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German Pages 224 Year 2016
Anfang und Ursprung Massimo Cacciari und Hans Urs von Balthasar
Beiträge zur philosophischen Rechenschaft der Theologie
ratio fidei
Isabella Guanzini
Verlag Friedrich Pustet
ratio fidei
Beiträge zur philosophischen Rechenschaft der Theologie Herausgegeben von Georg Essen, Klaus Müller, Thomas Pröpper (†), Magnus Striet und Saskia Wendel Band 58
Isabella Guanzini
Anfang und Ursprung Massimo Cacciari und Hans Urs von Balthasar
Aus dem Italienischen von Bettina Müller Renzoni
Verlag Friedrich Pustet Regensburg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
eISBN 978-3-7917-7112-0 (PDF) © 2016 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich: ISBN 978-3-7917-2778-3 Weitere Publikationen aus unserem Programm finden Sie auf www.verlag-pustet.de
Inhaltsverzeichnis
Einleitung .................................................................................................................................. 11
Erster Teil Das dem Logos Vorhergehende Befragung des Anfangs in der Philosophie von Massimo Cacciari Kapitel 1 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Das Wagnis des Logos ........................................................................................................ 21 Vom Anfang: dramatis cogitatio .......................................................................................... 23 Der Tod, die Frage nach dem Anfang ........................................................................... 27 Zwischen absoluter Treue und dem Sich-Fügen in den Verlust .................................... 31 Eros des Unerreichbaren: Figuren der Ab-/Anwesenheit ........................................... 36 An den Anfang zurückkehren .......................................................................................... 40
Kapitel 2 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Was ist der Anfang, nach Kant? ...................................................................................... 45 Die obskure Illumination des Heiligen: Heidegger ....................................................... 47 Die Einführung in den Anfang: Hegel ........................................................................... 51 Den Anfang befreien. Über Schelling hinaus ................................................................ 56 Das Prinzip des Anfangs: Freiheit ................................................................................... 60 Über das Vorausgesetzte: Schelling und Rosenzweig ................................................... 64 Das Paradox des possest und die höchste Askese ........................................................... 68 Deus absconditus: der Entzogene ........................................................................................ 72
Inhaltsverzeichnis
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Zweiter Teil Das Mögliche und das Geoffenbarte Theologische Schnittpunkte, Vermutungen und Widerlegungen Kapitel 1 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Freiheit des Ursprungs: Schelling ................................................................................... 79 Im Anfang war das Wort ................................................................................................... 82 Dramatis Personae: im Raum der Trinität .......................................................................... 86 Die extreme Freiheit des Sohns: Agápe.......................................................................... 89 Die fortwährende Agonie der Gläubigen ....................................................................... 92 Dramatische Eschatologie ................................................................................................ 95
Kapitel 2 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Vorausgesetztes und Darstellung .................................................................................. 101 Über Freiheit und Indifferenz........................................................................................ 103 Apathischer Ursprung und negativer Mystizismus ..................................................... 107 Das Transzendentale der reinen Exposition ................................................................ 109 Das Offene und das Heil des Seienden ........................................................................ 112 Zeit der Entscheidung: Theodramatik .......................................................................... 115 Der christliche Weg und das Rätsel der Bestimmung ................................................ 117 Anfängliche Indifferenz und ursprüngliche Zuneigung ............................................. 120
Dritter Teil Die Herkunft von Agápe Der Logos der Liebe bei Hans Urs von Balthasar Kapitel 1 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Gemeinsames Erbe, dialektischer Hintergrund ........................................................... 127 Die theologische Latenz Schellings ............................................................................... 130 Die Bastionen schleifen und die Schwelle bewohnen ................................................ 134 Philosophie und Theologie: Epochenwandel .............................................................. 140 Wahrheit als re-velatio....................................................................................................... 144 Wahrnehmung der Form: Die Schönheit des Wahren ............................................... 148 Die Transzendentalen Ideen: Der Kampf mit dem Chaos ........................................ 155 Die theologische Diagonale der Ästhetik ..................................................................... 158
Inhaltsverzeichnis
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Kapitel 2 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Göttlicher Logos und Ästhetik der Gestalt .................................................................. 163 Die glaubhafte Liebe: Logik von agápe .......................................................................... 166 Eros und agápe: über die Alternative hinaus ................................................................. 169 Begegnungen, Einflüsse und Einwirkungen en agápe .................................................. 173 Der Sohn, (unendliche) Exegese des Vaters ................................................................ 176 Der Abgrund der unendlichen Enthüllung .................................................................. 181 Zeugung: Mysterium Trinitatis .......................................................................................... 186
Kapitel 3 1. 2. 3. 4. 5.
Am Anfang war das Wort: Kenosis Gottes .................................................................... 191 Analogia caritatis und Teilhabe......................................................................................... 195 Phänomenologie oder Metaphysik von Agape? .......................................................... 198 Das Erbe Balthasars. Ein neuer Anfang ...................................................................... 202 Die post-idealistische Theologie: Aussichten .............................................................. 206
Literaturverzeichnis ............................................................................................................... 211
Erschloss in ihrer Ewigkeit sich, außer Der Zeit und jeglicher Begrenzung, wie’s ihr Gefiel, die ewige Liebe in neuen Lieben. (Dante, Paradies, XXIX, 16–18)
Einleitung
Die Zeitgenossenschaft der Philosophie Massimo Cacciaris und der Theologie Hans Urs von Balthasars offenbart Züge des Unzeitigen. In ihrem Bestreben, die Gegenwart zu verstehen, begeben sich beide Autoren in einen Zustand der zeitlichen Phasenverschiebung, des Unzeitgemäßen, um mit Nietzsche zu sprechen1: Ihr Zeitgenössisch-Sein zeigt sich in ihrer spezifischen, aber je unterschiedlichen Dyschronie, durch die sie nicht genau mit ihrem eigenen Zeitalter übereinstimmen, was ihnen jedoch erlaubt, dieses mit klarem Verstand zu betrachten. Die beiden Denker erleben, erinnern und begreifen die Zeit in einer neuartigen, liebevollen und unermüdlichen Verbindung mit anderen Zeiten: Zitierung, vielfältige Verweise und ein Durchqueren von Texten und Autoren der Vergangenheit werden zu einem strengen Exerzitium der Zeitgenossenschaft, in einem unvermeidlich erscheinenden Bedürfnis – so als hätten sie den Eindruck einer verkürzten Zeitlichkeit. Diese tief empfundene Notwendigkeit, die von innen heraus ihr Denken bewegt, führt sie von sich weg, um sie dann erneut zurückkehren zu lassen in ihr eigenes saeculum. Bei beiden handelt es sich dabei nicht einfach nur um archäologische Nostalgie, sondern um einen wissenden Anachronismus, der, indem er keine gänzliche Zugehörigkeit zur eigenen Zeit erlaubt, auch ihre Epoche daran hindert, ganz mit sich selbst zusammenzufallen: Die beiden Autoren schaffen auf diese Weise Durchgänge und Spalten in der Gegenwart, wodurch sie dem Neuen den notwendigen Raum geben, diese zu durchqueren. Sowohl Massimo Cacciari als auch Hans Urs von Balthasar suchen nach den Signaturen des Archaischen – nicht als fernes und verlorenes Paradies, sondern als etwas, das der arché so nah wie möglich kommt –, die in ihrer Aktualität pulsieren, wohl wissend, dass nur im Unerinnerbaren der notwendige Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart liegt. Ihr Denken folgt, auf ganz unterschiedlichen Wegen, immer dem Originären: In ihrem verwegenen Umgang mit der abgründigen, unvordenklichen Tiefe des Anfangs wollen sowohl Balthasar als auch Cacciari – mit einer Klarheit, an die wir nicht mehr gewöhnt waren – ein Programm der theo-logischen Rehabilitation der Ontologie vorlegen, die in den Falten der Motive liegt, welche der späte Schelling mit besonderer Bestimmtheit, wenn auch in unvollendeten Skizzen, ausgearbeitet hatte. Beide anerkennen denn auch die Herkunft unseres Seins und Denkens aus einem unerreichbaren Hintergrund, der uns nicht gehört und dennoch Anziehungspunkt von jedem logos und pathos wird. Entlang eines Wegs, der weder zu einer abstrakten Transzendenz noch zu einem Rückzug in den theogonischen Grund der Seele führt, ahnt der Logos eine Vorgän1
Vgl. AGAMBEN, Giorgio, Nudità, Roma 2009, 19–32.
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Einleitung
gigkeit voraus, ein ursprüngliches páthema, das ihn umstürzt, indem es Zeichen seiner Präsenz sichtbar macht: Weder vom Wissen ‹verschlungen› noch eine sakralisierte Unvordenklichkeit, fordert dieses sich positiv darbietende Prius eine spezielle Empfindungsfähigkeit für den Sinn und eine logische Intuition für das, was über jede Bestimmung hinausgeht. Sehr erhellend erweist sich in diesem Zusammenhang Odo Marquardt, der Schelling einen ‹Zeitgenossen inkognito›2 nennt: Seine Natur als vanishing mediator zwischen den Zeiten, die ihn zu einem aufmerksamen Beobachter des Endes einer Epoche und zum antreibenden Subjekt der folgenden gemacht hat, hat ihn zugleich eine kritische Haltung gegenüber der Gegenwart einnehmen lassen, was heutzutage, angesichts der sterilen Rationalität objektiver Verbindlichkeiten, beherrscht von Wirkungsursachen und einer abstrakten Form, die ihre Vitalität schwächt, weil ihr Erzählungen und mögliche Mythologien fehlen, eine Erfordernis darstellt. Solchen Geometrien des Logos und der Welt hat Schelling das Labyrinth eines Denkens der Freiheit als wahren Ursprungs gegenübergestellt, im Lichte eines Göttlichen, das als Leben und realer Prozess verstanden wird, das in der christlichen Gestalt seinen höchsten Ausdruck, nämlich den Ausdruck höchster Freiheit, findet. Die gesamte Wahrheit des Christentums konzentriert und offenbart sich für Schelling in der freien Person Christi, der einen freien Gott bezeichnet, den einzigen, der die Möglichkeit hat zu beginnen. Das schellingsche Verständnis des Ab-grunds [Deutsch im Original], von dem alle Dinge ausgehen, ein Raum der Kräfte und des Urchaos, der das Geheimnis Gottes und der Schöpfung der Welt bewahrt, erscheint als beharrlich richtungweisend auf dem dia-aporetischen Weg von Massimo Cacciari. Insbesondere die Frage nach der Realität der Freiheit verbindet die beiden Welten, die sich begegnen und gemeinsam in die nächtliche Zeit des Seins vordringen, selbst wenn es diejenige Gottes sein sollte. Es geht also darum, alles loszulassen und alles Vorausgesetzte zu beseitigen, um mit unschuldigem Blick zum Anfang zurückzukehren. Nur auf diesem Weg kann die Frage so radikal werden, dass sie das abgründige Problem des Unbe-dingten berührt, das keinem Ding gleichgestellt und auf keines zurückgeführt werden kann. Im italienischen Kontext ist Massimo Cacciari der Philosoph, der in den Bahnen des klassischen Wegs des Logos den bedeutendsten Versuch einer Untersuchung des enigmatischen Hintergrunds der Offenbarung ausarbeitet, indem er ihn als unmöglichen Anfang denkt, als absolute In-differenz, als Öffnung gegenüber jeder Möglichkeit und jeder Differenz, als widerständigen und ungreifbaren Weg, der sich entzieht, indem er sich offenbart. Die authentische Freiheit der Potenzialität des Seins besteht nicht darin, der entsprechenden Spannung zu folgen, sondern in ihrem Nichtsein-Können – frei von jedem Wollen, auch sich selbst zu wollen – wird der Anfang reine Indifferenz, die in sich, in der Ruhe ihrer All-Möglichkeit, jede mögliche Welt enthält.
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MARQUARDT, Odo, Schelling – Zeitgenosse inkognito, in: BAUMGARTNER, Hans Michael (Hg.), Schelling. Eine Einführung in seine Philosophie, Freiburg-München 1975, 9–26.
Einleitung
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Vor dem Hintergrund einer Ontologie, die durch eine konstitutive, dialektisch nie ganz synthetisierbare Antinomizität gekennzeichnet ist, richtet Cacciari den Blick auf den Akt der abgründigen und ursprünglichen Freiheit Gottes, auf seinen vitalen Grund, den heiligen Schoß des Mysterium Trinitatis. Die Omnikompossibilität des Anfangs kann einen Weg positiver Benennung des Vorausgesetzten schaffen, unter der Bedingung, dass in ihr kein Zwang der Manifestation sei, keine Notwendigkeit der Erschaffung oder des Übergangs zum Sein. In diesem Sinn will die Philosophie Cacciaris Ausdruck, Darstellung und Inszenierung des Dramas des Denkens und der tragischen Erfahrung sein, von der es sich nährt und sich authentisch am Leben erhält. Ohne sich der Notwendigkeit einer neuen metaphysischen Historisierung des Absoluten oder des trinitarischen Gottes zu beugen, indem er seine Spekulation verknüpft mit dem ‹unwiderruflichen› Geist der Philosophie der Offenbarung und den Weltaltern von Schelling, sucht er einen Zugang zu jener crux philosophorum, die eben das Denken des Anfangs ist, nicht als Ursache oder Antriebsmotor des schöpferischen Prozesses, sondern als ursprüngliche Entscheidung, die vor dem Vater kommt, die unterscheidet, ohne zu trennen, auf der Linie der Differenz, aber auch der Versöhnung des Göttlichen mit der Geschichte. Cacciari besteht darauf, die Offenbarung als eine Ent-hüllung zu begreifen, die ihr unenthüllbares Residuum bewahrt, das Nicht ihres Ent-hüllens behütet und ihr Offenbaren in den Spuren des Stillschweigens denkt, in denen sie ihren Ursprung hat, gleich einer Ikone, die auf ein unmöglich darzustellendes Jenseits verweist. Das Interesse seiner Ausgangsposition, die zugleich den riskanten und problematischen Punkt seines spekulativen Wegs darstellt, liegt also im Denken dieser Dialektik/Dramatik des Ursprungs und der Bestimmung, die der Freiheit des geschichtlichen Seins und der irdischen Kreativität ontologisches Gewicht zuerkennt. Sein Werk ist durchdrungen und geleitet – wenn auch im ständigen Bewusstsein seiner ungelösten und in der Schwebe befindlichen Bedingung – von der Entscheidung und der Emotion, Rechenschaft ablegen zu müssen über die Arbeit der Singularität, das heißt jenes Punktes der Gegenwart, der weder geglaubt noch erkannt, sondern nur vom Denken durchquert und angeregt werden kann. Und zwar von einem Denken, das darin versinkt und Bahnen gräbt, ohne sich deshalb einfach zu verlieren, aber auch ohne sich notwendigerweise wiederzufinden. Dennoch entspricht dieser Punkt der Singularität dem realen Raum des ‹Ausströmens des Logos›, der Möglichkeit seiner Bewegung in der Zeit: Das Absolute ist denn auch in der Tat ursprünglich inbegriffen in der Freiheit des fleischgewordenen Geistes, beteiligt am ‹Weltalter des Sohnes›, das sich geschichtlich entfaltet und das Endliche als Endliches darlegt. Massimo Cacciari will nicht vor der konkreten Singularität zurückweichen, indem er sich auf eine Zukunft oder einen über den Geschehnissen stehenden Himmel verlässt: Das anfängliche Versprechen vertraut radikal auf die kontingente Entscheidung der Söhne, auf ihre Freiheit der Übereinstimmung («Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt, auf der Erde Glauben vorfinden?», Lk 18,8), auf ihre Wahl der Agápe, in Erwartung eines radikal offenen Eschatons. Die geschichtliche und anthropologische Dichte dieses omnikompossiblen Ausgangs der
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Einleitung
Offenbarung – aufgrund derer nicht nur die Schöpfung, sondern auch der Geist stöhnt, in Erwartung einer Vollendung, aber auch eines jederzeit möglichen Scheiterns – bilden ein colloquium salutis zwischen Mensch und Gott, das noch tragisch unsicher, weder deduzierbar noch antizipierbar ist und jede vorherbestimmte ‹Heilsökonomie› beunruhigt, weil es den dunklen Schatten des Widerspruchs, des Unverständnisses, der Irrrede und des Zeugnisses für nichts über sie wirft. Während für Massimo Cacciari der Anfang in jenem Nicht-Seienden besteht, ‹das überhaupt ermöglicht, dass etwas bestimmbar ist›3, macht für Hans Urs von Balthasar dagegen der Ursprung grundsätzlich möglich, dass etwas liebenswert ist. Der Grund unseres spezifischen Interesses an der Perspektive Balthasars liegt darin, dass er trotz seiner grundlegenden Andersartigkeit im Vergleich zum philosophisch-politisch-kulturellen Hintergrund Cacciaris Fragen vorwegzunehmen, Probleme aufzuwerfen und Autoren zu rezipieren scheint, mit denen sich auch der venezianische Philosoph – wenngleich auf seine eigene Weise – lebhaft auseinandergesetzt hat. Das spezifische Element der Gegenüberstellung liegt in der Beziehung Balthasars zur Schule des deutschen Idealismus und dabei insbesondere zum Werk Schellings. Damit scheint jener unsichtbare Faden wieder aufgenommen zu werden, der Balthasar in einer untergründigen Bewegung von Verweis und Distanzierung, Intuition und Überdenken mit jenem unerreichbaren Prius verbindet, das im Philosophen des Idealismus – und auch in Cacciari – eine beherzte und ‹innige› Formulierung findet. Die Schelling’sche Spätphilosophie [Deutsch im Original] zeigt sich – ausdrücklich bei Cacciari, weniger explizit und unbestimmter bei Balthasar – als gemeinsame Matrix eines ‹Denkens des Göttlichen› im Lichte eines unerreichbaren und abgründigen Hintergrunds, in dem Gott selbst sich als Trinität entfaltet. Wir sind der Ansicht, dass die ‹neue› Frage über das Ursprüngliche, die Schelling vor allem in seinen letzten Werken aufwirft, den gemeinsamen Inspirator der interessantesten Entwicklungen zeitgenössischen philosophischen und theologischen Denkens vereint in ihrem Versuch einer spekulativen Wieder-Aufnahme der unbedingten Freiheit des Theion, der Unvordenklichkeit der Agápe sowie des Mysteriums des affektiven Ursprungs des Logos. Hans Urs von Balthasar bringt auf theologischem Gebiet scheinbar ein spezielles Interesse für diese Linie der Befragung des Vorausgesetzten zum Ausdruck, wenngleich in einem ungewissen Ton sowie in latenter und bedächtiger Form. Unseres Erachtens ist er der einzige Theologe des 20. Jahrhunderts, der die Tiefe dieser parallelen Strömung der theologischen Auseinandersetzung ausgelotet hat, welche die gegenwärtige philosophische Koiné heute wiederzuentdecken scheint in ihrer ganzen Neuheit und Fruchtbarkeit hinsichtlich der Frage nach Gott, nach dem Sein, der Geschichte und dem Menschen. Die Erkundung erfolgte anhand einer Fokussierung auf zwei spezifische kontextuelle Fragen. Die erste untersucht die ontologische, in der Offenbarung Gottes als Agápe implizierte Qualität. Trotz der Eindringlichkeit der theologischen Suche im
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CACCIARI, Massimo, Della cosa ultima, Milano 2004, 440.
Einleitung
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Umfeld des affektiven Fundaments der göttlichen Trinität hat die ‹philosophische Theologie› Mühe, eine Ontologie zu erarbeiten, die dem wesentlichen Verständnis des Gottes des Christentums gewachsen ist. Der theologische Diskurs riskiert daher hinsichtlich des fundamentum inconcussum der biblisch offenbarten Wahrheit ein übermäßig rhetorisches Abdriften oder einen ausschließlich spirituellen Widerhall, die nach einer verstärkt philosophischen und theologischen Reflexion verlangen. Die Überlegungen Balthasars beginnen und enden getreu der Überzeugung, dass ein in sich selbst inaffektiver Logos, der a priori Zuverlässigkeit und episteme, Welt und Transzendenz, Freiheit und Gnade, Wahrheit und Gerechtigkeit gewährleisten sollte, keine bedeutsame Potenzialität für die heutige Konfrontation von menschlicher Welt und biblischer Offenbarung besitzt. Deshalb gilt: Entweder der Logos enthüllt etwas vom Geheimnis seiner ursprünglichen und konstitutiven Verflochtenheit mit der Agápe, oder es gibt keine Versöhnung zwischen den beiden, sondern nur den für alle destruktiven pólemos sowie gegenseitige Übergriffe, die sich um keine Sinnfrage kümmern. Entweder zeigt Agápe ihre enigmatische Zugewandtheit dem Prius gegenüber, der das Ausströmen des Logos aus dem Unbestimmten des Chaos hervorbringt und rechtfertigt, oder es gibt keine mögliche Ordnung der Affekte: weder eine Ethik, die sich daran orientieren könnte, noch eine Pietas, die sich der Unsinnigkeit eines bloß prozeduralen Nómos oder eines rein despotischen Mythos entgegenstellen könnte. Das Thema der Agápe kann also nicht nur als eine affektive Ergänzung zur Problematik des metaphysischen Fundaments abgehandelt werden, um ihr stillschweigend die Vereinbarkeit mit der Offenbarung anzuvertrauen, welche die Theorie nicht mehr imstande ist spekulativ in intellektuell erfassbarer Weise und für den Glauben ehrenhaft zu behaupten. Die Offenbarung der Agápe bringt das Ausströmen des Logos – als Sohn – aus dem ontologischen Kreis eines Göttlichen ins Spiel, den die metaphysische Tradition in die vollständige Fremdheit/Immunität getrieben hat, aus den Logiken des pathos und den Kräften der Intentionalität/Relationalität, die der Konstitution der Liebe als Ereignis innewohnen – weder auf das Gesetz noch auf das Sein zurückführbar. Die zweite kontextuelle Frage führt daher zu den Bedingungen der Denkbarkeit der Verbindung von Zuneigung und Fundament, indem unkonventionelle Anregungen erkundet werden, die sich im Rahmen des zeitgenössischen Neuaufkommens sowie – im italienischen Kontext – der radikal ontologischen Fragestellung ergeben. Die Analyse von Balthasars Denken beabsichtigt, seinen Versuch auszuleuchten, eine Idee der Wahrheit wiederzugewinnen, in der Immanenz und Transzendenz auf konstitutive Weise verbunden sind in einer Dialektik von Austausch und gegenseitigem Verweis, in einer unüberwindbaren und nicht anpassbaren Rekomposition von Andersartigkeit und Konkretheit: In diese Richtung tendiert die Metaphysik, auf dem Weg über Thomas von Aquin und vor allem Schelling, sich auf die Idee des Primats der Freiheit und der Liebe ohne Fundament zu konzentrieren. In dieser Bewegung des Seins und des Denkens stellt sich Hans Urs von Balthasar auf eine radikal innovative Linie des Gott-Denkens, in der die Vernunft, eingetaucht in das Staunen und die dem Risiko ausgesetzte Verwunderung über ein solches Unterfangen, sich in dem Moment
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Einleitung
selbst erkennt, in dem sie den Mut findet, sich zu verlieren beziehungsweise einzusinken in den Anfang und das Ende, aus denen allein sie wiedergeboren werden kann. Eine Unruhe gleich einem Schauder ergreift sie in diesem Gestus, der die Linearität ihrer traditionellen Pfade erschüttert und jede Bestimmtheit erzittern lässt, ihrer Fixierung entreißt und sie dem öffnet, was nicht ist. Genau in diesem Sinn können sowohl Balthasar als auch Cacciari im Fahrwasser Heideggers bestätigen, dass die metaphysische Frage ausgehend von ihrer originären Bedeutung als Frage nach dem Ursprung und der Bestimmung der Welt neu formuliert werden muss: Die ‹Metaphysik der Schwelle› zeigt sich bereit, wieder aus den biblischen und patristischen Quellen, aber auch aus denen des Mythos zu schöpfen, um von Neuem sensibel zu werden für die Dialektiken des Lebens und des Sinns, zwischen Wort und Schweigen, anfänglichem Dunkel und dem fiat lux, das alles werden lässt. Das Denken des Philosophen und des Theologen ist demnach durchquert von einer grundlegenden Spannung, die das zeitgenössische Bewusstsein, insbesondere das christliche, noch immer in Schwingung zu versetzen vermag, im Bewusstsein der Tatsache, dass es sich nur am Leben erhalten kann in Bezug auf originäre Geschichten der Vereinigung und der Filiation, der Anerkennung und der Generation, des Muts und der Gerechtigkeit, deren lebendige Symbole in jenem Unausgedrückten graben, das Quelle jeden Ausdrucks ist. Die Wege, die auf diachronische, antinomische und exzentrische Weise von den beiden Autoren mittels zweier scheinbar unermesslicher Diskurse durchlaufen werden, zeigen auf, dass sie den Initialpunkt des notwendigen Übergangs erfasst haben. Die Grundtatsache ist immer dieselbe, für die Theologie unserer Epoche: Die glücklich zurückgewonnene christologische Fokussierung des Mysterium Gottes verfügt über keine adäquate Ontologie, weder vom Gesichtspunkt christlicher intellektueller Durchdringung noch vom Gesichtspunkt der Fähigkeit einer Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen philosophischen Horizont aus. In einer noch spezifischeren und für unsere Epoche typischen Weise findet die Ontologie der offenbarten Liebe, für die eine christliche Theorie notwendig wäre, in der griechischen Doktrin der Substanz und in der modernen Philosophie des Subjekts keinen Schlüssel der Übereinstimmung, wie er zwischen Sein und Affektion erforderlich ist. Die Durchführung der doppelten Aufgabe bedarf sicherlich – und das ist neu in vielen gegenwärtigen Studien – der Wiederaufnahme einer tiefen Auseinandersetzung mit der großen klassischen Tradition des christlichen Denkens, an die allerdings zweckmäßige Fragen zu richten sind. Das Augenmerk auf das, was aus dieser Vergangenheit noch un-gelebt bleibt, bedeutet in der Tat zeitgenössisch zu sein, beziehungsweise sensibel für die Beziehungen zwischen den Zeiten, aufmerksam auf ihre inneren Regungen, fähig, deren Prophezeiungen und Vorankündigungen zu beobachten. Andererseits ist es ebenso wichtig, dass die Wiederaufnahme dieser Auseinandersetzung schöpferisch und nicht regressiv ist: Wenn die Form des Zugangs zur Gegenwart, wie beide Autoren uns lehren, im Undenklichen verborgen ist, bedeutet das nicht, im Ursprung verschlungen zu werden, ohne Möglichkeit eines neuerlichen Ge-
Einleitung
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sprächs. Wir sollen nicht wieder in den Schoß einer vergangenen Welt zurückkehren. Vielmehr müssen wir intellektuell und spirituell aus ihr wiedergeboren werden, um uns vermehrt dem anzugleichen, worin wir leben, um uns in einer Gegenwart wiederzufinden, die wir noch nicht bewohnt haben. Es handelt sich in diesem Sinn nicht um eine willkürliche Gegenüberstellung, eine Zitierung oder einen ‹unmöglichen Dialog›, sondern um ein Erfordernis, der man heute das Gehör nicht verweigern kann. In Bezug auf dieses Erfordernis stellt die Philosophie Cacciaris den schwierigen, aber notwendigen Gesprächspartner dar, den Ausdruck einer unausweichlichen Auseinandersetzung, gerade in ihrer Unfügsamkeit. Sein modus cogitandi hat auf die theologische Arbeit und das Christentum selbst jene klärende Wirkung, die in der Lage ist, sie aufzurütteln, miss-zu-verstehen, zu verwirren und damit wiederzubeleben, indem er sie immer wieder (und mitunter hart) dazu aufruft, sich nicht auf den eigenen vorbestimmten Bedingungen auszuruhen, sich nicht der Linearität eines angenommenen und endgültigen Glaubens zu überlassen, sich letztlich nicht dem Licht einer Hoffnung ohne Unmöglichkeiten, Tumulte, vitale Ereignisse zu ergeben. Gleichzeitig kann es aber auch nicht darum gehen, sich einer genauso unwiderruflichen Verzweiflung oder der Rhetorik eines Pessimismus ohne Erwartungen und Vorgefühle zu überlassen. Der Philosoph verlangt vom Gläubigen, eine Wahrheit auszuhalten, die immer weiter gesucht werden muss, die weder besessen noch geopfert werden kann, im allgemeinen Bewusstsein, dass wir in der Zwischenzeit «in einen Spiegel [schauen], und nur rätselhafte Umrisse [sehen]» (1 Kor 13,12). Sein Blick, auf das Dunkel des Anfangs ebenso wie der letzten Dinge gerichtet, zeigt sich schließlich imstande, die überhellen Lichter unserer Zeit auszuschalten, um dem Schatten jener Zeit zu begegnen, die nie einfach nur Präsenz ist, die in der Geschichte und in den Geschichten pulsiert und sie notwendig macht, sie begleitet, erschüttert und sie zukunftsträchtig macht, ohne jemals festgehalten und vollumfänglich zum Ausdruck gebracht werden zu können. Sowohl der theologische Weg Balthasars als auch der spekulative Pfad Cacciaris bringen eindringlich das Bedürfnis zum Ausdruck, die Vernunft zu sensibilisieren – ein Problem, mit dem sich schon Kant in seiner transzendentalen Ästhetik in revolutionärer Weise auseinandergesetzt hat. Bei beiden nimmt dieser Gestus die Bedeutung an, sie in einem gewissen Sinn an ihre Ursprünge zurückzuführen: an den Punkt, wo Intellekt und Sinn nicht geschieden sind, sondern vor einem einheitlichen Hintergrund und in einer uneinnehmbaren gemeinsamen Wurzel miteinander verflochten sind. In jenem Unvermeidlichen – einer (unmöglichen) Agápe –, dem kein Logos am Ende widerstehen kann.
