVollstaendigRichardVonWeizsaecker8Mai1985/index.html [01.07.2011]. 52 Zit. n. Emil Brix/Ernst Bruckmüller/Hannes Stekl: Einleitung, in: dies. (Hg.): Memoria Austriae I, a. a. O., S. 14.
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haben«53, das Bundeskanzler Franz Vranitzky in seiner Rede im Parlament ablegte. Im Oktober 2000 wurde das Holocaust-Denkmal in Wien enthüllt, in vielen Städten und Gemeinden wurden Mahnmale und Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus errichtet. Österreich hat seit 1996 seinen Holocaust-Gedenktag und ist der ITF beigetreten. Trotz der Synchronsierung mit dem neuen europäischen geschichtspolitischen Konsens haben die Jahrzehnte, in denen – im Unterschied zur Bundesrepublik Deutschland – die kritische Auseinandersetzung mit der österreichischen Tätergeschichte unterblieben ist, ihre Spuren hinterlassen. Das zeigt sich etwa bei der Kranzniederlegung von Burschenschaften für die Gefallenen der deutschen Wehrmacht im Heldendenkmal des Äußeren Burgtors am 8. Mai, wenngleich diese Feier regelmäßig von Gegendemonstrationen gestört wird. Aber auch ein vergleichender Blick auf die Gedenkstättenlandschaft zeigt nationale Besonderheiten: Während praktisch jede deutsche Großstadt eine Gedenkstätte oder ein Dokumentationszentrum eingerichtet hat, um sich nachhaltig mit der Verstrickung in den Holocaust und mit der eigenen Tätergeschichte auseinanderzusetzen und diese Erfahrungen der nächsten Generation zu vermitteln, verfügt Wien über keine vergleichbare Einrichtung.
53 Zit. n. Gerhard Botz/Gerald Sprengnagel (Hg.): Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte, a. a. O., S. 575 f.
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Wie europäisch ist die nationale Erinnerung Deutschlands?
Europäische Geschichte – deutsche Geschichte In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat vor einigen Jahren der Politikwissenschaftler Jerzy Maćków die Forderung erhoben, analog zum Nationalismus im 19. Jahrhundert eine »europäische Idee« zu entwerfen, die er »Europäismus« genannt hat. Um durch Rückgriff auf die Geschichte eine gemeinsame Identität jenseits von »einem Haufen von nationalen Erzählungen und Legenden« zu schaffen, »müssen die Europäer europäische Geschichte lernen und verstehen«.1 Die Europäische Union selbst hat sich das Ziel einer in diesem Sinne historischen Legitimation der europäischen Integration und der Europäisierung bislang nicht zu eigen gemacht; und sie hat – man muss wohl sagen: zum Glück – bislang keine Strategien für eine europäische Geschichtspolitik entwickelt. Im Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents aus dem Jahr 2003 gab es Anspielungen auf die »kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen«, die eine Wertegemeinschaft begründen, sowie auf die Notwendigkeit, trotz des Stolzes auf die »nationale Identität und Geschichte […] die alten Trennlinien zu überwinden«. Der Verfassungsentwurf enthielt auch eine Absichtserklärung, »zur Verbesserung der Kenntnis und Verbreitung der Kultur und Geschichte der europäischen Völker« einen Beitrag leisten zu wollen.2 Manche Historiker beklagen vor diesem Hintergrund, dass die Zeitgeschichte schlecht gerüstet sei, »die Erarbeitung eines europäischen Geschichtsbildes in Angriff zu nehmen, da sie noch immer primär nationalhistorisch ausgerichtet ist«.3 Der Kölner Historiker Jürgen Elvert hat sogar die Forderung erhoben: 1 Jerzy Maćków: Europäismus, in: Frankfurter Allgemeine vom 17. Dezember 2003. 2 Vgl. Konrad Jarausch: Zeitgeschichte zwischen Nation und Europa. Eine transnationale Herausforderung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft B 39/2004, S. 3–10, hier S. 3 (dort auch das Zitat aus dem europäischen Verfassungsentwurf von 2003). 3 Ebd.
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»So wie die Nationalhistorie des 19. Jahrhunderts wesentliche Teile des Stoffes geliefert hatte, aus dem die nationalen Identitäten gemacht wurden, muss eine moderne europäische Geschichtsforschung dazu beitragen, den europäischen Integrationsprozess flankierend-argumentativ zu unterstützen.«4
Eine europäische Geschichtsschreibung im Sinne und in der Tradition der kleindeutsch-borussischen Historiographie des 19. Jahrhunderts also? Eine teleologische europäische Meistererzählung, geleitet vom Paradigma des Fortschritts? Geschichtswissenschaft als Legitimationswissenschaft? Darum kann es sicher nicht gehen. In der Perspektive einer europäischen Geschichte bleibt letztlich die Überwölbung einzelner und ganz disparater Nationalgeschichten ebenso unbefriedigend wie die teleologische Betonung des »aufklärerischen und liberal-demokratischen Erbes Europas«.5 Wer konzeptionell über eine »kritische Zeitgeschichte Europas« (Konrad Jarausch) gerade auch im 20. Jahrhundert nachdenkt, der muss sich nicht zuletzt mit den Differenzen der Erinnerung auseinandersetzen, so wie sie bis heute wirken. Es handelt sich dabei um divergierende Erinnerungen, die über weite Strecken – und gerade mit Blick auf das 20. Jahrhundert – einerseits national ausgeformt sind, die sich aber andererseits auch beziehen auf die transnationalen, jedoch nicht automatisch gesamteuropäischen Erfahrungen mit den totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts, mit den Erfahrungen von Unterdrückung, von Krieg und Völkermord. Es geht hier um divergierende, um uneinheitliche Erinnerungen mit ganz verschiedenen Referenzebenen. Die historischen Meistererzählungen der Nationen im europäischen Haus, so hat Martin Sabrow kürzlich betont, »unterscheiden sich markant nach deren Rolle als Sieger- und Verliererstaaten im Zweiten Weltkrieg, als besetzte und neutrale Länder, als Kollaborations- und Widerstandsländer«, so fließend die Grenzen oftmals gewesen sein mögen.6 Dass Europa in der Erinnerung an die beiden ideologisch bestimmten diktatorischen Regime des 20. Jahrhunderts keineswegs vereint, sondern tief ge-
4 Jürgen Elvert: Vom Nutzen und Nachteil der Nationalhistorie für Europa, Ms., Köln 2002, zit. nach: Konrad Jarausch: Zeitgeschichte zwischen Nation und Europa, a. a. O., S. 4. 5 Hannes Siegrist/Rolf Petri: Geschichten Europas. Probleme, Methoden und Perspektiven, in: Comparativ, Heft 3/2004, S. 3. 6 Martin Sabrow: Europäische Diktaturerinnerungen »à deux vitesses«? Zu den Unterschieden postfaschistischer und postkommunistischer Aufarbeitung, Beitrag zur Konferenz »Europa erinnert sich für die Zukunft« am 29./30. April 2010 in Berlin, im Internet unter: URL: http://www.kultur-in-europa.de/51.html [22.10.2010].
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spalten ist, dass die europäische Erinnerungslandschaft von einem um den Holocaust und einem um den GULag zentrierten Geschichtsbewusstsein beherrscht und daher tief zerklüftet ist, zeigen die aufgebrachten Reaktionen auf die Rede der lettischen Politikerin Sandra Kalniete, die auf der Buchmesse in Leipzig 2004 die totalitären Regime des Nationalsozialismus und des Kommunismus »gleichermaßen verbrecherisch« nannte.7 Deutschland gehört vor diesem Hintergrund zu zwei europäischen Geschichtszonen. Ist deshalb, so könnte man fragen, die Entwicklung der Erinnerung in Deutschland besonders europäisch? Ost- und Westdeutsche teilen die Erinnerung an den Nationalsozialismus, an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust, auch wenn die Zahl derer, die unmittelbare Erinnerungen an die 1930er und 1940er Jahre haben, immer geringer wird. Und natürlich ist die Erinnerung an den Nationalsozialismus auch dadurch bestimmt, welche historischen und politischen Einordnungen der nationalsozialistischen Herrschaft und ihrer Verbrechen in den Jahren und Jahrzehnten nach 1945 im öffentlichen Raum gepflegt wurden und dominierten. Die Erinnerung an die DDR und an die kommunistische Herrschaft in Ostdeutschland hingegen teilen Ost- und Westdeutsche nicht. Oder besser: Der unmittelbaren, von eigenen biographischen Erfahrungen geprägten Erinnerung der Ostdeutschen steht die aus in der Regel distanzierter Beobachtung gewonnene Erinnerung der Westdeutschen an die DDR gegenüber: die Erinnerung an einen anderen Staat, eine andere Gesellschaft, eine andere Geschichte. Gibt es vor diesem Hintergrund so etwas wie eine gemeinsame deutsche Erinnerung, in der man dann zugleich die Ansätze einer europäischen Erinnerung erkennen könnte? Vermutlich sind wir selbst auf deutscher Ebene 7 Vgl. dazu Ulrike Ackermann: Das gespaltene Gedenken. Hie Holocaust, da Gulag. Eine gesamteuropäische Erinnerungskultur ist noch nicht in Sicht, in: Internationale Politik, 62. Jg., Heft 5/2006, S. 44–48. In ihrer Rede hatte die lettische Politikerin, 2004 kurzzeitig EU-Kommissarin, betont: »Über 50 Jahre lang ist die Geschichte Europas geschrieben worden, ohne dass wir daran teilnehmen konnten, und die Geschichte der Sieger des Zweiten Weltkrieges teilte, nur zu typisch, alles und jeden nach Gut und Böse, nach Richtig und Falsch. Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erhielten die Forscher einen Zugang zu den archivierten Dokumenten und Lebensgeschichten dieser Opfer. Diese belegen, dass beide totalitäre Regime – Nazismus und Kommunismus – gleich kriminell waren. Es darf niemals eine Unterscheidung zwischen ihnen geben, nur weil eine Seite auf der Seite der Sieger gestanden hat. Der Kampf gegen den Faschismus kann nicht als etwas angesehen werden, das die Sowjetunion, die zahllose Unschuldige im Namen der Ideologie einer Klasse unterdrückte, für immer von ihren Sünden freispricht.«
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davon weit entfernt. Die Deutschen sind in ganz besonderer Weise mit der Ungleichzeitigkeit ihres Gedächtnisses konfrontiert. In fast verblüffender Weise lässt sich diese Ungleichzeitigkeit mit jenen Gedächtnistheorien in Übereinstimmung bringen, die nicht zuletzt von Jan Assmann auch in Anknüpfung an Maurice Halbwachs entwickelt worden sind. Nach rund vier bis fünf Jahrzehnten gehe das kommunikative Gedächtnis in das kulturelle Gedächtnis über. Und in der Tat lassen sich in der Bundesrepublik der 1990er Jahre viele Hinweise darauf finden, dass individuelle Erinnerungen an Nationalsozialismus und Holocaust immer stärker zu verblassen, ja zu verschwinden begannen und dass nicht zuletzt durch die Anstrengungen der Miterlebenden sich ein kulturelles Gedächtnis herauszubilden begann, in dessen Zentrum die Erfahrung des Holocaust steht. Das bildete sich auch in der Geschichtsschreibung ab. Die Geschichte der Bundesrepublik wurde nun immer stärker geschrieben als die Geschichte des erfolgreichen, des geglückten Versuchs, in dem westdeutschen Staat einen Gegenentwurf zu begründen zu nationalsozialistischer Diktatur, Krieg und Völkermord. Doch der interpretatorische Fluchtpunkt der erfolgsgeschichtlichen Darstellungen war nicht das Jahr 1945, sondern das Jahr 1990, und die deutsche Vereinigung wurde als gleichsam ultimative Bestätigung der westdeutschen Erfolgsgeschichte betrachtet.8 Das war in der früheren Bundesrepublikhistoriographie durchaus anders gewesen: Bis mindestens Ende der 1970er Jahre galt der westdeutschen Zeitgeschichtsschreibung der Erfolg der Bundesrepublik keineswegs als ausgemacht. Das Jahr 1945 und der Nationalsozialismus lagen – nicht nur zeitlich – viel näher. Die Geschichte der Bundesrepublik wurde bis in die 1980er Jahre hinein geschrieben als Geschichte »ausgebliebener Katastrophen«, und immer schwang die skeptische Einschätzung mit, dass es durchaus auch hätte anders kommen können angesichts der deutschen »Vergangenheitshypothek« und der Belastung durch die Spaltung Deutschlands.9 Dennoch: Bis 1990 hatte sich das westdeutsche Gedächtnis – und es war ja zugleich Teil des westeuropäischen – mit Blick auf den Nationalsozialismus weithin gefestigt.
8 Vgl. beispielsweise Heinrich A. Winkler: Der lange Weg nach Westen, 2 Bde., München 2000, oder Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie, Stuttgart 2006. 9 Vgl. Hans-Peter Schwarz: Die ausgebliebene Katastrophe. Eine Problemskizze zur Geschichte der Bundesrepublik, in: Hermann Rudolph (Hg.): Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Berlin 1993, S. 151–174; sowie Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie, a. a. O., S. 17.
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Die Vergangenheit der DDR Bezogen auf die DDR – auch als Teil der kommunistischen Vergangenheit Osteuropas – indes ist das deutsche Gedächtnis auch 20 Jahre nach der Vereinigung keineswegs gefestigt, ist der Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis keineswegs vollzogen. Die Erfahrung der DDR – und das meint nicht nur die repressive kommunistische Herrschaft – liegt noch nicht lange zurück, sie ist unmittelbar präsent und in den konkreten Erinnerungen der Mitlebenden und in ihren Biographien höchst lebendig. Die DDR ist untergegangen. Sie lebt aber nicht nur in der Erinnerung fort, sondern auch – und immer wieder in heftigen Aufwallungen – in Geschichtspolitik und Geschichtskultur. Doch mehr noch: Die ehemaligen Bürger der DDR, die Ostdeutschen, sie sind mit ihren individuellen Erfahrungen und Prägungen zu Bürgern der Bundesrepublik geworden. Was aber bedeutet das für die Geschichte des vereinigten Deutschland seit 1990? »16 Millionen Menschen mit anderer Vergangenheit, anderer politischer Mentalität und Kultur werden es kaum schaffen, die übrigen 64 Millionen mit ihren westdeutschen Erfahrungen grundlegend zu verändern«, behauptete schon in den 1990er Jahren Hans-Ulrich Wehler.10 Wird ein solches, auf Sieg oder Niederlage zielendes Nullsummenspiel der Entwicklung nach 1990 überhaupt gerecht? Und was bedeutet eine Feststellung wie die des Bielefelder Historikers für die Erinnerung der Deutschen und für ihre Geschichtsbilder? Es war bezeichnend, dass die Erforschung der DDR und ihrer Geschichte zunächst nicht nur durch die Geschichtswissenschaft und die historisch interessierten Sozialwissenschaften angestoßen und betrieben wurde, sondern auch aus dem politischen Raum. Der Deutsche Bundestag setzte 1992 bekanntlich eine Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« ein, die für weite Bereiche der DDRForschung wichtige Grundlagenarbeit leistete. Eine weitere Enquete-Kommission folgte 1995. Sie befasste sich mit der »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit«.11 Dass der Bundestag nur zwei Jahre nach dem Ende der DDR eine geschichtspolitische Kommission einsetzte, hat viel mit dem breit geteilten 10 Gespräch mit Hans-Ulrich Wehler, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 2/2000, S. 166–176, hier S. 167. 11 Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, 9 Bde., BadenBaden 1995; ders. (Hg.): Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit, 8 Bde., Frankfurt a. M. 2000.
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Willen zu tun, aus den Fehlern im Umgang mit der NS-Vergangenheit nach 1945 zu lernen. Die DDR-Vergangenheit sollte nicht verdrängt werden, sie sollte offensiv thematisiert werden, und die Politik sollte dabei an der Spitze stehen. Es ist bemerkenswert, wie uneuropäisch die deutsche Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit nach 1990 war – und eigentlich bis heute geblieben ist. Sicher, man stellte die Herrschaft der SED, ihre Etablierung, ihre Stabilisierung und ihren Niedergang, in den Kontext der Sowjetisierung der östlichen Hälfte Europas nach 1945 und betonte den formativen Rahmen der sowjetischen Hegemonie. Aber in der politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung fällt bis heute der Blick doch eher selten in vergleichender Perspektive auf die Entwicklungen beispielsweise in Polen oder der Tschechoslowakei, sondern, wenn überhaupt, in diachroner Perspektive auf den Nationalsozialismus beziehungsweise auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit nach 1945. Das ist – in deutscher Sicht – nachvollziehbar, bedeutet aber für eine Europäisierung der Erinnerung ein Problem. Vor diesem Hintergrund erfuhr bekanntlich auch die TotalitarismusTheorie eine spürbare Renaissance. Das Totalitarismus-Konzept diente nun als analytische Folie für den Vergleich zwischen »Drittem Reich« und DDR. In der Tat wirkte der vergleichende Blick erhellend, und auch das moralische Urteil über die DDR, das er implizierte, war nicht nur aus der Sicht von westdeutschen Antikommunisten und Angehörigen der DDR-Opposition legitim. Aber waren der Totalitarismus-Ansatz und der Vergleich mit dem Nationalsozialismus wirklich geeignet, ein umfassendes Bild der DDR, ihrer Gesellschaft und der Handlungsmöglichkeiten der Menschen in dieser Gesellschaft entstehen zu lassen? Nicht nur politische Verurteilung, sondern auch eine kritische Historisierung der DDR schien erforderlich. Einige Historiker versuchten dem mit Begriffen wie »durchherrschte Gesellschaft« (Jürgen Kocka), »Fürsorgediktatur« (Konrad Jarausch) oder »Konsensdiktatur« (Martin Sabrow) Rechnung zu tragen. Doch solche terminologischen und zugleich konzeptionellen Angebote hatten keine über Deutschland und die Beschäftigung mit der DDR-Vergangenheit hinausreichende Wirkung. Eine europäische Debatte haben sie nicht ausgelöst, ja nicht einmal nach Osteuropa strahlen sie ernsthaft aus. Welches aber sind die leitenden Begriffe und analytischen Konzepte, die gerade auch im wissenschaftlichen Kontext eine transnationale, eine europäische Auseinandersetzung mit der Geschichte der kommunistischen Herrschaft im Osten Europas ermöglichen könnten? Hier liegt eine dringende Aufgabe für eine europäische Zeitgeschichtsforschung, die nicht nur die politische Urteilsbildung nacharbeitet. Die Frage nach der DDR-Erinnerung hat bis heute nicht aufgehört, Wissenschaft und Öffentlichkeit umzutreiben. Weiterhin wird heftig darüber
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gestritten, wie an die DDR erinnert werden soll. Im Jahr 2005 setzte die im Bundeskanzleramt angesiedelte Bundesbeauftragte für Kultur und Medien Christina Weiss eine Expertenkommission ein und beauftragte sie, ein Konzept für einen dezentral organisierten Geschichtsverbund zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zu entwickeln. Als die Kommission, der Historiker und DDR-Bürgerrechtler angehörten, ein Jahr später ihre Empfehlungen vorlegte, sprachen Kritiker von »Diktaturverharmlosung« oder einer »Weichzeichnung der DDR«.12 In ihrem abweichenden Votum zu den Empfehlungen der Expertenkommission formulierte Freya Klier: »Die Stützen der untergegangenen Diktatur […] sitzen im Bundestag, in den Medien, in Schulen und vielfältigen Gremien unserer Demokratie. Und sie werden nicht müde, ihren Unrechtsstaat im Nachhinein demokratisch aufzupolieren und in der öffentlichen Erinnerung zu glätten. Sie zielen auf Zukunft.«13
Es ging, das wird in solchen Aussagen deutlich, nicht nur um Geschichtspolitik. Die Debatten über die DDR und ihre Geschichte, über den Charakter der Diktatur und die Herrschaft der SED lagen – und liegen – im Zentrum des allgemeinen politischen Diskurses der Bundesrepublik. Das Bild der DDR und des Kommunismus hat entscheidende Bedeutung für die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung über Wirtschafts- und Sozialpolitik, auch für die Auseinandersetzung mit den Entwicklungen des Kapitalismus, die in den letzten Jahren nicht zuletzt angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise und heftiger Neoliberalismuskritik an Schärfe zugenommen hat. Das ist eine europäische Entwicklung. Sie hat aber in der Bundesrepublik durch die Verbindung mit der Auseinandersetzung über die DDR-Vergangenheit eine besondere Qualität gewonnen, die sie so insbesondere im Westen Europas nicht hat.
Der Holocaust: nationale und universale Erinnerung Über die Jahrzehnte hinweg war die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit für die Bundesrepublik und ihre Gesellschaft geradezu konstitutiv gewesen. Seit 1990 aber existierte wieder ein deutscher 12 Siehe beispielsweise Klaus Schroeder: »Wir vergessen nichts« – Zur Diskussion um die Aufarbeitung der SED-Diktatur (Deutschlandradio Kultur, 21. Mai 2006), abgedruckt in: Martin Sabrow (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Göttingen 2007, S. 279–281. 13 Freya Klier: Sondervotum, abgedruckt in: Martin Sabrow (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung?, a. a. O., S. 44 f.
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Nationalstaat, und schon im Begriff »Wiedervereinigung« deutete sich der politische Rückbezug auf den 1945 untergegangenen deutschen Nationalstaat, das Deutsche Reich, an. Allein daraus ergab sich eine neue Dimension der Erinnerung an die deutsche Nationalgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, an die Geschichte des Nationalsozialismus und insbesondere an den Holocaust. Die Fragen, die im Historikerstreit wenige Jahre zuvor in aller Schärfe aufgeworfen worden waren, die Fragen insbesondere nach dem Ort von Nationalsozialismus und Holocaust in der deutschen Geschichte, stellten sich jetzt angesichts der deutschen Einheit erneut. In der Bundesrepublik war spätestens in den 1980er Jahren die kompromisslose Abgrenzung vom NS-Regime und seinen Massenverbrechen zum entscheidenden Bestandteil bundesrepublikanischer Identität geworden.14 Weniger als je zuvor war freilich seit den 1990er Jahren die Erinnerung an den Nationalsozialismus und vor allem an den Holocaust Sache der Deutschen allein. Gewiss, auch in früheren Dekaden tauchten die nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen punktuell in nationalen Erinnerungskulturen auf, doch nach 1990 kam es nicht nur zu einer Europäisierung, sondern zu einer regelrechten Universalisierung der Geschichtsbilder des Holocaust, der nun gleichsam in das Menschheitsgedächtnis einging. Symbolisch dafür steht das United States Holocaust Memorial Museum in Washington, das 1993 eröffnet wurde, aber auch die Tatsache, dass seit Mitte der 1990er Jahre weit über Deutschland hinaus eine ganze Reihe von Staaten den 27. Januar, den Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, zum Holocaust-Gedenktag erlärte, so wie es Bundespräsident Roman Herzog 1995 für Deutschland tat. In den Tagen um den 27. Januar 2000 versammelten sich in der schwedischen Hauptstadt Stockholm 22 Regierungschefs aus ganz Europa, unter ihnen der deutsche Bundeskanzler, gaben dort nicht nur Erklärungen zum Holocaust ab, sondern versicherten in einer beinahe sakral anmutenden Zeremonie auch, für alle Zeit gegen Genozid, Gewalt und Diskriminierung zu kämpfen.15 Der politische Bezug des Stockholmer Treffens und seiner Deklarationen ist unverkennbar. Das Ende des Ost-West-Gegensatzes hatte nicht nur in Europa blutige ethnisch-nationale Konflikte, die über viele Jahrzehnte gleichsam stillgelegt gewesen waren, aufbrechen lassen, sondern die neue internationale Konstellation schien auch Interventionen insbesondere der europäischen Staa14 Vgl. Andreas Wirsching: 8. Mai und 27. Januar. Zwei Tage der Befreiung?, in: Eckart Conze/Thomas Nicklas (Hg.): Tage deutscher Geschichte. Von der Reformation bis zur Wiedervereinigung, München 2004, S. 239–255, hier S. 254. 15 Vgl. Michael Jeismann: Auf Wiedersehen Gestern. Die deutsche Vergangenheit und die Politik von morgen, München 2001, S. 141 f.
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ten gegen genozidale Gewalt, ob nun im ehemaligen Jugoslawien oder in Afrika, zuzulassen, und der Bezug auf den Holocaust lieferte dafür die Legitimation. In der Bundesrepublik brachte keiner dieses Argument deutlicher vor als Außenminister Joschka Fischer, als er Anfang 1999 die Beteiligung der Bundesrepublik an NATO-Kampfeinsätzen gegen Serbien begründete.16 Auch der Bedeutungsgewinn und die Institutionalisierung des Völkerstrafrechts, gipfelnd im Römischen Statut von 1998 und der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag, gehören in diesen Kontext. Doch der Holocaust erfüllte vor diesem Hintergrund noch eine zweite Funktion, und zwar insbesondere für die europäische Integration: Er diente als ein negativer europäischer Gründungsmythos, der nach 1990 an Gewicht gewann, weil die ost- und ostmitteleuropäischen Staaten an den westeuropäischen Gründungsmythen der europäischen Einigung nach 1945 und der mythenstiftenden Erfolgsgeschichte der Integration nur schwer partizipieren konnten. Der Bezug auf den Holocaust bot sich als gesamteuropäischer Mythos geradezu an, weil er in Vergangenheit und Zukunft zugleich wies und weil er die Kraft hatte, die Spaltung des Kontinents und unterschiedliche Geschichtserfahrungen zu überwinden. Für die Deutschen war es eine durchaus zwiespältige Erfahrung zu sehen, wie sich die Erinnerung an den Holocaust verselbstständigte, abstrahierte und zunehmend universalisierte.17 Bestand nicht die Gefahr, dass sich die Erinnerung immer stärker von den realen Geschehnissen löste? War es nicht möglich, dass durch die Universalisierung der Erinnerung der Holocaust gleichsam ohne die Deutschen und ihre Verbrechen gedacht werden konnte? Nicht nur angesichts der politischen Entwicklungen seit 1990, sondern auch angesichts der weltweiten kommunikativen und medialen Vernetzung war die Universalisierung des Gedenkens an den Holocaust geradezu zwangsläufig. Die Erinnerung wurde global, sie wurde menschheitlich. Zusammen mit dem Generationenwechsel von der Erlebens- und Überlebensgeneration zur Generation der Nachgeborenen lag darin der doppelte Quantensprung von
16 Vgl. beispielsweise die Reden Joschka Fischers vor dem Deutschen Bundestag am 26. März 1999 oder auf dem Parteitag der GRÜNEN in Bielefeld am 13. Mai 1999, auszugsweise zit. in: Eckart Conze: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009, S. 880 f. 17 Vgl. Wolfgang Hardtwig: Von der »Vergangenheitsbewältigung« zur Erinnerungskultur. Vom Umgang mit der NS-Vergangenheit in Deutschland, in: Thomas Hertfelder/Andreas Rödder (Hg.): Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion?, Göttingen 2007, S. 171–189, hier S. 187.
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Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im ausgehenden 20. und im beginnenden 21. Jahrhundert, und auch die Probleme wie die Chancen einer europäischen Erinnerung sind aus deutscher Sicht in diesen Entwicklungen angelegt.
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I. Nach fast 90 Jahren Zeitabstand fällt es heute schwer, sich vorzustellen, welche exemplarische Bedeutung Italien einmal als »laboratorio politico« (politisches Labor) besaß, als Land, in dem der Faschismus nicht nur erfunden, sondern als erstes etabliert und bald zum Modell für eine Reihe weiterer Faschismen in Europa wurde – auch und nicht zuletzt für den Nationalsozialismus. Wer weiß heute noch, dass Adolf Hitlers Putschversuch am 9. November 1923 in München eine direkte Nachahmung von Benito Mussolinis »Marcia su Roma« (Marsch auf Rom) vom Oktober 1922 bedeutete,1 wie überhaupt »der Faschismus […] in sehr vieler Hinsicht Modell und Vorbild des Nationalsozialismus«2 gewesen ist. Der 30. Januar 1933 hat sich in unsere Geschichte zu Recht wie ein Menetekel eingebrannt, doch lässt uns das nicht selten übersehen, dass ein faschistischer Staat schon elf Jahre vor der nationalsozialistischen Machtergreifung existierte und der Ausbau der faschistischen Diktatur in Italien zu diesem Zeitpunkt längst abgeschlossen war. Darüber hinaus handelte es sich beim italienischen Faschismus bereits um den zweiten erfolgreichen Versuch, einen totalitären Staat zu gründen, nachdem die russische Oktoberrevolution schon fünf Jahre zuvor zur Errichtung des Sowjetkommunismus geführt hatte. Und es kommt nicht von ungefähr, dass das Adjektiv »totalitario« nur ein knappes Jahr nach der italienischen Machtergreifung vom Anführer der antifaschistischen Opposition erstmals verwendet wurde, um den völlig neuen, eben totalitären Anspruch des Staates zu beschreiben, der bis hinein in Herz und Hirn seiner Bürger durchgesetzt und verwirklicht werden sollte, mit dem Ziel völliger Beeinflussung, Lenkung, Überwachung und Kontrolle. Ebenso symptomatisch ist es, dass die
1 Vgl. Ernst Deuerlein (Hg.): Der Hitler-Putsch. Bayerische Dokumente zum 8./9. November 1923 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 9), Stuttgart 1962, S. 316 ff. 2 Rudolf Lill: Geschichte Italiens in der Neuzeit, 4. Aufl., Darmstadt 1988, S. 304.
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Anfänge der Totalitarismustheorie noch in der ersten Hälfte der 1920er Jahre in Italien zu verzeichnen sind, als der faschistische Staatsaufbau, jenes völlig neue »sistema totalitario«, seine ersten Opfer forderte.3 Noch weniger bekannt ist schließlich die Tatsache, dass Italien auch das erste Land in Europa gewesen ist, das bereits 1943 begann, das eigene faschistische Regime wieder abzuschütteln, in einem selbstquälerischen, durchweg mühsamen und nicht selten äußerst blutigen Prozess: im Partisanenkampf gegen das nationalsozialistische Besatzungsregime, aber auch im Bürgerkrieg zwischen Faschisten und Antifaschisten sowie mit und gegen die angloamerikanischen Befreiungsarmeen. Ohne Zweifel hat Italien gerade in jenen Jahren zwischen 1943 und 1949 seinen größten Beitrag zum europäischen Gedächtnis im 20. Jahrhundert erbracht, nimmt man als Kriterien die Parameter »Diktaturerfahrungen und Demokratieentwicklung«. Allerdings war dies von heftigen politischen Auseinandersetzungen begleitet. Die Frage, wer damals wo stand und sich wie verhalten hat oder gar die Seiten wechselte – diese Debatte führte zu einer Polarisierung der italienischen Gesellschaft, teilweise sogar zur Ausprägung von unterschiedlichen politischen Kulturen, die bis Ende der 1980er Jahre virulent bleiben sollten. Das gilt ebenso für die italienische Zeitgeschichtsforschung, die jahrzehntelang hinsichtlich der Aufarbeitung dieser Jahre in einem heftigen »bipolarismo« gefangen blieb. Eine kurze Skizzierung jener damaligen Geschehnisse ist unerlässlich, um Italiens Beitrag zum europäischen Gedächtnis zu verstehen.
II. Auslöser für den Sturz Mussolinis war letztlich die Landung der Alliierten auf Sizilien am 10. Juli 1943, der 14 Tage später, in der Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1943, die Absetzung des Duce durch den Gran Consiglio Del Fascismo (Faschistischer Großrat) folgte – ein Vorgang, der im Übrigen für das nationalsozialistische Herrschaftssystem undenkbar gewesen wäre. Die Überanspannung der militärischen Kräfte Italiens und die daraus resultierenden 3 Vgl. Jens Petersen: Die Entstehung des Totalitarismusbegriffs in Italien, in: Eckhard Jesse (Hg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1996, S. 95–117, dort besonders S. 104–110; Petersens Aufsatz stellt nach wie vor die beste Zusammenfassung der Entstehung des TotalitarismusBegriffes in Italien dar, der sowohl zum Synonym für die Epoche als auch zum Leitbegriff der Totalitarismus-Theorie und -forschung werden sollte – bis heute.
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Niederlagen, die chronische Schwäche der italienischen Wirtschaft, deren Produktivkraft nur ein Viertel der deutschen betrug, die wachsende Kriegsmüdigkeit des italienischen Volkes, die zunehmend schlechter werdende Versorgungslage der Bevölkerung, die erstmals in Streiks und Arbeitsniederlegungen in den großen Industriestädten zum Ausdruck kam, die ersten Bombardierungen italienischer Städte durch die Alliierten und nicht zuletzt die erlahmende Überzeugungskraft der faschistischen Ideologie – all das hatte den Niedergang des Faschismus beschleunigt. Auf den Sturz Mussolinis hatten vier politische Gruppierungen hingearbeitet: »die in der Illegalität entstehenden antifaschistischen Parteien, die gemäßigten, philomonarchischen Faschisten, die Spitzenmilitärs im Comando Supremo (Oberkommando; G. H.) und König Vittorio Emanuele III. und seine Berater«.4 Von Anfang an waren dabei zwei Faktoren von entscheidender Relevanz: einerseits der Einschluss und die Kooperation der Kommunisten mit den übrigen antifaschistischen Gruppen; andererseits die Monarchie, die Mussolinis Machtergreifung zunächst konstitutionell legalisiert und über Jahre hinweg mit der faschistischen Diktatur zusammengearbeitet, jetzt aber maßgeblich an deren Sturz mitgewirkt hatte. Auf einen ersten, noch geheim gehaltenen so genannten »kurzen« Waffenstillstand auf Sizilien am 3. September 1943 folgte fünf Tage später, am 8. September 1943, die Kapitulation Italiens, ein Datum, das geradezu als traumatische Erfahrung in die nationale Geschichte eingegangen ist. Von Dwight D. Eisenhower verkündet und nur dem König und wenigen Spitzenmilitärs bekannt, um dem deutschen Noch-Waffenverbündeten nicht zu frühe politische und militärische Interventionsmöglichkeiten zu geben, bedeutete der »otto settembre« die teilweise Auflösung des noch immer 1,7 Millionen Mann starken italienischen Heeres sowie die Deportation und Gefangenschaft von 600.000 italienischen Soldaten als so genannte Militärinternierte in Nazi-Deutschland.5 Die überraschend erfolgte Kapitulation Italiens ermöglichte es Wehrmacht und SS, große Teile des italienischen Heeres kampflos zu entwaffnen. Als noch demoralisierender sollte sich freilich die unmittelbar darauf erfolgende Flucht des Königs und der neuen, von ihm ernannten Regierung unter Marschall 4 Jens Petersen: Sommer 1943, in: Hans Woller (Hg.): Italien und die Großmächte 1943–1949 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 57), München 1988, S. 23–48; 25. 5 Zu deren unmenschlicher Behandlung in den Gefangenenlagern der Wehrmacht sowie als Zwangsarbeiter vgl. Gerhard Schreiber: Die italienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich 1943–1945. Verraten – verachtet – vergessen (= Beiträge zur Militärgeschichte, Bd. 28), München 1990.
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Badoglio nach Brindisi erweisen, die Rom (Stichwort: »Roma aperta« – Rom, offene Stadt) und das übrige Land den deutschen Truppen überließ, die von nun an von Militärverbündeten zu Besatzungstruppen wurden. Abgesehen davon, dass mit der Ernennung des bisherigen Chefs des Oberkommandos, Pietro Badoglio, ein hoher Repräsentant des faschistischen Regimes an die Spitze der neuen Regierung trat, musste die Flucht des Königs die Monarchie bei der Bevölkerung stark diskreditieren, zumal der Papst in Rom blieb. Fast zeitgleich, am 9. September, gründeten die verschiedenen antifaschistischen Gruppierungen in Rom das Comitato di Liberazione Nazionale (Komitee der nationalen Befreiung, CLN). Der überparteiliche Zusammenschluss von Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemokraten, Liberalen und Christdemokraten sollte die politische und organisatorisch-strukturelle Basis für die sich bald daraus entwickelnde Resistenza bilden.6 Gut vier Wochen später, am 13. Oktober 1943, erklärte das Regno d’Italia, das (Rumpf-)Königreich, Deutschland den Krieg, sodass es am 18. Oktober 1943 den Status einer »nazione cobelligerante«, einer mitkriegführenden Nation, erhielt. Wehrmacht und SS, nun zu Besatzungstruppen geworden und durch weitere Divisionen verstärkt, entwickelten rasch ein drakonisches Okkupationsregime, dessen Vorgehen immer brutaler wurde, je mehr sich die Angriffe der Resistenza verstärkten.7 Zugleich in zähem Abwehrkampf gegen angloamerikanische Truppen begriffen, die indes langsam von Süden nach Norden an Boden gewannen, wurden italienische Juden aufgegriffen und in die Vernichtungslager deportiert. Nach der Befreiung Mussolinis durch deutsche Fallschirmjäger wurde der Duce Staatsoberhaupt eines faschistischen Kunststaates in Saló an der Nordspitze des Gardasees, der so genannten Repubblica Sociale Italiana (Italienische Sozialrepublik, RSI). Getragen von faschistischen Ultras, kontrolliert und geschützt von deutschen Truppen, bestand sie bis kurz vor Kriegsende.8
6 Vgl. hierzu im Einzelnen Giorgio Candeloro: Storia dell’ Italia moderna, Volume decimo: La seconda guerra mondiale, il crollo del Fascismo, la resistenza, sec. Edizione, Milano 1988, S. 234 ff. 7 Hierzu jüngst Carlo Gentile: Wehrmacht und Waffen-SS im Kampf gegen Resistenza und Zivilbevölkerung, in: Lutz Klinkhammer/Amedeo Osti Guerazzi/Thomas Schlemmer (Hg.): Die »Achse« im Krieg. Politik, Ideologie und Kriegführung 1939–1945 (= Krieg in der Geschichte, Bd. 64), Paderborn u. a. 2010, S. 492–518. 8 Vgl. hierzu Renzo de Felice: Mussolinis Motive für die Rückkehr in die Politik und die Übernahme der Führung des RSI (September 1943), in: Rudolf Lill (Hg.): Deutschland – Italien 1943–1945. Aspekte einer Entzweiung (= Reihe der Villa Vigoni, Bd. 3), Tübingen 1992, S. 38–50.
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Auf diese Weise zerfiel Italien in den knapp zwei Jahren von 1943 bis 1945 in zwei diametrale, aber sich doch spiegelbildlich gleichende Hälften: im Süden das Regno d’Italia mit Badoglio an der Spitze, überwacht von der angloamerikanischen Armeeführung, zugleich aber kompromittiert durch die faschistische Kollaboration und daher fast durchweg abgelehnt von den politischen Gruppierungen der Resistenza. Im Norden und in der Mitte die nationalsozialistischen Besatzungstruppen – Rom wurde erst am 4. Juni 1944 befreit – mit dem faschistischen Ministaat des Duce, der Repubblica Sociale Italiana, im Zentrum, der sich gleichwohl durch besondere ideologische Rigidität und entsprechende Brutalität nach außen auszeichnete, aber völlig von der deutschen Führung und nicht zuletzt den militärischen Erfolgen der Wehrmacht abhängig blieb. Darüber hinaus blieb das Land in seiner langen Geschichte auch in anderer Hinsicht erneut geteilt, denn der sich ab Frühjahr 1944 intensivierende Partisanenkrieg spielte sich vor allem in Mittel- und Norditalien ab, ja erfuhr dort seine eigentliche Kulminierung. Vor allem die von Kommunisten und Sozialisten verübten Anschläge auf die Wehrmacht trugen zu einer Brutalisierung des Kampfgeschehens auf beiden Seiten bei, die nach einem Attentat auf eine SS-Einheit in Rom im März 1944 in den Massakern der Fosse Ardeatine (Ardeatinische Höhlen) und der Auslöschung des Dorfes Marzabotto im Apennin ihren unmenschlichen Höhepunkt erfuhr.9 Während sich die regulären militärischen Auseinandersetzungen zwischen Angloamerikanern und NS-Truppen bis Kriegsende fortsetzten, führte die Resistenza einen Guerilla-Krieg gegen die Wehrmacht. Zugleich setzte ein Bürgerkrieg ein, den die antifaschistischen Comitati di Liberazione Nazionale gegen die eigenen Landsleute führten, die noch immer Mussolini-Anhänger waren oder verdächtigt wurden, zuvor Faschisten gewesen zu sein. In den noch nicht befreiten Regionen bildeten die Comitati erste Regierungs- und Verwaltungsinstanzen, teilweise noch bevor die angloamerikanischen Truppen eintrafen. Ihr dadurch wachsendes politisches Gewicht, verbunden mit der obstinaten Weigerung, mit der durch den Faschismus kompromittierten Badoglio-Regierung und König Vittorio Emanuele III. zusammenzuarbeiten, führte dazu, dass nach der Wiedereroberung Roms im Juni 1944 auf Veranlassung der Angloamerikaner eine neue Regierung gebildet wurde, die erstmals von allen antifaschistischen Gruppierungen unterstützt wurde.
9 Hierzu detailliert Giorgio Candeloro: Storia dell’ Italia moderna, a. a. O., S. 251–273.
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Bezeichnend für sie war, dass unter dem gemäßigten Ivanoe Bonomi,10 der bereits 1921/22 Regierungschef gewesen war, so unterschiedliche Vertreter wie der Christdemokrat Alcide De Gasperi11 und der Führer der Kommunistischen Partei Italiens, Palmiro Togliatti, Minister wurden. Letzterer hatte sich, im März 1944 aus dem sowjetischen Exil zurückgekehrt, bereit erklärt, noch in Badoglios Regierung mitzuarbeiten. Durch diese als »svolta di Salerno« (Wendung von Salerno) bekannt gewordene Änderung der sowjetischen Haltung und Politik gegenüber dem nach wie vor kompromittierten Regno d’Italia versuchte Stalin, alle antifaschistischen Kräfte im Rahmen einer Volksfrontpolitik zu sammeln, um den sowjetischen Einfluss bei der Befreiung Italiens zu verstärken und gleichzeitig dem Partito Comunista Italiano (Kommunistische Partei Italiens, PCI) ein größeres politisches Gewicht in der Nachkriegszeit zu verschaffen.12 Erste richtungweisende Maßnahme der neuen Regierung Bonomi war das in der Tat essentielle Gesetzesdekret vom 25. Juni 1944, demzufolge unmittelbar nach Kriegsende eine verfassunggebende Versammlung eine neue Konstitution schaffen sowie, davon getrennt, eine Volksabstimmung über die zukünftige Staatsform – Monarchie oder Republik – entscheiden sollte. Schließlich führte der vom Comitato di Liberazione Nazionale entfachte Volksaufstand, der in den Exzessen von Mailand Ende April 1945 seinen Höhepunkt fand, zur Befreiung Italiens vom Faschismus und der nationalsozialistischen Besatzungsmacht.13
III. Auch wenn die Überwindung von Nationalsozialismus und Faschismus ohne die militärische Überlegenheit der angloamerikanischen Truppen nicht möglich gewesen wäre, ohne Zweifel hat die von antifaschistischen, überparteilich organisierten Kräften getragene Resistenza dazu nicht nur einen eigenen, autochthonen Beitrag geleistet, sie hat Italien dadurch auch maßgeblich
10 Zur Regierung Bonomi im Einzelnen siehe Hans Woller: Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien 1943 bis 1948 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 38), München 1996, S. 129–212. 11 Hierzu Pietro Scoppola: Alcide De Gasperi. Sein Weg zur Macht, in: Hans Woller (Hg.): Italien und die Großmächte 1943–1949, a. a. O., S. 207–240. 12 Vgl. Giorgio Candeloro: Storia dell’ Italia moderna, a. a. O., S. 273–287. 13 Ausführlich hierzu Hans Woller: Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien 1943 bis 1948, a. a. O., S. 257–308.
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den Weg zu Republik und Demokratie gewiesen.14 Dabei blieb sie aber nicht stehen. Von Exzessen und Racheakten abgesehen, die gleichfalls vorkamen und nicht verschwiegen werden dürfen, wurde durch Volkstribunale, Militärgerichte und Entlassungen eine »epurazione« (Reinigung), d. h. eine personelle Entfaschisierung in Staat, Verwaltung und Wirtschaft vorgenommen, und zwar auf der Grundlage des Gesetzes vom 27. Juli 1944 und weiterer Folgegesetze. Frühzeitig bestand also eine rechtliche Grundlage; allerdings wurde diese »epurazione« (durch die »Commissione di epurazione« und die »Corte d’Assise straordinaria«, i. e. außerordentliche Gerichte) nicht immer nach rechtsstaatlichen Prinzipien und Prozeduren durchgeführt und ging zum Teil über den vergleichsweise frühen Erlass des Amnestiegesetzes vom 22. Juni 1946 hinaus.15 Die Auswahl der neuen lokal- und regionalpolitischen Eliten lag dabei fast ausnahmslos in der Entscheidungsgewalt der Resistenza, wobei allerdings die juristische Aufarbeitung von Verbrechen und Kollaboration ehemaliger Faschisten nur für die Zeit der Repubblica Sociale Italiana, also der faschistischen Republik von Saló ab 1943, galt, nicht für die Zeit davor! Trotz dieser gravierenden Defizite und unübersehbarer Verfahrensmängel bleibt die »epurazione« das Werk des italienischen Volkes selbst, im Unterschied zu der von den Besatzungsmächten in Deutschland durchgeführten Entnazifizierung. Diese im Wesentlichen von den Italienern selbst durchgeführte Entfaschisierung fußte auf einer antifaschistischen staatlichen Basis, die allerdings – erneut im Unterschied zu Deutschland – im Italien nach Mussolini durch die Regierungen Badoglio und Bonomi erhalten geblieben war. Das noch von der Regierung Bonomi erlassene Dekret zu einer Volksabstimmung über die künftige Staatsform und die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, nachdem das noch aus dem Revolutionsjahr 1849 stammende Statuto Albertino abgeschafft
14 Vgl. Rudolf Lill: Geschichte Italiens in der Neuzeit, a. a. O., S. 381: »… ist die gerade auf der Linken oft gebrauchte Behauptung, dass die italienische Republik aus der Resistenza entstanden sei, im Kern richtig.« 15 Das Gesetz über »Sanktionen gegen den Faschismus« vom 27.7.1944 hatte eine Generalüberprüfung des gesamten öffentlichen Dienstes angeordnet und verantwortliche Mitwirkung am faschistischen Regime mit schweren Strafen bedroht, mit der Anklageerhebung wurde ein eigenes »Hohes Kommissariat« betraut. Das teilweise illegale Vorgehen der Partisanenausschüsse sollte durch das Gesetz vom 22.4.1945, welches außerordentliche Schwurgerichte schuf, eingedämmt werden; doch erst das Gesetz vom 14.11.1945 definierte die Säuberungen noch einmal genauer. Vgl. hierzu umfassend Hans Woller: Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien 1943 bis 1948, a. a. O.
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worden war, führte am 2. Juni 1946 mit 54,3 % der Stimmen zu einem knappen Sieg für die Republik. Für die Beibehaltung der Monarchie, die vor allem im Süden nach wie vor ihre Befürworter fand, hatten allerdings immerhin noch 45,7 % gestimmt. Fortan durften die Mitglieder des Königshauses, der Casa Savoia (Haus Savoyen), italienisches Staatsgebiet nicht mehr betreten. Die bis Ende 1947 ausgearbeitete demokratische Verfassung, in die auch wieder die 1929 zwischen der katholischen Kirche und dem Faschismus geschlossenen Lateranverträge eingefügt wurden, trat am 1. Januar 1948 in Kraft.16
IV. Der gleichsam doppelte Sieg – sowohl über die nationalsozialistische Besatzung als auch über die Faschisten im eigenen Land – forderte jedoch bald seinen Preis. Mit der Etablierung von Republik, Demokratie und Rechtsstaat brach das antifaschistische Bündnis der Resistenza rasch auseinander, waren doch die politischen Gegensätze während ihres Kampfes nur mühsam unterdrückt worden. Als für die weitere politische Entwicklung Italiens besonders nachteilig sollte sich erweisen, dass die neue italienische Republik bereits einen Gründungsmythos besaß, bevor sie im eigentlichen Sinne gegründet wurde. Legitimierung verschaffte ihr vor allem die Resistenza, wobei der politische und militärische Widerstand der Partisaneneinheiten von den verschiedenen politischen Gruppierungen und Parteien, die in den Comitati di Liberazione Nazionale mitgewirkt hatten, häufig übertrieben und oft nur jeweils für sich vereinnahmt wurde. Meist wurden die Begriffe Partisan und Patriot synonym verwendet. Bis weit über die Nachkriegszeit hinaus war außerdem ein regelrechter Partisanenkult virulent. Zudem fühlte sich die Masse der Bevölkerung nicht als Kriegsverlierer, so als ob der Zweite Weltkrieg für die Italiener erst am 8. September 1943 begonnen hätte, zumal der Faschismus und Italiens imperiale Beteiligung als Verbündeter Nazi-Deutschlands weitgehend verdrängt wurden. Entsprechend ungerecht behandelt fühlte man sich daher durch den am 15. September 1947 geschlossenen Friedensvertrag, obwohl dieser die territoriale Integrität Italiens im Wesentlichen
16 Zum Verhältnis zwischen Heiligem Stuhl und der italienischen Republik siehe Ennio di Nolfo: Von der Konfrontation zur Partnerschaft. Italien und der Vatikan 1943–1948, in: Hans Woller (Hg.): Italien und die Großmächte 1943–1949, a. a. O., S. 179–206.
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beließ.17 Schon die ersten nichtfaschistischen Regierungen hatten noch während der Jahre 1943 bis 1945 gegenüber den Alliierten eine ganz spezifische Deutung der noch ablaufenden Geschichte präsentiert, wie Filippo Focardi einmal treffend konstatiert hat: »Auf der einen Seite musste die Propaganda der faschistischen ›Sozial-Republik‹ widerlegt werden, die den Waffenstillstand als ›Verrat‹ an der italienischen Nation und dem deutschen Verbündeten anprangerte. Auf der anderen Seite sollte die Bevölkerung dazu bewegt werden, gegen Deutschland, dem am 13. Oktober 1943 der Krieg erklärt worden war, zu kämpfen. Drittens sollten die Alliierten dazu gebracht werden, den nach der bedingungslosen Kapitulation fixierten Status Italiens als feindliche und besiegte Macht zu verändern.«18
Da fügte es sich gut, dass man sich nach Kriegsende im Kontext der Aufdeckung der nationalsozialistischen Verbrechen selbst als Opfer der grausamen Deutschen darstellen konnte. Der zweifellos aufopferungsvolle Kampf der Resistenza konnte deshalb als italienisches Verdienst nicht nur für die nationale Selbstbefreiung, sondern auch für die Befreiung Europas propagiert werden. Entsprechend wurde der Partisanenkampf als »zweites Risorgimento« apostrophiert, hinter dem dieses Mal jedoch das ganze italienische Volk gestanden habe.19 Dass allerdings nur eine Minderheit der italienischen Gesellschaft tatsächlich daran aktiv mitgewirkt hatte und der Süden fast überhaupt nicht, wurde verdrängt. Von ausschlaggebender Bedeutung für die Entwicklung Italiens vom Kriegsende bis in die 1980er Jahre wurde jedoch, dass sich zwischen den größten Trägergruppen der Resistenza, den Christdemokraten einerseits und der marxistischen Linken, den Kommunisten und Sozialisten andererseits, bald jener »bipolarismo« herausbildete, der das Land auf Jahrzehnte hinaus prägen, teilweise aber auch lähmen sollte. Das begann bereits 1947, als Sozialisten und Kommunisten aus der ersten Nachkriegsregierung ausgeschlossen wurden (Mai 1947) und bei den Wahlen vom 18. April 1948 eine schwere Niederlage
17 Der Friedensvertrag ist am 10.2.1947 in Paris unterzeichnet worden und trat am 15.9.1947 in Kraft; siehe hierzu auch Rudolf Lill: Geschichte Italiens in der Neuzeit, a. a. O., S. 392. 18 Ders.: Gedenktage und politische Öffentlichkeit in Italien 1945–1995, in: Christoph Cornelißen/Lutz Klinkhammer/Wolfgang Schwentker (Hg.): Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2004, S. 210–221; 210. 19 Ebd., S. 212. Siehe dazu auch ders.: La guerra della memoria. La Resistenza nel dibattito politico italiano dal 1945 a oggi, Bari/Roma 2005.
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erlitten, zumal die Democrazia Christiana (Christliche Demokratie, DC) die absolute Mehrheit der Mandate erhielt (305 von 575 Sitzen). Die nun massiv einsetzende Polarisierung der beiden Lager »Nero e Rosso« (Schwarz und Rot) wurde dadurch verstärkt, dass die Sozialistische Partei ebenso wie die Liberalen und Republikaner im Verlauf der nächsten Wahlen immer mehr Stimmenverluste hinzunehmen hatten.20 Beide politische Massenbewegungen, die katholische wie die kommunistische, beriefen sich jeweils auf das Erbe der Resistenza und konnten dies auch legitimerweise tun, übrigens ebenso wie die anderen daran beteiligten Parteien. Getragen von unterschiedlichen Milieus wurde jeweils ganz bewusst eine unterschiedliche Kultur gepflegt, basierend auf diametralen ideologisch-politischen Gegensätzen: Kirchlicher Bindung und Affinität zur katholischen Kirche auf der Seite der Democrazia Cristiana stand deren vehemente Ablehnung, verbunden mit militantem Antiklerikalismus, durch den Partito Comunista Italiano gegenüber. Die eingeführte Marktwirtschaft im Nachkriegsitalien wurde besonders von der kommunistischen Gewerkschaft von strikt antikapitalistischen Grundpositionen aus massiv bekämpft mit dem Ziel, ein sozialistisches Wirtschaftssystem zu schaffen; dem Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie wurde das Modell einer sozialistischen Volksdemokratie entgegengehalten usf. Bis in die Städte und Gemeinden hinein zog sich über Jahrzehnte hinweg dieser Gegensatz: Wurde in einer Gemeinde alljährlich das traditionelle Kirchweihfest und die Prozession zu Ehren des Stadt- oder Dorfheiligen gefeiert, so veranstaltete der PCI in bewusstem Gegensatz dazu ein Volksfest, das »festa comunista«. Auf diese Weise verfestigte sich die politische Lagerbildung in Italien bis Ende der 1960er Jahre. Vielen deutschen Fernsehzuschauern und Liebhabern der humoresken Episoden zwischen Don Camillo und Peppone ist überhaupt nicht klar gewesen, dass hinter den amüsanten Auseinandersetzungen zwischen beiden Protagonisten ein viel tieferer, politisch-ideologischer und gesellschaftlich-kultureller Konflikt stand. Während die Resistenza jedoch für die DC und den PCI trotz aller unterschiedlicher politisch-ideologisch konnotierter Deutungsmuster der dominierende historische Fixpunkt blieb, verteidigte der Neofaschismus die Teilnahme am Krieg an der Seite Nazi-Deutschlands, betrieb Heldenkult gegenüber den im Zweiten Weltkrieg gefallenen italienischen Soldaten auch und nicht zuletzt dem Duce gegenüber. Im »otto settembre« von 1943 sah man nicht den Beginn »einer zweiten nationalen Wiedergeburt, sondern nur eine
20 Siehe hierzu mit zeitgenössischer Färbung Giorgio Galli: Il bipartitismo imperfetto. Communisti e democristiani in Italia, Bologna 1966.
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›tragische moralische Niederlage‹ der Nation. Entsprechend wurde die Resistenza als ein grausamer Bruderkrieg zwischen Italienern gewertet.«21 Auf eine solche historische Interpretation ließen sich aber die beiden großen politischen Lager nicht ein. Angesichts des virulenten »bipolarismo« waren vor allem die Regierungskoalitionen, durchweg von der DC gebildet, bestrebt, bei Gedenktagen, wie etwa zur Befreiung Norditaliens am 25. April 1945, zu einer Versöhnung der politischen Lager beizutragen, indem die Erinnerung an die Resistenza »zunehmend zum Synonym für die Erinnerung an den Krieg im Allgemeinen«22 vereinfacht wurde und die schon damals bestehenden Gegensätze, einschließlich des Bürgerkriegs, ausgeblendet wurden. Denn die Instrumentalisierung der Resistenza hielt in beiden Lagern an: Während die Kommunisten den Christdemokraten Verrat an den Idealen der Partisanen vorwarfen, indem sie damals nicht den Schritt zu einer sozialistischen Republik vollzogen hätten, warf die DC ihnen vor, die nach Kriegsende errungenen demokratischen und rechtsstaatlichen Freiheiten aushöhlen zu wollen, um eine sowjetische Volksdemokratie zu errichten. Erst in den 1980er Jahren begann sich eine differenzierte Sicht auf die Resistenza durchzusetzen, in welcher die Verführung breiter Massen durch den Faschismus die notwendige historiographische Akzentuierung erhielt, neben den heroischen auch auf die kriminellen Taten der Partisanen hinzuweisen, und nun »zwischen den für die Freiheit Gefallenen und den im Kampf für die Diktatur Gestorbenen« unterschieden wurde.23 Seither wird die Geschichte der Jahre 1943 bis 1945 auch als Bürgerkrieg gesehen und der Resistenza nicht mehr das alleinige Verdienst der Befreiung Italiens zuerkannt – gleichsam ohne die Hilfe der Alliierten.
V. Vor dem Hintergrund eines langfristig wirksam werdenden säkularen Prozesses, wie in industriellen Gesellschaften üblich, ist der schleichende Zerfall der Democrazia Cristiana durch unterschiedliche Fraktionierungen innerhalb der Partei selbst, vor allem aber durch die Korruptionsaffären im Skandal um
21 Filippo Focardi: Gedenktage und politische Öffentlichkeit in Italien, a. a. O., S. 212 f. 22 Ebd., S. 215. 23 Ebd., S. 218; so der italienische Staatspräsident Oscar Luigi Scalfaro in einer Rede zum 50. Jahrestag des 8. September 1943 am 8.9.1993.
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»Tangentopoli«24, bewirkt worden (Auflösung der Democrazia Cristiana 1994), was allerdings auch für die Sozialistische Partei unter Bettino Craxi gilt. Beim Partito Comunista Italiano war es hingegen der Zusammenbruch des sozialistischen Staatensystems in Osteuropa 1989/90 und die damit einhergehende Desillusionierung der marxistischen Ideologie.25 Zum Dualismus zwischen katholischer und kommunistischer Subkultur über Jahrzehnte hinweg kam allerdings noch der neofaschistische Movimento Sociale Italiano (Italienische Sozialbewegung, MSI), der 1948 wieder zugelassen worden war. Nachdem der Kampf um das Erbe der Resistenza längst zwischen beiden Lagern entbrannt war, hatte sich durch den MSI eine weitere, nun gegen die Resistenza gerichtete Geschichtsinterpretation hinzugesellt. Der Zerfall der beiden großen Parteien und ihrer Lager eröffnete dem »homo novus« Silvio Berlusconi erst die Chance, an die Regierung zu kommen, indem der MSI ein Bündnis mit der Alleanza Nazionale einging und Berlusconis Forza Italia die rechtspopulistische und separatistische Lega Nord hinter sich brachte. 1994 erstmals Regierungschef, sowie erneut 2001 bis 2006, ist Berlusconi seit 2008 der am längsten an der Macht verbliebene Ministerpräsident Italiens.26 In der höchst problematischen Doppelrolle als demokratisch gewählter Regierungschef und zugleich Medienmogul Italiens haben ihn zahlreiche Anklagen wegen Bestechung und Korruption sowie Skandale verschiedenster Art bisher nicht aus dem Amt des Ministerpräsidenten verdrängen können. Auch wenn Berlusconis Alleanza Nazionale in geschichtspolitischer Hinsicht wenig Interesse an der Resistenza und ihrem Erbe zeigt, so kann doch gesagt werden, wie Hans Woller dies jüngst formuliert hat, dass sich das politische System Italiens trotz allem als flexibel genug erwiesen hat, »nach der Rosskur einer radikalen Abrechnung mit dem Faschismus die Weichen so zu stellen, dass nicht noch größerer Schaden entstand. Die Formel lautete: normative Ächtung des Faschismus, rasche gesellschaftliche Integration des faschisti-
24 Vgl. Stefan Köppl: Das politische System Italiens, Wiesbaden 2007, S. 232–236, sowie detailliert Monika Oberle: Politische Korruption in Italien. Ursachen und Systematik der Korruption, der Skandal Tangentopoli und das Ende der Ersten Republik, Saarbrücken 2008. 25 Vgl. hierzu Reimut Zohlnhöfer: Die Transformation des italienischen Parteiensystems in den 90er Jahren, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Heft 4/1998, S. 1371–1396. 26 Hierzu im Einzelnen Gian Enrico Rusconi/Thomas Schlemmer/Hans Woller (Hg.): Berlusconi an der Macht. Die Politik der italienischen Mitte-Rechts-Regierungen in vergleichender Perspektive (= Zeitgeschichte im Gespräch, Bd. 10), München 2010.
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schen Fußvolkes und langsame politische Akzeptanz der selbst ernannten Erben Mussolinis, die ihnen die Gewöhnung an den neuen Staat und am Ende vielleicht sogar die demokratische Läuterung ermöglichte. Die Verwandlung des Movimento Sociale Italiano in die Alleanza Nazionale und das Bündnis mit Berlusconis Forza Italia sind der sichtbare Ausdruck dieses mühseligen, aber anscheinend erfolgreichen Ein- und Anpassungsprozesses.«27
Fazit: Ohne Zweifel besteht der Beitrag Italiens zu einem europäischen Gedächtnis im Vermächtnis der Resistenza, die zwar ohne die politische und militärische Hilfe der Alliierten nicht erfolgreich gewesen wäre, aber eine autochthone Selbstbefreiung verkörperte und den Entfaschisierungsprozess Italiens maßgeblich einleitete. Zudem hat sich Italien nach den Erfahrungen mit der faschistischen Diktatur, wenn auch unter enormen innenpolitischen Auseinandersetzungen, durchweg zu Europa und der westlichen Staatengemeinschaft bekannt: 1949 ist es Gründungsmitglied der NATO geworden, 1957 der EWG. Gleichwohl hat das Land angesichts der massiven internen Spannungen rund ein halbes Jahrhundert gebraucht, um zu einer realistischen historischen Einschätzung seiner Vergangenheit zu kommen; das gilt sowohl für den Faschismus wie für den Antifaschismus.28
27 Hans Woller: Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 399 f. 28 Hierzu grundlegend, wenn auch nicht abschließend, das Resümee von Claudio Natoli: Antifaschismus und Resistenza in der Geschichte des italienischen Einheitsstaates, in: Jens Petersen/Wolfgang Schieder (Hg.): Faschismus und Gesellschaft in Italien. Staat – Wirtschaft – Kultur (= Italien in der Moderne, Bd. 2), Köln 1998, S. 307–327.
