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German Pages 47 [66] Year 1885
Vorrede zur ersten Auflage. Dieses
Buch
kommt
einem
dringenden
Bedürfniß entgegen.
Der Verfasser.
Vorrede zur zweiten Auflage. Dieses Buch kam einem dringenden Be dürfniß entgegen.
Der Verfasser.
Einleitung.*) wohin man heute immer blicken mag, es macht
sich überall das Bedürfniß geltend, zu urtheilen. Die Höhe, auf welche sich unser Geist allmählich
mit Hilfe von einigen tausenden Tages-, Wochen-,
Monats-, Vierteljahrsschriften und mit Unterstützung prachtvoll gebundener Lonversationslexika hinauf
gearbeitet hat, verpflichtet den „Eulturmenschen" der Gegenwart in jedem Falle über alles mit vollster
Sicherheit ein bestimmtes Urtheil abzugeben, falls er überhaupt etwas gelten will.
Es soll einmal
Perioden gegeben haben, wo die Menschen einem
kindischen Enthusiasmus huldigten: da ließen sie sich
*) 3ft gegen die allgemeine Gewohnheit mit der Absicht geschrieben, von dem Leser mit der ganzen Vertiefung, welche unserem Publikum eigen ist, studirt zu werden. Der Autor bittet um Vergebung, daß er dadurch gegen die übliche Sitte verstößt.
von ernsten
großen Gedanken
der
Dichter, von
erhabenen Werken der bildenden Kunst erschüttern
bis in das tiefste Mark; da huldigten sie ohne jede
selbstsüchtige Absicht dem Genius; sie betrachteten die großen Künstler mit naivem Staunen als Priester der Menschheilsideale und hatten stets eine lächer liche 'Begeisterung für jene Unmöglichkeiten übrig,
welche sie mit den drei Kraftworten des „Guten",
„wahren" und „Schönen" bezeichneten; sie forderten
sogar, daß die Künstler sie durch ihre Gebilde zu „höheren Anschauungen" emporführen, den genießen
den Geist vom „Drucke der Alltäglichkeit" befreien, in ihm das Bewußtsein stärken sollten, daß „hinter
der vielgestaltigen Körperwelt ein ewiges Princip wirke", sie glaubten — — doch wer vermag alle
diese thörichten Iumuthungen in Worte zu fassen! Nur auf einer tiefen Stufe der Bildung vermögen derartige Irrlichter des phosphorescirenden Gehirns als Wahrheiten zu gelten.
wir sind glücklich über diese Zustände hinaus
gekommen; wir haben klar erkannt, daß alle so genannten „Ideale" vollständig bedeutungslos sind und daß man sie höchstens hie und da einem jungen
Mädchen verzeihen kann, welches neben gerundeten Körperformen auch eine hübsch abgerundete Mit gift besitzt,
wie schon bemerkt, ist es heute nöthig,
wenn man auf der Höhe der Zeitbildung steht, über alles sprechen und urtheilen zu können, das ist auch
Aber
das höchste Ziel der modernen Erziehung.
trotz allem giebt es noch eine sehr große Zahl von Menschen, leider sogar unter den Gebildeten, welche
nur über die Gegenstände sprechen, die ihnen, nach dem gangbaren Ausdruck „vertraut" find, welche vor einem Bilde von Böcklin nichts zu sagen wissen,
nach dem Anhören einer Beethoven'schen Symphonie
schweigen und sogar über den zweiten Theil von
„Faust" kein fertiges Urtheil zur Verfügung haben,
so daß ihnen darin jeder Backfisch aus der „Kelekta" einer höheren Mädchenschule überlegen ist, welcher die ganze „große und kleine Welt" bis auf
das I-Tüpfelchen spielend zu beurtheilen weiß.
Es
ist wirklich beklagenswerth, daß diese Urtheilsscheu
besonders in der älteren Generation nicht auszu rotten ist und daß dieselbe zum Theil unter der fortgeschrittenen jüngeren
noch so
häufig
gefun
den wird. Ls ist für ein fühlendes Herz, wie der Ver
fasser eines besitzt,
geradezu
mitleiderregend, zu
sehen, wie sich noch so viele Menschen in Aus stellungen oder in Gesellschaften benehmen.
Mit
scheuen Blicken stehen sie, nachdem der Katalog zu
Rathe gezogen worden ist, und leider keinen Hinweis
auf eine goldene Medaille*) zum Besten gegeben
hat, vor einem Bilde — in der Ecke steht ein noch
nie „dagewesener" Name, Bläffe und Purpur wech seln auf dem Antlitz, aber kein „Urtheil" wird darauf stchtbar.
Dieselbe Befangenheit kann man in unseren
Gesellschaften beobachten, wenn auf wissenschaftliche
oder poetische Werke das Gespräch kommt oder wenn jemand irgend eine geschichtliche Persönlichkeit er wähnt.
Zumeist stockt das Gespräch, denn zufällig
hat Niemand ein Urtheil bei sich. So betrübend ein derartiger Anblick ist, so sehr schwellt es die Brust des wahrhaft Gebildeten, wenn
er gediegene Renner findet, welche immer urtheilen, niemals um ein bedeutsames Wort, um eine ab
gerundete Phrase verlegen
find,
wie benehmen
sich die in den Kunstausstellungen, in Gesellschaften? Man betrachte sie in den ersteren.