ERSTER TEIL
DAS DEM LOGOS VORHERGEHENDE Befragung des Anfangs in der Philosophie von Massimo Cacciari
Kapitel 1
1. Das Wagnis des Logos Eine intensive Faszination – die, die den wahren und schwierigen Herausforderungen innewohnt – ergreift denjenigen, der dem spekulativen Weg Massimo Cacciaris folgt. Dieser Effekt stellt sich vor allem angesichts des Hauptwerks der spekulativen Reife ein, in dem er sich dem erhabensten Wagnis stellt: dem nämlich, dem Schweigen des Logos Sprache zu verleihen, um das Dunkel, das vor allem Anfang herrschte, zumindest blitzartig zu erleuchten. Der Gestus des Philosophen erscheint hier radikal in seinem beharrlichen Willen, vom Sinn Gottes, des Menschen und der Welt zu erfahren – ein Gestus, die zwar von seinem Wahnsinn, aber auch von seiner Berechtigung überzeugt ist. Da wo die Metapher von Licht und Erleuchtung den Weg prägt, auf dem die westliche Metaphysik, die die dunkle Verschwommenheit des Mythos hinter sich lassen wollte, ihren Ausgang nimmt, befragt Cacciari hingegen das Dunkel, das der Schaffung der Welt vorausgeht: den dunklen, tiefen Grund, dem in einem gewissen Sinne auch das fiat lux der Schöpfungsgeschichte entspringt4. Die Dunkelheit war schon für die alten Griechen nicht einfach ein Ort des Verlusts und der Verständnislosigkeit, der Blindheit und Ignoranz, sondern auch ein uranfänglicher, lebensspendender Schoß, ein rätselhafter Raum, der die Wahrheit selbst enthält, bevor sie offenbart wird, aus dem Verborgenen dringt. Die Aletheia entspringt aus der Lethe, das Licht dringt aus dem Dunkel wie aus einem ursprünglichen Zentrum, das in der Lage ist, seine Vergangenheit zu bewahren und jede zukünftige Entfaltung zu kennen, wie ein dunkler, unendlicher Grund, vor dem die Welt sich abhebt, erhebt, mit Licht erfüllt. Es geht also darum, wie die nächtliche Zeit der post-metaphysischen Epoche gelebt wird. «Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittag angezündet werden?», lässt Nietzsche den tollen Menschen fragen5. Wir können uns ihren Albträumen hingeben, als wären sie zu verehrende Götzen, ohne vergebliches Warten auf den Tag. Oder wir können, auf den Spuren von Juan de la Cruz, der Nacht in Liebe zugetan sein, indem wir uns einfach ihrem nicht greifbaren Geheimnis anvertrauen: «Oh Nacht, die du mich führtest, oh Nacht mir holder als die Morgenröte!»6.
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«Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis» (Gen 1,1–4). NIETZSCHE, Friedrich, Die fröhliche Wissenschaft, München 1959, 166f. JUAN DE LA CRUZ, In einer dunklen Nacht, in: GEORGE, Stefan, Gesamtausgabe in 18 Bd., Berlin 2014, 680.
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I. Das dem Logos Vorhergehende
Eben dieser auf das anfängliche Dunkel gerichtete Blick, der sich in die abgründige Frage des Beginns begibt, veranschaulicht die philosophischen Überlegungen Cacciaris, insbesondere in den Schriften, die sich auf die wesentlichen Punkte der Ontologie konzentrieren, und von der Re-Konversion des Denkens zur Theologie gekennzeichnet sind. Die Originalität dieser Rückkehr, inmitten der anti-metaphysischen und antifundamentistischen Postmoderne, lässt sich bei einer ersten Annäherung in der Dringlichkeit einer philosophischen Frage feststellen, die, um wirklich radikal zu sein, über die schon gelöste – onto-theologische – Identität Gottes und des Ursprünglichen hinausweist. Zudem führt uns die radikale Frage nach dem Anfang über die schon konstituierte Identität Gottes hinaus. Der Anfang ist nicht einfach mit dem Beginn des Wesens gleichzusetzen; aber auch nicht mit der Bestimmtheit von Gott. Beide Identitäten, obgleich vorausgesetzt, müssen problematisiert werden: Der radikale Ort der Frage führt notwendigerweise darüber hinaus. In dieser Hinsicht führt die Befragung auf der einen Seite über die von der Formel Deus sive natura gegebene klassische Überlagerung (oder alternative Gegenüberstellung, die aber einen äquivalenten Fokus hat) hinaus. Auf der anderen Seite nimmt sie den gemeinsamen Zug, der unter dem Gesichtspunkt des absoluten Ursprungs der Theogonie und der Kosmogonie innewohnt, in die philosophisch-rationale Frage nach dem Sein wieder als legitim auf. Die Überlagerung von Natur und Göttlichem, in Bezug auf das Thema des Anfangs aller Dinge, ist ein charakteristischer Zug des ältesten archaischen Mythos vom Ursprung. Die Kosmogonie ist nach wie vor ein philosophisch interessantes und erfassbares Thema. Mehr noch: Sie ist sogar der eigentliche Ort der Frage nach dem Ursprung. Die Theogonie hingegen, verwässert im Labyrinth der endlosen Generationen, welche die griechische Enzyklopädie der ‹Göttergeschichten› stifteten, wurde aus dem Logos der neuen Philosophie ausgeschlossen. Im Göttlichen stellt sich die Frage nach dem Ursprung nicht mehr. Das Göttliche ist per Definition der letztendliche Ort der Versöhnung: Es ist nicht der höchste Ort der Frage, sondern die Voraussetzung für ihre Auflösung. Die Beziehung zum Ursprung findet in der Beziehung zum Göttlichen ihre Lösung. Auf diese Weise verklingt die Frage nach dem Ursprung sozusagen, kehrt in den Schatten zurück, wie eine vorübergehende Kräuselung, die sich gleich wieder glättet. Folglich werden alle fundamentalen Fragen in den Bereich eines in der ewigen Ansiedelung des Göttlichen seit jeher bestimmten Prinzips befördert. Sie neigen dazu, sich aufzulösen in Problemen der Kohärenz, der Wiederversöhnung, der Wiederzusammenfügung mit dem göttlichen Ursprung. Ein solcher Ursprung ist per Definition nicht transzendierbar und unwandelbar: deswegen auch außenstehend, also den – begeisternden und dramatischen – Figuren der Seinsentscheidung, nicht zugehörig. Eben dieses Moment, das im Herzen des reinen Ursprungs sein müsste – der radikale Anfang, die absolute Freiheit – wird ihm radikal entzogen. Ein – an sich paradoxaler – Gedanke von der Grenze des Denkens, berührt derjenige vom absoluten Ursprung notwendigerweise den Anfang und das Ende. Gerade an der Wurzel dieser Extreme sucht er sich selbst. Die Hartnäckigkeit des Wissenden, der an eben dieser Grenze verweilt und sich nicht von ihr abwenden kann, ist eine milde Manie (oder ein klarsichtiger Wahnsinn), die in einer fernen (langen) Zeit den
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Göttern am Herzen lag. Die antinomischen Überlegungen Cacciaris verharren im Clinch mit dem Unsagbaren, der eigensinniges Wagnis und beschwörende Meditation zugleich ist, im Bewusstsein des Un-Orts der erschöpfenden Antwort. Er fasst im Übrigen die gesamte Philosophie als «Anamnese des Undenklichen» auf7: ein tragisches Unterfangen, dem Unsagbaren einen Namen zu geben, das in verbum zu entlassen, was nach Schweigen verlangte. Das Überdenken des unverlierbaren spekulativen Zugs des Mythischen – und sogar des Mystischen – will jedoch, in Bezug auf das Bewusstsein um die Formel der Frage, die der Logos erreicht hat, keinerlei Zug einer Regression aufweisen. Die Philosophie wird wirklich zur platonischen Erfahrung der Verbindung von Eros und Logos. Keine Bußübung des Agnostizismus zugunsten einer intellektualistischen und formalen Ratio; aber auch kein sacrificium intellectus zugunsten eines undifferenzierten vitalistischen Pathos. Im Kontrast zu Heideggers Auslegung der Geschichte der Metaphysik als Entwicklung der einfachen Präsenz haben wir es hier mit der theoretischen Ablehnung jeder flüchtigen Eskamotage zu tun, wie etwa den Rückgriff auf einen Apophatismus, der die Frage nach der Präsenz neutralisiert, indem er sie in den reinen Logos der Abwesenheit umwandelt und in ihm auflöst. Der Kurs bleibt beharrlich auf dem abgründigen – aporetischen, widersprüchlichen, aber gerade dadurch logischen und epistemischen – Geheimnis einer An-/Abwesenheit des Ursprungs, der sich zeigt und doch ständig entzieht. Das Denken erträgt die völlige Dunkelheit der Abwesenheit nicht und weiß, dass es sich mit keiner lichten Präsenz zufriedengeben kann: Es muss dennoch sein Wagnis eingehen, und zwar genau am Verbindungspunkt der beiden – es ist gerade ihre Trennung, die dies ankündet. Und es muss in diesem Moment und bei diesem Akt um die Unmöglichkeit eines entscheidenden Erfassens des Seins wissen, das sich in der perfekten Wiederzusammenführung mit dem Ursprünglichen auflöst. Eine Ankunft würde zu den Toren des Nichts führen.
2. Vom Anfang: dramatis cogitatio Die Notwendigkeit, die Frage nach dem Anfang zu stellen, ist zusammen mit der logischen Unmöglichkeit ihrer Auflösung, die crux philosophorum: Sie nagelt das Denken an seinem Widerspruch fest. Auch Aristoteles beharrt auf der Notwendigkeit, das Negative zu durchlaufen: «Denn für die richtige Einsicht ist gründlicher Zweifel förderlich, indem die später sich ergebende Einsicht die Lösung der früheren Zweifel ist, und die man nicht lösen kann, wenn man den Knoten nicht kennt. Der Zweifel aber im Denken zeigt diesen Knoten in der Sache an; […] Man muß deshalb vorher alle Schwierigkeiten in Betracht gezogen haben, sowohl aus dem be-
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CACCIARI, Quali interrogativi la scienza pone alla filosofia? Conversazione con Massimo Cacciari, in ALFERJ, Pasquale, PILATI, Antonio (Hgg.), Conoscenza e complessità, Roma-Napoli 1990, 164.
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reits ausgesprochenen Grunde, als auch weil man bei einer Forschung ohne vorausgegangenen Zweifel den Wanderern gleicht, welche nicht wissen, wohin sie zu gehen haben»8.
Da wo für Aristoteles der Weg des Zweifels und der Negation zur «guten letztendlichen Lösung» führt, die in der «Auflösung aller Schwierigkeiten» besteht9, sieht der dissós logos des spekulativen Wegs von Cacciari keine höhere Synthese vor, die im stufenweisen Erkenntnisprozess die vorherigen Aporien auslöscht. Der Kampf sieht keine Aussöhnung vor: «Es gibt keine manía und dann den unbeirrten Logos, der wahrheitsgemäß ‹prophezeit›, sondern eine manía poietiké, die eine Gunst der Muse ist. Eine Gunst, durch die mir nichts mehr als dissós erscheint»10. Es handelt sich dabei um eine typisch Husserl’sche philosophische Manie, die den Weg zu leiten und den pólemos im Umfeld der Idee vom Anfang aufrecht zu erhalten scheint. Sie zielt auf jegliches spontanes Vorverständnis ab, auf jede einfache Assimilation des Denkens, um sich einem unwirtlichen Land zuzuwenden, in dem der immanente Zweifel zur Form des Fragens an sich wird. Felix Duque schreibt: «Aber warum ist es notwendig, so hartnäckig und beharrlich etwas zu verfolgen, das, kaum versucht man es in Gedanken zu fassen, sich in etwas Undenkbares verwandelt, in etwas, das sich jedem Denken entzieht? Wie kann das Denken etwas akzeptieren, was ihm völlig unannehmbar ist? Und dennoch, warum soll es nicht akzeptiert werden, wenn das Denken – vorausgesetzt, man führt es bis zum Letzten – sich verpflichtet fühlt, ständig zu diesem letzten Grund, dem Einen, zurückzukehren? Ohne die Annahme der unfassbaren Idee des letzten Grunds gibt es kein Denken»11.
Die notwendige Untersuchung des philosophischen Logos erweist sich also als grundsätzlich unerfüllbar, das heißt, ihr ist eine nicht-endgültige Antwort beschieden, die von einem Anfang stammt, der uns nicht angehört. «Vox ex silentio … das wäre die philosophische Berufung»12. Schon seit Platons Parmenides und bis zu der spekulativen Linie, die Plotin mit Schelling verbindet, über Eckhart und Cusanus, gibt es für Cacciari eine karstige Strömung der abendländischen Ratio, die sich als Alternative zu Kants Schweigegebot bei etwas, worüber man nicht sprechen kann – auch das allerdings unruhig erfüllt vom Gedanken des Unerreichbaren –, nicht damit abfindet, den Einen als nicht vom Logos gegeben zu denken. Und weiterkämpft, im Bewusstsein ihres Schei8
ARISTOTELES, Metaphysik, Buch III, Kapitel 1 (995 b). Cacciari stellt allerdings im ‹zweiten Tag› des Werks Della cosa ultima fest, dass auch Aristoteles in seiner Untersuchung der Frage des Anfangs an die Arché mit einer ‹anderen› Kausalität zu denken scheint als die der anderen Ursachen, und einen Unterschied zwischen dem übersinnlichen Prinzip und dem Ersten Beweger von allem feststellt. In dieser Richtung würde auch die aristotelische Wahrheit eine reale ‹Dramatik› zwischen dem Einen und der Mannigfaltigkeit der Seienden feststellen, die den Sinn des ápeiron nicht vergisst und auf anderes anzuspielen scheint, an «‹etwas›, das das Denken ‹erleidet›, ohne es ‹lösen› zu können» (CACCIARI, Della cosa ultima, 40). Vgl. dazu auch CALDARONE, Rosaria, Eros decostruttore. Metafisica e desiderio in Aristotele, Genova 2001. 9 ARISTOTELES, Metaphysik, Buch III, Kapitel 1 (995 a). 10 CACCIARI, Dell’Inizio, 243. 11 DUQUE, Felix, La radura del sacro, Milano 2007, 12. 12 CACCIARI, Della cosa ultima, 100.
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terns: «Es gibt eine manía, die dem Logos innewohnt, welche ihn dazu drängt, vom Unsagbaren zu sprechen, die ihn in seinen ‹Ruin› treibt (der Begriff ist bei Proklos immer noch ‹apóllymi›, und von Apollo kommt die schreckliche Gabe der Mantik). Unser Logos ist wie in dauernder Erfülltheit mit dem Unsagbaren (De principiis, I, 86)»13. Die Tiefe der Übergänge, die durchlaufen werden müssen, hängt nach Cacciari vom Maße ab, in dem jeder von ihnen sich in der Lage zeigt, in die vitalen Mächte des Ursprünglichen einzudringen, sich von ihnen nährt und sie verkörpert, ohne sie sich anzueignen oder sie in die Ansprüche einer deduktiven und systematisierenden Vernunft einzusperren. Man erahnt, wie die hýbris eines allumfassenden Idealismus das gefürchtete Gespenst bleibt, der Schatten, der jeden Gedanken an das Vorausgesetzte begleitet14. Das Denken wird von einer Kraft angestoßen, die es in seiner Unverfügbarkeit übersteigt, es stört, indem es ihm sein Elend spüren lässt. Doch es handelt sich um «eine fruchtbare Benommenheit, um einen Schlangenbiss, der uns ein wohltuendes pharmakos einflößt» 15 , der uns unserer Sicherheiten beraubt, uns den Unterschlupf nimmt, uns fragend, fiebernd, staunend macht. Es ist der Eros des Denkens, der – sokratisch – eine gewisse Fruchtbarkeit des Erniedrigt-Werdens empfindet und die Enttäuschung angesichts des Nicht-Wissens als Initiation in die Erkenntnis auffasst. Dies erscheint schließlich als die eigentliche Aufgabe des Philosophierens: das Undenkbare denken, in der konstanten Spannung zwischen Sagbarem und NichtSagbarem (Wittgenstein), im Gegebensein der Wahrheit, aplós, die nicht durch eine entscheidende darstellerische Fähigkeit vermittelt werden kann (Benjamin). Es hat keinen Sinn, die Verzweiflung über die Unerreichbarkeit des Ursprungs zu verbergen (Kafka). Allerdings ist es fruchtlos, sich davon lähmen zu lassen und sich zu weigern, einen Zustand des Denkens zu akzeptieren, der seine Rettung nur innerhalb einer Erfahrung von Migration-Aufgabe konzipiert (Rosenzweig). In jedem Fall führt dieses Trauerspiel [Deutsch im Original], welches das Leben ist, weder zur Lösung noch in die Verzweiflung: Es handelt sich wohl eher um unendliches Offenbaren, ein Problem, das sich ohne Ende jeder neuen Generation stellt (Bazlen). Die Aktion kann das hinter ihr lauernde Gespenst nicht ignorieren, auch nicht die endlosen Handlungen, die jede Entscheidung konditionieren innerhalb einer Ordnung, die nunmehr zerbrochen
13 CACCIARI, Dell’Inizio, 79. 14 Wenn Cacciari über das ‹neue Denken› Rosenzweigs redet, stellt er den bewussten Anti-Hegelianismus des Autors von Der Stern der Erlösung und seinen ausgeprägten Hang zu Schelling fest. «Er richtet sich am Angelpunkt des ‹neuen Denkens› aus: Das heißt an der Beziehung zwischen Vorausgesetztem und erzählender Philosophie. In Die Weltalter erzählt die Philosophie vom Vorausgesetzten, das von Gott, dem Menschen und der Natur gebildet wird. Ein Vorausgesetztes, das jedem Ansturm der ‹Flamme› des Denkens widersteht, ein unbesiegbares Zentrum, das die Welt fest hält gegenüber dem Geist, der keine Ruhe kennt. Ohne die Kraft dieses Vorausgesetzten hätte der Geist seit langem die Welt zunichte gemacht. Das Denken des Vorausgesetzten reagiert also auf den Nihilismus, der zum ‹Willen nach Vermögen› der unbedingten Subjektivität des Idealismus gehört» [CACCIARI, Icone della legge, Milano 2002 (neue, durchgesehene Ausgabe), 22]. 15 CARCHIA, Gianni, L’amore del pensiero, Macerata 2000, 37.
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scheint (Hamlet). Für den Philosophen ist der beste Ausdruck der Tragödie der unaufhörliche Kampf gegen die Grenzen und die Geschichte der eigenen Sprache, gleich einer Mauer, gegen die er mit dem Kopf stößt (Kraus, aber auch Berg) oder der Strudel eines verstörenden und schmerzlichen Scheiterns (Nietzsche). An genau jenem Punkt, an dem jedes Wort ohnmächtig ist, das Sein zu sagen, siedelt sich der Philosoph an und befragt die Ursachen – und schließlich die eine Ursache: Genau dort will er unerschütterlich verharren. In dieser Lage muss er akzeptieren, ein Denken der gebrochenen, ewig ungelösten Töne zu leben, wo Beteiligung und Entfremdung eine merkwürdige Landschaft bilden. Die stets von Unruhe erfüllte Sprache der Philosophie fühlt sich un-heimlich [Deutsch im Original], im Exil, niemals zu Hause16. Noch weiter versetzt, radikal ‹de-platziert› befindet sich im Übrigen der theologische Diskurs. Das philosophische Fragen erhält so in Cacciari eine dramatische Bedeutung, derer man sich immer gewahr sein muss, um das Rätsel seines Beharrens zu erschließen. Es geht nicht darum, Ruhe in endgültigen Lösungen zu finden, Sicherheit schenkende Wege zu beschreiten, sondern unvorhersehbare Wechselfälle auf sich zu nehmen und mit dem Denken fortzufahren, durchbohrt von ungelösten Fragen17. «Und doch fragt man. Die Notwendigkeit der Frage findet ihre Entsprechung allein in der Unmöglichkeit der Antwort. Sie – das Fragen und das Antworten – erscheinen nicht mehr als Elemente der gleichen Dimension. Die tägliche Gewohnheit, sie als einen einzigen Kon-text aufzufassen, die Trägheit, welche uns dazu drängt, sie in eine ‹logische› Reihenfolge zu bringen, bricht entzwei. Sie werden zu zwei unermesslichen Begriffen. Man fragt nicht, wieso eine Antwort möglich ist, und auch nicht, warum man dem Fragen einen Sinn, ein Ziel, eine ‹Macht› verleiht. Man fragt einfach. Die ‹Wahrheit› der Wüste ist jene des absoluten Fragens»18.
Diese ‹Barmherzigkeit des Denkens›, die an die tiefe Würde des reinen Befragens glaubt, in der die Frage nicht in der Notwendigkeit einer Antwort lebt, ist die ‹wandelnde Wurzel›, die jeden Schritt der Suche Cacciaris begleitet: Die konstante Erfahrung vom Auszug aus jeder repräsentativen Beständigkeit, aus jedem erzwungenen
16 «Tragödie heißt, der Notwendigkeit jener Wurzel zu entsprechen, die rufend ent-reißt. Weder die Einsamkeit noch die Wüste stellen an sich das Tragische dar, sondern allein die Anerkennung ihrer Notwendigkeit. Keine Theorie setzt ihnen noch ein Ende. Die klassischen Wechselfälle haben sich in Migration, Exil, Auszug verwandelt, wo jeder Moment das ‹Nun›, der Augenblick des siegreichen ‹Aber› sein könnte, vor allem jedoch als fortwährendes Scheitern dieser Möglichkeit existiert.» (CACCIARI, Icone della Legge, 46). 17 Wie Magliulo beobachtet, zeigt sich hier «besonders deutlich das topos, das wesentlich ist für das Verständnis von Cacciaris Weg, der zwischen den tragischen Wechselfällen und gewissen sicheren Wegen unterscheidet, vor dem Hintergrund von Lukács Interpretation der Philosophie der griechischen Tragödie» (MAGLIULO, Nicola, Un pensiero tragico. L’itinerario filosofico di Massimo Cacciari, Napoli 2000, 31). Kafka wird zur Ikone des tragischen Kerns, in dem sich auch Rosenzweigs Irreligiosität erfüllt, ihren Tiefpunkt erreicht und die Krise der theologischen-religiösen jüdischen Tradition aufzeigt: Kafka «ist über diese Tradition hinausgegangen, bei der Abwesenheit von Wegen, die zum Ziel führen, mit seinen absoluten, reinen, überflüssigen, nutzlosen, ziellosen, einfach nur notwendigen Fragen» (Ebd., S. 32). 18 CACCIARI, Icone della legge, 61.
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Willen nach onomazein. Im Gegenteil: Die philosophische Form nährt sich gerade aus dieser schwierigen, strengen Suche nach Gleichgewicht. Wie kann man «gläubige Fragende sein, an die veritas indaganda glauben, ohne sich dessen bemächtigen zu wollen, was man andauernd befragt? Ohne es opfern zu wollen? Ist es möglich, immerzu das zu befragen, was nicht antwortet, was jede mögliche Antwort übersteigt, ohne es am Schluss töten zu wollen?»19 Das ist also sein spekulativer Stil, entschlossen nicht zu über-treiben, die Spannung zu bewahren und wie auf einem gespannten Seil über dem Abgrund des Fragens zu wandeln.
3. Der Tod, die Frage nach dem Anfang Vom Tode – «Vom Tode, von der Furcht des Todes, hebt alles Erkennen des All an»20. Die Philosophie, hebt Cacciari in seinem Kommentar von Rosenzweigs Der Stern der Erlösung hervor, glaubt sich von diesem Grabesschatten befreien zu können, von der «düsteren Voraussetzung eines jeden Lebens», deren nicht auszulöschende Präsenz über den Ansprüchen von Unbedingtheit des philosophischen Wissens schwebt. Eine unüberwindbare Voraussetzung, die niemals in ihrem Prozess subsumiert, niemals von einem totalisierenden Denken aufgehoben werden kann. Das philosophische System – das die Ideen, welche es hervorbringt, zu absoluten macht und seine Hypothesen in Axiome verwandelt – muss überwunden werden: Ein «neues Denken» ist nötig, das fähig ist, die Irreduzibilität der Voraussetzung zu erfahren. Rosenzweig ist für Cacciari derjenige, der ein kreatürliches Denken [Deutsch im Original] einleitet, der empfänglich ist für die Endlichkeit seines Verlaufs und aufmerksam den ersten drei «großen Erlebnis-Blöcken»21 – Gott, Mensch, Welt – in ihrem Erscheinen und Zusammentreffen lauscht. Es ist das Zeitwort [Deutsch im Original], das den Weg beider Denker kennzeichnet: das Wort, das die Zeit erzählt, das sich in den Beziehungen, welche das unendliche Wagnis der Freiheit zu öffnen weiß, aufgenommen fühlt, das sich nicht auf die Frage: ‹was-ist-das› versteift, das verlangt, autonom zu antworten. Dieses Zeit-Wort bringt die Religion der reinen Vernunft, die den Schatten des Vorausgesetzten entfernt, in Schwierigkeiten. Es erkennt im Gegenteil an, Ausdruck der Migration, einer 19 CACCIARI, Filosofia e teologia, in ROSSI, Paolo (Hg.), La filosofia, vol. II, Torino 1995, 404. 20 ROSENZWEIG, Franz, Der Stern der Erlösung, Freiburg im Breisgau 2002, 3. Rosenzweigs Opus magnum setzt beim Tod an und im Denken des jüdischen Philosophen auch jede andere mögliche Frage über den Sinn des Daseins. Cacciari ist der Ansicht, dass sich diese Voraussetzung nicht entfernen lasse, dass sie nicht, wie in der Logik des Idealismus, eingeschlossen oder subsumiert werden können. Jede Philosophie ist jedoch ihren eigenen Weg gegangen im Versuch, das Vorausgesetzte zu überwinden oder zu verdrängen. «Es geht hier hingegen darum die Motive vollkommen zu verstehen, die Geschichte und die Formen, die ‹Konversionen› und Übergänge zu erzählen, bis zum Tor [Deutsch im Original], wo das Werk endet» (CACCIARI, Icone della legge, 14). 21 BONOLA, Gianfranco, Franz Rosenzweig ai lettori della ‹Stella›, Einführung in ROSENZWEIG, Franz, La Stella della redenzione, Milano 2005.