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Zu den Leitmotiven der kollektiven Erinnerung in Polen
Wie europäisch ist die nationale Erinnerung in Polen? Diese mir für den vorliegenden Beitrag zugedachte Fragestellung verstehe ich als Provokation, denn wie kann man nach dem »europäischen Gehalt« des nationalen Gedächtnisses fragen, wenn »Volk«, »Nation« und »Nationalismus« immanente Bestandteile der ideengeschichtlichen Entwicklung des modernen Europas sind? Jede nationale Erinnerungskultur in Europa ist doch implizit europäisch. Ich möchte daher im Folgenden den Fokus etwas verändern und fragen, wie wir uns ein europäisches Gedächtnis vorstellen könnten. Welche Gruppen und Kollektive bilden – neben den Völkern – die Träger des europäischen Gedächtnisses? Wie regional, konfessionell, christlich, gender-bezogen, aufgeklärt usw. sollte man sich ein gemeinsames europäisches Erinnern vorstellen? Diese Verschiebung des Blickpunktes scheint mir überaus wichtig, denn so lange die europäische Idee ausschließlich mit der Nation in Verbindung gebracht wird, trägt dies zur Remythologisierung des »nationalen Faktors« bei. Gehören die nationalen Erinnerungskonstruktionen nicht zu den Meistererzählungen des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts? Vielleicht sind wir an einem Punkt angelangt, an dem es kein Zurück mehr gibt; an einem Punkt, der von uns nicht so sehr verlangt, Veraltetes zu verwerfen, sondern vielmehr die herkömmlichen Zugänge zu den nationalen Erinnerungen neu zu definieren? Denn die Gegenwart konfrontiert uns mehr als früher mit der Pluralisierung von Identitätsdiskursen, auch und gerade innerhalb nationaler Gesellschaften. Der Ansatz einer Neudefinition des traditionellen Zugangs zur Nationalgeschichte wirft jedoch mehrere Fragen auf: Wie kann man ein neues Paradigma in der Erforschung der nationalen Erinnerung schaffen und dabei erstens die Dominanz der normativen Funktion von Geschichte vermeiden? Wie kann man zweitens in der Forschungspraxis interdisziplinäre Ansätze stärken und die Erkenntnisperspektive bereichern, ohne in die Falle multidisziplinärer Monologe zu tappen? Und wie kann man drittens von nationalen Narrativen erzählen, ohne Gefahr zu laufen, nationale Vorstellungen und Stereotype zu remythologisieren? Ich habe keine einfachen Antworten darauf parat, doch bin ich überzeugt davon, dass das Ende der Meistererzählungen noch längst nicht gekommen ist. Durch die Entwicklung transnationaler Konzepte konnte das
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Forschungsinstrumentarium (nicht nur) von Historikern erweitert werden; dies kann uns helfen, die Falle der Remythologisierung von Geschichte zu umgehen.
Zur Chronologie der Erinnerung Bevor ich zur Darstellung von Leitmotiven der kollektiven Erinnerung in Polen komme, möchte ich mit einem kleinen chronologischen Aufriss zu den Entwicklungsphasen der polnischen Erinnerungskultur beginnen: 1944/45–1949: 1949–1956: 1956–1980: 1980–1989: 1990–1998: 1999–2004: 2004/05–2007: seit 2007:
»Lebendige« Erinnerung Totalisierung der Erinnerungspolitik Monopolisierung des kulturellen Gedächtnisses Entmonopolisierungsprozess Pluralisierung des kollektiven Gedächtnisses (»große Öffnung«) Rückkehr zum nationalen Paradigma »neue« Erinnerungs- oder Geschichtspolitik Musealisierung und Individualisierung
Für diese Periodisierung bilden sowohl die Form als auch die Träger des Gedächtnisses im öffentlichen Raum die ausschlaggebenden Kriterien. Ganz bewusst beginnt die Chronologie bereits 1944/45 und nicht etwa 1989, da im Unterschied zur Mehrzahl der Länder des »Ostblocks« das kulturelle Gedächtnis in Polen nur in einem relativ kurzen Zeitraum einer totalen, durch den Staat monopolisierten Gewalt ausgesetzt war. Besonders prägend für die polnische Erinnerungsdebatte, bezogen auf die Zeit zwischen 1944/45 und 1949, war der Streit über den »Mythos des Märtyrertums«. Die Rückkehr zu einem Mythos des 19. Jahrhunderts – dem »des Polen als Soldaten, der für die Freiheit des Vaterlandes kämpft und stirbt« – war eine direkte Konsequenz des Zweiten Weltkrieges. In der Kontinuität dieses Motivs, mitsamt seiner Gegenstimmen, stand die gesamte polnische Nachkriegsliteratur, in der »Märtyrertum« auf »Heldentum« stieß. Der erste, der sich diesem Mythos entgegenstellte (und später andere fand, die ihm nachfolgten), war der durch seine Erzählungen »Bei uns in Auschwitz« bekannt gewordene Schriftsteller Tadeusz Borowski. Ihm zufolge beruhte das Wesen von Auschwitz darauf, dass es sowohl Opfer als auch Täter entwürdigte. Sowohl der SS-Mann als auch der Häftling wurden zu Zahnrädern in einer Maschinerie des Verbrechens. Jedes Verhalten, das die Chance zu überleben vergrößerte, geschah auf Kosten eines anderen Menschen. Kategorien wie Patriotismus oder Aufopferung für das Vaterland wurden in der Konfron-
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tation mit der totalen Todesmaschinerie an den Rand gedrängt. Diese Analyse eines Auschwitz-Häftlings und jungen Autors – geschrieben fast zwanzig Jahre bevor »Auschwitz« zum europäischen (auch deutschen) Erinnerungsort wurde – steckte den Rahmen der Nachkriegsdebatte über das »polnische Opfer« ab. Heute tobt dieser Streit am heftigsten um die Interpretation des Warschauer Aufstandes 1944. Für die Periode der »Monopolisierung des Gedächtnisses« in den 1970er Jahren war das Entstehen einer immer deutlicher vernehmbaren alternativen Stimme charakteristisch, geäußert zunächst aus dem Umfeld des Münchner »Radio Freies Europa« und der Pariser »Kultura«, später auch aus der Opposition in Polen. Die größte Diskussion über die polnische Geschichte und Identität löste zweifellos die Krakauer Ausstellung von 1979 »Die Polen – ein Selbstporträt« aus, und der Abstand zwischen der offiziell verordneten Version der Geschichte und ihrer gesellschaftlichen Rezeption vergrößerte sich seither immer weiter. Die Entmonopolisierung des staatlichen Einflusses auf das kulturelle Gedächtnis begann bereits 1980 und erreichte 1989 ihren Höhepunkt. In den Jahren 1993 bis 1998/99 gab es in allen postkommunistischen Ländern ähnliche Prozesse: »weiße Flecken« der Geschichte wurden aufgearbeitet und gleichzeitig flüchtete man aus der Vergangenheit in Richtung einer »normalen« (westlichen) Marktgesellschaft. In Polen war diese Zeit nicht nur durch eine Rückkehr zu den Ereignissen und Personen gekennzeichnet, die zuvor unter Zwang aus dem kulturellen Gedächtnis entfernten worden waren (etwa die Rückkehr zum Mythos der »Ostgebiete« oder die Thematisierung des Krieges gegen die Sowjetunion und der sowjetischen Verbrechen), sondern ebenfalls durch den Versuch, die so genannten dunklen Seiten der eigenen Nationalgeschichte aufzugreifen, also die eigene Nationalgeschichte zu entmythologisieren. Hier wären zum Beispiel die Debatten über den Warschauer Aufstand oder über die polnische Verantwortung für die Zwangsumsiedlung von Deutschen und Ukrainern zu nennen. Einen verhältnismäßig geringen Raum nahm hingegen die Aufarbeitung des Erbes von 40 Jahren polnischer Volksrepublik ein. Der Staat beendete nicht nur seine Rolle als Monopolist auf dem Feld der Geschichtspolitik, sondern auch die des »Konstrukteurs« des kulturellen Gedächtnisses. Es entstanden viele kleinere zivilgesellschaftliche Akteure, die die Auseinandersetzung über die Erinnerung vielerorts beeinflussten (von Wrocław über Warschau bis nach Sejny an der litauischen Grenze). Das Ende dieses Abschnitts und zugleich die größte polnische Geschichtsdebatte vor dem Frühjahr 2010 markierte die Kontroverse um das Buch von Jan Tomasz Gross »Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne« (2000/2001). Sie bezog sich auf den durch die Deutschen angestoßenen und von
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den Polen ausgeführten Mord an ihren jüdischen Nachbarn. Im weiteren Sinne betraf diese Debatte den Opfer-Täter-Kontext der nationalen affirmativen Interpretation der polnischen Nationalgeschichte. Diese vorrangig innerpolnische Debatte wurde durch einen äußeren Impuls verstärkt: durch die Diskussion um das Zentrum gegen Vertreibung. Die Synergie dieser doppelten Thematisierung der Polen als »Täter« im Kontext der tragischen Geschichte des 20. Jahrhunderts löste eine starke Reaktion der so genannten »neuen Geschichtspolitik« aus, die auf eine »affirmative Rezeption« der Nationalgeschichte ausgerichtet ist. Aus ihrer Sicht bestanden die zentralen Schritte für die Bildung eines »neuen Gedächtnisses« in der Gründung des Museums für den Warschauer Aufstand (2004) und in der Verabschiedung des Gesetzes über die Gründung des Instituts des Nationalen Gedenkens IPN (1999).
Leitmotive der kollektiven Erinnerung in Polen Der Sieg der polnischen Streitkräfte über die Rote Armee in der Schlacht bei Warschau im Juli 1920, über fünf Millionen polnische Opfer im Zweiten Weltkrieg, der Warschauer Aufstand, Katyń, Monte Casino … In der Vergangenheit gewannen Ereignisse wie diese eine gleichsam sakrale Bedeutung – so spricht man in Polen vielfach statt von der Schlacht bei Warschau vom »Wunder an der Weichsel« – und wurden in ein Ursache-Wirkung-Schema gesetzt, aus dem geschlussfolgert wurde, es sei das »besondere Schicksal des polnischen Volkes«, im Namen höherer Werte zu leiden. Bislang hat sich noch kein Gegennarrativ durchgesetzt, das sich mit einer positiven Freiheitserzählung verbunden hätte: etwa mit der Verfassung vom 3. Mai (1791), der Revolution von 1905, der Wiedererlangung der Unabhängigkeit (1918), der »Solidarność«Bewegung (1980/81) oder mit dem »Runden Tisch« (1989) und den ersten (halb-)freien Wahlen im kommunistischen Ostblock (4. Juni 1989). Das Potential für eine solche identitätsstiftende Geschichtserzählung existiert durchaus, und ihre Entwicklung wäre – vielleicht paradoxerweise – ein weiterer Schritt zu einer Neuinterpretation der polnischen Identität(en). Der Kern der polnischen Erinnerungsdebatte, und das ist die zentrale These meines Beitrags, ist nicht so sehr die Auseinandersetzung über den Sinn (oder Unsinn) des »Märtyrertums«, sondern eine Auseinandersetzung über den tief verwurzelten »polnischen Romantismus«. Ich verstehe die polnische Romantik nicht nur als eine literarische Epoche, sondern als ritualisierte Überlieferung der Erinnerungskultur. Durch ihre gesellschaftliche Präsenz schuf sie schon »zu Lebzeiten« eine symbolische Ikonosphäre, in der eine moderne
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nationale Identität beschrieben und definiert wurde. Es geht jedoch nicht um eine Ablehnung oder Negierung des Sinns der romantischen Botschaft. Weit entfernt von messianistischen Ideen schrieb der polnische Schriftsteller und Publizist Józef Czapski, der nach dem Zweiten Weltkrieg den größten Teil seines Lebens in Frankreich verbrachte, dass die polnischen romantischen Dichter für die Polen das sind, was die Propheten für die Juden sind. Dies war keineswegs rein metaphorisch, sondern vielmehr als konkrete Zustandsbeschreibung der emotionalen Verbindung der Polen mit der Botschaft der Romantik zu verstehen. Heutige Wissenschaftler sind sich jedoch einig, dass nicht die Botschaft der Romantiker so wichtig für die Polen war, sondern ihre Interpretationen. Die polnische Erinnerungskultur seit den 1820er Jahren ist überwiegend als Kontinuität, Reinterpretation, Banalisierung, Verehrung und Verurteilung der Romantik zu verstehen.1 Es gibt eine Vielzahl polnischer Künstler, die sich gegen die Romantik, die Viktimologie, die Mythologie des Leidens stellten, sich zugleich jedoch auf romantische Erzählkategorien wie Mut, Ehre oder nationale Tradition bezogen; zu den europaweit bekannten zählen Witold Gombrowicz, der Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz, Stanisław Lem, Jerzy Giedroyc (Herausgeber der Pariser »Kultura«), Andrzej Wajda oder Adam Michnik (heute Chefredakteur der »Gazeta Wyborcza«). Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass in verschiedenen politischen Konstellationen, unabhängig davon, ob in der kommunistischen oder der demokratischen Zeit, die Auseinandersetzung um den Ort des »Märtyrertums« in der polnischen Geschichte die Hauptdiskussionslinie des polnischen kulturellen Gedächtnisses darstellt. Der Absturz der Präsidentenmaschine bei Smolensk am 10. April 2010 mit 96 Menschen an Bord löste in Polen eine außergewöhnlich scharfe Diskussion über Sinn und Bedeutung des Opfers für die Herausbildung der polnischen nationalen Identität aus. Der Tod von öffentlichen und zumeist bekannten Persönlichkeiten wandelte sich von einer familiären Tragödie in ein politischreligiöses Spektakel, bei dem der Streit um ein Kreuz in den Vordergrund rückte und mit großer Leidenschaften geführt wurde. Im Kontext der kollektiven Erinnerung bildet dieser Streit einen weiteren Akt in der grundsätzlichen Erinnerungsdebatte, deren zentrale Achse ein Erbe der Romantik ist. Mit Bedacht habe ich kaum über das Erinnern an die kommunistische Zeit und die Formen der Aufarbeitung der totalitären Regime gesprochen. Die
1 Vgl. Marcin Król: Romantyzm. Piekło i niebo Polaków. Polskie obrachunki pod koniec millennium, Warszawa 1998; Maria Janion: Płacz generała. Eseje o wojnie, Warszawa 1998.
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»weiche Phase« der »postkommunistischen Erinnerung« hat Polen in den frühen 1990er Jahren erlebt. Eine dominierende Rolle im kulturellen Gedächtnis begann die Aufarbeitung des Kommunismus in den Jahren 2005 bis 2007 und in gewisser Weise erneut nach dem Frühjahr 2010 zu spielen. Charakteristische Phänomene, die diesen Prozess begleitet haben, waren die Politisierung der Diskurse und die Dominanz von Verschwörungstheorien. Ein weiterer wichtiger Faktor für den innerpolnischen Erinnerungsdialog war die deutsch-polnische Auseinandersetzung um das Thema »Flucht und Vertreibung«2. Ich werde mich hier nur auf ein Beispiel beziehen, das seit knapp zwanzig Jahren sowohl meine Forschungsarbeit als auch meine öffentlichen Aktivitäten begleitet.3 Das Problem des erzwungenen Bevölkerungstransfers, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, wird auf Deutsch als »Vertreibung« bezeichnet, auf Polnisch spricht man zumeist von »wysiedlenia« (Aussiedlungen) und Deportationen, auf Tschechisch hingegen von »odsun« (Abschiebung). Allein schon in den Begrifflichkeiten spiegeln sich die nationalen Besonderheiten der Wahrnehmung und Rezeption dieses Themas. Problematisch wird nicht die Frage, ob man darüber sprechen und dessen gedenken sollte, sondern wie man gedenken sollte, auf welche Erzählkriterien man sich für die Aussiedlungen im großen Narrativ über das 20. Jahrhundert einigen kann. Ich verfolge die öffentlichen, nichtwissenschaftlichen Debatten zu diesem Thema aufmerksam und habe den Eindruck, dass sich in den letzten Jahren eine eigenartige »Magie großer Zahlen« durchgesetzt hat und zugleich ein gestiegenes Bedürfnis zu verzeichnen ist, »das Unrecht an den Opfern wiedergutzumachen« – sogar um den Preis der Geschichtsfälschung. Natürlich wird heutzutage in Polen die Geschichte nicht mehr staatlich verordnet, doch es entsteht 2 Eine Zusammenfassung der nunmehr 20-jährigen Debatte ist nachzulesen in: Robert Traba/Robert Żurek: »Vertreibung« czy »przymusowe wysiedlenia«? Polskoniemiecki spór o pojęcia, pamięć i sens uprawiania polityki wobec historii, in: Witold Góralski (Hg.): Przełom i wyzwanie. XX lat polsko-niemieckiego Traktatu o dobrym sąsiedzwtie i przyjaznej współpracy, Warszawa 2001, S. 406–446. Die deutsche Ausgabe dieser Publikation erscheint im Juli 2011: Robert Traba/Robert Żurek: »Vertreibung« oder »Zwangsausiedlungen«? Die deutsch-polnische Auseinandersetzung um Termini, das Gedächtnis und den Zweck der Erinnerungspolitik, in: Witold Góralski (Hg.): Historischer Umbruch und Herausforderung für die Zukunft. Der deutsch-polnische Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991. Ein Rückblick nach zwei Jahrzehnten, Warszawa 2011. 3 Vgl. Robert Traba: »Die andere Seite der Erinnerung«. Über das Gedächtnis in der historischen Erfahrung Ostmitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert, in: Historie. Jahrbuch des Zentrums für Historische Forschung, Jg. 2008/2009, Folge 2, S. 11–21.
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ein hegemonialer Diskurs, dessen Kern in dem »ungerechterweise vergessenen Leiden« des polnischen Volkes liegt. Dadurch werden jene, die die Zahl der Opfer rationalisieren wollen und die den Vertreibungsdiskurs nicht nur im Kontext der Menschenrechte, sondern auch als eine europäisierte Fortsetzung von Elementen der völkischen Sprache der 1920er und 1930er Jahre beschreiben, an den Rand gedrängt und ihnen wird vorgeworfen, »die Leiden der Opfer« nicht zu verstehen. In dem ermländischen Dorf Purda, wo ich zwei Jahre lang mit polnischen und deutschen Studenten geforscht habe,4 waren die einzigen »Vertriebenen« die »importierten« Beamten der örtlichen NSDAP-Strukturen, die in Wirklichkeit vor der Verantwortung und der Rechtsprechung flüchteten. Sie und ihre Nachkommen sind ebenfalls »Heimatvertriebene«. Die Massenausreisen begannen in den 1950er Jahren, und ihr Höhepunkt fiel in die 1970er Jahre. Die Kraft der kulturellen Erinnerung ist jedoch so stark, dass in manchen Erinnerungen quasi automatisch die Kategorie »Vertreibung« auftaucht. Selbstredend werden auch in der deutschen Debatte die »Vertreibungen« nicht dekretiert, vielmehr werden sie in die staatlich sanktionierte Formel gebracht: »Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Vertreibungen«5. Wie 4 Die Durchführung des Projektes »Die lokale Geschichte des deutsch-polnischen Grenzlandes aus der Perspektive der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Eine Fallstudie am Beispiel des ermländischen Dorfes Groß Purden« begann im Frühjahr 2005. Vgl. Andrzej Sakson/Robert Traba (Hg.): Przeszłość zapamiętana. Narracje z pogranicza. Materiały pomocnicze do analizy polsko-niemieckich stosunków narodowościowych na przykładzie warmińskiej wsi Purda Wielka [Erinnerte Vergangenheit. Erzählungen aus dem Grenzland. Hilfsmaterialien für die Analyse der polnisch-deutschen Nationalitätenbeziehungen am Beispiel des ermländischen Dorfes Groß Purden], Olsztyn 2007. 5 Diese Formel begleitete u. a. zwei deutsche Ausstellungen zum Thema Vertreibung: »Flucht, Vertreibung, Integration«, die im Bonner Haus der Geschichte im Jahr 2005 eröffnet wurde, und »Erzwungene Wege«, die 2006 vom Bund der Vertriebenen im Berliner Kronprinzenpalais päsentiert wurde. Beide Ausstellungen stellten »Flucht und Vertreibung« als Grundlage der europäischen Geschichtskultur dar. Die Festigung der Erinnerung an das »Jahrhundert der Vertreibungen« wurde auch als Hauptaufgabe und Ziel des in Berlin entstehenden »Sichtbaren Zeichens gegen Flucht und Vertreibung« definiert. Ausführlicher dazu siehe die Konzeption der Bundesregierung vom März 2008: »Sichtbares Zeichen gegen Flucht und Vertreibung«. Ausstellungs-, Dokumentations- und Informationszentrum in Berlin, im Internet unter: URL: http://www.bundesregierung.de/nsc_true/Content/ DE/__Anlagen/BKM/2008-04-09-sichtbares-zeichen-konzeption-barrierefrei, templateId=raw,property=publicationFile.pdf/2008-04-09-sichtbares-zeichenkonzeption-barrierefrei [06.07.2009].
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sollen sich jedoch in der Auseinandersetzung mit einem so definierten 20. Jahrhundert die Nachbarn fühlen, die die deutsche und die sowjetische Besatzung erfahren haben, die unter zwei Totalitarismen und den zerstörerischen Folgen des Zweiten Weltkrieges litten? Droht diese Formel nicht die Proportionen und die Bedeutung historischer Ereignisse zu verwischen, besteht nicht die Gefahr, dass die »Erinnerung« in dieser Frage über die »Geschichte« dominiert? In jüngster Zeit gab es zahlreiche Projekte, in denen polnische und deutsche »Vertriebene« an Oder und Neiße einander von den tragischen Schicksalen ihres Heimatverlustes erzählt haben.6 Ich habe sogar das Argument gehört, »auf diese Weise, durch die Gemeinsamkeit des Schicksals, könnten sich Deutsche und Polen besser verstehen«. Doch ist das tatsächlich so? In dieser Form des Erzählens geht eine wichtige Tatsache verloren, dass nämlich – bevor ein »gemeinsames Schicksal« sie Anfang 1945 verband – ein durchschnittlicher Pole vier Jahre oft tragischer deutscher Besatzung erfahren hatte. Gerade diese Besatzung war seine primäre Schicksalserfahrung. In jener Zeit erlebten die heutigen »Vertriebenen« die »Stunde der Frauen« (Christian Graf von Krockow)7, die auf ihre an der Ostfront kämpfenden Männer und Söhne warteten. Vielleicht könnte eine andere Formel – »in Erinnerung an die andere Seite« – eine neue Balance in diese Erzählung bringen? Wenn ich es aus der Perspektive der Geschichtspolitik Ostmitteleuropas betrachte, so habe ich den Eindruck, dass sich die deutsche Debatte über »Flucht« und »Vertreibung« seit dem Jahr 2000 gar nicht so sehr von den historischen Identitätsdebatten etwa in Polen oder der Ukraine unterscheidet. Die Palette der Akteure im öffentlichen Diskurs in Deutschland ist anders und differenzierter, das Niveau der Emotionalität nicht ganz so hoch und die Distanz sich selbst gegenüber größer. Doch der Sinn bleibt der gleiche: Es geht um den Versuch, mit Hilfe von Geschichte die zeitgenössische Identität zu prägen. Während wir es in Polen nach den Erfahrungen des Kommunismus mit einem Streit um Prinzipien zu tun haben, betrifft die Debatte in Deutsch-
6 Eine kritische Reflexion zu diesem Thema bot u. a. die Konferenz »Grenze und Grenzbewohner. Nachbarn und Fremde. Alte Heimat – Neue Heimat. Abschied und Ankunft«, die vom 2. bis 4. Dezember 1994 in Guben/Gubin stattfand und deren Ergebnisse in der Zeitschrift der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Brandenburg publiziert wurden: Transodra, Nr. 10–11/1995. Siehe auch: Hans-Jürgen Bömelburg/Renate Stössinger/Robert Traba: Vertreibung aus dem Osten. Deutsche und Polen erinnern sich, Olsztyn 2000. 7 Vgl. Christian Graf von Krockow: Die Stunde der Frauen. Bericht aus Pommern 1944 bis 1947, 6. Aufl., Stuttgart 1989.
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land nur einen Teil des Selbstbildes. Daher wird diese Diskussion in Polen auch weniger als Historikerstreit geführt, sondern vielmehr als ideologische Auseinandersetzung, in deren Zentrum die Frage steht, welchen Platz die Nation und die Nationalgeschichte in der Konstruktion der modernen Identität einnehmen werden. Die beteiligten Akteure greifen in Polen dabei häufiger auf Epitheta als auf sachliche Argumente zurück (patriotisch – antipatriotisch, national – kosmopolitisch) und scheiden damit »echte Polen« von »nationalen Verrätern«. Für Timothy Garton Ash liegt der Schlüssel dazu, sich dem Verordnen von Geschichte entziehen zu können, darin: »Man muss vor allem über sie Bescheid wissen, man muss in den Schulen über sie unterrichten«8. Einen Weg zum Wissen hat das deutsch-französische Geschichtslehrbuch aufgezeigt. Während der Öffentlichkeitsarbeit für den zweiten Band sprach Wolf Lepenies eine bezeichnende Botschaft aus, die sinngemäß lautete: »Dieses Lehrbuch ist wichtig, doch eine noch größere Herausforderung wird ein deutsch-polnisches Lehrbuch sein, nicht nur aus bilateralen Gründen, sondern weil es Westeuropa ein vergessenes Fragment der Geschichte Osteuropas nahebringen wird.«9 Die ersten Ergebnisse der Arbeitsgruppe polnischer und deutscher Experten in diesem Feld deuten darauf hin, dass wir tatsächlich die Chance haben, ein außergewöhnliches Projekt zu realisieren. Die Politiker schreiben dabei die Geschichte nicht vor, doch sie sind in der Lage, günstige, ideologiefreie Rahmenbedingungen für das Projekt zu schaffen. Ich denke nicht, dass dieser Weg ein Modell für ganz Europa werden wird, doch vermag er sicherlich, durch die Zusammenarbeit von Historikern aus zwei Völkern, zwischen denen es im 20. Jahrhundert wohl die konfliktträchtigsten Beziehungen gab, einen der letzten Überreste des Eisernen Vorhangs niederzureißen.
Fazit Zu den positiven Ergebnissen des Streits um die »neue Geschichtspolitik« in Polen (2004–2007) zählen wertvolle Publikationen, die unsere Erkenntnisse über die gesellschaftlichen Funktionen von Geschichte grundlegend vertiefen
8 Zit. nach: Robert Traba: »Die andere Seite der Erinnerung«, a. a. O., S. 19. 9 Die Vorstellung des Lehrbuchs fand am 9. April 2008 im Deutschen Historischen Museum statt. Vgl. Wolf Lepenies: Lernen, wie der »Erbfeind« tickt, in: Die Welt vom 10.4.2008, S. 9.
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konnten: Der Posener Philosoph Bartosz Korzeniewski10 etwa lieferte wichtige Beiträge hierzu, die die methodologischen Reflexionen über die zeitgenössische Historiographie von Ewa Domańska ergänzten.11 Die Studie »Historia – przestrzeń dialogu«12 stellte einen ersten individuellen Versuch dar, das Forschungsfeld der kollektiven Erinnerung zu definieren. Die Veröffentlichungen des West-Instituts und des Instituts des Nationalen Gedenkens kann man trotz ihres eklektischen Charakters als erste Schritte zu einer synthetischen Behandlung des Themas betrachten.13 Inspirierende Impulse auf diesem Gebiet lieferte auch der deutsch-polnische historiographische Dialog.14 Wegweisend war die von Andrzej Szpociński herausgegebene soziologische Reihe »Współczesne społeczeństwo polskie wobec przeszłości« [Die heutige polnische Gesellschaft und ihr Verhältnis zur Vergangenheit].15 Neue Ideen verdanken wir nicht zuletzt dem essayistischen und publizistischen Schaffen von Marcin Kula16 und Andrzej Mencwel17. Zudem bereichern Zeitschriften wie »Kultura i Społeczeństwo«, »Kultura Współczesna«, »Znak« (Krakau), »Przegląd Polityczny« (Danzig) oder »Borussia« (Allenstein) immer wieder die Debatte. Aus dem Reichtum der in diesen Publikationen enthaltenen Themen, die eine separate Reflexion verdienen, möchte ich nur ein ganz wichtiges ansprechen, das auch von dem deutschen Historiker Hans Henning Hahn hervorgehoben wurde: die transnationale, grenzüberschreitende Erinnerungs-
10 Bartosz Korzeniewski: Polityczne rytuały pokuty w perspektywie zagadnienia autonomii jednostki, Poznań 2006. 11 Ewa Domańska: Historie niekonwencjonalne. Refleksja o przeszłości w nowej humanistyce, Poznań 2006. 12 Robert Traba: Historia – przestrzen dialogu, Warszawa 2006. 13 Bartosz Korzeniewski (Hg.): Narodowe i europejskie aspekty polityki historycznej, Poznań 2008; ders. (Hg.): Przemiany pamięci społecznej a teoria kultury, Poznań 2007. 14 Vgl. Heidi Hein-Kircher/Jarosław Suchoples/Hans Henning Hahn (Hg.): Erinnerungsorte, Mythen und Stereotypen in Europa. Miejsca pamięci, mity i stereotypy w Europie, Wrocław 2008; Basil Kerski hat in der Zeitschrift Dialog. DeutschPolnisches Magazin/Dialog. Magazyn polsko-niemiecki eine ganze Reihe von Veröffentlichungen dazu vorgelegt; eine interessante Zusammenfassung der Erinnerungsdebatte in Ost- und Mitteleuropa findet sich auch in: Osteuropa, Heft 6/2008. 15 Siehe zu dieser Thematik insbesondere Band 3 der Reihe: Barbara Szacka: Czas przeszły, pamięć, mit [Vergangenheit, Erinnerung, Mythos], Warszawa 2006. 16 Vgl.: Komunizm po komunizmie, Warszawa 2006; O co chodzi w historii?, Warszawa 2008; Wybór tradycji, Warszawa 2003; Religiopodobny komunizm, Kraków 2004; Między przeszłością a przyszłością, Poznań 2004. 17 Andrzej Mencwel: Rodzinna Europa po raz pierwszy, Kraków 2009.
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politik. Unter dem Vorwand, schreibt Hahn, dass das vereinte Europa eine gemeinsame Geschichte und damit auch eine gemeinsame Erinnerung brauche, gehe es im Grunde jedoch um die hegemoniale Interpretation nicht nur der Geschichte Europas, sondern auch der Geschichte der Regionen bzw. einzelner europäischer Länder.18 Ich teile diese Befürchtungen des Oldenburger Historikers. Wenn einzelne europäische Länder versuchen, auf Kosten anderer hegemoniale Erinnerungsdiskurse zu schaffen, birgt dies nicht nur die unmittelbare Gefahr, dass Erinnerung einseitig angeeignet wird, sondern auch, dass sich die demokratischen Identitätsgemeinschaften in einem »Europa ohne Grenzen« auf Dauer nicht werden entfalten können – gerade mit Blick darauf, dass die kollektive Erinnerung in jedem Land ohnehin ständigen Änderungsprozessen und gesellschaftlichen Neuverhandlungen unterliegt. Wir sollten uns daher bemühen, neue, sichere Regeln des politischen Spiels auszuarbeiten, die ich nach Hahn den »Verhaltenskodex der Politik gegenüber der Geschichte« nennen würde. Sein zentrales Anliegen bestünde darin, die Autonomie der einzelnen Erinnerungsgemeinschaften zu sichern und ihre Erfahrungen und Erinnerungen zu respektieren.19
18 Pamięć zbiorowa – przedmiot polityki historycznej, in: Bartosz Korzeniewski (Hg.): Narodowe i europejskie aspekty polityki historycznej, Poznań 2008, S. 33. 19 Vgl. ebenda, S. 41 f.; siehe in diesem Zusammenhang auch den im Oktober 2008 von europäischen Historikern verabschiedeten so genannten »Appell von Blois« gegen Einschränkungen ihrer wissenschaftlichen Arbeit.
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Die französische Identität ruht zwar noch immer auf dem festen Fundament der materiellen und immateriellen Erinnerungsorte, die in den von Pierre Nora 1982 bis 1992 herausgegebenen sieben Bänden beschrieben worden sind.1 Aber auch wenn es den Franzosen insgesamt leichter als den Deutschen fällt, ein positives Verhältnis zu ihrer Geschichte zu bewahren, ist die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, die die heutige französische Erinnerungskultur weitgehend bestimmt, immer wieder Anlass für Kontroversen gewesen.2 Frankreich ist sicher nicht das einzige Land der westlichen Welt, das eine solche Situation erlebt, aber hier wird das sich daraus ergebende Gefühl von Desorientierung vielleicht stärker empfunden als anderswo. Die Historiker Pierre Nora und Françoise Chandernagor erklären das folgendermaßen: »Das Spezifische an der französischen Reaktion auf den Erinnerungsrausch, den die Welt zur Zeit erlebt, rührt vom Kontrast zwischen der Macht des unbefleckten Selbstbildes, das sich Frankreich angeeignet hat, und der mühsamen, späten und gehemmten Konfrontation mit historischen Realitäten her, die diesem Bild widersprechen, es vernichten und schwärzer scheinen, als sie in der Tat waren. Über Algerien, die Besatzungszeit, die Résistance, den Ersten Weltkrieg, die Kolonialzeit … gab es Legenden, Lügen, Fälschungen, Blockaden, Leugnungen. Diese Hindernisse, die mit allen Mitteln gefördert wurden, über die der Staat verfügt, um den Zugang zur Wahrheit zu versperren (angefangen bei dem verwehrten Zugang zu Archiven), haben den Weg für alle Konfliktherde gebahnt, für alle nachträglichen Prozesse. Sie hielten an der schädlichen Idee fest, dass eine Leiche immer im Schrank verborgen bleiben sollte. Sie haben aus uns potentielle Büßer gemacht, die immer bereit waren zu glauben, dass die Karikaturen wahr waren und die Entschädigungsansprüche legitim.«3 1 Jetzt als Taschenbuch in drei umfangreichen Bänden erhältlich: Les lieux de mémoire, sous la direction de Pierre Nora, Paris 1997. 2 Sehr nützlich in dieser Hinsicht, besonders wegen der bibliographischen Hinweise: Pascal Blanchard/Isabelle Veyrat-Masson: Les guerres de mémoire. La France et son histoire, Préface de Benjamin Stora, Paris 2008/2010. 3 Zitiert nach Olivier Wieviorka: La mémoire désunie. Le souvenir politique des années sombres de la Libération à nos jours, Paris 2010, S. 24 f.
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Nora und Chandernagor klagen hier vor allem die »Vergangenheitspolitik« des französischen Staates an. Aber diese greift nur, wenn die Gesellschaft bereit ist, sie zu akzeptieren. Nicht nur die offizielle Erinnerung, sondern in gewissem Maße auch die »gelehrte Erinnerung«, das heißt die Geschichtswissenschaft, hängt von dieser Akzeptanz ab. Wenn man auf die Entwicklung der Erinnerungskultur in Frankreich seit dem Zweiten Weltkrieg zurückblickt, stellt man fest, dass wichtige Anstöße von der Zivilgesellschaft selbst kamen, entweder von den Zeitzeugen- bzw. Opfergruppen, die mehr oder weniger nachträglich mit Hilfe von Rechtsanwälten, Publizisten usw. ihr Recht auf Erinnerung und symbolische, justizielle und finanzielle Wiedergutmachung geltend gemacht haben, oder auch von der Kultur, insbesondere von den neuen Massenmedien. Kino- und Fernsehfilme sind sehr effiziente »Erinnerungskatalysatoren« und haben oft in der kollektiven Erinnerung Wenden herbeigeführt, denen dann der Staat – wenn nicht die Wissenschaft – folgen musste.
1 Weltkrieg, Besatzungszeit und Vichy-Staat Henry Rousso, der Verfasser des Vichy-Syndrom4 (definiert als Neurose des kollektiven Gedächtnisses), unterscheidet vier Phasen in der Aufarbeitung dieser Vergangenheit. Zunächst die Zeit der »unvollendeten Trauerarbeit« (1944–1954). Nach einer zuerst wilden, dann justiziellen Säuberungswelle brach Anfang der 1950er Jahre mit Beginn des Kalten Krieges eine Zeit der Amnestie an, in der die ehemaligen Vichy-Anhänger allmählich in Gesellschaft und Politik wieder Fuß fassen konnten. Sie fanden in der Bevölkerung weiterhin ein gewisses Gehör, indem sie zum Beispiel die These vertraten, Philippe Pétain, der Staatschef des Vichy-Regimes, habe als »Schutzschild« des französischen Volkes gewirkt5 (während Charles de Gaulle in London das »Schwert« schwang), und alle Übel der Kollaboration seinem Stellvertreter Pierre Laval zuschrieben. Kommunisten und Gaullisten, die sich um das Erbe der Résistance stritten, wurden schnell von der Regierung ausgeschlossen. In der Zeit der »Verdrängung« (1954–1971) wurde die Vichy-Vergangenheit mit Stillschweigen übergangen und die Résistance zum Gründungsmythos des Nachkriegsfrankreichs erhoben. Es gelang vornehmlich de Gaulle, der 1958
4 Henry Rousso: Le syndrome de Vichy de 1944 à nos jours, Paris 1987. 5 Diese These wird in dem Buch von Robert Aron: Histoire de Vichy, Paris 1954, vertreten, das ein großer Erfolg war.
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wieder an die Macht kam und die Fünfte Republik gründete, die Legende einer von der Mehrheit des Volkes unterstützten Widerstandsbewegung zu festigen. In seiner Rede anlässlich der Überführung der sterblichen Überreste von Jean Moulin ins Pariser Panthéon (1964) ordnete der damalige Kulturminister André Malraux die Résistance unter der Führung de Gaulles und Moulins in die beste Tradition des ewigen, alle Parteien transzendierenden Frankreich ein. Von diesem idealisierten und integrativen Standpunkt aus wurde Vichy als ein von der Besatzungsmacht aufgezwungenes, illegales Regime aus der »eigentlichen« Geschichte Frankreichs nahezu ausgeklammert.6 Die Kollaborateure galten als eine Minderheit von schnöden Landesverrätern. Vorrangig erinnert und geehrt wurden in diesen ersten zwei Phasen die Helden und die Opfer des Kampfes gegen die deutsche Besatzungsmacht, deren Gräueltaten (Erschießungen von Geiseln und Widerständlern, Massenmorde wie in Oradour-surGlane usw.) zum festen Bestandteil der französischen Erinnerungskultur der Nachkriegszeit wurden. Zivile, mehr oder weniger vom Staat unterstützte Vereine sorgten für die Erinnerung an die anderen Opfer des Krieges: an die Soldaten, die im Kampf gegen den Frankreichfeldzug der Wehrmacht 1940 gefallen waren, an die Kriegsgefangenen, die Zwangsarbeiter, die Deportierten, wobei unter letzteren hauptsächlich die »politisch« Deportierten bedacht wurden. Dem im wirtschaftlichen Aufschwung begriffenen Frankreich der »trente glorieuses 1947–1975« (so Jean Fourastié) gefiel die Vorstellung einer siegreichen Résistance, die es dem Land unter de Gaulles Führung ermöglicht hatte, trotz der »seltsamen Niederlage« von 1940 (Marc Bloch) nach dem Krieg seinen Platz unter den »Großen Vier« wieder einzunehmen. Nun setzte jedoch eine Zeit der Krise ein. Die 68er-Generation hegte eine gewisse Skepsis gegenüber der Vätergeneration, und die Erdölkrise steigerte das Misstrauen gegen die Eliten. In der Erinnerungskultur brach die kritische Phase des »zerbrochenen Spiegels« (1971–1974) an. Mehrere Ereignisse prägten sie: der Dokumentarfilm von Marcel Ophüls Le chagrin et la pitié (deutscher Titel: Das Haus nebenan), der das Leben in der Stadt Clermont-Ferrand während des Krieges schilderte und eine französische Bevölkerung zeigte, die sich nicht ausgesprochen widerständig verhielt; die skandalerregende Begnadigung von 6 Das war schon immer die Meinung de Gaulles gewesen, der sich bereits in seinem Londoner Exil als Repräsentant und Fortsetzer des einzig legalen republikanischen Regimes verstand und vorstellte. Der Artikel 1 der Ordonnance vom 9. August 1944, die er als Chef der provisorischen Regierung Frankreichs erließ, behauptet: »Die Regierungsform Frankreichs ist und bleibt die Republik. Diese hat rechtmäßig nie aufgehört zu existieren.«
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Paul Touvier, dem Chef der »Milice« (der politischen Polizei Vichys) in Lyon, durch Präsident Georges Pompidou; und drittens das Buch des amerikanischen Historikers Robert Paxton La France de Vichy von 1973.7 Paxton zeigte darin, dass die Kollaboration nicht so sehr einem Verlangen der Deutschen als vielmehr dem Wunsch der französischen Behörden entstammte, den Platz Frankreichs im nationalsozialistischen Europa sicherzustellen. Diese These war schon Ende der 1960er Jahre von einigen französischen und deutschen Historikern zumindest ansatzweise vertreten worden.8 Nun fand sie allmählich ein aufnahmebereites Publikum.9 Trotz wiederholter Versuche, die Persönlichkeit Philippe Petains – des »Helden von Verdun« – zu schonen,10 drängte sich nunmehr das Bild eines zunächst von der Mehrheit der Franzosen zumindest akzeptierten, kollaborationswilligen Vichy-Regimes auf. Die Niederlage bot einem von der linken Volksfront (Front populaire) traumatisierten, katholisch-agrarischen, nationalistisch-antidemokratischen, antibolschewistischen und antisemitischen Frankreich, dem sich rechtsliberale und rechtssozialistische Eliten sowie Vertreter der »revolutionären« Rechten anschlossen, Gelegenheit, die Macht an sich zu reißen. Parallel zur Rückkehr des Verdrängten setzte in den 1970er Jahren eine Erosion des Résistance-Mythos ein. Nun meldeten sich andere, namentlich sozialistische Vertreter der Résistance11 zu Wort, die das bisherige Bild der feindlichen Brüder (Kommunisten und Gaullisten) trübten. Der Film von Louis Malle Lacombe Lucien (1974) erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der von der Résistance abgewiesen in die Milice eintritt – eine Ver-
7 Im Original 1972 in New York erschienen: Robert Paxton: Vichy France: Old Guard and New Order. 8 Henri Michel, Daniel Cordier und vor allem Eberhard Jäckel mit seinem 1966 erschienenen Buch: Frankreich in Hitlers Europa. Die deutsche Frankreichpolitik im Zweiten Weltkrieg, das schon 1968 bei Fayard auf Französisch erschien. 9 Das Buch von Paxton hatte zu Beginn nur bescheidene Auflagen. Etwa 12.000 Exemplare wurden im ersten Jahr verkauft und weitere 13.500 bis 1985. Demgegenüber erreichte das Buch von Robert Aron zwischen 1954 und 1984 eine Auflage von 53.000 Exemplaren! Den Film von Ophüls, der 1969 gedreht, aber zunächst zensiert wurde, konnte man ab 1971 in den Kinos sehen, im Fernsehen wurde er aber erst 1981 ausgestrahlt. 10 Bis 1993 ließen die Präsidenten Giscard d’Estaing und Mitterrand jedes Jahr am 11. November am Grab von Pétain auf der Insel Yeu einen Kranz niederlegen. Erst unter dem Druck der jüdischen Gemeinde Frankreichs wurde dieser Brauch unterbrochen. 11 Zum Beispiel Claude Bourdet mit seinem kritischen Buch: L’Aventure incertaine. De la Résistance à la Restauration, Paris 1975.
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anschaulichung der ambivalenten Haltung der meisten Franzosen unter Vichy. Im Gegensatz dazu beschrieb 1956 der Film von Claude Autant-Lara La traversée de Paris noch die Abenteuer von Schwarzhändlern, die im Krieg mit Unterstützung einer Bevölkerung, die keinen einzigen Kollaborateur zählte, die »dummen« Deutschen überlisteten. Allmählich erkannten die Franzosen den Minderheitscharakter der Résistance und wendeten sich einer Vichy-Vergangenheit zu, die sie scheinbar immer mehr faszinierte. Henry Rousso charakterisiert diese vierte Phase mit dem Wort »Obsession«: ein ausgeprägtes Interesse für die so genannten »schwarzen Jahre« (années noires), die von nun an bis heute den Stoff für unzählige wissenschaftliche, publizistische, literarische und filmische Werke liefern, aber auch für Ausstellungen, die entweder die Ambivalenzen des Lebens während der Besatzungszeit (das Vergnügungsleben in Paris zum Beispiel) oder eben die dunklen Seiten der Vichy-Jahre veranschaulichen (Rousso spricht in dieser Hinsicht sogar von einer »Retro-Mode«); »Obsession« wegen der wachsenden Fokussierung auf die Judenverfolgung und auf die Verantwortung, die in diesem europäischen Verbrechen dem VichyRegime zukommt.
2 Vichy und Shoah Unmittelbar nach Kriegsende wurden die heimkehrenden Kriegsgefangenen, Zwangsarbeiter und Deportierten beinahe undifferenziert in die französische Nachkriegsgesellschaft aufgenommen. Es etablierte sich eine Art »kommunikatives Beschweigen«, an dem die heimgekehrten Juden selbst teilhatten.12 Trotz der damals schon bestehenden einschlägigen Literatur13 fiel es den meisten Franzosen schwer, sich die Realität der Konzentrations- bzw. Vernichtungslager vorzustellen. Der Verfolgung und Deportation der Juden wurde zunächst keine Spezifik zuerkannt. In dem berühmten Dokumentarfilm von Alain Resnais und Jean Cayrol Nuit et brouillard (Nacht und Nebel, 1955), der die Welt der Konzentrationslager schildert, kam das Wort Jude nur 12 In ihrem Buch: Déportation et génocide. Entre la mémoire et l’oubli, Paris 2003, S. 170, zitiert Annette Wieviorka, die die damalige Vergessenheit als »Memozid« kennzeichnet, einen Satz von Simone Weil: »Ich war immer dazu bereit, darüber zu sprechen, aber niemand hatte Lust uns anzuhören. Dieses Unverständnis, diese Schwierigkeiten fanden wir in unseren Familien wieder.« 13 Zitiert seien: David Rousset: L’univers concentrationnaire, Robert Antelme: L’espèce humaine, Primo Levi: »Si c’est un homme« (alle 1947 erschienen).
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zweimal vor! Buchenwald – und nicht Auschwitz – war damals das Emblem des Lagersystems. Mit dem Eichmann-Prozess 1961 begann das »Zeitalter der Zeitzeugen« (Annette Wieviorka). Das Gesetz von 1964, das Verbrechen gegen die Menschlichkeit für unverjährbar erklärte, zeigte, dass ihnen nun offiziell Gehör geschenkt wurde. Es entstand allmählich ein jüdisches Gedächtnis, das auch von der Sorge um die Existenz des Staates Israel durch den Sechstagekrieg 1967 verstärkt wurde. Aber erst Ende der 1970er Jahre erreichte die Debatte ihr volles Ausmaß. Stimuliert wurde sie wie in vielen anderen Ländern durch die amerikanische Fernsehserie Holocaust (1977) und den Film von Claude Lanzmann Shoah (1985); in Frankreich wurde sie zudem durch den so genannten »Negationismus« verschärft. Der frühere Vichy-Generalkommissar für jüdische Fragen, Louis Darquier de Pellepoix, erklärte im Oktober 1978 aus seinem Madrider Exil in einem Interview für die Wochenzeitschrift L’Express, in Auschwitz seien nur Läuse vergast worden. Im selben Jahr leugnete der Historiker Robert Faurisson die Realität der Shoah in einem Artikel für die Tageszeitung Le Monde (Titel: »Das Problem der Gaskammern und das Gerücht von Auschwitz«). Die Opfer bzw. deren Nachfahren verlangten nun Gerechtigkeit. Es begannen Ermittlungen gegen ehemalige hohe Beamte des Vichy-Regimes, die sich direkt an der Judenverfolgung beteiligt hatten: Jean Leguay, Paul Touvier, René Bousquet und Maurice Papon. Die Prozesse wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die ihnen Ende der 1980er und im Laufe der 1990er Jahre gemacht wurden,14 erfuhren eine große Resonanz in der französischen Öffentlichkeit, ebenso wie der Prozess gegen Klaus Barbie, den ehemaligen Gestapo-Chef in Lyon, der Jean Moulin verhaftet und gefoltert und die jüdischen Kinder von Izieu hatte deportieren lassen. Bei der Fahndung nach den ehemaligen nationalsozialistischen Verbrechern und ihren französischen Helfershelfern spielte das Ehepaar Serge und Beate Klarsfeld eine entscheidende Rolle. Der Rechtsanwalt Serge Klarsfeld trug zur Bildung eines jüdischen Gedächtnisses bei, indem er 1978 das Mémorial de la Déportation des Juifs de France veröffentlichte, das die Namen der 75.721 deportierten französischen Juden aufführte. Der deportierte und ermordete Jude wurde nunmehr zum Sinnbild des Opfers der nationalsozialistischen Verbrechen, der Genozid zum Paradigma der schmerzlichen Erinnerung. 14 Leguay verstarb vor seinem Prozess, und René Bousquet, der mit der deutschen Besatzungsmacht die Massendeportierung der Pariser Juden (Judenrazzia) im Sommer 1942 organisiert hatte, wurde vor seinem Prozess 1993 ermordet. Die Ermittlungen gegen Maurice Papon begannen schon 1983, der Prozess fand aber erst 1997 statt.
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Und die genuine Verantwortung des Vichy-Regimes in der Shoah trat immer klarer zu Tage.15 Die Zeit der Anerkennung war gekommen: François Mitterrand beschloss 1993 die Einführung eines Gedenktages an rassistische und antisemitische Verfolgungen, die »unter der faktischen Herrschaft des so genannten französischen Staates von Vichy«16 verübt worden waren. Gewählt wurde der 16. Juli, der Tag der Judenrazzia in Paris, an dem 13.500 Juden mit Hilfe von 4.500 französischen Gendarmen und Polizisten deportiert worden waren. Denkmäler wurden an Orten errichtet, an welche man die Juden nach ihrer Verhaftung verbrachte, bevor sie in die deutschen Vernichtungslager geschickt wurden (etwa an der ehemaligen Winterradrennbahn in Paris). Erst Präsident Jacques Chirac erkannte aber in seiner Rede anlässlich dieses Gedenktages am 16. Juli 1995 offiziell die »unverjährbare Schuld« Frankreichs an. Zugleich hob aber Chirac das Verdienst der Résistance und der zahlreichen Franzosen – der »Gerechten« – hervor, die damals den Juden zu Hilfe gekommen sind (im Jahr 2000 wurde Mitterrands Beschluss von 1993 um die Erwähnung dieser Hilfe ergänzt). 1997 wurde die Mattéoli-Kommission zur Untersuchung der Arisierung jüdischen Eigentums gegründet. Sie zeigte auf, dass in diese Arisierung von 1943 nicht nur die Bürokratie, sondern auch viele Franzosen verwickelt waren. Die Aufdeckung der Verbrechen von Vichy und die Integrierung der Geschichte Vichys in die Geschichte Frankreichs blieben nicht ohne Konsequenzen für das Bild der Résistance selbst. Die Forschung unterstrich die Verflechtung ihrer Geschichte mit der Geschichte Vichys, die soziale und politische Komplexität dieser Zeit, in der Menschen aus demselben Milieu, mit demselben ideologischen Hintergrund entweder in den Dienst Vichys oder in den der Résistance traten (oder wie Mitterrand selbst oder Henri Frenay zunächst in den einen und dann in den anderen, wenn sie nicht gleichzeitig zwei Herren dienten).17 Es meldeten sich Zeitzeugen wie Daniel Cordier, der frühere Sekretär von Jean Moulin, der in der Biographie seines Chefs und dann in seinen vor kurzem erschienenen Memoiren Alias Caracalla18 aufzeigte, wie spät und mühsam die verschiedenen Gruppen der Résistance die Führung de Gaulles anerkannt hatten. Man stellte sich nun die Frage, warum die 15 Das erste antisemitische Gesetz vom Oktober 1940 wurde vom Etat Français aus eigenem Antrieb und nicht unter dem Druck der deutschen Besatzer verabschiedet. 16 Mitterrand gebrauchte dabei den Ausdruck, der schon in den ersten Beschlüssen der provisorischen Regierung 1944 verwendet worden war. 17 Vgl. Laurent Douzou: La Résistance française: une histoire périlleuse, Paris 2005. 18 Daniel Cordier: Alias Caracalla, Paris 2009.
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französischen Eisenbahner, die bisher wegen ihrer Sabotagen als Helden der Résistance besungen worden waren (vgl. René Clément: La bataille du rail, 1946), die Deportationszüge nicht aufgehalten hatten.19 Die Integrität gleichsam mythischer Widerstandskämpfer (wie René Hardy, das Ehepaar Aubrac oder sogar Jean Moulin selbst) wurde in Zweifel gezogen. Filme wie Papy fait de la résistance (1983) schreckten nicht mehr davor zurück, die früheren positiven und negativen Stereotype (der listige Franzose vs. der dumme Deutsche) zu ironisieren. Kurz, der heroische Mythos schwand dahin. Zwar blieben exemplarische Figuren wie Jean Moulin, Pierre Brossolette, Colonel Fabien und allen voran, als Sinnbild des »Freien Franzosen«, Charles de Gaulle selbst, der unser »Totem« geworden ist, wie Michel Winock es formuliert. Die zahlreichen Museen und Gedenkstätten (mehr als 500!), die besonders seit den 1990er Jahren in ganz Frankreich eröffnet worden sind, zeigen, dass die Résistance immer noch eine wichtige Referenz für die Identität des heutigen Frankreich darstellt. Symptomatisch ist jedoch, dass sie meistens zugleich der Résistance und der Deportation gewidmet sind. In Paris wurde die seit 1956 bestehende »Gedenkstätte des unbekannten jüdischen Märtyrers« zu einer Gedenkstätte der Shoah ausgebaut, die 2005 mit großem Aufwand von Präsident Chirac eröffnet wurde. In einer Mauer sind die Namen der 75.000 französischen deportierten Juden eingemeißelt. Diese Gedenkstätte versteht sich nicht nur als »Schutzwall gegen das Vergessen«, sondern sie will auch in Anknüpfung an das »Centre de documentation juive contemporaine« zur Erforschung der Geschichte der europäischen Judenvernichtung beitragen. Entgegen Jacques Chirac, der das gaullistische Dogma angekratzt hat, scheint Präsident Nicolas Sarkozy seit Beginn seiner Amtszeit durch verschiedene symbolische Gesten, Reden oder Vorschläge20 auf das gaullistische Erbe zurückgreifen zu wollen. Der 70. Jahrestag von de Gaulles »Appell des 18. Juni 1940« war vor kurzem der Anlass für allerlei Gedenkveranstaltungen. Filme, Fernsehsendungen und Bücher erinnerten an die historische Tat und an die Persönlichkeit des Generals. Zwar gibt es noch historiographische und juris-
19 Soeben hat Guillaume Pépy, der Generaldirektor der französischen Bahn, offiziell deren Schuld anerkannt, trotz der Tatsache, dass damals die SNCF von den Deutschen »requiriert« wurde. 20 Jedes Jahr besucht Präsident Sarkozy das Plateau des Glières, eine Hochburg der militärischen Résistance in den Alpen; er hat außerdem die französischen Lehrer dazu aufgefordert, ihren Schülern den letzten Brief von Guy Moquet vorzulesen, einem jungen Kommunisten, der im Oktober 1941 als Geisel in Chateaubriant von der Wehrmacht erschossen wurde.
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tische Debatten über Vichy, etwa über seine Charakterisierung als faschistisches Regime21 oder über die Frage seiner Legalität.22 Chiracs Position wird von manchen kritisiert: Darf Vichy derart mit Frankreich identifiziert werden, dass die historische, politische und symbolische Bedeutung der Résistance als Verkörperung des »wahren Frankreich« eingeschränkt wird?23 Aber die Zahl der Nostalgiker der »Révolution nationale«, die unter den Vertretern der »Algérie française« noch aktiv waren, schwindet nicht zuletzt wegen des Generationswechsels dahin, auch in ihrer letzten Zufluchtsstätte, der Front National von Jean-Marie Le Pen. Insgesamt hat die Historisierung ihr Werk vollbracht, die Kontroversen über diese Vergangenheit sind weitgehend beigelegt, obwohl die Nachfahren sich nun auch zu Wort melden und mit mehr oder weniger Geschick und Erfolg die Vichy-Vergangenheit ihrer Väter oder Großväter kritisch hinterfragen.24 Die Frage, die mir einmal von Ernst Nolte gestellt wurde, ob die »Verdienste« der Vichy-Regierung nicht eines Tages die der Résistance aufwiegen würden, muss mit Nein beantwortet werden.
3 Die Kolonialvergangenheit Auch im Hinblick auf seine Kolonialvergangenheit kann man in Frankreich verschiedene erinnerungskulturelle Phasen unterscheiden: Nach einer Politik der Vergessenheit, welche der Aufrechterhaltung des Mythos von der »zivilisatorischen Mission Frankreichs« diente, wurden allmählich die Schattenseiten und Verbrechen der Kolonisation beleuchtet. Die Anamnese setzte bei dem letzten und sensibelsten Ereignis der Kolonialgeschichte Frankreichs an, dem 1963 beendeten Algerienkrieg. Unmittelbar danach wollten die mit 21 Vgl. Michel Dobry (Hg.): Le mythe de l’allergie française au fascisme, Paris 2003. Vielleicht hat Jean-Pierre Azéma dessen beste Charakterisierung gegeben: autoritäres Regime charismatischen Typs. 22 Am 16. Februar 2009 hat der Conseil d’Etat bestätigt, dass der französische Staat für die damals begangenen Verbrechen verantwortlich ist. Das hat wiederum eine Kontroverse ausgelöst. 23 So zum Beispiel Edouard Husson: Syndrome de Vichy ou crise de la démocratie, in: Stephan Martens: La France, l’Allemagne et la Seconde guerre mondiale. Quelles mémoires, Bordeaux 2007, S. 29–43. 24 »Ramon«, das Buch von Dominique Fernandez über seinen Vater (2008), wurde nicht zuletzt wegen seiner literarischen Qualität einstimmig von der Kritik begrüßt, der vor kurzem erschienene Bericht von Alexandre Jardin über seinen Großvater Jean Jardin, engsten Mitarbeiter von Pierre Laval, hingegen wegen seines Nestbeschmutzer-Tons zumeist kritisiert.
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der Modernisierung ihres Landes befassten Franzosen, allen voran de Gaulle, diese unruhige Zeit in den Hintergrund drängen, die weder ihren Politikern noch ihrer Armee zur Ehre gereichte und wieder einmal mit einer Niederlage geendet hatte. Erst 1999 haben übrigens die Behörden, die bisher nur von »Ereignissen« sprachen, die Verwendung des Begriffs »Krieg« offiziell zugelassen.25 Das Bild eines schmutzigen, auch auf französischer Seite mit unmenschlichen Methoden geführten Krieges, das die französischen Behörden im Krieg selbst26 und lange Zeit danach hatten verdecken wollen, hatte sich inzwischen durchgesetzt. Aufgedeckt wurde unter anderem ein Ereignis, das direkt an den Zweiten Weltkrieg anknüpfte und als ein Vorbote des Algerienkrieges betrachtet werden kann: Am 8. Mai 1945 nutzten nationalistische Algerier in Sétif und anderen benachbarten Städten die Feierlichkeiten anlässlich der Kapitulation Deutschlands, um zu demonstrieren. Die Demonstration artete in einen Aufstand aus, der von den französischen Ordnungskräften blutig niedergeschlagen wurde (etwa 100 »Europäer« und 10.000 bis 15.000 Algerier kamen dabei ums Leben). Des Massakers von Sétif wird jedes Jahr im unabhängigen Algerien als Beginn der »nationalen Revolution« gedacht. Erst 2005 hat Frankreich seine Verantwortung in dieser Tragödie anerkannt. Die Diskrepanz in der Erinnerungspolitik stand bis jetzt einer Aussöhnung zwischen Algerien und Frankreich im Wege.27 In Erinnerung geblieben ist auch die von Polizeipräfekt Maurice Papon geleitete, blutige Niederschlagung einer Demonstration nationalistischer Algerier in Paris am 17. Oktober 1961. Die Zahl der damals ums Leben gekommenen Personen ist umstritten (sie schwankt zwischen 50 und 200!), einige wurden sogar in der Seine ertränkt. Zur Aufarbeitung dieser Kolonialvergangenheit trugen Historiker bei, die die Menschenrechte höher schätzten als die nationale Größe Frankreichs.28 So 25 Der Begriff des Krieges schien auch unangebracht, weil Algerien bis 1963 als ein Teil Frankreichs betrachtet wurde. 26 Obwohl das Buch des algerischen Kommunisten Henri Alleg: La torture (1958) zensiert wurde, wurden 150.000 Exemplare dennoch insgeheim verkauft. Viele Intellektuelle, wie Pierre Vidal-Naquet (L’affaire Audin, 1958), die damals das wahre Gesicht des Krieges anprangern wollten, wurden zensiert, schikaniert oder verurteilt. 27 Der algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika strebte die Normalisierung der Beziehungen mit Frankreich an, aber änderte seine Haltung nach der Verabschiedung des französischen Gesetzes von 2005, das die »positive Rolle« der Kolonisation anerkannte. Seitdem spricht er von einem »Genozid der algerischen Kultur« und fordert moralische und materielle Wiedergutmachung von Frankreich. 28 1988 veranstaltete das Pariser Institut für Zeitgeschichte eine große Tagung über den Algerienkrieg; 1991 veröffentlichte der große Algerien-Spezialist Benjamin Stora in Paris: La gangrène et l’oubli. La mémoire de la guerre d’Algérie.
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erschien 2003 als Pendant zum Schwarzbuch des Kommunismus ein Schwarzbuch des Kolonialismus.29 Aber auch die Massenmedien trugen zu dieser Auseinandersetzung bei.30 Die Kontroversen wurden (und werden) von verschiedenen gesellschaftlichen Opfergruppen oder von ihren Nachfahren getragen: ehemalige europäische Bewohner der Kolonialgebiete, zum Beispiel die aus Algerien vertriebenen europäischen »Pieds-Noirs« (Schwarzfüße), die so genannten »Harkis« (algerische Hilfstruppen der französischen Armee, die entweder im unabhängigen Algerien massakriert oder in Frankreich in miserablen Siedlungen eingepfercht wurden) oder auch, allgemeiner, Bewohner der ehemals kolonisierten »Übersee-Départements«, die das Verhalten der Kolonialmacht kritisch hinterfragten. Das Konfliktpotential in der Aufarbeitung dieser Vergangenheit blieb und bleibt nicht zuletzt durch die ungenügende Integration von Bevölkerungsteilen mit Migrationshintergrund bestehen. So hat sich, auch getragen von Intellektuellen und Filmmachern, ein »algerisches« oder »schwarzes« Gedächtnis gebildet, das in Konkurrenz tritt zu dem französischen. Die Behörden lavieren zwischen den Ansprüchen der verschiedenen Gruppen. Sie fühlen sich einerseits verpflichtet, die Erinnerung an die gefallenen Soldaten und die zivilen Opfer der Kolonialkriege zu pflegen, und haben zu diesem Zweck den 5. Dezember als Gedenktag eingeführt. Aber das Lob der Kolonisation kommt nur noch schlecht an, weshalb etwa ein in diesem Sinne erlassenes Gesetz vom Februar 2005 bereits modifiziert werden musste. Der 10. Mai wurde von Präsident Jacques Chirac zum Gedenktag an den Sklavenhandel und seine Abschaffung erklärt. Der 1931 erbaute »Palast der Kolonisation« an der Porte Dorée in Paris wurde in eine Gedenkstätte für die Geschichte der Immigration umfunktioniert und umbenannt. Diese Verabschiedung von der kolonialen Vergangenheit, die zweifelsohne zur Größe und Ausstrahlung Frankreichs beigetragen hat, fällt einem Land nicht leicht, das immer noch »Überseegebiete« besitzt. Daher erklärt sich auch die Doppelsprache, zu der Präsident Nicolas Sarkozy 2007 in verschiedenen Reden (Toulon, Dakar, Constantine) gegriffen hat, um beide Lager zu befriedigen: Verbrechen (sogar Verbrechen gegen die Menschlichkeit) seien zwar während der Kolonisierung begangen worden, aber die Kolonisation sei kein Verbrechen an sich gewesen. Es gilt also, der Bußkultur nicht zu verfallen und dem Glauben an das zivilisatorische Werk nicht ganz abzuschwören.