Schon wenn
sie ihre Eintrittskarte lösen und den Katalog kaufen, kann man in ihrem ganzen Wesen das harmonische Gleichgewicht
bemerken,
welches
so
wohlthuend
wirkt: sie sind eben ihrer Sache vollkommen sicher, *) Line goldene Medaille bedeutet immer Genie, eine silberne hervorragendes Talent, weil diese Auszeichnungen niemals aus Kameraderie verliehen werden, wie Drden be lohnen sie stets nur das wahre Verdienst.
sie wissen schon an der Pforte ganz genau, was sie sagen werden und daß nichts sie in Verlegenheit bringen kann.
Sie treten lächelnd ein und lassen
das Auge über die wände gleiten; plötzlich — nach dem sie sich überzeugt haben, daß das gewöhnliche Volk auf sie aufmerksam geworden ist, stürzen sie
auf ein Bild los, stellen sich ganz dicht davor und bleiben in dem Anblick einer dunklen Ecke ver
sunken ; dann treten sie zurück, lassen den Kopf nach
rechts oder links sinken, kneifen ein Auge zu und
halten die Hand über dem andern;
alles ist an
ihnen in höchster Erregung, und — wieder plötzlich
erscheinen sie ganz ruhig und kehren ihr Antlitz dem versammelten Volke zü;
das Urtheil ist fix und
fertig, ja es steht bei manchen ganz in Frakturschrift auf dem Gesicht. Bei einem zweiten Bilde schütteln sie mißbilligend das Haupt und schlagen die Augen zum Fimmel auf, bei einem dritten nicken sie und
lassen ein zustimmendes „Mhm" hören, bei einem
vierten
lächeln
sie ein unbeschreibliches
Lächeln.
Noch tiefer wird der Eindruck auf den gewöhnlichen Menschen, wenn zwei solche Männer Zusammen treffen; beide bewußt ihres Werthes, beide Beur theilet ersten Ranges.
Einige im „Publikum" —
das Wort läßt sich hier als Schaupöbel übersetzen —
kennen die Herren und suchen schnell in ihre Nähe
zu kommen.
Das paar spricht und gestikulirt vor
einem Bilde, es betrachtet gemeinsam die dunkle Ecke, es schüttelt gemeinsam die Häupter — natür lich jeder sein eigenes es nickt, mhmt und lächelt gemeinsam das unbeschreibliche Lächeln. Im
Gespräche aber schwirren geheimnißvolle Worte hinundherüber: „Verkürzung", „Farbenperspek tive", „Augenpunkt", „Krapplack", „Intui tion", „Asphalt" u. s. w., hie und da hört man Namen, welche zumeist auf ccio, ggio, io oder o endigen in Verbindung mit einem Urtheil, wie „Ganz plumpe Copie nach ...ggio", oder „dem . ... io fein nachempfunden, aber pastoser."
Und die Umgebung ist einfach starr und steif und kann
fich nicht erklären, wie ein Mensch alle diese schönen Urtheile so aussprechen kann, ohne eine Falte auf der Stirn, ohne sichtbare Anstrengung. Da empfindet man die Lücke seiner Bildung. Bei gewissen Bildern
natürlich, da kann man leicht sagen „wunderschön", „herrlich", denn es steht in der Ecke mit großen Buchstaben „Paul Meyerheim" oder „Gustav Richter" oder gar „Menzel", „Makart" u. s. w.; da weiß Jeder, daß diese Bilder schön sein müssen, denn sie kosten furchtbar viel, aber bei andern, wo man
einen unbekannten „Meyer" oder „Müller" entziffert hat, was soll man dann sagen! Kurz, man fühlt
sich als Nichts und schämt sich in die tiefste Seele hinein.
Im Gesellschaftsleben wiederholt sich der Vor gang, aber natürlich noch demüthigender, denn hier werden verschiedene Gebiete
keines ftemd,
sie sprechen
berührt.
Jenen
ist
ebenso bestimmt über
Kunst wie über Politik; sie kennen jeden neuen
Roman, jedes Drama; sie verblüffen den Philologen
durch ihre
genaue Kenntniß der Temperatechnik;
sie setzen den Banquier in Erstaunen durch ihre Vertrautheit mit den classischen Autoren der Alten; sie erringen sich die Verehrung eines Technikers
durch ihre Urtheile über die Goetheforschung, so wie
sie dem Husarenlieutenant mit ihrem philosophischen wissen Schrecken einjagen.
In Verlegenheit bringt
sie nichts, denn sie verstehen es, durch einen Witz jeden Angriff unmöglich zu machen.
Man pflegt diese Glücklichen als Kenner zu bezeichnen: Special-Kenner, wenn ihnen ein
Gebiet, allgemeine, wenn ihnen alle fremd sind. Außerdem unterscheidet man noch sprechende und schreibende; die letzteren bilden einen Theil
der Kritiker, leider erst einen Theil, was im In
teresse des geistigen Fortschritts zu beklagen ist.
Der harmlose Laie, welcher sie hört oder liest, denkt natürlich: „was müssen diese Menschen gelernt,
wie viel gesehen, wie viel mehr gedacht haben, wenn sie
dunkle Ecken
so
ansehen, so
unbeschreiblich
lächeln; wenn sie sich selbst so bewundern und den
Banquier, „über Aristoteles so aufklären können!"
Ein derartiges Selbstgespräch ist der Höhepunkt des Schmerzes über den verfehlten Beruf.
wie viele mögen sich darin
aufreiben,
wie
mancher fein Leben enden um diese