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unruhigen Sprache zu sein, die nie die eigene ist, in jeder Epoche: «Es öffnet sich der Abgrund der aitia, der arché. Kein Wort scheint mehr direkt auf etwas hinzudeuten – sondern nur diese aitia scheint ihm Bedeutung zu verleihen, dieser Grund, der von Grundlage zu Grundlage auf die Unaussprechlichkeit verweist, auf das Schweigen des Ursprungs»22. Die vielen Namen des Unum bringen es unverzüglich über das Es hinaus und eben auf diese Weise erlauben sie uns, das Wort von der Hybris zu befreien, die das Absolute in vollendeten Kategorien und Sprachen «festhalten» will. Jeder Weg des Geistes hin zum Anfang ist aufgerufen, aus der Notwendigkeit heraus, die Züge der docta ignorantia anzunehmen: in der Aporie verbleiben, sich in der Weise Kants nie für eines der beiden Ufer entscheiden. Darunter also versteht Cacciari die einzige Art und Weise, den Abgrund seiner Freiheit zu bewohnen. In L’angelo necessario wird der Bereich des Unentscheidbaren zum Symbol der dem Menschen gegebenen Möglichkeit, seinen eigenen Horizont von Sinn zu zeichnen. In Icone della Legge taucht der Raum der Ikone auf, wie wir sehen werden: wahrheitliches Paradox schlechthin, eben weil die Ikone an sich für einen antinomischen, kompossiblen Sinn steht, der auf anderes als sich selbst verweist. Die Wahrheit, die ihre eigene Antithese als coincidentia oppositorum umfasst, wartet nicht auf ein letztes Wort (ein höheres Gesetz), das den Rhythmus der Gegensätze auflöst, indem sie ihn zu Ende bringt. Die Wahrheit entspricht nämlich für Cacciari der Unüberschreitbarkeit des Widerspruchs selbst. Die Unvollständigkeit widersteht jedem Ansturm und befreit sich schließlich von der Perfektion der Totalität: «Es gibt keine absolute, aktuale Wahrheit, als geschlossene, tautologisch nicht widersprüchliche Totalität, sondern das Werk der Wahrheit, das die Fragmente einsammelt, die Gegensätze vereint, die eigene Negation akzeptiert-antizipiert»23. In diesem Wirken erschafft die Wahrheit die Geschichte und entfaltet sich in der Zeit, in einer Bewegung der Negativität, die stets einen Weg offen lässt, damit sich das Ganze nicht in der Ruhe eines totalen Wissens, das heißt, einer toten Objektivität, in sich selbst verschließt. In den Dell’Inizio vorausgehenden Texten hatte sich die Bewegung des Denkens schon bemüht – über die Lektüre von, unter anderem, Rosenzweig, Canetti, Kafka, Freuds Moses und Moses und Aron von Schönberg, von Leibniz’ Monade, der Theologie der Ikone Florenskijs oder des Schwarzen Quadrats von Malewitsch – die Sehnsucht nach dieser unüberwindbaren und gleichzeitig unfassbaren Voraussetzung zu erzählen und zu denken, das Exil und die Entwurzelung, die sie nährt, zu leben, und das Verlangen, das sie stets begleitet. Wenn die Klarheit der Zivilisation [Deutsch im Original] gleichgültig voranschreitet in ihrem erbaulichen Wissen und der für ihre produktive Funktion notwendigen Transparenz, so verbleibt die Bedingung des Denkens in ihrer eigenen, unauflöslichen Ungelöstheit. In den großen Seelen der jüdischen und christlichen Kultur, die er wie-
22 CACCIARI, Icone della legge, 45. 23 Ebd., 195.
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der und wieder liest, erkennt Cacciari eine auf intime Weise ungelöste, schwebende Haltung, die die Bedingung ihres Denkens selbst reflektiert. Auf der einen Seite nämlich nimmt er in ihnen den Wunsch wahr, sich an die Idee – die den Logos des Abendlands gründet – des Nomos der Erde [Deutsch im Original] zu schmiegen, als Verlangen nach Verwurzelung, über die Einrichtung einer Grenze. Gleichzeitig vollzieht sich diese Suche nach Stabilität über den Wunsch nach einer definitiven Erklärung und Interpretation, des talmudischen Endes der Schrift. Auf der einen Seite ist es nämlich so, dass bei all diesen Autoren die Erwartung von Rettung und Fülle, die U-topie eines Raumes, wo man sich endlich niederlassen kann, die messianische Öffnung für ein erlösendes Ereignis, das sie in eine mögliche Sprache zwingen wollen, noch immer präsent und wirksam erscheint – auch wenn sie dann auf ganz unterschiedliche Weise gelöst und ‹vollendet› wird. Auf der anderen Seite sieht der Philosoph in jedem von ihnen das tragische Nebeneinander einer beharrlichen Zuneigung zum Exil, eines ontologischen Verlangens nach Flucht aus dem Domizil der Sprache, den Willen des Sich-Lösens aus jeder Ortung [Deutsch im Original], aus jedem Besitz der Erde, die entscheidet, in der Wüste zu leben und den eigenen Pakt mit dem Nomos zu lockern oder aufzugeben24. Die Grundlage wird unaussprechlich für sie und das Wort verliert seine deutende Fähigkeit: Es erwirbt jedoch die Macht, jegliche erreichte Stabilität zu erschüttern und zu stören, von dem Weg abkommen zu lassen, indem es die unterschiedlichen, unendlichen, unmöglichen Verzweigungen aufzeigt. Der Weg zum Namen erweist sich auf jeden Fall als unendlich. So wie es nicht nur eine einzige Straße in der Wüste gibt, so gibt es nicht die Methode, das Wort, welches die Einheit sagt und in der Lage ist, den Sinn festzuhalten. So wie es der jüdischen Seele ergeht, die mit obsessiver Sorgfalt auf das Herz und die Bedeutung ihrer Schrift zielt, ohne sie je zu erreichen, so kann auch die Suche nach der Wahrheit ohne Ende sein und nie zum vollkommenen Wort gelangen, um sich in der Dimension des Verstandenen niederzulassen. Es ist sogar so, wie wir noch sehen werden, dass sich gerade in der beharrlichen Ausübung der hermeneutischen Praxis die Unmöglichkeit des Abschlusses, der Verlust der Mitte, der Rekonstruktion der authentischen Figur, dem letztendlichen Ziel jeder interpretatorischen Ausübung, herausstellt. Cacciari ist der Auffassung, dass Kafka die Epoche der Möglichkeit einer tröstlichen und positiven Interpretation des Textes symbolisch abschließt, dass mit ihm die Hoffnung einer Aufdeckung des Enigmas endet. «Alle ‹Parabeln› Kafkas drehen sich um diese Erfahrung: dass das Leben eine Fehlleitung ist, das es keinen Weg gibt, der zum Leben führt. Leben heißt, Ziele zu setzen, das Verlangen danach zu verspüren, aber es
24 Cacciari ist der Ansicht, dass die jüdischen Wurzeln dieser Denker wesentlich für das Verständnis ihres akosmischen Charakters ist, der konstanten tragischen Spannung zwischen der ewigen Prägung des Versprechens und der Verabsolutierung des Exils. Das jüdische Volk lebt nicht nur inmitten der Wüste, sondern bewohnt sie, im Sinne Heideggers. Die Migration ist für das jüdische Volk kein unglückliches Ereignis, sondern stellt sein Wesen dar: «Judesein [Deutsch im Original] bedeutet migrieren: Migrieren aus jeder Vergöttlichung der Welt, Entzauberung der Welt – Migration aus allem blinden Vertrauen in die Macht des Worts – Migration aus sich selbst und aus der eigenen ‹Freude›: ‹Derjenige, der an sich selbst verzweifelt, kennt denjenigen, der ist» (Ebd., 43–44).
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gibt keinen perfekten Weg, der dort hinleitet»25. Kafka glaubt folglich, dass die notwendige Ausübung des Interpretierens von Anfang an verzweifelt und der Unerreichbarkeit des Ursprungs, der Unvorstellbarkeit seiner Bedeutung vollkommen bewusst ist. Vor diesem Hintergrund ist es so, dass sich die Interpretation des Talmuds, je tiefgründiger sie wird – je mehr sie sich auf die Suche nach der Wahrheit der Schrift begibt –, sich umso mehr verirrt und auf unbezwingbaren Wegen verläuft, wo sich die Bedeutung vervielfältigt und in den vielzähligen festgestellten Bedeutungen verliert. Offenzubleiben scheint lediglich die Möglichkeit eines unvorhersehbaren Punktes, der völlig frei ist vorzufallen und jeder Logik entbunden ist, sogar von der Notwendigkeit, Wirklichkeit zu werden, von der ein bisschen Licht ausgehen kann, ohne dass alles deswegen erleuchtet wird. Es gibt keine Theorie, die der Deutung ein Ende setzen würde: Wenn jeder Moment, wie bei Rosenzweig, den Augenblick des siegreichen ‹Aber› darstellen kann, das aus der Verirrung rettet, stellt sich die unruhige Erfahrung des Verstehens am Ende als kontinuierliches Scheitern heraus, das jedes verheißungsvolle Signal niederschlägt. Eine tragische Ironie begleitet demnach stets die Notwendigkeit dieser Sorge, die Beharrlichkeit des Fragens, die eigensinnige Treue der Hermeneutik, die aufreibende Analytik der Bedeutung. «Die tragische Dialektik, aufgrund derer sich gerade die große auf das Herz des Textes gerichtete ‹Aufmerksamkeit› notgedrungen in das Feuer verwandelt, das ihn verbrennt, und aufgrund derer sich der Text nur in diesem Feuer ‹bewahrt›, stellt auch die ironische Situation schlechthin dar […]. Tragisch ist die Ironie, welche die Anerkennung des Scheiterns am nie er-warteten Ort durchzieht; ironisch die Situation der verzweifelten Exegese, die auf die Enthülltheit der Tradition zielt»26.
Der authentischste Kommentar wird folglich für Kafka jener sein, der seine Unangemessenheit anerkennt, der die Schrift zutiefst liebt, ohne sie besitzen zu wollen, der gerade die Distanz liebt, die sie von ihrer Bedeutung trennt. Die Sünde der Ungeduld, die die Offenbarung verfolgt und forciert, bewirkt nichts anderes als das Erscheinen der Lethe: Derjenige, der obsessiv die Spuren der Aletheia verfolgt, bewirkt nichts anderes als ihre Rückführung in die Verstecktheit, in eine ungeahnte Dimension der Vergessenheit. Tatsächlich betrachtet Cacciari diesen Anspruch auf Fülle als giftig: Der Wunsch, das Innerste der «Sache» wie eine Beute mit den Zähnen zu ergreifen ist tödlich für
25 CACCIARI, Hamletica, Milano 2009, 60. In diesem Text spürt M. Cacciari dem Drama der drei ‹fatalen› Figuren der europäischen Geschichte nach – Hamlet, Kafka, Beckett –, die seiner Ansicht nach in der gegenwärtigen Konstellation ihre optimale Lesbarkeit finden. Der Wunsch, sich zu entscheiden, und die ‹ontologische› Unmöglichkeit, eine reine Tat zu vollbringen oder ein Ziel zu erreichen, enthüllt dem Subjekt eine Ordnung, die sich auf das Nichts gründet. Dieser seelische Schmerz kommt im Trauerspiel [Deutsch im Original] zum Ausdruck, dem keine Helden beschieden sind, die eine wie auch immer geartete Versöhnung herbeiführen können. Während im Hamlet immerhin noch eine Gemeinschaft rettend wirkt, entfällt in Kafka und Beckett die Möglichkeit von Bindungen, und alles reduziert sich auf eine schmale Linie, ohne mögliche Substanz noch Generierung. 26 CACCIARI, Icone della legge, 67–68.
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den Jäger. Es nährt nicht, heilt nicht, wärmt nicht, sondern vergiftet. Das Verlangen nach dem vollkommene Wort, nach der sicheren Antwort auf die Ist-Frage [Deutsch im Original] führt immer dazu, dass sich das Wort zur einzigen Sprache hin biegt, dazu, dass die Bedeutung der Sache in der Entscheidung, sie zu greifen, erstickt wird, und vergisst dabei den Schatten, der jede Wahrheit schützt: Wie der große Exeget André Neher sagt, «gibt es in der Welt Babels so etwas wie eine Erstickung des Worts»27, die die Bedeutung in ihren Wunsch nach Macht verhärtet und zwingt, in der Illusion der Überwindung des Fremden und seiner Aufnahme in das Eigene. In seinem Gefolge stellt Cacciari fest, dass «Babel eine Antwort verlangt. Sein Gott ist zu einer Antwort gezwungen. Deshalb ist sein Wort Idolatrie. Nur die Idole sind gezwungen, immer zu antworten»28. In diesem Sinne ist es erforderlich, das unbegründete Vorausgesetze der direkten Zugänglichkeit des Ursprungs zu zergliedern, in Frage zu stellen, auszusetzen: Es handelt sich um den illusorischen Anspruch der philosophischen Tradition des Okzidents, der in der Überlegenheit gipfelt, welche der theoretisch-spekulativen Dimension zugesprochen wird. Cacciari erkennt den riskanten und problematischen Charakter einer solchen Intentionalität der Aneignung und stellt insbesondere die ihr zugrunde liegende ‹Archäologie› in Frage: Es geht in der Tat nicht darum, dem klassischen hermeneutischen Standpunkt eine naive Form der Verherrlichung der Nichtzugehörigkeit entgegenzusetzen, sondern den Ursprung zu erkennen, aus dem jeder interpretative Akt entsteht. Wie wir sehen werden, ist es gerade der Hintergrund, aus dem jedes Wort entsteht, der keinerlei entscheidende Rückkehr zu sich, auch durch den anderen, erlaubt. Tatsächlich ist es eine ursprüngliche Ab/Anwesenheit, die das ewige Umherziehen auferlegt, um uns der Wurzel zu entäußern, gerade beim Versuch, ihr anzugehören. Das Schicksal des Migranten, egal in welcher Geographie er sich bewegt, sei sie psychischer, physischer oder spiritueller Natur, ist die Unmöglichkeit einer Wiederaneignung
4. Zwischen absoluter Treue und dem Sich-Fügen in den Verlust «Es ist nicht einfach so, dass es ‹keinen Ursprung gibt›, sondern ‹der Ursprung ist das Andere›; es ist nicht einfach so, dass ‹es keine Eigentümlichkeit oder Identität gibt›, sondern der Migrant ist in sich entzweit, wiederholt in sich selbst die Tradition als ständige Dislokation und den Ursprung Anderssein»29.
Dem Gedankenverlauf Hofmannsthals folgend, sieht Cacciari den Anspruch, das letzte Wort zu erlangen, welches fähig ist, die Unterschiede einzuebnen, die Traditionen zu versöhnen und die Horizonte zu vereinigen, als indezent an. Für Hofmannsthal ist der Dichter derjenige, welcher der geerbten Sprache lauscht, der den Raum der Prob-
27 Vgl. NEHER, André, L’exil de la parole: du silence biblique au silence de Auschwitz, Paris 1970, 116. 28 CACCIARI, Icone della legge, 104. 29 Ebd., 151.
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leme und Gegensätze lebt und die Unüberwindbarkeit der Sprachspiele und die Unpassierbarkeit der Utopie anerkennt30. Obgleich der Dichter weiter schreibt, ist er sich doch zutiefst bewusst, dass die Sprache ihre Fähigkeit zu benennen verloren hat, als Überbleibsel eines Landes, in der die alte Ordnung erloschen ist, und die Romania – die sich von Venedig, der Stadt der Masken und des reisenden Ichs, bis nach Spanien erstreckt, dem Raum der Treue und der Dauer, des unerschütterlichen Wortes, das alles sub specie aeternitatis bewahrt – nicht mehr existiert. Vor diesem un-er-klärenden Hintergrund steht also das Schweigen nicht einfach im Gegensatz zum Wort: So wie der Text weiterhin sinnvoll ist und zutiefst geliebt wird, auch wenn er die völlige Klärung nicht zugesteht, das heißt, hybrid, durchsetzt ist, von seiner eigenen Interpretationsgeschichte verraten wird – ohne die er allerdings jegliche Spur seiner selbst, jede Überlebensmöglichkeit verlieren würde. Die Tradition nimmt also die überbordenden und paradoxen Züge eines Flusses an, der schließlich jegliche hermeneutische Aneignung auflöst, um dann mit weiteren Schichten immer neuer Erfassungen den Grund ihrer Wahrheit zu überfluten. Indem er Freuds Interpretation der Geschichte Moses aufnimmt, zeigt Cacciari den vieldeutigen und dislozierenden Zug, der mit tragischer Ironie jedes Bemühen, den eigenen Ursprung und den authentischen Sinn der eigenen Geschichte zu rekonstruieren, auszeichnet. Moses hat nach Auffassung Freuds mit der Bewegung des ständigen Umherziehens angefangen, diesem endlosen Exodus, den die Tradition darstellt: Dort sammeln sich in der Schrift die Fragmente der ihr eigenen Versprengung, in einem kontinuierlichen, verwirrenden Spiel mit Verweisen31. Sowohl Freud als auch Rosenzweig zeigen, als gegensätzliche Pole betrachtet, dass die letztendliche Bedingung der Zugehörigkeit das Verlassen jeder Muttererde
30 Diese Dramatik der Sprache findet sich im desillusionierten Klang des Briefes an Lord Chandos: «(…) nämlich weil die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben, sondern auch zu denken mir vielleicht gegeben wäre, weder die lateinische noch die englische, noch die italienische oder spanische ist, sondern eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zuweilen zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde.» (Hugo von Hofmannsthal, Ein Brief, in: ID., Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa II. Hg. v. Herbert Steiner. Frankfurt [S. Fischer] 1976. S. 7–20. Für Lord Chandos ist eine Sprache, die in der Lage ist, das Denken wiederzugeben, anstatt es, wie es stets geschieht, zu verdrängen und zu behindern, nur post mortem vorstellbar. Vgl. CACCIARI, Intransitabili utopie, in: HOFMANNSTHAL, Hugo von, La Torre, Milano 1993, 185–193. 31 FREUD, Sigmund, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, Frankfurt a. M. 1974. Für Freud ist es unmöglich, den ‹wahren› Moses zu erreichen, seine Intention und Authentizität zu erfassen. Unterschiedliche Wesen vermischen sich, die von einer Tradition umgestaltet und befragt wurden, die ihre Erfahrung zu spät niederschrieb, und deswegen dazu verurteilt ist, seine Figur zu verformen und jeden Versuch, sie wieder erstehen zu lassen, zum Scheitern verdammt sein lässt. Die Schrift hat mit zum größten Teil unzuverlässigem Material zu tun und versucht dann, die Lücken zu schließen, Anhaltspunkte zu finden, um sich schließlich mit der Dimension des Wahrscheinlichen zufriedenzugeben, mit ‹einer Art historischem Roman›, dessen Wahrheitsgehalt nicht bestimmbar ist. Der Verzicht auf den vollkommenen Besitz des eigenen Ursprungs stellt die Bedingung der Zugehörigkeit dar: «Man gehört der Schrift der Tradition nur an, wenn man sich in den Verlust, über den sie Zeugnis ablegt, einfügt; der Exodus bedeutet die fortwährende Wiederherstellung des Verlusts, der Präsenz, die fortwährend verschwindet» (CACCIARI, Icone della Legge, 149).
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[Deutsch im Original] ist: der Verlust der Sprache, der Aufenthalt in der Wüste. Während für Rosenzweig die mosaische Tradition gleichzeitig den unveräußerlichen Ursprung der eigenen Migration und die Wurzel einer Bindung darstellt, die jegliche absolute Versprengung verhindert, ist Moses für Freud der Vater umherirrender Söhne, denen ‹jedes Recht genommen wurde›: Er ist der geteilte und gespaltene Andere, der im Gründungsritual der Tötung beseitigt wurde, deren Schatten das Volk hin zu einem Zustand des niemals versöhnten Widerspruchs begleitet. Moses selbst erscheint in Freuds Augen gespalten, ohne Vaterland, getrennt: Eben aus seiner Spaltung speist sich die Erfahrung des Umherirrens und des Zerfalls seiner ganzen Tradition. Cacciari schließt: «Die Figur, die den Judaismus ‹begründet›, gehört dem Raum an, von dem er sich trennt, um sich zu zeigen; die ‹Gründungsfigur› ist die Trennung selbst. ‹Begründend› ist für dieses Volk die Spaltung seiner Identität»32. In diesem hoffnungslosen [Deutsch im Original] Prozess, der schließlich den Sinn des Gesetzes selbst auflösen wird, zeichnet sich eine Richtung ab, welche den Verlauf der tragischen Philosophie Cacciaris konstant begleitet: Man kann einzig der Spur einer Abwesenheit angehören, dem, was nicht mehr ist, einem Anderen, mit dem wir uns niemals identifizieren könnten, der jeder Faszination und Zauberkraft beraubt ist. Die Folgerungen Freuds sind auf jeden Fall extrem: Der Ursprung geht verloren, besser gesagt, man entscheidet sich, ihn zu verdrängen und gehört seiner Dislokation an, ohne die Möglichkeit, sich wiederzufinden. Für Freud wird also die Niederlage immer wieder erlebt, denn am Ende ist keine Erlösung zu erwarten: Die Identität ist nunmehr gespalten und die Sprache kann lediglich eine Form des Schweigens werden. Rosenzweigs Hintergrund ist ein anderer: Das Vorausgesetze markiert den Rhythmus der Migration und den dramatischen Zwist des Volkes, das folglich im Bewusstsein einer unüberbrückbaren Distanz und gleichzeitig im Zeichen eines ‹es-wirdimmer-sein› leben kann. Die Hoffnung auf den Messias kann sich also nur in einem unvorhersehbaren, grundlosen und nicht ableitbaren ‹Einst› erhalten und ihre Authentizität bewahren. Nur in der Dimension einer entwurzelnden Kraft liegt die Möglichkeit des Heils: Das Leben wird in der reinen Freiheit der Erwartung heilig. Cacciaris Ansicht scheint zwischen beiden zu liegen: Es handelt sich weder darum, an die Treue des Vorausgesetzen zu glauben (Rosenzweig), noch darum, sich in der Gewissheit seines unvermeidlichen Verlustes anzusiedeln (Freud). Befreit von jeglichem Anspruch auf Ergreifen, von jedem Bedürfnis, versichert zu werden, wird der Andere rein, auf dem Weg befindlich, auf dem es lediglich möglich ist, ihn zu verlieren. Genau in dieser offenen Möglichkeit ohne Garantien wird die Ontologie Cacciaris (Ent)Wurzelung finden, wie ein Bogen, der sich frei über zwei Extremen spannt: Vom Anfang (Dell’Inizio) und Von den letzten Dingen (Della Cosa ultima). In diesem Zustand des Zwistes, im Spannungsfeld der hellsichtigen Verzweiflung des Ursprungs und der entwurzelten Hoffnung auf ein siegreiches ‹Aber›, beschwört Cacciari die Unschuld des freien Geistes herauf, der das Gebet als reine Ausübung,
32 Ebd., 151.
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ohne Intentionen, zu bewohnen weiß, und auch ohne Antwort in der Frage zu verweilen versteht. Auf den Spuren Cusanus’ ruft der Philosoph den verborgenen Gott, «den nicht zum Wort verdammten Gott an und bittet um eine Antwort. Wenn der Götze sich nicht enthüllt, nicht antwortet, bedeutet das sein Ende, denn er ist nichts außerhalb des vollkommenen Worts. Der verborgene Gott ist derjenige, das das Mögliche rein bewahrt, die Lethe, aus der jede Erinnerung entspringt, das Schweigen, das der Quell jeglichen Wortes (und wie bei Rosenzweig jeglichen möglichen Dialogs) ist und sich einem Warten anvertraut, das nichts erwartet, nichts verlangt»33.
Cacciaris Sagen soll das sein, welches sich im Logos sammelt, das dem Unausdrückbaren, mit dem es ‹verschmilzt›, ein Zeichen gibt. Jede Bedeutung ersteht aus dem Schweigen, als Ab-grund [deutsch im Original], aus dem sich jedes Wort nach und nach erhebt. Wittgenstein folgend, kann für Cacciari das Mystische auch als Zuhören verstanden werden: «Das Unausdrückbare kann nicht gesagt, aber vielleicht gehört werden […]. Das Schweigen ist das ‹Organ›, mit dem es möglich ist, die reine Präsenz zu hören, das ihr Eigene, das dem Nichts entgegengesetzt ist und nicht zum Faktum reduziert werden kann»34. Im Herzen des Wortes lebt das Schweigen, und so wird man auf dem Höhepunkt des Ausdrucks Zuhörender; der Logos des Zuhörens ruft das Wort, dort, wo es das Rätsel seiner Provenienz berührt. Unsere Sprache ist immer noch gezeichnet von ihrer Kindheit, der Zeit, als der Mensch noch nicht sprach, und folglich von der ursprünglichen Erfahrung der Begrenzung: Die Sprache versucht von Anfang an und kontinuierlich, ihre Bahnen und Aporien fortzuschaffen, die blinden Flecke zu erhellen, die die Entsprechungen zwischen Diskurs und Realität verhindern, in ihrem nie erloschenen Anspruch auf Klarheit. Der Philosoph Giorgio Agamben stellt dazu fest, dass die Kindheit der transzendentale Grund des Wortes bleibt, der nie vollkommener Transparenz zugeführt werden kann: So kann der Mensch selbst nicht mit der ‹gläsernen Kette› von Frage und Antwort gefesselt werden. Diese mystische Dimension, die im sprachlichen Raum des Fragens nicht artikuliert werden kann, begleitet die Möglichkeit des Worts transzendental – so wie die Kindheit die Geschichte begleitet – und enthüllt ihren unsagbaren Grund, der ewig bleibt35 . Über Agamben hinausgehend, enthüllt Cacciari, dass das Unsagbare allerdings nicht die negativen Merkmale des einfach Unausdrückbaren annimmt. Das Schweigen gibt dem Unausdrückbaren ein Zeichen, das solches nicht aufgrund seiner übermäßigen Tiefe, des mysteriösen Charakters seiner Essenz ist. Es ist, im Gegenteil «‹allzu› klar für den Diskurs! Es gibt eine Klarheit [Deutsch im Original], derer die Sprache nicht mächtig ist»36.
33 34 35 36
Ebd., 104. CACCIARI, Della cosa ultima, 404–405. Vgl. AGAMBEN, Infanzia e storia. Distruzione dell’esperienza e origine della storia, Torino 2001. CACCIARI, Della cosa ultima, 401.
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Cacciari weist also darauf hin, dass man das Mystische weder im Maße des Sagbaren, als seine notwendige symmetrische Entsprechung, finden kann, noch kann es dem radikalen Schweigen entsprechen, das notwendigerweise jedes Nennen begleitet. «Wittgenstein bestreitet gar nicht, dass einigen, nach langem Zweifeln, ‹das Problem des Lebens› klar geworden sei – er verkündet ganz und gar nicht die Unmöglichkeit des Wunders […] – er stellt lediglich fest, dass sie es nicht zu sagen wussten. So ist auch für Augustinus das Unsagbare das, dem du keinen Ausdruck verleihen kannst, das du aber auch nicht in jedem Sinne verschweigen musst»37.