29 Marc Ferro/Robert Laffont (Hg.): Le livre noir du colonialisme, Paris 2003. 30 Vgl. die Fernsehserie von Bertrand Tavernier und Patrick Roman »Krieg ohne Namen« (1992).
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Besonders seit 1990 waren zahlreiche Filme über den Algerienkrieg auf den französischen Leinwänden und Bildschirmen zu sehen. Sie schildern die Schrecken des Krieges, die Gewalt, die Unmenschlichkeit und die Gewissenskonflikte, die ein solcher Krieg mit terroristischem Bürgerkriegscharakter unvermeidlich nach sich zieht. Allein im September und Oktober 2010 strahlte das französische Fernsehen nicht weniger als fünf Dokumentarfilme über den Algerienkrieg aus. Dies deutet auf ein gewachsenes Bedürfnis nach Erinnerung und Erkenntnis hin. In der Öffentlichkeit scheint heute diese Kolonialvergangenheit der Erinnerung an Vichy und an die Shoah den Vorrang streitig zu machen. Trotzdem fragte sich Benjamin Stora anlässlich des Filmfestivals von Pessac, auf dem im November 2010 eine ganze Reihe von Filmen über das Ende der Kolonisation und besonders über den Algerienkrieg gezeigt wurden, warum praktisch keiner dieser Filme ein großer Publikumserfolg wurde. Er gibt zwei Gründe dafür an: die noch nicht beigelegte Konkurrenz der Erinnerungen31 und die Tatsache, dass die Franzosen noch immer ungern mit dieser Vergangenheit konfrontiert werden.32 Wie Etienne François gezeigt hat, sind die drei Hauptstränge der heutigen Erinnerungskultur in Frankreich – Besatzungszeit, Shoah und Kolonisation – phasen- und formenmäßig miteinander verflochten.33 Sinnbild für diese Verflechtung ist die Figur von Maurice Papon, der als Beamter der Vichy-Regierung in die Judendeportierung involviert war und dann als Minister oder Polizeipräfekt de Gaulles seine Effizienz in der Repression nationalistischer Algerier unter Beweis stellte. In diesen drei Hauptbereichen der französischen Erinnerungskultur kommt die allgemeine Tendenz zum Vorschein, die Geschichte der Nation nicht mehr nur nach ihren Großtaten und Erfolgen, sondern auch nach ihren Schattenseiten und Vergehen zu hinterfragen. Ein anderes Beispiel: Der Erste Weltkrieg gehört zweifellos zur »nationalen Erzählung« Frankreichs. Doch gedachte Premierminister Lionel Jospin am 11. November 1998 auch der am Chemin des Dames in der Nähe von Laon standrechtlich erschossenen Soldaten, die 1917 erschöpft gegen die sinnlosen Befehle ihrer Offiziere rebelliert hatten. Es wird also nicht mehr nur derjenigen gedacht, die für Frankreich gefallen sind, sondern auch wegen Frankreich. Die Opferperspektive setzt sich neben der Heldenperspektive durch, die Viktimologie
31 Vgl. Daniel Lefeuvre: Pour en finir avec la repentance coloniale, Paris 2006. 32 Le Monde vom 15. November 2010, S. 17. 33 Etienne François: Die späte Debatte um das Vichy-Regime und den Algerienkrieg in Frankreich, in: Martin Sabrow et al.: Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003, S. 264–287.
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tritt an die Stelle der Mythologie. Nicht einmal die Kommunisten entgehen dieser Entmythisierung. Die von ihnen kolportierten Legenden (zum Beispiel ihre angeblich 75.000 »Füsilierten« während der Besatzungszeit) sind nach dem Erscheinen der Bücher von Historikern wie Philippe Robrieux, François Furet oder von Stéphane Courtois’ Schwarzbuch des Kommunismus entlarvt. Die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) setzt nun auf Transparenz und öffnet ihr Archiv. Zu einigen Enthüllungen der Historiker kann sie jedoch nur schweigen (etwa zu der Tatsache, dass sie 1956 dem Ministerpräsidenten Guy Mollet die Vollmacht für die Intensivierung des Algerienkriegs erteilt hat). Trotz allem ist das Bild der Kommunisten in der französischen Öffentlichkeit nicht negativ, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich trotz anfänglicher Ambivalenzen (zur Zeit des Hitler-Stalin-Paktes) aktiv an der Résistance beteiligt haben.
4 Europäische Dimensionen? Die Fokussierung auf die nationale Erinnerung rührt nicht zuletzt von der Angst her, die nationale Identität könne sich im europäischen Ganzen auflösen. Andererseits aber führt die kritische Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit zu einer Pluralisierung des Gedächtnisses und einer Schwächung nationaler Mythologien. Religion und Nation haben in der heutigen tendenziell multikulturellen und multikonfessionellen Gesellschaft ihre integrations- und identitätsstiftende Kraft zum Teil verloren. Dies mag zumindest partiell die Rückkehr Frankreichs zur lokalen Erinnerung erklären (ein anderer Grund dafür liegt sicher in der Bedeutung des Tourismus): In den letzten Jahren hat sich die Zahl der Museen und Veranstaltungen vervielfacht, die an lokalgeschichtliche Ereignisse erinnern.34 Diese Tendenz bereitet wiederum einigen Historikern wie Max Gallo oder Jean-Pierre Rioux Sorge, die den Verlust des nationalen Gedächtnisses der Franzosen befürchten.35 Hier setzt auch das jetzige Vorhaben der Regierung an, in Paris ein »Haus der Geschichte Frankreichs« zu errichten, das eine synthetische Gesamtschau der französischen Geschichte vermitteln soll. Die Fragmentierung der Erinnerung widerspricht nämlich einer französischen Identität, die sich über Jahrhunderte durch die Abschaffung von Partikularismen jeglicher Art (politische, kulturelle oder sprachliche) gebildet hatte. 34 Exemplarisch dafür ist der Erfolg der Historienspiele in dem geschichtlichen Themenpark »Le Puy du Fou« in der Vendée. 35 Jean-Pierre Rioux: La France perd la mémoire. Comment un pays démissionne de son histoire, Paris 2006. Dieses Gefühl von Verlust ist auch einer der Gründe, weshalb Noras Erinnerungsorte entstanden.
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Trotz ihres nationalen Charakters besitzen alle Erinnerungskonflikte, die zuvor angesprochen worden sind, nicht zuletzt infolge der Involvierung der nationalen Geschichte in die Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen eine europäische Dimension. Aufgrund der gelungenen Aussöhnung und des vielfältigen kulturellen und wissenschaftlichen Austauschs zwischen beiden Ländern haben Deutsche und Franzosen begonnen, sich gemeinsam zu erinnern. Paradigmatisch hierfür sind Initiativen wie das deutschfranzösische Geschichtsbuch36 oder das von Jean-Jacques Becker und Gerd Krumeich »zweihändig« geschriebene Buch Der Große Krieg.37 In der französischen Öffentlichkeit gibt es ein großes Interesse für deutsche Geschichte. Die 2001 veröffentlichten Deutschen Erinnerungsorte von Etienne François und Hagen Schulze sind schon 2007 ins Französische übersetzt worden, was eine achtenswerte Leistung darstellt, kennt man die Furcht französischer Verleger vor hohen Übersetzungskosten. Literatur, Filme und Fernsehsendungen über das Dritte Reich fesseln das französische Publikum, wobei die emotionale Anklagegeste der Anfänge immer mehr zugunsten des Wunsches zurücktritt, das Geschehene besser zu verstehen.38 Die Annäherung der Gedächtnisse wird auch durch gesellschaftliche Kontakte gefördert. Zu den in Frankreich lange tabuisierten und erst seit einigen Jahren wieder thematisierten Erinnerungen zählen jene der etwa 200.000 Kinder, die deutsche Besatzer mit französischen Frauen gezeugt haben, welche nach dem Krieg allein und verleumdet in Frankreich zurückblieben. Das Internet hat die Kommunikation erleichtert, Vereine wurden gegründet, die sich mit der Suche nach den deutschen Familien befassten, welche diese jahrelang in Frankreich diskriminierten »enfants de boches« (»Besatzerkinder«) häufig wohlwollend aufgenommen haben.39 Wie durch die transnationalen
36 Guillaume Le Quintrec: Histoire/Geschichte: Europa und die Welt seit 1945 (2006); Daniel Henri/Guillaume Le Quintrec/Peter Geiss: Histoire/Geschichte: Europa und die Welt vom Wiener Kongress bis 1945 (2007); beide bei Klett (Stuttgart) und Nathan (Paris) erschienen. Ein dritter Band: Histoire/Geschichte: Europa und die Welt von der Antike bis 1815, ist im Erscheinen. 37 Jean-Jacques Becker/Gerd Krumeich: Der Große Krieg. Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg 1914–1918, Essen 2010; auf Französisch: La Grande Guerre. Une histoire franco-allemande, Paris 2008. 38 Auch die Ungeheuerlichkeit der nationalsozialistischen Verbrechen mag eine gewisse Faszination ausüben – ich denke hier an den großen Erfolg des Romans von Jonathan Littell in Frankreich: Die Wohlgesinnten, Berlin 2008. 39 Jean-Paul Picaper/Ludwig Norz: Enfants maudits, ils sont 200.000, on les appelait les enfants des boches, Paris 2004.
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Ehen ist auch hier ein »Europa der Menschen« im Aufbau, das zweifelsohne zur gegenseitigen Verständigung beiträgt. Zur Versöhnung und Europäisierung der Erinnerungen tragen selbstverständlich gemeinsam begangene Gedenkfeiern bei: Helmut Kohl und François Mitterrand Hand in Hand in Douaumont im Jahre 1984 oder die erstmalige Anwesenheit eines deutschen Bundeskanzlers bei den Feierlichkeiten anlässlich des 60. Jahrestages der Landung der alliierten Truppen in der Normandie am 6. Juni 2004. Bei dieser Gelegenheit betonte Jacques Chirac, dieser Tag markiere den Beginn einer Entwicklung, die Europa Frieden, Freiheit und Demokratie gebracht habe. Gerhard Schröder seinerseits bekannte sich zur deutschen Verantwortung vor der Geschichte und erklärte, der Sieg der Alliierten sei nicht ein Sieg über Deutschland, sondern ein Sieg für Deutschland gewesen. Um Europas Identität zu definieren, können mehrere Erbschaften herangezogen werden: die Antike, das Christentum, Karl der Große, die Renaissance, die Aufklärung, die Französische Revolution usw. Nicht zuletzt fußt die heutige europäische Identität aber auf der Erinnerung an die Leiden, die allen europäischen Völkern, angefangen mit den Deutschen selber, von den Diktaturen des 20. Jahrhunderts zugefügt worden sind. Das heutige Europa ist gleichsam aus der Asche der Krematorien aufgestiegen. Die Orte, an denen Europäer verschiedenster Nationalitäten gemeinsam unter der modernen Barbarei gelitten haben, sind heute europäische Gedenkstätten geworden, an denen Europäer verschiedenster Nationalitäten zusammenkommen und des erfahrenen Leidens gemeinsam gedenken können. Besondere Symbolkraft hat in dieser Hinsicht das Vernichtungslager Auschwitz, das nunmehr mit der europäischen Identität unlösbar verbunden ist. Im Jahr 2000 beschlossen die Mitgliedsstaaten der Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research (ITF) auf einem internationalen Forum in Stockholm, den 27. Januar, den Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, zum Gedenktag für die Shoah in der Union zu machen. Die Shoah sollte in die Lehrpläne des Geschichtsunterrichts in Europa aufgenommen werden. Ulrich Pfeil kommentiert ganz richtig: »›Auschwitz‹ steht hierbei nicht mehr ausschließlich als Symbol für die deutschen Verbrechen, sondern wird zur Chiffre für eine Europäisierung der nationalen Geschichtsbilder und die schrecklichste Dimension menschlichen Handelns.«40 Die progressive Aufdeckung der Shoah ab den 1960er Jahren führte in der Tat zu einer Abkehr
40 Ulrich Pfeil: Entwicklungslinien der französischen Erinnerungskultur in den letzten Jahren, in: Bernd Faulenbach/Franz-Josef Jelich (Hg.): »Transformationen« der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989?, Essen 2006, S. 325.
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vom nationalen Paradigma und zu einer Internationalisierung der Erinnerung. Dies legt selbstverständlich die Frage nahe, ob eine kollektive Identität auf solchen negativen Erfahrungen und Erinnerungen aufbauen kann. Dies kann nur geschehen, wenn die kritische Aufarbeitung der nicht nur deutschen Katastrophe, des eingetretenen »Zivilisationsbruchs«, den Europäern dazu verhilft, sich auf ihre wahre Bestimmung – auf ihre Werte – zu besinnen. Aus der Negation der Negation kann Europa zu sich selbst finden. Die begrüßenswerte bilaterale Annäherung der Erinnerungskulturen wie im deutsch-französischen Fall darf uns aber nicht irreführen. Das Ziel für Europa soll nicht die Herstellung eines einheitlichen gemeinsamen Gedächtnisses sein. Ein Teil der Deutschen und die Bewohner Ostmitteleuropas müssen sich nicht unbedingt an den 8. Mai 1945 als an einen Tag der Befreiung erinnern.41 Für einen Franzosen ist es unmöglich, von der »Invasion« in der Normandie im Juni 1944 zu sprechen. In Osteuropa, wo man sich vor allem an die kommunistischen Verbrechen und die Lager an der Kolyma erinnert, besitzt Auschwitz nicht dieselbe Zentralität wie im Westen. Deshalb ist eine inklusive, plurale Erinnerung erforderlich, die auf die Mythologie der Einheit verzichtet und den Standpunkten der anderen Toleranz und Verständnis entgegenbringt. Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die Frage, ob die Kompatibilität der europäischen Erinnerungskulturen durch ihre Verrechtlichung gefördert werden kann. Die französischen Behörden haben vier »Erinnerungsgesetze« (lois mémorielles) erlassen: das so genannte »Gayssot-Gesetz«, das die Leugnung der Shoah unter Strafe stellt; das Gesetz vom 29. Januar 2001, das den Genozid an den Armeniern anerkennt; das »Taubira-Gesetz« vom 21. Mai 2001, das Sklaverei und Sklavenhandel als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkennt und diesen Standpunkt auch in den Schulbüchern und in der Forschung vertreten wissen will; sowie das Gesetz vom 23. Februar 2005, das die Dankbarkeit der Nation für die aus Nordafrika heimgekehrten Franzosen zum Ausdruck bringt. Dieses Gesetz sorgte sich eigentlich um das Los der »Harkis«, aber sein 4. Absatz betonte die positive Rolle der Kolonisierung – wie schon erwähnt, musste er 2006 gestrichen werden. Die staatliche Erinnerungspolitik ist in Frankreich höchst umstritten. Im Januar 2005 etwa gründeten renommierte Historiker ein Komitee gegen die staatliche Instrumentalisierung der Geschichte (Comité de vigilance face aux usages publics de l’histoire). Aber Erinnerungspolitik wird auch auf europäischer Ebene betrie-
41 Vgl. Horst Möller: Historisches Erinnern und nationale Identität, in: Gerhard Hetzer/Bodo Uhl (Hg.): Festschrift für Hermann Rumschöttel zum 65. Geburtstag, 88. Band der Archivalischen Zeitschrift, Köln 2006, S. 615–627.
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ben: 2007 wurde die Leugnung der Shoah in ganz Europa unter Strafe gestellt. Ist eine solche Erinnerungspolitik von vornherein zu verwerfen, da sie doch auch zur politischen Bildung beiträgt? Die Haltung der Historiker ist verständlich: Sie wollen sich ihre Sicht der Geschichte nicht vom Staat diktieren lassen, sondern unabhängig und ergebnisoffen forschen können. Die aktuelle Kontroverse über das Haus der Geschichte Frankreichs zeigt, dass dieses Misstrauen weiter besteht. Ein anderer Aspekt der Verrechtlichung von Erinnerung besteht in der Tendenz, die Geschichte vor Gericht zu ziehen. Sie kam schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Nürnberger Prozess zum Vorschein und erklärt sich durch die unerhörte Dimension der begangenen Verbrechen. Die Prozesse der 1980er und 1990er Jahre, die bisher noch nicht verurteilte oder gefasste Personen betrafen, entsprachen gleichsam einem Nachholbedarf. Sie werfen dennoch die Frage nach dem Platz und der Rolle des Historikers bei diesem gerichtlichen Umgang mit der Vergangenheit auf. Henry Rousso leugnet nicht, dass diese Prozesse anfangs die Forschung zu stimulieren vermochten, will aber Justiz und Wissenschaft scharf voneinander trennen und jede Instrumentalisierung des Historikers im Dienst der Justiz vermeiden.42 Im Zuge der allgemeinen Viktimisierung sind Opfergruppen in der Tat geneigt, ihren Standpunkt als historische Wahrheit zu postulieren und die Historiker selbst vor Gericht zu laden. Gegen Olivier Pétré-Grenouilleau, den großen Experten zur Geschichte des Sklavenhandels, wurde 2005 von einem so genannten »Kollektiv der Bewohner der Überseegebiete« Klage erhoben, weil er dem Sklavenhandel den Charakter eines Genozids absprach. Er erfuhr Unterstützung von Historikern und der öffentlichen Meinung, und die Klage wurde schließlich zurückgenommen. Die Geschichtsschreibung historisiert und rationalisiert. Das Merkmal der Erinnerung, sei es der kommunikativen oder der kulturellen, ist die Betroffenheit, das heißt die Emotion, die sich bis zur Sakralisierung steigern kann. Die Geschichte hat die Aufgabe, mit neuen Erkenntnissen diese Emotion gleichzeitig zu nähren und zu kontrollieren. Wird es ihr gelingen, die Exzesse der Erinnerung einzudämmen? Denn man hat heute den Eindruck, dass auf die Hyperamnesie eine Hyperanamnese gefolgt ist, die mehrere Gefahren läuft: die Gefahr ihrer Instrumentalisierung nicht nur zu politischen oder zu symbolischen, sondern auch zu rein materiellen Zwecken (etwa mit der Frage, wie
42 Vgl. Henry Rousso: Vichy. L’événement, la mémoire, l’histoire, Paris 1992. Siehe das Kapitel: Juger le passé?, S. 678–710. Rousso hat sich geweigert, im PaponProzess als Zeuge vor Gericht aufzutreten.
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man von Nachgeborenen, die nicht schuldig sind, Reparationen verlangen kann); die Gefahr ihrer Ästhetisierung und Kommerzialisierung in einer musealen Kultur, die nicht selten an Erinnerungsmarketing grenzt; die Gefahr ihrer Ritualisierung und Banalisierung in einer allzu intensiven Gedenkkultur; oder – umgekehrt – die Gefahr ihrer Ausartung in eine Bußkultur. Es gibt in der Tat in Frankreich viele Stimmen von Historikern und Philosophen, die die Ausschweifung und den Missbrauch der Erinnerung beklagen.43 Pierre Nora selbst, das klang schon im ersten Zitat dieses Textes an, warnt vor einer »Tyrannei der Erinnerung«. Henry Rousso, Benjamin Stora und andere kritisieren die Aufdringlichkeit der »Erinnerungspflicht« und das ständige »Wiederkäuen« der Vergangenheit. Freilich ist und bleibt die Erinnerung an die Verbrechen der europäischen Geschichte unentbehrlich, ist doch das verhinderte Gedächtnis ein Kennzeichen der Diktatur.44 Das Vergessen der Shoah wäre ein nachträglicher Sieg Adolf Hitlers. Vergebung, nicht Vergessen ist geboten. Und dabei ist ein Satz von Albert Camus stets zu bedenken: »Es ist gut, wenn eine Nation in ihrer Tradition und Ehre stark genug ist, um den Mut aufzubringen, die eigenen Irrtümer einzugestehen. Aber sie darf nicht die Werte vergessen, die ihr noch Selbstachtung einflößen können.«45 Das gilt auch für Europa.
43 Tzvetan Todorov: Les abus de la mémoire, Paris 2004; Pascal Bruckner: La tyrannie de la pénitence, Paris 2006. 44 Primo Levi hat einmal geschrieben: »Die ganze Geschichte des ›Tausendjährigen Reichs‹ kann als ein Krieg gegen das Gedächtnis gedeutet werden«, zitiert nach Tzvetan Todorov: Les abus de la mémoire, a. a. O., S. 31. 45 Zitiert nach Olivier Wieviorka: La mémoire désunie, a. a. O., S. 15.
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Zum Umgang mit konfliktiver Geschichte. Vergangenheitsdiskurse in Spanien zwischen Verdrängung und Polarisierung
Seit dem Spanischen Bürgerkrieg sind inzwischen über 70 Jahre vergangen. Nach dem Ende der Franco-Ära konnte das Land erstaunlich schnell den Übergang in die Demokratie bewältigen. Während des Franquismus und danach war der Bürgerkrieg im politischen und historischen Diskurs stets obligater Bezugspunkt; kaum jemand versäumte es, auf den Ursprung des Franco-Regimes im Krieg hinzuweisen. Und der nach 1975 einsetzende Boom an Bürgerkriegsliteratur entsprach einem verbreiteten Bedürfnis in weiten Bevölkerungskreisen nach Information und Aufklärung, nachdem in den Jahrzehnten zuvor die Geschichtsschreibung vielfach zur Legitimation des Siegerregimes instrumentalisiert worden war. Historiker und Publizisten waren sich stets darin einig, dass erst in einem demokratischen Staat, ohne intellektuelle Gängelung oder politische Zensur, die vollständige Aufarbeitung der Bürgerkriegsgeschichte oder der besonders dunklen Jahre des frühen Franquismus erfolgen würde. Es stand zu erwarten, dass im demokratischen Spanien an den Jahrestagen des Bürgerkrieges verstärkte Aktivitäten stattfinden würden, um dem Informations- und Aufklärungsbedürfnis der Bürger nachzukommen. Die Jahrestage 1976/1979 fielen allerdings voll in die politisch aufgewühlte Transitionsphase; sowohl die Politiker als auch die Zivilgesellschaft mussten all ihre Energien auf die Bewältigung des Übergangs von der Diktatur in die Demokratie konzentrieren. Als diese Gratwanderung erfolgreich abgeschlossen war und seit 1982 die Sozialistische Partei unangefochten regierte, bot der Jahrestag 1986 zum ersten Mal im redemokratisierten Spanien die Gelegenheit, ohne staatlich verordnete ideologische Vorgaben des Bürgerkriegsbeginns vor 50 Jahren zu gedenken. Zweifellos gab es 1986 auch öffentliche Veranstaltungen, die an den Bürgerkriegsbeginn erinnerten (während der Jahrestag des Kriegsendes 1989 praktisch unbeachtet verstrich); aber gemessen an der überragenden Bedeutung, die dieser Krieg für das Spanien der Gegenwart hat, hielten sich die Rückblicke eher in Grenzen. Die meisten Veranstaltungen waren ohnehin in die eher »entschärfte« Domäne der Historiker übergegangen. Denn darin
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waren sich nahezu alle politisch und wissenschaftlich Verantwortlichen einig: Keine erneuten Rechtfertigungen, sondern Erklärungen waren gefragt; nicht die Opas, die den Krieg geführt hatten, sondern die jungen Akademiker, die ihn nur über Quellen und Literatur kannten, waren die Protagonisten der Veranstaltungen. Und auf diesen selbst wurde immer wieder mahnend dazu aufgefordert, »objektiv« und »historisch distanziert« zu argumentieren, da man doch über ein längst vergangenes Ereignis spreche, das seit langem schon Teil der »Geschichte« sei. Ergebnis dieser Tagungen und Kongresse waren mehrere Sammelbände, die ein weitgehend ausgewogenes Bild des Bürgerkrieges präsentierten; verbreitete historische Zeitschriften (etwa Historia 16) und Tageszeitungen mit hohen Auflagen (El País u. a.) brachten vielfältige Bürgerkriegsbeiträge.1 Im Gegensatz zu diesen historiographischen Beiträgen ließ sich das »offizielle« Spanien so gut wie nicht vernehmen. Im Juni 1986, wenige Wochen vor dem eigentlichen Jahrestag des Bürgerkriegsbeginns, standen Parlamentswahlen auf der politischen Tagesordnung, bei denen es für die regierende Sozialistische Partei um den Erhalt ihrer absoluten Mehrheit ging, und in dieser politisch heiklen Situation durften Wähler der Mitte und der gemäßigten Rechten nicht verunsichert oder gar verschreckt werden, indem öffentlich und über Massenmedien auf die Spaltung der spanischen Gesellschaft in den dreißiger Jahren hingewiesen wurde. Damals war ja die Sozialistische Partei eindeutig auf dem linken Spektrum des politischen Lebens angesiedelt gewesen. Außerdem wäre wohl eine öffentliche Debatte nicht zu verhindern gewesen, in der auch die Mitverantwortung der stärksten Arbeiterpartei am Scheitern der spanischen Demokratie diskutiert worden wäre. Die einzige Verlautbarung aus dem Moncloa-Palast – Ministerpräsident Felipe González verkündete sie als Regierungschef aller Spanier, nicht als Generalsekretär der Sozialistischen Partei – besagte, der Bürgerkrieg sei »kein Ereignis, dessen man gedenken sollte, auch wenn er für die, die ihn erlebten
1 Vgl. etwa die monographischen Sondernummern zum Spanischen Bürgerkrieg folgender Zeitschriften: Cuenta y Razón, Nr. 21, Sept.–Dez. 1985; Arbor, Nr. 491–492/1986; Studia Historica, Bd. III, Nr. 4/1985; Letras de Deusto, Bd. 16, Nr. 35, Mai–Aug. 1986; Aportes, Nr. 8, Juni 1988; als Tagungsbände vgl. Universitat de València, Facultat de Geografia i Història: Estudis d’Història Contemporània del País Valencià, Valencia o. J.; Julio Aróstegui (Hg.): Historia y Memoria de la Guerra Civil. Encuentro en Castilla y León, 3 Bde., Valladolid 1988; als Sammelbände vgl. Manuel Tuñón de Lara: Der Spanische Bürgerkrieg. Eine Bestandsaufnahme, Frankfurt am Main 1987; Ramón Tamames: La guerra civil española. Una reflexión moral 50 años después, Barcelona 1986.
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und erlitten, eine entscheidende Episode in ihrem Leben darstellte«. Inzwischen sei der Krieg jedoch »endgültig Geschichte, Teil der Erinnerung und der kollektiven Erfahrung der Spanier«; er sei »nicht mehr lebendig und präsent in der Realität eines Landes, dessen moralisches Gewissen letztlich auf den Prinzipien der Freiheit und der Toleranz basiert«.2 Sicherlich sind derartige Äußerungen in Zusammenhang mit dem demokratischen Neuaufbau nach 1975 und dem Schlüsselwort beim Abbau der Diktatur zu sehen: consenso, Zusammenwirken aller. Die traumatische Erfahrung von Bürgerkrieg, brutalster Gewaltausübung und gesellschaftlicher Spaltung dürfte unausgesprochen den Hintergrund vieler Haltungen und Maßnahmen in der Übergangsphase zur Demokratie gebildet haben: für die Akzeptierung der Monarchie durch die republikanischen Sozialisten, für die gemäßigten Positionen der Kommunisten, für das Zusammenwirken aller politischen Kräfte bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung. Die neue Demokratie sollte nicht von einem Teil gegen den Willen des anderen, sondern möglichst unter Mitwirkung aller politischen Lager aufgebaut werden. Voraussetzung hierfür aber war die Wiederversöhnung aller ehemals verfeindeten Lager. Nicht alte, noch ausstehende Rechnungen sollten beglichen, sondern ein endgültiger Schlussstrich unter die Kämpfe und Feindschaften der Vergangenheit gezogen werden. Dieser Wunsch nach Aussöhnung und die Angst davor, alt-neue, nicht verheilte Wunden wieder aufzureißen, mögen die regierenden Sozialisten – die zu den Hauptverlierern des Bürgerkrieges gehörten! – mitbewogen haben, den Jahrestag 1986 offiziell nicht zur Kenntnis zu nehmen, ja: zu verdrängen, und außerdem politisches Verständnis für die ehemals »andere« Seite zu zeigen. Weiter heißt es nämlich in der Moncloa-Erklärung, die Regierung wolle »die Erinnerung an all jene ehren und hochhalten, die jederzeit mit ihrer Anstrengung – und viele mit ihrem Leben – zur Verteidigung der Freiheit und der Demokratie in Spanien beigetragen haben«; zugleich gedenke sie »respektvoll jener, die – von anderen Positionen aus als denen des demokratischen Spanien – für eine andere Gesellschaft kämpften, für die viele auch ihr Leben opferten«. Die Regierung hoffe, dass »aus keinem Grund und keinem Anlass das Gespenst des Krieges und des Hasses jemals wieder unser Land heimsuche, unser Bewusstsein verdunkle und unsere Freiheit zerstöre. Deshalb äußert die Regierung auch ihren Wunsch, dass der 50. Jahrestag des Bürgerkrieges endgültig die Wiederversöhnung der Spanier besiegle.«
2 »Una guerra civil no es un acontecimiento conmemorable«, afirma el Gobierno, in: El País vom 18. Juli 1986, S. 17.
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Die bis 1996 regierenden Sozialisten griffen auf die Erblast der Angst als Folge des Krieges zurück, um ihre politische Vorsicht abzusichern, um keine radikalen Veränderungen vorzunehmen, die möglicherweise die Stabilität des Systems gefährden könnten. Die in Spanien nach 1975 relativ schnell erreichte Stabilität hatte ihren politischen und moralischen Preis, der soziopolitische Friede musste erkauft werden. Ein Großteil der älteren Militärs identifizierte sich in den siebziger und achtziger Jahren noch mehr oder weniger mit seiner franquistischen Vergangenheit. In manchen offiziellen Heerespublikationen jener Jahre nahmen Francos Bilder und seine Titel eine wichtigere Stelle als die demokratisch legitimierten staatlichen Würdenträger ein. In Militärkreisen und Kasernen wurde noch längere Zeit vom »Kreuzzeug« gesprochen; allerdings handelte es sich zehn Jahre nach Francos Tod nunmehr um das Vokabular einer Minderheit unter den Militärs. Das Überleben des franquistischen Symbolsystems erinnerte jedoch daran, dass die politische Reform aus einem Pakt hervorgegangen war, der innerhalb der autoritären Institutionen ausgearbeitet wurde und schließlich zur Transition führte. Diesem Übergangscharakter entsprechend gingen die Streitkräfte ohne jegliche Art von Säuberung von der Diktatur in den Postfranquismus über.3 Die Tatsache, dass es keinen klaren demokratischen Bruch mit der franquistischen Diktatur gab, hat einen Schatten auf jene Bereiche der Vergangenheit geworfen, die »Orte des Gedächtnisses« genannt werden.4 Die transición stellte eine Art Ehrenabkommen dar, durch das die Kompensation der Franquisten für die Übergabe der Macht in der Praktizierung einer kollektiven Amnesie erfolgte. Dies gilt nicht nur für die konservativen Übergangsregierungen der Jahre 1977 bis 1982; dies ist nicht weniger gültig für den Partido Socialista Obrero Español: Mit ihrer Geschichtslosigkeit setzte die spanische Sozialdemokratie den in der Franco-Zeit erzwungenen Gedächtnisverlust des Volkes fort. In beiden Fällen diente die Marginalisierung und Verdrängung von Geschichte der Stabilisierung bestehender Machtverhältnisse. Während der gesamten Franco-Ära hatte das Regime durch damnatio historiae versucht, jegliche historische Erinnerung, die sich nicht in die Tradition des Aufstandes vom 17./18. Juli 1936 einreihen ließ, auszuschalten: physisch durch Ermordung aller exponierten Kräfte der republikanischen Seite, politisch durch kompromisslose Machtaufteilung unter den Siegern, intellektuell durch Zensur und Verbote, propagandistisch durch einseitige Indoktrinierungen, kulturell durch Eliminierung der Symbole jenes angeblichen
3 Vgl. Teresa M. Vilarós: El mono del desencanto, Madrid 1998. 4 Pierre Nora (Leitung): Les lieux de mémoire, Paris 1984.
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»Anti-Spanien«, das in zermürbender Langsamkeit drei Jahre lang bis zur bedingungslosen Kapitulation bekämpft worden war. Zur Zerstörung der Erinnerung an jenes unterlegene Spanien »des Hammers und des Meißels« (Antonio Machado) kam bald die Notwendigkeit, die Spur der eigenen Verbrechen aus dem Gedächtnis der Menschen tilgen zu müssen. Die Auswahl des aus dem kollektiven Gedächtnis zu Streichenden war ein Prozess negativer Selektion, der vom Zentrum der Macht aus gesteuert wurde.5 Ganz im Gegensatz zu dieser Haltung des Sieger-Regimes haben die Regierungen der transición keinen übermäßigen Eifer an den Tag gelegt, die Symbole des Franquismus aus der Öffentlichkeit zu entfernen. Einige sind bis heute anzutreffen. Ein weiterer wichtiger Grund für die offizielle Verdrängung des Bürgerkrieges dürfte in dem ideologischen Konsens gelegen haben, der in den Jahren der Transition und des darauf folgenden ökonomischen Aufschwungs die spanische Gesellschaft bestimmte und der auf die Begriffe Modernisierung und Europäisierung gebracht werden kann. Hintergrund der Fortschrittsgläubigkeit, des extrovertierten Konsumrausches und der ungezügelten Europa-Euphorie jener Phase war ein tiefsitzender Minderwertigkeitskomplex gerade in Bezug auf diesen Fortschritt und dieses Europa, von dem das FrancoRegime sich zuerst bewusst abgekoppelt hatte (»Spanien ist anders«) und von dem es zuletzt aus politischen und ökonomischen Gründen ferngehalten worden war. Philosophen, Schriftsteller und Politiker haben sich immer wieder die Frage nach den Gründen für Spaniens »Rückständigkeit« gestellt, und lange Zeit war der Entwicklungsvorsprung Europas gegenüber Spanien ein in Publizistik, Literatur und Philosophie häufig anzutreffendes Thema. Der Bürgerkrieg gilt in dieser Debatte als das historische Ereignis, durch das die Rückständigkeit der Spanier am klarsten zum Ausdruck kam, der Schlusspunkt in einer ganzen Reihe fehlgeschlagener Modernisierungsversuche.6 Die Folge des Bürgerkrieges, die Installierung des Franco-Regimes, führte nach 1945 zum Ausschluss Spaniens aus der internationalen Staatengemeinschaft, zur Ächtung und zum wirtschaftlichen Boykott. Das Land wurde auf sich selbst zurückgeworfen; die Außenbeziehungen konzentrierten sich lange Zeit auf die arabischen Länder und Lateinamerika, was auf der Pyrenäischen Halbinsel das Gefühl des Unterentwickeltseins weiter verstärkte. 5 Vgl. Walther L. Bernecker: La memoria impuesta durante el franquismo, in: Juan Avilés (Hg.): Historia, política y cultura. Homenaje a Javier Tusell, Bd. 2, Madrid 2009, S. 225–243. 6 Vgl. Walther L. Bernecker: España y la Unión Europea: una relación cambiante, in: ders./Günther Maihold (Hg.): España: del consenso a la polarización. Cambios en la democracia española, Madrid 2007, S. 45–69.
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Minderwertigkeit, Isolierung und Spaltung in Sieger und Besiegte wurden in Spanien mit dem Bürgerkrieg und seinen Folgen assoziiert. Die Öffnung des Landes zur Demokratie, zu Fortschritt und zu Europa war eine bewusste Abkoppelung von dieser unerwünschten Vergangenheit.7 In nahezu allen Kommentaren über das Bewusstsein der spanischen Bevölkerung in Bezug auf den Bürgerkrieg wurde in den achtziger Jahren auf die Indifferenz der Jugend gegenüber der jüngsten Vergangenheit hingewiesen. Amtliche Stellen zeigten ein auffälliges Desinteresse, diesen Zustand zu ändern: König und Regierung sprachen vor allem von Wiederversöhnung, staatliche Instanzen predigten unaufhörlich das Thema Europa, eine dauernde Werbeberieselung intensivierte die ohnehin schon überbordende Konsumneigung, das ganze Land war mental auf Modernisierung und Fortschritt eingestellt. Im Jahr 1986 beging Spanien nicht nur den 50. Jahrestag des Bürgerkriegsbeginns; es war auch das Jahr, in dem das Land Vollmitglied der Europäischen Gemeinschaften wurde und sich endgültig für den Verbleib in der NATO entschied. Hatte der Bürgerkrieg den (erneuten) Beginn eines historischen »Sonderwegs« markiert, so stellte spätestens das Jahr 1986 die Rückkehr Spaniens zur europäischen »Normalität« dar. Sicher hing die Geschichtslosigkeit der jüngeren Generationen auch mit der jahrzehntelangen Instrumentalisierung von Geschichte im Franquismus zusammen, die im Nach-Franquismus in Gleichgültigkeit oder sogar in Ablehnung umschlug. In diesem Zusammenhang verdienen die Überlegungen des Philosophen José Luis L. Aranguren referiert zu werden, der davon sprach, dass die nachfranquistische Gesellschaft Spaniens eine neue Beziehung zu ihrer Geschichte eingegangen sei, dass sie keine Dogmen mehr übernommen habe, sich von der Vergangenheit distanziere (im Gegensatz zur früheren Identifizierung) und in ihrer kollektiven Erinnerung eine Wende vollzogen habe.8 Diese »historische Mutation« hänge damit zusammen, dass die Spanier früher vom Gewicht eines »Volkes mit Universalgeschichte« erdrückt worden seien; stets sei ihnen die Orthodoxie einer Kontinuität mit der spanischen Weltgeschichte gepredigt worden, von der sich nur einige wenige heterodoxe Kräfte distanzieren konnten, die sich gegen die dominierenden Nostalgiebestrebungen wandten. 7 Vgl. Walther L. Bernecker: De la diferencia a la indiferencia. La sociedad española y la guerra civil (1936/39–1986/89), in: Francisco López-Casero u. a. (Hg.): El precio de la modernización. Forma y retos del cambio de valores en la España de hoy, Frankfurt am Main 1994, S. 63–79. 8 José Luis L. Aranguren: Por qué nunca más, in: Ramón Tamames: La guerra civil española, a. a. O., S. 171–184.
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Die vorherrschende spanische Kultur war zu Beginn der Neuzeit, im literarisch glänzenden »Siglo de Oro«, eine Kultur der Gegenreformation, später dann eine Kultur der Antimodernität. Da die weltgeschichtliche Größe Spaniens mit dem kulturellen Aufschwung des gegenreformatorischen Katholizismus zusammenfiel, wurde lange Zeit ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen spanischer Kultur und Widerstand gegen die Kräfte der Moderne gesehen. Der nostalgische Rückblick auf ein imperial-katholisches Spanien dominierte, das wiederum als »ewiges Spanien« und »geistliche Reserve des Abendlandes« betrachtet wurde. Der Franquismus kann als letzter Versuch betrachtet werden, sich zumindest in seiner Frühphase in diese Tradition der Antimodernität einzureihen. Die »revolutionären« Erneuerungsmomente der ursprünglich faschistischen Falange waren für das Regime stets weit weniger bedeutend als die Kontinuitätselemente traditionalistischer, national-katholischer und militärischer Provenienz. Diese »prämodernen« Kulturelemente gingen in der Spätphase des Franquismus, seit dem Wirtschaftsboom der sechziger Jahre, rapide verloren. Der Verlust erzeugte nicht so sehr einen expliziten Anti-Franquismus als vielmehr einen Nicht-Franquismus, eine Skepsis gegenüber der Politik, die zwar in den ersten Jahren nach 1975 einem bewussten Engagement wich, sehr schnell jedoch wieder zur distanzierten Skepsis wurde, als die Hauptziele des friedlichen Wandlungsprozesses – die Sicherung der Demokratie und eine Übertragung der Macht an die linke Mitte – erreicht zu sein schienen. Eine klare politische Alternative war in den achtziger Jahren weder auf der Linken noch auf der Rechten in Sicht; das dadurch erzeugte Gefühl der Paralyse schlug sich nicht nur auf das politische, sondern auch auf das historische Bewusstsein nieder und förderte jene Einstellung, die längst nicht mehr auf »Differenz« als vielmehr auf »Indifferenz« und Entpolitisierung abzielte. Auf der Grundlage derartiger Überlegungen könnte es für das offizielle Verdrängen des Bürgerkrieges und das äußerst laxe Umgehen mit den franquistischen Symbolen im Übergangsprozess in die Demokratie somit auch eine weit einfachere als die politisch-ideologische Erklärung geben: Es stellt sich die Frage, ob die vom Franquismus propagierten Werte in der spanischen Gesellschaft überhaupt je Fuß gefasst haben, ob die Symbole und die Ästhetik des Regimes mehr als resigniert-unbeachtet hingenommene Oberflächensymptome waren. Die Ideologie des Regimes – wenn es sie denn je gegeben hat – war spätestens seit dem Ende der fünfziger Jahre einem steten Auflösungsprozess unterworfen gewesen; in den Schlussjahren der Diktatur war sie praktisch inexistent. Eine gewaltsame Auseinandersetzung mit dieser Ideologie, mit den Symbolen und den äußeren Merkmalen des franquistischen Regimes war nach 1975 deshalb nicht nötig; es handelte sich ohnehin nur noch
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um inhaltsleere Hüllen, die kaum jemand mehr ernst nahm. Auch das erklärt die Art, wie die spanische Gesellschaft lange Zeit mit ihrer diktatorischen Vergangenheit umging. Sie betrachtete sie als überlebt und gab sie dem Vergessen anheim. Über den Bürgerkrieg, noch mehr sogar über die ersten Jahre der FrancoÄra, legte sich zumindest im politischen Diskurs für längere Zeit eine Decke des gesellschaftlichen Schweigens; wahrscheinlich erachteten es die Demokratisierungs-Generationen nicht für ratsam, auf eine derart konfliktbeladene Epoche zurückzublicken; die von staatlicher Seite auf den »Fortschritt« gelegte Betonung ließ es dysfunktional erscheinen, die als »negativ« bewerteten Epochen in Erinnerung zu rufen. Auf dem Altar der Ausgleichsmentalität wurden auch jene Gedenkveranstaltungen geopfert, die viele von der Regierung 1986 bzw. 1989 oder auch 1996 erwartet hatten. Stattdessen lautete die offizielle, nach beiden Seiten hin gleichermaßen abgesicherte Parole: »Nie wieder!« Der Bürgerkrieg wurde als »Tragödie« bewertet, als Krise, die den Zusammenbruch aller Werte des Zusammenlebens heraufbeschwor; nicht von den Gründen und Verantwortlichkeiten für diese Tragödie war die Rede – also vom Bestreben der Aufständischen und ihrer Helfershelfer, die demokratischen Errungenschaften wieder abzuschaffen –, sondern von den Folgen der »tragischen Krise«.9 Einige Beobachter sahen hinter dem offiziellen Verhalten der damaligen spanischen Regierung zu den Bürgerkriegs-Jahrestagen eine überlegte und präventive Strategie der Machtkonsolidierung. Wenn dies stimmt, so muss danach gefragt werden, wie in der spanischen Öffentlichkeit in jenen Jahren der Bürgerkrieg gesehen wurde. Im Sommer 1983 ließ die Zeitschrift Cambio 16 eine repräsentative Umfrage über den Bürgerkrieg durchführen.10 Danach bezeichneten 59 % der Befragten den Bürgerkrieg als ein Thema von Interesse, und 57 % hielten den Krieg für das wichtigste Ereignis zum Verständnis des gegenwärtigen Spanien; zugleich hielten sich aber 76 % für schlecht informiert. Fast drei Viertel aller Befragten (73 %) sahen im Bürgerkrieg eine beschämende Epoche in der Geschichte Spaniens, die besser vergessen werden sollte; genau die Hälfte der Befragten war der Meinung, dass auf beiden Seiten für die Freiheit und den Fortschritt Spaniens gekämpft worden war, und ganze 48 % stimmten der Auffassung zu, dass alle Handlungen Francos ihren 9 Vgl. Walther L. Bernecker/Sören Brinkmann: Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936–2010, 5. Aufl., Nettersheim 2011. In dieser Monographie wird die spanische Erinnerungsgeschichte von den 1930er Jahren bis in die unmittelbare Gegenwart skizziert. 10 Cambio 16, Nr. 616–619 vom 26. September bis 10. Oktober 1983.
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Beweggrund in seiner großen Liebe zu Spanien hatten. Auf die Frage: »Wenn Sie heute Partei ergreifen müssten: Für welche von beiden Seiten wären Sie zu kämpfen bereit?«, antwortete fast die Hälfte (48 %): für keine von beiden. Die Antworten dieser Umfrage der achtziger Jahre lassen das Ausmaß deutlich werden, in dem der Krieg das Bewusstsein der Nachfolgegenerationen geprägt hat, die ihn längst nicht mehr erlebt haben. Zum Zeitpunkt der Umfrage bestand die große Mehrheit des spanischen Volkes aus jenen, die den Krieg nur in seinen Folgen erlitten hatten. Und jene überwältigenden 73 %, die den Krieg für eine beschämende Epoche hielten, die besser vergessen werden sollte, drückten mit dieser Meinung ihr Interesse daran aus, nicht auf die alten Kriegsgeschichten zurück-, sondern von der versöhnten Gegenwart aus in die europäische Zukunft vorauszublicken. Ende 1995 gewährte die spanische Regierung auf Antrag des Parlaments allen noch lebenden Mitgliedern der Internationalen Brigaden die spanische Staatsangehörigkeit. Fast sechzig Jahre nach Beginn des Spanischen Bürgerkriegs erfüllte damit die Regierung in Madrid ein Versprechen, das noch während des Krieges – im November 1938 – der damalige Regierungschef Juan Negrín den Interbrigadisten gegeben hatte. Jahrzehntelang verhinderte die Diktatur Francos die Umsetzung dieses Versprechens; auch in den Jahren des friedlichen Übergangs in die Demokratie dachten die spanischen Politiker lange Zeit nicht an die ausstehende Dankesschuld. Als die »Vereinigung der Freunde der Internationalen Brigaden« (Asociación de Amigos de las Brigadas Internacionales) 1995 dann an die politischen Parteien mit der Aufforderung herantrat, sich für die Gewährung der Staatsbürgerschaft stark zu machen, waren alle im Parlament vertretenen Kräfte in seltener Einmütigkeit bereit, dieses Anliegen zu dem ihrigen zu machen. In der parlamentarischen Aussprache wurde in bewegten Worten des uneigennützigen Einsatzes der Brigadisten gedacht; von Freiheit, Demokratie, Großzügigkeit und vom Kampf für hehre Ideale war die Rede. Eines der Argumente lautete, die noch lebenden Brigadisten sollten auch »formal« jenes Land ihre Heimat nennen dürfen, das sie ein Leben lang in ihrem Herzen trugen. In der Begründung des parlamentarischen Antrages hieß es, dass nahezu sechzig Jahre nach Beginn des Bürgerkrieges und zwanzig nach Einsetzen des Demokratisierungsprozesses genug Zeit verflossen sei, »dass alle Spanier, die die Demokratie und die Freiheit lieben, aus der Gefasstheit der historischen Distanz jenen Teil ihrer Vergangenheit betrachten können, der vierzig Jahre lang eine offene Wunde darstellte«. Dass alle demokratischen Kräfte Spaniens den Interbrigadisten diese historische Anerkennung zukommen ließen, belegte in beeindruckender Weise den Willen der Spanier zur Aussöhnung im Innern, zugleich auch die Überzeugung der politisch Verantwortlichen, dass
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jene »Freiwilligen der Freiheit« (Voluntarios de la Libertad) sich mit ihrem Leben für Demokratie und Freiheit in Spanien und Europa eingesetzt hatten.11 Inwieweit dem politischen »Vergessen« in den Transitionsjahren (1975–1982) und der Epoche der sozialistischen Herrschaft (1982–1996) ein bewusster Konsens zugrundelag, ist schwer abzuschätzen. Tatsache ist aber, dass in den auf Francos Tod folgenden zwei Jahrzehnten die politischen Eliten (gleich welcher Couleur) in der Frage der Vergangenheitsaufarbeitung eine auffällige Zurückhaltung an den Tag legten.12 Bis vor wenigen Jahren war die Amnestie, die zu Beginn der Transition verkündet worden war, mit einer politischen Amnesie verbunden, die eine umfassende gesellschaftliche Aufarbeitung der Vergangenheit verhinderte. Kritiker sehen darin eines der größten Defizite der Transition, das der politischen Kultur des Landes erheblichen Schaden zugefügt habe. Als weiteren Indikator für die Imperfektion der Transition führen diese Kritiker die Behandlung der Familienangehörigen der auf republikanischer Seite im Bürgerkrieg »Verschwundenen« an. Während nämlich die franquistische Seite sofort nach dem Bürgerkrieg ihre Toten identifizieren und ehrenhaft bestatten konnte, ist dies mit den Republikanern bis heute nicht geschehen. Angeblich über 30.000 Republikaner warten darauf, aus anonymen Massengräbern in die Obhut der Familienangehörigen überführt zu werden. Seit 25 Jahren haben diese Familienangehörigen vergebliche Anträge an die demokratischen Regierungen gestellt; erst im Jahr 2002, nachdem die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen eingeschaltet worden war, kam Bewegung in diese Frage; erste Leichen wurden exhumiert und umgebettet. Und erst Ende 2002 verabschiedete das spanische Parlament eine Resolution, die die Regierung aufforderte, die Suchaktionen auch finanziell zu unterstützen und die politischen Opfer des Franquismus als solche anzuerkennen. Die damals regierende konservative Volkspartei konnte allerdings abermals verhindern, dass der Putsch von 1936 explizit verurteilt wurde; außerdem, so hieß es in der Resolution, dürfe die Anerkennung der Opfer nicht dazu benutzt werden, alte Wunden wieder aufzureißen. Eine Anklage gegen die damaligen Putschisten durfte somit nicht erhoben werden.
11 Vgl. Wolfgang Martin Hamdorf/Clara López Rubio: Spaniens Himmel … 60 Jahre danach: Interbrigadisten unterwegs, in: Tranvía, Nr. 44/1997, S. 52–54. 12 Vgl. hierzu Walther L. Bernecker: Zum Umgang mit ungeliebter Vergangenheit. Die spanische Gesellschaft und die Erinnerung an den Bürgerkrieg von 1936, in: Jürgen Weber/Michael Piazolo (Hg.): Justiz im Zwielicht. Ihre Rolle in Diktaturen und die Antwort des Rechtsstaates, München 1998, S. 111–130.
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Es scheint klar zu sein, dass diese Phänomene fehlender Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf den Kompromisscharakter der Transition zurückzuführen sind. Nach 1975 kam es formal zu keinem Bruch; daher konnte der Antifranquismus auch nicht – wie etwa die Resistenza in Italien – zum Gründungsmythos der neuen spanischen Demokratie werden. Es musste fast ein Vierteljahrhundert vergehen, bis jener gesellschaftliche »Konsens« der Übergangszeit, der einer Tabuisierung der franquistischen Verbrechen gleichgekommen war, aufgebrochen wurde. Im Grunde genommen findet eine umfassende gesellschaftlich-politische Aufarbeitung der franquistischen Vergangenheit in Spanien erst seit ungefähr zehn Jahren statt. Inzwischen lässt sich jedoch mit Gewissheit sagen, dass die seit dem Übergang zur Demokratie weitgehend totgeschwiegene Erinnerung an die zahllosen Opfer von Bürgerkrieg und Diktatur gegen Ende des Jahrtausends in die Öffentlichkeit zurückgekehrt ist.13 Wachsende Aktualität gewann vor allem das Problem der Vergangenheitsbewältigung. Besonders umstritten war dabei die Frage, ob jener sprichwörtliche »Pakt des Schweigens« im politischen Diskurs auf kollektiver Einsicht beruhte oder von den in der Transition herrschenden politischen Eliten schlicht oktroyiert wurde. Gegen die kritischen Interpretationen behauptet der Madrider Historiker Santos Juliá, dass die historische Erinnerung lediglich aus der Politik, jedoch keineswegs aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt wurde. Der »Konsens des Schweigens« sei der weisen Absicht gefolgt, die Geschichte aus dem politischen Meinungsstreit herauszuhalten, und habe zugleich den Weg für eine nüchterne und ausgewogene Aufarbeitung durch die Fachhistorie geöffnet.14 Dagegen beklagen der Politikwissenschaftler Vicenç Navarro sowie andere Historiker und Publizisten das Fehlen einer offiziellen Erinnerungskultur, einer kritischen Geschichtsbildung in der Bevölkerung, die letztlich auch eine potentielle Gefahr für die Legitimität der Demokratie darstellt. Darüber hinaus wendet Navarro sich gegen die allgemeine Tendenz zu einer verharmlosenden Gleichsetzung von
13 Vgl. etwa Teresa M. Vilarós: El mono del desencanto, a. a. O.; Joan Ramón Resina (Hg.): Disremembering the Dictatorship. The Politics of Memory in the Spanish Transition to Democracy, Amsterdam 2000; Alberto Medina Domínguez: Exorcismos de la historia. Políticas y poéticas de la melancolía en la España de la transición, Madrid 2001. Vgl. auch Eduardo Subirats: Después de la lluvia: Sobre la ambigua modernidad española, Madrid 1993. 14 Santos Juliá: Raíces y legados de la transición, in: ders./Javier Pradera/Joaquín Prieto (Hg.): Memoria de la transición, Madrid 1996, S. 679–682; und ders.: Echar al olvido. Memoria y amnistía en la transición, in: Claves de razón práctica, Nr. 129/2002, S. 14–24.
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Tätern und Opfern, die mit fragwürdiger Absicht den Kampf beider Seiten auf den Wunsch nach einem besseren Spanien reduziere.15 Von der Tagespresse aufmerksam verfolgt, ist außerdem die Frage der franquistischen Repression zum Thema von Fachtagungen und wissenschaftlichen Publikationen avanciert.16 Neue Archivalien erlaubten dabei die Aufdeckung einer erschreckenden Systematik des staatlichen Repressionsapparates, der bis Anfang der fünfziger Jahre schätzungsweise 140.000 Todesopfer forderte und Hunderttausende von Republikanern in über hundert Arbeitslagern ausbeutete.17 Besondere Aufmerksamkeit erhielten schließlich die »Verschwundenen« des Bürgerkrieges, jene in den ersten Kriegswochen von den Aufständischen mehr oder weniger systematisch Ermordeten, zu denen auch der prominente Schriftsteller Federico García Lorca zählte. 1995 bereits – somit noch in der Regierungszeit der Sozialisten – hatte das Verteidigungsministerium ein Abkommen mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge geschlossen, um die sterblichen Überreste der rund 4.500 spanischen Soldaten würdig gemeinsam auf dem Friedhof Pankovka zu bestatten, die als Mitglieder der Blauen Division im Kampf um Leningrad gefallen waren. Da die deutsche Seite den größeren Teil der Finanzlast übernahm, hatte die spanische Regierung bis Frühjahr 2003 nur rund 130.000 Euro investieren müssen; zwischenzeitlich konnten knapp 1.200 Leichen umgebettet werden.18 Seither wurde der Ruf
15 Vicenç Navarro: Bienestar insuficiente, democracia incompleta. Sobre lo que no se habla en nuestro país, Barcelona 2002. 16 Vgl. die Sammelrezension von Walther L. Bernecker: Entre la historia y la memoria: Segunda República, Guerra Civil española y primer franquismo, in: Iberoamericana, Nr. 11/2003, S. 227–238; und neuerdings Xosé-Manoel Núñez: Ein endloser Erinnerungskrieg? Bürgerkrieg, Diktatur und Erinnerungsdiskurs in der jüngsten spanischen Geschichtswissenschaft, in: Neue Politische Literatur, Jg. 55, Nr. 1/2010, S. 23–50. 17 Zu diesen Ergebnissen gelangte eine Tagung, die im Oktober 2002 im Museum für Geschichte Kataloniens in Barcelona stattfand. Vgl. Santos Juliá (Hg.): Víctimas de la guerra civil, Madrid 2004 (1. Aufl. 1999); Carlos Elordi (Hg.): Los años difíciles. El testimonio de los protagonistas anónimos de la guerra civil y la posguerra, Madrid 2002; Rafael Torres: Desaparecidos de la guerra civil de España, Madrid 2002; Julián Casanova (Hg.): Morir, matar, sobrevivir. La violencia en la dictadura de Franco, Barcelona 2002; Rodolfo Serrano/Daniel Serrano: Toda España era una cárcel, Madrid 2002. 18 Vgl. Fernando Garrido Polonio/Miguel Angel Garrido Polonio: Nieve roja. Los españoles desaparecidos en el frente ruso, Madrid 2002; Manoel Núñez: Ein endloser Erinnerungskrieg?, a. a. O., S. 44 f.
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laut, nun auch die schätzungsweise 30.000 republikanischen »Verschwundenen« in ähnlicher Weise zu behandeln. Der seit dem Jahr 2000 mit absoluter Mehrheit regierende konservative Partido Popular sollte sich in dieser Hinsicht jedoch als Hüter des franquistischen Erbes erweisen und sich mehrfach sowohl der öffentlichen Verurteilung des Militärputsches als auch der finanziellen Unterstützung von Exhumierungen verweigern19; im November 2002 verurteilte zwar das spanische Parlament schließlich einstimmig die franquistische Diktatur und versprach den Familienangehörigen finanzielle Unterstützung, die eine Öffnung der anonymen Massengräber und eine Umbettung ihrer für die Republik gestorbenen Verwandten anstrebten; in der Folge weigerte sich die Regierung allerdings, die beantragten Mittel zu gewähren. Angesichts der lange Zeit ablehnenden Haltung der Regierung schritt im Herbst 2000 eine Bürgerinitiative in der nordkastilischen Ortschaft Priaranza del Bierzo selbst zur Tat und führte – von mehreren professionellen Archäologen unterstützt – die Exhumierung der Leichname von 13 »Verschwundenen« des Bürgerkrieges durch. Das große öffentliche Echo auf die Exhumierungen in Kastilien-León hatte die Gründung des »Vereins zur Rückgewinnung der historischen Erinnerung« (Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica, ARMH) sowie einiger ähnlicher Plattformen mit Internet-Präsenz zur Folge.20 Die Asociación wurde von dem Journalisten Emilio Silva gegründet, der nach seinem verschollenen Großvater suchte.21 Seither kämpft der Verein um die landesweite Aufklärung von politischen Morden und Massenhinrichtungen, die die Aufständischen während des Bürgerkrieges an den Anhängern der Republik verübt haben. Angesichts der großen Zahl nicht identifizierter Toter fehlen dem Verein jedoch die für die Exhumierungen erforderlichen Mittel.22
19 Im Februar 2002 etwa überstimmte der Partido Popular eine Gesetzesinitiative aller übrigen parlamentarischen Fraktionen, die vorsah, die Opfer des Franquismus zu rehabilitieren und ökonomisch zu entschädigen. Und als die Linkspartei Izquierda Unida im Oktober 2002 einen Antrag auf Anerkennung der franquistischen Zwangsarbeiter (esclavos del franquismo) präsentierte, stimmte die »Volkspartei« zwar zu, lehnte jedoch erneut eine ökonomische Entschädigung ab. 20 Vgl. hierzu die Internetseiten der ARMH: URL: http://www.geocities.com/priaranza36 [23.10.2010] sowie der Vereinigung despage: URL: http://www.nodo50.org/ despage [23.10.2010]. Vgl. weitere Internetadressen zur aktuellen Vergangenheitsarbeit in Spanien bei Walther L. Bernecker/Sören Brinkmann: Kampf der Erinnerungen, a. a. O. 21 Vgl. Emilio Silva: Las fosas de Franco. Crónica de un desagravio, Madrid 2005. 22 Vgl. URL: http://www.memoriahistorica.org [23.10.2010].
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Mit der geradezu buchstäblichen »Entdeckung« jener Verbrechen, die im Namen des franquistischen Staates seit Ausbruch des Bürgerkrieges begangen wurden, begann nun die öffentliche Konfrontation mit einer Vergangenheit, die aus Sicht der Fachhistorie schon seit längerem kaum noch Geheimnisse barg. Die breite Öffentlichkeit indes betrat mit dieser Auseinandersetzung ein Neuland, das lange Zeit aufgrund der politischen Unwägbarkeiten sehr bewusst gemieden worden war. Bedeutsam ist dieser Vorgang wohl weniger für eine allgemeine Öffentlichkeit als für die individuelle Ebene. Zwar steht die juristische Aufarbeitung der unter der Diktatur begangenen Menschenrechtsverletzungen auch jetzt nicht auf der Tagesordnung. Folgt man jedoch den Stimmen derjenigen, die den unaufgeklärten Verlust eines Angehörigen zu beklagen haben, so geht es heute weniger um Rache und Vergeltung als um Aufklärung und Symbolik. Für viele Betroffene scheint die öffentliche Anerkennung des geschehenen Unrechts in Form einer durch den demokratischen Staat betriebenen Aufklärung jedenfalls der Geste genug, um mit der jüngsten Vergangenheit ihren Frieden zu schließen. Dabei ist allerdings kaum abzusehen, welche Dynamik und welches tatsächliche Ausmaß die Auseinandersetzung mit den dunkelsten Kapiteln der Zeitgeschichte noch gewinnen kann, zumal die Generation der Zeitzeugen in naher Zukunft endgültig an die natürlichen Altersgrenzen gelangt sein wird. War somit eine kritische Auseinandersetzung mit der jüngsten spanischen Vergangenheit bis vor kurzem nicht Thema für eine breitere Öffentlichkeit, so existierten doch stets Rand- und Teilöffentlichkeiten, in denen die Erinnerung an Krieg und Diktatur durchaus präsent war. An vorderster Stelle ist hier neben dem Spielfilm vor allem die Literatur zu nennen, die schon lange vor dem Ende der Diktatur den offiziellen Propagandadiskursen subversive Alternativbilder der spanischen Realität entgegengestellt hat.23 Nach 1975 etablierten sich dann Bürgerkrieg und Franquismus in der Literatur sehr schnell als »Orte der Erinnerung« (Pierre Nora). Neben vielen anderen sei insbesondere verwiesen auf Manuel Vázquez Montalbán, Antonio Muñoz Molina, Rafael Chirbes, Manuel Rivas, Juan Manuel de Prada und
23 Vgl. hierzu etwa David Herzberger: Narrating the Past. Fiction and Historiography in Postwar Spain, Durham 1995. Zum Spielfilm über Bürgerkrieg und Diktatur im spanischen Kino und Fernsehen nach 1975 vgl. den sehr dokumentierten Beitrag von David Rey: Die Franco-Ära in der medialen Geschichtskultur Spaniens. Bürgerkrieg und Diktatur in Kino und Fernsehen seit 1975, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte, Bd. 4/2003, S. 113–160.
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neuerdings Andrés Trapiello, Dulce Chacón sowie Javier Cercas.24 Einige dieser Werke sind inzwischen auch erfolgreich verfilmt worden.25 Eine vergleichbare Wirkung wie literarische Verarbeitungen und Spielfilme hatten auch historische Ausstellungen und Dokumentarfilme über die politische Repression, das Exil und den Widerstand der maquis, und das neu erwachte fachhistorische Interesse hat dem Thema der Vergangenheitsbewältigung letztlich eine breitere Repräsentation in der Öffentlichkeit als jemals zuvor verschafft.26 Was den Zusammenhang von öffentlicher Aufarbeitung der franquistischen Repression und Bürgerkriegshistoriographie betrifft, verdient die These von Santos Juliá Aufmerksamkeit: Er bestreitet bekanntlich, dass es in Spanien je einen »Pakt des Schweigens« gegeben habe; im öffentlichen Diskurs sei die Erinnerung vielmehr stets präsent gewesen. Erst die Erinnerung habe als stete Mahnung den entscheidenden Impuls für die Aushandlung der Amnestien in der Frühphase der Transition gegeben und jenes »heilsame« Vergessen ermöglicht, durch das der Bürgerkrieg als Argument des politischen Wettbewerbs gebannt werden konnte. Juliá verweist auf die intellektuelle Vorgeschichte der Transition, in der sich die gemäßigten Kräfte innerhalb und außerhalb des Regimes schon lange vor dem Tod des Diktators angenähert und den späteren
24 Vgl. (eine knappe Auswahl) Antonio Muñoz Molina: Beatus Ille, Madrid 1985; ders.: Sefarad. Novela de novelas, Madrid 2001; Fernando Díaz-Plaja: El desfile de la Victoria, Madrid 1976; Jesús Torbado: En el día de hoy, Barcelona 1979; Manuel Vázquez Montalbán: El pianista, Barcelona 1985; Rafael Chirbes: La Larga Marcha, Barcelona 1996; Juan Manuel de Prada: Las máscaras del héroe, Madrid 1996; Manuel Rivas: El lápiz del carpintero, Madrid 1998; ders.: ¿Qué me quieres amor?, Madrid 1996; Andrés Trapiello: La noche de los cuatro caminos. Una historia del maquis. Madrid 1945, Madrid 2001; Javier Cercas: Soldados de Salamina, Barcelona 2001; Dulce Chacón: La voz dormida, Madrid 2002; Jesús Ferrero: Las trece rosas, Madrid 2003. Zur romanhaften Verarbeitung der Transition vgl. Juan Luis Cebrián: Francomoribundia, Madrid 2003. 25 Zum Beispiel »Soldados de Salamina« (2002) unter der Regie von David Trueba. Das Buch zur Entstehung des Films: Javier Cercas/David Trueba: Diálogos de Salamina. Un paseo por el cine y la literatura, Madrid 2002. Vgl. auch den Film von Montxo Armendáriz »Silencio roto« (2001) über die Guerrilla in der Nachkriegszeit und den Dokumentarfilm (Produzent: Montxo Armendáriz; Regie: Javier Corcuera) »La guerrilla de la memoria« (2002) mit Interviews von Überlebenden des maquis. Vergleichbar in der Anlage (Gespräche mit Überlebenden) ist Jaime Caminos »Los niños de Rusia« (2001). 26 Vgl. den sehr dokumentierten Überblick mit vielen Literaturhinweisen von Manoel Núñez: Ein endloser Erinnerungskrieg?, a. a. O.
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Versöhnungsdiskurs gewissermaßen mental vorbereitet hätten. Deutlichstes Anzeichen dafür war die allmähliche Umdeutung des Bürgerkriegs, der nun – von ideologischer Last und gegenseitigen Schuldzuweisungen befreit – in erster Linie als ein kollektives Unglück betrachtet wurde, für das beide Seiten gleichermaßen Verantwortung trugen. Hinter den aktuellen Erinnerungsansprüchen steht somit, folgt man Juliá, nicht die Ablehnung eines (ohnehin inexistenten) »Verschwiegenheitspaktes«, sondern die Aufkündigung des Erinnerungskonsenses der Transition, der eine gleichmäßige Verteilung der Schuld implizierte.27 Letztere Beobachtung lässt sich durchaus empirisch belegen: Denn in der Tat wurde in den Veröffentlichungen der letzten zehn Jahre mit mehr Nachdruck als früher die Illegitimität des Militärputsches von 1936 betont sowie die systematische Repression auf franquistischer Seite herausgearbeitet. Die franquistische Bürgerkriegs- und Nach-Bürgerkriegsrepression wurde geradezu zu einem neuartigen Zweig der Geschichtswissenschaft. Auf der anderen Seite formierte sich auch das konservative Deutungslager. Autoren wie Pío Moa oder César Vidal, die nahezu die gesamte Verantwortung für den Bürgerkrieg bei der Linken abladen, haben mit zahlreichen Publikationen in den letzten Jahren erstaunliche Verkaufserfolge gefeiert.28 Die relative Interpretationshomogenität ist somit wieder ausgeprägterer Deutungsdiskrepanz gewichen. Dass die gesellschaftliche Aufarbeitung der franquistischen Repressionsvergangenheit in den letzten Jahren zu einem so unerwartet bedeutenden Thema in Spanien wurde, hing damit zusammen, dass von 1996 bis 2004 in Madrid der konservative Partido Popular (PP) unter José María Aznar die Regierung stellte. Von Anfang an verhielt sich in geschichtlichen und geschichtspolitischen Fragen die PP-Regierung als Sachwalterin des franquistischen Erbes. Auf die Initiativen der Opposition, 60 Jahre nach Kriegsende (1939–1999) das Andenken der Bürgerkriegsexilanten zu ehren und Gelder für deren Entschädigung bereitzustellen, reagierte die Regierungspartei ablehnend – angeblich, da der Text des Gesetzentwurfs eine Verurteilung des Militärputsches von 1936 enthielt. Auch in der Folgezeit beharrte der PP darauf, dass der Bürgerkrieg eine »überwundene Phase« spanischer Geschichte darstelle. In ihrer zweiten Amts27 Santos Juliá: Echar al olvido, a. a. O., S. 14–24. 28 Vgl. exemplarisch Pío Moa: Los orígenes de la Guerra Civil española, Madrid 1999; ders.: Los mitos de la Guerra Civil, Madrid 2004; ders.: Los crímenes de la Guerra Civil y otras polémicas, Madrid 2004; César Vidal: Checas de Madrid: las cárceles republicanas al descubierto, Barcelona 2003. Zur historiographischen Einordnung dieser rechts-revisionistischen Positionen vgl. Manoel Núñez: Ein endloser Erinnerungskrieg?, a. a. O., S. 39–46.
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zeit lehnte die Regierung Aznar über 25 parlamentarische Initiativen ähnlicher Stoßrichtung ab. Zivilgesellschaftlich führte diese Regierungshaltung allerdings zu verstärkten, von den Oppositionsparteien zumeist unterstützten Aktivitäten, wie etwa zur Gründung der »Vereinigung zur Rückgewinnung der historischen Erinnerung«. Bis zum Ende der Regierung Aznar im März 2004 behinderte die Exekutive nahezu jegliche Erinnerungsarbeit, die einer Verurteilung der franquistischen Verbrechen gleichgekommen wäre. Erst die im Frühjahr 2004 nach den islamistischen Terroranschlägen von Madrid überraschend ins Amt gekommene sozialistische Regierung von Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero (PSOE) schlug eine neue Tonart an und beschloss die Einsetzung einer Untersuchungskommission, die Vorschläge zur »moralischen und juristischen Rehabilitation« der Repressionsopfer erarbeiten sollte. Bald war die Rede von einem »Wiedergutmachungsgesetz«. Das wiederholt angekündigte »Gesetz zur moralischen Rehabilitierung der Opfer von Bürgerkrieg und Diktatur«, das umgangssprachlich nur »Gesetz der historischen Erinnerung« (Ley de Memoria Histórica) genannt wird, wurde nach mehreren Verschiebungen und Verzögerungen im Sommer 2006 endlich vom Ministerrat verabschiedet. Der Gesetzesentwurf sah vor, dass das spanische Parlament mit einer Dreifünftelmehrheit ein fünfköpfiges Expertengremium einsetzen sollte, das ein Jahr lang über Anträge zu befinden gehabt hätte, als Opfer des Franco-Regimes anerkannt zu werden und finanzielle Wiedergutmachung zugesprochen zu bekommen. Über die moralische Rehabilitierung sollte somit auf Einzelantrag entschieden werden. Bei den bestehenden Mehrheitsverhältnissen im Parlament konnte dieses Gremium nur mit Zustimmung der konservativen Volkspartei ernannt werden; die Volkspartei gab Anfang 2007 allerdings zu verstehen, dass sie die Einsetzung eines derartigen Gremiums definitiv ablehnte. Damit aber hatte das »Herzstück« des Gesetzes keine Aussicht auf Realisierung. Der Gesetzesentwurf kam auch der Forderung vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen nicht nach, die Urteile der franquistischen Militär- und Sondergerichte pauschal zu »Unrechtsurteilen« zu erklären; Ministerpräsident Zapatero erklärte, der spanischen Regierung sei es nicht möglich, die Urteile der Franco-Justiz in toto aufzuheben, da ein derartiger Akt einen »Bruch der Rechtsordnung« bedeuten würde. Im Herbst 2006 begann die parlamentarische Debatte. Bald war abzusehen, dass der Gesetzesentwurf in der vorgelegten Form keine parlamentarische Mehrheit finden würde. Die Konservativen lehnten das gesamte Projekt ab, da es angeblich die Gräben der Vergangenheit wieder aufriss. Die links von den Sozialisten angesiedelten Parteien und die zivilgesellschaftlichen Organisationen kritisierten den Entwurf, da er ihnen nicht weit genug ging. Es war keine
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Aufhebung der franquistischen Unrechtsurteile vorgesehen, die finanzielle Unterstützung der Exhumierungsarbeiten hielt sich in engen Grenzen. Das Gesetz bewegte sich im Wesentlichen im symbolischen Bereich. Ende 2006 rückte der PSOE allmählich von seinem Gesetzesentwurf ab und kündigte eine gründliche Überarbeitung an, um doch noch eine parlamentarische Mehrheit für sein Vorhaben zu erhalten. Zu den polemischen Aspekten des Gesetzesprojektes hatte die Regierungsabsicht gehört, die Gerichtsurteile des Franquismus »aus Gründen der Rechtssicherheit« nicht zu annullieren. Trotz massiver Kritik seitens der Linken beharrte die Regierung auf ihrer Haltung, erklärte sich nunmehr aber bereit, die »Ungerechtigkeit« der Verurteilungen und Strafen anzuerkennen und die Sondertribunale als »illegitim« zu bezeichnen.29 Wirtschaftliche Entschädigungsfolgen sollte das Gesetz allerdings nicht haben. Erst im Oktober 2007 konnte nach hektischen Schlussverhandlungen und zahlreichen Kompromissen eine Parlamentsmehrheit für das umstrittene Gesetz erreicht werden. Nur der konservative Partido Popular und die katalanischen Linksrepublikaner verweigerten sich. Die wichtigsten Bestimmungen des Gesetzes sind folgende: Der Franquismus wird explizit verurteilt. Die Gerichtshöfe, die während des Bürgerkrieges Urteile aus politischen, ideologischen oder religiösen Gründen fällten, werden als »illegitim« bezeichnet, ebenso die Gerichtsurteile während der Diktatur, die in diese Kategorie fallen. Die Normen, die im Franquismus unter Verletzung der Grundrechte verabschiedet wurden, sind juristisch ungültig. Unmittelbare juristische oder wirtschaftliche Folgen hat das Gesetz nicht, wenn auch die Illegitimität der Gerichtsurteile bei einer beantragten Revision oder Aufhebung derselben ein wichtiges Argument sein wird. Der Staat verpflichtet sich, bei der Öffnung der Massengräber von Hingerichteten und der Exhumierung von Leichen zu helfen. Außerdem müssen von allen öffentlichen Gebäuden die Symbole, die das franquistische System verherrlichen, entfernt werden; dies gilt auch für entsprechende Straßenbezeichnungen. Falls die Kirche sich weigert, die Inschriften der so genannten »Märtyrer für Gott und Spanien« zu entfernen, kann ihr die ihr ansonsten zustehende finanzielle Unterstützung seitens des Staates entzogen werden. Das »Tal der Gefallenen«, wo Francisco Franco und José Antonio Primo de Rivera, der Gründer der Falange Española, ruhen, darf nicht mehr zu politischen Demonstrationen genutzt werden.
29 Vgl. El proyecto de Ley de Memoria Histórica divide al Congreso, in: El País vom 14. Dezember 2006, S. 30 f. Vgl. auch den Wortlaut des Gesetzesentwurfs in El País vom 20. April 2007, S. 18.
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Trotz aller nach wie vor von zivilgesellschaftlichen Organisationen geübten Kritik muss jedoch betont werden, dass die Ley de Memoria Histórica im Vergleich zu den vorhergehenden Jahrzehnten geradezu einen Meilenstein im offiziellen Umgang mit der jüngeren Vergangenheit bedeutet: Während der langen Franco-Diktatur war eine kritische Auseinandersetzung mit Bürgerkrieg und terroristischer Nachkriegsphase nicht möglich gewesen. Am Anfang der neuen Demokratie stand dann ein Generalkonsens aller relevanten politischen Lager, demzufolge alle Seiten auf eine allzu explizite Verurteilung der jüngsten Vergangenheit verzichteten.30 Als gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine neue, deutlich jüngere Generation von Spaniern der Erinnerungskultur neue Popularität verschaffte, wurde schnell deutlich, dass das Gedenken an Krieg und Diktatur keineswegs auf einem Erinnerungskonsens beruhte, der zu einem Ausgleich der politischen Lager führen würde, sondern – ganz im Gegenteil – zu einer Vertiefung der gesellschaftlichen Spaltung führte. Offenbar ist in Spanien eine kritische Aufarbeitung der Geschichte nur um den Preis verschärfter politischer Konfrontationen und einer Art Lagerbildung zu haben. Diese Erkenntnis bestätigt nachträglich die politische Klugheit des vielgeschmähten »Schweigepaktes« der Transition, denn eine derart polarisierende gesellschaftliche Debatte, wie sie Spanien in den letzten Jahren geführt hat, hätte die erst im Entstehen begriffene Demokratie kaum verkraften können. Gute dreißig Jahre später sieht die Situation anders aus. Es ist ja weitgehend unstrittig, dass von Vergangenheitsarbeit überwiegend positive Impulse für die demokratische Konsolidierung eines Gemeinwesens zu erwarten sind, da sie Vertrauen in die Institutionen des Rechtsstaates schafft. So bleibt auch im spanischen Fall zu hoffen, dass der mühsam erarbeitete Gesetzeskompromiss nach den Verwerfungen der letzten Jahre die Grundlage für einen längerfristig offenen, vorurteilslosen Umgang mit der Geschichte gelegt hat. Nach einem von der Zentralregierung erarbeiteten kartographischen Verzeichnis aller Massengräber der franquistischen Repression beläuft sich deren Anzahl nach derzeitigen Erkenntnissen auf insgesamt 2.052. Auf Initiative privater Erinnerungsgruppen wurden davon bisher lediglich 230 Gräber exhumiert und auf diese Weise insgesamt 5.277 Opfer der franquistischen Repression geborgen. Zwischen 2006 und 2010 hat sich die spanische Regierung mit insgesamt mehr als 19 Millionen Euro an den Aktivitäten der 30 Einen guten Überblick über die (fehlenden) Vergangenheitspolitiken seit der Transition bis heute liefert Javier Rodrigo: La Guerra Civil: »Memoria«, »Olvido«, »Recuperación« e Instrumentalización, in: Hispania Nova. Revista de Historia Contemporánea, Nr. 6/2006, im Internet unter: URL: http://hispanianova.rediris.es [23.10.2010].
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Erinnerungsbewegung beteiligt, von denen 5,9 Millionen – also knapp ein Drittel – in 150 Exhumierungsprojekte geflossen sind. Überschattet werden die positiven Effekte des Erinnerungsgesetzes von der Affäre um den prominenten Untersuchungsrichter am Nationalen Gerichtshof, Baltasar Garzón, der auf Antrag mehrerer Erinnerungsgruppen ein strafrechtliches Untersuchungsverfahren eröffnete, um das Schicksal von rund 114.000 »verschwundenen« Repressionsopfern der Jahre 1936 bis 1951 aufzuklären. General Franco und 34 weitere hochrangige Regimevertreter fanden sich posthum auf der Anklagebank eines spanischen Gerichts wieder. Schon im November 2008 kam die Strafkammer der Audiencia Nacional jedoch zu dem Schluss, dass Garzón für die strafrechtliche Verfolgung der Verbrechen der Franco-Diktatur aus formalen Gründen nicht zuständig sei, weshalb dieser das Verfahren an die zuständigen Provinzgerichte delegierte, wo es in der Regel allerdings nicht weiter verfolgt wurde. Der Höhepunkt der Affäre folgte im Frühjahr 2010, als der übergeordnete Oberste Gerichtshof mehrere gegen Garzón gerichtete Strafanzeigen zur Weiterbehandlung annahm. In zwei der Klageschriften werden dem Untersuchungsrichter unter Verweis auf das Amnestiegesetz von 1977 Kompetenzüberschreitung und Rechtsbeugung vorgeworfen. Der Beschluss der Justizaufsichtsbehörde, Garzón angesichts der bevorstehenden Eröffnung eines Strafverfahrens vor dem Obersten Gerichtshof im Mai 2010 vom Dienst zu suspendieren, wurde dann zum Auslöser einer zivilgesellschaftlichen Mobilisierung, die deutlich über das bisher in der Erinnerungsbewegung repräsentierte Milieu hinausging. Schon im April 2010 hatte sich die öffentliche Empörung in Form einer landesweiten Protestdemonstration unter dem Motto »Gegen die Straflosigkeit« Bahn gebrochen, die auch auf die Unterstützung durch namhafte Kunstschaffende zählen konnte. Wie jüngste Umfragen belegen, hat die gesellschaftliche Akzeptanz der Anliegen der Erinnerungsbewegung deutlich zugenommen. Drei Jahre nach Inkraftsetzung des »Memoria histórica-Gesetzes« ist die vergangenheitspolitische Bilanz aus Sicht der Bürgerinitiativen alles andere als befriedigend, zumal in der kommenden, 2012 beginnenden Legislaturperiode mit massivem politischen Gegenwind seitens der wahrscheinlich die Regierung stellenden konservativen Volkspartei zu rechnen ist. Auch 35 Jahre nach Francos Tod ist kein Ende der erbitterten Auseinandersetzungen um die Vergangenheitsaufarbeitung abzusehen.31
31 Vgl. Walther L. Bernecker/Sören Brinkmann: Kampf der Erinnerungen, a. a. O.
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Die sowjetische Vergangenheit im heutigen Russland
Der Ausgangspunkt Die »Aufdeckung der historischen Wahrheit« und die »Beseitigung weißer Flecken in der Geschichte« waren Schlüsselbegriffe für die Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit in der Epoche der Perestrojka. Sie setzten enorme gesellschaftliche Energien frei. Die Menschen glaubten an die Bereitschaft der Staatsmacht, auf Bevormundung zu verzichten und einen offenen Dialog zu führen. Die Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert avancierte zum populärsten Thema dieses Dialogs. Für uns Berufshistoriker begann eine glänzende Zeit, obwohl es, wie sich herausstellte, nur glanzvolle Illusionen waren. Wir fühlten uns damals wie Propheten, die dank ihres Wissens über die Vergangenheit den einzig richtigen Weg in die Zukunft begründen könnten. Dieser Weg schien uns kurz, einfach und geradlinig: von der Diktatur zur Demokratie, mit Anschluss an die westeuropäischen Entwicklungen der Nachkriegszeit. Fast ein Viertel Jahrhundert ist inzwischen vergangen, doch Russland ist noch immer auf dem Weg, noch immer auf der Suche nach sich selbst und seinem Platz im neuen Europa. Dieser Umstand übt wohl den wichtigsten Einfluss auf die aktuelle Erinnerungskultur in unserem Land aus. Sie wird nicht von oben aufgezwungen, wie in der Zeit der Sowjetunion, aber auch nicht von außen implementiert, wie in den Perestrojka-Jahren. Das Konzept der »Erziehung durch Vergangenheit« erlitt ebenso schnell eine Niederlage wie das Projekt des Aufbaus einer »strahlenden Zukunft«. Vergleicht man dies mit der Entwicklung in Nachkriegsdeutschland, kommen gewisse Parallelen zur »Vergangenheits-Amnesie« der frühen 1950er Jahre zum Vorschein, als die Erfahrung des Dritten Reiches noch zu nah war, um sie »historisieren« zu können. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass die sowjetische Vergangenheit aus dem öffentlichen Bewusstsein der russischen Bürger gänzlich verschwunden ist. Sie hat sich vielmehr transformiert, in viele Teile aufgelöst, die sich in den Köpfen zu ganz unterschiedlichen Bildern zusammensetzen. Aus der atomisierten Gesellschaft, wie es einst im Totalitarismus-Modell hieß, ist eine atomisierte Vergangenheit erwachsen.
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Daraus folgt: Weder der Staat noch die Historikerzunft beanspruchen das Monopol der historischen Wahrheit für sich – und das ist gut so. Es gibt aber auch eine Schattenseite: Unsere jüngste Vergangenheit ist weitgehend privatisiert, sie wird nicht selten für Auseinandersetzungen verschiedener politischer Gruppen und Interessen missbraucht. »Aus der Geschichte lernen können und müssen« – daran glaubt heute nur noch eine verschwindende Minderheit der Bürger in Russland. Die Beschäftigung mit der Sowjetvergangenheit, auch mit ihren tragischen Seiten, ist eher zur puren Unterhaltung geworden, die die Massenmedien im Lande geschickt entsprechend ihrem von oben gestellten Auftrag betreiben. Es ist unnötig zu betonen, dass dies eine ganz andere Situation ist als in den EU-Ländern, wo sich längst ein Konsens liberaler Werte, auch in Bezug auf die Interpretationen der Vergangenheit, herausgebildet hat.
Russland und Europa: historische und politische Dimensionen Umgangssprachlich ist im Russischen der Begriff »Europa« ein Synonym für »Ausland«. Dabei weiß jeder Russe, dass unser Land vom historischen Standpunkt aus zu Europa gehört. Dabei geht es weniger um die gemeinsamen Wurzeln der abendländischen Kultur, sondern vielmehr um die Geschichte der letzten Jahrhunderte, seitdem – nach den bekannten Worten Alexander Puschkins – Zar Peter der Große in Sankt Petersburg »das Fenster nach Europa aufgestoßen hat«. Danach war das Schicksal Russlands mit Europa aufs Engste verbunden. Denkt man an alle Kriege von Napoleon bis Hitler, so konnte das Land keinem ausweichen. Auch zur Epoche der ideologischen Extreme und Revolutionen leistete Russland seinen Beitrag, und nicht den geringsten. Dann folgte die Abkehr von Europa – zu eben jener Zeit, als die Rote Armee an der Elbe stand und viele Politiker das Zeitalter der Vereinten Nationen heraufziehen sahen. In der Zeit des Kalten Krieges kam Russland geographisch nach Europa, doch trennte es sich politisch von ihm. Die vielbeschworene Konkurrenz der Systeme war weniger ideologisch als machtpolitisch bestimmt. Dies bedeutet jedoch kein Pardon für die damaligen Herrscher im Kreml – nie waren der Osten und der Westen des Kontinents so weit voneinander entfernt wie zu jener Zeit, als gerade die ersten Ansätze der Globalisierung neue Strategien und Wege zu gemeinsamen Werten forderten. Auf die Abkehr folgte die Wiederkehr oder wenigstens ein Versuch dazu, der längst noch nicht abgeschlossen ist. Vieles, was in der Zeit der Perestrojka möglich schien, wurde leider nicht realisiert. Heute ist schon fast vergessen, dass wir Anfang der 1990er Jahre von
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einem gemeinsamen europäischen Haus sprachen. Ost und West haben sich damals feierlich versprochen, Europa als Ganzes zu betrachten und keinen Eisernen Vorhang und keine politischen Mauern mehr in diesem Raum zuzulassen. Über diesen Widerspruch – historisch, geistig, aber nicht politisch in Europa zu sein – wird in meinem Land, vor allem unter den jungen Leuten, viel diskutiert. Diese Debatten sind emotional aufgeladen, man hört ab und an Gespräche über den undankbaren Westen, der immer noch Angst vor Russland habe, dem eine neue Mauer recht wäre, mit zwei Löchern: eines für Erdgasund eines für Erdöl-Pipelines. »Wir sind die Rest-Europäer«, sagen russische Studenten, wenn sie ein Auslandssemester in der EU realisieren möchten und sich dabei mit vielen bürokratischen Hürden konfrontiert sehen. Aber gleichzeitig birgt die heutige Situation, in der Russland nur mit einem Fuß in Europa steht, große Chancen und Herausforderungen für meine Landsleute. Man muss unsere Nachbarn und Partner im Westen davon überzeugen, dass Russland nicht nur eine glorreiche gemeinsame Geschichte auf diesem Kontinent hat, sondern auch einen klaren Willen zur Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft vorweisen kann. Das beweisen auch die Ergebnisse aktueller soziologischer Umfragen.1 Der Wunsch der russischen Bürger, vollwertige Europäer zu sein, ist unverkennbar. Sogar auf die Frage »Soll Russland der EU beitreten?« antworten immerhin 36 % der Befragten mit Ja, und je höher der Bildungsgrad, desto positiver die Einstellung. Noch ein Drittel wünscht sich eine besondere Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Russland. Bei der Frage nach dem Ist-Zustand stellt sich die Situation allerdings anders dar: 45 % der Befragten sind der Meinung, dass Russland ein Teil von Europa ist, und 40 % unterstützen die Aussage, dass wir eine eigenständige Kultur sind, die mehr nach Osten als nach Westen schauen soll. Es ist unverkennbar, dass bei dieser tiefen Spaltung der öffentlichen Meinung zu diesem Thema die historische Erfahrung eine herausragende Rolle spielt.
Schlüsselmomente der sowjetischen Geschichte in der russischen Erinnerung Auf die Frage, welche historischen Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts die öffentliche Meinung am meisten beschäftigen und damit die Erinnerungskultur im heutigen Russland prägen, fällt die Antwort nicht schwer. Es sind die Revolution von 1917, Stalin und der Stalinismus sowie der Krieg gegen
1 Vgl. URL: http://www.wciom.ru [01.11.2010].
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Hitler-Deutschland, der in Russland als Großer Vaterländischer Krieg bezeichnet wird. Wenn man über die verschiedenen Deutungen der Revolution spricht, muss man Folgendes beachten: Die Hauptursache für viele Verzerrungen in der Haltung des heutigen Russland gegenüber der eigenen Geschichte liegt weniger in der Dämonisierung der Zeit nach 1917, sondern vielmehr in der Idealisierung der vorsowjetischen Zeit. Es geht um das medienwirksame Märchen von einem verlorenen Russland mit glücklichen Bauern und goldenen Kirchkuppeln … Diese Nostalgie hat gewisse Parallelen zu »Ostalgie« in den neuen Bundesländern. Der letzte Zar Nikolaus II. wird nicht mit einem archaischen politischen System assoziiert, der volksfremden aristokratischen Elite und zwei verlorenen Kriegen. Nein, er wurde von der russisch-orthodoxen Kirche heilig gesprochen und ist für einen bedeutenden Teil der russischen Bürger zu einer Ikone geworden. Dieser Kult wird von der heutigen Staatsmacht zwar nicht aufgezwungen, entspricht aber teilweise ihrem politischen Interesse. Man sucht nach einem passenden Symbol für einen »Sonderweg«, der sich vom westlichen bzw. europäischen Weg abgrenzen lässt. Dies ist ein Symbol für das ewig patriarchale Russland, das jedoch weder von politischen Schlammschlachten noch von den Versuchungen der Konsumgesellschaft weit entfernt ist. Es ist fast unglaublich, aber die These von zwei Revolutionen in einem Jahr, verkündet noch Ende der 1930er Jahre im »Kurzen Lehrgang der KPdSU«, dominiert bis jetzt in der Geschichtsauffassung unserer Gesellschaft einschließlich der Historikerzunft. Die erste soll eine liberale Revolution nach westlichem Vorbild gewesen sein, weswegen sie zum Scheitern verurteilt gewesen sei und im völligen Chaos geendet habe. Die zweite, die Große Oktoberrevolution, habe hingegen einen nationalen Charakter gehabt und zur Errichtung eines »Staates neuen Typs« geführt. Diese zweite Revolution wird verdammt oder verherrlicht, aber in beiden Fällen haben wir es wiederum mit einer Neuausgabe der These vom russischen Sonderweg zu tun. Solche Geschichtsauffassungen schaffen einen künstlichen Gegensatz zwischen dem revolutionären Bolschewismus und der sich zu Beginn der 1930er Jahre etablierenden Diktatur der Parteibürokratie. Wenn wir von Stalinismus als geschlossenem System sprechen, das alle Bereiche des öffentlichen und politischen Lebens umfasste, dürfen wir jedoch nicht vergessen, dass dieses System nicht einfach über Nacht entstand. Einem bekannten Witz aus der Sowjetzeit zufolge fühlt sich Stalin deshalb in der Hölle sehr wohl, weil er dort auf Lenins Schultern steht. Das ist zwar übertrieben, aber das Problem des Bruchs und der Kontinuität zwischen beiden Führern ist bis jetzt in der Geschichtsschreibung nicht ausreichend herausgearbeitet worden. Dieser
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Mangel hat klare Folgen: Das Geschichtsbewusstsein der russischen Bürger wird bis heute von der Neigung zu »einfachen Erklärungen« geprägt. Das betrifft sowohl die Verteidiger der sowjetischen Vergangenheit als auch ihre Ankläger. Die Haltung gegenüber Stalin ist wohl das passende Beispiel dafür. Sie war und bleibt die wichtigste Trennlinie in öffentlichen Debatten, sie ist eine Frage des Glaubens, nicht des Wissens. Es ist Stalins Ära, die unsere Auffassung des ganzen Jahrhunderts, des »Zeitalters der Extreme«, prägt. Hier ist praktisch alles versammelt, was für die einen Erfolge und Errungenschaften und für die anderen Katastrophen und Verbrechen bedeutet. Zu Ehren des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg sollten im Mai 2010 überall in Moskau Plakate mit Bildern sowjetischer Generäle aufgehängt werden – einschließlich Stalins. Die Regierung der Hauptstadt begründete dies mit dem ausdrücklichen Wunsch der Kriegsveteranen. Dann gingen die Gegner dieser Initiative zum Gegenangriff über, auch unter ihnen befanden sich nicht wenige Kriegsteilnehmer. Viele von ihnen behaupteten, dass das Volk diesen Sieg nicht dank Stalin, sondern trotz Stalin errungen hat. Um die Gemüter nicht weiter zu erhitzen, nahm die Moskauer Regierung letztlich Abstand von ihrer eigenen Initiative. Die Bewertung Stalins wurde zum wichtigsten Kampfplatz im »Krieg der Lehrbücher«, der seit einigen Jahren in Russland tobt. In einem vom Ministerium für Bildung protegierten Lehrerhandbuch ist davon die Rede, dass der sowjetische Führer vor allem ein »effizienter Manager« war, da es ihm gelungen sei, die Industrialisierung des Landes in kürzester Zeit durchzuführen sowie die Sowjetunion als Erbin des Russischen Zarenreiches zu erhalten und sogar zu erweitern. Die andere Seite hält dagegen, man könne einen Menschen nicht positiv bewerten, der die Schuld am Tod von Millionen Menschen trägt, die in den meisten Fällen nicht einmal seine politischen oder ideologischen Gegner waren. Immerhin, die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus ist bei all ihrer Härte und Leidenschaft ein fester Bestandteil unserer Geschichtsauffassung geworden. Die Kämpfe um, für oder gegen Stalin tragen zur Etablierung einer demokratischen Streitkultur bei, die in Russland noch schwach entwickelt ist. Ganz anders ist die Einstellung der öffentlichen Meinung zum Zweiten Weltkrieg – hier herrscht ein Konsens vor, der nicht nur von links nach rechts, sondern auch von unten nach oben reicht.
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Der Große Vaterländische Krieg im historischen Gedächtnis und in der Geschichtspolitik Über den Stalinismus kann man seit der Zeit der Perestrojka konträre Meinungen äußern, aber die Darstellung des Kriegsgeschehens folgt einem Kanon, der sich schon viel früher, noch unter Leonid I. Breschnew, durchgesetzt hat. Jede größere Abweichung, jeder Revisionismus wird nicht nur von der politischen Elite, sondern auch von breiten gesellschaftlichen Gruppen (von Kriegsveteranenverbänden bis zu »militärpatriotischen Jugendklubs«) als unzulässig, unbegründet und schädigend betrachtet. Literaten und Filmproduzenten genießen auf diesem Gebiet deutlich mehr Freiheiten, Berufshistoriker dagegen müssen »Kurs halten«. So wurde kürzlich ein Spielfilm gezeigt, der das Leben in den besetzten Gebieten nicht als pure Hölle darstellt (ein orthodoxer Priester kooperiert darin mit den deutschen Militärbeamten, wodurch es ihm gelingt, in seinem Dorf die Kirche aufzubauen und eine Schule zu eröffnen). Man kann dagegen kaum ein fundiertes wissenschaftliches Werk aus den letzten zehn Jahren nennen, das Themen wie Kollaboration oder Partisanenkrieg neu beleuchtet. Wie kann man das erklären? Der Sieg im Mai 1945 bleibt eines von wenigen Ereignissen des 20. Jahrhunderts, das unumstritten als epochale Leistung aller Völker der Sowjetunion angesehen wird. Mit oder ohne Stalin – das bleibt eine untergeordnete Frage. Man hat Angst, dass nicht viel vom Zusammenhalt der russischen Bevölkerung übrig bleibt, wenn auch daran gerüttelt wird. Es würden neue Risse entstehen, besonders zwischen Alt und Jung. Viele sind der Meinung, die Veteranen seien an traditionelle Interpretationen des Kriegsgeschehens gewöhnt und man solle sie ehrenvoll und in Ruhe ihren Lebensabend verbringen lassen. Gerade hinsichtlich der Erinnerung an den letzten Krieg bleiben in der öffentlichen Meinung Russlands noch viele alte Vorurteile in Kraft. So behauptet das neue Lehrbuch für Universitätsstudenten, dass es unseren Verbündeten in der Anti-Hitler-Koalition weniger darum ging, Deutschland zu besiegen, sondern vor allem Russland zu schwächen. Die Siegesparade am 9. Mai 2010, an der zum ersten Mal NATO-Truppen teilgenommen haben, wurde in linksgerichteten Kreisen der Bevölkerung als Zeichen nationaler Kriecherei vor dem Westen empfunden. »Die Imperialisten haben es endlich geschafft, auf dem Roten Platz zu marschieren«, alarmierte die kommunistische Presse ihre Anhängerschaft. Sowohl die politische Führung als auch die Öffentlichkeit Russlands betrachten mit großer Sorge, dass der gemeinsame Sieg über Hitler-Deutschland in einigen postsowjetischen Staaten ganz anders interpretiert wird: als neue Okkupation, als Wiederkehr der alten Diktatur; besonders ausgeprägt in der
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Republik Moldau und im Baltikum. Nun werden die Truppen, die auf Hitlers Seite gekämpft haben, in Lettland oder der Ukraine als Nationalhelden gefeiert – das ist eine Geschichtsklitterung, die nicht nur Kriegsteilnehmer in Russland empört. Auch in den neuen Staaten Mittelasiens, deren männliche Bevölkerung enorme Verluste in der Roten Armee erlitt, wird dieser Sieg zwar nicht angezweifelt, aber in gewisser Weise verdrängt: »Wir mussten für fremde Interessen kämpfen, uns ging dieser Krieg eigentlich nichts an.« Hier hebt man eher seine tragische Seite hervor (hohe Verluste, Hunger, Invasion der fremden Bevölkerung als Folge der Evakuierung) und feiert ihn weniger als die Befreiung Europas, denn Europa ist zu weit entfernt und zu unbedeutend für heutige Uzbeken oder Turkmenen. Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg bleibt ein sehr sensibles Thema, nicht nur im Verhältnis Russlands zu seinen Nachbarstaaten, sondern auch zum »weiteren Ausland«. Mit diesem Sieg habe Russland bewiesen, dass es ein integraler Bestandteil Europas ist und auch im 20. Jahrhundert genauso wie früher die Geschicke des Kontinents mitbestimmt habe. Jede entgegengesetzte Behauptung erregt den Verdacht, man wolle unsere Rolle im Zweiten Weltkrieg herabsetzen und damit die Russen wie im Kalten Krieg »heraushalten« – heraus aus den behaglichen und vereinigten europäischen Nationen.
Zur Nationalisierung der Geschichte in den postsowjetischen Staaten Der Krieg als gemeinsam erlebte Tragödie und der Sieg über Hitler-Deutschland müssten eigentlich ihre Bindungskraft für die Völker der früheren Sowjetunion behalten. Aber in der Realität widerspiegelt ihre Wahrnehmung eher einen entgegengesetzten erinnerungskulturellen Trend: hin zur Nationalisierung. Damit meine ich die Abspaltung von der gemeinsamen Vergangenheit nach den Bedürfnissen der jeweiligen nationalen politischen Eliten. Die neuen Staaten, die aus der Sowjetunion hervorgegangen sind, suchen in der Geschichte die Legitimation ihrer selbstständigen Existenz. Dabei greifen sie auf Beispiele eigener Größe und Eigenständigkeit bis ins frühe Mittelalter zurück. Die Russen haben es einfacher, sie können stolz verkünden, die Nachfolger und Erben sowohl der ganzen Sowjetunion als auch des Zarenreiches zu sein. Die anderen ab 1991 staatstragenden Völker müssen daher auch eine eigene Geschichte im 20. Jahrhundert konstruieren, die sich von der Geschichte Russlands unterscheidet. Das ist keine leichte Aufgabe, besonders für die Republiken, die zusammen mit der Russischen Föderation 1922 die Sowjetunion gegründet haben. Aber die Historiker in den neuen postsowjetischen Staaten nehmen den Auftrag ihrer politischen Eliten wahr und erfüllen ihn oft
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nach folgendem Muster: Alles Negative in der Geschichte dieses oder jenes Volkes wird durch die äußeren Einflüsse erklärt, durch die russische Expansion, alles Positive dagegen durch die nationalen Einwirkungen und den nationalen Widerstand. Die Nationalisierung der gemeinsamen Vergangenheit, die Bildung neuer nationaler Mythen und die Suche nach integrierenden Nationalhelden ist offensichtlich eine unvermeidliche Phase im Werdegang der modernen Nationen. Russland und seine öffentliche Meinung nehmen an diesem Prozess auch aktiv teil. Europa hat diese Erfahrung schon hinter sich – die großen Nationen vor dem Ersten Weltkrieg, die Völker Ost- und Mitteleuropas in der Zwischenkriegszeit. Kann man nicht aus diesen Beispielen lernen, um die Fehler und Vorurteile des aufkommenden Nationalismus nicht zu wiederholen? Derzeit suchen die Völker der Europäischen Union nach gemeinsamen Werten und nach Vereinigendem, nicht nach Trennendem in ihrer Geschichte. Die Idee des Hauses der Europäischen Geschichte wird langsam Realität. In den Staaten, die aus der früheren Sowjetunion hervorgegangen sind, dominieren hingegen noch Tendenzen der Spaltung und Trennung der gemeinsam erlebten Vergangenheit. Bestimmt folgt danach eine Integrationsphase, aber bis dahin wird viel Zeit verstreichen. Es war und bleibt die Aufgabe der Historiker in den postsowjetischen Staaten, zumindest durch aktive Kommunikation die noch existierenden Verbindungen nicht abreißen zu lassen, trotz aller objektiven und subjektiven Schwierigkeiten neue Wege der Zusammenarbeit zu suchen. Um zum Dialog und zum produktiven Vergleich zu kommen, müssen Historiker zuerst eigene Standpunkte herausarbeiten. Hierbei ist meines Erachtens kein Konsens zu erwarten (genauso wie in der EU). Eher sind Kompromisse zwischen den nationalen Deutungen der Vergangenheit und ihre »friedliche Koexistenz« in überschaubarer Perspektive denkbar, alles Weiterführende gehört in das Reich der Phantasie. Die Versuche, dieser Aufspaltung des gemeinsamen historischen Gedächtnisses der Völker der früheren Sowjetunion entgegenzuwirken, werden heute eher von gesellschaftlichen als von staatlichen Akteuren unternommen. Hier ist in den letzten zwanzig Jahren mehr als genug verpasst worden. Nach meiner Einschätzung könnte die Erinnerung an den Stalin-Terror ebenso wie der Ruhm des gemeinsamen Sieges über Hitler-Deutschland zum Integrationsfaktor für den postsowjetischen Raum werden.
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Ausblicke Der politischen Führung im heutigen Russland fällt es schwer, zwischen Vergangenheitsbewältigung und ihrer wissenschaftlichen Erforschung zu unterscheiden. Sie neigt zu einfachen Parolen, die in der öffentlichen Meinung besser ankommen. Vergleichbare Strukturen wie die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung gibt es in Russland nicht, daher bleibt Geschichtspolitik lediglich auf die Korrektur der schwerwiegendsten Fehler begrenzt. Im Mai 2009 rief ein Erlass des russischen Präsidenten eine Kommission ins Leben, die Versuchen entgegenwirken soll, die Geschichte zum Nachteil Russlands zu verfälschen. Der Umstand, dass die Tätigkeit dieser Kommission im Erlass nur sehr vage beschrieben wurde, hat die russischen Berufshistoriker am meisten beunruhigt. Wir sind in unserer großen Mehrheit Kinder des alten Systems – wegen der schlechten Entlohnung zählt der Historikerberuf nicht zu den begehrtesten im heutigen Russland. Man entdeckt in sich wieder den Mechanismus der Selbstzensur. Die Neigung zu »vorauseilendem Gehorsam« führt bei einigen Kollegen zu lauten Parolen, unsere Reihen zu »säubern«. Noch als verhältnismäßig mild muss man den Vorschlag betrachten, die Tätigkeit von Historikern zu lizensieren – ähnlich wie bei der Niederlassung von Apothekern in Deutschland. Damit, so behaupten die Befürworter solcher Reglementierung, werden pseudowissenschaftliche Deutungen unserer Geschichte unterbunden. Aber auch die Opponenten der »Staatsdiener« hat der Erlass des Präsidenten auf den Plan gerufen. Sie fordern von den staatlichen Instanzen, diese sollten zunächst ihre eigene Sicht auf die Geschichte darlegen, bevor weiter diskutiert werden könne. Um die Wahrheit über die Vergangenheit bzw. über seine traurigsten Episoden zu erzählen, müssen die Archive geöffnet werden. Bisher haben die nach Dokumenten zur Nachkriegsepoche suchenden Historiker mit immer größeren bürokratischen Hürden zu kämpfen. Die heutigen Machthaber in Russland haben es nicht leicht mit der sowjetischen Geschichte. Abgesehen von einigen symbolträchtigen Ereignissen aus dieser Zeit, die auch die aktuelle Politik beeinflussen (Stichwort: Katyń), wird dazu kaum offiziell Stellung genommen. Man hat offensichtlich im Kreml das berechtigte Gefühl, dass die aktive Beschäftigung mit der jüngsten Vergangenheit im Lande, dessen kollektives Gedächtnis so gespalten ist, nicht zu Prestigegewinn führen kann. Damit eröffnet sich für uns Historiker die einmalige Chance, nicht durch aufgezwungene Wahrheiten von oben oder Vorurteile von unten, sondern durch quellengestützte Forschungen und sachliche Auseinandersetzungen eine demokratische politische Kultur im heutigen Russland zu fördern, deren fester Bestandteil die Koexistenz verschiedener Meinungen ist – auch in Bezug auf erlebte und erzählte Vergangenheit.
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Eine wichtige Dimension der russischen Erinnerungskultur, die uns wieder näher an Europa heranführen könnte, betrifft die gesellschaftliche Aufarbeitung der Verbrechen des Stalinismus (in Russland spricht man nicht von kommunistischen Verbrechen, offenbar aus Rücksicht auf die Wählerschaft der KPRF). Hier ist vor allem die Menschenrechtsorganisation »Memorial« zu nennen, die mit allen europäischen Partnern gut vernetzt ist, welche sich mit der Aufarbeitung der neuesten Geschichte in ihren Ländern befassen. Ihr nationaler Schülerwettbewerb »Ein Mensch in der Geschichte« wird seit 1999 erfolgreich durchgeführt, in den letzten Jahren mit Unterstützung der deutschen Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«. Die jährlichen Sammelbände mit den besten Arbeiten der Teilnehmer dieses Wettbewerbs stoßen auf ein großes Echo nicht nur in den Massenmedien der Russischen Föderation, sondern auch bei Historikern.2 Als Professor der LomonossowStaatsuniversität kann ich behaupten, die Preisträger dieses Wettbewerbs bilden die Elite unserer künftigen Historikerzunft. Diese jungen Menschen werden sich gesamteuropäischen Werten deutlich näher fühlen als die jetzige Absolventengeneration, die in sich noch die Last der kommunistischen Sozialisierung trägt. Dank der Initiative von »Memorial«, des Wissenschaftsverlages Rosspen sowie ihren europäischen Partnern konnten in Paris (November 2007) und in Moskau (Dezember 2008) internationale Konferenzen zum »Großen Terror« der Jahre 1936 bis 1938 durchgeführt werden, wohingegen in Russland das 70. Gedenkjahr gar nicht offiziell begangen wurde. Die Aktivitäten von »Memorial« und anderen Menschenrechtsorganisationen bilden nicht nur eine Brücke zwischen der öffentlichen Meinung Russlands und anderer europäischer Länder, sie blicken auch in eine andere Richtung: Die gemeinsame Erinnerung an den Stalin-Terror könnte, wie schon erwähnt, als ein Integrationsfaktor für den postsowjetischen Raum dienen. Heute gibt es in fast allen Staaten der ehemaligen Sowjetunion eigene Museen zur Verfolgungsgeschichte, die die jeweilige nationale Tragödie ins Zentrum stellen. Die Historiker, die vor zwanzig Jahren noch in einem Staat lebten, könnten sich heute darauf verständigen, ein gemeinsames Werk zur Geschichte des »Großen Terrors« zu schreiben – doch ein solches Buch existiert bisher nicht. Auch die Idee eines internationalen Programms zum Gedenken an die Opfer des Stalinismus ist noch nicht realisiert worden, obwohl sein Bildungspotenzial für die jun-
2 Eine deutschsprachige Dokumentation solcher Schülerarbeiten findet sich in: Irina Scherbakowa: Russlands Gedächtnis. Jugendliche entdecken vergessene Lebensgeschichten, Edition Körber Stiftung, Hamburg 2004.
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gen Generationen in den postsowjetischen Ländern kaum zu überschätzen wäre. Für die praktische Umsetzung eines solchen Vorhabens könnte man auf die vielfältigen Erfahrungen zurückgreifen, die das geeinte Europa in seinem Bemühen um ein gemeinsames historisches Gedächtnis bereits gesammelt hat. Hier möchte ich an die Worte des Schriftstellers und KZ-Überlebenden Jorge Semprún erinnern, der schon im April 2005 anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora appellierte: »Eine der wirksamsten Möglichkeiten, der Zukunft eines vereinten Europas, besser gesagt, des wiedervereinten Europas einen Weg zu bahnen, besteht darin, unsere Vergangenheit miteinander zu teilen, unser Gedächtnis, unsere bislang getrennten Erinnerungen zu einen. Der kürzlich erfolgte Beitritt von zehn neuen Ländern aus Mittel- und Osteuropa – dem anderen Europa, das im sowjetischen Totalitarismus gefangen war – kann kulturell und existentiell erst dann wirksam erfolgen, wenn wir unsere Erinnerungen miteinander geteilt und vereinigt haben werden. Hoffen wir, dass bei der nächsten Gedenkfeier in zehn Jahren, 2015, die Erfahrung des Gulag in unser kollektives europäisches Gedächtnis eingegliedert worden ist. Hoffen wir, dass neben die Bücher von Primo Levi, Imre Kertész oder David Rousset auch die Erzählungen aus Kolyma von Warlam Schalamow gerückt wurden. Das würde zum einen bedeuten, dass wir nicht länger halbseitig gelähmt wären, zum anderen aber, dass Russland einen entscheidenden Schritt auf dem Weg in die Demokratisierung getan hätte.«3
Bis dahin ist es jedoch noch immer ein weiter Weg. Die Geschichtspolitik des russischen Staates kann man bis heute eher als Laisser-faire bezeichnen. Dieses Modell unterscheidet sich prinzipiell von der »Vergangenheitsbewältigung« als verordneter Umerziehung, sei es nach 1945 in ganz Deutschland oder nach 1990 in den neuen Bundesländern. Bestimmt hat es seine Schwächen und Schattenseiten, vor allem was das Tempo der Umwandlung der öffentlichen Meinung betrifft. Man lernt in Russland eigentlich nicht vom Westen oder vom Osten, man lernt aus eigenen Fehlern, was die Entwicklung kaum schnell oder geradlinig macht. Aber das entspricht den Dimensionen des 3 Ansprache von Jorge Semprún, Schriftsteller, Widerstandskämpfer, Überlebender des KZ Buchenwald, spanischer Kulturminister 1988–1991, in: Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora (Hg.): 60. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora, Weimar-Buchenwald 2005, S. 57.
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Landes – und der Größe der Aufgaben, die vor ihm stehen. Wie bekannt, hat Russland besondere Maßstäbe, auch in der Aufarbeitung seiner jüngsten Vergangenheit, und wir befinden uns noch auf der Suche nach ihnen. Ende Februar 2011 wurde auf der Internet-Seite des »Rates zur Mitwirkung an der Entwicklung von Instituten der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte beim Präsidenten der Russischen Föderation«4 ein vielversprechendes Dokument veröffentlicht, das von strategischer Bedeutung für die Entwicklung der Erinnerungskultur in Russland sein kann und eindeutig auf die Perspektive einer gemeinsamen europäischen Aufarbeitung der Diktaturerfahrungen des 20. Jahrhunderts hinweist. Es geht um den Entwurf eines Programms »Zum Gedenken an die Opfer des totalitären Regimes und zur nationalen Versöhnung«5. Dieses Arbeitspapier wurde Präsident Dmitrij Medwedew am 1. Februar 2011 überreicht, und offensichtlich will die Kreml-Administration nun auch die Meinung der demokratischen Öffentlichkeit dazu anhören. Das Dokument wurde von der Arbeitsgruppe »Zum historischen Gedächtnis«6 erarbeitet, was dem deutschen Begriff »Erinnerungskultur« nahe kommt. Ihr gehören sowohl »Memorial«-Aktivisten als auch Historiker an, die sich mit der Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert befassen. Im Zentrum des Konzepts stehen vor allem konkrete Maßnahmen zur Erinnerung an das Unrecht aus der Zeit der bolschewistischen Diktatur. Dazu gehören die Gründung von Museen an Orten, wo einst Stalin’sche Lager standen, die Offenlegung von Massenerschießungsplätzen, die vollständige Rehabilitierung sowie die Unterstützung der noch lebenden Opfer. Von besonderer Bedeutung scheint der Vorschlag, dass die Geheimhaltung der Archivdokumente die Grenze von 30 Jahren nicht überschreiten darf und auch die Strafakten der Forschung zugänglich sein sollen. Letzendlich haben all diese Initiativen, wenn sie staatlicherseits gefördert werden, das Potenzial, bei den Bürgern in Russland zu einem radikalen Umdenken zu führen, weg von der »Großen Vergangenheit«, weg von der »Großen Zukunft« und hin zu einer für das 21. Jahrhundert zeitgemäßen politischen Kultur der freien Europäer. Unterm Strich bedeutet dies, wie es auch im Dokument selbst zu lesen ist: »die Beendigung des Bürgerkrieges im Land, der 1917 entfesselt worden war«. 4 Совет по развитию гражданского общества и правам человека при Президенте Российской федерации. 5 Общенациональная государственно-общественная программа »Об увековечении памяти жертв тоталитарного режима и о национальном примирении«; im Internet unter: URL: http://www.president-sovet.ru/structure/group_5/materials/ the_program_of_historical_memory.php [01.04.2011]. 6 Рабочая группа по историчекой памяти.
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Die Veröffentlichung der Vorschläge dieser Arbeitgruppe stieß auf ein breites öffentliches Interesse, obwohl die Meinungen dazu, wie üblich im heutigen Russland, sehr weit auseinandergehen. Vor allem Online-Medien betrachten diese Empfehlungen als einen wichtigen Schritt nach vorn – es gehe jetzt nicht nur um eine »Destalinisierung«, sondern um eine »Desowjetisierung« unserer Vergangenheit, wobei das politische Regime, das in Russland nach 1917 etabliert wurde, als »Verbrecherstaat« angesehen wird.7 Zweifellos birgt dieses Programm große Chancen: Russische Historiker können dadurch sowohl früheren Sowjetrepubliken als auch den Staaten des vormaligen »sozialistischen Lagers« die Hand zur gemeinsamen Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit reichen. Und wenn solche Inititativen sowohl von den Machthabern als auch von gesellschaftlichen Kräften unterstützt werden, dann kann das »Haus der Europäischen Geschichte« eines Tages wirklich vom Atlantik bis zum Ural reichen.
7 Vgl. URL: http://gazeta.ru/comments/2011/04/01_e_3572153.shtml [01.04.2011].
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Das Haus der Europäischen Geschichte – ein Erinnerungskonzept mit dem Mut zur Lücke
Als ich vor einigen Monaten nach der Ausschreibung für den Direktorenposten des entstehenden Hauses der Europäischen Geschichte in Brüssel gefragt worden bin, antwortete ich sinngemäß, dies sei europaweit der interessanteste, aufregendste, reizvollste Job, um den sich heute ein Historiker bewerben kann. Es ist ein Projekt, bei dem man sich – trotz des Booms der Museumslandschaft in den letzten Dekaden – kaum auf Präzedenzfälle verlassen kann, eine in ihrem Anspruch und Zielsetzung schlicht einmalige Angelegenheit. Im Rahmen dieses Beitrags ist damit jedoch nicht die Tatsache gemeint, dass die Mittel und die logistische Unterstützung von einem Parlament zur Verfügung gestellt werden (was ja ungewöhnlich genug ist). Ich spreche auch nicht darüber, wie das Gebäude zu einem museumstauglichen Bau umfunktioniert wird, welche Schwierigkeiten mit dem Aufbau der Sammlung zusammenhängen mögen oder wie man sich die Öffentlichkeitsarbeit vorzustellen hat, auch nicht von rechtlichen Fragen und der angestrebten Selbstständigkeit der Institution, schließlich ebenso wenig vom mittlerweile enormen Zeitdruck, der auf dem Projekt lastet. Es geht mir an dieser Stelle nicht um eine im engeren Sinne wissenschaftliche Präsentation, ebenso wie die »Konzeptionellen Grundlagen«1 aus der Historiographie schöpfen, den aktuellen Wissensstand interpretieren und für das Haus nutzbar zu machen versuchen, ohne sich als Ergebnis eigenständiger Forschung auszugeben. Das Ziel ist vielmehr, eine Verortung des Entwurfs in den aktuellen Diskussionen über Europa und Geschichte, mit anderen Worten: in dem Diskurs über uns und unsere Identitäten. Zu diesem geschichtspolitischen Thema möchte ich im Folgenden zehn Überlegungen vorstellen.
1 Siehe die vollständige Dokumentation im Anhang dieses Bandes.
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I. Man braucht weder viel Zeit noch enorme Geschichtskenntnis, um in der Vergangenheit auf eine ähnliche Konstellation zu stoßen, in der ein multinationales, rechtsstaatlich verfasstes Staatswesen seine Identität durch Geschichtspolitik mitzubegründen versuchte. Gemeint ist natürlich die Habsburgermonarchie im letzten halben Jahrhundert ihrer Existenz. Der Reichsrat am Wiener Ring verzichtete jedoch auf ein Museum der Monarchie, obwohl die blühende Museumslandschaft des späten 19. Jahrhunderts durchaus mit der heutigen vergleichbar wäre. Nichtsdestoweniger kann man sich lebhaft vorstellen, welch endlose Querelen eine Musealisierung der gemeinsamen Teile der Geschichte nach sich gezogen hätte unter den »Volksstämmen des Staates«, die nach Artikel 19 der Dezemberverfassung »gleichberechtigt« waren und ein »unersetzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache« besaßen. Trotzdem betrieb Wien durchaus Geschichtspolitik, wie sie in Schulbüchern und Denkmälern, in Geschichtswerken und feierlichen Umzügen anlässlich der runden Jahrestage der Krönung Franz Josephs ihren Ausdruck fand: Die Habsburger als Rückgrat und Verkörperung einer Staatlichkeit, die bekanntlich nicht einmal einen präsentablen offiziellen Namen hatte, lieferten den Stoff für die Erzählung, welche in der auch rechtlich herausgehobenen Person des Kaisers ihr lebendiges Symbol fand. Nun ist ein solcher Kunstgriff heute unmöglich. Weder kennen wir den crimen laesae maiestatis noch finden wir einen individuellen oder kollektiven Patron, dessen Glanz auf alle Mitglieder der Europäischen Union gleich stark ausstrahlen würde. Anders formuliert gibt es kein Symbol, das für Finnen und Sizilianer, für Katalanen und Bulgaren gleichermaßen aussagekräftig wäre. Wir müssen auskommen mit einer Heterogenität der Subjekte, die in keinem übernationalen Symbol auflösbar bzw. zusammenfassbar ist. Nicht minder wichtig ist der Unterschied zwischen dem Zeitgeist um 1900, als Europa im Mittelpunkt der Welt stand und die Entwicklungsrichtung – schneller, höher, stärker – unaufhaltsam schien, und heute, wo auf den Trümmern dieser imperialen Welt zwar wieder etwas Übernationales entsteht, die Europäer jedoch wissen, dass sie auch in Sachen Selbstvernichtung zur Weltmeisterschaft fähig waren.
II. »Wir müssen damit auskommen« – müssen wir tatsächlich? Diese Grundfrage sei angesprochen, bevor wir zu den vorsichtigen Vorschlägen des Umgangs mit dem Dilemma kommen. Mit der Antwort steht und fällt das Projekt, denn
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sie kann nur ja oder nein heißen; im zweiten Fall erübrigt sich die gesamte Diskussion. Die Frage lautet: Was soll oder will die Europäische Union werden? Ist unser Ziel ein primär wirtschaftlicher, finanzieller und zivilisatorischer Großraum, dessen Gesetze in vielen Bereichen über die Ökonomie hinausstrahlen und (Beispiel Schengen) die elementaren Lebensbedingungen der Bürger mit gestalten – und wollen wir es bei diesem von der Außenwelt bewunderten Beziehungsgeflecht belassen? Oder wollen wir eine Union, die sich – schrittweise, langsam, stets von Rückschlägen begleitet, aber doch – weiterentwickelt zu einer Art politisches Gemeinwesen der Europäer, innerhalb dessen ihre Nationalstaaten allmählich an Bedeutung verlieren, ohne dass sie in absehbarer Zukunft wegzudenken wären? Im Fall eines Wirtschaftsgroßraums braucht die Union – so mein Glaube – keine neue, zusätzliche Identität. Auch wenn mittlerweile Geldströme über die Grenzen geleitet werden, deren Dimensionen noch vor 20 Jahren unvorstellbar waren, genügt die ökonomische Rationalität als Rechtfertigung (oder auch nicht, aber das ist ein anderes Kapitel). Stellen wir uns hingegen Europa als einen Global Player vor (der es nicht nur potentiell ist), der im Namen dieses Kontinents weit außerhalb seiner Grenzen agiert, dann brauchen wir, um diesen Namen mit Inhalten zu füllen, eine neue, zusätzliche Identität. Und dann macht das Projekt Haus der Europäischen Geschichte nicht nur Sinn – dann wird es notwendig, denn Identität ohne Tradition gibt es nicht, und gerade auf diesem kleinen Kontinent (ohne Russland sind wir ja geographisch kaum mehr als ein Blinddarm Asiens) ist die Erinnerung an unser Zusammenleben – auch daran, wie wir einander und andere umgebracht haben – zentral für unsere nationalen Identitäten. Anders formuliert: Ohne eine reflektierte Auseinandersetzung mit den gemeinsamen Teilen der Geschichte kann in Europa kein supranationales Selbstbewusstsein entstehen.
III. Über die europäische Meistererzählung (so der Modebegriff der letzten Jahre) wird viel diskutiert und geschrieben. Die »Konzeptionellen Grundlagen« verstehen sich als ein spezifischer Beitrag zu dieser Diskussion. Selbstverständlich sind sie den einen zu kurz, den anderen zu lang; noch andere meinten, hier würde ein paneuropäischer Treitschkismus demonstriert. Die rechten Gegner im Europäischen Parlament liefen Sturm gegen die vermeintliche Vernachlässigung des Nationalen. Faktisch sind die »Grundlagen« nicht mehr als eine Art Leitfaden, der in den kommenden Jahren in Zehntausenden von Arbeitsstunden zu einem Ausstellungskonzept verarbeitet werden soll. Gerade deshalb sind sie aber ein wenig mehr als eine unter vielen möglichen »Annäherungen
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an eine europäische Geschichtsschreibung«, wie es Gerald Stourzh einmal genannt hat.2 Unsere Annäherung versteht sich als Ausgangspunkt für konkrete Vorschläge und Entwürfe, die jährlich Hunderttausenden präsentiert werden sollen – als Spiegel, der die eigene, bekannte Fassung von Geschichte reflektiert, zugleich als Brille, die den Blick auf den Anderen schärft oder gar erstmals ermöglicht. Beide Aufträge bilden, wie man sich leicht vorstellen kann, eine Herausforderung, die den vertrauten Rahmen sprengt.