Das Mystische bietet sich dar: Es zeigt sich unsagbar in einer autonomen Dimension, nicht einfach jenseits des Sagbaren, als sublime Methode, über die Erfahrung hinauszugehen. Auch wenn es sich als allgegenwärtiger Schatten der Sprache gibt, hängt es doch nicht von ihr ab, wie ein Derivat, ein Produkt des Sagens: Wenn überhaupt, ist es seine Voraussetzung. Wir existieren immer gegenüber dem ‹was ist› der Welt, dem Sich-Zeigen eines offenen Ortes, einer Anwesenheit, die unserem Sagen vorausgeht, die von der Sprache der Gleichwertigkeit und der Darstellung nicht erfasst werden können: «Das Sagbare kann keinerlei Voraussetzung und keinerlei Enthülltheit erreichen – denn es ist nur pro-duktiv. Ebenso wenig kann es die Voraussetzung und ihre Enthülltheit negieren, denn wenn es das könnte, wären sie auch vollkommen sagbar, ist doch die Negation nichts anderes als eine Form des Sagbaren»38.
Die Philosophie ist aufgerufen, die Kunst des Zögerns und der ununterbrochenen Untersuchung zu sein, die mit einer ‹bremsenden Bewegung› fortschreitet: im Sinne von Schellings esprit de souplesse39, durch den der Schritt aufmerksam und gemächlich ist, sich auf schwierige Überfahrten wagt, wenig begangene Wege wählt und bei jeder Kurve zögert. «Wie ein Gespenst (Füsslis gespenstische Gestalten kommen in den Sinn) besucht die Philosophie die Gemächer im Schloss des Wissens – fast als wolle sie die verschiedenen Wissenschaften, die dort eine Wohnstätte gefunden haben, an den antiken Adel ihres Ursprungs erinnern, an die Tragödien der Vorfahren, die bestandenen Abenteuer»40. Das Denken hat für Cacciari eine aufrechte Haltung, die typisch ist für den Menschen, der bewegungslos auf der Schwelle steht: Er ist unfähig, sie zu überschreiten, machtlos gegenüber der unendlichen Menge von Ereignissen, die sie eröffnen würde, verängstigt angesichts der schwindelerregend vielen Möglichkeiten, für die er sich entscheiden müsste. Mit den Worten Andrej Tarkovskijs könnten die Widrigkeiten des Denkens auch wie folgt beschrieben werden: «Dieses von außen auferlegte Erkennt-
37 38 39 40
CACCIARI, Dallo Steinhof. Prospettive viennesi del primo Novecento, Milano 2005, 136. Ebd., 138. CACCIARI, Dell’Inizio, 153. Ebd.
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nisstreben – stets von Unruhe und Entbehrungen begleitet – zeichnet sich durch Schmerz und Enttäuschung aus, wird doch die letzte Wahrheit immer unerreichbar bleiben»41. Auch Tarkovskijs Weg ist aporetisch und nähert sich dem Leben vorsichtig an: In den Wechselfällen der Existenz leidet und widersteht er und sucht immer die Unschuld, auch dort, wo sich niemand vorstellen kann, sie zu finden.
5. Eros des Unerreichbaren: Figuren der Ab-/Anwesenheit Nach Cacciaris Auffassung scheint die Philosophie heute die in der Vergangenheit erlebten Abenteuer, die ‹Tragödien der Vorfahren›, die Mühe sich im Dunkeln zu orientieren, vergessen zu haben: Sie ist inzwischen eher ein therapeutischer Begleiter, der dazu antreibt, sicheren Schrittes den Weg frei zu räumen und Ziele, Hoffnungen, Logik und Syntax «mit der gleichen voyeuristischen Leidenschaft [zu diskutieren], mit denen einige die Taten ihrer bevorzugten Sportler analysieren»42. Auch als Reaktion auf diese Vision der abendländischen philosophischen Moderne und auf ihre ‹starre Leichtigkeit› ohne Dramen, verlangt Cacciari die Rückkehr zur unversehrten Noblesse des Prinzips, ‹den Eintritt streitig zu machen›, und zum einsamen Weg zu diesem Eintritt, auf dem sich – standfest, als wäre es das einzige für sie geeignete Terrain – die kritisch-negative Philosophie Schellings bewegt. In diesem Sinne verkörpert Hiob auf emblematische Weise das beharrliche Suchen und Fragen in deserto. Denn Hiob wendet sich an Gott, weil er wissen, eine Antwort erhalten will, er ist aber gleichzeitig auch fähig, sein Schweigen auszuhalten. Für seine Freunde hingegen zeigt sich Gott nur in seinem urteilenden Wort, das, wie ein endgültiger Urteilsspruch, keinerlei Erörterung zulässt: Die Freunde verwandeln mit ihrem «beruhigendem Getue»43 selbst das Schweigen Gottes in einen Götzen. Hiob seinerseits vermag Gottes abwesender An-
41 Andreij Tarkowskij hat das eindrucksvoll in einer der letzten Szenen von Stalker dargestellt, einem mystischen und visionären Film von 1979. Er erzählt die Initiation eines rationalistischen Wissenschaftlers und eines skeptischen Schriftstellers, die auf ihrer Reise zu einem verbotenen Ort, der ‹Zone›, von einem Stalker geleitet werden, dessen Name sich vom englischen to stalk ableitet, ‹sich vorsichtig annähern›. Durch die schlammigen Labyrinthe wasserbedeckter Gänge und eine trostlose Ruinenlandschaft nähern sich die Männer der bewachten, unzugänglichen Zone an, die nur mit Hilfe von illegalen Führern erreicht werden kann, die all jene begleiten, die unbeantwortete Fragen, unerfüllte Wünsche und Anliegen haben, bei denen es um Leben und Tod geht. Dort befindet sich ein Raum, in dem jeder Wunsch erfüllt werden kann. Nach einer erschöpfenden Reise voller Widernisse, die durch eine phantastische, aber auch grausam realistische Mondlandschaft führt, erreichen die Protagonisten das Ziel ihrer Suche nach dem Sakralen und dem Sinn des Lebens. Als sie jedoch den Raum der Wünsche erreichen, hat keiner den Mut, ihn zu betreten. In diesem Bogen, der die Beziehung des modernen Menschen zur Erfahrung des Glaubens beschreibt, in dem laut Tarkowskij der Mensch ausharren muss, wenn er nicht zerbrechen will, wird der Weg stets begleitet von der Frage, wie eine konstante Befragung, die das, was wesentlich ist, von dem, was vorübergehend ist, und die Kraft des Bedeutungsvollen von der Schwäche des Unnützen unterscheidet. 42 CACCIARI, Dell’Inizio, 153. 43 NEHRER, L’exile de la parole, 116.
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wesenheit zu lauschen, ohne sie rechtfertigen zu wollen, ohne sie mit seinen Bezeugungen ausfüllen und verraten zu wollen. Aber wieder sind es Kafkas Figuren, die für Cacciari auf einzigartige Weise den tragischen ‹Stil› verkörpern, der dem fortwährenden Schwanken zwischen dem götzendienerischen Anspruch, Gott an der Notwendigkeit zu sprechen festzunageln, und der Verzweiflung über das Ausbleiben einer Antwort, zwischen dem ungeduldigen Warten auf eine Stimme und dem Beharren im Supplicium der Frage, «bis zur äußersten Ermüdung», innewohnt. Zwischen dem babylonischen Wort und der Erschöpfung, die vor dem Schweigen liegt, steht die Frage, die sich dem Zuhören öffnen möchte: Die Frage also, die «während sie ‹heranreift›, während sie ermüdet und in sich selbst zusammenfällt, immer weniger auf das Mögliche der Antwort gerichtet ist und das Mögliche immer mehr als solches ent-hüllt, sich als paradoxe Epoché des Möglichen enthüllt, als Einhalten-Zögern des Möglichen bei sich»44. Genau an dieser Schwelle, zwischen den Räumen und Zeiten der reinen Möglichkeit wachend, verläuft der Weg der diaporetischen Philosophie Cacciaris, und nimmt die Form einer Beziehung und einer Bewegung an, unfähig, ihre Herrschaft oder die Betrachtung ihres Eigentums ohne Vorbehalt zu genießen. Im Netz der unendlichen Interpretationen, das in Icone della Legge gewebt wird, von Vom Tode bis zu Klees Engel, kommt nach und nach eine Schlüsselidee von Cacciaris theoretischem Weg ans Licht, die der Autor in seinen folgenden philosophischen Schriften weiterführen wird. Das Gesetz ist der fehlende Name, das Wort, das nicht anders gesagt werden kann als dadurch, dass es sich entzieht. Aus diesem Grund beruft sich sein spekulativer Weg auch auf eine ‹Theologie der Ikone›, insofern sie auf eine Bestimmung der Essenz verzichtet und zugleich den Raum für das Erscheinen des Unaussprechlichen gerade als Unaussprechliches schaffen möchte. Jenseits jeglicher mimetischer Intention, befreit die Ikone die Anschauung von jeglichem wahrnehmbaren Inhalt, jedem Spiel der Perspektiven, jeder lediglich kompositorischen Ordnung, das heißt, von jeglichem Idol und Symbol. Sie lebt eine tiefe Dialektik von Maß und Gleichgewicht, die, inspiriert von der Abwesenheit, die Distanz zu erhellen weiß und im Bild selbst auf das Bilderverbot der alttestamentarischen Tradition antwortet45. Dies ist für Cacciari die liturgische und sakramentale Essenz der Ikone: Sie wird zur «königlichen Pforte»46, die den Übergang vom Unsichtbaren in das Sichtbare öffnet – nicht schafft, nicht nachahmt, nicht verbindet – und das Licht hervorbringt. Die Ikone führt ein in das, was Balthasar als das «unausdrückbare ursprüngliche Mysterium»47 bezeichnet, auf angemessener Distanz bleibend und so das Mysterium als solches ausstellend: weder Darstellung noch Diskurs noch illusionistische
44 CACCIARI, Icone della Legge, 106. 45 «Auch wenn es merkwürdig erscheinen mag, rührt das sakrale Bild für die Kirche direkt aus der Abwesenheit eines direkten Bildes im Alten Testament; es ist die Folge und Vollendung» (OUSPENSKY, Léonide, La théologie de l’icône dans l’Eglise orthodoxe, Paris 1980, 17). 46 Vgl. FLORENSKI, Pavel, Le porte regali, Milano 1977. 47 BALTHASAR, Hans Urs von, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, 3 Bd., Einsiedeln 1975.
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Mimesis, ist sie hingegen Irradiation. «Das Unausdrückliche bleibt epekeina tes ousias und enthüllt sich gerade dadurch, unausdrücklich zu sein. Nichts wissen wir über das Unausdrückliche außer seinem ursprünglichen Sich-geben»48. Der Gestus des Ikonographen ist der des Enthüllens, der Messung der Distanz, des Zusammenbringens der diesseitigen und jenseitigen Welt: Seine Tätigkeit ist in der Lage, wie ein Magnet einen Wirbel von Kräften und Energien auszulösen, in der Bewegung des Unsichtbaren, das sie aufnimmt. Diese Verbindung von Sichtbarem und Unsichtbarem, die die Ikone ausmacht, bewahrt einen konstanten antinomischen Zug, denn die Welten, die sie umfasst, sind antinomisch. Sie nimmt das ganze Leben auf, mit der Dramatik seiner Widersprüche, seinem stürmischen Spiel von Fall und Entscheidung, von Geburt und Reife; das wahre Unendliche verbindet die Gegensätze und akzeptiert die Unruhe des Sinnes, das heißt, den tiefinneren Konflikt von Anwesenheit und Abwesenheit: «Während die Häresie die Wahrheit an die ‹Notwendigkeit› der diskursiven Darstellung ketten will, bietet ihr die dotta ignorantia der Ikone die Möglichkeit der coincidentia von Licht und Farbe, der Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit. Welche Wahrheit könnte die Wahrheit einzig des Lichts oder einzig der Farbe sein? Wie könnte die Wahrheit in sich nicht die Vielfalt und die Unterschiede fassen, handelt es sich doch um wahre Unterschiede, nicht um Phantasien oder Gespenster?»49.
Dieses Universum, dem Ortung [deutsch im Original], vollendete Darstellungen fehlen, das nicht fest auf einer wahrnehmbaren Erde ruht und sich jeder präzisen Geometrie entzieht, versäumt es dennoch nicht, ihren Sinn gerade in der unendlichen Arbeit der Negation zu zeigen, darin, sich in Fragmenten zu geben, die die Ikone selbst in einem Bild vereint – trotz der Abwesenheit. Dieses kontinuierliche Erzittern der Bedeutung beschreibt ein unfassbares und widerspenstiges Reich, das die festen Bestimmungen des Wortes, des Intellekts, der Gestalt negiert. Cacciari stellt diesbezüglich Freuds psychoanalytischen Moses Schönbergs musikalischem Moses gegenüber, wobei sich Letzterer seines Ursprungs sicher ist und auf keine Weise an der Präsenz und dem Wert des Ziels zweifelt, auf das er zustrebt. Wie bei Freud, Rosenzweig und Kafka ist auch Schönbergs Weg eingebettet in die Windungen des Schicksals: Seine Musik kann nur zurückweichend fortschreiten, durchbohrt von einer nicht assimilierbaren Unterschiedlichkeit, die zugleich die Bedingung für die Bewegung selbst darstellt. Cacciari bemerkt, dass sich in Moses und Aron die beiden gewöhnlich als Gegensätze betrachteten Figuren, das heißt Aron, der Götzendiener – der beharrlich den Sinn des Gesetzes sucht, seine Abbilder schafft, als wären sie Das Bild und Wörter, als wären sie Die Sprache – und Moses der Ikonoklast – der ein Gesetz als Einladung zur unerschöpflichen Meditation, zur reinen Kraft des unhörbaren Klanges, zum unmöglichen Aussprechen des Heiligen Namens ankündet – in Wirklichkeit aufeinander beziehen, in gegenseitiger Notwendigkeit und Abhän-
48 CACCIARI, Icone della Legge, 197. 49 Ebd., 204.
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gigkeit. In der dramatischen Spannung ihrer Unterschiedlichkeit bleiben Moses und Aron vereint, wenngleich in der Unmöglichkeit sowohl ihrer Trennung wie ihrer Versöhnung: Moses und Aron, hier hält die Konjunktion die nie vereinten zusammen, in einem gegenseitigen radikalen sich angehören/sich distanzieren. Cacciari weist darauf hin, dass das Orchester mit dem ‹divergierenden Einklang› der beiden Figuren, die im Moment ihrer größtmöglichen Trennung ihre intime Nähe entdecken, einen Klang erzeugt, der wie die Umarmung von zwei Sehnsüchten ist, einer, die aus Arons Gesang ersteht und einer, die aus der Stille von Moses Meditation hervorgeht, ohne, dass sie sich an einem gemeinsamen Ort erneut treffen können. «In einem einzigen Moment zeigt er sich wirklich: als Moses zu Boden fällt, verzweifelt, von Arons Wort ‹besiegt› […], ein Akkord, nur von Streichinstrumenten gespielt, in dem Mahlers Abschiede erklingen, wendet sich ihm zu, fast als wolle er ihm erwidern: Diese wenigen Takte sind das Wort, du, Wort, was sollst du mir? Ein Antwortzeichen? Ein Zeichen: Sie umfassenbegreifen Moses Verzweiflung und geben dem unhörbaren Klang ein Zeichen, auf den er verzweifelt während der gesamten Durchquerung der Wüste gewartet hat»50.
In diesem nur von Streichinstrumenten gespielten Akkord scheint das besondere Timbre von Cacciaris Denken zu erklingen: Der extreme Gestus eines Schattens, der sich über die Figuren legt, wie ein Umhang, der gerade während er sie schützt und umhüllt, jeden seiner eigenen Sehnsucht zuweist und sie wieder ungetröstet in die Einsamkeit der Abwesenheit führt. Das Mögliche scheint solches nur im Zusammenstoß mit der eigenen Unmöglichkeit zu sein: Eben aufgrund dieses dissonanten Einklangs kann es Ikone des Vorausgesetzen werden, Symbol seiner Kompossibilität und der Antinomie, die in ihm wirkt. Klees Engel oder das zu perfektem Schwarz werdende Licht in Malewitschs Quadrat, wo der Rückzug des Bildes in die eigenen Unsichtbarkeit dazu führt, dass man sich nichts mehr vormachen und nicht mehr verzaubert dastehen kann gegenüber den Formen, die seinen Sinn enthüllen wollen, werden einige der unmöglichen topoi des Vorausgesetzen, weitere Versuche seines Möglichen sich zu ergeben, emblematische Orte seines antinomischen Übersteigens. Die Fläche des Suprematismus lässt in Wirklichkeit den Grund des Abgrunds [Deutsch im Original] in der Schwebe und hält ihn aus dem Spiel der einfachen Abbildungen heraus. «Das Schwarz des Lichts, welches in seinen Quell versunken ist, schwebt über dem Abgrund des unendlichen Weiß. Gleichgewicht, Harmonie von Schwarz und Weiß – das heißt, der NichtFarbe. […] im perfekten Schwarz und im Weiß ohne den ‹farbigen Hintergrund des Himmels›, kann sich nur das unsichtbare – a-logische, ‹Sinn-lose› – ergeben. Aber gerade, weil sich das ‹Sinn-lose› gibt, ‹ist Gott nicht gestürzt›»51.
50 Ebd., 176. 51 Ebd., 220. Vgl. MALEVIČ, Kazimir, «Gott ist nicht gestürzt», in Hansen-Löve, Aage (Hg.), Kazimir Malevič. Gott ist nicht gestürzt! Schriften zu Kunst, Kirche, Fabrik, München 2004, 64–106. Nach Ansicht Cacciaris handelt es sich um eines der umfassendsten und theoretisch reichsten Dokumente der künstlerischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Das Bild des schwarzen Lochs stellt den Abgrund dar,
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Obschon befreit von der Tragödie des Wortes und seiner Polyvalenz, die unfähig ist, den Grund der Seele52 zu erzählen, ist auch das ‹Göttliche› Mondrians – der die Stilisierung nicht liebt und die ‹Diagonale› als Versuch der Trost-Aussöhnung der Unterschiede ablehnt – eine Dimension des Möglichen, das nie nachgibt, ein Zeichen des Vorausgesetzen als ursprüngliche Ahnung vom Rhythmus des a-rythmos, der Ruhe-inBewegung der Komposition, die nie aufhört hervorzubringen, ohne sich je festlegen oder bestimmen zu lassen. «Die Unfassbarkeit dieses Punktes – eine ganz klare Unfassbarkeit – heißt Herrin des Labyrinths, und das Schweigen ist ihr Hüter»53. Dieses Schweigen jedenfalls bleibt: standfest wie ein Fels. Es ist wie das Zögern/ Einhalten, das jeden Schritt begleitet – ihn sogar erst möglich macht. Cacciaris Suche scheint aus eben diesem felsenfesten Schweigen hervorgehen zu wollen, aus dem jedes Wort entspringt und von dem jedes Wort weiß, dass es zu respektieren/erinnern ist. Wenn das Wort aus einem Grund kommt, aus einem Anfang, der das Mysterium des Ursprungs bewahrt, kann jede seiner Äußerungen für Cacciari wieder zum Unerklärlichen zurückkehren. Eben weil jede a-letheia – jedes Sich-Geben des Lichts – aus dem unerreichbaren ‹Grund› von Dunkel und Schweigen der lethe rührt, bedeutet die Verdrängung dieses Grunds, das Vergessen seiner Nacht, eine Turm von Babel zu bauen, der die Grenzen des Unerschöpflichen festlegen will und dabei folglich den Grund der Wahrheit verdrängt. Alles Reale trägt nämlich in sich das eigene Unausdrückliche, als Zeichen eines unerreichbaren Ursprungs, der jedes Mögliche enthält, ohne dass irgendein Konzept es einfangen könnte. Jede einzelne Realität führt die Spuren eines Indistinctum mit sich, das nicht gesagt werden kann: «Die Seele kann nicht aufhören, sich zu fragen, wird aber nie die Kraft haben, ganz eins mit dem Dings selbst zu sein, im Einen den Unterschied zwischen Gedanken und Gedachtem, zwischen Logos und Ding vollständig aufzuheben»54.
6. An den Anfang zurückkehren Cacciaris Philosophie versucht – dabei klar von Schelling inspiriert – mit den ursprünglichen Mächten und Wirklichkeiten in Kontakt zu bleiben, mit dem lebendigen Quell des Lebens, der im Wesentlichen nicht fassbar und gleichzeitig notwendigerweise zu denken ist. Die Prüfung besteht im Beharren angesichts eines Anfangs, der jegliche Ungeduld, jeglichen Anspruch, jegliches Leid bewahrt: ohne sie zu trösten und zu einer vorhersehbaren endgültigen Aussöhnung hin zu krümmen. Seine Hart-
der jegliche Materie und Energie bewahrt und aufsaugt, es ist das Ursprüngliche, in dem das Spiel der unzerstörbaren Energie jedes Wesen und jede Präsenz wieder erschafft, in einer unendlichen Welt der Kompossibilitäten. 52 Die Tragödie des Unvermögens des Wortes stellt für Cacciari auch den roten Faden dar, der sich durch Mondrians theoretisches Werk zieht. Vgl. MONDRIAN, Piet, Piet Mondrian, Leben und Werk, Köln 1957. 53 CACCIARI, Icone della Legge, 271. 54 CACCIARI, Della cosa ultima, 444.
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näckigkeit ist dramatischer Natur und einer Wurzel zugewandt, die rufend entreißt. In der Tat kann Verwurzelung nur in dem gefunden werden, das stets die Kraft hat, uns zu verbannen, uns auszustoßen und in die Welt zu bringen, indem sie uns aus dem Dunkel des Ursprungs herausholt. Allerdings muss angemerkt werden, dass Cacciaris Wagnis, auch in dieser dislozierenden Perspektive, eigensinnig zur Frage des Hintergrunds zurückzukehren beabsichtigt, über die reine Rhetorik vom Exil und der Verwurzelung hinaus, im pessimistischen Wissen um die Unmöglichkeit des Geschehens. Cacciaris philosophisches System schafft eine originelle und komplexe theoretische Konstellation, die eine Haltung des intensiven Überdenkens der onto-theologischen, objektivistischen und deduktivistischen Tradition der westlichen Metaphysik zum Ausdruck bringt. Sein Weg wird von einer Bewegung der Befreiung von jeder Prä-supposition angetrieben, dem Bedürfnis nach Klarheit folgend. Er entscheidet sich also für die ‹Hoffnungslosigkeit› der naturalistisch verstandenen Welt, nach der positivistischen Logik der Äquivalenz, der Abstraktion und der Virtualisierung und macht gleichzeitig aus seiner unruhigen Suche zum Beginn hin eine leidenschaftliche spirituelle Übung: «‹Die Welt [zu] verlieren› ist weder ein Geschenk noch ein Schicksal, sondern die ‹Arbeit›, welche sich die Seele mit den Inhalten macht, die sie findet, und das Problem vom Anfang plagt und erfasst sie in höchstem Maß bei der konkreten Verrichtung dieser ‹Arbeit›»55. Die theoretische Kraft seiner Position – das Risiko, in dem er entschieden hat, zu beharren – liegt in dem Willen, die spekulativen Kernpunkte anzugehen, welche den Weg der Metaphysik gespeist haben, insbesondere im Überdenken/der Vertiefung der jüdisch-christlichen Tradition. Gerade das Thema des Beginns, das als im Zentrum seines spekulativen Wegs stehend gesehen werden kann, stellt dafür das klarste Beispiel da. «Ich empfinde dies immer noch als die Aufgabe des Betreibens von Philosophie: es ‹zu wagen›, aus einem Anfang zu schöpfen, der jedoch nicht in der Form einer für immer gesicherten Grundlage bestehen kann und ebenso wenig in einem ‹historisch› akzeptablen Ursprung oder einem Revelatum. Kann das Denken in diesem Umfang ‹frei› werden – und dies als positiv angeben?»56.
Die Verbindlichkeit dieser ursprünglichen Befragung bezieht sich auf die Vergangenheit und die Gegenwart der Menschen, auf den Sinn und das Schicksal aller Dinge. Cacciari fragt sich: «Ist es möglich, den ‹mysteriösen› Charakter des Beginns der Geschichte zu erhalten und zu bewahren, ohne die ‹Aufgabe der Philosophie› zu bestreiten oder sich aus der Philosophie hin-
55 Ebd., 25. 56 Ebd., 13.
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auszubegeben? Das thâuma des Anfangs? Und wenn es nicht möglich ist, welchen Sinn hat es, welchen Sinn kann es haben, von der ‹Vollendung› der Geschichte zu sprechen?»57.
Cacciari bietet seinen komplexen und dichten itinerarium mentis zum Ursprünglichen vor allem in den Betrachtungen Dell’Inizio – und in ihrer idealen Fortführung Della cosa ultima – dar. In diesen Texten befinden wir uns an der äußersten Schwelle des Denkens, dem Denken des Unbedingten. Dell’Inizio ist das Werk, in dem Cacciari die größte Tiefe und systematische Sorgfalt bei der Auseinandersetzung mit der philosophischen und theologischen Tradition des Christentums walten lässt; es stellt aufgrund seiner spekulativen Kraft, der Weite und der Genauigkeit der Verweise und aufgrund der Originalität seiner Fragestellungen zweifellos ein Unikum im aktuellen philosophischen Panorama dar, das fähig ist, den zeitgenössischen theologischen Überlegungen neue Fragen und Wege aufzuzeigen. Obschon Cacciari die gewissenhafte Ausübung der Erinnerung und Neuauslegung der Tradition betreibt, übergeht oder verdrängt er deswegen die schwierige Aufgabe der Entlarvung und systematischen Entzauberung nicht, die von den Meistern des Argwohns und der Kritik an der Onto-theologie betrieben wird. Wie wir noch sehen werden, akzeptiert der Philosoph bewusst und mit Klarsicht das Risiko und die Möglichkeit eines nihilistischen Ausgangs, wenn auch in der Unmöglichkeit sowohl seiner Vorwegnahme wie seiner Ausschließung. Die Frage zum Anfang also, nach dem Nihilismus: mehr noch, die Erfahrung des Nihilismus als reale, dem Urteil unterzogene Möglichkeit assimilierend. Das ist der Ausgang von Cacciaris Antithese, die mit vollem Recht die Frage nach ihrer Aktualität stellt. Die Heidegger’sche Kritik an der Metaphysik als Re-Präsentation [deutsch im Original] erfasst den Charakter der Nicht-Ursprünglichkeit der Repräsentation selbst und ihre wesentliche Tendenz, die Wahrheit des Seins zu verbergen. Cacciari führt das Überdenken der onto-theologischen Univozität der metaphysischen Ratio und der gesamten Anlage, in der seine Synthese stattfand, auf dieser Linie fort58. Sein philosophischer Diskurs möchte ‹Anamnese des Unerinnerbaren› sein59, Sehnsucht nach dem ursprünglichen Klang und dem Wort, das über jede Hypothese von Darstellung erhaben ist: Es geht darum, sich inmitten der Tragödie des Denkens und der Sprache zu befinden. Wenn der Ursprung auch nicht über einen dianoetischen Prozess erreichbar ist, so wie die Nacht, die am Grund jeder Klärung verbleibt, so ent-hüllt er doch, indem er auf etwas Anhaltendes anspielt, welches das Denken nicht aufzunehmen in der La57 CACCIARI, Massimo, FORTE, Bruno, VITIELLO, Vincenzo, Filosofia e Cristianesimo. Dialogo sull’inizio e la fine della storia, Napoli 1997, 12. 58 Vgl. CACCIARI, Krisis. Saggio sul pensiero negativo da Nietzsche a Wittgenstein, Milano 1976; CACCIARI, Pensiero negativo e razionalizzazione, Venezia 1977. 59 Auch wenn es im Fahrwasser der Überlegungen Nietzsches paradoxerweise das Vergessen braucht, um das Ursprüngliche wiederzufinden: «Aber das ist eine Antinomie. Es ist nämlich unsere Epoche, die sich an alles erinnern will und alles zerstört. In diesem Sinne ist das Vergessen eine ungeheuer starke schöpferische Kraft, denn sie erlaubt der Erinnerung, eine Intention zu haben.» (CACCIARI, Conservazione e memoria, in «Ananke», Nr. 1, März 1993).