IV. Nachdem die vom Europäischen Parlament bestellten Experten im Oktober 2008 die »Grundlagen« verabschiedet hatten und diese vom Präsidium des Parlaments gebilligt worden waren, legten zwei europäische Intellektuelle ihre Skizzen zur kontinentalen Geschichtspolitik vor. Claus Leggewie versuchte, eine transnational-europäische Erinnerungskultur zu definieren.3 Es ging ihm vor allem um die Konsequenzen der Erweiterung von 2004, die das Thementableau zwar nicht über den Haufen geworfen, dennoch grundlegend modifiziert hat. Er fand sieben »konzentrische Kreise«, die sich auf folgende Themen konzentrieren: Der Holocaust als negativer Gründungsmythos (1), Der Sowjetkommunismus/GULAG (2), Ethnische Säuberungen (3), Genozid an den Armeniern (4), Kolonien als Europas Peripherien (5), Der Kontinent der Einwanderung (6) und Die europäische Erfolgsgeschichte nach 1945 (7). Als Gesprächsgrundlage taugen die sieben Themenkreise gewiss. Wie alle anderen Vorschläge provozieren sie jedoch sogleich Widerspruch: Den Geschichtsstudenten der Warschauer Universität fiel etwa sofort auf, dass die Erfolge Europas eigentlich nur im letzten Punkt thematisiert werden, als ob man sich derer schämen müsste. Genauso fraglich ist, wie man den Kalten Krieg behandelt: einen Dauerzustand short of war, der aber diese Schwelle nie überschritten hat, im Unterschied etwa zu Versailles nach nur 21 Jahren? Wäre der Kalte Krieg in einen echten umgeschlagen, gäbe es vermutlich heute keine EU der 27 mit einem vereinten Deutschland in ihrer Mitte – auch dies eine Erfahrung, die es in das Bild Europas nach 1945 zu integrieren gilt. Offene Fragen, wie viele andere, die ich hier aufwerfe.
2 Gerald Stourzh (Hg.): Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung (unter Mitarbeit von Barbara Haider und Ulrike Harmat), Wien 2002. 3 Claus Leggewie: Schlachtfeld Europa. Transnationale Erinnerung und europäische Identität, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 2/2009, S. 81–93.
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V. Zur selben Zeit wie Leggewie stellte sich der polnische Intellektuelle Aleksander Smolar ähnliche Fragen, die er aus einer empathisch-verstehenden »östlichen« Sicht zu beleuchten versuchte.4 Den ersten grundlegenden Unterschied zwischen dem »alten« und dem »neuen« Europa sah er in dem anderen Rang von Geschichte in den Öffentlichkeiten beider Sphären: Im Osten (der hier bis Griechenland reicht) sei sie tendenziell größer, im Westen – mit Ausnahme des Holocaust – im Wesentlichen auf die europäische Erfolgsgeschichte nach 1945 konzentriert. Völlig anders sei das Verhältnis zur Zwischen-, Kriegs- und Nachkriegszeit. Für »den Westen« stellen die Jahre 1919 bis 1939 eine Art kollektiver Verirrung dar, der Zweite Weltkrieg spielt mit der oben erwähnten Ausnahme keine identitätsstiftende Rolle mehr, im Mittelpunkt steht hingegen die Überwindung der unheilvollen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts während der zweiten. »Im Osten« genau umgekehrt: die Zwischenkriegszeit als tendenziell mythologisierte Periode des (Wieder-)Aufbaus der eigenen Staatlichkeit, der Zweite Weltkrieg als eine bis heute nur teilweise vernarbte Wunde, die weiterhin den wichtigsten Erinnerungsort bildet. Die Dekaden des Staatssozialismus haben in einem positiv definierten Geschichtsbild wiederum keinen Platz, werden als fremdbestimmt (im Extremfall als Okkupation) aus der Nationalgeschichte ausgesondert, die dann logischerweise 1989/90 in etwa dort wieder einsetzt, wo sie 1939, 1940 oder 1944 aufgehört hat. Aber auch am »Völkerfrühling im Herbst«, der »Refolution« (Timothy Garton Ash) oder »Revolution« scheiden sich die Geister: Aus westlicher Sicht ist es die säkulare geopolitische Wende – der Zusammenbruch der Sowjetunion mit dem so genannten »Fall der Mauer« als Symbol – aus östlicher die eigenständige Emanzipation, der Sieg innerhalb der Landesgrenzen, der in die heftig umstrittene Transformation führte, die – so meine Ergänzung – zu den alten Unterschieden neue addiert. Dass das »neue« Europa keine koloniale Vergangenheit kennt, sei nur als Ergänzung hinzugefügt.
VI. Man sieht, der Deutsche Leggewie und der Pole Smolar waren sich in ihrer Diagnose zumindest im Ausgangspunkt weitgehend einig; es geht um die
4 Aleksander Smolar: Pamięć i wspólnota narodów, in: Gazeta Wyborcza vom 6./7. Juni 2009.
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Zusammenführung zweier großer Überlieferungen, um die im doppelten Sinne geteilte (zugleich gemeinsame und teilende, wie es Etienne François5 ausführte) Erinnerung. Ähnlich verlief die Arbeit an den »Grundlagen«, die besonders in den Abschnitten 51 bis 112 relativ wenig Kontroversen unter den Experten offenbarten. Blicken wir auf dieses Konzept im Kontext der Vorschläge von Leggewie und Smolar, so spiegeln sie die Widersprüche und divergierenden Interpretationen in notgedrungen knapper, wenngleich – wie ich glaube – adäquater Form wider. Unter den von Leggewie thematisierten Schwerpunkten werden vier deutlich niedriger eingestuft: Vertreibungen/ ethnische Säuberungen, die armenische Frage, die Peripherien (= Kolonien), schließlich Europa als ein Kontinent der Migrationen. Man kann sich vorstellen, dass im künftigen Ausstellungskonzept besonders die beiden letzten – eng miteinander verwobenen – Themen wieder eine größere Rolle spielen werden, wodurch das im Papier angestrebte Gleichgewicht zwischen »westlicher« und »östlicher« Erfahrung ins Wanken geraten könnte.
VII. Eine gleichermaßen kritische wie hellsichtige Interpretation verlangt das bislang nicht angesprochene Verhältnis zwischen der Geschichte vor und nach 1914/1917. In den Abschnitten 27 bis 50 wagten die Experten notgedrungen das Experiment, den Mainstream europäischer Geschichte von der Antike bis zur Moderne zusammenzufassen. Hier wird es vermutlich notwendig werden, noch einmal zu straffen, noch stärker auf Grundtatsachen und Entwicklungslinien einzugehen. Und auch hier wird sich der Gegensatz zwischen imperialen Staatsbildungen und der Geschichte »Anderer« mit aller Schärfe als Problem stellen.
VIII. Was in den »Grundlagen« nur indirekt angedeutet werden konnte, ist eine Spannung, die zwar West und Ost betrifft, jedoch weit über diesen Gegensatz hinausgeht. Es ist zum einen die Idee des europäischen Wunders (ein besserer Begriff scheint bislang niemandem eingefallen zu sein), dass nämlich dieser Kontinent so viel aus seiner schrecklichen Vergangenheit gelernt hat, dass ein
5 Vgl. den Beitrag von Etienne François in diesem Band.
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beträchtlicher Teil seiner politischen Aktivität dem Ziel dient, Kriege als Mittel der Konfliktaustragung auszuschließen; Zypern und Jugoslawien sind nach 1945 bekanntlich Ausnahmen geblieben. Sooft ich im Fernen Osten bin (vom Nahen Osten ganz zu schweigen), scheint mir diese Entwicklung in den Augen der Nichteuropäer das Attraktivste an uns zu sein. Mit dem Stichwort »Attraktivität« kommen wir bei einer zweiten grundsätzlichen, bereits angedeuteten Spannung an, die dem Projekt innewohnt: der Balance zwischen Stolz und Skepsis, dem Haus der Europäischen Geschichte als einer Bildungsanstalt, wo wir über unseren Erfolg erzählen und zugleich immer wieder darauf hinweisen, dass wir weder vergessen, was wir den ferneren Anderen noch was wir unseren eigenen Nachbarn angetan haben. Dennoch: »Die Menschen des Westens, darunter die Europäer, sind von ihrer zivilisatorischen Überlegenheit weit mehr überzeugt als sie zugeben, ganz besonders öffentlich«, kommentiert politisch inkorrekt Krzysztof Pomian.6 Die deutsche politische Kultur, die Stolz über sich selbst grundsätzlich nicht zulässt, wird sich hier in einem bemerkenswerten Konflikt mit anderen wiederfinden, die eine Verbalisierung der soeben angesprochenen Überzeugung weit weniger konsequent vermeiden. Auf den Ausgang dieser Auseinandersetzung bin ich sehr gespannt.
IX. Schließlich die Spannung zwischen dem Nationalen und dem Europäischen, die wohl das Hauptkriterium der Rezeption des Hauses in den nationalen Öffentlichkeiten bilden wird. Hier bin ich aufgrund der vehementen Kritik der polnischen Rechten und extremen Rechten an dem Projekt weder ungeschädigt noch objektiv; die folgende Warnung sollte daher nicht ernster genommen werden, als sie es verdient. Sie lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: Erstens kann sich jedes Land bzw. jede nationale Rechte unterrepräsentiert fühlen, mit entsprechenden Folgen für die lokale Öffentlichkeit, die sich eine Bevormundung durch »Brüssel« immer gern einreden lässt. Zweitens werden die Kritiker enorm (entscheidend?) von dem Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit profitieren. Im nationalstaatlichen Rahmen klingt die Losung »Wir werden [selbstverständlich: wieder einmal] übergangen, unsere Leiden ausgeblendet« in der Regel überzeugend. Sie wird dann als nationale Forderung an
6 Krzysztof Pomian: Niższe? Wyższe? Równe? Cywilizacja europejska wobec innych, in: Przegląd Historyczny, XCVI (2005), S. 391–400, Zitat: S. 399.
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Włodzimierz Borodziej
Brüssel weitergereicht, wo sie auf keine argumentative Gegenposition stößt, weil ja die Verfechter des Konzepts den nationalstaatlichen Rahmen bewusst verlassen haben und auf das Transnationale setzen. Wir befinden uns also gewissermaßen auf zwei unterschiedlichen Ebenen, wobei man auf der nationalen glaubt, auf die transnationale gut und gerne verzichten zu können, während auf der transnationalen klar ist, dass das Haus in Brüssel so weit wie nur möglich den nationalen Besonderheiten entgegenkommen muss. Dies resultiert nicht zuletzt daraus, dass – drittens – das Haus der Europäischen Geschichte ein Elitenprojekt ist, erfunden für eine Öffentlichkeit, die es noch nicht gibt und die unter anderem mit diesem Haus aktiviert werden soll. Es wird noch viel Ärger geben mit diesem Projekt. Ohne den »Mut zur Lücke« kommt es aber nie auf die Beine.
X. Es ist natürlich Unsinn, dass ein transnationales, paneuropäisches Geschichtsprojekt eine ernsthafte Konkurrenz zu den nationalen Erzählungen darstellt. Robert Traba spricht in diesem Zusammenhang von einer »Polyphonie der Erinnerungen«: Die Gemeinsamkeit der europäischen Werte ändert nichts daran, dass die nationalen Narrative dominant bleiben. Wichtig sei, dass sie der Multiperspektivität verpflichtet bleiben, dass sie nicht nur den eigenen Blickwinkel reproduzieren.7 Fügen wir dem hinzu: Auch die nationalen Narrative können durchaus von Gegenpolen dominiert werden. Ein anschauliches Beispiel dafür bietet etwa der Abschnitt 59 der »Grundlagen« über den Spanischen Bürgerkrieg. Nie wird das Haus der Europäischen Geschichte vergleichbare Emotionen auf sich ziehen. Es handelt sich also letztlich um ein bescheidenes Projekt, das nicht durch Größenwahn auf die Welt kommt, in absehbarer Zeit keine nennenswerte Konkurrenz zur nationalen Erinnerung produzieren kann, hingegen optimalerweise ein willkommenes Korrektiv oder eine Ergänzung anbieten wird. Das stets von Selbstzweifeln geplagte und heute so auffallend mutlose Europa wäre damit wieder ein Stück reicher geworden. 7 Robert Traba: Przeszłość w teraźniejszości. Polskie spory o historię na początku XX wieku, Poznań 2009. Eine Einordnung dieser und anderer geschichtspolitischen Auseinandersetzungen unternimmt Stefan Troebst in seiner »vergleichenden Einführung« zu: ders. (Hg.): Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven, Kategorisierung, Periodisierung, Göttingen 2010, S. 11–51.
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Franziska Augstein
Ein Europäisches Museum – warum, wozu?*
In den Diskussionen dieser Tagung war schon die Rede davon, dass das geplante Haus der Europäischen Geschichte auf jeden Fall einen Zweck erfüllen könne, nämlich den, dass es darüber viele kontroverse Meinungen gibt und man im Streit zueinander finden könne. Nun, damit auch ein bisschen gestritten wird, will ich jetzt ein bisschen dagegen reden – gegen das Projekt als solches. Es gibt viele gute Zwecke, gegen die anzureden, sehr schwer ist. Vor allem im Bereich der Kultur hat man mit diesem Phänomen oft zu tun. Ein Denkmal für die deutsche Einheit – warum nicht? Ein weiterer Preis für Zivilcourage – warum nicht? Ein Zentrum gegen Vertreibungen – warum nicht? Das alles sind gute Zwecke. Wer dagegen spricht, outet sich als politisch borniert. Wer mit Verweis auf die Kosten dagegen spricht, ist womöglich noch schlimmer: ein politisch unsensibler Pfeffersack, wie man in meiner Heimatstadt Hamburg die kaufmännischen Pfennigfuchser nennt, die immer nur aufs Geld schauen. Das Projekt des Europäischen Museums scheint mir zu dieser Kategorie der guten Zwecke zu gehören. Gegen das Museum ist eigentlich nichts einzuwenden: Es kann doch nur der Bildung dienen, es kann doch nur die Menschen zusammenbringen und zur Stiftung der europäischen »Identität« beitragen. Wer dagegen redet, kann sich nur unbeliebt machen. Das werde ich also jetzt tun. Mir leuchtet die Notwendigkeit des Museums nicht ein. Das will ich Ihnen zuallererst philologisch erklären: Der Politiker Hans-Gert Pöttering, von 2007 bis 2009 Präsident des Europäischen Parlaments, hat das Projekt mit angeschoben. In den Papieren, die der Einladung zu diesem Symposion beilagen, wird er zitiert: »Das Museum soll ein Ort sein, der unsere Erinnerung an die europäische Geschichte und das europäische Einigungswerk gemeinsam pflegt.« Dieser Satz gehört zu dem diskursiven Futter, mit dem das Projekt
* Dies ist das überarbeitete Transkript der Rede, die Franziska Augstein anlässlich des 10. Internationalen Symposiums der Stiftung Ettersberg »Arbeit am europäischen Gedächtnis« am 23. Oktober 2010 in Weimar gehalten hat.
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angeleiert wurde. Der Satz ist semantisch verquer – so verquer wie das Projekt. »Ein Ort […], der unsere Erinnerung an die europäische Geschichte […] gemeinsam pflegt« – das ist sprachlich Kokolorus. Herr Pöttering hätte vermutlich lieber von dem Museum als einem Ort geredet, an dem unsere gemeinsame Erinnerung an die europäische Geschichte gepflegt wird. Das konnte er aber nicht sagen, weil wir Europäer ja keine gemeinsame Erinnerung haben. Im Namen der Europäischen Union wird heutzutage von der »gemeinsamen« europäischen Geschichte geredet. Die gibt es aber nicht. Der Satiriker Gerhard Polt hat das einmal so formuliert: Wenn es sie denn gebe, dann müssten bitte die Alliierten endlich zugeben, dass wir Deutschen 1945 bei der Landung in der Normandie ein bisschen in ihren Reihen mitgekämpft haben, und die Engländer sollten endlich zugeben, dass sie bei der Schlacht von Stalingrad ein bisschen mitverloren haben. Polt sprach nur von der Zeitgeschichte. In vergangenen Jahrhunderten sieht es nicht anders aus. Weil Pöttering von der gemeinsamen europäischen Geschichte nicht reden kann, hat er sich auf eine verschwiemelte Formulierung zurückgezogen. In der gleichen Verwaschenheit geht es in seinem Aufruf für die Museumsgründung weiter. Er sagte: »Dieser Ort soll zugleich offen sein für die weitere Gestaltung der Identität Europas durch alle jetzigen und künftigen Bürger der Europäischen Union«. Dieser Satz ist eine Passivkonstruktion, die letztlich vollkommen unklar ist. Der Ort soll offen sein für die weitere Gestaltung der Identität Europas. Orte handeln bekanntlich nicht, folglich ist jeder Ort offen für alles mögliche. Ob die europäische Identität sich weiter ausgestalten lässt, hängt davon ab, ob die Bürger und Politiker der Europäischen Union das wollen. Und was wäre, wenn es das Museum gäbe und die »Gestaltung der Identität Europas« keine Fortschritte macht – soll Pötterings »Ort« das dann auch reflektieren? Völlig nebulös ist zudem die Weise, in der Hans-Gert Pöttering die Bürger der EU einbindet. Sein Satz soll nahelegen, die Europäer würden an der Gestaltung des »Ortes« mitwirken. Eigentlich ist das aber gar nicht gewünscht. Und es wäre auch in der Tat – vom fachlichen, kuratorischen Standpunkt gesehen – ein Fehler, so etwas wie eine europaweite Ausschreibung im Hinblick auf die Ausgestaltung des Museums anzuberaumen. So kommt es zur der ungeschickten Formulierung, dieser »Ort« solle der Gestaltung der »Identität Europas durch alle jetzigen und künftigen Bürger der Europäischen Union« zugänglich sein. Die Bürger erwähnt Pöttering nur aus Reklamegründen. Wenn Politiker eine Idee haben … Ja, dann neigen sie dazu, sich auf das Volk zu berufen. Wenn Politiker ein Denkmal bauen, ein Museum einrichten wollen oder dergleichen, dann liegt der Verdacht nahe, dass sie sich selbst ein Denkmal set-
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zen wollen. Da gibt es zwei Varianten, die eine nenne ich die wilhelministische Manier: Man baut ein Denkmal. Dieser Versuch ist gemacht worden mit der Idee, der deutsch-deutschen Einheit ein Denkmal zu errichten. Glücklicherweise haben selbst die Politiker eingesehen, dass die künstlerischen Vorschläge dazu von den Fachleuten zu Recht zurückgewiesen wurden. Denkmäler dienen (im Gegensatz zu Mahnmalen) der Verherrlichung – in einer Demokratie gibt es aber nichts zu verherrlichen. Es gibt strukturell keinen Unterschied zwischen wilhelminischen Reiterstandbildern und einem Denkmal für die Deutsche Einheit. Eine Demokratie muss sich selbst feiern, ja! Und das heißt: Das Volk muss sich selbst feiern, es muss nicht von oben oktroyiert bekommen, wo es andächtig innezuhalten hat und sich seiner Geschichte oder seiner Staatsverfassung freuen soll. In Deutschland wird die Demokratie gefeiert. Jedes Straßenfest und jede gut gelaunte Demonstration, möge sie auch zum Beispiel gegen Atomkraft und damit gegen Regierungspläne gerichtet sein, sind Gelegenheiten, bei denen die Demokratie sich feiert. Denkmäler – das unterscheidet sie ganz wesentlich von Mahnmalen – passen nicht zum Geist einer Demokratie. Das einzige, wofür Denkmäler heute noch gut sind, ist der Streit darüber. Wolf Schmidt, der lange eine führende Position in der Körber-Stiftung innehatte, hat das einmal so formuliert: »Wenn ein Denkmal steht, ist es tot.« Glücklicherweise ist ein Museum kein Denkmal. Das bringt uns zur zweiten Variante, wie ein Politiker oder ein ganzes Parlament sich – sagen wir: in durchaus uneigennütziger Weise – verewigen können: ein Museum. In diesem Fall: das Europäische Museum. Zuallererst finde ich es bedenklich, dass in einem großen Vielvölkerreich wie Europa das Museum in Brüssel stehen soll. Das bedeutet: Es wäre für all jene Europäer, die sich eine Reise nach Brüssel nicht leisten können, a priori nicht gemacht. Sehr viel besser gefallen hat mir an den konzeptionellen Erwägungen die Vorstellung, dass man Wanderausstellungen gestaltet und die dann durch Europa schickt. Das wäre sinnvoll. Aber das ist ein Projekt, das man unabhängig von einem Museum verfolgen könnte. Zum Zweiten: Die für die Dauerausstellung vorgesehene Fläche soll »bis zu 4.000 Quadratmeter« betragen. Auf diesen bis zu 4.000 Quadratmetern sollen etwas mehr als eintausend Jahre europäische Geschichte bei selbstverständlicher Berücksichtigung aller Länder dargestellt werden. Das ist meiner Ansicht nach völlig unmöglich. Zum Vergleich: Die Daueraustellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin, das die deutsche Geschichte zeigt (wenn auch mit Verweisen auf die Nachbarländer), ist auf 8.000 Quadratmetern eingerichtet. Meinen die Initiatoren des Europäischen Museums ernstlich, dass sie auf der Hälfte dieser Fläche die facettenreiche europäische Geschichte etlicher Nationen darstellen können?
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Ein weiterer Punkt ist die Frage, was der dieser Idee zugrunde liegende Impetus ist. Teils soll es wohl eine Selbstdarstellung der Europäer sein, im Sinn der Idee »Das sind wir, so weit haben wir es gebracht«. Außerdem soll das Museum der Identitätsstiftung dienen. Das erste wäre machbar, aber überflüssig. Das zweite ist schwer umzusetzen, selbst auf vielen Tausend Quadratmetern Ausstellungsfläche wäre es schwer umzusetzen. Was hat, sagen wir, das Kleid eines sächsischen Prinzen mit einem französischen Gobelin oder einem lettischen Taufbecher zu tun? Sofern das Museum alte Gegenstände zusammenklauben würde, ergäbe sich am Ende ein Sammelsurium, das keinen inneren Zusammenhang hätte, sondern nur durch das Rubrum »Europäisches Museum« inhaltlich zusammengehalten würde. Oder würde man die europäische Identität dadurch stiften wollen, dass man ein Essgeschirr findet, das durch die Hände von Soldaten aus einem halben Dutzend verschiedener Heere gegangen ist? Ein gut gemachtes Europäisches Museum müsste über so viel Platz verfügen, dass darin die verschiedenen Perspektiven, aus denen die Europäer ihre Geschichte sehen, dargestellt werden können. Es müsste zum Vergleich dieser verschiedenen Perspektiven einladen. Ein Museum, das – überspitzt gesagt – nur zum Staunen einlädt, weil der Besucher dort Objekte sehen kann, die einst Soldaten, Bäuerinnen oder Kaiser in Händen hielten, erfüllt keinen aufklärerischen Zweck. Auf 4.000 Quadratmetern lässt sich mehr von der Geschichte der europäischen Völker und Nationen aber schwerlich darstellen. Staunen und Ehrfurcht vor »der Aura« des Objekts: Mehr wird sich nicht erzielen lassen. Das Museum, so wie es jetzt geplant ist, wäre wenig besser als ein Denkmal.
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Zsuzsa Breier
Entspannung als Ergebnis der europäischen Geschichtsaufarbeitung?
Die Jubiläumsjahre 2009 und 2010 – 20 Jahre Mauerfall und 20 Jahre deutsche und europäische Einheit – haben die europäische Geschichte ins Rampenlicht gerückt. Diskussionen, Ausstellungen, Publikationen, Schulprojekte und Medienbeiträge haben sich in Deutschland mit europäischer Geschichte und Erinnerung auseinandergesetzt. Allein die Menge und Vielfalt der Diskussionen lassen auf einen Erkenntnisgewinn schließen. Hat diese intensive Beschäftigung auch neue Qualitäten im Umgang mit der deutschen und der europäischen Geschichte hervorgebracht? Die Idee eines »Hauses der Europäischen Geschichte«, eines Ortes, »der unsere Erinnerung an die europäische Geschichte und das europäische Einigungswerk gemeinsam pflegt«, wie Hans-Gert Pöttering 2007 formulierte, zeugt von dem Bedürfnis der Europäer nach einer europäischen Zusammenschau, womöglich auch nach einem Konsens über die europäische Geschichte. Dieses Bedürfnis wuchs mit dem Einigungsprozess, insbesondere seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Beitritt der ehemaligen Ostblockländer zum freien demokratischen Europa. Europas Völker, Staaten und Nationen haben mit dem Projekt der Europäischen Union in historisch einmaliger Weise zusammengefunden. Es ist nur folgerichtig, wenn das vereinte Europa, das nach Jahrhunderten des gegenseitigen Bekriegens, Vernichtens, Verfeindens und Versöhnens nun gemeinsame Ziele verfolgt, auch gemeinsame Grundlagen braucht. Solange es um die Erklärung eines gemeinsamen demokratischen Grundverständnisses geht, um die Beteuerung von Freiheit und Menschenrechten, gibt es einen zuverlässigen Konsens in Europa. Wie sollen sich aber Europäer, die ganz unterschiedlichen Nationalstaaten angehören, die in verschiedenen Sprachen, Kulturen, Geschichten und Politiken verwurzelt sind, plötzlich in einer europäischen Geschichte wiederfinden? Wie sollen sie ihren im Gewitter der europäischen Geschichte tradierten und trainierten Blick auf die Anderen ablegen und gegen einen europäischen Blick eintauschen? Wie sind jahrzehnte-, jahrhundertealte Denk- und Verhaltensmuster früheren Feinden, Freunden, Konkurrenten und Fremden, Tätern und Opfern gegenüber abzuschütteln? Die Frage ist nicht nur theoretischer Natur. Geschichte
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wirkt nach. Eroberungen und Heldentaten, Verbrechen, Verletzungen und Beschuldigungen, Missverständnisse und Vorurteile spielen im Umgang der Europäer miteinander durchaus noch eine Rolle. Ein gemeinsames europäisches Agieren setzt aber versöhnte Europäer voraus. Soll das Haus der Europäischen Geschichte zu diesem Prozess einen Beitrag leisten können, so ist dies ein ebenso grundlegendes wie schwieriges Unterfangen. Denn wie sollen die in unterschiedlichen Sprachen und damit auch in unterschiedlichem Denken verfassten nationalen Geschichten eine gemeinsame Form finden? Eine schlichte Aneinanderreihung europäischer Ereignisse kann ebenso wenig das Ziel sein wie das Zwingen der nicht nur abweichenden, sondern vielerorts auch einander widersprechenden Geschichtsdarstellungen unter ein gemeinsames Dach. Ob es überhaupt ein Dach geben kann, das diese Vielfalt zu fassen vermag? Wie sollen denn die Geschichten dutzender Länder und von noch erheblich mehr Volksgruppen, Regionen und von Millionen Menschen in einem Haus, in einer Ausstellung erzählt werden? Das Haus der Europäischen Geschichte muss eine polyphone Erzählweise finden, die zu einer Geschichte mehrere Geschichten erzählt, zugleich aber nicht verwirrt, um die Möglichkeit des Sich-Einfühlens nicht zu nehmen. Denn solange Forschungsergebnisse Forschungsergebnisse bleiben und die Menschen nicht berühren und nicht betreffen, sich nicht zur Identifikation anbieten, werden aus den Kenntnissen kaum Erkenntnisse. Ein »zentrales Anliegen muss nicht allein die wissenschaftliche Erforschung sein, sondern ihre gesellschaftliche Vermittlung«, stellte Horst Möller auf der Berliner Erinnerungskonferenz der Gesellschaft DIALOG.KULTUR.EUROPA e. V. im April 2010 fest.1 Einig waren sich die Tagungsteilnehmer darin, dass die Aufarbeitung des Kommunismus heute im Osten wie im Westen vor der Herausforderung steht, die Forschungsergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit – einer nationalen und einer europäischen – zugänglich und vertraut zu machen. Wie unterschiedlich Europäer ihre Geschichte erlebt haben und wie unterschiedlich sie darüber denken, wird eindringlich in den Auseinandersetzungen um die jüngste Geschichte Europas vor Augen geführt. Eine einfache
1 Horst Möller: Muss die Geschichte Europas nach dem Kalten Krieg neu geschrieben werden? Beitrag zur Podiumsdiskussion der Konferenz »Europa erinnert sich für die Zukunft« am 29. April 2010 in Berlin, veranstaltet von der Gesellschaft zur Förderung der Kultur im erweiterten Europa e. V. (seit 2011 DIALOG.KULTUR.EUROPA e. V.). Die Vorträge sind im Internet dokumentiert unter: URL: http://www.kultur-in-europa.de [24.10.2010] und erscheinen als Publikation in: Zsuzsa Breier/Adolf Muschg (Hg.): Freiheit, ach Freiheit … Vereintes Europa – geteiltes Gedächtnis, Göttingen 2011.
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Summe der Geschichten im Kalten Krieg jenseits und diesseits des Eisernen Vorhangs kann es nicht geben; ebenso wenig wird es möglich sein, mit den Kategorien der Nachkriegsgeschichtsschreibung wie »Widerstand« und »Kollaboration« alle Facetten des Lebens in der Diktatur zu erfassen. Nicht das Konzept, sondern die Ausstellung wird zeigen, ob und wie weit Europäer heute, 20 Jahre nach der europäischen Einigung, reif und bereit sind für eine europäische Sicht; und auch umgekehrt: ob die Erkenntnisse der Geschichtsforschung und das Geschichtsbewusstsein der Europäer einen gemeinsamen Ansatz ergeben. Ob in diesem Ansatz aber auch das Nationale, das Regionale, das Individuelle erkennbar bleibt, ob auch Europas Bürger sich noch darin wiedererkennen werden? Ein europäischer Ansatz muss immer beides leisten: das Übergreifende, das Verbindende, das Gemeinsame herausarbeiten, aber auch die Differenzen, die Widersprüchlichkeiten, die Ambivalenzen zeigen – das Positive und das Negative, das Erreichte und auch das Nicht-Erreichte gehören dazu. Auf wie viel Optimismus, auf wie viel Pessimismus wird der Besucher im Haus der Europäischen Geschichte stoßen? Wie viel von dem Erreichten und Errungenen wird einfließen, wie viel von den Lasten, von Frust, Unmut und Befürchtungen – auch hier wird es nicht zu vernachlässigende Akzentunterschiede geben. Angesichts solcher Diversität und eines reichlich verzwickten Beziehungsgeflechts in Europa kann ich mir nicht vorstellen, dass ein Ausstellungskonzept erfolgreich sein kann, das nicht von vornherein alle betroffenen Länder durch mindestens ein Gremiumsmitglied in das Konzept einbezieht. Es kann nicht oft genug betont werden, wie offen sich ein Konzept der europäischen Geschichtserzählung halten muss. Jede Generation, jede Zeit muss sich die Geschichte neu erarbeiten können – Korrekturen und Ergänzungen sollen bei allem Konsens möglich sein. Insbesondere gilt dies für die unmittelbare Vergangenheit, deren Wunden noch nicht geheilt sind, wo die Geschichte noch »qualmt«; und verstärkt gilt dies für die Zeit der kommunistischen Diktatur, deren Wahrnehmung und Bewertung über Jahrzehnte im Osten wie im Westen durch Isolation und Propaganda verhindert und verzerrt wurde. Wenn dies – von Osteuropäern – beklagt wird, mahnt der Westen zur Geduld: Das, was über Jahrzehnte verzerrt wurde, könne nicht in kurzer Zeit korrigiert werden. Auch die Forderung, Europas Geschichte nach dem Kalten Krieg neu zu schreiben, halten viele für übertrieben. Nicht so jene ehemaligen Ostblock-Bürger, die ihre Geschichte nicht von den gleichen Historikern wie damals schreiben lassen wollen – ebenso wenig wollen sie, dass die Politik in ihren Ländern von den gleichen alten Akteuren gestaltet wird. Die slowenische Historikerin Tamara Griesser-Pečar etwa vermisst einen »Durchbruch
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zur historischen Objektivität und Unabhängigkeit« in ihrem Land und beklagt, dass »viele Institutionen und der größte Teil der slowenischen Publizistik immer noch von Historikern und Journalisten beherrscht (wird), die entweder selbst für das kommunistische Regime tätig waren oder aber von der Regime-Geschichtsschreibung stark geprägt sind und sich von den alten Denkmustern nicht so rasch trennen können.«2
Gerade angesichts solcher politisch-ideologischer Aufarbeitungshindernisse käme europäischen Initiativen und Institutionen, die unabhängig von den mit ehemaligen kommunistischen Akteuren besetzten Regierungen einen neuen Ansatz vertreten könnten, eine besondere Rolle zu – wären dieselben ehemaligen kommunistischen Regimekräfte nicht auch in den besagten europäischen Institutionen vertreten. Sandra Kalniete, Ex-Außenministerin Lettlands und Abgeordnete des Europäischen Parlaments, spricht von einer »großen Verwirrung« im europäischen Geschichtsverständnis, weil Europa bis heute nicht die Konsequenzen aus 50 Jahren Separation und kommunistischer Gewaltherrschaft gezogen habe. So sitze sie heute im Europäischen Parlament zusammen mit dem ehemaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei Lettlands, der damals den Weg ihres Landes in die Unabhängigkeit und Demokratie und damit die Beteiligung an Europa zu verhindern suchte.3 Die Praxis des Umgangs mit der Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur auf europäischer Ebene mahnt unter diesen Umständen zur Ernüchterung. Der Kommunismus ist gescheitert, er war im Ostblock diktatorisch und verbrecherisch – so weit waren sich die Europäer kurz nach dem Fall der Mauer einig. Dass diese Position 20 Jahre danach aufzuweichen beginnt, hat viele Gründe. Wenn die ehemalige kommunistische Elite des Ostblocks, inklusive einer mit Kapitalismusskepsis verbundenen zunehmend linken Ideologie, europaweit wieder Fuß zu fassen beginnt, bedeutet dies für die europäische Geschichtsaufarbeitung einen eindeutigen Rückschritt. Kaum waren die
2 Tamara Griesser-Pečar: Verschwiegene Gräber – Die Massenmorde der Partisanen. Vortrag am 16. September 2009 in Berlin im Rahmen der Reihe »Doppelgedächtnis: Debatten für Europa«. Erscheint in: Zsuzsa Breier/Adolf Muschg (Hg.): Freiheit, ach Freiheit …, a. a. O. 3 Sandra Kalniete: Europe’s history after communism needs to be rewritten. Beitrag zur Konferenz »Europa erinnert sich für die Zukunft« am 29. April 2010 in Berlin; im Internet dokumentiert unter: URL: http://www.kultur-in-europa.de [24.10.2010]. Erscheint in: Zsuzsa Breier/Adolf Muschg (Hg.): Freiheit, ach Freiheit …, a. a. O.
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Archive geöffnet und begann die Aufarbeitung, schon litten Forschungsinstitutionen und Historiker unter dem neuen Einfluss der ehemaligen Täter und ihrer politischen Nachkommen. So begleiten heftige Debatten in fast allen postkommunistischen Ländern die Aufarbeitung, die leicht zwischen die Fronten gerät: zwischen linken und rechten, alten und neuen politischen Kräften. Wenn schon das 4. Internationale Symposium der Stiftung Ettersberg 2005 in seiner vergleichenden Zwischenbilanz der deutschen KommunismusAufarbeitung zu der Feststellung gelangte, dass »die Erinnerung an die SEDDiktatur bis heute defizitär« sei, so gilt dies im europäischen Kontext heute doppelt und dreifach. Der zyklisch wiederkehrende oder teils nicht einmal unterbundene Einfluss der kommunistischen Eliten in den Ländern des ehemaligen Ostblocks hat eine Aufarbeitung wie in Deutschland kaum ermöglicht. Es fehlt an Mitteln und, so merkwürdig es klingen mag, auch an Erfahrung. Während Deutschland in der prosperierenden Nachkriegszeit über 40 Jahre lang Zeit hatte, sich mit der nationalsozialistischen Diktatur auseinanderzusetzen, und nach dem Fall der Mauer nun »geübt« eine zweite Diktaturaufarbeitung zu leisten vermochte, sind es gänzlich andere Umstände, die die Aufarbeitung im Osten begleiten. Nach 40 Jahren kommunistischer Diktatur mitsamt eines zum Teil verlogenen Antifaschismus gilt es, sich mit zwei Diktaturen auseinanderzusetzen. Und dies in einer Zeit, die von der erdrückenden Altlast des Kommunismus ebenso gekennzeichnet ist wie von den bröckelnden Fassaden des europäischen Wohlstands. So viel Gemeinsamkeit kann man wohl trotz aller Unterschiede behaupten. Wenn in Deutschland Gedenkstätten wie jene in Hohenschönhausen steigende Besucherzahlen melden und kommunistische Verbrechen allmählich auch in die Schulbücher thematisch Eingang finden, lässt dies auf einen Erfolg der Aufarbeitung schließen. Wenn sich jedoch in den neuen EU-Demokratien des früheren Ostblocks ehemalige Massenmörder wie János Kádár oder Nicolae Ceaușescu wachsender Beliebtheit erfreuen und es vorkommen kann, dass Historiker verklagt werden, die Akten öffnen und Täter benennen; wenn Forschungseinrichtungen unter solchen Regierungen um ihre Existenz bangen müssen, an denen zu europäischen Sozialdemokraten mutierte ehemalige Kommunisten mitwirken, dann sind dies Zeichen dafür, welch große Aufgaben die ehemaligen kommunistischen Länder, aber auch Europa noch zu bewältigen haben. Wären die Verbrechen des rumänischen Diktators Ceaușescu einer breiten Öffentlichkeit bekannt und gegenwärtig, hätte er sich posthum nicht zu einem der beliebtesten Politiker des Landes entwickeln können, sondern wäre verachtet und verhasst wie zu Lebzeiten, als er einen stalinistischen popularisierenden
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Personenkult pflegte. Wer hätte gedacht, dass 20 Jahre nach der Wende gerade in dem einzigen ehemaligen Ostblock-Staat, der nicht friedlich, sondern mit Blutzoll seine Freiheit erkämpfte, fast die Hälfte der Bevölkerung den Ex-Diktator für ein »gutes Staatsoberhaupt« hält?4 Fehlt die Bildung, mangelt es an Forschung? Es mag nicht weiter verwundern, wenn in Russland heute der sanft angeordnete Stalin-Kult ohne besonderen Druck zu funktionieren scheint. In den Demokratien Europas sollte aber die Verurteilung von Diktatoren eine Selbstverständlichkeit sein. Die Europäer sind im antitotalitären Konsens vereint, auch wenn darunter ursprünglich ausschließlich der Antifaschismus verstanden wurde. Im Kalten Krieg waren – im Westen freiwillig, im Osten zwangsverordnet – positive Einschätzungen zum Kommunismus noch weit verbreitet. Nicht so nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Der Sturz des Kommunismus und Europas Einigung in Demokratie markieren den Abschied von der kommunistischen Diktatur. Europa vereinte sich im Grunde durch einen antikommunistischen Konsens. Das Scheitern des Kommunismus war eine Tatsache, der Abschied vom Kommunismus war gewollt, seine Verurteilung lässt jedoch bis heute auf sich warten. »Europa hat kläglich versagt bei der Aufgabe, die Verbrechen des Kommunismus in ihrer ganzen totalitären Wesensart anzuprangern«, beklagt Vaira Vqte-Freiberga.5 Hätte es eine Verurteilung gegeben, würden sich kommunistische Massenmörder wie Ceaușescu oder Kádár heute kaum eines guten Rufes erfreuen können. Laut einer Umfrage des ungarischen Medián Instituts aus dem Jahr 2006 führt Kádár (der über 30 Jahre lang die Geschicke der kommunistischen Partei in Ungarn lenkte, der nicht für einen netten »Gulasch-Kommunismus«, wie von vielen erinnert und gedacht, sondern für Mord, Repression und Diktatur steht) mit 41 % die Liste der ungarischen Politiker an, die eine positive Rolle in der Geschichte gespielt haben sollen. Ungarns erster frei gewählter Ministerpräsident nach dem Sturz des Kommunismus, József Antall, zweifelsfrei ein Demokrat, unterlag dem Massenmörder in der gleichen Befragung mit spärlichen 22 % Zustimmung.6
4 »Fast die Hälfte der Rumänen (49 %) hält Ceaușescu für ein gutes Oberhaupt«, zitiert eine APA-Meldung vom 27. Juli 2010 aus einer rumänischen Umfrage. 41 % der Rumänen würden Ceaușescu sogar zum Staatsoberhaupt wählen. 5 Vaira Vqte-Freiberga: »Wir brauchen den guten alten Humanismus«, Vortrag am 22. Oktober 2008 in Berlin im Rahmen der Reihe »Doppelgedächtnis: Debatten für Europa«. Erscheint in: Zsuzsa Breier/Adolf Muschg (Hg.): Freiheit, ach Freiheit …, a. a. O. 6 Medián Közvélemény és Piackutató Intézet, Umfrage vom 29. August 2006, im Internet unter: URL: http://www.median.hu [24.10.2010].
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Spätestens mit der DDR-Unrechtsstaat-Debatte in Deutschland wurde plastisch vorgeführt, dass die kollektive Erinnerung kaum auf Evidenzen setzt. Mit Behauptungen wie Demokratie sei Rechtsstaat und Verbrechen bleibe Verbrechen ist es offenbar nicht getan. Es reicht nicht aus, die Lehren aus den Diktaturen zu benennen und unseren demokratischen und antitotalitären Konsens zu beteuern. Eine Erzählung der europäischen Geschichte muss mehr leisten. Unser Gedächtnis wirkt auch auf die Gegenwart. Schon deshalb können wir nicht unabhängig vom Jetzt auf das Gewesene zurückschauen. Das Feld der europäischen Erinnerungen ist mit so viel Leid und Trauma verwoben, aus so vielen Wahrheiten, Halbwahrheiten, Illusionen und Irrtümern geschichtet und von so vielen aktuellen politischen Interessen überlagert, dass eine so einfache und klare Aussage wie »die DDR war ein Unrechtsstaat« zwar zum europäischen Grundkonsens gehören muss, aber bei weitem nicht alle Knoten zu lösen vermag. Und doch brauchen wir diese Grundkonsense, sonst werden unser Europa und unsere europäische Geschichtserzählung zu beliebig. Das Haus der Europäischen Geschichte kann und muss die großen Identitätsdebatten thematisieren. Die dadurch erhoffte neue Energie, mit der die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl erfüllt werden sollte, will sich jedoch bis heute nicht einstellen. Die in der Diktatur gewachsene Identität des Ostens, die aus dem Widerstand gegen die Fremdherrschaft um das Eigene rang und das Nationale pflegte, diese Identität befremdet den Westen. Die Tugend der Nation, die für viele Osteuropäer als Rückzugsort inmitten einer oktroyierten Fremdkultur galt, die Ventil war und Hoffnung gab, ist für viele Westeuropäer ein rotes Tuch, sie gilt als Wurzel des europäischen Übels schlechthin. Es gibt nichts, was Westeuropäer am Osten häufiger anprangern als dessen angeblich fixierten und gefährlichen Nationalismus. Und umgekehrt: Die Bevormundung aus dem Osten wollten die Ost(mittel)europäer nicht gegen eine Bevormundung des Westens eintauschen. Alle Europäer atmen heute Freiheit und doch sind sie auch Gefangene ihrer noch im Kalten Krieg gefestigten Automatismen. Während die Kinder der Wohlstandsgesellschaft den Aufstand gegen ihre Eltern und den boomenden Kapitalismus probten und den linken »Fortschritt« des fernen Ostens anbeteten, sehnte sich der Ostblockbürger nach Jeans und Bananen und riskierte sein Leben für die Freiheit. Das ist meine osteuropäische Erzählung. Im freien Westen wurden Diktatoren wie Josef Stalin, Mao Zedong und Che Guevara zu Pop-Idolen einer satten Generation, um die Verbrechen ihrer Väter mit linker Rebellion zu kontern. »Links« und »rechts« sind bis heute Begriffe, die im Westen und im Osten etwas anderes bedeuten. Hier verbindet man die Brutalität der verbrecherischen Gewaltherrschaft mit dem einen, dort mit dem
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anderen. Warum es so schwierig ist, die Brille des Nachkriegszeitgeistes abzulegen, warum die Erfahrungen der geteilten Zeit auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs noch Wege verbauen – auch dies sollte ein Haus der Europäischen Geschichte versuchen zu erzählen. Nachdem sogar die Deutschen nach 60 Jahren Vergangenheitsbewältigung zu einer neuen Qualität der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen gefunden haben, wäre es Zeit, diese Qualität auch auf Europa auszuweiten. »Wir leiden nicht mehr unter der Geschichte des Nationalsozialismus. Wir konsumieren sie«, stellt der Feuilletonist Eckhard Fuhr nach dem Besuch der Ausstellung »Hitler und die Deutschen« im Deutschen Historischen Museum in Berlin fest.7 Ich werte das als ein großartiges Ergebnis der deutschen Aufarbeitung, wenn nach jahrzehntelanger Mühe Hitler und der Nationalsozialismus bis zur »Ungefährlichkeit« aufgearbeitet sind. Die Verachtung und Verurteilung des Nationalsozialismus ist Konsens. Die demokratischen Werte sind stabil, die historisch-politische Bildung bezüglich des Nationalsozialismus ist außerordentlich, das Geschichtsbewusstsein der Deutschen gut entwickelt. Es ist nur zu begrüßen, wenn am Ende dieses Aufarbeitungsprozesses ein unverkrampfter Umgang mit der eigenen Geschichte möglich ist. Wie Fuhr es ironisch zuspitzt: Heute ist es möglich, Adolf Hitler »auch zur Entspannung zu gucken« und ihn »wie Rotwein zu konsumieren«8. Nicht gut ist es aber, wenn diese Entspannung nur in Bezug auf die deutsche Geschichte gilt, und ebenso problematisch ist es, wenn die »FaschismusKeule« zwar nicht mehr die Deutschen, dafür jedoch andere Europäer trifft. Und reiner Unsinn ist es gar, wenn Der Spiegel Budapest zum »Zentrum eines neuen Antisemitismus« ernennt, wenn Die Welt Ungarn als »Herrenvolk« denunziert, Die Zeit über »Ungarn unter der Fahne der Faschisten« berichtet, die TAZ von »Ungarns Abdrift in den Faschismus« spricht und die Süddeutsche Zeitung das gegenwärtige demokratische Ungarn mit der NSDAP vergleicht. Dass Hitler längst als Allegorie für das Böse schlechthin gilt, dass die deutsche Debattenkultur die Vergleiche mit Hitler und dem Dritten Reich hin und wieder reichlich überstrapaziert, kann als historische Besonderheit gewertet werden oder auch als Auswuchs der letztlich doch erfolgreichen deutschen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Hitler-Vergleiche sollten vor diesem Hintergrund, aber auch angesichts ihres inflationären Gebrauchs, eigentlich ihre Wirkung verfehlen. Das im Westen wie im Osten altbekannte Patent-
7 Eckhard Fuhr: Adolf Hitler kann man auch zur Entspannung gucken, in: Welt online vom 16. Oktober 2010. 8 Ebenda.
Entspannung als Ergebnis der europäischen Geschichtsaufarbeitung?
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rezept mancher Linker für die öffentliche Denunziation von Personen scheint in den innerdeutschen Debatten kaum mehr zu verfangen. So schlug die »Hitler-Keule« vor einigen Jahren sogar auf die sozialdemokratische Politikerin Herta Däubler-Gmelin zurück, als sie »die Methode« des amerikanischen Präsidenten George W. Bush mit der von Hitler verglich.9 Muss denn die »Nazi-Keule«, die auch gegen das demokratische Nachkriegsdeutschland so häufig zu Unrecht geschwungen wurde, nun von Deutschland aus gegen ein anderes demokratisches EU-Land geschwungen werden? Die viel beschworene Einigkeit in Sachen europäisches Gedächtnis lässt trotz gemeinsamer Beteuerungen noch auf sich warten. Die alten Zuckungen eines im Kalten Krieg trainierten Gedächtnisses scheinen noch immer nicht abgeklungen zu sein. Die Geschichte des Nationalsozialismus mag in Deutschland per Fernbedienung abrufbar sein und wie Rotwein konsumiert werden können – nicht so die europäische Geschichte: zu viele Kanäle, zu viele Erzählungen. Das macht nicht nur das Unternehmen einer europäischen Geschichtsausstellung schwierig, das stellt Europa im Dschungel der Geschichten und ihrer Deutungen tagtäglich vor neue Herausforderungen.
9 Infolge einer äußerst umstrittenen Wahlkampfäußerung wurde Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin nach der Bundestagswahl 2002 bei der Regierungsbildung nicht mehr berücksichtigt. Sie war im Schwäbischen Tagblatt mit den Worten zitiert worden: »Bush will von seinen innenpolitischen Schwierigkeiten ablenken. Das ist eine beliebte Methode. Das hat auch Hitler schon gemacht.« Siehe dazu u. a.: Ministerin in Erklärungsnot, in: Frankfurter Allgemeine vom 19. September 2002.
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Volkhard Knigge
Forum oder Identitätsfabrik – Anmerkungen zum Haus der Europäischen Geschichte
Ich möchte mich hinsichtlich der Diskussion zum in Brüssel geplanten Haus der Europäischen Geschichte vor allem auf folgende Fragen konzentrieren: Wie legitim und sinnvoll sind geschichtskulturelle bzw. geschichtspolitische Vorhaben, die Identität durch Geschichte weniger diskursiv und reflexiv als vielmehr mehr oder minder zentralistisch und top-down generieren, wenn nicht inszenieren möchten? Wie legitim und sinnvoll sind solche Vorhaben, die weniger öffentlich hervorgebracht und begleitet werden, als vielmehr den Nöten – oder guten Absichten – einer politischen Institution bzw. Elite sich verdanken? Beispielsweise war die 1958 eingeweihte Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald der DDR ein weitgehend ohne öffentlichen Diskurs von oben herab und mit Hilfe verschiedener Formen inszenierter Öffentlichkeit realisiertes Projekt. Es präsentierte ein politisch-normatives Geschichtsbild, das den politischen Interessen und Bedürfnissen der politischen Klasse der DDR entsprach und das in vielerlei Hinsicht historische Erfahrungen und erfahrungsgeschichtliche wie historiographische Herausforderungen überging. Am Ende ließ sich die Kluft zwischen Institution und politisch-historischen Identitätsvorgaben nur mehr mit Druck – von verordneten Besuchen bis hin zur drastischen Präsentation und Kommunikation historischer Deutungen – überdecken. Intrinsisch motivierte Gedenkstättenbesucher hat das abgeschreckt, und ein überzeugender Antifaschismus konnte so nicht ausgebildet werden. Das sollte uns zu denken geben. Włodzimierz Borodziej hat gerade als überzeugter Europäer eindrücklich über das Elitenprojekt eines Hauses der Europäischen Geschichte gesprochen. Ich meine, dass er dabei implizit an die – exemplarischen – Sorgen eines Eugen Kogon, der Häftling im KZ Buchenwald war, angeknüpft hat. Eugen Kogon war ein deutscher Europäer der ersten Stunde nach der Zerschlagung des »Dritten Reichs«, und das KZ Buchenwald ist mit den vielen auf den Ettersberg deportierten Widerstandskämpfern, Politikern, Intellektuellen und Künstlern aus ganz Europa ein besonderer Ort der europeisation gewesen. Ehemalige Häftlinge wie Jorge Semprún oder Stéphane Hessel haben daran immer erinnert; und Pierre Sudreau, Buchenwald-Überlebender und Minister
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Volkhard Knigge
unter de Gaulle, hat in seiner Rede 1995 zum 50. Jahrestag der Befreiung Buchenwalds ebenso so schlicht wie eindrücklich festgestellt: in Buchenwald habe er gelernt, Europäer zu sein. Worin besteht die Verbindung zwischen Włodzimierz Borodziejs und Kogons Engagement? Kogon sah in Europa ein Friedensprojekt, eine Friedensunion. Ein geeintes Europa stand gegen die forcierte europäische Selbstzerstörung, wie sie sich furchtbar bereits im Ersten Weltkrieg gezeigt hatte. Und es stand für die Re-Zivilisierung Deutschlands, für die Überwindung obrigkeitsstaatlicher, militaristischer Traditionen und sowohl kulturell wie rassistisch begründeten Herrenmenschentums. Das eigentliche Europa sah Kogon als föderativen Bund jenseits nationaler Beschränktheiten und Kleinkariertheit. Diese politisch und kulturell fundierte Union verstand er zugleich als »dritte Kraft«, im Inneren wie nach außen friedenstiftend, der Konfrontation der politischen Blöcke ebensowenig das letzte Wort lassend wie einem entfesselten Kapitalismus oder einem autoritären, repressiven Staatssozialismus. In dieser Hinsicht war für ihn Europa nicht nur eine »dritte Kraft«, sondern auch ein dritter Weg, der Freiheit, soziale Gerechtigkeit und umfassende Demokratie integrieren sollte. Natürlich wissen wir heute, in welch hoffnungslose Lage europäische Föderalisten spätestens mit Beginn des Kalten Krieges gerieten. Und nimmt man die Friktionen, nationalen Eitelkeiten und Egoismen, nimmt man die Wiederbelebung des völkisch-nationalistischen Populismus in Europa ernst, dann wird man mit einer gewissen Bitterkeit auf die frühe Transformation selbst der »EuropaUnion« zu einer Institution primär wirtschaftlicher Integration blicken. Auch wenn man es heute für naiv halten mag, steckt in Kogons Vorstellung einer freien, sich in Europa fruchtbar aufhebenden Systemkonkurrenz nach wie vor etwas Anspornend-inspirierendes. So schrieb er 1952 in den Frankfurter Heften: »Das richtige wäre ohne Zweifel ein freier und friedlicher Wettbewerb der beiden Systeme, die um die Neuordnung der Welt ringen. Sie würden dann einander allmählich durchdringen und könnten den Kompromiß zustande bringen, der uns der Lösung der Kernprobleme unserer heutigen internationalisierten, arbeitsteiligen Großgesellschaft vielleicht näher brächte: formale und inhaltlich erfüllte Gleichheit der Rechte Aller, Wohlstand für Jedermann nach seiner Leistung, kontrollierbare und kontrollierte Autoritäten auf allen Stufen, national und übernational, in einem umfassenden System des gesellschaftlichen und politischen Föderalismus – ein Bund freier Demokratien also. […] Es wird ein zähes Ringen werden. Vielleicht gelingt das erreichbare Optimum: Auseinandersetzung mit Teilerfolgen – ohne Krieg.«1 1 Eugen Kogon: Fünfter Akt im europäischen Schauspiel, darin Deutschland, in: Frankfurter Hefte, Juni 1952, S. 506.
Forum oder Identitätsfabrik – Anmerkungen zum Haus der Europäischen Geschichte
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Mit der Überwindung der kommunistischen Diktaturen in Ostmitteleuropa und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion ist eine elementare Motivation (west-)europäischen Zusammenhalts verschwunden und umso deutlicher treten die Probleme eines Marktes ohne umfassende institutionelle politischsoziale Gemeinschaft hervor. Dem entspricht, dass vitale Impulse europäischer Integration im Moment eher aus Ländern wie Polen kommen, wo das Gedächtnis an die antitotalitäre Wirkung Europas noch recht lebendig ist. Zugleich hat die Osterweiterung der Europäischen Union – und das damit verbundene Aufeinandertreffen unterschiedlicher historischer Erfahrungen und Gedächtnisbildungen – die Frage der europäischen Verfassung und Identität verschärft. Renationalisierung, Beschwörung goldener nationaler Vergangenheiten, die aggressive Kommunikation vermeintlich offener nationaler Ansprüche sind eine – beunruhigende – Antwort darauf. In all diesem und auch im Ausblenden des Grauens, von dem sich die europäische Einigung jenseits funktionaler Motive insofern genährt hat, als solchem Grauen ein für alle Mal der Nährboden entzogen werden sollte, hat das Projekt eines Hauses der Europäischen Geschichte seinen historischen Ort; aber weniger als Top-Down-Projekt einer symbolisch und kompensatorisch handelnden politischen Elite, sondern vielmehr als Forum europäischer Öffentlichkeit und reflektierten Geschichtsbewusstseins. Bisher ist allerdings vom Haus der Europäischen Geschichte als einem Ort und Agens europäischer Öffentlichkeit und europäischen Geschichtsbewusstseins wenig zu spüren. Vielmehr erscheint es als Produkt kaum kommunizierter europäischer Kabinettspolitik und überdies als vom Schwanze aufgezäumt. Das Gebäude steht bereits ebenso fest wie die Zahl der Quadratmeter der Dauerausstellung. Die Ausschreibung zum Umbau des gewählten – historischen – Gebäudes erfolgte, bevor ein Team aus Historikern und Museologen etabliert wurde oder ein konkretes Konzept vorlag. Das Eröffnungsdatum 2014 bestimmt sich nach dem Kalender historischer Jahrestage und ist aus fachlicher Sicht unrealistisch. Es scheint, als stünde einmal mehr das politische Symbol, der äußere Zweck im Vordergrund, nicht aber die fachliche Solidität. Die Chance, mittels des Vorhabens in Europa über Europa und seine Geschichte diskursiv und partizipativ gemeinsam nachzudenken, droht vertan zu werden. Die zivilisierende Kraft methodisch geleiteter historischer Vernunft erscheint als politisch marginalisiert. Geschichtsbewusstsein und historische Identität drohen weniger reflexiv, als vielmehr durch die Identifikation mit Geschichtsbildern gebildet zu werden. Es wäre deshalb mehr als wünschenswert, wenn die normativen, erfahrungsgeschichtlichen und historiographischen Bezugshorizonte dieses so wichtigen Vorhabens endlich breiter kommuniziert und diskutiert werden würden.
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Volkhard Knigge
Eine zentrales Thema solcher öffentlicher Auseinandersetzung wären die konkreten – nationalen und transnationalen – historischen Erfahrungen des extremen 20. Jahrhunderts, die die Notwendigkeit Europas – sage man im Kogon’schen Sinn – negativ und positiv begründen. Europa nicht teleologisch zu feiern, sondern es nicht zuletzt als Ergebnis kritischer Aufarbeitung europäischer Selbstverfehlung – mit Imre Kertész: die europäische Kultur hat sich als hintergehbar erwiesen – begreifbar zu machen, gehörte wesentlich dazu. Europa fußt nicht zuletzt auf einem Leid-, Unrechts- und Verbrechensgedächtnis, das zumindest in den ersten Jahren nach 1945 noch nicht völlig von der folgenden West-Ost-Spaltung gekennzeichnet war. Auch Emigranten aus Ostmitteleuropa gehörten zu seinen Trägern und Gestaltern. Dass es zumindest in nuce ein europäisches Gedächtnis vor der EU gab und bereits deshalb ein europäisches Gedächtnis mehr ist als ein Gedächtnis der EU, daran lohnt sich gerade heute zu erinnern. Meine praktische Anregung geht vor diesem Hintergrund dahin, das Haus der Europäischen Geschichte zum einen als einen Ort der selbstkritischen Vergegenwärtigung der Vorgeschichte europäisch emphatischen Denkens und seiner Institutionalisierung zu verstehen, und so als Ort einer Geschichte der EU, ihrer Entwicklungen und ihrer Vorgeschichte diesseits und jenseits bloß militärischer und ökonomischer Zwecksetzungen. Zum anderen betrachte ich ein solches Haus weniger als Repräsentationsplattform des wie auch immer bestimmten Europäischen, sondern vielmehr als Laboratorium und Ort der Exploration des Europäischen, seiner Entwicklungen und dem, was es weiterhin – über die EU hinaus – sein könnte und sollte. Nicht die Abbildung von Vergangenheit wäre die Hauptaufgabe, sondern die Generierung von Impulsen für eine europäische Geschichtskultur. Nicht mit einer 2014 aus dem Hut gezogenen Dauerausstellung sollte sich das Haus bemerkbar machen, sondern es sollte bereits heute als Kristallisationspunkt eines Netzwerkes europäischer Geschichtskultur erfahrbar werden. Wäre ich dort als Kurator tätig, würde ich beispielsweise die Direktoren und Chefkuratoren der Nationalmuseen in Europa bitten, je fünf nationalgeschichtliche Sammlungsgegenstände nach Brüssel auszuleihen, die – mit Gründen, anhaftenden Narrativen oder Spezifika der Überlieferung – als zugleich besonders europäisch gelten können. Objekte und Geschichte zu konfrontieren, in einen Dialog miteinander zu bringen, Perspektiven und Narrative vergleichend aufeinander zu beziehen, Reibungen aufzuschließen, historische Neugier – aufeinander hin – zu beflügeln, hielte ich für angemessener und für das ganze Vorhaben gewinnbringender als Geschichtsbilder mit der Dampframme einzupflanzen. Und natürlich sollte eine solche Ausstellung dann nicht nur in Brüssel gezeigt werden, sondern durch Europa wandern. Und dann sähe man weiter.
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Mária Schmidt
Auf dem Weg zu einem europäischen Gedächtnis? – Eine ungarische Sicht auf das geplante Haus der Europäischen Geschichte
»Ich möchte einen Ort der Erinnerung und der Zukunft anregen, an dem das Konzept der Idee Europas weiter wachsen kann«, dieser Vorschlag von HansGert Pöttering aus dem Jahr 2007 ist nach meinem Geschmack. Denn ich bin der Überzeugung, dass wir im 21. Jahrhundert die Europäische Union – eine der wichtigsten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts –, stärken und unsere gemeinsame europäische Identität gleichzeitig vertiefen müssen. Um eine inhaltsvollere, stärkere Einheit der europäischen Nationen erreichen zu können, um den Bürgern der Mitgliedsstaaten zu zeigen, dass sie wesentlich mehr miteinander verbindet als trennt, müssen wir uns einfach besser kennenlernen. Aus diesem Grund ist es unumgänglich, die Kenntnisse der Europäer aller Generationen über ihre eigene Geschichte zu vertiefen. Denn erst dadurch wird es überhaupt möglich, eine europäische Identität aller Bürger zu schaffen oder dort, wo sie schon vorhanden ist, zu stärken. Das Haus der Europäischen Geschichte soll den Plänen nach ein Ausstellungs-, Dokumentations-, und Informationszentrum werden. Neben der Dauerausstellung sollen auch Wechsel- und Wanderausstellungen präsentiert werden. Es wäre doch hochinteressant, wenn sich die jeweils aktuellen Inhaber der EU-Ratspräsidentschaft in Form einer Wechselausstellung für ein halbes Jahr in Brüssel und darauffolgend in Form von Wanderausstellungen vorstellen könnten! Während dieser Zeit könnte das jeweilige Land einen Teil des Personals stellen (Historiker, Fachleute etc.), so wäre gewährleistet, dass das Museum gleichzeitig ein Ort der Begegnung für junge Wissenschaftler und Historiker wird. Seit zwei Jahren bin ich Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates dieses Projektes. Im Zentrum unserer Arbeit stand die Erschaffung eines Grundkonzepts für die Dauerausstellung, und es ist uns gelungen, ein Orientierungskonzept zusammenzustellen. Das war eine äußerst schwierige Aufgabe, da Altertum, Mittelalter, Neuzeit sowie die jüngste Zeit bis heute bearbeitet und diskutiert werden mussten. Das vorgelegte Konzept ist deshalb ein Kompromisspapier – mehr war gar nicht möglich.
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Mária Schmidt
Die erste große Frage, bei der ich mit meiner Auffassung der Mehrheit gegenüberstand, betraf die Gliederung. Im Gegensatz zu den anderen Kolleginnen und Kollegen vertrat ich nicht das Konzept einer chronologischen Bearbeitungsweise, sondern plädierte für eine thematische Gliederung. In der Minderheit blieb ich auch mit der Überzeugung, dass das kulturelle Erbe Europas, also das Christentum, die Kirchen, die Kunst, die Wissenschaft, die Arbeitskultur, die Dichtung, die Bildenden Künste, die Musik und die Philosophie weitaus mehr in den Mittelpunkt gerückt werden sollten als das politische Erbe. Meiner Auffassung nach sind nämlich der universelle Freiheitsgedanke, das Römisches Recht, der Nationalismus, die Arbeiterbewegung, Konflikte und Kompromisse jeglicher Art Themen, in denen sich die europäischen Völker wiedererkennen können. Da jedoch die Mehrheitsentscheidung in der Fachkommission auf die chronologische Bearbeitung fiel und dabei die moderne Geschichte Europas das Hauptgewicht bekam, entstand das vorliegende Manuskript. Die Narrative dieses Textes werden vorwiegend von der westeuropäischen so genannten »political correctness« beeinflusst. Auffallend ist, wie wenig Betonung das Erbe des Christentums erfuhr, die große Leistung der Kirche wird kaum erwähnt. Es fehlen die Namen wichtiger Persönlichkeiten, die im Text nicht einmal vorkommen, wie Martin Luther oder Ludwig Erhard, Franklin D. Roosevelt, George C. Marshall oder Wladimir I. Lenin. Dagegen wird Winston Churchill gleich fünfmal erwähnt, und Willy Brandt kommt ganze dreimal vor (seinem Kniefall im Dezember 1970 in Warschau wurden sogar zwei Zeilen gewidmet). Auch damit war ich unzufrieden: dass »der Kommunismus als alternativer Gesellschaftsentwurf und Utopie des sozialen Gleichgewichtes« erwähnt wird, ein Entwurf, »der Fortschritt und Gerechtigkeit versprach und zahlreiche Anhänger in vielen Ländern gewann«. Diese Formulierung scheint mir viel zu milde in Anbetracht seines »massenmörderischen« Rekords. Mir ist auch nicht klar, warum die Revisionsansprüche der Länder, die den Ersten Weltkrieg verloren haben, explizit genannt werden, aber Frankreichs Revisionsanspruch auf Elsaß-Lothringen keine Erwähnung findet. Dies entspricht den Sieger-, also den anglo-französischen Narrativen, die nach dem Ersten Weltkrieg »die europäische Ordnung zu stabilisieren versuchten«. Meiner Meinung nach war der Vertrag von Versailles jedoch kein Fundament der Stabilisierung, und er verdient es auch nicht, als ein solcher beurteilt zu werden. Fragen des Nationalismus und Minderheitenprobleme erhalten meiner Ansicht nach in den Konzeptionellen Grundlagen kein gebührendes Gewicht, obwohl sie sehr bedeutsam waren. So spielte der Nationalismus im 20. Jahrhundert eindeutig eine positive Rolle, denn er bewahrte die Völker, welche die
Eine ungarische Sicht auf das geplante Haus der Europäischen Geschichte
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totalitären Diktaturen der Nationalsozialisten und der Kommunisten zu vernichten versuchten. Die Nationalstaaten, die nationalen Widerstandskämpfer kämpften gegen das Dritte Reich und die Sowjetunion und überlebten beide. Im Gegensatz zu den Tatsachen behauptet der Text wiederum: »Die Renaissance des Nationalstaates führt in einigen Teilen der westeuropäischen Öffentlichkeit zur Verwirrung«. Das kann natürlich nur die »politisch korrekt« denkenden linken Intellektuellen meinen, die seit zweihundert Jahren darauf warteten, dass das so genannte Problem der Nationalitäten zusammen mit dem Staat – wie es Marx, Engels, Lenin und Stalin prophezeiten – aus der geschichtlichen Entwicklung verschwinden würde. Anfang der 1990er Jahre hatten sie selbstverständlich Grund zur Verwirrung, denn der erhoffte Fortschritt trat nicht ein, und so stellte sich Enttäuschung ein. Sicher fehlt deshalb die Anerkennung, dass die USA den Kalten Krieg gewonnen haben und die Sowjetunion ihn verlor. Obwohl Churchill fünfmal erwähnt wird, kommt seine Abmachung mit Stalin vom Oktober 1944, wo er auf einem unscheinbaren Zettel ganz Osteuropa prozentual aufteilte, nicht vor. Über das Schicksal Osteuropas ist also nicht in Jalta entschieden worden, sondern bereits Monate zuvor in Moskau. Churchills »Entdeckung« vom 5. März 1946, als er plötzlich den Eisernen Vorhang sah, der den Kontinent zweiteilte, ist also purer Zynismus, nichts anderes. All diese Fragen sind aber nur Meinungsverschiedenheiten, die sich letztendlich ausdiskutieren lassen (verschiedene Narrative können in einem modernen Museum des 21. Jahrhunderts auch parallel angedeutet werden; die virtuelle Technik unserer Zeit ermöglicht unzählige Variationen). Eben hier liegt auch mein Grundproblem in Bezug auf das gesamte Projekt: Für mich besteht das Kernanliegen dieses Hauses der Europäischen Geschichte darin, eine europäische Diskussion über unsere gemeinsame Geschichte und unsere Werte anzustoßen. Das Konzeptpapier, aus dem ich einige Punkte zitiert habe, sollte als Grundlage einer wirklichen Diskussion dienen. Die Errichtung dieses Museums sollte eine gemeinsame Angelegenheit der Bürgerinnen und Bürger Europas werden. Könnte nicht via Internet, über verschiedene Homepages ein gesamteuropäischer Meinungsaustausch initiiert werden – ein Meinungs- und Erfahrungsaustauch, der bis heute ausgeblieben ist? Ich habe die Hoffnung darauf noch nicht aufgegeben.
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Stefan Troebst
Für einen europäischen Süd-Ost-Diktatur(erinnerungs)vergleich
Der französische Politikwissenschaftler Maurice Duverger wurde 1951 europaweit durch das »Duverger’sche Gesetz« bekannt, demzufolge ein System einfacher Mehrheit in Einerwahlkreisen die Herausbildung eines Zweiparteiensystems begünstigt. Zehn Jahre später jedoch, 1961, veröffentlichte der 1917 geborene Sozialdemokrat ein mit De la dictature betiteltes Buch, in dem er nicht trockene sozialwissenschaftliche Wahlstatistik trieb, sondern einen emotionalen, gar dramatischen Ton anschlug: »Die Diktatur bedroht ständig unsere Generation: wir sind es schon gewohnt, dass sie uns wie ein wildes Tier beschleicht, dessen Brüllen uns in der Nacht aufschrecken lässt, das uns so nahe kommt, dass wir manchmal seinen Atem verspüren. Jeder Abschnitt unseres Lebens ist durch eine Tyrannei gekennzeichnet. Mussolini betrat das Capitol, als wir noch mit Glaskugeln spielten; Hitler kam, als wir im Jünglingsalter standen; Franco und Pétain traten auf, als wir junge Männer waren; die Volksdemokratien entstanden, als wir den Weg der Reife beschritten; dann waren die Militärs des Mittleren Ostens an der Reihe, schließlich die unseren.«1
Duverger porträtiert hier die »Bestie Diktatur« als gesamteuropäisches Phänomen – als ein Raubtier, das 1945 mitnichten erlegt wurde und auch seitdem sein Unwesen keinesfalls nur im sowjetischen Hegemonialbereich trieb. Neben dem transnationalen Charakter der Diktatur als Herrschaftsform macht er die generationelle Prägung der Erfahrung der Diktatur und der ständigen Bedrohung durch sie deutlich. In Duvergers Perspektive des Jahres 1961 war die Diktaturgefahr in Europa endemisch, ubiquitär und permanent. Das nimmt sich fünfzig Jahre später, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, zwar partiell anders aus, im Rückblick auf das 20. Jahrhundert – und dabei auch und gerade auf die Zeit nach 1961 – aber
1 Maurice Duverger: Über die Diktatur, übers. von Jean Komaromi, Wien 1961, S. 7 (franz. Original: De la dictature, Paris 1961).
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Stefan Troebst
nicht: Portugal und Spanien waren damals ebenso Diktaturen wie die Sowjetunion, die übrigen Warschauer Pakt-Staaten sowie das Jugoslawien Josip BrozTitos und das Albanien Enver Hoxhas; 1967 errichtete eine Militärjunta ein bis 1974 währendes diktatorisches Regime in Griechenland; von 1989 bis 2000 herrschte Slobodan Milošević diktatorisch über Serbien; seit 1990 steht der Ostteil Moldovas unter der Willkürherrschaft einer spätsowjetischen Funktionärs-, Manager- und Geheimdienstclique; und 1994 etablierte Aljaksandr Lukaš]nka ein bis heute anhaltendes autoritär-repressives Präsidialregime in Weißrussland. Diktatur ist in Europa also kein Phänomen der Vergangenheit – und ihre gesellschaftliche Aufarbeitung schon gar nicht. Dass von traumatischen Kollektiverfahrungen geprägte Generationen – siehe prototypisch Duverger! – ihrerseits die Erinnerungskulturen von Nationalgesellschaften prägen, zeigt der vergleichende Blick auf Europa: Im Westund Nordeuropa der Gegenwart ist die Erinnerung an diktatorische Regime und/oder an die Besatzung durch eine fremde Macht im Verblassen; nur noch wenige der heute Lebenden haben Mussolinis Faschismus, das Vichy-Regime oder die nationalsozialistische Besatzung Norwegens miterlebt. Anders Südund Osteuropa: Etwa die Hälfte aller Griechen, Portugiesen und Spanier kann sich an die bis in die Mitte der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts herrschenden Diktaturen lebhaft erinnern, und noch höher ist der Prozentsatz derjenigen, die in den »durchherrschten« Gesellschaften der Sowjetunion und der übrigen RGW-Länder sowie Albaniens und Jugoslawiens in den Jahrzehnten vor 1989/91 aufgewachsen sind. Hierin liegt also eine Gemeinsamkeit, die den südlichen Teil der »Westeuropäer« mit den »Osteuropäern« verbindet und welcher sie zugleich vom nördlichen – glücklicheren? – Teil der »Westeuropäer« unterscheidet. Neben der Nord-Süd-Barriere, welche die Erinnerungskulturen Europas seit 1945 in »West« und »Ost« separiert, gar nach Holocaust-Erinnerung und GULag-Gedächtnis sortiert, und dem Ostmitteleuropa von den GUS-Mitgliedern Ukraine, Russland und Weißrussland trennenden Jalta-Stalingrad-Graben gibt es also noch mindestens eine weitere Trennlinie, die den Kontinent erinnerungskulturell unterteilt, und zwar in ein imaginäres Zentrum sowie in mehrere Peripherien. Und eben zwei dieser »Peripherien«, die östliche und die südliche, haben die Erinnerung an diktatorische Regime, die erst vor zwei bis dreieinhalb Jahrzehnten kollabiert sind, gemeinsam. Bemerkenswerterweise enthalten auch die »Konzeptionellen Grundlagen für ein Haus der Europäischen Geschichte« einen Hinweis auf die »Vorbildfunktion« des Endes der südeuropäischen Diktaturen für dasjenige der osteuropäischen:
Für einen europäischen Süd-Ost-Diktatur(erinnerungs)vergleich
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»Im Süden Europas kommt es Mitte der 1970er Jahre zu demokratischen Transformationsprozessen. In Griechenland bricht 1974 das Obristen-Regime zusammen, im gleichen Jahr endet auch die portugiesische Diktatur. Ebenso wie in Spanien ein Jahr später werden die Diktaturen durch parlamentarische Demokratien abgelöst. Die ›Nelkenrevolution‹ in Portugal 1974 beendet zudem die Kriege in Afrika; Portugal entlässt als letzter Staat Europas seine Kolonien Angola und Mosambik in die Unabhängigkeit. Nach dem Tod des Diktators Franco am 20. November 1975 ist der friedliche Übergang von der Diktatur zur Demokratie in Spanien ein vielfach beachtetes Phänomen und strahlt auf die Ereignisse in den Ostblockstaaten Ende der 1980er Jahre aus.«2
Sowohl im Kontext gedächtniszentrierter EU-Identitätspolitik als auch in demjenigen vergleichender erinnerungskultureller Forschung kommt dem Süd-Ost-Link seiner Überbrückungsfunktion über den Ost-West-Graben hinweg wegen also eine besondere, indes bislang übersehene Bedeutung zu. »Die Diktatur bedroht« zwar nicht mehr, um noch einmal mit Maurice Duverger zu sprechen, »ständig unsere Generation«, aber sie beschäftigt die europäischen Gesellschaften weiterhin, und dies umso mehr, je intensiver nationale Öffentlichkeiten in Europa über bislang unaufgearbeitete diktatorische Vergangenheiten zu diskutieren beginnen und je stärker sich pan-europäische Institutionen zu europaweiter Geschichtspolitik berufen fühlen. Doch es gibt noch einen weiteren Grund, den die aus Rumänien gebürtige und dort aufgewachsene Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller in ihrer Tischrede nach dem Nobelpreis-Konzert am 8. Dezember 2009 eindringlich benannt hat – in mittelbarer Anknüpfung an die Duverger’sche Warnung vor dem »wilden Tier« der Diktatur von 1961: »Bis heute gibt es Diktaturen aller Couleur. Manche dauern schon ewig und erschrecken uns gerade wieder aufs Neue, wie der Iran. Andere wie Russland und China ziehen sich zivile Mäntelchen an, liberalisieren ihre Wirtschaft – die Menschenrechte sind jedoch noch längst nicht vom Stalinismus oder Maoismus losgelöst. Und es gibt die Halbdemokratien Osteuropas, die das zivile Mäntelchen seit 1989 ständig an- und ausziehen, so dass es schon fast zerrissen ist.«3
2 Sachverständigenausschuss Haus der Europäischen Geschichte: Konzeptionelle Grundlagen für ein Haus der Europäischen Geschichte, Ms., Brüssel 2008, Punkt 98, S. 23, im Internet unter: URL: http://www.europarl.europa.eu/meetdocs/ 2004_2009/documents/dv/745/745721/745721_de.pdf [21.03.2011]. Siehe auch die Dokumentation im Anhang dieses Bandes. 3 Zit. nach dem Bericht von Ernst Wichner: Literatur spricht mit jedem einzelnen. Stockholm im königlichen Glanz: Eindrücke von der Verleihung des Nobelpreises an Herta Müller, in: Der Tagesspiegel vom 12. Dezember 2009, S. 27.
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Stefan Troebst
Mit Blick auf das ihr bekannte korruptions- und kriminalitätsgebeutelte Rumänien, auf Weißrussland unter seinem 2010 »wiedergewählten« Despoten Lukaš]nka und auf das Putin’sche Russland, möglicherweise auch auf das Bulgarien und die Ukraine der Gegenwart, hat die einer nachhaltig diktaturtraumatisierten Generation angehörende Schriftstellerin wohl Recht, bezüglich Polens oder Estlands aber sicher nicht, und schon gar nicht, was den Süden Europas betrifft. Die flächendeckende und systematische Aufarbeitung der zahlreichen und nicht selten sukzessiven Diktaturen des 20. Jahrhunderts im Süden und Osten steht erst am Anfang – mit erkennbaren Folgen für die politischen und historischen Kulturen dieser Gesellschaften. Wie in der Wissenschaft kann dabei auch in staatlicher Geschichtspolitik und zivilgesellschaftlicher Erinnerungskultur der vergleichende Blick auf die europäischen (und außereuropäischen) Nachbarn inspirierend sein.
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Podiumsdiskussion der Referenten
Das Haus der Europäischen Geschichte: Auf dem Weg zu einem europäischen Gedächtnis?*
Lutz Niethammer (Friedrich-Schiller-Universität Jena) Bevor wir in die Podiumsdiskussion einsteigen, gestatten Sie mir eine kurze Vorbemerkung: Auf diesem Symposium war schon mehrfach von Gedächtnisgeschichte die Rede, einem relativ jungen Begriff, den es erst seit den 1990er Jahren gibt. Er umschließt metaphorisch einen Bereich, in dem die unterschiedlichsten Akteure tätig sind. Mit den »Konzeptionellen Grundlagen für ein Haus der Europäischen Geschichte« liegt ein Elitenprojekt vor, das – mit historischer Beihilfe – aus der Politik heraus geboren wurde. Der darin enthaltene überaus reichhaltige Katalog von einhundert Punkten schlägt zunächst wahrscheinlich jeden Ausstellungsmacher in die Flucht. Aber insbesondere der politische Fokus im zweiten Teil des Konzeptes ist eigentlich das Gegenteil von Gedächtnisgeschichte. Es heißt ja auch nicht das »Haus des Europäischen Gedächtnisses«, sondern das »Haus der Europäischen Geschichte« – ein wichtiger Unterschied. Lassen Sie uns zu Beginn dieser Diskussionsrunde darüber sprechen, was der prioritäre Zweck dieses Unternehmens »Haus der Europäischen Geschichte« ist. Ich habe aus den bisherigen Statements zwei Pole erkennen können. Einerseits gibt es den Ansatz, dieses Museumsprojekt solle dem Prozess der Erweckung einer europäischen Öffentlichkeit dienen. Die Fürsprecher plädieren für eine etwas langsamere Gangart, eine stärkere Beteiligung der Nationen. Sie begreifen diesen Prozess eher von unten nach oben, wollen in den Nationen über Objekte diskutieren, wollen die Nationen finden lassen, was sie von Europa halten. Andererseits gibt es ein Verständnis dieses Projektes, das ich abgekürzt mit »europäischer Identität« bezeichnen würde. Hier könnte man an die zuvor gefallene Bemerkung zur europäischen Identität anknüpfen,
* Die Podiumsdiskussion fand am 23. Oktober 2010 auf dem 9. Internationalen Symposium der Stiftung Ettersberg »Arbeit am europäischen Gedächtnis. Diktaturerfahrungen und Demokratieentwicklung« in Weimar statt. Die Beiträge wurden redaktionell überarbeitet und gekürzt.
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Podiumsdiskussion
wonach Europa einen Identitätszusammenhang braucht, wenn es ein global player sein will, was wiederum auch einen realpolitischen Zusammenhang hat. Ich darf daran erinnern, dass die europäische Identität auf einem Beschluss der europäischen Regierungschefs von 1973 in Kopenhagen beruht und es dazu einen langen Katalog gibt. Das deutsche Auswärtige Amt hat ihn damals entworfen und die Franzosen haben hinzugesetzt, was europäische Identität in der NATO ist, d. h. dass die Rüstungsproduktion ihren Schwerpunkt in Europa haben soll und von der amerikanischen getrennt werden kann. Das sind die beiden amtlichen Begriffe der europäischen Identität, die beide etwas mit global playern zu tun haben. Denn auch in der Kopenhagener Erklärung stand die Konfrontation darüber, was Europa von China, Afrika oder Amerika unterscheidet, im Vordergrund. Auf der einen Seite also ein öffentlich suchender Prozess, der von der Wirklichkeit der Nationen ausgeht, und auf der anderen Seite ein Identitätsbedarf aus globalen Zusammenhängen der Legitimationsbeschaffung. Das ist eine interessante Spannung. Wahrscheinlich geht es nicht um ein Entweder-oder, sondern dies muss in Beziehung zueinander gesetzt werden. Die Frage in also an die Runde: Was kann ein solches Besuchshaus mit Reflexionscharakter in Brüssel in dem Horizont dieser Spannung leisten? Franziska Augstein (Süddeutsche Zeitung, München) Zunächst ein Wort zur Identität. Es gab in den vergangenen Jahren einen Moment, in dem weite Kreise der verschiedensten europäischen Nationen über die Landesgrenzen hinweg einer Meinung waren: Das war anlässlich des Irakkrieges 2003. Viele europäische Regierungen haben den Krieg gutgeheißen. Aber nicht nur in London und Berlin gab es große Demonstrationen dagegen. Man kann wohl sagen: Eine Mehrheit der europäischen Bevölkerung war damals dagegen, unabhängig davon, was deren Regierungen beschlossen. Im gemeinsamen Widerstand gegen den Krieg zeigte sich, was man als europäische Identität bezeichnen kann. Identität – das ist das Seltsame – erweist sich schneller im gemeinsamen Widerstand gegen etwas Drittes. Gemeinsamer Widerstand ist am Ende auch identitätsstiftend, das ist übrigens eine anthropologische Konstante: Zwei Menschen zusammen entdecken, was sie trennt. Wenn es darum geht, sich gegen einen dritten zu wehren, dann finden sie zueinander. Auch das steht hinter dem vielzitierten Spruch: »Europäische Identität ist Einheit in Vielfalt«. Will man diesen Spruch in einem solchen Museum mit Leben füllen, sollte man daraus auch programmatische Schlussfolgerungen ziehen. Dieses Haus darf keinen Masterplan der Geschichte darstellen, nicht die eine Interpretation, wie alles gewesen ist. Es genügt auch nicht, verschiedene nationale Vorstellungen davon, wie man die eigene Geschichte und die Geschichte anderer
Podiumsdiskussion
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Länder interpretiert, gegeneinander zu stellen. Das würde nur zu Konfrontation und Streit führen. Stattdessen könnte man sich auf eine Metaebene begeben, wie es das Deutsche Historische Museum in Berlin erfolgreich gezeigt hat. Das DHM hat bei seiner Ausstellung »Bilder von den ›Anderen‹ in Deutschland und Frankreich seit 1871« nicht versucht, noch einmal die Kriegsschuldfrage zu klären, sondern hat dargestellt, wie die Franzosen ihre eigene Geschichte und die Deutschen gesehen haben, und das damit kontrastiert, wie die Deutschen die Franzosen und sich selbst gesehen haben. Dadurch war eine Pluralität von Meinungen vertreten. Es wurde gar nicht erst der Versuch gemacht, den Besuchern eine einzige Version der Geschichte als die »wahre« darzubieten. Nebenbei ist man in dieser Ausstellung – und das ist auch zu loben – darum herumgekommen, den »Großen Ploetz« ins Bild zu setzen. Lutz Niethammer Hier gibt es deutliche Berührungspunkte zu dem, was zuvor schon gesagt wurde: eine größere Pluralisierung mit Hilfe neuer Medien in einer Ausstellung als Ressource zu begreifen, Begleitausstellungen mit nationalen Gastgebern zu entwickeln usw. Es sind plötzlich überraschende Koalitionen denkbar, die wir politisch so gar nicht vermuten würden, sobald man sich auf die Möglichkeiten einlässt, die ein solches Haus eigentlich hat oder zumindest haben könnte. Doch zurück zu der Frage, was der eigentliche Zweck eines solchen Hauses der Europäischen Geschichte ist. Zunächst ist es durchaus überraschend, dass Brüssel (in einem Staat, der halb im Auseinanderbrechen ist), das Loch in der Mitte, kulturell zum Zentrum aufgewertet wird. Das allein hat schon eine sehr aparte Spannung. Was tragen die einzelnen Länder dazu bei? Oder ist es nur ein Versuch des Europäischen Parlaments, sich kulturell aufzuwerten und eine parlamentarische Rolle der Geschichtspolitik an sich zu ziehen? Hier würde manch Liberaler kalte Füße bekommen und »demokratischen Totalitarismus« oder Ähnliches vermuten. Denn es ist nicht Aufgabe der Politiker, uns Geschichtsbilder zu verordnen. Zsuzsa Breier (Gesellschaft zur Förderung der Kultur im erweiterten Europa, Berlin) Eigentlich sollten sich in dieser Ausstellung nicht nur alle Länder wiedererkennen, sondern alle Bürger Europas. Das aber ist ein ganz heikles Thema. Denn konzeptionell muss man sich für einen transnationalen oder einen nationalen Ansatz entscheiden und demnach gewisse Entscheidungen treffen. Wie sollen sich die vielen, so unterschiedlichen Identitäten oder Selbstverständnisse Europas darin wiederfinden? Ich denke nur an das Sprachenproblem: Es
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gibt nicht nur die 23 Amtssprachen der Europäischen Union, in Europa gibt es über 150 Sprachen. Hinter 150 Sprachen verbergen sich 150 Selbstverständnisse. Das ist eine unglaubliche Vielfalt. Selbst innerhalb der Länder, Nationen und Regionen gibt es sehr unterschiedliche Konzepte. Herr Borodziej, es wäre sicherlich nicht ganz einfach gewesen, Vertreter aller europäischen Länder zu der Konzeptionsphase einzuladen – und doch wäre dies aus meiner Sicht der einzige Weg gewesen, der Wiedererkennung eine größere Chancen zu geben. Włodzimierz Borodziej (Universität Warschau) Der Sachverständigenausschuss war relativ klein – wir waren weniger als zehn Personen. Dann wurde der Wissenschaftliche Beirat als nächstes Stadium dieser beratenden Institution auf 15 Personen erweitert. Ich kann nicht sagen, wie die verschiedenen, nicht nur nationalen Proportionen innerhalb dieses Beirates zustande gekommen sind. Es gibt eine interne Logik des Europäischen Parlaments, die man wahrscheinlich nur als langjähriger Abgeordneter wirklich versteht. Ich kann mir jedoch vorstellen, dass der Ausgangspunkt war, dass ein Wissenschaftlicher Beirat mit 27 Mitgliedern zu groß und damit unpraktisch ist. Mária Schmidt (Institut für das 20. und 21. Jahrhundert/Haus des Terrors, Budapest) Man sollte keine so große Angst davor haben, dass dieses Museum vielen nicht gefallen könnte. Der Sinn der Sache ist doch, dass man darüber redet und diskutiert, das ist wichtig; dass wir uns Fragen stellen und zum Nachdenken angeregt werden. Es wird keine Lösung geben, die allen gefällt. Dann müsste man vielleicht Superstars oder Celebrities ausstellen. Europa ist im Hinblick auf Identität, nationale Geschichte und kulturelle Identität so vielfältig, aber das Schöne ist doch, dass wir trotz der Konflikte, trotz dieser Unterschiede auch etwas Gemeinsames darstellen. Diskussionen anzuregen wäre demnach eines der wichtigsten Resultate dieses Projektes. Lutz Niethammer Die Superstars würden uns wohl auch nicht weiterbringen. Wenn wir uns die Bemerkungen zu Winston Churchill nochmals vergegenwärtigen, der uns in einem Vortrag gestern als »europäischer Superstar« vorgeführt wurde, dann sehen wir, dass wir uns auch auf die Superstars kaum einigen können. Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen: Als jemand, der in Westeuropa aufgewachsen ist, kann ich dem nur zustimmen, dass es in Europa dieses Wunder des Lernens und des Verbannens der Gewalt gibt. Man kann gar nicht
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genug unterstreichen, dass dies etwas Großartiges, aber auch etwas Verletzliches ist. Denn dieses Lernen der Gewaltlosigkeit vollzog sich unter dem Atomschirm der Supermächte, und auch das hat sich seit 1990 verändert und ist fragiler geworden. Stefan Troebst hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Gewalt und Diktatur in Europa keineswegs abgehakt, sondern noch sehr nahe sind. Volkhard Knigge wiederum hat uns mit Eugen Kogon an die Grenzen dieses Lernens erinnert. Die älteren Westeuropäer hat an der EU wohl am meisten fasziniert, dass sie damit den offenen Gewaltaustrag aus Europa verschwunden glaubten. Ob das realistisch ist oder nicht, ist eine andere Frage. Wie sieht das nun aus, wenn die Direktorin des Hauses der Europäischen Geschichte aus Slowenien kommt? Dann steht doch plötzlich eine ganz andere Nähe zu Gewalt und Krieg am Horizont. Wie bringen wir das zusammen? Stefan Troebst (Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig) Ich möchte an Ihren Hinweis auf die jahrzehntelange nukleare Bedrohung Europas anknüpfen. Es ist wohl die entscheidende Lücke in Claus Leggewies Modell der sieben konzentrischen Kreise1, dass ein so gravierendes Phänomen darin nicht auftaucht. Vielleicht spielt es bei Leggewie keine Rolle, weil es auch im Gedächtnis der Europäer keine zentrale Rolle mehr spielt. Doch warum diese jahrzehntelange Prägung offensichtlich keine Langzeitwirkung hatte, ist schwer erklärbar. Zu dem Dokument über die europäische Identität von 1973 möchte ich ergänzen: Es war sicher kein Zufall, dass die damalige EG es nach dessen Verabschiedung für Jahrzehnte nicht mehr thematisiert hat. Der Begriff Identität taucht in offiziellen EU-Dokumenten erst wieder Ende der 1990er Jahre und dann auch ziemlich versteckt auf. Interessanterweise kommt er auch in der Präambel zu den Konzeptionellen Grundlagen für das Haus der Europäischen Geschichte nicht vor. Das soll nicht heißen, dass es bei diesem Projekt nicht auch um Identität geht. Aber man weiß, dass es ein Reizwort ist, und man will sich wohl dem Vorwurf nicht aussetzen, Brüssel wolle Geschichtspolitik über die Köpfe der nationalen Geschichtspolitiker hinweg machen.
1 Siehe dazu Claus Leggewie: »Schlachtfeld Europa. Transnationale Erinnerung und europäische Identität«, in: Christoph Bieber/Benjamin Drechsel/Anne-Katrin Lang (Hg.): Kultur im Konflikt. Claus Leggewie revisited, Bielefeld 2010, S. 29–44, samt den Kommentaren von Wolfgang Schmale, Stefan Troebst, Heidemarie Uhl und Sibhan Kattago, ebd., S. 45–64, sowie Claus Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung: Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011.
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Lutz Niethammer Diese geschilderte Front ist hochinteressant, weil sie gerade nicht die Frage des global players aufnimmt, aus der dieser Zusammenhang stammt, sondern die Konkurrenz zu den nationalen Geschichtspolitiken thematisiert. An deren Legitimation kann man durchaus seine Zweifel haben. Denn zum europäischen Lernprozess gehört doch auch die Erkenntnis, dass die Öffentlichkeiten Freiheiten haben müssen und dass ihnen solche Inhalte nicht verordnet werden dürfen; dass es eines differenzierten Wechselspiels zwischen Medien, Historikern und anderen Wissenschaftlern bedarf, das sich erst finden muss, und dass die Konstruktion von Geschichtsbildern eigentlich nicht zu den traditionellen Staatsaufgaben gehört. Volkhard Knigge (Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora/ Friedrich-Schiller-Universität Jena) Ich möchte auf Öffentlichkeit und/oder Identität eingehen. In Bezug auf Identität würde ich doch unterscheiden zwischen einem identitätsstiftenden Elitenprojekt im Rahmen demokratischer Geschichtskultur, die Diskurs und Pluralität zumindest normativ impliziert, und einer Geschichtspolitik von oben herab. Im ersten Fall wäre Identität – wiederum zumindest normativ – an kritische Reflexion im Rahmen der Ausbildung von Geschichtsbewusstsein gebunden. Im zweiten Fall droht Identitätsbildung zur bloßen identifikatorischen Übernahme von vorgegebenen Geschichtsbildern zu werden, zugespitzt: zur Ausbildung von Gesinnung. Europäisches Gedächtnis wird hier schnell zum zweideutigen Begriff. Einerseits erscheint es als nationalübergreifendes Gedächtnis europäischen Erfahrungs- und Geschichtshorizonts, andererseits als wie auch immer gut gemeintes hegemonial konstruiertes, herrschaftlich produziertes und abgesichertes Europa-Gedächtnis – zugespitzt gesagt: Gedächtnis wie »sowjetisches Gedächtnis«, ein Gedächtnis, das politischen Zwecken funktional ist. Ein Gedächtnisbegriff im Sinne demokratischer Geschichtskultur würde hingegen geschichtsdidaktische Leitbegriffe wie Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität und Diskursivität ernst nehmen. Geschichtspolitik sollte sich eigentlich darauf beschränken, Strukturen und Institutionen für die uneingeschränkte Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Vergangenheitsmaterial zu schaffen, sie sollte Geschichtsbilder nicht regulieren. Was legitime Geschichtspolitik wäre, dazu fehlt aber beinahe jede Diskussion. Derzeit wird europäisches Gedächtnis häufig diskutiert im Sinne des kleinsten gemeinsamen Nenners, aber auch angeblich notwendiger Kanonbildung zwischen Hegemonialisierung, Ausbalancierung oder Kompromissbildung. Geschichte als erträglich und verträglich ausgehandelte Wirklichkeit
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– auch gegen das Veto-Recht der Quellen. Man könnte das mit europäischem Gedächtnis bezeichnete Vorhaben aber auch als ein spezifisches transnationales Bildungsprojekt, als Arbeit an reflektiertem Geschichtsbewusstsein verstehen und gestalten. Hier ständen nicht a priori Identifikationsprozesse im Vordergrund, sondern historisches Lernen, nicht zuletzt im Sinne kritischer Selbstreflexion. Die Geschichte Europas und die Entstehung der EU, auch ihr heutiger Zustand, müsste sich dann auch an dem messen lassen, was – emanzipatorisch, partizipativ, bürger- und menschenrechtlich, kurz: emphatisch und normativ – unter Europa verstanden wurde und wird. Das gesellschaftlich, sozio-kulturell und politisch Destruktive und Menschenfeindliche, das auch zur Geschichte Europas gehört, käme dabei deutlich in den Blick. Humanisierend und demokratisierend wirkt das Gedächtnis ja nicht per se. Erst die uneingeschränkte selbstkritische Auseinandersetzung mit zu verantwortender negativer Geschichte, mit Staats- und Gesellschaftsverbrechen, mit anderen (politisch) zugefügtem Leid, tut dies. Solche Arbeit am Geschichtsbewusstsein wäre eine empirisch gehaltvolle Auseinandersetzung mit der Unselbstverständlichkeit des gesellschaftlich Guten. Die hier ins Spiel kommenden normativen Maßstäbe können in ihrer Bedeutung an historischen Erfahrungen bekräftigt werden, können aber nicht rein historisch generiert werden. Für unseren Fall heißt das unter anderem, sich Europa ohne Europa vorzustellen. Wollte man so leben? Das sind nicht zuletzt auch Fragen an eine europäische Öffentlichkeit, die es als solche noch nicht hinreichend gibt, die der institutionellen Stabilisierung bedarf und die doch offen für Veränderung bleiben muss. Ein Haus der Europäischen Geschichte könnte tatsächlich ein Nukleus einer solchen Öffentlichkeit sein, aber – je länger ich darüber nachdenke – am besten doch mit Aus- und Ablegern in den Ländern Europas, nicht nur zentral in Brüssel für Besucher des EU-Parlaments. Mária Schmidt Mir scheint es gefährlich, sich nur auf das 20. Jahrhundert und besonders auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beschränken. Identitätsfragen berühren die Menschen doch viel grundsätzlicher. Die Ideen aus dem 20. Jahrhundert verschwinden schnell, sie bewegen sich sozusagen an der Oberfläche. Sie erreichen die Menschen gar nicht tief genug. Ich will ein Beispiel nennen: Im Sommer 2010 war ich in Moskau und konnte sehen: Obwohl die Kommunisten 70 Jahre lang mit allen Mitteln gegen die russisch-orthodoxe Kirche und die Priester gekämpft hatten, sind die Moskauer Kirchen heute voll, die Menschen gehen dorthin. Sie haben sich ihre nationale Identität zurückerobert, indem sie zu dem zurückgekehrt sind, was schon immer in ihren Köpfen und Seelen war – mit Ausnahme der politischen Schichten, die schon in den 1930er
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Jahren Kirche und Religion totgesagt hatten und meinten, der neue sowjetische Mensch habe dies längst überwunden. Ich habe festgestellt, dass in Russland von der Sowjetunion nichts geblieben ist außer Lenins Sarg im Mausoleum am Roten Platz für die Touristen. Russland ist so, wie es einmal war, und wird noch eine große Zukunft haben. Schließlich müssen wir auch zur Kenntnis nehmen, dass Russland ein Teil von Europa ist. Das Christentum hat eine jahrhundertealte Tradition in Europa, die sich bewahrt hat. Nationalsozialismus oder Faschismus dauerten hingegen nur Jahrzehnte. Vielleicht wird sich in zweihundert Jahren kaum einer mehr daran erinnern. Jedenfalls wird man bei den Bürgern, die ein solches Haus der Europäischen Geschichte besuchen, nicht allein über die Auseinandersetzung mit der Diktaturgeschichte des 20. Jahrhunderts zur europäischen Identitätsbildung beitragen können. Das wäre zu künstlich und zu konstruiert. Davor möchte ich warnen. Włodzimierz Borodziej Ja, wir neigen dazu, aus der Perspektive der Gegenwart heraus zu denken und bisweilen zu wenig zu reflektieren, wie sehr wir durch diesen Augenblick in unserem persönlichen Leben bestimmt sind und auch möglicherweise nur aus diesem Kontext heraus im Stande sind zu denken. Diese Spannung zwischen der Erweckung der europäischen Öffentlichkeit und dem Projekt einer europäischen Identität ist für mich die zentrale Botschaft dieser Diskussionsrunde. Ich will betonen: Identität ist wandelbar. Wenn wir heute von europäischer Identität sprechen, dann ist ja das Neue, dass es nicht mehr eines Feindes braucht. Europa hat sich immer über Feindbilder definiert, ob die Osmanen, das Dritte Reich, die Sowjetunion, der Kommunismus. Immer musste der Feind das Kernargument für die Integration stellen. Nun sind wir erstmals in der Lage, dass dies irgendwie anders funktioniert. Hier stimme ich mit Volkhard Knigge voll überein, dass das, was er die Zivilisierung nennt und die Unselbstverständlichkeit dieses Zustandes, dass dies der emotionale und auch der rationale und intellektuelle Reiz dieses Projektes sein muss. Allerdings kann ich ihm weniger folgen, wenn er davon spricht, dass wir vor Schrecken in die Knie gehen, wenn wir den Begriff »europäisches Gedächtnis« hören, denn dies würde ich keinesfalls mit dem Sowjetgedächtnis gleichsetzen. Er ist und bleibt fakultativ, nicht obligatorisch. Das europäische Gedächtnis kann gar nicht den Anspruch erheben, unsere anderen Identitäten zu ersetzen – vor allem die nationale. Er ist nur eine Identitätsphase oder ein Kontext mehr, in dem wir uns selbst definieren, aber ohne Totalitätsanspruch. Hier würde ich doch einen ganz grundsätzlichen Unterschied sehen. Das Stichwort Brüssel wurde verschiedentlich angesprochen. So sympathisch die Idee einer permanenten Wanderausstellung ist, so unpraktisch ist sie
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als Kern des Projektes. Man sollte auf einen Umstand hinweisen: Das Europäische Parlament hatte im Jahr 2009 ca. 350.000 Besucher, wovon die meisten das Informationszentrum aufsuchten und Abgeordnete trafen. Die Besucherzahlen sind steigend, die Perspektive einer halben Million Besucher innerhalb der nächsten Jahre durchaus realistisch. Diese Menschen kommen nach Brüssel, ins Parlament, ohne dass es hier das Museum gibt. Das Museum wird für sie wahrscheinlich ein zusätzlicher Grund sein, nach Brüssel zu fahren. In dieser Hinsicht ist es kein Elitenprojekt, denn es sind ja Hunderttausende, die dorthin fahren. Dazu braucht man wirklich kein reicher Europäer zu sein. Es ist doch eine vernünftige Lösung, dieser wachsenden Zahl an Besuchern ein Museum zu bieten. Und zur Frage nach dem institutionellen Träger: Wenn nicht das Europäische Parlament, wer sonst sollte der Träger sein – die Kommission oder ein nationaler Träger? So schwierig dieses Projekt ist – die Alternativen kann man sich wohl nur noch schwieriger vorstellen. Hildigund Neubert (Landesbeauftragte des Freistaates Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR) Ich halte es ebenfalls für wichtig, dass das Europäische Parlament der Ausgangspunkt dieser Initiative ist. Das Parlament versteht sich ja gerade als die down-up Institution, die die Interessen der Bürger aus den europäischen Ländern nach Brüssel oder Straßburg trägt. In diesem Sinne halte ich es auch nicht für ein Elitenprojekt, sondern für ein Projekt aus den Ländern – und das Parlament ist der einzig richtige Ort dafür. Mich interessiert, warum dieses Museum gerade jetzt entsteht. Hängt es vielleicht damit zusammen, dass die Europäische Union in vielen Teilen das Gefühlt hat, durch die Erweiterungen handlungsunfähig zu sein, dass es also immer schwieriger wird, Konsens zu finden und vorwärts zu gehen? Etienne François (Freie Universität Berlin) Es ist gut, dass das Parlament dieses Projekt trägt. Aber die entscheidende Frage ist doch, wie man dafür sorgen will, dass dieses Haus genügend Autonomie gegenüber dem Parlament hat, damit es nicht zu einem historischen Feigenblatt wird? Wir sind in Frankreich gerade dabei, ein »Haus der Französischen Geschichte« zu bauen, und ich befürchte, dass dieses Museum nicht die erforderliche Autonomie haben wird. Im Hinblick auf den Zweck dieses Hauses gibt es wohl zwei gegensätzliche Optionen: Gedächtnismuseum oder Geschichtsmuseum. Ich glaube, die Tendenz geht zu Recht eher in Richtung Geschichtsmuseum. Nicht zuletzt, weil es in Brüssel schon ein Gedächtnismuseum gibt: das Musée de l’Europe von Elie Barnavi und Krzysztof Pomian. Daher würde ich für eine gute
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Zusammenarbeit dieser beiden Institutionen in Brüssel plädieren. Das Haus der Europäischen Geschichte sollte schwerpunktmäßig also ein Geschichtsmuseum werden. Allerdings scheint ein Punkt noch nicht geklärt: Soll es ein Museum der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts sein oder ein Museum für die Geschichte der Europäischen Union? Das ging aus den bisherigen Stellungnahmen noch nicht ganz klar hervor. Auch wenn es ein Geschichtsmuseum des 20. Jahrhunderts werden soll, wäre ein Schwerpunkt auf der politischen Geschichte für mich fragwürdig, noch mehr, wenn daraus ein Museum der Europäischen Union werden soll. Denn was sind die Leistungen der EU? Das ist erstens die Verbannung des Krieges, doch das ist nicht ihr Verdienst allein, denn die Großmächte haben viel mehr dazu beigetragen. Das ist zweitens der Wohlstand, die Entstehung eines Wirtschaftsraumes, eines Zirkulationsraumes für die Gesellschaften, die Verflechtung, die Harmonisierung auf sehr vielen Ebenen. Das Projekt der EU ist vor allem ein wirtschaftliches und gesellschaftliches Projekt, im politischen Bereich ist es viel zurückhaltender, und das Ergebnis der EU auf diesem Feld besteht wohl vorrangig in der Möglichkeit, dass die Nationalstaaten weiterhin bestehen. Die EU ist nicht gegen die Nationalstaaten gerichtet, sondern stellt für sie einen ständigen Aushandlungsraum dar. Wie man dies museal darstellen kann, weiß ich nicht. Es sind jedoch Fragen, die man nicht umgehen können wird. Nach all diesen guten Beiträgen und Anregungen ist mir auch deutlich geworden: Man kann nicht so tun, als wäre Europa allein auf der Welt. Ob man will oder nicht: Europa ist ein global player, auch wenn viele davon träumen, Europa könnte eine größere Schweiz werden – das ist nicht der Fall. Europa kauft und verkauft weltweit, europäische Firmen sind inzwischen vielfach auch internationale Firmen und ein wachsender Teil der europäischen Bevölkerung kommt aus Übersee. All dies müsste man thematisieren, auch wenn viele meinen, der Sinn eines solchen Hauses sei, die Spezifik von Europa bzw. der EU darzustellen. Aber das kann nur im Vergleich mit der restlichen Welt gelingen, im Vergleich mit Lateinamerika oder Asien. Aus diesem Grund ist mein Vorschlag, in die Beratungsgremien mehr Nichteuropäer zu berufen. Europa ist zu wichtig, als dass sich nur die Europäer damit befassen könnten. Lutz Niethammer Ein Punkt wurde auf diesem Symposium noch nicht angesprochen, der sich an das soeben Gesagte sehr gut anschließt: Europa hat fast alle seine Kolonialreiche in Assoziierungsabkommen mit der EU verwandelt. Insofern gehört die gute Hälfte der Welt zu Europa. Der Vorschlag von Etienne François, dass dies
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auch in der personellen Besetzung der Gremien zum Ausdruck kommen sollte, ist m. E. schon von diesem Gesichtspunkt her sehr überzeugend. Marc-Dietrich Ohse (Deutschland Archiv, Hannover) Ich möchte ebenfalls an Herrn François anschließen. Ich halte es für sehr wichtig, Europa nicht auf die Politik zu beschränken, denn bei Europa geht es doch gerade um Identitäten und Ideen. Dazu gehören natürlich auch Fragen nach Christentum, Laizismus oder Atheismus sowjetischer Bauart, die Mária Schmidt schon angesprochen hat. Doch wie weit greift man historisch zurück? Ich glaube nicht, dass man in einem solchen Haus zweitausend Jahre europäischer Geschichte aufgreifen könnte, aber erst bei Napoleon anzufangen, scheint mir ebenfalls zweifelhaft. Für mich war der erste Krieg europäischer Dimension der Dreißigjährige Krieg. Zudem würde ich eher für ein Haus der Europäischen Geschichte plädieren als für ein Museum der Europäischen Geschichte. Hier möchte ich Herrn François ein wenig widersprechen: Es ist wichtig, dass es kein reines Museumsprojekt wird, sondern dass dieses Haus als ein Ort der Begegnung und des Dialogs wirksam wird. Das sollte neben einer Ausstellung im Vordergrund stehen. Unter dem Aspekt »Einheit in Vielfalt« wäre dann auch zu fragen: Soll es ein Haus der europäischen Geschichte oder ein Haus europäischer Geschichte sein? Diese Unterscheidung zielt auf die Frage nach dem Nationalen in Europa bzw. Europa über dem Nationalen. Ein Haus der Europäischen Geschichte impliziert möglicherweise tatsächlich schon ein bestimmtes Geschichtsbild, insofern plädiere ich für die Formulierung »Haus europäischer Geschichte«. Sarah Czerney (Bauhaus-Universität Weimar) Etienne François ging schon darauf ein, trotzdem möchte ich noch einmal auf das Musée de l’Europe in Brüssel zurückkommen. Dieses Museum existiert seit drei Jahren und wurde gerade nicht top-down beschlossen, sondern entstand aus einer Bürgerinitiative heraus. Meine Frage: Wie gestaltet sich das Verhältnis des hier vorgestellten Hauses der Europäischen Geschichte zu diesem Museum, und warum braucht Europa noch ein zweites, top-down beschlossenes Museum? Hans-Peter Schwarz (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn) Ich würde den Hauptakzent dieses geplanten Hauses auf eine Darstellung der Geschichte der Europäischen Union alias EWG legen. Das umfasst immerhin 50 bis 60 Jahre und ist sicherlich museal nicht einfach darzustellen, aber realisierbar. Ich hätte keinerlei Bedenken, wenn das Europäische Parlament ein
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werbemäßig gut gemachtes Museum schaffen würde – ähnlich wie BMW in München ein BMW-Museum hat, wo unterschiedliche Modelle in ihrer chronologischen Entwicklung gezeigt werden. Warum soll man diesen Zehntausenden, die nach Brüssel kommen und durch lichtlose Büros geführt werden, nicht auch eine Werbeveranstaltung der Europäischen Union in einem hübschen Schlösschen darbieten? Das finde ich eine gute Idee – jede große Firma macht Werbung. Die EU gibt für viel Unnötiges Geld aus, da wären die 40 oder 50 Millionen Euro für ein solches Projekt gut angelegt. Ich halte es hingegen für völlig unmöglich, ein auch nur halbwegs befriedigendes Bild des Zusammenhangs zwischen den unterschiedlichsten Nationalgeschichten und dem europäischen Projekt auf dem vorgegebenen Raum zu zeichnen. Wollte man so etwas tatsächlich ernsthaft angehen, dürfte man sich nicht nur auf das 20. Jahrhundert beschränken – mit den entsprechenden Verkrampfungen, wie sie sich bei Claus Leggewie finden –, sondern dann müsste man in der Tat Kultur und vieles andere einbeziehen. Es liegt auf der Hand, dass dies in einem solchen Museum nicht geleistet werden kann. Aber es kann mit den Mitteln der neuen Medien gelingen, über die wir heute verfügen. Gerade junge Museumsbesucher nehmen solche Angebote gut an. So könnte der neue Museumsdirektor als erstes die EU-Staaten darum bitten, »Werbefilme« für ihre Länder, die EU und Europa zu drehen. Auch die Idee von Sonderausstellungen unterstütze ich vollauf. Die Präsidentschaft der EU wechselt ja auch. Warum nicht jedem Land, das die Präsidentschaft stellt, die Auflage erteilen, eine Sonderausstellung zu erarbeiten und zu finanzieren, zum Beispiel zum Thema: »Wie europäisch ist die nationale Erinnerung von Finnland, Schweden, Irland oder gar von Deutschland?« Das scheint mir durchaus praktikabel. Kurzum: Man sollte den Werbeaspekt dieses Projektes in den Mittelpunkt stellen und nicht den Anspruch erheben, ein großes Rad der Erinnerung drehen zu wollen. Elisabeth Kübler (Universität Wien) Ich habe vorhin ein gewisses Bedauern darüber vernommen, das Haus der Europäischen Geschichte sei ein Projekt nationaler Eliten, allenfalls unter Beteiligung von Intellektuellen und Fachhistorikern. Wurden denn in der Phase der Konzeptualisierung für dieses Haus auch subalterne Perspektiven berücksichtigt, also Geschichtsschreibung von unten? Roma und Sinti zum Beispiel waren im Nationalsozialismus Vertreibungen und Ermordungen ausgesetzt und werden auch heute in Europa in fast allen Staaten, wenn auch graduell unterschiedlich, sozial, wirtschaftlich und politisch diskriminiert und ausgegrenzt. Mich interessiert, ob die Perspektive z. B. von Roma und Sinti, aber auch von anderen diskriminierten Gruppen, Eingang in die Konzeptualisierungsphase gefunden hat.
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Peter Molt (Universität Trier) Ich möchte mich der Linie von Hans-Peter Schwarz anschließen. Auch ich glaube, dass die Chronologisierung der europäischen Geschichte unter Bezug auf die Geschichte der einzelnen heutigen Nationalstaaten ein Irrweg ist. Wir alle wissen doch, dass wir vielmehr gemeinsam haben: Kultur, Musik, Literatur, Religion. Das kann man doch nicht aus der europäischen Geschichte wegdiskutieren. Bei einem solchen Ansatz wird all das jedoch untergehen, weil dieser unter dem Gesichtspunkt der einzelnen nationalgeschichtlichen Geschichtsschreibung steht, die ja in sich auf das Ziel der vollen nationalen Souveränität ausgerichtet ist. Das lässt sich nicht vereinigen. Für uns in Deutschland etwa ist die Frage der Reichsgründung durch Bismarck ein ungeheuer positives Faktum, für Europa war es das nicht so sehr, wenn man es retrospektiv betrachtet. Oder wo bleibt die Identität der etwa 40 Millionen Roma in Europa? Auch das wird untergehen, obwohl es sich um eine viel größere Bevölkerungsgruppe handelt als manch europäische Nation. Ich halte daher den vorgeschlagenen Weg für einen Irrweg, weil die Darstellung der europäischen Geschichte unseren nationalgeschichtlichen Traditionen entgegensteht. Das zu verkennen, wird nur zu Banalisierung und Oberflächlichkeit führen können. Etwas gänzlich anderes wäre es, wenn wir 1945 anfangen und fragen, was die europäische Einigung wirklich erreicht hat. Ein frühes Beispiel ist fast völlig vergessen: Die Lösung der Saarfrage, die Montanunion, das waren entscheidende Schritte für die deutsch-französische Einigung, ein Grundstein Europas. Das war ein entscheidender Punkt für die Überwindung der Grenzen, der wirtschaftlichen Autarkiepolitik und der Rüstungspolitik, die ja zur unheilvollen Entwicklung Europas beigetragen hatte. Wenn man die europäische Geschichte seit 1945 auch als die Überwindung der Dämonen und Irrtümer der Vergangenheit darstellt, wird man viel weiter kommen, als wenn man dieses Elitenprojekt einer europäischen Geschichte verfolgt, bei der man so viel ausklammern und vereinfachen muss, dass am Ende wahrscheinlich nichts Überzeugendes herauskommt. Gilbert Merlio (Universität Paris-Sorbonne) Man würde es sich wohl leichter machen, wenn man auf den Begriff Identität verzichtete. Denn es gibt immer die Neigung, diesen Begriff normativ und substanziell zu denken. Ich würde vorschlagen, von Identifikationsstufen zu sprechen. Ich kann mich als Familienvater, als Franzose, vielleicht auch als Europäer identifizieren. Ob ein europäisches Gedächtnis möglich ist, ist eine offene Frage. Wahrscheinlich ist es schwer, dahin zu gelangen, weil unsere Erinnerungskulturen, wie wir gesehen haben, in nationalen Rahmen gestaltet werden. Doch gerade die kritische Aufarbeitung unserer eigenen Vergangenheit öffnet
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den Horizont und erlaubt uns, die anderen Erinnerungskulturen in Europa besser zu verstehen. Man könnte hier von einer pluralen Erinnerungskultur, von der Einheit in der Vielheit sprechen, von einer inklusiven Erinnerungskultur oder von einem Gedächtnis, das die anderen Formen des Gedächtnisses nicht ausschließt. Włodzimierz Borodziej sagte, Identität sei wandelbar, aber es gibt doch Grenzen, auf eine gewisse Normativität kann man nicht verzichten. Gerade die kritische Aufarbeitung unserer nationalen Vergangenheiten sagt uns, was Europa nicht mehr sein darf: kein Krieg, kein Konflikt, kein Genozid mehr. Wir müssen doch einen Wertehorizont haben und auf die Werte pochen, zu denen wir uns bekennen, wie Freiheit und Menschenrechte. In diesem Sinne können wir doch durchaus von einer gewissen, aufgrund unserer Tradition entstandenen Identität sprechen. Hans-Helmut Lawatsch (Journalist, Königsee) Ich möchte auf den Begriff Repräsentanz eingehen. Entscheidungen können basisdemokratisch herbeigeführt werden, was Zsuzsa Breier einfordert, oder man kann auf bewährte Formen der Repräsentanz vertrauen, für die auch das Europäische Parlament steht. Diese Repräsentanten sollen jedoch das Museum für Europa nicht bestimmen, der Träger sollte vielmehr unabhängig sein und eigene Wege gehen. Deshalb wäre mein Vorschlag, die Zivilgesellschaften in den einzelnen Ländern einzubeziehen und einen Verein zu gründen, der die Trägerschaft dieses Museums übernimmt. Wichtiger ist es aber zu klären, welche Themen aufgegriffen, welche Objekte in diesem Museum ausgestellt werden sollen. Dabei werden wir nicht umhin kommen, auf die griechische Mythologie zurückzugreifen, schließlich ist Griechenland die Wiege der europäischen Kultur. Mnemosyne ist die Göttin des Gedächtnisses. Ein gutes Gedächtnis ist die Voraussetzung für all das, was die Musen tun, und von den Musen stammt ja der Begriff Museion. Auch einige Abschnitte der Ur- und Frühgeschichte sowie des Mittelalters sollten berücksichtigt werden, wo es ja bereits europäische Konglomerate gab, die Vorstufen für das waren, wovon wir heute in Europa sprechen. Günther Rudolph (Internationale Assoziation ehemaliger politischer Gefangener und Opfer des Kommunismus e. V., Taunusstein) Ich spreche für die Internationale Assoziation ehemaliger politischer Gefangener und Opfer des Kommunismus. Dieser Verein mit Sitz in Deutschland besteht seit 20 Jahren, und ihm gehören aus der Hälfte aller osteuropäischen Staaten Opferverbände an, in Deutschland die UOKG. Wir begrüßen dieses Museumsprojekt, das ist der richtige Weg. Aus der Erinnerungskultur der Nationen muss eine europäische werden, ebenfalls in dem kleinen Bereich, mit
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dem wir uns befassen. Das ist das richtige Ziel. Da das Engagement von Bürgerinitiativen angesprochen wurde, möchte ich ergänzen, dass wir für die Mitarbeit an diesem Projekt zur Verfügung stehen. Heidemarie Uhl (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien) Da ich die letzte Frage aus dem Publikum stellen darf, möchte ich gleich an die erste Rednerin anknüpfen, an Frau Augstein. Sie haben zitiert: »Wenn ein Denkmal fertig ist, ist es tot.« Das trifft, wie wir wissen, auch auf einige Museen zu. In den letzten Jahren gab es leider zahlreiche Ausstellungen zur Geschichte der Europäischen Union, auch in Brüssel, wo dies deutlich wurde. Diese Ausstellungen haben weniger die Geschichte des »europäischen Wunders« erzählt, sondern waren ziemlich langweilige Aneinanderreihungen von Verträgen. Die Diskussion hier zeigt, dies wird mit dem Haus der Europäischen Geschichte sicher nicht passieren. Aber ich befürchte, und hier schließe ich mich Herrn Merlio an, dass es fast unmöglich sein wird, die »Falle der Identität« zu vermeiden. Schon 1988 wies Jan Assmann in seinem Artikel über kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität darauf hin, wer wir sagt, wer unsere Geschichte, unsere Kultur sagt, der zieht eine Grenze, eine Grenze zu dem Anderen. Dieses wir halte ich für höchst gefährlich, weil es immer nivellierend ist, weil es genau das macht, was der Nationalstaat seit dem 19. Jahrhundert gemacht hat, nämlich Meistererzählungen zu schaffen, die auf dem Prinzip der Inklusion und Exklusion beruhen. Das sollte dieses Projekt vermeiden. Wenn es eine Erfahrung aus den zahlreichen Debatten über Geschichte und Gedächtnis Europas in den letzten Jahren gegeben hat (diese waren äußerst intensiv und würden schon ein eigenes Museum füllen), dann ist es die Erkenntnis, dass man die Geschichte so nicht mehr erzählen kann und so nicht mehr erzählen sollte, wenn es ein offener Prozess sein soll. Gerade die Kontroversen oder das, was Volkhard Knigge die historische Selbstreflexion und Selbstvergewisserung über das, was in der eigenen Gesellschaft passiert, nennt, sind wichtig. Wir sollten den Begriff der Gesellschaft stark machen und die Nation vielleicht einmal in den Hintergrund treten lassen. Für mich ist das der transnationale Habitus des Europäischen: sich kritisch mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Lutz Niethammer In unserer Diskussion gingen die Meinungen darüber, an welchem Punkt das Haus der Europäischen Geschichte ansetzen sollte, ja weit auseinander: vom Rückgriff auf die Ur- und Frühgeschichte bis zum Ansatz, erst bei der europäischen Integrationsgeschichte zu beginnen, wurde vieles angesprochen. Ich halte es für sinnvoll, einen Gedanken bei diesem Projekt noch stärker zu
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betonen, dass es nämlich auch und besonders dazu dienen soll, die europäische Öffentlichkeit anzufeuern. Sobald dieses Museum da ist, wird es sicher auch viel Widerspruch dazu geben, und vielleicht wird dies sein größter Beitrag zur europäischen Öffentlichkeit sein. Wenn man prozesshaft denkt, könnte man auch etwas aufnehmen, was Mária Schmidt schon in einer anderen Beziehung hat anklingen lassen, dass man nämlich nicht ein chronologisches Gesamtprojekt auf einen Hub stemmen muss. Vielleicht könnte man systematische Komponenten herausnehmen. Wenn das Haus 2014 öffnet, dann vielleicht mit Schwerpunkten, die, wie Volkhard Knigge so treffend sagte, die Verfehlung der eigenen Normen thematisieren und das Lernen aus der Geschichte, was als das »europäische Wunder« in unserer Diskussion anklang. Das schließt nicht aus, dass der Ausstellungsprozess weitergeht, dass danach andere Themen kommen. So käme man aus diesem unglaublichen Produktionszwang heraus, der die Ausstellungsmacher unter einen Reduktionshammer setzen wird, der niemandem gut tut. Dies wäre meine Anregung, die ich aus unseren Gesprächen entnommen habe. Und damit zur Schlussrunde auf dem Podium. Stefan Troebst Ich habe kein Schlussstatement, sondern nur ein Schlusszitat. Dieses stammt von dem Göttinger Historiker Hermann Heimpel, der vor 50 Jahren die Dialektik von Nationalstaaten und Integrationskonzepten in Europa in eine komplizierte, aber wie ich finde eben deshalb adäquate Formel gefasst hat, die nicht nur auf das europäische Projekt an sich, sondern gerade auch auf unsere Frage nach dem europäischen Gedächtnis passt: »Die Idee der Nation ist eine europäische Idee. Mit Europa ist seine nationale Zertrennung, aber mit den Nationen ist Europa gegeben.«2 Mária Schmidt Ich möchte noch einmal auf das Zitat von Frau Augstein eingehen: »Wenn ein Denkmal fertig ist, ist es tot.« Das hat einigen im Saal gut gefallen, ich bin jedoch der Meinung, ein Denkmal ist nur so lange tot, bis ich mich ihm nähere. Wenn ich davor stehe, dann spricht es mit mir, dann kommen Fragen auf: Warum wurde es hier aufgestellt? Wer ist die abgebildete Person? Was soll damit repräsentiert werden? usw. Mit Frau Augstein stimme ich auch darin
2 Hermann Heimpel: Europa und seine mittelalterliche Grundlegung, in: ders.: Der Mensch in seiner Gegenwart. Sieben historische Essays, Göttingen 1954, S. 67–86, hier S. 68.
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nicht überein, dass wir Nein zum Irak-Krieg gesagt haben, dass dies ein Moment europäischer Identität gewesen sei. Wenn ich mich recht erinnere, dann waren Italien, Spanien, England, Polen und ganz Osteuropa dafür. Gerade für die neuen Mitgliedsländer war dies kein Augenblick europäischer Identität. Ich halte es für sehr wichtig, dass wir uns bei diesem europäischen Projekt von alten Denkweisen verabschieden. Für mich bedeutet ein solches Museum nicht die Wiederholung dieser ganzen Opferkultur, dieses jahrzehntelangen Wettbewerbs darum, wer mehr gelitten hat, wer die meisten Opfer zu beklagen hatte. Europa ist ein Kontinent, und wir können auf unsere Leistungen stolz sein. Das 20. Jahrhundert haben wir überwunden. Westeuropa hat ein halbes Jahrhundert lang fantastisch gelebt, große Verdienste erworben. Wir in Osteuropa haben durch diese Diktatur viele Erfahrungen gesammelt, und damit werden wir im 21. Jahrhundert gut leben können. Ich möchte, dass sich in diesem Museum ein stolzes und selbstbewusstes Europa widerspiegelt. Darin sehe ich seine Aufgabe, nicht in stetem Pessimismus, in Klagen und Opferdebatten. Mit dieser Kultur müssen wir aufhören, weil wir in einem neuen Jahrhundert leben. Volkhard Knigge Um ein Missverständnis auszuräumen noch einmal zu Gedächtnis und Geschichte. Mit meiner Erinnerung an Konnotationen des Begriffs »sowjetisches Gedächtnis« wollte ich keinesfalls sagen, der Sachverständigenbeirat kopiere das sowjetische Modell in oder für Europa. Im Gegenteil ging es mir um die Bewahrung und Stärkung der Sensibilität für – sage man – das potentiell Unheimliche aller Geschichts- und Erinnerungspolitik. Extreme Beispiele wie die Sowjetunion und deren umgeschriebene Geschichtsbücher können uns helfen, dieses Unheimliche nicht auszublenden. In diesem Zusammenhang finde ich Etienne François’ Hinweis wichtig, der es auf den Punkt bringt: Geht es um ein Gedächtnismuseum oder um ein Geschichtsmuseum? Es sollte um ein Geschichtsmuseum gehen. Und wenn wir von Geschichtsmuseum sprechen, dann doch im Bewusstsein, dass Gedächtnis und Geschichte sich nicht absolut entkoppeln lassen. Geschichte hat aber dem Gedächtnis gegenüber auch eine zivilisierende Funktion, insofern sie an methodisch geleitete Vernunft, an Regeln gebunden ist. Stichworte sind Transparenz, Diskursivität, Multiperspektivität, Kontroversität, interpersonale Überprüfbarkeit, Quellenkritik. Wie gern werden im Feld von Gedächtnis und Erinnerung deren irrationale, ja hochaggressive Seiten vergessen. Man denke nur an alle Formen historischer Revange- und Rachegedächtnisse – und schaue dazu etwa ins ehemalige Jugoslawien.