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ge ist. Der Weg des Denkens ist hier eine wahre disciplina arcani: nicht, weil es eine esoterische scholé für Mystiker und Eingeweihte ist, sondern da ein Symbol des Wegs durch die Krise des modernen Erbes. Die Beschreibung des ewigen Problems der Philosophie ist in Dell’Inizio in drei verschiedenen Stilen verfasst. Der formale Aufbau des Textes besteht, ganz ‹archaisch›, aus drei Büchern, die jeweils in drei Teile gegliedert sind, von denen sich jeder durch eine ihm eigene Form auszeichnet: Der Dialog (‹discipuli ad discipulum›) zwischen Antagonisten (der Autor, der christliche Theologe, der skeptische Denker), die die Suche des Denkens in ihrer Entfaltung inmitten von Fragen und Befragungen, ironischen Rückziehern und selbstkritischen Biegungen inszenieren; das Traktat, in dem das Denken eine systematische und geordnete Sprache findet, die Wege von größerer Linearität und weitere Befragungen aufweist. Und schließlich die parerga et paralipomeni in einem aphoristischen und mehr fragmentarischen Stil, die das, was schon im Diskurs der vorangegangenen Abschnitte behandelt wurde, um Details, Vertiefungen und Verweise bereichert. Der einheitliche und theo-logische Hintergrund von Dell’Inizio könnte dazu verleiten, wie im übrigen Bruno Forte bemerkt hat60, die drei Teile von Cacciaris Untersuchung provokativ um das Prius herum neu zu benennen, nach der Sprache der antiken Traktate: De Deo Uno et Trino; De anima; De praedestinatione. Es ist im vorliegenden Rahmen nicht möglich, Dell’Inizio analytisch aufzuarbeiten und dabei Beispiele für den Stil, den Ton, die Methode und die Sprache anzuführen, aufgrund des besonderen Reichtums des Stoffes und der Polyphonie der theoretischen Ausführungen, die sich dicht an dicht auf einem in Wellen, quasi wie eine Spirale verlaufenden Weg der dreigeteilten Dialektik aneinanderreihen, auf dem die Themen immer wieder erscheinen, sich dabei nur wenig verändernd. Diese philosophische Schrift möchte in ihrem ununterbrochenen Fortschreiten jenem ‹höchsten Bedürfnis› entsprechen, über das geschrieben wurde: sich vom «‹traurigen Geschäft der bloßen Negation› befreien (Schelling), von der Erzählung oder Darstellung des einfachen Vorangehens, was ‹gleichzeitig der traurigste und der leerste Gedanke ist› (Schelling)»61 .
60 FORTE, Bruno, Dell’inizio: in dialogo con Massimo Cacciari, in Sui sentieri dell’Uno, Cinisello Balsamo 1992, 274–75. 61 CACCIARI, Dell’Inizio, 12.
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1. Was ist der Anfang, nach Kant? Ein erster Zugang soll durch eine genauere Betrachtung der Art erfolgen, in der sich die Befragung Cacciaris zum Thema des ‹Beginns› hinsichtlich des historischen Modells seiner modernen Radikalisierung, von Kant bis Heidegger, gestaltet. Kants kritische Philosophie stellt für Cacciari einen epochalen Übergang im Denken des Anfangs dar, einen emblematischen Moment der Öffnung am problematischen Horizont des logos und seiner Erkenntnismöglichkeiten. Cacciaris Hypothese lautet, das Kant, der sich der Schwierigkeit dieses Problems bewusst war, uns vor dem Problem des Anfangs bewahren wollte und das Incipit der Kritik der reinen Vernunft von 1787 verändert hat. Während in der Erstausgabe die Verstandestätigkeit immer Ursache des logischen Anfangs aller Erkenntnis ist, und die Erfahrung ihren Anfang gerade im Subjekt findet, ist sie doch seine Repräsentation, stellt die zweite Ausgabe die Erfahrung als Quell des Wissens dar59. In diesem Fall kann der Anfang sich nicht ‹ergeben›, da das Subjekt immer fern von ihm steht und unsere Erkenntnis schon Ausarbeitung, Resultat eines anderen ist. Cacciari ist der Auffassung, dass Kants Schwanken zwischen dem Eintreten des ‹rohen Stoffs sinnlicher Erfahrungen› und der Idealität aller Erscheinungen, gemeinsam mit der daraus hervorgehenden zusammengesetzten Natur der Erkenntnis, als Absperrung um das Problem des Anfangs gezogen ist, eine Aufforderung darstellt, seine Tiefe nicht zu erkunden. Keine Erkenntnis kann die Grenzen überschreiten, welche die Objekte, das heißt die Erfahrung, ziehen. Diesen Kreis, die Zusammensetzung von Elementen, wo die Wahrnehmung schon Vorstellung ist und das verstandesmäßige Erkennen die Bebilderung der Begriffe plant, zu verlassen ist dem wissenden Subjekt nicht gestattet. Wir können nicht anders als sinnlich erfassen: Also kann nichts Unbedingtes Gegenstand der Intuition sein. Der Weg des reinen Denkens [deutsch im Original] schließlich, der den Beginn im ursprünglichen Akt des Denkens selbst ansetzt, erlaubt in Wirklichkeit keinerlei Zugang zum Denken des Unbedingten. Seine nicht deduzierbare Unenthülltheit – dem zu eigen, was rein, ohne Bezug auf anderes erkennbar ist – kann schließlich von unserer Untersuchungsmethode – dem mühsamen operari, das verknüpft, zusammenstellt, gegenüberstellt und subsumiert – nicht erfasst werden.
59 «Die erste Zeile der Ausgabe von 1781 lautet: ‹Erfahrung ist ohne Zweifel das erste Produkt, welches unser Verstand hervorbringt [hervorbringt: dessen poietés unser Verstand ist]›. Erste Zeile der Ausgabe von 1787: ‹Daß alle unsere Erkenntnis mit Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel›» (CACCIARI, Dell’Inizio, 17; KANT, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, Bd. 1, Frankfurt am Main 2014, 45).
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Cacciari fragt sich, ob es Kant denn mit diesem metaphysischen Verbot, das heißt, mit dem Gestus der Selbstbeschränkung, der jeden Gedanken an den Anfang aus dem Ursprünglichen des Denkens entfernt, wirklich gelingt, das ‹Staunen der Vernunft› angesichts des alethôs – dessen, was seinem eigenen Maßstab nach der Existenz der wahren Dinge, außerhalb von uns, angehört – zum Erlöschen zu bringen? Eigentlich erscheint dem Philosophen Kant nicht gänzlich immun gegenüber dieser Bestürzung zu sein, so lässt er nämlich schon in der transzendentalen Analytik diese Möglichkeit offen, dort, wo die Kategorien von einer unsagbaren ‹Sehnsucht nach dem Unbekannten› beseelt erscheinen, die sie zu ihrem Beginn hin zu treiben scheint: Fast regen sie die Spannung eines unwiderstehlichen, wenn nicht sogar notwendigen Wagnisses an. Der Verstand scheint nicht anders zu können, als sich in den leeren Raum außerhalb der Sphäre der sinnlichen Wahrnehmung hineinzustrecken, getrieben von der Intuition60, dass das Rätsel des eigenen Ursprungs nicht in der ‹irdischen Welt› gelöst werden kann. Dieses problematische Hineinspringen ins Leere stellt für Cacciari das Problem des Anfangs dar, das sich unvermeidlich gerade in den von der Kritik gesetzten Grenzen auftut. Denn auch in Kant erklingt eine Philosophie der Natur – schon in der Kritik der reinen Vernunft, nicht erst in der dritten, der Kritik der teleologischen Urteilskraft – in der die Einbildungskraft die Schemata der reinen Verstandesbegriffe hervorbringt. Seit Kants Kritizismus kann die Natur also nicht darauf reduziert werden, mit der diskreten Gesamtheit ihrer Elemente übereinzustimmen. Sie ist immer auch generierende physis: das heißt, Reich des Sich-Öffnens, Sich-Entfaltens und Entstehens der Seienden, die nur dank dieses radikalen Keimens sind, das sie völlig umhüllt. Die Vorstellung von der Natur als fortwährender Schöpfung, die niemals gegenüber einer gegebenen Präsenz einhält – und die Heidegger auf radikale Weise aufgreifen wird – erscheint nie als solche greifbar, denn sie entspricht dem Raum der Ruhe und der Geburt der Seienden, der verborgenen Hülle, die in sich sammelt, was sie hervorgebracht hat. Nicht ohne Grund hat schon der Idealismus Kants Philosophie als Neuanfang betrachtet: Im Bemühen das, was der Kritizismus unterscheiden wollte, in einem einheitlichen System zu denken. Cacciari begibt sich in die versteckten Falten von Kants Kritizismus hinein und führt seine Befragung zur ersten Hypothese von Platons Parmenides, wo die Rede ist von «einer dem logos immanenten manìa, die es dazu drängt, vom Unaussprechlichen zu reden, ihn in seinen ‹Ruin› treibt […]. Unser Logos ist wie die fortwährende Vorbereitung des Unsagbaren»61. Zwar bewahrt Kant gegenüber diesem Problem eine rigoros apophatische Haltung, aber wie könnte, so fragt sich Cacciari, seine problemati-
60 Über die Natur dieser ‹Intuition›, die sich der Erfassung ihrer wirklichen Bestimmung stets entzieht und weder auf die Sphäre der sinnlichen Wahrnehmung noch die der Vernunft reduziert werden kann, und die doch im modernen Denken immer wieder als unüberwindliches ‹Residuum› auftaucht, vgl. TILLIETTE, Xavier, Untersuchungen über die intellektuelle Anschauung von Kant bis Hegel, Stuttgart 2015. 61 CACCIARI, Dell’Inizio, 79.
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sche Neigung zur über die Wahrnehmung hinausgehenden ‹Leere› ignoriert werden? Gerade das Nicht-Seiende des Dings ist es, was Cacciari untersuchen möchte. Es ist unvermeidlich, dass Cacciaris Spekulation gerade an diesem Punkt den Weg der philosophisch-theologischen Tradition des Westens kreuzt, die im Laufe der Zeit auf verschiedene Weise durch diesen wagemutigen Blick auf das Ursprüngliche in Bewegung gesetzt und mit Unruhe erfüllt wurde. In Dell’Inizio ist die Wiederaufnahme dieser Linie nicht einfach dialektisch oder beharrt auf dem – inzwischen konventionellen – Topos der Überwindung. Seine ‹negative Philosophie› beschreitet einen anderen Weg, von einer überwiegend platonischen Linie geleitet62: Proklos, Damaskios, Scottus Eriugena, Meister Eckhart, Nikolaus von Kues, Schelling. Von Platons Parmenides an – einem für die westliche philosophische Tradition wesentlichen Werk – wird das Denken zu einem jenseitigen Horizont hin als ‹überwunden› aufgefasst: der Horizont der Suche nach dem völlig freien, sich in sich selbst erfüllenden Einen, nach Plotin als superessentielles Unum aufgefasst, das jenseits des Logos selbst weilt. Hier entsprechen sich der hyperousios eterotes (Proklos) und die perfekte Einzigartigkeit im Einen: aber dennoch ist es, in sich selbst, zutiefst dialektisch und wird, in seiner perfekten Einheit und Identität, ursprünglich von der Mannigfaltigkeit und Unterschiedlichkeit bewohnt. Cacciaris Beziehung zum Neoplatonismus nimmt also von Anfang an kritische Züge an, zeigt sich seine Fortführung dieser Tradition doch vor allem im Verhältnis zur Kontinuität des Problems, das sie radikal stellt. Tatsächlich verkörpern die abgründige Absolutheit des Einen, zusammen mit der abgründigen Absolutheit der Einzigartigkeit, jenseits jeder Abstraktion und Festsetzung im Denken, jenseits jeder Schaffung oder Aufnahme in die Geschichte, die grundlegende Frage dar, der sich Cacciari – mit Kant und über Kant hinaus – im Fahrwasser der großen platonischen Tradition stellen will. In dieser Ausarbeitung, in der sich der neoplatonische Hintergrund gerade beim Durchlaufen der späten Philosophie Schellings zu radikalisieren scheint, spielt Heideggers Ansatz weiterhin eine eminent strategische Rolle.
2. Die obskure Illumination des Heiligen: Heidegger Heideggers Philosophie radikalisiert im Bemühen um das Verstehen des Seins die Frage des Denkens selbst: Die Krise der Metaphysik hat mit ihrer onto-theologischen
62 «Diese platonische Linie, die das geniale, kraftvolle Denken Plotins durchzieht, und dann das von Proklos, Damaskios, Scotus Eriugena, Meister Eckhart, Nikolaus von Kues, bis hin zu Schelling, stellt für Cacciari die bedeutende Alternative zu Kants Entscheidung und die authentischste und tiefste Strömung des westlichen Denkens dar, hinsichtlich ihrer Fähigkeit, die Absolutheit des Anfangs, des Einen über seine Manifestation in der Schöpfung und der Geschichte hinaus zu entdecken und zu bewahren. In diesem Licht betrachtet, lautet Cacciaris wesentliche These: Den Anfang als Anfang zu denken, bedeutet, ihn als radikal anders (was wiederum das Nicht-Andere von Nikolaus von Kues ist!) in Bezug auf seine Manifestation in der Schöpfung und der Geschichte zu denken» (CODA, Intorno all’‹Inizio› di Massimo Cacciari, in «Nuova Umanità», 722, 1990, 53).
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Tendenz die philosophische Überlegung an die Wurzeln ihrer Bedeutung geführt: Was heißt denken? [Deutsch im Original] Die metaphysische Tradition habe dem Sinn des Seins die Bedeutung einer Rechtfertigung und eines Fundaments jeglicher Realität zugewiesen und sei damit in eine Einseitigkeit verfallen, welche das Fundament ausgehend und abhängig vom Seienden ernennt, als die Ursache oder das Seiende schlechthin. Auf diese Weise wird das Sein jedoch im Bereich der Unterschiede gesucht: Und auch die Vorstellung von Gott, die aus der abgründigen Radikalität (Abgrund; Deutsch im Original) herausgenommen wird, bleibt gerade außerhalb dessen, was man denken wollte. «Die Interpretation der Wahrheit als aletheia, im Sinne des vollkommen offensichtlichen Erscheinens, der Beseitigung jedes Verstecks, das heißt, im Hinblick auf den Menschen, der sieht und sehend weiß – die Interpretation also der Wahrheit als Idee, die für Heidegger das Geschick der westlichen Metaphysik dominiert, werde von der christlichen Theologie geteilt»63. Auf der Basis einer Auslegung des späteren Heidegger, die das Thema von der Frage nach dem Heil ausgehend behandelt, wird die Idee vom Heiligen, das aus ihm emporsteigt, in der aktuellen theoretischen Debatte wieder mit Interesse behandelt, so dass sich der deutsche Philosoph als wahrer maître à penser des erneut erwachten Interesses für die Mystik anzubieten scheint64. Trotz des anspielenden und ausweichenden Charakters seines Denkens, und zwar insbesondere, wenn dieses auf die Frage nach dem Heiligen, dem Göttlichen und Gott stößt, gebietet sein spekulativer Weg, den Faden, der die unterschiedlichen Erfahrungen des Denkens der Gegenwart mit dem Logos ihrer Ursprünge verbindet, wiederaufzunehmen und weiterzuspinnen, und die klassischen Worte der Tradition wieder zum Leben zu erwecken, mit einer unerhörten Kraft im Fragen, mit dem Ziel, ‹das Unverhoffte zu hoffen›, in der Epoche der Bilder von der Welt. Heidegger war unter den zeitgenössischen Philosophen zweifellos einer, der mit außergewöhnlicher Entschiedenheit die Bedeutung der ‹Natur der Sache› wiederzuerlangen suchte, so wie sie im griechischen Begriff phýsis anklingt, das heißt, als Erscheinung des Seins, bestimmt zur Anwesenheit, zur ‹Nicht-Latenz›65. Die Natur ist ur-
63 CACCIARI, Filosofia e teologia, 368. 64 Vgl. DE VITIIS, Pietro, Prospettive heideggeriane, Brescia 2006; CAPUTO, Annalisa, La filosofia e il sacro. Martin Heidegger lettore di Rudolf Otto, Bari 2002; CODA, Piero, Il Logos e il nulla, Roma 2003, 392–397; CODA, Piero, Dono, abbandono: con Heidegger sulle tracce dell’Essere, in: ID., La Trinità e il pensare, Roma 1997, 123–159; LAFONT, Ghislan, Écouter Heidegger en théologien, in: «Revue des sciences philosophiques et théologiques», 67 (1983), S. 371–398; BRITO, Emil, La réception de la pensée de Heidegger dans la théologie catholique, in: «Nouvelle Revue Théologique», 119 (1997), S. 352–374; SEQUERI, Pierangelo, Retractio mystica della filosofia? Coscienza critica, pensiero della differenza, ordine degli affetti: congiunture e divagazioni, in MOLINARO, Aniceto, SALMANN, Elmar (Hgg.), Filosofia e mistica. Itinerari di un progetto di ricerca, Roma 1997, 130–142; SEQUERI, Estetica e teologia. L’indicibile emozione del sacro: R. Otto, A. Schönberg, M. Heidegger, Milano 1993. 65 Vgl. in dieser Hinsicht die Studie von ZARADER, Marlène, Heidegger et les paroles d’origine, Paris 1986. Auch Cacciari besteht auf der Wiedererlangung der ursprünglichen Bedeutung von physis, das allerdings in seiner lateinischen Übersetzung natura das Partizip Futur nascor bewahrt, im Sinne von dem, das Leben
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sprünglich keine gegebene Objektivität, keine Region des Seins oder Gesamtheit der Seienden, sondern das Sich-Zeigen einer Anwesenheit: wie das erwachende Eintreten des Offenen, das sich anbietet, ohne sein Erscheinen zu forcieren. Das Sich-Zeigen des unbegehbaren Offenen, im Sinne des «perfekten Synonyms von Chaos»66 (Chaino, chasco bedeuten sich öffnen, geöffnet sein), meint in seinem titanischen Sinn das anfängliche ‹Gähnen›, den ‹Spalt, der seit jeher geöffnet ist und in dessen Öffnung alle Seienden spielen und aus dem die Natur fortwährend ersteht und wieder-ersteht. Aus dem Chaos als reiner Öffnung kommt das leuchtende Erwachen der Natur – der uranfänglichen Realität, die jeder Form vorausgeht – ans Licht. Für Heidegger ist das Chaos letztlich das Heilige selbst, ist es doch Konstellation des Seins, aus der ein jedes – Gott selbst – hervorgeht. In diesem Sinne entfernt er sich von der Vorstellung des Heiligen als Trennung und Unberührbarkeit (sacer), um die Bedeutung dessen anzunehmen, das epiphanisch keimt und wieder erwacht, dessen, was im Gesang und in der Freude den spiritus sammelt, der an jedem Ort atmet. Heideggers Weg, der vom Offenen ins Heilige mündet, findet viele mögliche Verbindungspunkte mit Cacciaris Denken vom Anfang: Auch bei Heidegger zeichnet sich das Heilige als ‹das› ab, von dem das Göttliche ausgesandt wird, ‹das›, von dem aus Gott ek-sistiert: Es ist das weite Aufgehen des Offenen, das immer vorausgeht, und in das die höchsten Gottheiten der Natur immer zurückkehren. Hier jedoch nimmt Cacciari einen toten Punkt in Heideggers Diskurs wahr, dort wo das Mittelbare zuletzt mit der unmittelbaren Omnipräsenz, die nicht mehr weiter verschmelzen kann und zur Domäne der Vermittlung wird, übereinstimmt und verschmilzt. Das Unmittelbare kann nicht, wie Heidegger behauptet, zum Mittelbaren werden, denn es ist seit jeher Grundlage jeder Vermittlung: Es wird Wirklichkeit und zeigt sich in unendlichen Determinationen, ohne sich je in diese zu ergießen, ohne je in sie hineinzutaumeln. Cacciari ist der Ansicht, dass das Unmittelbare in Heidegger das Enthüllte wird, das was notwendigerweise ausstrahlt: Der Anfang wird also das communicativum, das im verbum seine Lösung findet, so wie sein Leben-spenden zum Ursprung des Kosmos wird. Heideggers Philosophie ist für Cacciari durchzogen von der Entschlossenheit, über die Kategorie der Vermittlung hinauszugehen: Diese Unternehmung erscheint ihm allerdings nicht ganz gelungen, insofern als das Schema der Notwendigkeit, die den Anfang verschlingt, von Heidegger im Fahrwasser der griechischen Worte über den Ursprung aufgefasst, nicht so weit entfernt scheint von der Perspektive der christlichen schöpferischen Entscheidung, die Heidegger, im Namen der Freiheit des Offenen, gerade überwinden wollte. Während die Dimension des Heiligen, die der deutsche Philosoph in Hölderlin ‹berührt› hatte, ihm nicht dabei hilft, den christlichen und idealistischen Horizont zu überwinden, sieht Cacciari jedoch in Meister Eckhart einen schenkt, wachsen lässt, die vitale Dynamik vorausahnt. Vgl. dazu CACCIARI, Il problema del sacro in Heidegger, in La recensione italiana di Heidegger, in «Archivio di Filosofia», Nr. 1–2, 1989, 203–217. 66 CACCIARI, Il problema del sacro in Heidegger, 208.
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wertvollen Bezug für Heideggers nachfolgende religiöse Überlegungen. Meister Eckharts Gottheit [deutsch im Original] stellt nämlich eine religiöse Erfahrung des Anrufs des unendlich Letzten dar, die dazu zwingt, das begriffliche und theologische Universum der Tradition zu verlassen. Der Mystiker erkennt den Unterschied als Abgrund des Seins, das durch die Dinge scheint und in sich die Bereitschaft zuzuhören birgt und auf jeden Wunsch nach Macht verzichtet, auf jede Möglichkeit der Herrschaft. Das Absolute zeigt sich als Nichts und als Schweigen, ist fähig, den luziferischen Willen des Menschen auszulöschen und ihn zur Hingabe, zur Anerkennung seiner Sterblichkeit aufzurufen. Und ihn auf diesem Weg auf die Spuren des Seins zu führen. Vor diesem abgründigen Hintergrund wird das Göttliche in Heidegger – das nicht der Gott der Theologen und Philosophen ist, aber auch nicht der Gott von Abraham, Isaak und Jakob, und auf vielerlei Weisen genannt wird (Sein als Lichtung, Sein als Ereignis, Sein als Unterschied, Sein als Aletheia) – auf der einen Seite Der-der-nicht-ist, und auf der anderen das Vorausgesetzte des Sich-gegenseitig-Angehörens der Seienden, das unvermeidliche Offene, das ihr Erscheinen möglich macht und ohne Warum [deutsch im Original] gedacht werden muss. Heideggers Überlegung folgt also irreversibel der Bahn des Denkens als Gelassenheit [deutsch im Original], das nichts erwartet und nichts will, offen ist, dem zu lauschen, was keiner Darstellung standhält, und sich dem Spiel ohne Warum des sich hingebenden Seins widmet. Es ist die Übung des nachsinnenden Denkens, das keine praktischen Regeln vorschreibt und auch nicht mit dem Manipulierbar-Veräußerlichen gemessen wird, gleichzeitig eine Art Gravitation auf die Welt der Technik und Wissenschaft ausübt, mit der Haltung desjenigen, der dem Sinn der Technik gegenüber offen bleiben will, dem Geheimnis, das sie unvermeidlich birgt. Das Denken überlässt sich also dem Geheimnis, dem Unausdrückbaren, das keine Anpassung erlaubt, dem man nur lauschen kann. Cacciari stellt fest, dass diese Öffnung dann möglich wird, wenn sich das Heilige von der Notwendigkeit, sich zu enthüllen, den Anfang zu geben, befreit und jeden zielgerichteten Willen aufhebt, sich dem Nichts-Sein seines Offen-Seins hingibt. Anderseits jedoch distanziert sich der Philosoph von dieser Perspektive und hebt hervor, wie Heidegger das Heilige [Deutsch im Original] in der Gelassenheit einfach verklingen lässt. Das Warten, das nichts erwartet, das Wollen des nicht Wollens entbindet das Heilige nicht so sehr von seinem Schicksal der Enthüllung, sondern kommt in Wirklichkeit dahin, die Gottheit [Deutsch im Original] selbst zu negieren und sie in jenen Abgrund des Selbst zu stürzen, zu dem die Gelassenheit führen möchte, um schließlich die idealistische Dialektik, die wiederum überwunden werden sollte, zu vollenden67. Es
67 Cacciari denkt, dass der mystische Weg, den Heidegger von Meister Eckhart aufgreift, seine Überlegungen über das Heilige zu einem noch radikaleren Atheismus geführt hat, als es jener ist, der Gott einfach in der wesenhaften Darstellung seiner Bilder verschwinden lässt. Auch die eschatologische Dimension, welcher der späte Heidegger große Aufmerksamkeit schenkt, scheint in diesem Zusammenhang kaum besser. «Heideggers Versuch, die Begriffe einer soteriologisch-eschatologischen Tradition, die ausschließlich der neutestamentarischen Idee von Gnade entstammen kann (während Heideggers Analytik im wesentlich
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gibt weder Spannung noch tragische Ironie oder Dramatik in dieser Vision, die ein Wunsch nach Leere ist, ohne Erwartung von Gnade oder unmöglicher Ereignisse. Die Tragödie, die das Vergessen des Offenen ist – in den aus dem poetischen Denken Hölderlins, Rilkes oder Trakls entstandenen Begriffen – scheint in Heidegger zu verschwimmen im verlassenen Horizont einer Zen-Mystik, die nichts will, nichts erwartet, nichts darstellt. Massimo Cacciari stellt abschließend fest, dass Heideggers Überlegungen zum Heiligen kein vielversprechendes Ergebnis bieten. Das im Sinne Heideggers erwartete Nicht-Seiende hat «in sich jedes Vorausgesetzte und jede Transzendenz gelöst: Nichts hat es vor sich, als Gegen-stand [Deutsch im Original]. ‹Das Heilige› ist sein eigener Abgrund und sein eigener Abgrund ruft es»68. Heideggers Versuch, den ontotheologischen Diskurs der metaphysischen Tradition zu überschreiten, indem er die Frage des Heiligen zum Chaos des Offenen hin aufmacht, ist letztlich weder in der Lage, die Frage der rettenden Gnade zu berühren, noch die eschatologische Sprache zu sprechen, auf der die letzte Phase seines Denkens besonders beharrt. Also muss ein neuer Anfang gedacht werden: ein ápeiron, der nichts hervorbringt oder unverzüglich mächtig ist, sondern ambitus aller Möglichkeiten, aller Himmel und aller Erden, Reich der Lebenden und der Sterbenden. Aber zuerst muss der Geist durchlaufen werden: Das Gespenst, das seit mehr als zwei Jahrhunderten in ganz Europa umgeht, und dem die Theologie, auch ohne es zu wollen, fügsam ihren Weg zum Ursprung geweiht zu haben scheint.
3. Die Einführung in den Anfang: Hegel Indem er Hegels Perspektive aufnimmt, steht Cacciari einem Begriff gegenüber, der unausweichlich ist in seiner absoluten Problematik. Was ist denn in der großen Philosophie des absoluten ‹Beginns› so etwas wie der ‹reine› Anfang? Für Hegel ist das Anfang-Eins – das Eins [Deutsch im Original], die einfache Einheit des Für-sich-Seins, einer Unmittelbarkeit, die nur in Bezug auf sie selbst bestimmt wird. Es vermag nicht aus sich herauszugehen, etwas anderes zu werden, ins Negative überzugehen und zu sich selbst zurückzukehren. Das Eins ist die Abwesenheit jeglicher Bewegung und jeglichen Inhalts, in ihm ist nichts; es ist der reine und absolute Beginn, das sich als Eins-das-ist darstellt, das heißt als Negation jedes von ihm Anderen. Das Ausschließen der vielen von sich selbst, das ‹Sie-fern-Halten›, um Eins-dasist zu sein, stellt für Hegel einen absolut notwendigen Moment dar: Er bewahrt deshalb das Eins in seiner Einzigartigkeit, in seinem ausschließlichen Für-sich-Sein. Aber derselbe Hegel stellt im ersten Buch der Wissenschaft der Logik fest, dass diese Zusammenhanglosigkeit nicht ohne Folgen bleibt: gottlos ist), in seine drastische Reduzierung des Heiligen auf das Offene-Chaos zu ‹integrieren› – ist in den Grenzen seines Denkens nicht denkbar» (CACCIARI, Il problema del sacro in Heidegger, 216). 68 Ebd., 215.
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«Die Selbstständigkeit, auf die Spitze des fürsichseienden Eins getrieben, ist die abstrakte, formelle Selbstständigkeit, die sich selbst zerstört, der höchste, hartnäckigste Irrtum, der sich für die höchste Wahrheit nimmt – in konkreteren Formen als abstrakte Freiheit, als reines Ich, und dann weiter als das Böse erscheinend»69.
Das Böse besteht also eben im Beharren auf das reine Für-sich-Sein, in der Überzeugung, das eigene Sein zu bewahren, während es dazu bestimmt ist, es zu verlieren, in dem Moment, in dem sich die kontinuierliche Abstoßung des Anderen notwendigerweise auf sich selbst richtet. Die fortwährende Unstimmigkeit vernichtet das Eins-dasist, und es muss eine Aussöhnung mit dem Abgestoßenen finden. Die Abstoßung wird so zur Anziehung, wenn eine Anerkennung dessen, gegen welches das Eins sich richtete, erfolgt. Das Einklang wird jedoch nicht reine Beseitigung der Unstimmigkeit, so wie die Aussöhnung nicht einfach die Trennung aufhebt: Die Gerechtigkeit lebt darin, dass Abstoßung und Anziehung gegenseitig werden, in der Bewegung zwischen Beharren und Aufgeben, zwischen Exklusivität und Anerkennung des Andersseins, die Einheit und Vielfältigkeit dialektisch bewahrt. Das Verhältnis zu den vielen erweist sich schließlich als dem Eins-das-ist immanent: Wenn das Eins ist, sind auch die vielen. Das Eins geht also aus sich selbst heraus, wälzt sich um sich, bekämpft sich selbst [deutsch im Original], um sich dann in der Vollkommenheit seiner Determinationen wieder mit sich selbst zu vereinen. Allein die Abstoßung-Aufnahme der vielen, die das Eins hervorgebracht hat, erzeugt die endgültige Wiederaussöhnung: Sie hebt am Ende der Geschichte die sie trennende adikia auf: «Einzig der Prozess ‹verabsolutiert› den Anfang, das heißt, befreit-löst ihn ab davon, in nichts bestimmt zu sein. Der Anfang ist Absolut ‹nur in seiner Vollendung› (Wissenschaft der Logik, VI, S. 556), am Ende des Prozesses seiner Verabsolutierung vom Reiner-Anfang-Sein, da er völlig befreit ist von seinem eigenen Ursprünglichen. Angekommen beim Ende des eigenen AnfangSeins (als téleios also), ist der Anfang das Absolute»70.
Hegels Anfang erscheint Cacciari folglich als solcher nur dann, wenn er sich vollkommen von seinem Nur-Anfang-sein löst, wenn er sich durch die gesamte Bewegung seiner Determinationen, durch den Prozess der Konkretisierung seiner Gesamtheit verwirklicht. Der Anfang setzt den Prozess voraus, die Gesamtheit eines Diskurses, die völlige Erstellung seiner Determinationen, die kontinuierliche Konfiguration, die dem ‹sich befreien› und der Selbstbestimmung des Absoluten gegenüber der abstrakten Gleichgültigkeit des reinen Anfangs entspricht, der irreversibel von der Leere des Anfangs ent-scheidet, um dann zu Leben zu werden.
69 HEGEL, Wissenschaft der Logik, Erstes Buch, Erster Abschnitt, 3. Kap., zitiert in CACCIARI, Quale Dio? Paralipomeni a Della cosa ultima, in LISCIANI PETRINI, Enrica, DE LUCA, Pina (Hgg.), Luoghi del pensare: contributi in onore di Vicenzo Vitiello, Milano 2006, 112. 70 CACCIARI, Dell’Inizio, 103.
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«Der Anfang sagt sich in seinem Prozess; jeder Name seines Prozesses ist einer seiner Namen; und das Anfangende zeigt sich in vielen Namen. Aber in diesem Sinne muss auch gesagt werden, dass das Schicksal des Anfangenden vorbestimmt ist: Sein Fortgang [deutsch im Original] führt mit unbeugsamer Notwendigkeit zur größten Entschiedenheit da zu sein; vom ‹Da-Sein› [deutsch im Original], von seiner Anwesenheit, kann sich das Anfangende nie wieder abwenden, aus ihm nie wieder ‹heraustreten› [deutsch im Original] […]. Der Weg verläuft in eine einzige Richtung, ist eine wahre Einbahnstraße [deutsch im Original]: Die Freiheit, aus dem abstrakten Anfang herauszutreten, bedeutet nie die Freiheit, dorthin zurückzukehren. […] Da er das Anfangende ist, bedeutet der Anfang einen irreversiblen kreativen Prozess. Seine Apokalypse ist immer cum figuris: neue Himmel und neue Erden – Notwendigkeit also von Himmel und Erde»71.
Für Cacciari handelt es sich um den Fortgang [deutsch im Original] im Gegensatz zum Überfluss [deutsch im Original] des Logos, um sein Kreisen, das aus dem Anfang den ‹Anfang der Vollendung› macht: Aufgabe der Philosophie ist es, diesen logischen und ontologischen Kreislauf zu verfolgen und seine Entwicklung und Historisierung zu bestimmen. Die vollständige Dramatik des Vorgehens stellt den Geist dar, in seiner Eigenschaft, Prinzip der Gesamtheit zu sein: von der einfachen und abstrakten Unmittelbarkeit des Anfangs [deutsch im Original] bis zu seiner Auflösung und Manifestation in der Realität seiner Determinationen. Auf diese Weise jedoch ist für Cacciari alles des Anfangs schon entschieden, sein Schicksal schon angekündigt. Nichts übersteigt ihn mehr und seine Revelatio fällt mit der Vollkommenheit seiner Offenbarung zusammen, ohne Ausschuss oder Überbleibsel – wie es dagegen im ‹Materialismus› Schellings nicht geschieht72. Cacciari hält die Unterscheidung zwischen diesen beiden Arten, ‹das› zu sagen, was der Anfang ‹ist›, für entscheidend, wenn wir uns über seine Wahrheit verständigen wollen. Und tatsächlich ist es gerade die idealistische Vermittlung in der lutherischen Tradition, wie viele Wissenschaftler inzwischen anerkennen, die die philosophische und theologische Tradition des Zeitgenössischen dominiert und bestimmt haben. Der idealistische Anfang ist das Logische [deutsch im Original], ‹das›, was mitgeteilt werden muss, das Verbum, das, was sich in der Erschaffung einer Welt auflöst. Die spekulative Bewegung der Phänomenologie des Geistes und der Vorlesungen über die Philosophie der Religion stellte in diesem Sinne einen entscheidenden Anziehungspunkt für die Theologie «fast in ihrer Gesamtheit»73 dar. Ausgehend von dieser idealistischen Dominante wird der Anfang als Verbum gedacht, das dem Vater als perfekte Geburt entsteigt, als schöpferische Kraft, die aus dem anfänglichen Schoß entsteht, um sich ohne Vorbehalt und ohne Vergessen hinzugeben. Der Anfang ist seine Mitteilung und sein Sich-Sagen; das Ek-sistieren ist der Anfang. Mit dem Verbum beginnt die Offenbarung der Tiefe [deutsch im Original], der Ausdruck des Schweigens, die Beleuchtung des Dunklen, das Sich- der Tiefe-Aussetzen.
71 Ebd., 107–108. 72 Vgl. ŽIŽEK, Slavoj, Der nie aufgehende Rest. Ein Versuch über Schelling und die damit zusammenhängenden Gegenstände, Wien 1996. 73 CACCIARI, Dell’Inizio, 188.
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Der Anfang ist also eine Entscheidung zum Sichtbarwerden: ‹Er hat hervorgebracht› ist der Anfang: «Der Vater nennt sich Sohn; das ist sein Name, den Er sich gegeben hat, von Anfang an für sich erdacht hat. Und, indem er sich einen Namen gegeben hat, eben durch diesen reinen Akt, hat er alles geschaffen: omnia per ipsum facta sunt»74. Deswegen ist Gott Liebe, da die göttliche Essenz darin lebt sich mitzuteilen, aus sich herauszugehen, sich an den Anderen zu wenden, um wirklich sie selbst zu sein. Cacciari liest in dieser Perspektive das göttliche Bedürfnis, sich zu zeigen, und die theologische Figur des Deus-Trinitas als die Bewegung des gegenseitigen SichMitteilens der Personen, die durch den äußersten Schmerz, die ‹Qual des Negativen›, auf eine Aussöhnung in einer perfekten Wiederzusammenfügung/Wiedererkennung hinzielt. Nichts geschieht, aber alles muss sich offenbaren: Hegels Gott nimmt für Cacciari die Form eines notwendigen und fortlaufenden Sichtbarwerdens an, in dem der Sohn den Vater nennen, sein Herz sein muss, wo der Tod im Prozess verschlungen wird, wo die Menschen sich unterscheiden müssen, um sich vereinen zu können, ohne Zufälligkeit. Die Ananke des Anfangs legt sich wie ein Schatten über jede ‹phänomenologische Etappe›, bei der jedes ‹Nein› zur Determination, zur Fixierung in der Einzigartigkeit der Erfahrung sich im höchsten ‹Ja› zum Leben des Geistes in seiner tiefsten Wahrheit ausdrückt. Im System Hegels ist der Anfang das Unus, welches den Ursprung gibt, Gott als das Ek-sistierende; Deus, als Figur der Determination, dem von ihm Anderen entgegengesetzt, in seiner Qual lebend; Trinitas, weil es Deus ist, aus dem das Gesamte der Geschichte voranschreitet, die in jedem ihrer Abschnitte von Gott durchdrungen ist. Diese Form des Anfangs nimmt den Sinn der Position an, seiner Bestimmtheit, die, einmal gegeben, nicht mehr aufgegeben werden kann. Es handelt sich um einen notwendigen Impuls, der in keiner Weise kalkulierbar ist, álogon in seiner Essenz, den nicht einmal die höchste Kraft des Gedankens jemals zu lösen wüsste: Die Entscheidung zur Schöpfung ist ein Sprung über den Abgrund, eigenmächtig und souverän, der die Negierung des Anfangs, ein Nicht-Anfang ist, denn er negiert die offene Gleichgültigkeit des Anfangs. Massimo Cacciari hebt den Widerspruch in Hegels Auffassung vom Anfang hervor: Er ist das Sein in potentia, das auf seine Bestimmungen wartet, ein leeres Nochnicht, das sich im Laufe des Prozesses definiert, dem das Werden [deutsch im Original] ein Ende setzt. Cacciaris Vorstellung von der Enthüllung will dagegen hartnäckig ihr unenthüllbares Überbleibsel erhalten, das Nein ihres Sich-Ent-hüllens bewahren, denkt sich ihr Mitteilen in den Spuren des Schweigens, aus dem sie entstanden ist, als Ikone, die auf eine unmöglich zu darzustellende Letztlichkeit verweist. In diesem Sinne findet seine Kritik vollkommene Entsprechung in Schellings Münchener Vorlesungen, die einen konstanten Anhaltspunkt für das Denken des Anfangs darstellen: fruchtbarer Berührungspunkt und gleichzeitig Element des Konflikts, das den Weg treu begleitet. Man kann jedoch nicht leugnen, dass auch der größte Philosoph der Dialektik und des Logos sich seinerseits als Bewahrer des eleusinischen Schweigens und der Unmög-
74 Ebd., 168.
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lichkeit des Wortes zu offenbaren wusste: Sicherlich können Hegels Jugendschriften als romantischer Übergang betrachtet werden, als eine Episode, die unter dem starken Einfluss von Hölderlins Dichtung stand. Und dennoch, und sei es nur angesichts eines Jugendgedichts wie Eleusis, das im August 1796 entstanden ist, kann man nicht leugnen, dass die Frage des Unsagbaren von Anfang an eine zentrale und entscheidende Rolle in Hegels Philosophie gespielt hat. «Schon der Gedanke faßt die Seele nicht,/die außer Zeit und Raum in Ahndung der Unendlichkeit/ versunken, sich vergisst, und wieder zum Bewusstseyn nun/ erwacht. Wer gar davon zu andern sprechen wollte/ Spräch’ er mit Engelszungen, fühlt der Worte Armuth»75.
Der Worte Armut [deutsch im Original] ruft in Hegel ein Entsetzen, eine Verlegenheit hervor, die ihn zum Schweigen bringen, weil er sich des Verlangens schuldig gemacht hat, das Rätsel durch die Macht der Sprache lösen zu wollen. Der unendliche Prozess der Leugnung und Vermittlung, der das Bewusstsein durchläuft, um sich selbst in der Welt zu finden, ist nämlich gleichzeitig Erfahrung der Negativität jedes Sagen-, Aufzeigen-, Wissen-Wollens. Omnis locutio ineffabile fatur, wie Nikolaus von Kues feststellt: In jedem Durchgang des Geistes zeigt sich die Nichtigkeit [deutsch im Original], fährt Hegel fort, in dem Moment, in dem er sich einbildet, ‹dieses› zu fixieren76.
75 HEGEL, Eleusis, in Frühe Schriften, Werke I, Frankfurt am Main 1986, 232. 76 An diesem Punkt der Darlegung bedarf es allerdings einer Anmerkung, die unserer Ansicht nach entscheidend ist, wenn sie auch im Rahmen dieser Arbeit unmöglich ausgeführt und vertieft werden kann. Das problematischste Element der gesamten Überlegungen Cacciaris, das weder im Anhang noch in einer Textpassage erschöpft werden kann, wird gerade in seiner Auffassung von Hegels System deutlich. Wie eine ganze Reihe von Autoren vertreten, die von einer aufmerksameren Exegese des Wortsinnes Hegels großer Werke – insbesondere der Wissenschaft der Logik und der Phänomenologie des Geistes – gestützt werden, verträgt Hegels System diese in eine abschließende Aussöhnung, in die Synthese aller Synthesen eingeschnürte panlogistische Substantialität nicht, welche die Tradition der klassischen Interpretation uns hinterlassen hat. Im dialektischen Prozess werden Ausschuss und Kräuselungen, Scheitern und Neubeginn erzeugt und wieder erzeugt, ohne dass der Weg jemals als vollendet betrachtet werden kann, ohne dass man je zu einer endgültigen Rationalisierung des Ganzen gelangt. In seiner epochalen Geschichte gelingt es dem Geist nicht, ‹den Knochen aufzulösen› in der absoluten Form des Konzepts, das heißt, jede mögliche Kontingenz in der notwendigen Gesamtheit der Idee, die nach ihrem dramatischen Durchgang durch die ‹Wehen des Negativen› in sich selbst zurückkehrt, zu subsumieren. Der letzte Sinn der großartigsten Philosophie aller Zeiten liegt nicht in dieser endgültigen Auflösung: Hegels Gesamtheit zeichnet sich tatsächlich durch einen ‹unteilbaren Rest› aus, durch einen irreduziblen Rückstand, der ihre Wahrheit-Rationalität nicht-gesamt macht. Niemals völlig in sich gelöst, niemals einfach zerstreut in Allem, das ist. Da ist nämlich immer ein Überbleibsel, das dem Mechanismus fremd und nicht zugehörig bleibt, das seiner Einverleibung widersteht, das sogar momentan dafür sorgen kann, dass er nicht mehr funktioniert. Trennung und Teilung sind also die Grundlage der Bewegung der Realität. Genauer gesagt, die Kenntnis des Absoluten wird dann möglich, wenn jede repräsentative Maske abgenommen wird, um den trügerischen Charakter jedes Begriffes, Symbols oder Bildes zu zeigen, die den Anspruch haben, das Absolvenz zu erfassen, es in irgendeiner Determination festzulegen. Am Ende des Kapitels über ‹Die Religion› (in HEGEL, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main 1970, 495–574) spricht Hegel in dem der Komödie gewidmeten Paragraphen über die Entfremdung der Substanz: Das bedeutet, dass man auf dem höchsten Punkt des vom Geist zurückgelegten Wegs das komödiantische Bewusstsein trifft, dem die Substanz vorenthalten wird und das nur deswegen frei ist. Sein Lachen hat keinen Rahmen, keine Kategorien, wie sie hingegen die Wissenschaft besitzt. Was bedeutet in Wirklichkeit Entfremdung von der Substanz? Hegel sieht in Jesus die
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4. Den Anfang befreien. Über Schelling hinaus Die Lektion des späten Schelling scheint Cacciari das entscheidende Element für das auf Hegel folgende Über-Denken des ontologischen Problems des Vorausgesetzten zu bieten. Zuerst einmal müssen der Ursprung und der Anfang unterschieden werden. Der Anfang kann für Schelling nicht einfach mit dem Ursprung (das heißt mit dem den Ursprung Hervorbringenden) übereinstimmen, denn der Anfang ist das Unbedingte, während der Ursprung von seinem Ursprung-Hervorbringen bedingt wird und folglich von der Realität, die einen Effekt bewirkt. Cacciari drückt sich so aus: «Es ist unmöglich, vom Anfang zu sagen, dass er arché sei. Wenn wir mit dem anfangen, das anfängt, fangen wir beim ‹Erstgeborenen› an. Der Anfang, als Das-was-anfängt, entspricht dem Eins-das-ist; wir vermuten also im Anfang jede Beteiligung und jede génesis. Wenn das Eine Anfang-arché ist, wird es das brauchen, was vom Anfang kommt, so wie die Ursache die Wirkung ‹braucht› (Damaskios, De principiis, I, S. 39 ff.). Wenn es sich um einen Beginn-von handelt, wird es sich nicht konzipieren können ohne das Seiende, das es ausdrückt, das es manifestiert»77.
Der Anfang wird weder von der Notwendigkeit zu schöpfen, noch von der, nicht zu schöpfen, bedingt. Der Anfang lebt für Schelling ebenso wie für Cacciari – und das ist der wesentliche Punkt des Diskurses – im Zustand einer radikalen Gleichgültigkeit und Unbedingtheit, als wäre er noch nicht geboren: Der Gedanke des Anfangs ist der Gedanke des reinen Unbedingten (das in einem gewissen Sinne ‹vor› Gott kommt). Schelling geht für Cacciari weit über Hegels System hinaus, das alles in seinem dialektischen Kreislauf – des ‹in sich›, ‹außer sich› und ‹Rückkehr zu sich› – löst und dabei gerade das Problem des Anfangs radikal verdrängt. Massimo Cacciari verfolgt die Wege von Anaximander, Plotin, Nikolaus von Kues, Kant und Hegel mit Gründlichkeit. Aber der Streckenverlauf ist ganz deutlich vom Denken der neuen Gegenüberstellung von mythos und logos inspiriert, das von der Philosophie des Absoluten des späten Schelling eingeleitet wurde. Cacciari zeigt die Grenzen, Aporien und Sackgassen auf, die die abendländische Philosophie zu diesem ‹neuen Anfang› führt. Gleichzeitig jedoch versucht er, die vergrabenen Schichten, die unerforschten Möglichkeiten und flüchtigen Strömungen offenzulegen, die verstrickt
Verbindung zwischen der Entfremdung des Subjekts und der der Substanz. Was bleibt nach der Entleerung? Nachdem die Realität alle Masken (Bewusstsein, Wahrnehmung, Selbstbewusstsein, Intellekt, Vernunft) getragen hat, erscheint der Blick, in dem sich Gott selbst offenbart: der einer befreiten Realität, die sich jetzt in ihrer Blöße und Alltäglichkeit zeigt, die Kleider und Masken abgelegt hat, angesichts der reinen Realität des Anderen, diesseits oder jenseits ihrer gepreisten Objekte. Das Kreuz ist diese Entbehrung der ontologischen Maske, Raum des reinen Wissens. Das Sein zu sehen, bedeutet das reine Seiende zu sehen, entfremdet von allem, bekannt über jedes Geheimnis hinaus, in seiner reinsten Erkennbarkeit. Incipit tragoedia. Vgl. APPEL, Kurt, Zeit und Gott. Mythos und Logos der Zeit in Anschluss an Hegel und Schelling, Paderborn 2008. 77 CACCIARI, Dell’Inizio, 86–87.
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oder versunken sind in der Logik des Systems, das man sorgfältig vollendet wünscht, das aber sozusagen das Bedürfnis nach einer radikalen Wiederaufnahme angesammelt hat. Ausströmen aus dem Logos hin zu einer Philosophie des Lebens, die den Irrationalismus als unvermeidlichen Preis dafür akzeptiert, dass der unerreichbare Grund und der nicht ableitbare Sinn wieder ins Spiel kommen? Oder Ausströmen des Logos, das kasteit wird von einer autoreferentiellen Vernunft, die das Absolute nur in Hinsicht auf ihren Anspruch auf Selbstgründung anerkennt? Was diese Dialektik angeht, erscheint die Begegnung mit der Philosophie des späten Schelling, vor allem der Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit von 1809 und der Weltalter, ausschlaggebend, da sich der deutsche Philosoph im idealistischen Kielwasser der Untersuchung des Beginns über die Schlüsselposition des von Kant und Hegel gelegten Fundaments hinaus begibt und anfängt, die spekulative Struktur der Aufklärung und ihres Begriffs der klaren und deutlichen Wahrheit ohne Voraussetzungen zu überwinden. Der rationalistische Anspruch, dass es möglich ist, alles Existierende a priori zu kennen, abgeleitet von den Gesetzen des Intellekts, eingefügt und begründet in einem Denken, das mit seinem methodischen Fortschreiten tatsächlich die Existenz der Seienden lösen kann, wird von Schelling angesichts der Wirklichkeit [deutsch im Original], der tatsächlichen Existenz, befragt und dekonstruiert: Die Tatsache, dass man das Seiende a priori kennen kann, bedeutet keinesfalls, dass man auch seine Existenz bewiesen hat. Der Begriff hat lediglich mit der Möglichkeit des Gegenstands zu tun, nicht mit der Realität seiner Existenz. Die negative Philosophie erweist sich folglich als rein rational, a priori, begrifflich, und findet in der Selbstreflexivität der Vernunft alle denkbare Realität, aber eben als gedachte, als eine Möglichkeit. Gerade der Radikalismus dieser Inklusivität lässt die Vernunft den Horizont des Beginns als das erfahren, was ihr unwiderruflich als ‹außerhalb von ihr› erscheint. Beim Vorausgesetzten angelangt, unterbricht sich die Produktion des Denkens und ist «ohne Beschäftigung»78. Die Aporetizität der Vernunft, innerhalb des Rahmens, von dem sie sich nährt, öffnet also der positiven Philosophie den Weg, in der das Vorausgesetzte, die wahre crux philosophorum, niemals ableitbar ist, in keiner Weise vom Verstand pro-duziert werden kann und sich nur a posteriori zu erkennen gibt. Schelling gelingt auf diese Weise eine Überwindung innerhalb der Logik des deutschen Idealismus, er thematisiert das Denken erneut, in einem Gestus, der über die Dialektik hinausgeht: Nicht mehr Aussöhnung der Einheit der Vernunft mit dem Absoluten, sondern Aussöhnung von negativer und positiver Philosophie, die einander hinsichtlich des radikalsten Denkens vom Anfang unbeugsam gegenüberstehen. Cacciaris Neuauslegung der negativen Philosophie Schellings stellt also einen unumgänglichen Schritt in seinem Denken vom Anfang dar: Der deutsche Philosoph zeigt nämlich die Grenzen der kritischen Philosophie auf, die genau am Punkt der
78 CACCIARI, Sul presupposto. Schelling e Rosenzweig, in: «aut aut», 211–212, Januar–April 1986, 48.
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größten Konzentration sich dem Unterschied zwischen Begriff und Existierenden bewusst wird und ihm betrachtend, fast erstaunt79, gegenübersteht, angesichts der eigenen Unzulänglichkeit gegenüber dem quod, in Kontakt immer nur mit der Möglichkeit der Sache. In Bezug auf das Prius verirrt sich die Vernunft, erfährt ihr Scheitern. Ihre Methode schreitet in der Tat autonom und selbstsicher durch logische und begriffliche Vermittlung voran, mit dem Anspruch, alles zu erklären und als Idee wiederzugeben: In der reinen Existenz ohne Namen und Begriff entdeckt die Vernunft jedoch ein unüberwindbares Limit, das ihr Probleme bereitet, denn sie stößt auf etwas Störendes und Ungewöhnliches, das den natürlichen Verlauf der Dinge aus dem Gleichgewicht bringt und die üblichen Prozeduren umstürzt. Cacciari entdeckt in den Vorlesungen X-XV von Schellings Philosophie der Offenbarung eine erleuchtende, fruchtbare Formulierung zur Durchquerung der Aporie des Anfangs: Hier taucht die Idee vom Vorausgesetzten als das bloße Existierende auf, das keiner Notwendigkeit unterworfen ist, sondern der reinen Zufälligkeit entspricht, die weder als Ursache noch als von der Möglichkeit befreit, Ursache zu sein, gedacht werden kann. Der Anfang muss folglich fern von jedem Zwang gedacht werden: sowohl Ursache als Nicht-Ursache sein. «Keinerlei Notwendigkeit, zur Schöpfung zu schreiten – keinerlei Notwendigkeit, nicht zu ihr zu schreiten. Seine vollkommene Zufälligkeit (keinem Vorhergehendem, keiner Ursache, keinem arché zu unterliegen) bewirkt die unendliche Freiheit seines Vermögens – ein Vermögen, welches folglich bedeutet, dass er sich von jeder abstrakten Absolutheit zu befreien vermag: sowohl jener des rein Transzendenten, als auch jener, die ihn im Wesentlichen in einer ‹demiurgischen› Dimension definiert»80.
Der entscheidende Punkt des Bruchs – und entsprechend der Entdeckung – ist genau dieser. Der wahre Gewinn liegt darin, einen Grund anzuerkennen, ein reines Seiendes – das nicht das Sein ist –, welches für Schelling das unvorhersehbare, nicht erinnerbare und abgründige Prius des Gedankens ist, und in seiner unmittelbaren Kraft dem realen Sein vorausgeht.