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Als Ausstellungspraktiker und Museumsmensch möchte ich in diesem Zusammenhang noch auf die ethischen Richtlinien des ICOM3, des Internationalen Museumsrates, hinweisen. Die kennt kaum jemand, obwohl sie genau das sicherstellen wollen: forcierte, sogar verrechtlichte Geschichts- und Gedächtnispolitik durch eine fachliche Ethik einzuhegen; also Politik und politische Interessen nicht zum Dominierenden der Geschichtskultur werden zu lassen; geschichtskulturelle Institutionen vielmehr vor Eingriffen, vor Bevormundungen oder Anweisungen zu schützen. Und hier hat natürlich auch der wissenschaftliche Beirat des Hauses der Europäischen Geschichte eine wichtige Aufgabe, ebenso wie die Geschichtswissenschaft im Ganzen oder die Öffentlichkeit. Ohne den politischen Stifter würde es das Haus der Europäischen Geschichte nicht geben. Aber ohne fachliche und demokratische Gegengewichte dazu, verlöre das Haus der Europäischen Geschichte schnell seine Legitimiät und seine Potentiale zur Beförderung transnationaler demokratischer Geschichtskultur. Zsuzsa Breier Ich würde es sehr bedauern, wenn dieses Haus der Europäischen Geschichte eine reine Werbeveranstaltung wäre. Für Europa wird wahrlich genug geworben. Die Institutionen der Europäischen Union haben in allen EU-Ländern Häuser und Büros, in denen mit Broschüren und Veranstaltungen informiert und geworben wird. Das Haus der Europäischen Geschichte dürfte gerade nicht auf diesem Niveau agieren. Es wäre aus meiner Sicht dann gelungen, wenn es wirklich die Möglichkeit zur Sensibilisierung und Auseinandersetzung bieten würde, zur Auseinandersetzung mit Europa. So könnte jeder Besucher das mitnehmen, was für ihn wichtig ist, und dieser Ansatz ist weit entfernt von jeglicher Homogenisierung. Es wäre schon ein großer Erfolg, wenn diese heikle Balance zwischen Leidens- und Erfolgsgeschichte gelingen könnte. Das ist ein zentraler Punkt in allen europäischen Ländern, denn es gibt viele Nationen, Regionen, Gruppen, die zwar auch auf eine Leidensgeschichte setzen, daneben aber auch andere Traditionen vorzuweisen haben. Wenn dies in diesem europäischen Haus ausbalanciert erscheinen könnte, wäre das ein großer Erfolg.
3 ICOM – Internationaler Museumsrat (Hg.): Ethische Richtlinien für Museen von ICOM (Redaktion: Edmund Miedler), ICOM 2010, im Internet unter: URL: http://www.icom-deutschland.de/client/media/364/icom_ethische_richtlinien_ d_2010.pdf [23.10.2010].
Podiumsdiskussion
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Franziska Augstein Natürlich haben die Regierungen, die Mária Schmidt nannte, für den IrakKrieg gestimmt. Ich habe nicht von diesen Regierungen gesprochen, sondern davon, dass die Bevölkerungen die Entscheidung ihrer Regierungen nicht mehrheitlich mitgetragen haben. Noch ein Wort zu den Begriffen Identität und Gedächtnis: Wir haben heute zwar einige Definitionen gehört, die zu ihrer Klärung beigetragen haben, aber es wurde im Verlauf unserer Diskussion doch deutlich, dass die Differenzierungsleistung, die erforderlich ist, um diese Begriffe benutzbar zu machen, doch ausgesprochen groß ist. Aus pragmatischen Gründen würde ich vorschlagen, ohne die Begriffe Identität und Gedächtnis auszukommen. Mit den Wörtern Geschichtsmuseum und Erinnerung können wir hingegen wunderbar arbeiten. Was Volkhard Knigge gesagt hat, ist richtig, man kann es gar nicht oft genug sagen: Wenn es nicht gelingt, dieses Museum in seinem Aufbau und in seiner Unterhaltung den Händen von Museumsfachleuten anzuvertrauen, wenn stattdessen die EU-Parlamentarier und womöglich auch noch die einzelnen nationalen Regierungen mitreden wollen, dann wäre es in der Tat sinnvoller, den ironischen Vorschlag aus dem Publikum aufzugreifen, der vorhin gemacht wurde, und ein EU-Werbemuseum einzurichten. Włodzimierz Borodziej Ich möchte zunächst Volkhard Knigge für sein letztes Statement danken, in dem er eigentlich eine Definition dieses Museums und seiner Ziele geliefert hat, die es bisher in dem Schrifttum um das Museum herum so nicht gegeben hat und die, glaube ich, genau den Punkt trifft. Was nehme ich aus dieser Debatte mit? Erstens den vielen Widerspruch, auf den das Projekt stößt. Ich habe die Diskussion so verstanden, dass zivilgesellschaftliche Initiativen in diesem Feld gestärkt werden sollten und man der Idee, dass eine bestehende Institution etwas mit Identität zu tun haben will, in diesem Saal sehr skeptisch begegnet, aber nicht nur hier, sondern vielerorts in Europa. Die Auseinandersetzung über die Frage – Werbeveranstaltung oder nicht – hat mich einmal mehr in der Auffassung bestätigt, dass europäische Projekte zu den am schlechtesten vermarkteten überhaupt gehören. Es ist natürlich eine Grundsatzfrage an uns alle, warum das so läuft. Ich will noch auf einige konkrete Punkte eingehen. 1.) Zur Vorgeschichte des Hauses: Die genaue Vorgeschichte kenne ich nicht. Sie konnten in den Konzeptionellen Grundlagen nachlesen, dass die offizielle Äußerung von Hans-Gert Pöttering aus dem Februar 2007 stammt, als die
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Idee des Musée de l’Europe in Brüssel bereits gereift war. Warum diese beiden Projekte nicht zusammengekommen sind, ist mir nicht ganz klar und ist mir auch nie erklärt worden. Das Museumsprojekt von Krzysztof Pomian und Elie Barnavi hat sich zu einer Wanderausstellung entwickelt, die inzwischen an mehreren Orten gezeigt wurde und nur kurze Zeit, vor etwa drei Jahren, in Brüssel zu sehen war. Das Haus der Europäischen Geschichte ist hingegen als eine Dauerausstellung mit begleitenden Aktivitäten angedacht. Übrigens kann ich mir nicht vorstellen, ohne es nachweisen zu können, dass die Idee des Hauses der Europäischen Geschichte aus dem Zusammenhang der EUDebatte der frühen 2000er Jahre gerissen werden kann. Der Irak-Krieg, der hier genannt worden ist, die Verfassungsdebatte, der Beitritt mit all den Problemen, die er unter anderem im geschichtspolitischen Bereich aufgeworfen hat, all das hat sicher zu dieser Entscheidung beigetragen, und die Historiker werden vielleicht eines Tages mehr darüber zu sagen haben. 2.) Zum Konzept: Es wurde bereits gesagt, dass wir uns im Sachverständigenausschuss letztlich darauf geeinigt haben, dass es doch hauptsächlich eine chronologisch angelegte Dauerausstellung werden soll, die im Laufe der Zeit auch von Wanderausstellungen begleitet wird, die durch Europa touren, auch eine Begegnungsstätte in verschiedenen Dimensionen ist angedacht. Deshalb ist auch der Einwand völlig berechtigt, dass es sich um mehr als ein bloßes Museum handeln muss, sondern in der Tat um ein Haus der Europäischen Geschichte. In dem Museum soll die Geschichte Europas, nicht der Europäischen Union behandelt werden. Aber die Geschichte der europäischen Institutionen, das haben Sie in dem Konzeptpapier und in meiner Zusammenfassung gehört, wird natürlich eine Rolle spielen. Sie ist nicht der primäre Gegenstand, sondern ein wichtiger ordnender Leitfaden, an dem sich die Geschichte der letzten 50 Jahre orientieren wird. 3.) Zur Autonomie: Die Frage der Autonomie ist natürlich eine Schlüsselfrage für das Gelingen des Projektes. Darüber sind wir uns alle einig. Ich denke, dass trotz der sehr selbstkritischen Betrachtung meiner deutschen Kollegen das deutsche Beispiel der relativen Selbstständigkeit wissenschaftlicher und verwandter Institutionen auch in Brüssel eine Rolle spielen wird, d. h. dass die in Deutschland praktizierte Autonomie von Gedenkstätten, Museen und sonstigen Einrichtungen dieser Art eigentlich als gelungenes Beispiel für Nachahmung gilt. Schwer vorstellbar, dass gerade das Haus der Europäischen Geschichte gegenüber guten, europaweit bekannten Standards zurückfallen könnte.
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4.) Zur Normativität: Gilbert Merlio hat mit seinem Hinweis auf das Spannungsverhältnis zwischen wandelbarer Identität und normativem Anspruch einen wichtigen Aspekt aufgegriffen. Das Haus der Europäischen Geschichte wird sehr gut beraten sein, sich normativ auf ganz wenige Punkte zu konzentrieren, weil – wie auch in der Diskussion deutlich wurde – jeder darüber hinausgehende Verdacht von Normativität sofort zu Kontroversen führt. Ein ganz wichtiges Thema wird dann die Verletzlichkeit dieses Anspruchs sein, den wir mit diesen wenigen normativen Punkten abstecken und den wir heute für uns und für andere geltend machen können. Das führt jedoch in eine andere Richtung der Diskussion. 5.) Zum Verhältnis von Europa zur Außenwelt: Es gibt keine außereuropäischen Beiratsmitglieder, und ich weiß auch nicht, wie sich das Mitarbeiterteam zusammensetzen wird. Aber die Betrachtung Europas kann nicht nur aus der nationalen oder regionalen Binnenperspektive erfolgen, das ist allen Beteiligten klar. Wie Europa durch die Außenwelt wahrgenommen wird, wird in der Ausstellung sicher einen gebührenden Platz finden. Lutz Niethammer Herr Veen hat eingangs unserer Tagung gesagt, dass dies die erste öffentliche Diskussion außerhalb des Europäischen Parlaments zu diesem Projekt war, darauf können wir in unserer kleinen thüringischen Provinz stolz sein. Wir können auch stolz sein und das mit einem großen Dank an unsere Referenten und Podiumsteilnehmer verbinden, dass wir in diesen beiden Tagen eine selten gelungene Problematisierung erleben durften. Nicht in dem Sinne, dass wir jetzt eine allein gültige Marschrichtung hätten, aber ich glaube, es ist sehr viel von dem Potenzial, das um dieses Haus herum entstehen wird, auf den Tisch gekommen. Mehr konnte gar nicht sein.
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Sachverständigenausschuss Haus der Europäischen Geschichte
Konzeptionelle Grundlagen für ein Haus der Europäischen Geschichte1
Manuskript abgeschlossen im Oktober 2008 Gedruckt in Brüssel, Belgien
1 © Sachverständigenausschuss Haus der Europäischen Geschichte: Konzeptionelle Grundlagen für ein Haus der Europäischen Geschichte, Brüssel 2008. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort Konzeptionelle und museale Grundlagen Inhaltliche Grundlinien der Dauerausstellung Ursprünge und Entwicklungen Europas bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Das Europa der Weltkriege Europa seit dem Zweiten Weltkrieg Fragen an die europäische Zukunft Ausblick Die Mitglieder des Sachverständigenausschusses
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Vorwort
1.
»Ich möchte einen Ort der Erinnerung und der Zukunft anregen, an dem das Konzept der Idee Europas weiter wachsen kann. Ich möchte den Aufbau eines »Hauses der Europäischen Geschichte« vorschlagen. Es soll […] ein Ort sein, der unsere Erinnerung an die europäische Geschichte und das europäische Einigungswerk gemeinsam pflegt und zugleich offen ist für die weitere Gestaltung der Identität Europas durch alle jetzigen und künftigen Bürger der Europäischen Union.« Der Präsident des Europäischen Parlaments, Prof. Dr. Hans-Gert Pöttering MdEP, initiierte mit diesen Worten in seiner Programmrede am 13. Februar 2007 die Einrichtung eines »Hauses der Europäischen Geschichte«.
2.
Nach ausführlicher Diskussion hat das Präsidium des Europäischen Parlaments diese Initiative einstimmig begrüßt und eine Sachverständigenkommission einberufen, die ein Konzept für das Haus der Europäischen Geschichte erarbeiten soll. Diese Kommission bestand aus neun Mitgliedern – Historikern und Museumsexperten – aus verschiedenen Ländern Europas. In mehreren Arbeitssitzungen in Brüssel entstand das vorliegende Konzeptpapier, das am 15. September 2008 im Konsens verabschiedet wurde.
3.
Die Mitglieder der Expertenkommission unterstreichen: Ein herausgehobenes Ziel des Hauses der Europäischen Geschichte ist, die Kenntnisse der Europäer aller Generationen über ihre eigene Geschichte zu vertiefen und so zu einem besseren Verständnis der Entwicklung Europas in Gegenwart und Zukunft beizutragen. Die Einrichtung soll zu einem Ort werden, an dem die europäische Idee lebendig wird.
4.
Die Grundlinien der europäischen Geschichte müssen dargelegt werden, um die jüngere Historie und die Gegenwart verstehen zu können. Auf der Grundlage der historischen Erfahrungen und Wirkungen sollen die Gründung und Entwicklung der europäischen Institutionen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich werden. Die Ausstellung soll die Vielfalt der europäischen Geschichte ebenso veranschaulichen wie die Gemeinsamkeit der Wurzeln.
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5.
Die Idee und Bereitschaft, sich in supranationalen Institutionen auf europäischer Ebene freiwillig zusammenzufinden, prägt die jüngste Geschichte des Kontinents. Die weitgehende Überwindung von Nationalismen, Diktatur und Krieg, zugleich seit den 1950er Jahren der Wille, auf europäischer Ebene in Frieden und Freiheit zusammenzuleben, die supranationale Union mit zivilem Charakter, sollen herausgehobene Botschaften des Hauses der Europäischen Geschichte sein. Die Ausstellungen sollen verdeutlichen, dass ein vereintes Europa auf Basis gemeinsamer Werte in einer Welt des Fortschritts in Freiheit friedlich zusammenleben kann. Zu einer weitergehenden Beteiligung der Bürger an den politischen Entscheidungsprozessen im vereinten Europa soll das Haus der Europäischen Geschichte anregen.
6.
Es ist der Auftrag der Europäischen Union, zur Verbesserung der Kenntnis und der Verbreitung der Kultur und Geschichte der europäischen Völker beizutragen (Artikel 151 EG-Vertrag).
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Konzeptionelle und museale Grundlagen
7.
Das Haus der Europäischen Geschichte soll als modernes Ausstellungs-, Dokumentations- und Informationszentrum errichtet werden. Es soll sowohl über eine Dauerausstellung zur europäischen Geschichte mit einer Ausstellungsfläche von bis zu 4.000 Quadratmetern verfügen als auch über Räumlichkeiten für die Präsentation von Wechselausstellungen. Ferner wird die Einrichtung eines Informationszentrums vorgeschlagen, in dem den Besuchern vertiefende Informationen über die europäische Vergangenheit und Gegenwart angeboten werden. Veranstaltungen und Publikationen können diese Angebote ergänzen.
8.
Wichtig für den Erfolg der Einrichtung sind vielfältige Faktoren, die aufeinander abgestimmt sein müssen:
9.
Die wissenschaftliche Unabhängigkeit und die Objektivität der Darstellung stehen an erster Stelle. Der Expertenkommission ist es ein besonderes Anliegen, dass wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse und Methoden das Fundament der Arbeit des Hauses der Europäischen Geschichte bilden. Die Wahrhaftigkeit der Darstellung ist unabdingbare Voraussetzung für die Akzeptanz der Einrichtung in der Fachwelt und bei den Besuchern. Die multiperspektivische und offene Darstellung historischer Fakten und Prozesse ist notwendig, um auf dieser Basis den Besuchern ein eigenes Urteil zu ermöglichen und sie zur Diskussion anzuregen. Garant für diese Unabhängigkeit kann ein hochrangig besetzter Wissenschaftlicher Beirat aus Fachwissenschaftlern und Museumsfachleuten sein, der die Arbeit begleitet.
10. Ferner ist die institutionelle Selbständigkeit der Trägereinrichtung des Hauses der Europäischen Geschichte wesentliche Grundlage für ein erfolgreiches und glaubwürdiges Konzept. 11. Die Einrichtung versteht sich vornehmlich als Vermittlungsinstanz. Sie steht als Medium zwischen der Fachwissenschaft und der breiten Öffentlichkeit. Neueste museologische Erkenntnisse müssen bei Aufbau und Betrieb berücksichtigt werden. Umfangreiche museumspädagogische
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Angebote, die sich auf eine heterogene Besucherschaft einstellen müssen, sind zu entwickeln und anzuwenden. Auch wenn die Wissenschaftlichkeit als Basis der Arbeit von großer Bedeutung ist, soll das Haus der Europäischen Geschichte keine fachwissenschaftliche Grundlagenforschung im engeren Sinne betreiben. 12. Der Sachverständigenausschuss plädiert jedoch dafür, als zusätzliches Angebot am Haus der Europäischen Geschichte eine Begegnungsstätte für junge Wissenschaftler einzurichten, die sich mit Themen der europäischen Geschichte beschäftigen. Diese Begegnungsstätte trägt nicht nur zur Lebendigkeit der Einrichtung bei, sondern bindet auch junge Talente aus ganz Europa an dieses Haus. 13. Das Haus der Europäischen Geschichte wendet sich an Europäer aus allen Regionen des Kontinents und aus allen Alters- und Bildungsschichten. Diese breite Zielgruppe erfordert, dass die zu erarbeitenden Ausstellungen keine umfassenden Kenntnisse ihrer Besucher voraussetzen dürfen. Ihr Zielpublikum sind vor allem interessierte Laien. 14. Eine chronologisch orientierte Narration hilft der antizipierten Zielgruppe, historische Ereignisse und Prozesse zu verstehen. Chronologie einschließlich notwendiger Rück- und Überblicke erleichtert die räumliche und zeitliche Zuordnung der jeweiligen Ereignisse und Entwicklungen. Auf diese Weise wird ein Rahmen geschaffen für die vielfältigen Objekt-, Textund Medienelemente, mit denen Geschichte im Museum präsentiert wird. 15. Folglich sollte das Haus der Europäischen Geschichte insgesamt eine Einrichtung sein, die in allen Arbeitsbereichen auf die Belange der Besucher ausgerichtet ist. Dies gilt u. a. für die Mehrsprachigkeit der Ausstellungstexte und der audiovisuellen Angebote. Ausstellungsdidaktik und -gestaltung müssen auch die in allen europäischen Ländern spezifischen demografischen Wandlungsprozesse berücksichtigen. Bewusste Besucherorientierung und regelmäßige Überprüfung dieser Grundsatzentscheidung durch kontinuierliche Evaluationen sind weitere bestimmende Faktoren für die Arbeit des Hauses der Europäischen Geschichte. 16. Das Haus der Europäischen Geschichte soll darüber hinaus Wechsel- und Wanderausstellungen erarbeiten. Die Wanderausstellungen bieten vor allem die Möglichkeit, Menschen in allen Teilen Europas und darüber hinaus zu erreichen.
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17. Zur Attraktivität des Hauses der Europäischen Geschichte sollen neben den Ausstellungen sowohl themenbezogene Veranstaltungen mit europäischem Bezug als auch eigene Publikationen beitragen. Ein modernes Museum muss im 21. Jahrhundert zudem im Internet mit einem umfangreichen Angebot vertreten sein. 18. Wesentliche Bedeutung hat der Aufbau einer eigenen Museumssammlung. Der Zugriff auf eigene Sammlungsbestände ist unerlässlich, um visuell attraktive Dauer-, Wechsel- und Wanderausstellungen zu erstellen. Gleichzeitig hilft die Sammlung, das Haus der Europäischen Geschichte in den internationalen Leihverkehr einzubinden und ihm hier einen signifikanten Stellenwert zu sichern. Beim Aufbau der Sammlung ist darauf zu achten, dass der Schwerpunkt spezifisch europäische Aspekte der Geschichte beachtet. Duplizierungen bereits vorhandener nationaler Sammlungen sind zu vermeiden. 19. Die zentrale Lage des Hauses der Europäischen Geschichte ist für den Erfolg der Einrichtung unabdingbar. Es soll eingebettet sein in den Strom der Besucher zu den europäischen Institutionen. Eine enge Vernetzung mit den Angeboten am Ort der europäischen Einrichtungen ist ebenso erstrebenswert wie die Einbettung des Hauses in die europäische Museumslandschaft. 20. Unerlässlich für Leistung und Erfolg des Hauses der Europäischen Geschichte ist die kontinuierliche Finanzierung dieser Einrichtung. Nicht nur Aufbau und Ersteinrichtung werden Mittel binden, sondern ebenso der Dauerbetrieb. Auch nach der Eröffnung fallen Aufwendungen an, um die Einrichtung für die Besucher attraktiv zu halten. Die kontinuierliche Fortentwicklung der Ausstellungen und der musealen Infrastruktur sind Grundlage für die fortwährende Akzeptanz der Einrichtung. 21. Da das Haus der Europäischen Geschichte der politischen Bildung aller Menschen dienen soll, plädiert die Expertenkommission dafür, dass der Eintritt in das Haus der Europäischen Geschichte kostenlos ist. 22. Die Dauerausstellung des Hauses der Europäischen Geschichte, das Herzstück des neuen Museums, soll in ihrem Schwerpunkt auf einer Fläche von bis zu 4.000 Quadratmetern die europäische Geschichte vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart präsentieren. Rückbezüge auf die Wurzeln des Kontinents und das europäische Mittelalter sowie die
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Neuzeit sind in geringerem Umfang notwendig, um das Verständnis für Gegenwart und Zukunft zu erhöhen. Der Bezug zur Gegenwart ist von großer Bedeutung für den Erfolg des neuen Museums, da er zum einen dessen Aktualität dokumentiert und zum anderen den unmittelbaren Bezug zum täglichen Leben der Besucher unterstreicht. Zudem bietet die Anbindung an die Gegenwart die Möglichkeit, auch kurzfristig wichtige europabezogene Veränderungen und Entwicklungen in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur aufzugreifen. 23. Die Dauerausstellung soll nicht die Summe nationaler oder regionaler Geschichten Europas abbilden, sondern sich vielmehr auf europäische Phänomene konzentrieren. Die Friedensphase seit Ende des Zweiten Weltkrieges soll hierbei eine herausgehobene Rolle spielen. Dabei ist zu beachten, dass die Vielfalt Europas das eigentliche Signum des Kontinents ist. Diese Heterogenität sowie die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen stellen große Herausforderungen an den Aufbaustab und an die Ausstellungsgestalter. Gleichwohl bieten diese Aspekte auch Anknüpfungspunkte für die unterschiedlichen Besucher. Die Einbindung von biografischen Elementen soll angesichts der erwarteten heterogenen Besucherstruktur den Zugang zu den vielfältigen europäischen Themen und Prozessen erleichtern. Die Lebensläufe berühmter Europäer und Europäerinnen einerseits und unbekannter Bewohner des Kontinents andererseits bieten die Möglichkeit zur verstärkten Auseinandersetzung mit den jeweiligen Zeitumständen. Lebensweltliche Aspekte müssen eine wichtige Rolle in der Ausstellung spielen. 24. Die Attraktivität der Dauerausstellung wird wesentlich abhängen von den ausgestellten Objekten, deren auratische Kraft neben dem kognitiven auch den affektiven Zugang zu den historischen Fragestellungen erlauben soll. Doch ohne Kontextualisierung der Exponate bleibt der Zugang zu deren Bedeutung verstellt. Der gezielte Einsatz audiovisueller Medien ist in diesem Zusammenhang selbstverständlich. Bei zeithistorischen Ausstellungen ist es unerlässlich, Film- und Tondokumente einerseits als Originalquellen, andererseits unter ausstellungsdidaktischen Prämissen zu nutzen. Moderne audiovisuelle Medien dynamisieren die Ausstellung und erleichtern die Rezeption vor allem für die jüngere Generation. Ein narrativer Ausstellungsansatz ist nahe liegend, um sowohl die kognitive als auch die affektive Auseinandersetzung mit den Themen der Dauerausstellung zu ermöglichen.
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25. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass turnusmäßige Überarbeitungen der Dauerausstellung die Akzeptanz und Attraktivität des Hauses der Europäischen Geschichte auch mittel- und langfristig sicherstellen können. 26. In Anbetracht der großen Herausforderungen, die vom Aufbaustab zu meistern sind, erscheint eine mögliche Eröffnung im Sommer 2014 als ehrgeizige Zielsetzung, die bei guter Zusammenarbeit aller Beteiligten zu erreichen sein sollte.
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Inhaltliche Grundlinien der Dauerausstellung
Ursprünge und Entwicklungen Europas bis zum Ende des 19. Jahrhunderts 27. Formen höherer, bereits »europäischer« Kultur entwickelten sich im Rahmen des Handels im östlichen Mittelmeerraum und am Schwarzen Meer, Regionen, die für die Landwirtschaft nicht fruchtbar genug waren, aber für die Entwicklung der Schifffahrt und das Entstehen kleiner Staaten anstelle der großen, landwirtschaftlich geprägten Staaten im Umkreis des Nils, des Euphrats und des Tigris’ bessere Voraussetzungen boten. 28. Das Phänomen der Kolonisation belegt die Bedeutung einer der wichtigsten Triebkräfte der europäischen Geschichte – der durch Überbevölkerung verursachten Migration. Die Wanderungsbewegungen drängten die Menschen zur Erkundung neuer Landstriche und führten zur Entwicklung einer mächtigen Militärkultur, die der Eroberung und Erhaltung der Kolonien diente. Die Städte beziehungsweise Stadtstaaten in der Ägäis expandierten zum Beispiel mit Hilfe der weithin im Mittelmeerraum und am Schwarzen Meer verbreiteten Kolonien. 29. Das Phänomen der Migration und der Kolonien taucht in der europäischen Geschichte häufig auf, entweder in Form kriegerischer Feldzüge oder als massenhafte Kolonisation. Binneneuropäische Wanderungen sind ebenso von Bedeutung wie auch die Kolonisation außereuropäischer Kontinente. 30. Schon immer galt das Interesse der Europäer den Reichtümern Indiens und Chinas und den dahin führenden Wegen, und zwar schon zu Zeiten Alexanders des Großen, während des Römischen Reiches einige Jahrhunderte später, während der »Kreuzzüge« nach dem Jahr 1000 sowie im Zuge der Errichtung von Kolonialreichen vor allem durch Frankreich, England, Portugal und Holland seit dem 16. Jahrhundert, die zum Teil bis in die 1970er Jahre bestanden. Die Kolonialreiche Spaniens und Portugals erstreckten sich größtenteils zunächst auf Amerika, das russische Reich auf Sibirien und Zentralasien. 31. Der griechisch-römische Raum brachte seit dem 5. Jahrhundert vor Christus eine hoch entwickelte Kulturform hervor, die die Grundlage für
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die philosophische, literarische, legislative und staatliche Entwicklung der europäischen Kultur, wie sie heute besteht, bildet und die im Rahmen von »Renaissancen« mehrfach wiederbelebt wurde. Diese Epoche währte ein Jahrtausend lang. Ihre Hauptsprachen, das Griechische und das Lateinische, bilden die grammatische, lexikalische und semantische Basis für fast alle anderen europäischen Sprachen. 32. Im 16. Jahrhundert führten die »Renaissance« der Antike und das neue Informationsmedium Buch zu einer bemerkenswerten Relatinisierung des Französischen und anderer romanischer Sprachen, während ein großer Schatz neuer Worte die lateinische Kultur in die germanischen, finnischen und slawischen Sprachen überführte. Das »gereinigte« Latein bewahrte sich überall in Europa bis ins 20. Jahrhundert eine wichtige Rolle im Universitäts- und Schulsystem sowie in der katholischen Kirche. Es hatte einen großen, vor allem semantischen und terminologischen Einfluss auf alle Landessprachen in ihrer schriftlichen Form. Später wurde die universelle Rolle des Lateinischen insbesondere im 18. Jahrhundert in der französischen Sprache neu belebt, begleitet von einem starken lexikalischen Einfluss auf das Deutsche, Russische und Schwedische sowie andere Sprachen. Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts haben Griechisch und Latein dank der biologischen Forschung und der Innovationen im technischen Bereich, deren Termini fast alle ihre sprachlichen Wurzeln im Griechischen oder Lateinischen haben, ihre Position erneut stärken können. 33. Dem Schul- und Hochschulsystem kommt durch die Ausbildung von Führungseliten eine wesentliche Rolle bei der Schaffung der kulturellen Einheit Europas zu, die sich seit dem Mittelalter, dem 12. und 13. Jahrhundert, vollzog. Dieses System beruht auf der Art, lateinisch zu denken und zu schreiben, und der Kunst zu argumentieren und zu kritisieren. Auch die Dogmen der christlichen Religion waren Gegenstand oft heftiger Streitgespräche. Seit dem 17. Jahrhundert, mit dem Auftreten von Akademien, befreiten sich Denken und Schreiben von kirchlicher Kontrolle, wenngleich verschiedene Formen der moralischen und politischen Zensur in mehreren Ländern weiterhin Bestand hatten. 34. Asiatische Einflüsse waren vor allem im religiösen Bereich spürbar. Die christliche Religion bildete sich seit dem 4. Jahrhundert nach Christus als eine Mischung aus jüdischer (semitischer) Tradition und kirchlicher Organisation heraus. Diese Organisation teilte sich bereits vor dem Jahr 1000
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in einen griechischen Zweig, der Konstantinopel und das griechischrömische Reich und später insbesondere Russland umfasste, und in einen lateinischen Zweig, der vom Papsttum geprägt war und von Rom aus geführt wurde, wo Lateinisch gesprochen und vor allem geschrieben wurde. Die fortwährenden asiatischen Invasionen betrafen vor allem den östlichen Teil und erreichten im 14. und 15. Jahrhundert mit der Unterwerfung Russlands und der Kapitulation Konstantinopels vor den Türken im Jahr 1453 ihren Höhepunkt. Die lang andauernde türkische Vorherrschaft auf dem Balkan und in der Schwarzmeerregion übte starken Einfluss auf die europäische Geschichte aus, zunächst auf Österreich und Russland, später aber auch in Frankreich und Großbritannien, die ständig nach Einflussnahme im Nahen Osten und auf den Weg nach Indien strebten. Die ethnisch-religiös motivierten Kriege auf der Balkanhalbinsel dauern bis in die Gegenwart. 35. Im 4. Jahrhundert begann der allmähliche Niedergang des Weströmischen Reichs. In der Römischen Kirche lebte der Einheitsgedanke partiell weiter und ließ etwa um 800 ein neues Reich mit europäischer Dimension unter Karl dem Großen entstehen – und zwar als Prinzip einer politischen Einheit, das formal bis zum Jahr 1806 existierte. 36. Im Mittelalter entwickelten sich kirchliche und die staatliche Organisation lange Zeit parallel, indem militärische, gesellschaftliche und bildungspolitische Systeme entstanden, die sich vor allem über Formen der Besteuerung strukturierten. Klöster übernahmen eine bedeutende Rolle im gesellschaftlichen und kulturellen Leben. Neben der Gliederung Europas in Bistümer, Lehensgüter, Fürstentümer und Grafschaften entstanden unabhängige, von Mauern umgebene Städte, die sich häufig zu Städtebündnissen zusammenschlossen, hauptsächlich in Italien, den Niederlanden und in Deutschland, wo die Hanse das wichtigste Städtebündnis war. 37. Das westliche Christentum breitete sich allmählich nach Norden und Osten aus. So belegte das lateinische Alphabet die kirchliche, kulturelle und politische Zugehörigkeit Polens, Ungarns, Kroatiens, der baltischen Staaten sowie Schwedens/Finnlands zum Westen, während Russland, Serbien, Bulgarien, Griechenland und einst Rumänien die griechische Schrift hauptsächlich in ihrer slawischen, kyrillischen Form beibehielten, die mit der griechisch-orthodoxen Religion verbunden ist.
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38. Über tausend mittelalterliche Kathedralen (Bischofskirchen), von denen der größte Teil fast überall in Westeuropa erhalten ist, zeugen von der Bedeutung sowie der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Macht des klerikalen Systems, auch vom außerordentlich hohen Niveau der Architektur und Baukunst, der bildenden Künste und der Musik in jener Epoche zwischen 1000 und 1500 nach Christus. Darauf folgt die Zeit der Residenz-Schlösser wie Versailles in Frankreich, der Petershof in Russland sowie die urbanen Bauten mit ihren Festungen und Mauern. 39. Die Einteilung der Menschen in die Stände des Klerus, des Adels, des städtischen Bürgertums und der Bauernschaft sowie der Dienerschaft wurde lange Zeit als natürliche und gottgegebene Ordnung angesehen. In allen Teilen Europas bildeten sich aufgrund der Lebensweise beziehungsweise der jeweiligen Identität als Adel oder Bürgertum, als bäuerliche Bevölkerung und später als Industriearbeiter, Beamtenschaft usw. ähnliche Kulturen heraus. Dies fand seinen Niederschlag in der Art sich zu kleiden, zu essen, dem Interesse und dem Gefallen an der Musik und anderen Künsten. 40. Die westliche Christenheit spaltete sich im 16. Jahrhundert in die katholische Kirche und die protestantischen Konfessionen, zum Beispiel solche, die vom Kalvinismus inspiriert wurden und die in Frankreich, den Niederlanden, in der Schweiz und in Schottland Gruppen oder unabhängige Kirchen gründeten. Die Kirchen lutherischen Bekenntnisses wurden in mehreren deutschen Ländern, in Dänemark (/Norwegen, Island) und Schweden (/Finnland) und dem heutigen Estland und Lettland zu Staatskirchen. Die Ostseeanrainer spalteten sich: Norddeutschland, Dänemark, Schweden, Finnland, Estland und Lettland wurden lutherisch, Russland größtenteils orthodox, Polen und Litauen katholisch. Luthers Reformation schöpfte ihre Kraft aus ihrer Verknüpfung mit der Herausbildung der Zentralstaaten, die den größten Teil des kirchlichen Besitzes für den Aufbau des Staatswesens beschlagnahmten. Dieses Phänomen wiederholte sich im katholischen Deutschland, in Frankreich und in Italien in der revolutionären und napoleonischen Epoche um 1800. 41. Die unterschiedlichen »protestantischen« Lehren hatten ein gemeinsames Interesse an der jüdischen Tradition, wie sie sich im Alten Testament der Bibel darstellte. Die Bibel wurde im 16. und 17. Jahrhundert von Protestanten in fast alle europäischen Sprachen übersetzt und bildete in den meisten Fällen die Grundlage der Alltagssprache dieser Sprachräume. So
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haben die griechisch-lateinische Grammatik und Stilistik die neuen verschrifteten und vereinheitlichten Sprachen zutiefst beeinflusst. Letztere waren eng mit der »Renaissance« der Literatur und der Philosophie sowie dem politischen Gedankengut der griechisch-römischen Antike verbunden und erfuhren nun dank der Erfindung des Buchdrucks und der Entstehung eines allgemeinen Büchermarktes innerhalb aller europäischen Eliten eine rasche Verbreitung. 42. In den verschiedenen Ländern Europas waren unterschiedliche Klassen kulturell dominierend, wobei die spanische, die französische und die polnische Kultur weitgehend von den Idealen des Adels geprägt blieben, während in den Niederlanden, England und Schottland sowie Dänemark die Lebensweise des städtischen Bürgertums bestimmend war. Preußen und Russland waren Staaten, die vorwiegend auf der Grundlage einer effektiven und modernen militärischen Organisation beruhten. 43. Ausgehend von der rapiden Entwicklung des Wissens seit dem 17. Jahrhundert sowie der politischen und bürgerlichen Philosophie des 18. Jahrhunderts, des »Jahrhunderts der Aufklärung«, bildete sich ein neues Verständnis des Menschen und des Bürgers, gestützt auf die Werte des kritischen Verstandes und der Meinungs- und Gewissensfreiheit, heraus und führte zur Abschaffung der Privilegien des Klerus, des Adels, der Handwerksmeister, der Stadtrechte usw. Es fand seinen Ausdruck in Erklärungen »der Menschen- und Bürgerrechte«, die im Gegensatz zur Doktrin der Religion und der Unterwerfung des Menschen unter den Willen Gottes standen. Diese Entwicklung nahm mit einer Reihe von Revolutionen – in Frankreich ab 1789 – einen gewaltsamen Anfang und setzte sich dann mehr als ein Jahrhundert lang über revolutionäre oder evolutionäre Prozesse fort. Es folgten, oft nur zögerlich, die neuen Gesetze, die die Gleichheit in Bezug auf das Erbrecht (anstelle der Vorrangstellung des Erstgeborenen) einführten, ebenso das Zugangsrecht zu öffentlichen Ämtern ohne Ansehen der Geburt, das Recht, bei Kommunal- und Parlamentswahlen zu wählen und gewählt zu werden. Die ersten Wahlen mit allgemeinem Wahlrecht fanden im revolutionären Frankreich statt. Die ersten Parlamentswahlen mit allgemeinem Wahlrecht einschließlich des aktiven und passiven Wahlrechts der Frauen wurden im Jahr 1907 im Großfürstentum Finnland durchgeführt. 44. Die Rivalität der Staaten, der Nationen und der Konfessionen war bereits kennzeichnend für das »Mittelalter«, erlangte jedoch mit den großen
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Kriegen des 16. Jahrhunderts weitaus größere Zerstörungskraft. Der Dreißigjährige Krieg in Deutschland im 17. Jahrhundert, die Kriege zwischen Frankreich, den Niederlanden und England, die Kriege Schwedens und Polens gegen Russland sowie untereinander, die Kriege Österreichs und Ungarns gegen die Türkei, die Kriege Spaniens in Italien, die ständigen dänisch-schwedischen, russisch-türkischen, französisch-britischen und anderen Auseinandersetzungen prägten die europäische Geschichte mehrere Jahrhunderte lang. Seit dem 18. Jahrhundert wurden Kämpfe auch um die Frage der Vormachtstellung in den Kolonien Ostindiens, Amerikas und in anderen Teilen der Welt geführt. 45. Bereits im Jahr 1648 entwickelten sich anlässlich des Westfälischen Friedens Formen, die das Führen von Verhandlungen zwischen Staaten ermöglichten; dies war der Ausgangspunkt für die moderne Diplomatie. Die Verhandlungen des Wiener Kongresses von 1814–1815 nach den Kriegen und der französisch-napoleonischen Herrschaft stellten die nächste bedeutende Etappe im politischen System Europas dar und garantierten trotz einiger gescheiterter Revolutionen und mehrerer kurzer Kriege eine lange Periode des Friedens sowie der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung. Charakteristisch für diese Zeit sind die Bedeutung der Primärbildung, die weitgehende Beseitigung des Analphabetismus, die Schaffung kultureller Institutionen und öffentlicher Museen, die zentrale Rolle der Musik, die Erschließung durch die Eisenbahn, der Einsatz der Dampfkraft in der Industrie und im Verkehr auch in Übersee und im sibirischen Asien sowie schließlich der Aufschwung der elektrochemischen Industrie. 46. Paris, London, Berlin, Sankt Petersburg, Wien und alle anderen Hauptstädte zogen im Verlauf der industriellen Revolution gewaltige Massen von Zuwanderern an und statteten sich mit großen Boulevards, Straßenbahnen, Heizungssystemen und Parks aus. Die die Städte umgebenden Mauern wurden abgetragen. Es gab in den Städten und auf dem Land viel soziales Elend. Später wurden Anstrengungen unternommen, um ein System der sozialen Sicherung einzuführen. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts manifestierte sich der zunehmende Druck von Seiten der Arbeiter in Form von gewerkschaftlichen Zusammenschlüssen. Aber auch seitens der Unternehmer war der Wille vorhanden, Effektivität und Modernisierung der Produktion durch eine besser ausgebildete und gesündere Arbeiterschaft zu erreichen, d. h. eine Intensivierung der Herstellung zu bewirken und auf extensive Formen der Produktion zu verzichten.
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47. Der wirtschaftlichen Entwicklung Europas kamen unter anderem die Vorteile des kolonialen Besitzes in Afrika und Asien zugute. Es herrschte eine ausgeprägte Rivalität speziell zwischen Frankreich und Großbritannien und zwischen Großbritannien und Russland sowie Deutschland und Österreich/Ungarn. Der Erste Weltkrieg 1914–1918 war in erster Linie ein äußerst zerstörerischer, Europa betreffender Krieg und mit seinen enormen Verlusten an Menschenleben der größte seit den Zeiten Napoleons. 48. Das Prinzip der Nation dominierte seit dem 19. Jahrhundert. Das Säkulum hatte sich einerseits im Zeichen des Internationalismus, des Kosmopolitismus entwickelt, andererseits war es erfüllt von nationalem Gedankengut. In dieser Zeit blühten mehrere neue Sprachen und Literaturen auf, die bislang als Mundart gegolten hatten. Das 19. Jahrhundert war eine Periode der liberalen und der nationalen Emanzipation, wobei beide Strömungen von der modernen Presse, der Herausbildung politischer Parteien und der bürgerschaftlichen Beteiligung in Verbänden und Vereinigungen profitierten. 49. Vorbild und Bezugspunkt der europäischen Moderne war Großbritannien. Das Vereinigte Königreich hatte sich weit vor anderen Großmächten zu einer modernen Industriegesellschaft entwickelt. Das traditionsreiche parlamentarische System bewies mehrfach seine institutionelle Belastbarkeit; die großen Konflikte konnten friedlich ausgetragen und eine evolutionäre Ausweitung der Staatsbürger- und Menschenrechte ausgehandelt werden. Die Londoner City war das Finanzzentrum der Welt, die britische Navy galt als unschlagbar, die Kolonialverwaltung als vorbildlich, der Lebensstil der »gentry« als überlegen. Ein Symbol dieser Blütezeit Großbritanniens im 19. Jahrhundert war Königin Victoria (1837–1901). 50. Nahezu im gesamten 19. Jahrhundert wurde der Gedanke eines allgemeinen und dauerhaften Friedens diskutiert. Organisationen wie das Rote Kreuz und Intellektuelle wie der große französische Schriftsteller Victor Hugo waren hierbei führend. Organisationen zur Stärkung und Verbreitung des Friedensgedankens entwickelten sich. Im Jahr 1899 wurde auf Initiative des jungen russischen Zaren Nikolaus II. und dank einer Schenkung des amerikanischen Millionärs Andrew Carnegie ein Internationaler Gerichtshof in Den Haag eingerichtet und 1907 formal bestätigt. 1920 wurde dann der Völkerbund, der Vorläufer der heutigen Organisation der Vereinten Nationen gegründet, der allerdings deutlich stärker europäisch geprägt war als die UNO.
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Das Europa der Weltkriege 51. Das Jahr 1917 bedeutet für Europa eine Zäsur. Mit dem bolschewistischen Putsch in Russland entsteht im Osten eine Diktatur und zugleich ein alternativer Gesellschaftsentwurf. Die Utopie der sozialen Gleichheit gewinnt in vielen Ländern zahlreiche Anhänger. Der Ost-West-Konflikt beginnt. In seinem Kern ist er ein Kampf zwischen kommunistischer Diktatur und freiheitlicher Demokratie. In Russland selbst ringen die kommunistischen Truppen in den Jahren nach der Machtübernahme die Selbstständigkeitsbestrebungen der nichtrussischen Völker nieder. Das Versprechen von Fortschritt und Gerechtigkeit ist seit den 1920er Jahren mit den Großmachtinteressen Sowjetrusslands verbunden, das von allen anderen Staaten als Gefahr betrachtet wird. Der Kommunismus setzt sich in keinem europäischen Land auf friedlichem und demokratischem Weg durch. Das Zeitalter der totalitären Ideologien endet erst mit dem Untergang der UdSSR im Jahre 1991. 52. Mit dem Waffenstillstand am 11. November 1918 endet der bis dahin blutigste Krieg in der Geschichte der Menschheit. Über zehn Millionen Tote sind zu beklagen. Die immensen Kriegsanstrengungen haben alle beteiligten Nationen bis zur äußersten Grenze belastet. Als direkte Folge des Kriegs gehen drei Dynastien unter: die Habsburger, die Hohenzollern sowie die Romanows. Die Landkarte Europas wird grundlegend umgestaltet. Gleichzeitig ist rasch erkennbar, dass der Erste Weltkrieg zu einer Selbstentmachtung der europäischen Großmächte führt. Vor allem in den Kolonien verstärken sich die Unabhängigkeitsbestrebungen der indigenen Bevölkerungen. 53. Der Friedensvertrag von Versailles vom 28. Juni 1919 und die übrigen Pariser Vorortverträge stehen unter dem starken Einfluss von Woodrow Wilson, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Das nationale Selbstbestimmungsrecht wird zum Leitprinzip der Neuordnung Europas. Aus der Konkursmasse der drei untergegangenen Kaiserreiche entstehen Nationalstaaten, die in der Regel parlamentarische Demokratien sind. Teil der Versailler Friedensordnung ist die Völkerbundsatzung. Im Völkerbund finden sich die – wie es damals hieß – »zivilisierten Nationen« zusammen. Er soll in erster Linie künftige Kriege verhindern. Weder das Deutsche Reich noch das bolschewistische Russland sind Gründungsmitglieder des Völkerbunds. Sie treten allerdings später bei, während die Vereinigten Staaten dem Völkerbund bis zu seinem formalen
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Ende im Jahre 1946 fernbleiben. Das Prinzip des Völkerbunds, ein System kollektiver Sicherheit zu schaffen, erfüllt die Hoffnungen nicht. 54. Die ethnische Durchmischung der neugegründeten Staaten in Mittel- und Osteuropa bleibt ein Problem, da der Traum vom ethnisch homogenen Nationalstaat noch immer bei den Führungseliten und vielfach auch bei den Mehrheitsbevölkerungen virulent ist. Der Minderheitenschutzvertrag vom 28. Juni 1919 ist eine direkte Reaktion auf die multiethnische Zusammensetzung Polens. Nationale Minderheiten stehen unter besonderem Schutz, der von den internationalen Unterzeichnerstaaten garantiert wird. Im direkten Gegensatz zu diesem Prinzip steht der Vertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923, der unter Vermittlung des Völkerbunds zu Stande kommt. Er zielt zur Vermeidung zukünftiger Konflikte auf die Schaffung einer ethnisch homogenen Bevölkerung. Zur Lösung der Minderheitenprobleme zwischen Griechenland und der Türkei werden massenhafte Aus- und Umsiedlungen vorgenommen. Mindestens 1,5 Millionen Menschen verlieren ihre angestammte Heimat. 55. Der Sieg des Faschismus über die Demokratie in Italien ist ein Fanal für die Nachkriegszeit. Der von Benito Mussolini postulierte Totalitarismus ist ein anziehendes Beispiel für die extreme Rechte in anderen Ländern. Während sich die politische und wirtschaftliche Lage in West- und Mitteleuropa zur Mitte der 1920er Jahre stabilisiert, scheitern in dieser Zeit viele der parlamentarischen Demokratien im Osten des Kontinents. Autoritäre Regime werden zur dominanten Staatsform zwischen Ostsee, Schwarzem Meer und Mittelmeer. Die Verlierer des Ersten Weltkriegs – die »havenots« – betreiben eine Revisionspolitik, die gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrags gerichtet ist. Gleichzeitig versuchen die Siegermächte, die europäische Ordnung zu stabilisieren. 56. Als direkte Reaktionen auf den Ersten Weltkrieg werden organisatorische Anläufe unternommen, um eine grundlegende Veränderung des internationalen Systems zu erreichen. Der Briand-Kellog-Pakt von 1928 ist auf staatlicher Ebene der Versuch, Kriege zu ächten. Binnen eines Jahres treten 54 Staaten dem Pakt bei. Über die Gräben der ehemaligen Kriegskonstellation hinweg versuchen gesellschaftliche Kräfte zum Beispiel in der Paneuropabewegung, an ein gesamteuropäisches Verantwortungsund Solidaritätsgefühl zu appellieren. Diese Elitenphänomene bleiben jedoch ohne Massenwirkung.
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57. Die Weltwirtschaftskrise, die im Herbst 1929 von den Vereinigten Staaten ausgeht, beeinflusst die ökonomische, politische und gesellschaftliche Lage in Europa massiv. Der Kapitalismus scheint endgültig gescheitert, der Markt als Ordnungsfaktor diskreditiert. Massenarbeitslosigkeit, sozialer Abstieg und Hunger werden erneut zu Grunderfahrungen der Europäer. In dieser scheinbar ausweglosen Situation gewinnen radikale Gegenentwürfe – von rechts und links – großen Zulauf. Der demokratischen Staatsform werden in weiten Kreisen der europäischen Gesellschaften Zukunftsfähigkeit und Problemlösungskompetenz abgesprochen. 58. Als schicksalhaft für den Kontinent erweist sich der Triumph der Nationalsozialisten unter Adolf Hitler im Deutschen Reich. Ihre Machtübernahme am 30. Januar 1933 ist eine wichtige Zäsur der europäischen Geschichte. Der Aufstieg der NSDAP von einer unbedeutenden Splitterpartei zur größten Fraktion im Deutschen Reichstag liegt in vielen Spezifika der deutschen Geschichte begründet, wobei die traumatische Niederlage im Ersten Weltkrieg, die massiven Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise sowie das Versagen der demokratischen Parteien als wesentliche Faktoren gelten. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt als deutscher Reichskanzler beginnt Hitler damit, die demokratische Staatsform zu eliminieren. Der Weg in die Diktatur des »Führerstaats«, in dem letztlich nur der Wille Adolf Hitlers zählt, wird in rasantem Tempo zurückgelegt. Die innere Konsolidierung des »Dritten Reichs« ist bereits im Sommer 1934 abgeschlossen. Schon früh offenbart sich zudem der radikale Judenhass der Nationalsozialisten, der in den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 seinen rechtlichen Niederschlag findet. 59. Ein Militärputsch, der im Juli 1936 vom Protektorat Spanisch-Marokko ausgeht, ist der Auftakt zu einem dreijährigen Bürgerkrieg in Spanien, der auf beiden Seiten mit äußerster Brutalität geführt wird. Die iberische Halbinsel wird zum Exerzierplatz der totalitären Diktaturen, während sich die demokratischen Großmächte – Frankreich und Großbritannien – für neutral erklären. Der Sieg Francisco Francos im Frühjahr 1939, der ohne deutsche und italienische Hilfe nicht zu Stande gekommen wäre, besiegelt die Zukunft Spaniens als rechtsgerichtete Diktatur, die erst in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre nach dem Tod Francos endet. 60. Im Windschatten der Weltpolitik gelingt es Hitler, das Deutsche Reich aufzurüsten. Hitler forciert immer wieder internationale Krisen; die
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Westmächte – allen voran Großbritannien – setzen auf eine Beschwichtigungspolitik, um das nationalsozialistische Deutschland in eine europaweite Friedensordnung einzubinden. Der Höhepunkt der Beschwichtigungspolitik ist auf der Konferenz von München Ende September 1938 erreicht, als die kriegsunwilligen Briten und Franzosen einen demokratischen Verbündeten dem Expansionsdrang Hitlers opfern. Die Zerlegung der Tschechoslowakei entlang ethnischer Siedlungsgebiete ist ein Triumph für die Instrumentalisierung der Minderheitenfrage durch Adolf Hitler, der allerdings das Münchener Abkommen als schwere Niederlage empfindet, da er sein übergeordnetes Ziel – einen großen Krieg – nicht erreicht. 61. Die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs gelingt Adolf Hitler erst, nachdem er sich mit dem sowjetischen Diktator und ideologischen Todfeind Josef Stalin im deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 arrangiert hat. Die beiden totalitären Diktaturen vereinbaren darüber hinaus in einem geheimen Zusatzprotokoll die Aufteilung ihrer Einflusssphären in Mittel- und Osteuropa. Die vierte Teilung Polens sowie die Expansion der UdSSR in westliche Richtung sind wichtige Bestimmungen des Zusatzprotokolls. 62. Am 1. September 1939 beginnt mit dem Angriff der Deutschen Wehrmacht auf Polen der Zweite Weltkrieg. Zwei Tage später erklären Großbritannien und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg. Die polnischen Streitkräfte werden binnen vier Wochen niedergeworfen. Abseits der Kampfhandlungen kommt es zu massiven Verbrechen gegen die polnische Zivilbevölkerung. Der deutsche Feldzug trägt bereits die Züge eines Vernichtungskrieges. Am 17. September 1939 greift die Rote Armee vereinbarungsgemäß Ostpolen an. Anfang Oktober 1939 erlischt der polnische Widerstand endgültig; das Land ist durch zwei totalitäre Diktaturen besetzt. 63. Während im Westen bis in das Frühjahr 1940 ein »Sitzkrieg« (»drôle de guerre«) geführt wird, geht die Sowjetunion aggressiv gegen ihre Nachbarstaaten vor. Im »Winterkrieg« 1939/40 behaupten sich die Finnen mit Geschick und unter hohem Blutzoll; gleichwohl müssen sie große Territorien an die UdSSR abtreten. Im Sommer 1940 werden die drei baltischen Staaten durch die Rote Armee besetzt und als Sowjetrepubliken der UdSSR einverleibt.
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64. Nach dem Sieg der Deutschen Wehrmacht über Frankreich im Mai und im Juni 1940 steht Adolf Hitler im Zenit seiner Macht. Lediglich Großbritannien unter seinem neuen Premierminister Winston Churchill setzt den Kampf gegen die nationalsozialistische Diktatur fort. 65. Bereits im Sommer 1940 laufen erste deutsche Planungen für den Rassenund Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion an, der am 22. Juni 1941 beginnt. Dieser Weltanschauungskrieg wird auf beiden Seiten mit größter Brutalität und Rücksichtslosigkeit geführt. Die deutsche Besatzungspolitik in Russland ist von Menschenverachtung geprägt. Hinter der deutschen Front kommt es von Beginn des Feldzugs an zu Massakern an der Zivilbevölkerung; vor allem Juden sind das Ziel systematischer Tötungen. 66. Kurz nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion schließt Großbritannien ein Hilfs- und Beistandsabkommen mit der UdSSR; erst der japanische Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 und die deutsche Kriegserklärung am 11. Dezember 1941 machen die USA zur Kriegspartei. 67. Die deutsche Besetzung von großen Teilen Europas ist für viele Menschen eine traumatisierende Erfahrung. In allen besetzten Gebieten erheben sich Widerstandsgruppen gegen die deutsche Fremdherrschaft, zugleich ist das Phänomen der Kollaboration ebenfalls in allen besetzten Staaten anzutreffen. 68. Der Völkermord an den europäischen Juden ist ein Kernziel der nationalsozialistischen Politik. Die Entrechtung, Verfolgung und anschließende Ermordung der Juden erfolgt in mehreren Etappen. Am Ende dieser fürchterlichen Entwicklung stehen die Konzentrations- und Vernichtungslager. Ingesamt ermorden die Nationalsozialisten rund sechs Millionen Juden.
Europa seit dem Zweiten Weltkrieg 69. Spätestens mit der äußeren Kriegswende durch die Schlacht um Stalingrad in Winter 1942/43 beginnen in den kriegführenden Staaten sowie bei den Exilregierungen die Planungen für die Zeit nach einem alliierten Sieg. London wird in diesen Jahren zu einem transnationalen Laboratorium für
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Ideen zur Gestaltung eines zukünftigen Europas. Allen Beteiligten stehen die Erfahrungen nach dem Ersten Weltkrieg klar vor Augen. Vollständige Besetzung des besiegten Feindes und Vernichtung des vermeintlich deutsch-preußischen Militarismus sind zwei überragende Ziele der alliierten Politik. Rasch stellt sich heraus, dass die Zielsetzungen der Hauptalliierten allerdings kaum in Übereinstimmung zu bringen sind: Während die Sowjetunion bei ihren territorialen Gewinnen der Jahre 1939 bis 1941 keine Abstriche machen will, setzen die Westalliierten auf das nationale Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Völker. Vor allem um das Schicksal Polens entbrennen heftige Kontroversen, bei denen sich Stalin in weiten Teilen durchsetzen kann. Polen wird – so beschließen die USA, Großbritannien und die Sowjetunion auf der großen Kriegskonferenz Anfang Februar 1945 in Jalta – nach Westen verschoben. Es gewinnt ehemals deutsche Territorien, während sich die Sowjetunion Ostpolen einverleibt. 70. Gleichzeitig einigen sich die »Großen Drei« in Jalta auf die Gründung der Vereinten Nationen: Die ständigen Mitglieder im Weltsicherheitsrat erhalten ein absolutes Vetorecht. Damit ist sichergestellt, dass die Weltorganisation nicht mit Mehrheitsbeschlüssen gegen die führenden Großmächte vorgehen kann. Bis zum Ende des Ost-West-Konflikts sind die UN ein Schauplatz der ideologischen Konfrontation zwischen den beiden Blöcken. 71. Die Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 1948 ist ein wichtiger Bezugspunkt für den Kampf gegen Unterdrückung und Rassismus. Sie bilden zudem das Fundament, auf dem das neue Europa aufgebaut werden soll. 72. Die Hauptlast des Kampfes gegen das nationalsozialistische Deutschland trägt die Rote Armee. Schon während der letzten Kriegsmonate stellt sich heraus, dass Stalin seine Truppen nutzt, um willfährige, kommunistische Machthaber in den Staaten Mittel- und Osteuropas zu installieren. Sein Ziel ist es, einen westlichen Satellitengürtel zu errichten. Aus dieser Perspektive gewinnt der Sieg über das nationalsozialistische Deutschland, der am 8. beziehungsweise 9. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht formal besiegelt wird, ein doppeltes Gesicht: Während im Westen, dort wo die Westalliierten mit ihren Truppen einziehen, zweifelsohne von einem Tag der Befreiung gesprochen werden kann, stellt sich die Lage in Mittel- und Osteuropa grundsätzlich anders
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dar: Auch hier wird der Sieg über Deutschland als Befreiung gewertet, doch vermischt mit der Furcht vor einer neuen Diktatur. 73. Mit dem Ende der Kampfhandlungen, die allein in Europa über 50 Millionen Tote gefordert haben, setzt auf dem europäischen Kontinent eine Massenmigration ein. Mit 12 bis 14 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen – vornehmlich aus den deutschen Ostgebieten – stellt Deutschland die größte Gruppe. Während der Konferenz von Potsdam im Juli und August 1945 einigen sich die Hauptsiegermächte nicht nur über die Bevölkerungsverschiebungen, sondern auch über die Zukunft Deutschlands, das in vier Besatzungszonen aufgeteilt wird. Schon während der Konferenz wird allerdings sichtbar, dass die widerstrebenden Auffassungen der westlichen Siegermächte und der UdSSR oftmals nur durch Formelkompromisse übertüncht werden können. 74. In den westlichen Gesellschaften kommt es unmittelbar nach Kriegsende zu einem Linksruck. Sichtbarstes Zeichen dieser Entwicklung ist die Abwahl des siegreichen Kriegspremiers Winston Churchill im Juli 1945; er wird noch auf der Potsdamer Konferenz durch seinen Nachfolger von der Labour Party, Clement Attlee, ersetzt. Trotz dieser Verschiebungen in der politischen Landschaft herrscht bei den europäischen Kolonialmächten kein Zweifel an dem Willen, die durch den Krieg oftmals zusammengebrochene Herrschaft über die abhängigen Gebiete in Afrika und Asien erneut zu errichten. Rasch kommt es zum Beispiel in NiederländischIndonesien oder in Französisch-Indochina zu bewaffneten Auseinandersetzungen, die sich zum Teil über die nächsten beiden Jahrzehnte hinziehen sollen. 75. Die ehemalige Reichshauptstadt Berlin und die österreichische Hauptstadt Wien sind in vier Zonen geteilt. Diese Metropolen symbolisieren die beginnende Teilung des Kontinents. Berlin bleibt einer der Brennpunkte der Supermächtekonfrontation. Gleichwohl entzündet sich der Kalte Krieg nicht im europäischen Zentrum, sondern an der Peripherie. Die amerikanische Außenpolitik unter Präsident Harry S. Truman schwenkt nach anfänglicher Zurückhaltung entschieden auf Konfrontation mit der Sowjetunion um. Die Eindämmung des sowjetischen Machtbereichs, welche letztlich auf der nuklearen Abschreckung beruht, bildet eine Konstante der amerikanischen Außenpolitik bis zum Ende des Ost-WestKonflikts.
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76. Während die Sowjetunion in ihrem Machtbereich Regierungen nach stalinistischem Zuschnitt installiert, setzen die Westmächte auf die Demokratisierung Westdeutschlands. Die Teilung der Machtbereiche verläuft direkt durch Deutschland und zerschneidet den Kontinent. Churchills Wort vom »Eisernen Vorhang« (5. März 1946) kennzeichnet die neue Situation. Kaum sechs Monate später plädiert Churchill in einer weiteren wegweisenden Rede (19. September 1946) für die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa. Allerdings ziehen diese Visionen zunächst noch keine konkreten Ergebnisse nach sich. 77. Gleichwohl werden in diesen Jahren zahlreiche Institutionen gegründet, die sich für die Europa-Idee einsetzen. Getragen werden diese Ansätze zunächst von christdemokratischen Politikern bürgerlicher Herkunft wie Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi, Jean Monnet, Robert Schuman und Paul-Henri Spaak. 78. Wichtiger für die unmittelbare Zukunft ist das amerikanische »European Recovery Program«, das ab Mitte 1947 den europäischen Staaten die Möglichkeit einer wirtschaftlichen Gesundung eröffnet. Gleichzeitig, und dies ist eine conditio sine qua non Washingtons, werden die Empfängerländer zur Kooperation genötigt. In rascher Folge entstehen supranationale Organisationen, welche die Aufbaumaßnahmen koordinieren. Demokratie und Marktwirtschaft sind Charakteristika dieser Periode im Westen. 79. Im Osten Europas stellt sich die Lage völlig anders dar: Unter Führung der UdSSR werden die Staaten zwischen Ostsee und Schwarzem Meer einer forcierten Stalinisierung unterzogen. Widerstand wird mit brutaler Gewalt gebrochen; die Bevölkerung wird durch Geheimpolizei und Willkür terrorisiert. Die Deportation in sowjetische Lager (GuLag) ist eine gemeinsame Erfahrung der mittel- und osteuropäischen Oppositionellen, die nicht mit dem eingeschlagenen Kurs übereinstimmen. Parallel dazu schreitet der Wiederaufbau in den Staaten des Ostblocks voran; die schlimmsten Kriegszerstörungen werden schrittweise überwunden. 80. Der sowjetische Druck von außen schweißt die Nationen im Westen zusammen. Im Brüsseler Vertrag vom 17. März 1948 finden sich fünf westeuropäische Demokratien zusammen, um sich gemeinsam gegen eine mögliche Aggression aus dem Osten zu verteidigen. Auf britische Anregung werden auch die Vereinigten Staaten und Kanada gebeten, sich
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dem Verteidigungsbündnis anzuschließen. Am 4. April 1949 wird in Washington der NATO-Vertrag unterzeichnet. Etliche europäische Staaten bleiben neutral. Die NATO bildet bis heute das Rückgrat der europäischen Sicherheit. 81. Schon drei Monate zuvor haben die Staaten der Westunion den Europarat (28. Januar 1949) gegründet, der die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts fördern soll. Der Europarat nimmt die im Mai 1949 neugegründete Bundesrepublik Deutschland bereits im August 1950 als assoziiertes Mitglied auf. Am 18. April 1951 entsteht die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Sie ist der Nukleus der europäischen Einigung und reduziert die traditionellen Rivalitäten zwischen Frankreich und Deutschland in Bezug auf die Schwerindustrie. In Westeuropa setzt nach dem Ausbruch des Koreakrieges im Juni 1950 ein enormes Wirtschaftswachstum ein, das mit spezifischen Ausprägungen bis in das Jahr 1973 anhält. Diese Boomphase führt nicht nur zu einer Stabilisierung der westeuropäischen Gesellschaften, sondern bringt für viele Europäer erstmals Annehmlichkeiten für die Gestaltung des täglichen Lebens. Massenkonsum wird zum Signum der westlichen Industriegesellschaften. 82. Gleichzeitig ermöglicht diese Wachstumsphase den Ausbau der staatlichen Sozialleistungen. Der Wohlfahrtsstaat wird im Laufe der Jahrzehnte zu einem Teil der europäischen Identität. Er ist eine spezifisch europäische Errungenschaft und hat seinen Ursprung in Skandinavien. Der explosionsartige Geburtenanstieg nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellt neue Anforderungen an die staatliche Infrastruktur. Der erforderliche Ausbau des Gesundheitswesens sowie der Bildungseinrichtungen verändert die westeuropäischen Gesellschaften. Jugendkultur wird zu einem gesellschaftlichen Phänomen; die Amerikanisierung der westeuropäischen Gesellschaften erfolgt in erster Linie durch die Jugendkultur. 83. Die bunte Vielfalt in Westeuropa steht in klarem Kontrast zu den Entwicklungen hinter dem »Eisernen Vorhang«. Bis zum Tod Stalins am 5. März 1953 hält der diktatorische Uniformitätsdruck mit unverminderter Intensität an. Während der Diadochenkämpfe um die Nachfolge des Diktators lockert sich der Zugriff der staatlichen Organe. Am 17. Juni 1953 zeigt die blutige Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR, dass die kommunistische Herrschaft im Ostblock letztlich auf den Bajonetten
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der Roten Armee ruht. Die Entstalinisierung, die vom neuen starken Mann im Kreml, Nikita S. Chruschtschow, seit Februar 1956 vorangetrieben wird, erschüttert den gesamten sowjetischen Herrschaftsbereich. Während die Krise in Polen eine politische Lösung findet, wird der ungarische Volksaufstand im November 1956 von der Roten Armee niedergewalzt; Tausende Ungarn sterben, Hunderttausende fliehen ins Exil. 84. Die Planwirtschaften in Mittel- und Osteuropa verzeichnen in den 1950er Jahren durchaus respektable Wachstumsraten. Die Versorgung der Bevölkerungen verbessert sich langsam. Gleichwohl fallen die Volkswirtschaften im Laufe der Jahre immer stärker hinter die Konkurrenz in Westeuropa zurück. Nur auf einem Gebiet ist die Technologie im Ostblock – allerdings vornehmlich in der UdSSR selbst – konkurrenzfähig und zum Teil führend: in der Waffentechnologie. Der Sputnik-Schock vom 4. Oktober 1957 erschüttert das westliche Selbstvertrauen und gibt dem triumphierenden Auftreten der sowjetischen Führung scheinbar ein Fundament in der Sache. 85. Nach dem Debakel Großbritanniens und Frankreichs in der Suez-Krise im Herbst 1956 verschärft sich die Entkolonialisierung nochmals. In den Kolonien setzen nationale Befreiungsbewegungen auf Waffengewalt, um die Fremdherrschaft durch den »weißen Mann« zu brechen. Nach der Unabhängigkeit orientieren sich viele neugegründete Staaten an der Sowjetunion und bevorzugen den kommunistischen Modernisierungspfad. Das weltpolitische Gewicht der europäischen Mächte schwindet immer mehr. 86. Eine Reaktion auf diesen Bedeutungsverlust ist der Zusammenschluss zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der am 25. März 1957 in Rom feierlich besiegelt wird. Die EWG ist organisatorisch und rechtlich die Vorläuferorganisation der heutigen Europäischen Union. Die Idee, die hinter der EWG steht: die Mitgliedstaaten sollen so stark verknüpft werden, dass sie untereinander strukturell kriegsunfähig werden. Und in der Tat verändert sich der Charakter der Politik unter den Mitgliedern: Trotz aller weiterhin fortbestehenden nationalen Empfindsamkeiten ist Krieg keine Option mehr. 87. Ein wichtiger Einschnitt in der Geschichte des Kalten Krieges in Europa ist der Mauerbau am 13. August 1961. Die Mauer wird zum Symbol der Teilung des Kontinents.
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88. Nach der Stabilisierung in Europa verlagert sich der Brennpunkt des Kalten Krieges in die Dritte Welt. Die Aussöhnung zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland – vorangetrieben von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer – ist eine wichtige Voraussetzung für die Vertiefung der europäischen Integration. Aus der institutionellen Integration ausgeschlossen bleiben zunächst die drei westlichen Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland. 89. Im Januar 1963 verhindert der französische Staatspräsident den Beitritt Großbritanniens zur EWG. Die Politik de Gaulles führt in den 1960er Jahren immer wieder zu schweren Krisen innerhalb der EWG. Gleichwohl gelingt es der Organisation, diese Krisen zu überwinden. Am 1. Juli 1967 vereinigen sich die drei europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Gemeinschaft (EG). Ein Jahr später tritt die Zollunion der EG in Kraft, welche die Binnenzölle für gewerbliche und industrielle Güter aufhebt. Die Anziehungskraft der EG steigt und steigert das britische Interesse an einem Beitritt, der am 1. Januar 1973 formell vollzogen wird. Gemeinsam mit Großbritannien unterzeichnen Dänemark, Irland und Norwegen die Beitrittsurkunde. In einer Volksabstimmung entscheiden sich die Norweger im September 1972 allerdings gegen einen Beitritt. 90. Das Jahr 1968 ist eine Zäsur in der Nachkriegsgeschichte Europas – in West und Ost. In den westlichen Gesellschaften begehren vor allem junge Menschen gegen das etablierte System auf. Der Aufruhr, der in Frankreich bis an den Rand eines Aufstandes führt, speist sich aus unterschiedlichen Quellen: Er ist unter anderem Generationskonflikt und Ausdruck des Kampfes gegen den amerikanischen Vietnamkrieg. Insgesamt vollzieht sich in diesem Zusammenhang eine Renaissance neo-marxistischen Gedankengutes. 91. Die gewaltsame Niederschlagung des Prager Frühlings durch Warschauer Pakt-Truppen im August 1968 ist ein Fanal für die weitere Entwicklung innerhalb des Ostblocks. Vor allem bei den Intellektuellen setzt ein Desillusionierungsprozess ein; der Kommunismus sowjetischer Prägung scheint unreformierbar und ideologisch erstarrt. Die Verkündung der Breschnew-Doktrin zementiert den unumschränkten Herrschaftsanspruch der UdSSR. 92. Ende der 1960er Jahre beginnt eine Ära, die durch herausragende Sozialdemokraten geprägt ist. Willy Brandt in der Bundesrepublik
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Deutschland, Bruno Kreisky in Österreich und Olof Palme in Schweden stehen für eine Liberalisierung in der Innenpolitik und für eine Entspannungspolitik mit der Sowjetunion. Vor allem der deutsche Bundeskanzler Brandt setzt mit seiner »Neuen Ostpolitik« internationale Zeichen. Sein symbolischer Kniefall im Dezember 1970 vor dem Denkmal für den Aufstand im jüdischen Ghetto in Warschau wird zu einer Ikone der Zeit. Diese Entspannungsbemühungen, die ihren Höhepunkt in der Unterzeichnung der Schlussakte der KSZE in Helsinki am 1. August 1975 finden, verändern den Kontinent. Die Sowjetunion wird von vielen Zeitgenossen nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen; für viele Staatsmänner im Westen sind die Dissidenten, die sich für Freiheit und Menschenrechte in Osteuropa einsetzen, eher Störfaktoren der Entspannungspolitik. 93. Auf gesellschaftlicher Ebene setzt sich in den 1970er Jahren ein neues Lebensgefühl durch, das auch mit wachsendem Wohlstand und flächendeckender Motorisierung einhergeht. Der im Jahrzehnt zuvor begonnene Wertewandel erfasst nun große Teile der westeuropäischen Gesellschaften. Individualisierung und Selbstverwirklichung werden zu wichtigen Orientierungsmarken. Größere sexuelle Freizügigkeit wird zum Signum der Zeit. Lange Haare und kurze Röcke bestimmen das Straßenbild der europäischen Metropolen. Diese neuen Moden und Lebensweisen werden auch jenseits des »Eisernen Vorhangs« rezipiert. 94. Gleichzeitig endet 1973 mit der so genannten Ölkrise die lange Boomphase der Industriestaaten. Die 1970er Jahre sind in Westeuropa von einer schweren Wirtschaftskrise gekennzeichnet (Stagflation), die mit dem Niedergang traditioneller Industrien einhergeht. Bergbau und Schwerindustrie werden zu strukturellen Verlierern. Ganze Regionen – zum Beispiel Nordengland, das Ruhrgebiet oder Lothringen – werden zu sozialen Brennpunkten mit hoher Arbeitslosigkeit. Andere Regionen profitieren von der Verlagerung auf den tertiären Sektor und die Mikroelektronik. Die moderne Dienstleistungsgesellschaft entwickelt sich mit großer Dynamik. 95. Gleichzeitig führt eine Reihe von Faktoren – darunter die Berichte des Club of Rome – zum Umdenken in Fragen des Wirtschaftswachstums und der ökologischen Folgen des Raubbaus an der Natur. In vielen westeuropäischen Staaten entstehen Bürgerinitiativen, die sich für eine saubere Umwelt und eine bessere Welt einsetzen. In einigen Ländern kommt
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es zu großen gesellschaftlichen Umbrüchen. »Grüne« Parteien entstehen zumeist aus Bürgerinitiativen und linken Basisgruppen. 96. Sowohl die strukturellen Verschiebungen in den westeuropäischen Volkswirtschaften als auch die Hinwendung zur Ökologie gehen an den Staaten im sowjetischen Herrschaftsbereich vollständig vorbei. In den 1970er Jahren verlieren die Staaten hinter dem »Eisernen Vorhang« endgültig den technologischen Anschluss an den Westen. Auf dem Feld der Computertechnologie beschleunigt sich die Entwicklung im Westen rasant. 97. Doch diese Entwicklungen sind Mitte der 1970er Jahre noch nicht klar absehbar. Im Gegenteil: In Italien und in der Bundesrepublik Deutschland wird der Staat fundamental durch linksradikale Terroristen herausgefordert. Der Kampf gegen den Terrorismus mit rechtsstaatlichen Methoden ist eine große Herausforderung, welche die politischen Systeme schwer belastet. 98. Im Süden Europas kommt es Mitte der 1970er Jahre zu demokratischen Transformationsprozessen. In Griechenland bricht 1974 das ObristenRegime zusammen, im gleichen Jahr endet auch die portugiesische Diktatur. Ebenso wie in Spanien ein Jahr später werden die Diktaturen durch parlamentarische Demokratien abgelöst. Die »Nelkenrevolution« in Portugal 1974 beendet zudem die Kriege in Afrika; Portugal entlässt als letzter Staat Europas seine Kolonien Angola und Mosambik in die Unabhängigkeit. Nach dem Tod des Diktators Franco am 20. November 1975 ist der friedliche Übergang von der Diktatur zur Demokratie in Spanien ein vielfach beachtetes Phänomen und strahlt auf die Ereignisse in den Ostblockstaaten Ende der 1980er Jahre aus. 99. Diese Demokratisierungsprozesse machen perspektivisch den Weg frei für den EG-Beitritt der beiden südeuropäischen Staaten, der zum 1. Januar 1986 erfolgt. Bereits am 1. Januar 1981 ist Griechenland der EG beigetreten. 100. 1979 wird erstmals das Europäische Parlament gewählt, das sich im Juli 1979 konstituiert. Die zunächst noch recht begrenzten Rechte des Parlamentes werden schrittweise erweitert. 101. In der Weltpolitik kühlen sich die Beziehungen zwischen West und Ost massiv ab. Die Auseinandersetzungen um die NATO-Nachrüstung,
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die als Reaktion auf die Stationierung sowjetischer SS-20 Raketen am 12. Dezember 1979 beschlossen wird, sowie der sowjetische Einmarsch in Afghanistan Weihnachten 1979 führen zu neuen Spannungen. Vor diesem Hintergrund führen Versorgungsschwierigkeiten in Polen zu einer Streikwelle. Unter Leitung von Lech Wałęsa wird mit der unabhängigen Gewerkschaft »Solidarność« erstmals im Ostblock dem Führungsanspruch der kommunistischen Partei offen widersprochen. Der mutige Anlauf in Danzig wird auf spiritueller Ebene unterstützt vom polnischen Papst Johannes Paul II., der seit 1978 im Amt ist. Die Lage in Polen verschärft sich. Als einzigen Ausweg sieht die neue Staats- und Parteiführung die Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981. 102. Die bewusste Forcierung der ideologischen Konfrontation durch den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan stößt in der UdSSR auf großes Misstrauen und auf heftige Gegenwehr. Gleichzeitig stellt das neue amerikanische Selbstvertrauen auch die NATO vor eine Zerreißprobe. Die Stationierung der Mittelstreckenwaffen der NATO im Jahre 1983 führt zu einer bis dahin ungekannten gesellschaftlichen Mobilisierung. 103. Gleichzeitig ist erkennbar, dass die UdSSR in der Spätphase der BreschnewÄra in eine Periode der Erstarrung gerät, die auch unter seinen beiden Nachfolgern nicht aufgebrochen werden kann. Erst die Amtsübernahme von Michail Gorbatschow im März 1985 eröffnet neue Möglichkeiten. Glasnost und Perestroika werden zu neuen Zielen der sowjetischen Politik. Die gesellschaftlichen Umgestaltungen finden vor allem in den nichtrussischen Teilen der Sowjetunion Resonanz. Auch in den Staaten des Ostblocks verändern sich die Beziehungen zwischen den kommunistischen Parteien und den jeweiligen Völkern. Insgesamt ist ein Erosionsprozess des kommunistischen Herrschaftswillens zu erkennen. Gleichzeitig gelingt es nicht, den wirtschaftlichen Niedergang im sowjetischen Machtbereich zu beenden. Die Planwirtschaften sind den komplexen Herausforderungen eines modernen Wirtschaftslebens immer weniger gewachsen. Die Havarie im Kernreaktor Tschernobyl am 26. April 1986 fordert nicht nur zahlreiche Opfer, sondern ist zudem ein Fanal für die Rückständigkeit der sowjetischen Technologie. 104. Im Westen stehen die 1980er Jahre im klaren Gegensatz zu den Entwicklungen im Ostblock. Trotz mancher Anpassungsschwierigkeiten entwickeln sich der Dienstleistungssektor und die Mikroelektronik zu
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Garanten für eine neue Aufschwungphase. Der Siegeszug des Personal Computers beginnt. Mitte der 1980er Jahre vereinbaren die Mitgliedstaaten der EG den weiteren Ausbau der gemeinsamen Institutionen. Die Grundlagen für die spätere Europäische Union werden in diesen Jahren gelegt. 105. Das Jahr 1989 wird zu einem Epochenjahr der europäischen Geschichte. Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 ist ein weltpolitisches Ereignis und ein Fanal für die Zukunft. Die Herrschaft der UdSSR sowie der kommunistischen Parteien in den Ländern geht – mit der Ausnahme von Rumänien – gewaltlos zu Ende. Dieser Prozess – die »Refolution« – verändert den Kontinent nachhaltig. Friedliche Volksbewegungen erzwingen mit ihren Demonstrationen die Abdankung der kommunistischen Herrscher. Anders als in den 1950er und 1960er Jahren interveniert die UdSSR nicht. Der Übergang zu demokratischen Verhältnissen wird in den meisten Staaten des Ostblocks durch Verhandlungen erreicht. Die neuen Staaten kehren in das Fahrwasser ihrer Nationalgeschichten zurück. 106. Anders ist es im Sonderfall DDR. Am 3. Oktober 1990 erfolgt die Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik Deutschland, die in erster Linie mit der Rückendeckung von US-Präsident George H. W. Bush durch Bundeskanzler Helmut Kohl vorangetrieben wird. Die Ausstrahlungswirkung des Nationalen wirkt auch auf die Sowjetunion selbst, die zu zerfallen beginnt. Ehemalige Nationalstaaten wie Estland, Lettland und Litauen erstehen neu und knüpfen an ihre lange Geschichte an. Am 25. Dezember 1991 wird die Rote Fahne zum letzten Mal über dem Kreml eingeholt. Das territorial deutlich reduzierte Russland wird Rechtsnachfolger der Sowjetunion. Zwischen 1990 und 1993 treten acht mittel- und osteuropäische Staaten dem Europarat bei. 107. Die Renaissance des Nationalstaates führt in einigen Teilen der westeuropäischen Öffentlichkeit zur Verwirrung. Die Zielperspektive der Entwicklung der Europäischen Union, die mit dem Vertrag von Maastricht im Februar 1992 besiegelt wird, gerät in die Diskussion. Bald ist klar, dass ein europäischer Bundesstaat unter den veränderten Bedingungen nicht im Bereich des politisch Erreichbaren liegt. Zugleich markieren der Maastrichter Vertrag und insbesondere der Amsterdamer Vertrag mit der Einführung beziehungsweise Ausweitung der Mitentscheidung für das Europäische Parlament in der europäischen Gesetzgebung ein Schritt hin zur Parlamentarisierung in der Europäischen Union.
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108. Gleichzeitig brechen nach dem Ende des Kalten Krieges neuerlich Konflikte auf, die in ihrem Kern auf nationale Minderheiten zurückgehen. Dass dies nicht nur ein Problem in Mittel- und Osteuropa ist, belegen die Dauerkonflikte zum Beispiel um Nordirland, um das spanische Baskenland oder auf Korsika. Die ehemalige Tschechoslowakei spaltet sich zum 1. Januar 1993 friedlich in zwei Staaten; die beiden Nachfolgestaaten bilden eine Zollunion. Der Zerfall Jugoslawiens hingegen bringt nicht nur Krieg auf dem europäischen Kontinent, sondern auch hunderttausendfaches menschliches Leid. In den Kriegen spielt das institutionelle Europa eine blamable Rolle. Organisatorische Selbstblockaden und militärisches Unvermögen tragen zur Verlängerung von kriegerischen Auseinandersetzungen bei. Erst die Übernahme der Führungsrolle durch die Vereinigten Staaten von Amerika kann der ersten Phase der Kämpfe ein Ende setzen (Abkommen von Dayton am 14. Dezember 1995). Bis zum heutigen Tag stehen europäische Truppen im ehemaligen Jugoslawien, um die Waffenruhe zu kontrollieren. 109. Die Erweiterung der EU beschleunigt sich. Am 1. Januar 1995 treten Finnland, Österreich und Schweden bei. Im Dezember 1997 wird die Osterweiterung der EU vorangetrieben und rechtlich formalisiert. Gleichzeitig werden weitreichende Veränderungen vorgenommen: Das Zweite Abkommen von Schengen am 26. März 1995 beschließt den Wegfall von Personenkontrollen an den EU-Binnengrenzen. Die Einführung des EURO als Zahlungsmittel in ausgewählten Staaten der EU zum 1. Januar 2002 verstärkt die Vernetzung der nationalen Volkswirtschaften. Gleichzeitig ist erkennbar, dass in vielen EURO-Ländern – vor allem in der Bundesrepublik Deutschland – die Wertschätzung der nationalen Währungen noch immer tief verwurzelt ist. 110. Die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA sind der Beginn eines neuen weltpolitischen Kapitels. Die terroristische Bedrohung durch den militanten Islamismus erfasst auch Europa. Die Anschläge in Madrid (11. März 2004) und London (7. Juli 2005) zeigen, dass auch Europa im Visier islamistischer Terrororganisationen steht. Der Krieg gegen den Irak unter US-Präsident George W. Bush entzweit den Kontinent. Während zum Beispiel Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland eine aktive Teilnahme ablehnen, entsenden Großbritannien und Spanien sowie Staaten aus Ostmitteleuropa Truppenkontingente.
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111. Am 1. Mai 2004 kommt es zum größten Beitrittsschub in der Geschichte der EU. Mit zehn neuen Mitgliedern – Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowenien, Slowakei, Tschechische Republik, Ungarn und Zypern – erhöht die EU ihre Mitgliedszahl auf 25. Die Spaltung des Kontinents ist endgültig überwunden. Die Beitrittsländer gehören zu den NettoEmpfängerländern und profitieren in vielfältiger Weise von der EU. 112. Am 1. Januar 2007 treten dann noch Bulgarien und Rumänien bei. Gegen die große Osterweiterung regt sich in den »alten« EU-Staaten vielfach Widerstand. Kritiker befürchten zum einen eine Renationalisierung der europäischen Politik und zum anderen eine Verwässerung des Standes der Integration. Gleichzeitig trägt die Beitrittsperspektive zur Stabilisierung der schwierigen und mit Härten verbundenen Transformationsprozesse in den jeweiligen Staaten bei.
Fragen an die europäische Zukunft 113. Die Zukunft der Europäischen Union ist offen. Weder ist die Zielperspektive klar noch herrscht Einigkeit über die Grenzen der EU. Der abschließende Abschnitt der Ausstellung sollte lediglich Fragen formulieren, damit den Besuchern die Offenheit der Lage klar wird. Zugleich ermöglicht diese Herangehensweise, auch kurzfristig auf neue Entwicklungen zu reagieren. 114. Mögliche Fragen an die Besucher: • Ist eine weitere Vertiefung der EU möglich? Wie soll auf die Abstimmungsniederlagen der EU-Verfassung reagiert werden? Ist der Vertrag von Lissabon ein tragfähiger Kompromiss? • Wann wird die Erweiterung der EU beendet sein? Kann die Türkei Vollmitglied der EU werden? • Wie kann das Demokratiedefizit der EU überwunden werden? • Warum kann die EU keine wirkliche Begeisterung unter den Bevölkerungen in den Mitgliedstaaten hervorrufen? • Wie kann die EU die strukturelle Schwäche in militärischen Fragen, in der Außenpolitik generell überwinden?
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• Wie kann die EU auf den alle Mitgliedstaaten erfassenden demographischen Wandel reagieren? Ist verstärkte Immigration ein probates Mittel? • Sind die unterschiedlichen Traditionen zur Ausgestaltung des europäischen Sozialmodells zu harmonisieren? • Wie sieht die Zukunft der EU aus: Entwickelt sie sich zur Föderation, zum Staatenbund oder zum Bundesstaat?
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Ausblick
115. Der Sachverständigenausschuss übergibt diese konzeptionellen Grundlagen für ein Haus der Europäischen Geschichte dem Präsidenten des Europäischen Parlaments. 116. Nach der Diskussion in den zuständigen Gremien und der Herbeiführung der erforderlichen politischen Grundsatzbeschlüsse ist es unerlässlich, einen qualifizierten Aufbaustab einzusetzen. Ihm obliegt die Realisierung der zu beschließenden institutionellen und inhaltlichen Grundlagen. Der Sachverständigenausschuss empfiehlt, durch politische Grundsatzbeschlüsse, die entsprechenden Aufsichts- und wissenschaftlichen Begleitgremien für das Haus der Europäischen Geschichte zu bilden.
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Die Mitglieder des Sachverständigenausschusses
Włodzimierz Borodziej (PL), Professor für Moderne Geschichte, Universität Warschau Giorgio Cracco (IT), Professor für Kirchengeschichte, Universität Turin Michel Dumoulin (BE), Professor für Geschichte, Katholische Universität Löwen in Louvain-la-Neuve Hans Walter Hütter (DE), Professor, Präsident der Stiftung »Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland«, Bonn Marie-Hélène Joly (FR), Generalkonservatorin, stellvertretende Direktorin der Direktion für Geschichte, Kulturerbe und Archive, Französisches Verteidigungsministerium Matti Klinge (FI), Emeritierter Professor für nordische Geschichte, Universität Helsinki Ronald de Leeuw (NL), Professor, ehemaliger Direktor des Rijksmuseum Amsterdam António Reis (PT), Professor für Geschichte, Neue Universität Lissabon Mária Schmidt (HU), Direktorin des Museums »Haus des Terrors« in Budapest
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Die Autoren
Franziska Augstein Geboren 1964 in Hamburg, Dr. phil.; deutsche Journalistin; Studium der Geschichte, Politik und Philosophie an der Freien Universität Berlin, der Universität Bielefeld und an der University of Sussex in Brighton; 1996 Promotion am University College London (UCL) über die Entstehung der Rassentheorie anhand der Schriften des Anthropologen und Arztes James Cowles Prichard; 1987–1989 Redakteurin beim Magazin der Wochenzeitung Die Zeit, ab 1997 Redakteurin im Feuilleton-Ressort und bis 2001 Kulturkorrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Berlin; seit 2001 für das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung tätig und seit 2010 Redaktionsleitung der Rubrik »Das politische Buch«; im Jahr 2000 Auszeichnung mit dem Journalistenpreis der deutschen Zeitungen (Theodor-Wolff-Preis) in der Kategorie »Essayistischer Journalismus«. Zahlreiche Artikel zu geschichtspolitischen und erinnerungskulturellen Themen. Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: Als alle Sozialisten waren. Das kapitalistische Wirtschaftssystem setzte sich erst 1949 durch, in: Heribert Prantl/ Robert Probst (Hg.): Einigkeit und Recht und Wohlstand. Wie Deutschland wurde, was es ist. 60 Jahre Bundesrepublik (= Süddeutsche Zeitung edition), München 2009, S. 57–61; Kapitalismus und Demokratie: Die soziale Marktwirtschaft – erlebt, aber nicht verstanden, in: Hildegard Hamm-Brücher/ Norbert Schreiber (Hg.): Demokratie, das sind wir alle: Zeitzeugen berichten, München 2009, S. 126–141; Von Treue und Verrat. Jorge Semprún und sein Jahrhundert, München 2008; Von der Waffe der Kritik zur Kritik mit der Waffe. Wie Jorge Semprún zum Kommunisten wurde, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 8/2008, S. 101–115; Gusseisernes Gedenken. Denkmalpolitik, in: Süddeutsche Zeitung vom 27. Mai 2008. Walther L. Bernecker Geboren 1947 in Dollnstein, Prof. Dr. phil.; Studium der Geschichte, Germanistik und Hispanistik an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg; 1973–1977 und 1979–1984 Wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. Akademischer Rat am Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Universität Augsburg, 1984/85 Visiting Fellow an der University of Chicago, 1986 Habilitation
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Die Autoren
mit einer Arbeit über europäisch-mexikanische Wirtschaftsbeziehungen, 1988–1992 Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der Universität Bern, seit 1992 Lehrstuhl für Auslandswissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg; verschiedene Gastprofessuren; 2002/2003 Sonderlehrstuhl Wilhelm und Alexander von Humboldt in Mexiko-Stadt. Herausgeber u. a. der Zeitschrift »Iberoamericana« sowie der Reihen »Hispano-Americana« und »Lateinamerika-Studien«; Vorsitzender des Deutschen Spanischlehrerverbandes. Forschungsschwerpunkte: Spanische, portugiesische und lateinamerikanische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; europäisch-lateinamerikanische Beziehungen; Spanischer Bürgerkrieg, Franquismus, Spaniens Übergang von der Diktatur zur Demokratie. Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936–2010 (zusammen mit Sören Brinkmann), 5. Auflage, Nettersheim 2011; Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, München 2010; Spaniens Geschichte seit dem Bürgerkrieg, 4. Auflage, München 2010; Spanische Geschichte: Vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 5., erweiterte und aktualisierte Auflage, Müchen 2010; (Hg.): Spanien heute: Politik – Wirtschaft – Kultur, 5., vollst. neu bearb. Auflage, Frankfurt am Main 2008. Włodzimierz Borodziej Geboren 1956 in Warschau, Prof. Dr. phil.; Studium der Germanistik und Geschichte an der Universität Warschau; 1991 Habilitation; 1991 bis 1994 Mitarbeiter in der Kanzlei des Polnischen Sejm, zuletzt als Generaldirektor; seit 1996 Professor für Zeitgeschichte an der Universität Warschau und 1999 bis 2002 deren Vizepräsident; Gastprofessuren unter anderem an der PhilippsUniversität Marburg und der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 1997–2007 polnischer Co-Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission; 2006–2010 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften sowie Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates für das »Haus der Europäischen Geschichte« in Brüssel; seit Oktober 2010 zusammen mit Joachim von Puttkamer Direktor des Imre-Kertész-Kollegs »Europas Osten im 20. Jahrhundert« an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: aktuelle Fragen der Vergangenheitspolitik; polnische Zeitgeschichte, deutsch-polnische Geschichte des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart; Widerstand im Zweiten Weltkrieg; Internationale Beziehungen im 20. Jahrhundert.
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Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: Als der Osten noch Heimat war: Was vor der Vertreibung geschah: Pommern, Schlesien, Westpreußen (mit Gerald Endres und Ulla Lachauer), Reinbek bei Hamburg 2011; Geschichte Polens im 20. Jahrhundert (= Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert), München 2010; (Mithg.): »Schleichwege«. Inoffizielle Begegnungen sozialistischer Staatsbürger zwischen 1956 und 1989 (mit Jerzy Kochanowski und Joachim von Puttkamer), Köln/Weimar/Wien 2010; (Mithg.): Option Europa. Deutsche, polnische und ungarische Europapläne des 19. und 20. Jahrhunderts (mit Heinz Duchhardt, Malgorzata Morawiec und Ignac Romsics), Göttingen 2005. Zsuzsa Breier Geboren 1963 in Budapest, Dr. phil.; Studium der Literaturwissenschaft, Germanistik, Slawistik und Ästhetik in Budapest und Heidelberg; 1991 Promotion (Literaturwissenschaft); 1992–2005 Dozentin für Neuere Deutsche Literatur an der Eötvös-Lóránd-Universität Budapest und 1996–1998 an der Katholischen Pázmány-Péter-Universität in Piliscsaba (Ungarn); 1997 PhD (Philologie); 1999–2000 Persönliche Referentin des Staatssekretärs im ungarischen Kulturministerium; 2000–2004 Leiterin der Kulturabteilung der Botschaft der Republik Ungarn in Berlin und Diplomatin in der Politischen Abteilung; seit 2004 Mitglied des Europäischen Kulturparlaments (ECP); 2004–2005 Gründerin des »Kulturjahr der Zehn«, des gemeinsamen Kulturfestivals der zehn neuen EU-Länder; 2008–2010 Lehrbeauftragte im Fachbereich Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin; 2003 Gründerin, seit 2006 Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Gesellschaft zur Förderung der Kultur im erweiterten Europa e. V. in Berlin (seit 2011 DIALOG.KULTUR.EUROPA. e. V.). Arbeitsschwerpunkte: europäische Integration und Kultur in Europa. Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: (Mithg.): Freiheit, ach Freiheit … Vereintes Europa – geteiltes Gedächtnis (mit Adolf Muschg), Göttingen 2011 (im Erscheinen); Ungarn bleibt demokratisch, in: Handelsblatt vom 4. Januar 2011; Fremdenfeindlich? Ungarn ist besser als sein Ruf (Essay), in: Die Welt vom 17. August 2010; Wie lange bleibt das europäische Haus noch ein schiefes Gebäude?, in: Ingrid Cáceres Würsig/Paloma Ortiz-de-Urbina Sobrino (Hg.): Die deutsche Wiedervereinigung: Film und Kultur – La reunificación alemana: cine y cultura, Madrid 2010, S. 129–139; Trügerisches Rot, in: Die Welt vom 20. März 2009; (Mithg.): Der Europa-Almanach (mit Hermann Rudolph), Berlin 2005.
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Eckart Conze Geboren 1963 in Coburg, Prof. Dr. phil.; Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und des Öffentlichen Rechts an den Universitäten Erlangen, Bonn und Köln sowie an der London School of Economics (LSE); 1993 Promotion, danach Wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Zeitgeschichte der Universität Tübingen; 1999 Habilitation; seit 2003 Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Seminar für Neuere Geschichte der PhilippsUniversität Marburg, 2009/10 dort Dekan des Fachbereichs »Geschichte und Kulturwissenschaften«; Gastprofessuren an den Universitäten Toronto, Bologna und Cambridge; Sprecher der Unabhängigen Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Auswärtigen Amtes in der Zeit des Nationalsozialismus und in der frühen Bundesrepublik (2005–2010) und Direktor des Internationalen Forschungs- und Dokumentationszentrums Kriegsverbrecherprozesse in Marburg. Forschungsschwerpunkte: Deutsche, europäische und internationale Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Adels- und Elitengeschichte, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik (mit Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann), München 2010; (Mithg.): The Genocide Convention. Legal and Historical Reflections 60 Years after its Adoption (mit Christoph Safferling), Cambridge 2010; (Mithg.): Bürgertum und Bürgerlichkeit in Deutschland nach 1945 (mit Gunilla Budde und Cornelia Rauh), Göttingen 2010; (Mithg.): Die demokratische Revolution 1989 in der DDR (mit Katharina Gajdukowa und Sigrid Koch-Baumgarten), Köln/ Weimar/Wien 2009; Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis zur Gegenwart, München 2009. Etienne François Geboren 1943 in Rouen (Frankreich), Prof. Dr. phil.; Studium der Geschichtswissenschaft, Geographie, französischen Literaturwissenschaft, Altphilologie und Philosophie an den Universitäten Nancy und Paris (Sorbonne); Habilitation 1986 (Universität Straßburg); 1986–1989 Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Nancy-II; 1989–2003 Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Sorbonne (Universität Paris-I); 1991/1992 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin; 1992–1999 Gründungsdirektor des Centre Marc Bloch in Berlin; 1999–2006 Professor für Geschichte am FrankreichZentrum der Technischen Universität Berlin; 2006–2008 Professor für Geschichte an der Freien Universität Berlin; seit 2001 Ordentliches Mitglied der
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Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: deutsche Geschichte (Sozialgeschichte, Politikgeschichte, Kulturgeschichte, Religionsgeschichte) vom 16. bis zum 21. Jahrhundert; Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen; Europäische Geschichte (seit dem Spätmittelalter); Geschichte der deutschen und europäischen Erinnerungskulturen. Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: (Mithg.): Erinnerungstage. Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart (mit Uwe Puschner), München 2010; Is a European Culture of Memory Conceivable?, in: Oliver Rathkolb (Hg.): How to (Re)Write European History, History and Text Book Projects in Retrospect, Innsbruck/Wien/Bozen 2010, S. 49–64; The Change in French cultures of remembrance, in: Winfried Eberhard/Christian Lübke (Hg.): The Plurality of Europe. Identities and Spaces, Contributions made at an international conference Leipzig, 6–9 June 2007, Leipzig 2010, S. 269–274; (Mithg.): Deutsche Erinnerungsorte (mit Hagen Schulze), 3 Bände (Taschenbuchausgabe), München 2009; (Mithg.): Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion: Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2007; Ist eine gesamteuropäische Erinnerungskultur vorstellbar? Eine Einleitung, in: Bernd Hennigsen/Hendriette KliemannGeisinger/Stefan Troebst (Hg.): Transnationale Erinnerungsorte: Nord- und südeuropäische Perspektiven, Berlin 2009, S. 13–30. Günther Heydemann Geboren 1950 in Burghausen/Oberbayern, Prof. Dr. phil.; Studium der Geschichte, Germanistik, Sozialkunde und des Italienischen an den Universitäten in Erlangen-Nürnberg, Pisa, Bonn und Florenz; 1979 Promotion; 1980–1982 Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte der Universität Erlangen-Nürnberg; 1982–1985 Akademischer Rat an der Universität Bayreuth am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte; 1985–1992 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut London; 1991 Habilitation (Universität Bayreuth); 1991–1993 Lehrstuhlvertretungen in München und Bonn; seit 1993 Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte an der Universität Leipzig; zugleich seit 2009 Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden; Mitglied zahlreicher Wissenschaftsbeiräte, u. a. des Fachbeirats der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, des Deutschen Historischen Museums und des Instituts für Zeitgeschichte. Forschungsschwerpunkte: DDR- und vergleichende Deutschlandforschung; vergleichende Diktaturforschung; vergleichende europäische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert.
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Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: (Mithg.): Streitkräfte im Nachkriegsdeutschland (mit Hans-Jörg Bücking), Berlin 2011; (Mithg.): Konsens, Krise und Konflikt. Die deutsch-amerikanischen Beziehungen im Zeichen von Terror und Irak-Krieg. Eine Dokumentation 2001–2008 (mit Jan Gülzau), Bonn 2010; (Mithg.): Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Bd. 3: Das zwanzigste Jahrhundert 1909–2009 (mit Ulrich von Hehl, Klaus Fitschen und Fritz König), darin: Sozialistische Transformation. Die Universität Leipzig vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Mauerbau. 1945–1961, Leipzig 2010, S. 335–565; (Mithg.): »Zuerst wurde der Parteisekretär begrüßt, dann der Rektor …« Zeitzeugenberichte von Angehörigen der Universität Leipzig (1945–1990) (mit Francesca Weil), Leipzig 2009; (Mithg.): Diktaturen in Deutschland – Vergleichsaspekte (mit Heinrich Oberreuter), Bonn 2003. Volkhard Knigge Geboren 1954 in Bielefeld, Prof. Dr. phil.; Studium der Geschichte, Germanistik und Erziehungswissenschaften in Oldenburg und Paris; 1986 geschichtsdidaktisch-psychoanalytische Promotion, danach wissenschaftlicher Mitarbeiter unter anderem am Kulturwissenschaftlichen Institut des Wissenschaftszentrums NRW; 1992–1994 Assistent am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena; seit 1994 Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora (umfassende Neukonzeption der beiden Gedenkstätten); 2002 Honorarprofessor für »Geschichte und Öffentlichkeit« an der Universität Jena, seit 2007 dort ordentlicher Professor für »Geschichte in Medien und Öffentlichkeit«. Mitglied in zahlreichen Fachgremien und Expertenkommissionen, darunter seit 2000 beim Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien für die Umsetzung der Gedenkstättenförderkonzeption des Bundes. Kurator zahlreicher historischer und künstlerischer Ausstellungen. Forschungsschwerpunkte: Erinnerungskultur, Geschichtskultur, Geschichtsdidaktik, Kunst und Gedenkstätten. Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: (Mithg.): Zwangsarbeit. Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg, Weimar 2010; (Mithg.): »… mitten im deutschen Volke«. Buchenwald, Weimar und die nationalsozialistische Volksgemeinschaft, Göttingen 2008; (Mithg.): Der Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa, Köln/Weimar/Wien 2005; (Mithg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002 ff.
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Gilbert Merlio Geboren 1934 in Douai (Frankreich), Prof. Dr. phil.; Studium der Geschichte und Germanistik in Lille, Paris und Saarbrücken; emeritierter Professor der Universität Paris-Sorbonne (Paris VI), Gründungsmitglied der Groupe de recherche sur la culture de Weimar am Pariser Maison des Sciences de l’Homme; 1980 Habilitation, 1966–1993 Dozent und später Professor für Germanistik an der Universität Bordeaux; verschiedene Gastprofessuren in Deutschland; 1993–2003 Professor für deutsche Ideengeschichte an der Universität ParisSorbonne; Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der Stiftung Ettersberg sowie langjähriges Mitglied und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates des Hannah-Arendt-Instituts in Dresden. Forschungsschwerpunkte: Kulturkritik, Oswald Spengler, Friedrich Nietzsche, Konservatismusforschung, Geschichte der Intellektuellen in Frankreich und Deutschland; politische Kultur Deutschlands, politische Ideengeschichte in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert; Forschungen zu Diktatur und Widerstand im 20. Jahrhundert. Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: Der deutsche Widerstand gegen Hitler [Online-Publikation 2010], in: La clé des langues (ens Lyon/dgesco), im Internet unter: URL: http://cle.ens-lyon.fr/1270039567691/0/fiche___article [01.07.2011]; L’historiographie de la résistance allemande en RDA, in: Revue d’Allemagne et des Pays de langue allemande, 42. Jg., Heft 4/2010, S. 391–407; 9. November: ein schwieriger Gedenktag, in: Etienne François/Uwe Puschner (Hg.): Erinnerungstage. Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 2010, S. 197–215; Frankreich, in: Günter Buchstab/ Rudolf Uerzt (Hg.): Geschichtsbilder in Europa, Freiburg/Basel/Wien 2009, S. 38–60; (Mithg.): Spengler – ein Denker der Zeitenwende, Frankfurt am Main 2009. Mária Schmidt Geboren 1953 in Budapest, Prof. Dr. phil.; Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Eötvös Loránd in Budapest; 1985 Promotion, 1999 PhD; 2005 Habilitation im Fachbereich Geschichtswissenschaften; seit 1996 Dozentin, ab 2010 Professorin an der Katholischen Pázmány-Péter-Universität in Piliscsaba. Gastprofessuren und Stipendien an den Universitäten in Berlin, Bloomington, Innsbruck, Jerusalem, New York, Oxford, Paris, Tel Aviv und Wien sowie am Hoover Institut in Stanford. Generaldirektorin der Institute des 20. und 21. Jahrhunderts und des Museums »Haus des Terrors« in Budapest; Mitglied zahlreicher Wissenschaftsräte, darunter Beiratsmitglied der Stiftung Ettersberg, Weimar, sowie Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates
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für das »Haus der Europäischen Geschichte« in Brüssel. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der ungarischen Juden seit 1918, Geschichte Ungarns unter diktatorischer Herrschaft, Diktaturen im 20. Jahrhundert. Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: Politikailag inkorrekt [Politisch inkorrekt], Budapest 2010; Battle of Wits – Beliefs, Ideologies and Secret Agents in the 20th Century, Budapest 2007; Der Kommunismus, ein Verbrechen ohne Folgen?, in: Renato Christin: Memento Gulag. Zum Gedenken an die Opfer totalitärer Regime, Berlin 2006, S. 91–97; Zákulisní taje – Nové aspekty historie procesu s Algerem Hissem (USA), László Rajkem (Madarsko) a inscenovanych procesu ve vychodní a strední Evrope, Prag 2005; A titkosszolgálatok kulisszái mögött [Hinter den Kulissen der Geheimdienste], Budapest 2005; Ungarns Gesellschaft in der Revolution und im Freiheitskampf von 1956, in: Kirchliche Zeitgeschichte, Nr. 1/2004, S. 100–113. Robert Traba Geboren 1958 in Węgorzewo (Polen), Prof. Dr. phil.; Studium der Geschichte, Politik- und Kulturwissenschaften an der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Thorn; Beginn der wissenschaftlichen Arbeit am Forschungszentrum der Polnischen Historischen Gesellschaft in Olsztyn/Allenstein; 1995–2003 Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts Warschau, danach am Institut für Politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften und an der Warschauer Universität; seit 2006 Direktor des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften und Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin; Begründer und Vorsitzender der Kulturgemeinschaft Borussia in Olsztyn/ Allenstein sowie Herausgeber der Vierteljahresschrift »Borussia«; Co-Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission; Mitglied zahlreicher polnischer und internationaler Wissenschaftsgremien, u. a. im Stiftungsbeirat der Stiftung Ettersberg. Forschungsschwerpunkte: kulturelle Veränderungen und kollektives Gedächtnis v. a. im historischen Raum des deutsch-polnischen Grenzgebietes im 19. und 20. Jahrhundert; deutsch-polnische Beziehungsgeschichte und Regionalgeschichte Ostpreußens; Ostmitteleuropa und seine modernen kulturellen Entwicklungen. Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: (Mithg.): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte: Parallelen (mit Hans Henning Hahn), Paderborn 2011 (im Erscheinen); Ostpreußen, die Konstruktion einer deutschen Provinz: Eine Studie zur regionalen und nationalen Identität 1914–1933, Osnabrück 2010; Przeszłość w teraźniejszości. Polskie spory o historię na początku XXI wieku [Vergangenheit in der Gegenwart. Polnische Geschichtsdebatten am Anfang des 21. Jahr-
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hunderts], Poznań 2009; (Hg.): My, berlińczycy! Wir Berliner! Geschichte einer deutsch-polnischen Nachbarschaft, Berlin 2009; (Mithg.): Vertreibung aus dem Osten: Deutsche und Polen erinnern sich (mit Hans-Jürgen Bömelburg und Renate Stössinger), Osnabrück 2006. Stefan Troebst Geboren 1955 in Heidelberg, Prof. Dr. phil.; Studium der Osteuropäischen Geschichte, Slavistik, Balkanologie, Islamwissenschaft und Politikwissenschaft in Berlin, Tübingen, Sofia, Skopje und an der Indiana University in Bloomington/USA; 1984 Promotion und 1995 Habilitation an der Freien Universität Berlin; danach dort Assistent am Osteuropa-Institut; seit 1999 Professor für Kulturstudien Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig und dort stellvertretender Direktor des außeruniversitären Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO). Leitung zahlreicher Forschungsprojekte, darunter: »Visuelle und historische Kulturen Ostmitteleuropas im Prozess staatlicher und gesellschaftlicher Modernisierung seit 1918« und »Zwischen religiöser Tradition, kommunistischer Prägung und kultureller Umwertung: Transnationalität in den Erinnerungskulturen Ostmitteleuropas seit 1989«. Forschungsschwerpunkte: Kollektive Identitäten im Ostmitteleuropa der Nach-Wende-Zeit; Nationalismus und Historiographie auf dem Balkan; Südosteuropa in den internationalen Beziehungen der Zwischenkriegszeit; Internationale Organisationen und ethnopolitische Konflikte im Osteuropa der Gegenwart. Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: Diktaturerinnerung und Geschichtskultur im östlichen und südlichen Europa. Ein Vergleich der Vergleiche, Leipzig 2010, im Internet unter: URL: http://www.uni-leipzig.de/gesi/documents/working_papers/GESI_WP_3_Troebst.pdf [01.07.2011]; (Hg.): Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts (zusammen mit Detlef Brandes und Holm Sundhaussen), Köln/Weimar/Wien 2010; (Hg.): Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas: Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven, Göttingen 2010; (Hg.): Transnationale Erinnerungsorte: Nord- und südeuropäische Perspektiven (zusammen mit Bernd Henningsen und Hendriette Kliemann-Geisinger), Berlin 2009; (Hg.): Verflochtene Erinnerungen. Polen und seine Nachbarn im 19. und 20. Jahrhundert (zusammen mit Martin Aust und Krzysztof Ruchniewicz), Köln/ Weimar/Wien 2009; (Hg.): Zwischen Nostalgie und Amnesie: Die Erinnerung an den Kommunismus in Südosteuropa (zusammen mit Ulf Brunnbauer), Köln/Weimar/Wien 2007.
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Die Autoren
Heidemarie Uhl Geboren 1956 in Feldbach/Steiermark, Dr. habil.; Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Graz; seit 1988 Historikerin an der Abteilung Zeitgeschichte der Universität Graz; 1994–2000 Mitarbeiterin des Sonderforschungsbereichs »Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900« (Universität Graz), seit 2001 Mitarbeiterin des Forschungsprogramms »Orte des Gedächtnisses« an der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien; 2005 Habilitation (Universität Graz), Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Graz, Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften Wien (IFK) und am Berliner Zentrum für vergleichende Geschichte Europas. Gastprofessuren an der Universität Wien, der Hebrew University Jerusalem und der Universität Straßburg. Forschungsschwerpunkte: Gedächtniskultur, Repräsentationen gesellschaftlicher Erinnerung (Denkmäler, Gedenkstätten, Museen), österreichische und europäische Geschichtspolitik, Gedächtnisforschung, Umgang mit NS-Vergangenheit, Theorie der Kulturwissenschaften, Kultur und Identität in Zentraleuropa um 1900. Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: (Mithg.): Topographie der Shoah: Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien (mit Dieter J. Hecht, Eleonore Lappin-Eppel und Michaela Raggam-Blesch), Wien 2011 (im Erscheinen); (Mithg.): In Situ. Zeitgeschichte findet Stadt: Nationalsozialismus in Linz (mit Dagmar Höss und Monika Sommer), Linz 2009; (Mithg.): Kulturen der Differenz – Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989. Transdisziplinäre Perspektiven (mit Heinz Fassmann und Wolfgang Müller-Funk), Wien 2009; Transformationen des österreichischen Gedächtnisses: Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust in der Erinnerungskultur der Zweiten Republik, Innsbruck/Wien/Bozen 2007. Alexander Vatlin Geboren 1962 in Aschgabad (Turkmenien), Prof. Dr. phil.; Studium der Geschichte; seit 1991 Leiter des Programms »Moderne Geschichte« im Institut für Menschenrechte und demokratische Forschung, zuerst als Teil der Russisch-Amerikanischen Universität, seit 1992 als unabhängige gemeinnützige Forschungsinstitution (NGO) tätig; seit 1997 am Lehrstuhl für moderne Geschichte der Moskauer Lomonossow-Staatsuniversität; 1998 Habilitation zum Verhältnis von KPdSU und Komintern in 1920er Jahren; 2001 Mitbegründer und seither Koordinator der Arbeitsgruppe Russischer Historiker, die sich mit der neuesten deutschen Geschichte befassen; seit 2006 ordentlicher Professor
Die Autoren
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am Lehrstuhl für moderne Geschichte der Moskauer Lomonossow-Staatsuniversität. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Komintern, Neueste deutsche Geschichte, Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert. Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: »Arbeiten Sie einen Plan zur Grenzordnung zwischen beiden Teilen Berlins aus!« Interview mit Generaloberst Anatolij Grigorjewitsch Mereschko (mit Manfred Wilke), in: Deutschland Archiv, Nr. 1/2011, im Internet unter: URL: http://www.bpb.de/themen/ NAWPSE,0,0,Arbeiten_Sie_einen_Plan_zur_Grenzordnung_zwischen_beiden_Teilen_Berlins_aus!.html [01.07.2011]; Die Komintern: Gründung, Programmatik, Akteure, Berlin 2009; (Hg.): Die Weltpartei aus Moskau: Der Gründungskongress der Kommunistischen Internationale 1919. Protokoll und neue Dokumente (zusammen mit Wladislaw Hedeler), Berlin 2008; Schweinefuchs und das Schwert der Revolution. Die bolschewistische Führung karikiert sich selbst, München 2007; Schule der Träume: Die KarlLiebknecht-Schule in Moskau (1924–1938) (mit Natalija Mussijenko), aus dem Russischen übersetzt von Nina Letnewa (= Reformpädagogik im Exil; 10), Bad Heilbrunn 2005; Tatort Kunzewo. Opfer und Täter des Stalinschen Terrors 1937/38, Berlin 2003. Hans-Joachim Veen Geboren 1944 in Straßburg (Elsass), Prof. Dr. phil.; Studium der Politischen Wissenschaften, der Neueren Geschichte und des Öffentlichen Rechts an den Universitäten Hamburg und Freiburg im Breisgau, 1982–2000 Forschungsdirektor der Konrad-Adenauer-Stiftung, seit 1996 Honorarprofessor für Vergleichende Regierungslehre und Parteienforschung an der Universität Trier, 2000–2002 Projektleiter »Demokratie- und Parteienförderung in Mittel- und Osteuropa« der Konrad-Adenauer-Stiftung, seit 2002 Vorstandsvorsitzender der Stiftung Ettersberg zur vergleichenden Erforschung europäischer Diktaturen und ihrer Überwindung in Weimar; seit 2008 Vorsitzender des vom Deutschen Bundestag berufenen Wissenschaftlichen Beratungsgremiums bei dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU). Forschungsschwerpunkte: international vergleichende Wahl- und Parteienforschung; Geschichte der SED-Diktatur und ihre Aufarbeitung; europäisch vergleichende Diktatur- und Transformationsforschung. Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: (Mithg.): Die Folgen der Revolution. 20 Jahre nach dem Kommunismus (mit Peter März und Franz-Josef Schlichting), Köln/Weimar/Wien 2010; »Wie viel Einheit brauchen wir? Die ›innere Einheit‹ zwischen Gemeinschaftsmythos und neuer Vielfalt«, in: Einsichten und
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Die Autoren
Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte, hrsg. von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, Heft 3/2010, S. 208 ff.; (Mithg.): Aufarbeitung totalitärer Erfahrungen und politische Kultur. Die Bedeutung der Aufarbeitung des SED-Unrechts für das Rechts- und Werteverständnis im wiedervereinigten Deutschland (mit Hendrik Hansen), Politisches Denken Jahrbuch 2009, Berlin 2009; (Mithg.): Kirche und Revolution. Das Christentum in Ostmitteleuropa vor und nach 1989 (mit Peter März und Franz-Josef Schlichting), Köln/Weimar/Wien 2009.
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Personenverzeichnis
Adenauer, Konrad 220, 223 Antall, József 156 Assmann, Jan 50, 187 Attlee, Clement 219 Aubrac, Lucie 90 Aubrac, Raymond 90 Augstein, Franziska 174, 187 f., 191 August II., König von Polen 20 Autant-Lara, Claude 87 Aznar, José María 116 f. Badoglio, Pietro 60–63 Barbie, Klaus 88 Barnavi, Elie 181, 192 Becker, Jean-Jacques 96 Berlusconi, Silvio 68 f. Bismarck, Otto von 185 Bloch, Marc 85 Bonaparte, Napoleon 17 f., 124, 183, 212 Bonomi, Ivanoe 62 f. Borodajkewycz, Taras 41 Borodziej, Włodzimierz 11, 161 f., 176, 180, 186, 191, 232 Borowski, Tadeusz 72 Bousquet, René 88 Brandt, Willy 166, 223 f. Breier, Zsuzsa 175, 186, 190 Breschnew, Leonid I. 128, 226 Brossolette, Pierre 90 Broz-Tito, Josip 170 Bush, George H. W. 227 Bush, George W. 159, 228
Camus, Albert 100 Canaval di Moneta, Gustav A. 38 Carnegie, Andrew 212 Cayrol, Jean 87 Ceaușescu, Nicolae 155 f. Cercas, Javier 115 Chacón, Dulce 115 Chandernagor, Françoise 83 f. Chirac, Jacques 89–91, 93, 97 Chirbes, Rafael 114 Chruschtschow, Nikita S. 222 Churchill, Sir Winston Leonard 166 f., 176, 217, 219 f. Clément, René 90 Cordier, Daniel 89 Courtois, Stéphane 95 Cracco, Giorgio 232 Craxi, Bettino 68 Czapski, Józef 75 Czerney, Sarah 183 Däubler-Gmelin, Herta 159 Daum, Jean-Antonin 21 Domańska, Ewa 80 Dumoulin, Michel 232 Duverger, Maurice 169–171 Eisenhower, Dwight D. 59 Elvert, Jürgen 47 f. Engels, Friedrich 10, 167 Erhard, Ludwig 166 Esterházy, Péter 22 Fabien, Colonel (Pierre Georges) 90 Faurisson, Robert 88
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Figl, Leopold 31–33, 38 Fischer, Joschka 55 Focardi, Filippo 65 Fourastié, Jean 85 Franco, Francisco 101, 104 f., 108–110, 117–120, 169, 171, 215, 225 François, Etienne 9–11, 94, 96, 144, 181–183, 189 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich 140 Frenay, Henri 89 Fuhr, Eckhard 158 Furet, François 95 Gallé, Émile 21 Gallo, Max 95 García Lorca, Federico 112 Garton Ash, Timothy 79, 143 Garzón, Baltasar 120 Gasperi, Alcide De 62, 220 Gaulle, Charles de 84 f., 89 f., 92, 94, 162, 223 Giedroyc, Jerzy 75 Gombrowicz, Witold 75 González Márquez, Felipe 102 Griesser-Pečar, Tamara 53 f. Gross, Jan Tomasz 29, 73 Gruber, Jacques 21 Guevara, Ernesto Che 157 Haas, Ernst 43 Habsburg, Otto von 21 Hahn, Hans Henning 80 f. Haider, Jörg 27 f. Halbwachs, Maurice 50 Hardy, René 90 Heimpel, Hermann 188 Héré, Emmanuel 20 Herzog, Roman 54
Personenregister
Hessel, Stéphane 161 Hitler, Adolf 14, 32–34, 57, 100, 124, 126, 129, 158 f., 169, 215–217 Hoxha, Enver 170 Hütter, Hans Walter 232 Hugo, Victor 212 Hurdes, Felix 35 Jägerstätter, Franz 40 Jarausch, Konrad 48, 52 Johannes Paul II., Papst der römisch-katholischen Kirche 226 Joly, Marie-Hélène 232 Jospin, Lionel 94 Judt, Tony 29–31 Juliá, Santos 111, 115 f. Kádár, János 155 f. Kalniete, Sandra 49, 154 Karl der Große, römischer Kaiser 97, 208 Kertész, Imre 7, 133, 164 Kirchweger, Ernst 41 Klarsfeld, Beate 88 Klarsfeld, Serge 88 Klier, Freya 53 Klinge, Matti 232 Knigge, Volkhard 10, 177 f., 180, 187–189, 191 Kocka, Jürgen 52 Kogon, Eugen 161 f., 164, 177 Kohl, Helmut 97, 227 Korzeniewski, Bartosz 80 Kreisky, Bruno 224 Krockow, Christian Graf von 78 Krumeich, Gerd 96 Kübler, Elisabeth 184 Kula, Marcin 80
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Personenregister
Lanzmann, Claude 88 Laval, Pierre 84 Lawatsch, Hans-Helmut 186 Le Pen, Jean-Marie 91 Leeuw, Ronald de 232 Leggewie, Claus 10, 142–144, 177, 184 Leguay, Jean 88 Lem, Stanisław 75 Lenin, Wladimir I. 126, 166 f., 180 Lepenies, Wolf 79 Levi, Primo 7, 133 López-Aranguren, José Luis 106 Ludwig XIII., König von Frankreich 18 Ludwig XIV., König von Frankreich 18 Ludwig XV. , König von Frankreich 20 Lukaš]nka, Aljaksandr 170, 172 Luther, Martin 166, 209 Machado, Antonio 105 Maćków, Jerzy 47 Majorelle, Louis 21 Maleta, Alfred 41 f. Malle, Louis 86 Malraux, André 85 Mao Zedong 157 Marshall, George C. 166 Marx, Karl 167 Medwedew, Dmitri A. 134 Mencwel, Andrzej 80 Merlio, Gilbert 185, 187 Michnik, Adam 75 Milošević, Slobodan 170 Miłosz, Czesław 75 Mitterrand, François 89, 97 Moa, Pío 116 Mollet, Guy 95
Molt, Peter 185 Monnet, Jean 220 Moulin, Jean 85, 88–90 Müller, Herta 171 Muñoz Molina, Antonio 114 Mussolini, Benito 57–61, 63, 69, 169 f., 214 Navarro López, Vicenç 111 Negrín, Juan 109 Neubert, Hildigund 181 Niethammer, Lutz 173, 175 f., 178, 182, 187, 193 Nikolaus II., Zar von Russland 126, 212 Nolte, Ernst 91 Nora, Pierre 15, 22, 83 f., 100, 114 Ohse, Marc-Dietrich 183 Ophüls, Marcel 85 Palme, Olof 224 Papon, Maurice 88, 92, 94 Paxton, Robert 86 Pellepoix, Louis Darquier de 88 Pétain, Philippe 84, 86, 169 Peter I. der Große, Zar von Russland 124 Pétré-Grenouilleau, Olivier 99 Pfeil, Ulrich 97 Plantureux, Jean (Plantu) 27 Polt, Gerhard 148 Pomian, Krzysztof 16, 145, 181, 192 Pompidou, Georges 86 Pöttering, Hans-Gert 8, 147 f., 151, 165, 191, 199 Prada, Juan Manuel de 114 Primo de Rivera, José Antonio 118 Proust, Marcel 15
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Personenregister
Puschkin, Alexander S. 124 Putin, Wladimir W. 8, 172
Troebst, Stefan 177, 188 Truman, Harry S. 219
Reis, António 232 Resnais, Alain 87 Rioux, Jean-Pierre 95 Rivas Barrós, Manuel 114 Robrieux, Philippe 95 Roosevelt, Franklin D. 166 Rousset, David 7, 133 Rousso, Henry 29, 84, 87, 99 f. Rudolph, Günther 186
Uhl, Heidemarie 187 Vázquez Montalbán, Manuel 114 Veen, Hans-Joachim 193 Vidal, César 116 Vqte-Freiberga, Vaira 156 Vittorio Emanuele III., König von Italien 59, 61 Vranitzky, Franz 45
Sabrow, Martin 48, 52 Sarkozy, Nicolas 14, 90, 93 Schalamow, Warlam T. 7, 133 Schmidt, Mária 11, 176, 179, 183, 188, 191, 232 Schmidt, Wolf 149 Schüssel, Wolfgang 28 Schulze, Hagen 96 Schuman, Robert 220 Schwarz, Hans-Peter 183, 185 Semprún, Jorge 7, 133, 161 Silva, Emilio 113 Smolar, Aleksander 143 f. Spaak, Paul-Henri 220 Stalin, Iossif W. 62, 125–128, 130, 132, 134, 156 f., 167, 216, 218, 221 Stanislaus I. Leszczyński, König von Polen 20 Stora, Benjamin 94, 100 Stourzh, Gerald 142 Sudreau, Pierre 161 Szpociński, Andrzej 80 Touvier, Paul 86, 88 Traba, Robert 146 Trapiello, Andrés 115
Wajda, Andrzej 75 Waldheim, Kurt 28 f. Wałęsa, Lech 226 Wehler, Hans-Ulrich 51 Weiss, Christina 53 Wieviorka, Annette 88 Wilson, Woodrow 213 Winock, Michel 90 Wolfrum, Edgar 9 Woller, Hans 68 Zapatero, José Luis Rodríguez 117