79 SCHELLING, Friedrich Wilhelm Joseph, Philosophie der Offenbarung, in Sämtliche Werke. StuttgartAugsburg 1859, XIII, 165. Luigi Pareyson sieht in seiner Interpretation von Schellings Werk in diesem Zustand der Vernunft gegenüber einer Existenz, die schon ist, noch bevor sie gedacht wird, das bezeichnende Element der Philosophie Schellings; die Existenz stellt das bloße Existierende dar, demgegenüber die Vernunft Staunen empfindet, verblüfft und ohne Worte ist. Pareyson zeigt auf, dass es gerade diese ekstatische und erstaunte Vernunft ist, die den Übergang von der negativen zur positiven Philosophie in Schelling darstellt, «die einen wahren Wendepunkt markiert, der einen Sprung vollführt, denn es handelt sich darum, wieder beim Anfang zu beginnen, von der wahren Existenz ausgehend, in einer Umkehrung, denn das Existierende, von dem die positive Philosophie ausgeht, ist das Gegenteil der Vorstellung des Seins, bei der die negative Philosophie ihren Ausgangspunkt nimmt» [PAREYSON, Luigi, Lo stupore della ragione in Schelling, in «Informazione Filosofica», 4 (1991), 7]. Vgl. COURTINE, Jean-François, Extase de la raison, Essais sur Schelling, Paris 1990. 80 CACCIARI, Dell’Inizio, 139–140.
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Der Versuch der negativen Philosophie, mit der Einheit von Sein und Begriff anzufangen, erscheint in diesem Zusammenhang als verfälschend: Man kann den Anfang denken, wenn man ihn von der Begrifflichkeit und der Notwendigkeit zu sein befreit, wenn man ihn als Geist, das heißt als Freiheit denkt. Wie Tomatis in seiner Deutung von Schellings Philosophie feststellt, gibt es
«nur deswegen ein Sein, weil es ein Denken gibt; aber das Sein gibt sich nur, insofern es mit der ganz realen Freiheit zusammenhängt – sie ist – , die aus dem un-vor-denklichen Prius des Denkens, des Seins, Gottes hervorgeht – der, da er auch gegenüber seinem eigenen Prius frei ist, Herr des Seins und Mittelpunkt des Denkens ist»81.
Schellings mystagogischer Weg scheint über das unsagbare Schweigen des ontologischen Wegs Heideggers hinausgehen zu wollen, indem die Begründung des Unterschieds nicht einfach in der Unmöglichkeit, das Vorausgesetzte zu definieren, sondern in der ursprünglichen Freiheit zu sein oder nicht zu sein, sich in eine bestimmten Form zurückzuziehen oder nicht zurückzuziehen, konzipiert wird. Es ist die Vorstellung vom Vorausgesetzten als reinem Wollen, das dem Sein selbst vorausgeht, so wie die notwendige Realität Gottes. Das absolute Subjekt nimmt auf diesem Wege die Züge der ewigen Freiheit an, der absoluten Möglichkeit, aus sich herauszuströmen82. Auch Heidegger erkennt an, dass Schelling eine wesentliche Rolle dabei gespielt hat, das Prinzip der Freiheit, das heißt des Vorrangs des Willens gegenüber dem Sein, in den Mittelpunkt des idealistischen Systems zu stellen. Wo Wollen ist, erscheint das Sein: Die Bestimmungen von Schellings Einem müssen im Sinne des Wollens betrachtet werden. Das bloße Seiende entspricht der meta-ontologischen Freiheit, der reinen Möglichkeit, dem ‹völlig befreiten Willen›, der dem Wollen selbst gleichgültig gegenübersteht: Freiheit zu sein und nicht zu sein, sich zu manifestieren oder nicht zu manifestieren. Wie Tomatis schreibt, «ist es nur das seyn Sollende [deutsch im Original], gegenüber dem zukünftigen Sein, denn in ihm kann es sich im Akt als Vermögen bewahren; ihm gegenüber wird das erste Vermögen das sein, welches nicht sein muss, nicht in dem Sinne, dass es nicht sein müsse, sondern dass es nicht ins Sein gesetzt werden muss, um es selbst zu bleiben, das heißt Vermögen zu sein»83.
Auf dieser spekulativen Linie wird die Welt zum zufälligen Ergebnis einer absolut freien Aktion, geschaffen von einem ‹brennenden Willen›, der sich zur Schöpfung entschließt, etwas außerhalb seines Selbst zu errichten, ohne Warum84.
81 TOMATIS, Francesco, Ontologia del male. L’ermeneutica di Pareyson, Roma 1995, 70. 82 Vgl. TOMATIS, Kenosis del Logos. Ragione e rivelazione nell’ultimo Schelling, Roma 1994. 83 Ebd., 140. 84 «Die Schöpfung ist primäre Zufälligkeit und Wer für sie entscheidet, bleibt völlig verständlich, auch wenn er niemals eine Welt errichten würde. Vor den Erden und den Meeren und den Quellen ist ihr Herr; dass etwas durch ihn ek-sistiert ist ohne warum. Wir nennen Gott ‹denjenigen, in dessen Gewalt es steht, auch das außergöttliche Seyn zu setzen oder nicht zu setzen› (SCHELLING, Philosophie der Offenbarung, 311): Diese Person kann den Anfang geben, ist der Beginnende, der Autor, der Vater – ist der Unus, der am Sein teilhat» (CACCIARI, Dell’Inizio, 200).
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5. Das Prinzip des Anfangs: Freiheit Der Grund für die besondere Verbindung, die zwischen Cacciaris Philosophie und den theoretischen Grundlagen Schellings besteht, findet sich im wesentlichen Ziel, auf das der gesamte Weg des deutschen Philosophen gerichtet ist: und zwar, dem göttlichen Absoluten das Primat der Freiheit gegenüber dem Sein zu bewahren, als Besiegelung seiner Essenz und seines Wirkens: «Der Geist will und er ist frei. Daß er will, dafür lässt sich kein weiterer Grund angeben»85. Wenn das Wollen der Ursprung von allem ist, offenbart Schellings Position seine radikale Herkunft von Kant und stellt sich in erster Linie als Philosophie und erst in zweiter Linie als Philosophie des Selbstbewusstseins dar. Tatsächlich hat sein Denken seinen Anfang bei Kant genommen; und in Kant findet er dann die Übereinstimmung von Wollen und Wissen wieder, die Zentrum und Höhepunkt seines Kritizismus sind. Das Primat der praktischen Vernunft stellt tatsächlich eine freie und unbedingte Kausalität fest – das noumenon als positive Grenze des Wissens – als Faktum der Vernunft [Deutsch im Original], das von keinerlei, weder reiner noch empirischer, Intuition begründet wird86. Dieses Prius der Freiheit wird zum Epizentrum, von dem aus sich Schellings System entfacht, als intellektuelle Intuition, die der Geist von sich selbst hat. Wie Jacobs feststellt, liest Schelling Kants System im Lichte eines wesentlichen Einklangs der drei Kritiken, in dem die praktische Vernunft – insbesondere das Noumenon der Freiheit – zur einzigen realen Kausalität wird «und damit die einzige wirkliche unmittelbar gewußte Existenz»87. Wenn man diesem Kant’schen Weg weiter folgt, bewirkt die Weiterentwicklung der Idee von transzendentaler Freiheit, dass sich der ontologische Unterschied im souveränen Akt, Gott zu sein, verwirklicht, im «permanenten Prius des Symbols des freien Ursprungs gegenüber der Idee vom notwendigen Fundaments, des grundlosen Anfangs gegenüber dem Begriff vom kausalen Prinzip»88. Für Schelling ist die Freiheit, was «wir als letzte Ursache aller Dinge (wollen)»89, sie kann in einer nach notwendigen Ursachen (Spinoza) geordneten Welt nicht bewahrt werden. Deswegen kann «nur wer Freiheit gekostet hat, […] das Verlangen empfinden, ihr alles analog zu machen, sie über das ganze Universum zu verbreiten»90. Das malheur de l’existence, das jedes außerhalb Gottes – dem Einzigen, der gegenüber seinem Sein frei ist, da er frei ist, nicht zu sein, nicht zu erschaffen, reines Selbst zu sein – Seiende betrifft, drückt die uneingeschränkte Freiheit eindringlich aus, die benötigt wird, um Schellings Prius,
85 86 87 88
SCHELLING, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, Bd. 1, 382. KANT, Kritik der praktischen Vernunft, §7, Frankfurt am Main 1974, 42. JACOBS, Schelling lesen, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, 50. SEQUERI, Ontologia della libertà e struttura della fede. L’apertura di Luigi Pareyson e l’istanza di una nuova teologia filosofica, in Versch. AUT., Teologia e filosofia. Modelli, figure, questioni. Scritti in onore di mons. Angelo Bertuletti, Milano 2008, 141. 89 SCHELLING, Philosophie der Offenbarung, XIII, 256. 90 SCHELLING, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, in: SW, VII, 351.
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den göttlichen Geist zu denken: der einzige, der über seine abgründige Öffnung zu Sein glücklich ist. Die Frage der Notwendigkeit verkörpert sowohl für Schelling als auch für Cacciari den Proteus oder die Sphinx, die das Denken zum Scheitern bringen, wenn es nicht gelingt, sie von Anfang an auszuarbeiten91. Schelling schreibt: «Der Gedanke die Freiheit gleichzeitig zum Eins und Alles der Philosophie zu machen, hat den menschlichen Geist überhaupt, nicht bloß in Bezug auf sich selbst, in Freiheit gesetzt und der Wissenschaft in allen ihren Teilen einen kräftigeren Umschwung gegeben als irgendeine frühere Revolution»91. Folgt man Cacciaris Weg, verharrt das Denken regungslos auf der Schwelle angesichts der transzendentalen Freiheit und des Wollens in uns, das sich nur in ihr bildet und bewegt. Es ist die Erfahrung, von Schelling als ‹klarsichtige Ekstase› bezeichnet, der Vernunft selbst. In ihrem ‹negativen Geistesblitz› gelangt die Vernunft genau in dem Moment zur Wahrheit, wenn diese fällt. In dieser Richtung, die Cacciari verfolgt und vertieft, geschieht es, das zu denken, was sich als solches den traditionellen begrifflichen Kategorien entzieht. Das griechische Grauen vor der Wahrheit des Seins in ihrer tragischen Essenz kann, zusammen mit dem platonischen und aristotelischen thâuma und dem Kantschen Sublimen, das lähmende Staunen verdeutlichen, das Schellings Spekulation berührt. Die unerhörte Umwälzung, die der Unterschied der Freiheit hervorruft – innerhalb der Existenz Gottes, sich ursprünglich als Offenbarung zeigend –, zieht die Vernunft in den Abgrund eines Schwindels, der ihr Einhalt gebietet, sie entleert, sie entgleisen lässt und sie gleichzeitig anzieht und überrascht. Diese diaporetische Bedingung überträgt sich jedoch nicht in eine unausgesprochene Einladung zum reinen Schweigen92. Es handelt sich im Gegenteil darum, Kant und Schelling folgend, einen archimedischen Punkt zu finden, gleichsam außerhalb der Welt, an dem die Vernunft den Hebel ansetzen kann, um sich selbst zu verstehen: Sicher nicht über einen deduktiven und selbstbegründenden Weg, wohl aber über eine Hermeneutik der ursprünglichen Freiheit, die nicht den Anspruch erhebt, das Was, sondern das reine Das des Seienden zu begreifen. Auf dem Höhepunkt ihres gründenden Anspruchs erkennt die Vernunft ihre eigene Endlichkeit, ihre Bedingtheit an, und gleichzeitig, dass sie von der Freiheit der absoluten Grundlage des Seins gewollt und gedacht wird, die sie auf unverständliche Weise übersteigt. Diese Freiheit ist das Thema der positiven Philosophie, jene Freiheit, die sich ohne jedes Vorausgesetztes errichten kann. Vor diesem Grund kann es keinen Begriff, sondern nur Intuition geben – die, auf einer Linie mit Kant, unvermittelt und offensichtlich ist –, so wie es gegenüber einer ursprünglichen Aktivität und
91 Vgl. CIANCIO, Claudio, Essere e libertà nell’ultimo Schelling, in: «Giornale di Metafisica», XXVI, Nr. 1, 2004, 69–89. 91 SCHELLING, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, in: SW, VII, 351. 92 Vgl. PAREYSON, Luigi, Stupore della ragione e angoscia di fronte all’essere, in: Ontologia della libertà. Il male e la sofferenza, Torino 1995, 385–438.
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einem ursprünglichen Willen geschehen kann, die über jede Deduktion oder Induktion hinausreichen: Es handelt sich darum, sich zu ent-hüllen, sich zu offenbaren, als Bedingung der Möglichkeit jedes weiteren Urteils. Wenn es also wahr ist, dass die Wahrheit, die alles trägt – die Freiheit –, ein ‹Abgrund der Vernunft› ist, muss gleichzeitig auch gesagt werden, dass dieses absolute Prius entschieden hat, sich auf eben diese Weise zu offenbaren: Und die Schöpfung ist der Raum, wo es zum Ausdruck kommt. Der Weg a posteriori zeigt sich als der einzige, der geeignet ist, das aplos On zu erfahren, da man warten muss, dass es sich offenbart. Nur von den Formen dieser Offenbarung ausgehend ist es wiederum möglich, den Anfang zu denken, und nur im immanenten Hervorbringen des Transzendenten wird es möglich, aus der Stumpfheit und dem stummen Schwindel der Vernunft herauszutreten. Das, was nicht Denken ist, das was außerhalb ist, da Prius des Denkens, wird von Schelling wieder in das Denken ‹eingefügt›, in einer erzählenden Philosophie, die aus der Erfahrung der Manifestation des Ursprünglichen entsteht und schöpft, und verlangt, ihre Zukunft zu beachten, nicht mit dem Anspruch, sie genau zu entziffern, sondern über eine Hermeneutik der Historizität, verstanden als das Geschehen einer anfänglichen und letzten Freiheit. Die positive Philosophie Schellings ist diejenige, die sich in dieser Systole und Diastole generiert und regeneriert, bewirkt von der Resonanz des Anfangs in der Dissonanz des Gedankens vom Anfang. Dieser Gedanke löst die Dissonanz natürlich nicht auf, da er im Anfang das Freisein von der blinden Notwendigkeit zu existieren denkt, dabei seine In-Differenz zu sein und nichts bewahrend: also ohne das Nichts aufzugeben. Der höchste Punkt der Erkundung Schellings berührt den Abgrund dieses Unterschieds zwischen dem Absoluten und dem existierenden Sein, das heißt das Problem des Seins vor jeder Grundlage und jeder Ex-sistenz, das jeder Unterscheidung und jeder Ent-scheidung vorausgeht. Es ist das Absolute, in seiner Einfachheit betrachtet, als Ungrund [Deutsch im Original]. Es ist das Eine als Nicht-Ursache, NichtAnfangendes: Es ist gleichzeitig das Problem der Welt als Nicht-Ausströmen aus dem neoplatonischen Unsagbaren. Also weder das hypostasierte transzendente Absolute noch der immanente Beginn, der notwendigerweise vom Anfang ausgehend Geschichte wird. Dieses Thema stellt die entscheidende Frage dar, die von Cacciaris Philosophie gestellt und durchdrungen wird. Im Übrigen war es schon für die fundamentalen Stimmen der klassischen Metaphysik ein fatales Problem, Gottes Ursache-Sein zu retten und gleichzeitige seine Supra-Wesentlichkeit zu bewahren, angefangen bei Plotin, bis hin zu Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Meister Eckhart. Nicht ohne Grund war die Schwierigkeit, die vielen zu denken, vom Unum super-exaltatum, die Crux des Neoplatonismus. Muss der Anfang die Daseinsberechtigung des Seienden darstellen? Genau von dieser Frage ausgehend, entwickelt sich Cacciaris Weg hin zum Anfang, als Nicht-Seiendes des wohl unterschiedenen Archetyps, der immanent ist im Sich-Geben der Existierenden:
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«Er kann sich nicht einmal als Identität des Verschiedenen angeben, denn dies würde die Verschiedenen und den Akt, durch den sie sich identifizieren, voraussetzen. Er kann nur als ‹absolute Indifferenz› [Deutsch im Original] angezeigt werden, das absolute, einfache Nicht der Unterschiede, ihr ursprüngliches Nicht-Bestehen»93.
Genau diese All-Möglichkeit des Anfangs ist das spekulative Zentrum der ontologischen Überlegungen Cacciaris. Der Philosoph ist zutiefst davon überzeugt, dass es der Überwindung sowohl der idealistischen Dialektik – eine Position, die Schelling selbst als Erster entschlossen eingenommen hat, nicht ohne jedoch, nach Auffassung Cacciaris, zu aporetischen Folgerungen hinsichtlich der Freiheit des Vorausgesetzten zu gelangen – wie der Negativität des abgründigen Denkens der kritischen Vernunft zu gelangen. Diese Fragestellung verlangt Rechenschaft über das, was sich in der Ausrichtung des Denkens widerspricht: Das Denken vom Anfang steht im Widerspruch, wie Schelling feststellt. Und dies wird als ein Ereignis aufgefasst, das im Herzen des ursprünglichen Prius wohnt, dem Eins immanent ist: nicht zwischen Einheit und Vielfalt, Unendlichkeit und Endlichem, Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Da ist sie, die große aporia, die große offene und niemals beantwortete Frage des Platonismus. Das notwendigerweise Existierende ist jedenfalls nicht mehr einfach die unbedingte Idee der negativen Philosophie. Die positive Philosophie kann für Schelling nicht so sehr von einem bestimmten Vorausgesetzten – Gott, das höchste Seiende, der Ursprung, der den Anfang schenkt – ausgehen, sondern von einer ewigen arché, von einer freien schöpferischen Aktion, «vom Vorausgesetzen, da es das ‹Staunen› selbst ist, welches angesichts des Abgrund des einfach Existierenden befällt»94. Hier nähert sich das Denken vom Anfang an sein ‹verzehrendes Feuer› an: Die unendliche Freiheit des Anfangs kann nicht dem unendlichen Vermögen-zu-sein, das sogleich ins Sein übergeht, entsprechen. Die wahre Freiheit des Vermögens zu sein, besteht paradoxerweise gerade darin, dass es vermag, nicht zu sein: Frei von jedem Willen – auch dem, sich selbst zu wollen –, wird der Anfang reine Indifferenz (das Mögliche), die alles in ihrer undenkbaren AllMöglichkeit umfasst. Der Anfang ist folglich weder Ursprung oder Grundlage, noch das unbedingte Absolute, weder Ungrund noch perfekter actus purus; man kann nicht sagen, dass es einfach die Spannung zwischen ápeiron und Logos ist, zwischen Versinken und communicativum, Kontraktion und Expression. In jedem dieser Namen wirkt nämlich das Prinzip der Determination, die der Freiheit des Anfangs Bedingungen stellt und in gewissem Maße über die All-Möglichkeit ihrer Indifferenz entscheidet.
93 CACCIARI, Dell’Inizio, 116. 94 CACCIARI Sul presupposto. Schelling e Rosenzweig, 49.
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6. Über das Vorausgesetzte: Schelling und Rosenzweig Cacciari wiederum besteht darauf, dass die umgekehrte Idee95, das einfach Seiende, das undenklich Existierende, das nicht gekannt werden kann und nicht objektivierbar ist, angesichts dessen die erstaunte Vernunft wieder beginnt zu erzählen, nicht Gott ist. Es ist das Ursprüngliche, das Gott vorausgeht, das Gott Vorausgesetzte. «Das Denken muss sich also auch von Gott befreien, um sein eigenes authentisches ‹Subjekt› zu erahnen: Ein Anfang, den kein Weg, keine innewohnende Trennung zur Existenz und ihrer Grundlage ‹führt›»96. Der neoplatonische Zug der christlichen Mystik taucht in Schellings Vorstellung von der Übergottheit [Deutsch im Original] der Grundlage auf, das heißt, diese undefinierbare Quelle, dieses ‹nicht› von Gott, das die Authentizität des Anfangs anzeigen kann. Für Schelling ist die wahrhaft freie Philosophie jene, die dazu führt, uns von dem Wunsch, der uns dahin bringt zu existieren, zu lösen, in Meister Eckharts Aufstieg zu ihrem unsagbarem Ursprung. Es ist jene, die in der Tradition Plotins reine askesis des Denkens wird, ein Weg der Vereinigung, der impliziert, die Formen und Unterschiede hinter sich zu lassen, um die Ekstase zu erreichen, die jedes Anderssein aus uns entfernt: Bis zur Entleerung und der Auslöschung, die uns zu Nicht-Geborenen macht und uns deswegen davon befreit, sterben zu müssen. Cacciari weist darauf hin, dass Meister Eckharts Ekstase in Schelling als vollständiger Verzicht auf jede gnosis anklingt: Auf diesem Weg wird die Philosophie reine Übung des Todes, als Einladung, im eigenen Lebenszentrum zu versinken, Leere in sich selbst zu schaffen und jedes Seiende fallen zu lassen, um Platz zu machen für den ewigen Anfang, über den wir nichts wissen, über den die Vernunft nichts weiß. Es ist jedoch eben diese von der Seele ausgeführte spirituelle Übung der Entleerung und Wieder-Vereinigung, welche uns den riskanten Ausgang und die – letztliche und vollkommen idealistische – tiefe Ambivalenz enthüllt, die, laut Cacciari, nicht einmal Schellings Weg zum Anfang verschont. Cacciari erkennt in Rosenzweigs Wiederaufnahme von Schellings Vorausgesetztem einen besonders fruchtbaren Weg zur Überwindung des begrifflichen a priori des Idealismus, der angesichts der absoluten Tatsächlichkeit [Deutsch im Original] Gottes, des Menschen und der Welt möglich wird. Auch Rosenzweig betrachtet die rationalistische Reduktion der Existenz als idealistischen Abschluss der europäischen Metaphysik. Der Stern der Erlösung kann als Bemühen begriffen werden das Vorausgesetzte a posteriori zu benennen und zu verstehen, das heißt, nach seiner Manifestation. Dennoch ist Cacciari überzeugt, dass Rosenzweig Schellings Bedürfnis verrät, der positiven Philosophie nicht von einem bestimmten Prius ausgehend einen Anfang zu geben: Rosenzweigs Philosophie nimmt
95 SCHELLING, Philosophie der Offenbarung, in: SW, XIII, 164. Vgl. STRUMMIELLO, Giuseppina, L’idea rovesciata. Schelling e l’ontoteologia, Bari 2004. 96 CACCIARI, Dell’Inizio, 124.
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ihren Ausgang in der Tat bei Gott97. Der Anfang ist also positiv und besitzt eine Bestimmung: Schellings positive Philosophie dagegen steht einem Abgrund gegenüber, von dem sie nichts weiß, einem Staunen ohne Inhalt. Rosenzweigs Verwunderung, die den Anfang begleitet, trägt von Anfang an die Züge von Gottes Wundertat: Seine Philosophie erscheint also sogleich als religiöse Philosophie, die von ihrem Aufkommen an dazu neigt, sich um ihren schon bestimmten Inhalt zu sammeln. Das absolut Existierende trägt schon den Namen Gottes und nimmt auf diese Weise sogleich die Züge einer Idee an, einer ‹zufälligen Notwendigkeit›, die zwischen Vermögen und Akt schwankt: All dies verhindert die wirkliche Überwindung der idealistischen Begrifflichkeit und verbleibt in dem theologischen System, das auch Heidegger ein für alle Male befragen und überdenken wollte. Wenn Rosenzweig also vom Vorausgesetzen als Gott und Gott als Schöpfer des Anderen spricht, macht er nichts anderes, als ihn von Anfang an positiv zu bestimmen; Schellings positive Philosophie dagegen setzt ausschließlich das unvorderlich Seiende98 voraus, das mit dem unendlichen Vermögen, der Kompossibilität alles Möglichen übereinstimmt, und folglich auch mit der Urmöglichkeit [Deutsch im Original], der ursprünglichen Möglichkeit des Vermögens selbst. Dieses abgründige Denken muss notwendigerweise an das Wissen gebunden bleiben. Genauer gesagt, stellt es den Verzicht auf die produktive Magie des unterschiedlichen Wissens dar, um ek-statische Bewegung hin zum Unbezwingbaren und Ungreifbaren zu werden, das gerade in der Armut des Denkens seinen edlen Raum findet. «Der Mensch weiß, und wissend objektiviert er immer die Freiheit des Anfangs; der Mensch denkt und denkend stellt er diese Freiheit wieder her»99. Im Grunde des menschlichen Herzens rührt sich die Erinnerung an den Anfang, im Menschen selbst sucht man den Anfang; in der Freiheit seines Denkens wird der Anfang wiedergeboren und wiederhergestellt. Obgleich es ihn nicht verstehen, ihn weder ergreifen noch darstellen kann (er würde ihn zu einem Gegenstand machen), kann das Denken auf seinem inneren Weg ein Wissen über ihn haben, kann es den Anfang errichten. In dieser Hinsicht geht Cacciari sowohl über Rosenzweig wie über Schelling hinaus; nicht einmal Schellings Anfang kann der absoluten In-Differenz oder dem Unmittelbaren entsprechen: Auch er ist eine Art ‹Resultat›, ‹etwas› das in gewisser Weise positiv vom Gedanken erstellt wird, Akt des Anfangs. Man kann also nicht behaupten, dass der abgründige Anfang der absoluten Freiheit das Vorhergehende sei, das Prius des Denkens: Eher muss man sagen, dass er im Akt des Denkens ersteht. Der
97 «GOTT sprach. Das ist das zweite. Es ist nicht der Anfang. Es ist schon die Erfüllung, die laute, des schweigenden Anfangs. Es ist schon das erste Wunder. Der Anfang ist: Gott schuf. Gott schuf. Das ist das Neue. Hier zerbricht die Schale des Geheimnisses. Alles, was wir bisher von Gott wußten, war nur Wissen um einen verborgenen Gott, einen Gott, der sich und sein Leben in einem eigenen mythischen Bezirk, einer Götterburg, einem Götterberg, einem Gotteshimmel verbarg. Dieser Gott, von dem wir wußten, war an seinem Ende. Aber Gott der Schöpfer ist im Anfang» (ROSENZWEIG, Der Stern der Erlösung, 138). 98 SCHELLING, Die Philosophie der Offenbarung, in: SW, XIII, 251. 99 CACCIARI, Dell’Inizio, 129.
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Grund der Seele ist also nicht einfach Spur und Widerschein dieser freien Abgründigkeit, sondern er ist die ewige Freiheit selbst100. Cacciari zeigt folglich auf, wie es auch in Schelling dem Denken vom Anfang kaum gelingt, sich von der quälenden Frage nach dem Anfang-Gewähren zu befreien, das heißt, sich von seiner fatalen theo-logischen Übersetzung zu läutern. Anders ausgedrückt, reicht die Aufgabe jeglicher Determination – auch Gottes –, die Schelling seiner positiven Philosophie auferlegt, nicht aus, um aus dem Kreis des Anfangs als Anfangendes, der Revelatio als Manifestation auszutreten. Das reine possest, das unmöglich zu denken und darzustellen ist, zu dem die kritische Arbeit der negativen Philosophie führt, nährt in sich eine Bewegung, sieht eine Dialektik zwischen reinem Akt und Urmöglichkeit [Deutsch im Original] vor, so Cacciari. Auf diese Weise wird die absolute Freiheit Gottes jedoch in gewisser Weise a priori ableitbar, ermittelbar, herrührend von der dialektischen Bewegung des Vorausgesetzten. Diese Bewegung entspricht in beiden dem Verlassen des Dunkels des Anfangs, der Verdrängung des Einfach-Seins und des ursprünglichen Unterbewussten: Das Wort ist es, das die unvordenkliche mystische Präsenz des Abgrunds [Deutsch im Original] des Ursprungs unterbricht, in der Dialektik eines Verlangens, das danach strebt, sich zu offenbaren, Licht zu werden im abgründigen Raum, bis zur endgültigen Erlösung, als bestimmter und leuchtender Sieg über den Anfang, aus dem es geboren wurde. «Der Grund jeder Existenz (der auch in Gott nicht Gott selbst ist), tritt als Verlangen auf. Der dunkle Grund ist schon Verlangen – aber das Verlangen kann sich nicht anders darstellen denn als Ans-Licht-kommen, als ein sich Offenbaren. Der Vorrang des communicativum wird in gewisser Weise a priori in der Bildung des Grunds versichert»101.
Die Voraus-Sicht der finalen Beleuchtung des Vorausgesetzen, die Erwartung des «Auftauens»102 der unbewussten Bewegungslosigkeit seines Dunkels, stellt für Cacciari den ganzen Sinn der positiven Philosophie Schellings dar. Bei Schelling verharrt dieses 100 Cacciari weist in diesem Zusammenhang auf die Sackgasse hin, in die Schellings Idee vom Vorausgesetzten gerät. Gott selbst nämlich, als Anfang der Geschöpfe, als Deus-Trinitas, der am Leben der Existierenden teilhat, bleibt ausgeschlossen von der extremen Möglichkeit der absoluten Freiheit, auch seiner Vernichtung und Entleerung, wie es im asketischen Weg des Neoplatonismus geschieht: Gerade, weil er der Notwendigkeit der Offenbarung unterworfen ist, ist er in gewisser Weise immer schon von Anfang an entschieden. Der Mensch kann nach dieser Leere trachten, nach dem Offenen des Heiligen, bis er eins mit dem Anfang ist, Gott nicht. Auch im Idealismus Schellings nimmt die reine In-differenz des Anfangs also unvermeidlich einen partiellen Charakter an, denn sie kann nichts gegenüber Gott, der teilhat an seinen Geschöpfen. Cacciari ist der Auffassung, dass Schelling mit der Wiederaufnahme der mystischen Themen Meister Eckharts auch ihre Widersprüche aufgenommen hat, in einer Dialektik, die mit der Auslöschung jeder Determination schließlich den Grund selbst beseitigt. Das Versinken der Seele kann ohne jegliche ‹Theologie der Gnade› nicht anders als die Seele von ihrem Grund zu befreien. Die Seele findet sich in einer perfekten demiurgischen Lage wieder – die auch eine des ‹heftigen Idealismus› ist – am Anfang von allem, Ursache auch von Gott: In der Dynamik eines tiefen Mystizismus, frei von ihrem eigenen Wissen, löst sie schließlich jede Realität in der Einheit des Ich auf. 101 CACCIARI, Sul presupposto. Schelling e Rosenzweig, 55. 102 TILLIETTE, La mythologie comprise. L’interprétation schellingienne du paganisme, Napoli, 1984, 53.
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Verlangen nach Manifestation auf jeden Fall in einer nicht lösbaren Spannung, in einer ewigen Gegenposition gegenüber dem Abgrund des Vorausgesetzten, die nie überwunden werden kann – die Hypothese der Aussöhnung ist rein eschatologischer Natur. Bei Rosenzweig scheint es ihm zu gelingen, die vollkommene Lösung zu finden, im göttlichen Kreislauf der schon ewig in der Schöpfung präsenten Liebe: Als stets gültiges Versprechen, als Hoffnung auf Mitteilung des Abgründigen und blinde Unbeweglichkeit des Ab-grunds [Deutsch im Original] des Anfangs103. Alle Momente der Schöpfung fühlen sich aufgenommen in der schöpferisch-offenbarenden Bewegung Gottes, die Ausdruck eines Dialogs ist, der in Gott selbst seine ursprüngliche Grundlage findet. Cacciari beobachtet, wie diese ursprüngliche ‹Liebesbeziehung› letztendlich in der Realität ihrer historischen Vollendung – sowohl bei Rosenzweig wie bei Schelling – in einer ewigen, ungelösten Schwankung lebt. Auf der einen Seite wird die Leere, das anfängliche Unbewusste, in der leuchtenden Dialektik überwunden, die zur Offenbarung [Deutsch im Original] des Grundes führt (Gott ist Leben und Liebe); auf der anderen bringt die Beziehung eine Art unüberwindbare Sehnsucht nach einem Ursprung mit sich, die unerfüllbar ist, ein Zeichen der Nacht, die fortdauert, wenn auch in der von Gottes Liebe erleuchtenden Spur. Ein Rest bleibt, der niemals völlig gelöst werden kann, in dem der Abgrund fortdauert, «als könnte es einmal wieder durchbrechen»104, und weiterhin eine unsagbare und flüchtige Anziehungskraft besitzt. Für Schelling existiert eine Art ungreifbares Vorgefühl, als gebe es im Hintergrund immer den Schatten eines Irregulären: «Wenn die Präsenz des Unerinnerlichen in der Liebe vergessen wird – das Exil, das jedes Liebesvermögen enthält ‹überwunden› wird – dann löst sich ihr Verhältnis vollständig in der dialektischen Triade, in der vollständigen Zirkularität des trinitarischen Schemas»105. Auf jeden Fall bestimmen die Liebe zwischen Gott und seinem Verbum, zwischen dem Ab-Grund und der Entscheidung zur Manifestation sowohl für Rosenzweig wie für Schelling eine Geschichtsphilosophie, in der Gott in seiner Offenbarung [Deutsch im Original] seinen Ungrund überschreiten kann, in einer fortlaufenden Apokalypse, in der sich die Welt ursprünglich aufgenommen-geliebt fühlt. Das Eschaton stimmt also in beiden mit der vollkommenen Befreiung des unerinnerbaren Existierenden überein, mit dem perfekten ‹Auftauen› des Absoluten in seinem zeitlichen Prozess, im positiven Bestreben hin zu einem Ziel. Während für Cac103 Das ist die Dialektik von Gottes Liebe zur Welt: Das Ausströmen des Vorausgesetzten, seine Offenbarung, stellt eine definitive Entscheidung dar, die kein Überdenken erträgt. Die Beziehung wurde nun aufgenommen in Gottes freie Liebe, der die Welt nicht anders als mit Gegenseitigkeit antworten kann, in einem Kreis aufgenommen, der sie auf gewisse Weise einschließt: «Das Leben stieg ins Licht. Das stumme Dunkel der Vorwelt hatte im Tod Sprache gewonnen. Über den Tod war ein Stärkeres, die Liebe, gekommen. Die Liebe hatte sich zum Leben entschlossen». (ROSENZWEIG, Der Stern der Erlösung, 423). Balthasars Theologie wird zeigen, dass sie mit Rosenzweigs Vorausgesetzten übereinstimmt: Im Transzendentalen der Liebe weist sie den größten Gegensatz zu Cacciaris Anfang auf. 104 SCHELLING, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, in: SW, VII, 359. 105 CACCIARI, Sul presupposto. Schelling e Rosenzweig, 57.
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ciari Rosenzweigs Vorausgesetztes anmutet, sogleich in der Form der Darstellung («Der Anfang ist: Gott schuf») gedacht zu sein, in der Möglichkeit, dass sich die Notwendigkeit der Aussöhnung ergibt, und das Problem des unbestimmten Prius augenblicklich beseitigt wird, so erscheint ihm Schellings unerinnerbares Sein – trotz seines Wunsches, sich vom Geist des Systems abzukoppeln – schon ausersehen zur Betrachtung der reinen Möglichkeit des von-sich-Anderen, Vorausahnung des Schöpfungsprozesses, der Offenbarung und der Erlösung. Das Letzte ist im Ersten schon enthalten, das schon Eins-Zwei ist, Grundlage der Epoche, einbezogen in ihr Entwicklungsschema, folglich seiner reinen Autonomie enthoben, der absoluten Freiheit zu wollen, die als Prius gegeben ist, über alle Dinge. «Der ‹mittägliche Dämon› des Offenbarwerdens, der Drang sich zu zeigen-zu offenbaren, macht den Anfang zum Vorausgesetzten der Zeit, als Selbst-Offenbarung Gottes; im Vorausgesetzten ist implizit die gesamte Zeit verkörpert; es ist nichts anderes als die in der Einheit ihrer Dimensionen konzipierte Zeit»106.
Cacciari zeigt in dieser Richtung auf, wie auch Schellings Urmöglichkeit des Anfangs nicht radikal gedacht werden kann, in perfekter Einfachheit und Freiheit, sondern das Gefühl des Vermögens zu sein, des In-die-Tat-Umsetzens und der Bestimmung der unendlichen Möglichkeiten des Existierenden in sich trägt: Die Geschichte ist ihr Existenzbereich, die – zweifellos unüberwindbar eschatologische – Voraussetzung der Entstehung der unendlichen Möglichkeiten des Vorausgesetzen. Und zwar, weil Schelling schon das Mögliche nur als Reales denkt, ausgehend vom klassischen Schema der Metaphysik von Akt und Vermögen, so wie Rosenzweig die Geschichte als ‹zum Reich werden› der Welt denkt, in ihrer peinvollen Bewegung des Scheidens aus der Finsternis und ihrer allmählichen Beleuchtung. Es geht also darum, den Anfang zu denken bevor er sich manifestiert, frei von der Notwendigkeit der Manifestation, aber auch ‹bewahrt› vor der abstrakten Geschiedenheit der Vielfalt, die nicht anders kann, als das Unus ab-solutus zu einer weiteren Form der Bedingtheit und der Bestätigung von zwei ‹bedingten› Absolutheiten zu führen.
7. Das Paradox des possest und die höchste Askese Auf der Grundlage seiner Auslegung von Platons Parmenides und der Interpretation der späten Philosophie Schellings, wählt Cacciari den Weg, Einheit und Vielfalt gemeinsam zu denken, das unsagbare platonische Eine-Eine und das Eine-Viele, das sich in seiner Vervielfältigung sagt. Der Anfang ist ein solcher nur, wenn er sein Gegenteil in sich trägt, Anfang und Anfangendes, aber nicht als Anfangendes, das Eine nicht als Hervorbringung von Vielen. Der Anfang lebt in der unendlichen In-Differenz der Möglichkeiten, der ursprünglichen Kompossibilität, die seine abgründige Freiheit und 106 Ebd., 59.
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Offenheit garantiert, jede Vergangenheit, jegliche Gegenwart und jegliche Zukunft umfassend. Man kann sagen, dass das Denken vom Vorausgesetzten in Cacciari die unlösbare Alternative, derer sich sowohl Schelling wie Rosenzweig dramatisch bewusst sind, endgültig überwinden will: Man kann den Anfang entweder in der negativen Form der ‹blinden Ewigkeit› des einfach Existierenden, des unerinnerbaren Ungrunds [Deutsch im Original], der im unüberwindbaren Staunen belässt, darstellen oder in der Form eines possest, das bestimmt ist, als Vorausgesetztes der Manifestation, als Anfang eines Prozesses wirklich zu werden, der in der Geschichte zur Entfaltung kommt. Gelangt man im ersten Fall zum Apophatismus einer mystischen Philosophie – die nichts anderes ist als die dialektische Umkehrung der Möglichkeit von Darstellung – so nimmt im zweiten das Denken die Züge eines perfekten Nihilismus an, für den das ursprüngliche Vermögen dazu bestimmt ist, sich nach und nach im zeitlichen Verlauf seiner Manifestation aufzulösen. Die Dialektik von Einem und Anderem ist aufgerufen, die neoplatonische Aporie107 zu entwickeln, dort wo das Prius nicht als absolute Unterscheidung gegenüber dem geschaffenen Seienden gedacht wird, sondern als non-Aliud, das vom Anderen Andere, aus dem alles frei hervorgeht. Cacciaris Begriff vom Ursprünglichen möchte nämlich, in Übereinstimmung mit dem Neoplatonismus, die Absolutheit der Freiheit des Einen gegenüber jeder möglichen Abhängigkeit und Kontamination bewahren, die sie kausal an den Lebenszyklus der Mannigfaltigkeit der Existierenden binden würde. Gleichzeitig möchte er jede naive Gegenüberstellung von endlich und unendlich, eins und vielfältig, bestimmt und unbestimmt vermeiden, würde es doch andernfalls völlig unmöglich, die Verbindung zwischen Anfang und Historizität, zwischen Gott und der Welt, dem Absoluten und der Existenz zu denken. Cacciari wendet sich dem non-Aliud zu, dem nichts fehlt, im Bewusstsein der grundlegenden Aporie im Herzen des Neoplatonismus, der das Eine wie das Andere denkt, als absolut Äußeres: Es ist im Gegenteil jedes Ding, ist das nicht-Andere des Anderes-Sein, über jede absolute und abstrakte Alterität hinaus. Während der Weg der Differenz letztendlich auf Hegels Spur bleibt, in der das Eine sich in einer Dialektik von zwei Absoluten den vielen entgegensetzt, entscheidet Cacciari, den Weg der InDifferenz zu beschreiten: Der Anfang verweist für Cacciari weiter, das heißt, auf den äußersten Ort, der letzthin atopía ist, in dem die perfekt Verschiedenen sich vereinen, in dem das absolut Verschiedene gleichzeitig am Seienden teilhat, ohne sich in der Beziehung zu erschöpfen. Kein Seiendes, keine Darstellung könnte jemals, nicht einmal in der Totalität ihres Sich-Gebens, das Prinzip erschöpfen oder ins Schwanken bringen: Kein Vermögen und kein positiver Ausdruck des Vermögens ist in der Lage, das possest aufzulösen, aus dem ein jedes Ding seinen Anfang nimmt. Dieser Neu-Übertragung der ontologischen
107 Vgl. DE VOGEL, Cornelia J., Rethinking Plato and Platonism, Leiden 1986; BEIERWALTES, Werner, Identität und Differenz, Frankfurt am Main 2011.
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Differenz muss für Cacciari radikal Geltung verschafft werden: Das possest, so wie es Nikolaus von Kues denkt, ist ohne Anfang, die Seienden setzen es voraus, ohne jedoch in ihrer effektiven Existenz abgeleitet werden zu können, weshalb sie frei sind von der Notwendigkeit ihrer Ableitung. Das Geschöpf «kommt vom rein Möglichen, aber von diesem rein Möglichen sagt seine Existenz nichts außerhalb des ex- des Existierens. Dieses Ex ist ein Zeichen besagter Herkunft»108. Das Ex-sistieren verweist immer auf das, aus dem es kommt, auf den ursprünglichen Grund, der uns ausschickt, und der selbst, während er den Dingen Licht schenkt, im Dunkel verbleibt und sich in die Abgründigkeit seines Ab-Grunds zurückzieht. Das unendliche Vermögen des possest ist ein unendliches und nicht anpassbares Fundament, das jedes Ding aufnimmt, auf das jedes Ding deutet, mit seinem einfachen und einzigartigen bestimmten Exsistieren. Leopardi spricht von der ‹unendlichen Möglichkeit›, die prä-existent und präpotent ist gegenüber jedem existierenden Ding, über jede coincidentia oppositorum, das heißt über jede schon definierte Polarität hinaus. Das Unendliche ist es, welches Cacciari als ‹übermenschliches Schweigen› interpretiert, das in Einem die Gegensätze zu sammeln weiß – «die toten Jahreszeiten sowie die gegenwärtige/und lebendige»109 – als Indifferenz der Möglichen, über das Sein hinaus, in einer perfekten Unscheidbarkeit der Unterschiedenen. Cacciari schreitet mit Hilfe von Nikolaus von Kues daran, die Grundlagen der klassischen Metaphysik umzuwerfen, und geht dabei über den Zwang des Prinzips der Identität und des Nicht-Widerspruchs des Vorausgesetzten hinaus. Hier wird der ontologische Diskurs meta-ontologisch, denn er wird zum Problem eines Ursprünglichen, das dem Sein selbst vorausgeht. Er gibt in der Tat hinsichtlich der Bewahrung des reinen Statuts der Freiheit/Möglichkeit nicht nach: Keine Notwendigkeit kann die Freiheit des Anfangs bestimmen. Einzig das Denken des Anfangs als Kompossibilität der Unterschiedenen ist in der Lage, die koinonía der Existenz zu gewährleisten. Indem es jede Antithese von Einheit und Vielfalt, von Möglichkeit und Unmöglichkeit, Freiheit und Notwendigkeit überwindet, wird das Aus-sich-Ausströmen des Anfangs eins mit seiner eigenen Möglichkeit: Das unmittelbar Existierende ist implizit bestimmte Existenz, so wie die Existenz die Un-Möglichkeit des reinen Möglichen ist. Die Bestimmtheit wird in das Innerste der Unbestimmtheit geführt, so wie die Endlichkeit in das Innere des Un-endlichen, das Schweigen und Wort wird, Dunkelheit und Licht. Der ganze Anfang umfängt auch den Logos, der berufen ist, ihn zu benennen. Aus diesem Grund versinkt das Denken, wenn es ihn erreichen will, als kehre es dahin zurück, nicht geboren worden zu sein, es taucht in die allumfassende Höhle, in das ontologische Feld, von dem ausgehend ursprünglich alles ek-sistieren – oder im Unbestimmten verbleiben – kann. De possest: ohne jegliche Notwendigkeit der Verwirklichung, über jeden Zwang zu existieren hinaus. Aber auch über jeden Gedanken an die absolute Kontingenz: Alles, was ist und was nicht ist, befindet sich im Anfang, schon 108 CACCIARI, Sul presupposto. Schelling e Rosenzweig, 61. Vgl. hierzu auch SINI, Carlo, Immagini di verità, Milano 1990. 109 LEOPARDI, Giacomo, L’infinito (Unendlichkeit); Vgl. CACCIARI, Della cosa, ultima, 81–86.
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immer und für immer, bewahrt, möglich-unmöglich, im unbestimmten TotiVermögen des Vorausgesetzen. Cacciari beabsichtigt in dieser Hinsicht auch nicht, das arché-ápeiron auf einer Linie mit dem Unbestimmten110 zu denken, mit dem Unum superexaltatum, dem Archetyp jeder Unterscheidung – und letztendlich Beziehung, da es, im Sinne Meister Eckharts, ‹unterschieden ist in seiner Nicht-Unterscheidung›: Das Prius des Nikolaus von Kues würde man, da non-aliud, in diesem Sinne wieder als absolutes Anderssein definieren, in einem nicht nur analogischen, sondern ontologischen Horizont. Die einfache Identität des Einen würde zum Anderen der Vielfalt der Seienden, so dass die Beziehung zur Welt, zum kontingenten Sich-Geben der Dinge, seine Bestimmung wäre. Angesichts dieser Richtung kann Cacciaris Philosophie als diaporetisch bezeichnet werden: «Und noch etwas ist gewiss: dass die Hoffnung ungewiss ist, dass ihr Logos doppelt ist. Ihre Gestalt ist ungreifbar und ‹umherschweifend›: Vielen bringt sie Hilfe und Vorteil, aber ‹täuscht vieler leichte Sinne›»111. Der Anfang enthält folglich alles Mögliche in sich, bis hin zu seiner eigenen Unmöglichkeit, und bleibt wie ein unsichtbarer Schatten jeder Präsenz. Das Denken vom Anfang muss stets das unaufhörliche Entstehen und Wieder-Entstehen des Schattens, der enthüllt und gleichzeitig verbirgt, in Rechnung stellen: Der dunkle Willen des Ursprungs löst sich weder in seinem absoluten Verschwinden auf, noch entspricht er seiner vollständigen Ent-hüllung. Cacciari wirft Schelling vor, dass er wie Plato diese Duplizität verraten habe, in der seine Philosophie der Mythologie Inspiration gefunden hatte. Er zerbricht das mythische Symbol und zieht ihm die Interpretation im Sinne Pythagoras und Platons vor, gegenüber dem dionysischen und heraklitischen Hades, für die der dionysischen Jüngling auch das Vergessen ist: Das Gewicht des Werdens der Seienden und des unendlichen Flusses der Potenzen, vor allem aber das allgegenwärtige Licht einer gänzlich entfalteten Wahrheit sind selbst für den erhabensten Geist untragbar. Wenn der Jüngling nicht die Kraft zu vergessen besäße, hätte er die Verantwortung für jede seiner Handlungen stets vor Augen und könnte nicht mehr ohne Schwindel zu empfinden aufrecht an einem Punkt verweilen, auf der Schwelle des Augenblicks. Er wäre zu einer Schlaflosigkeit verdammt, die ihn dahinscheiden ließe, ausgelöscht vom übermenschlichen Wachen einer hybris der vollkommenen Entfaltung, im blendenden Licht einer völligen Erinnerung.
110 Es ist die Vorstellung von physis selbst, als formende Quelle des Seins, welche den Konflikt der Interpretationen entscheidet. Das ápeiron, das Cacciari nennt, entspricht nicht dem unbestimmten Schoß, der seine partikulären Konkretisierungen übersteigt, sondern dem all-möglichen Prius, dem NichtSeienden, von wo aus sich alles ent-scheidet – da Indifferenz – zu sein oder nicht zu sein, in deren Widerspruch jede existierende Einzigartigkeit aufgehoben ist. 111 Die Hoffnung lebet, ruhelos irrend, / Und vielen Männern hilft sie, / Täuscht vieler leichte Sinne (Antigonae, Vers/Zeile 638–640. Übersetzung von Friedrich Hölderlin, zitiert nach: HÖLDERLIN, Friedrich, Sämtliche Werke und Briefe, Band II, hrsg. von KNAUPP, Michael [Münchener Ausgabe], Darmstadt 1998, 341; CACCIARI, Dell’Inizio, 433–434).
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8. Deus absconditus: der Entzogene Indem sich der Anfang als ‹entzogen› darbietet, indem er das Verstecken liebt, befreit er uns von jedem intuitiven oder darstellerischen Anspruch: Kants Kritizismus und Schellings negative Philosophie stellen ein notwendiges und fruchtbares ‹Tribunal der Vernunft› dar, das den Intellekt vor dem unangebrachten bildenden Gebrauch seiner Begrifflichkeit bewahrt und das Denken hin zu einem authentischen Glauben an die Unbedingtheit des Vorausgesetzten öffnet, daran, dass er der Bestimmung, der Einpassung in Kategorien und Konzepte widersteht. «Das Mögliche des Anfangs ist das, was nicht sein muss; die ‹Serie› des Möglichen, das wir tatsächlich wahrnehmenkennen, muss hingegen sein, und deswegen können wir sie kennen (ihr Unvermögen nicht zu sein, findet in der Tat seinen Ausdruck in Formen, Gesetzen, Regelmäßigkeiten)»112. Cacciari beschwört das ádelon als das, welches sich im Geheimnis, in der Ambivalenz seiner eigenen Enthüllung bewahrt und dabei den Forderungen nach dem Ergreifen des Begriffs entkommt, das seine Widersprüche entfernen will, der – unkalkulierbare und unsagbare – effektive und affektive Trieb [Deutsch im Original], der mit dem obskuren Anfang des Grundes ringt. «Der Anfang als Indifferenz, die völlig frei ist von der Notwendigkeit, Ursprung zu sein, kann sicher nicht in die Notwendigkeit gezwungen werden, nicht Ursprung zu sein. Keinerlei Notwendigkeit, zur Schöpfung zu schreiten – keinerlei Notwendigkeit, nicht zu schreiten»113.
Die Ablösung des Anfangs von jedem nichts-anders-können-als-Sein ist ein Merkmal seiner Freiheit, das Zeichen der Unzahl an Möglichen, die er umschließt. Und dennoch weist jede Einzigartigkeit auf den Anfang, als Erscheinung seines Unsagbaren. Das ‹Leben› des Anfangs wäre eine einfache Abstraktion, wenn es abgetrennt, eine jenseits, über den effektiven Welten schwebende spirituelle Wirklichkeit wäre. Es ist Leben des Geistes, nicht als Substanz, sondern als Grund, als Akt, als Bewegung des Wirklichen. Auf der anderen Seite ist es nicht einmal notwendig, dass die Kontingenz eine solche ist, eingezwängt in eine unüberwindbare Zufälligkeit. «Das Kontingente als Kontingentes ist dies auch hinsichtlich seiner Vergänglichkeit. Ihm kann die Unsterblichkeit wie das Sterblich-Sein ‹widerfahren›, das Ek-sistieren wie die Möglichkeit, im ek- des eigenen Existierens zu implodieren, sich in dieser Herkunft aufzuheben»114. 112 Ebd., S. 144. In seiner Analyse von Cacciaris Denken über den Anfang entdeckt Bertoletti die – allerdings nie genannte – unscheinbare Präsenz Nicolai Hartmanns (dessen Ästhetik Cacciari 1969 übersetzt und kommentiert hat), der in Möglichkeit und Wirklichkeit die megarische Aporie des Möglichen thematisiert hat und die Frage des fundamentalen Verhältnisses, die Möglichkeit, Effektivität und Notwendigkeit verbindet – dort, wo die modalen Kategorien unverzüglich ihre ontologischexistentiellen Auswirkungen anzeigen. Bertoletti fragt sich: «Sind die theoretisch straffsten Abschnitte von Dell’Inizio nicht etwa ein Versuch, das ‹fundamentale modale Gesetz› zu durchbrechen? Als sei Hartmann der nicht-erwähnte Deuteragonist von Dell’Inizio». (BERTOLETTI, Ilario, Massimo Cacciari. Filosofia come a-teismo, Pisa 2008, 35). 113 CACCIARI, Dell’Inizio, 139. 114 Ebd., 162.
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Kein Wissen ist in der Lage, den Grund für die existierende Einzigartigkeit zu bestimmen: Das Absolute lebt nur von absoluten Fällen und von allen ihren Beziehungen. Man muss weiter gehen und sich zu dem hin öffnen, das jedes Ding, jedes Vermögen, jedes Wissen durchdringt, sie in seiner Unbestimmtheit übersteigend, an dem alles teilhat. «Die Öffnung des Blicks hin zu dem Ding, das nach dem unantastbaren Maße seines Verstecktseins konzipiert ist, das ist das Mystische»115. Es handelt sich um eine der zentralen Passagen des spekulativen Wegs Cacciaris, der danach strebt, den Sinn der Letztlichkeit des Wirklichen zu klären, das heißt, des Kontakts mit der Wahrheit des Dings selbst, seiner Einfachheit und Freiheit, nach dem sich die Seele sehnt. Man kann sagen, dass der spekulative Weg in Della cosa ultima dafür gedacht ist, vor allem über Folgendes ‹Rechenschaft abzulegen›: die Tatsache, dass alles, in seiner Einfachheit und letzten Evidenz, in seinem In-sich-Sein (prâgma toûto), aus dem Allumfassenden ek-sistiert, vom Anderen, das heißt dem Anfang, bewohnt wird. Es handelt sich also darum, in das Ding einzudringen, in es hineinzutauchen: Der Grund ist für Cacciari nicht die Grundlage, das Substrat, die primäre Substanz, sondern der Grund, in dem man gräbt und in den man fällt. Kein Existierendes kann als im Nichts schwebend, als etwas, das sein oder nicht sein kann, gedacht werden. «Sich selbst kennen. Sich selbst zu erforschen führt zum Wissen um die Ignoranz des Einen»116. Die Einzigartigkeit der Sache ist für Cacciari für ewig bewahrt, in der anfänglichen In-Differenz – im Abgrund der Pupille des Anderen, wie Platon sagen würde -, die aktual jede Möglichkeit und Unmöglichkeit umfasst. Cacciari kann deswegen feststellen – in einem Sinn, der sich direkt mit der Philosophie Severinos117 konfrontiert, allerdings in einem radikal anderen Horizont – dass, «alles, was ist und nicht ist, schon immer im Anfang enthalten ist»118. Dort ruht sein Rätsel, dort verbleibt es für immer. Jedes Ding weist auf die Arché, die sein höchstes Warum ist: Dennoch bleibt sie ohne Warum, ohne Ziel, wie eine Gnade, die ihr Geheimnis in ihrem Erscheinen birgt, auch wenn die Wissenschaft jeden einzelnen Zug bestimmt hat, jede Verbindung, jede mögliche Beziehung. Nicht deswegen ist sie eine Gabe der Liebe, als plotinischer Effekt eines Sein-Zulassens, einer zufälligen Bewegung, ohne Absicht, wie eine nicht aus der anfänglichen Indifferenz ableitbare Epiphanie, ohne vorgegebene Notwendigkeit noch Bestimmung.
115 CACCIARI, Della cosa ultima, 441. 116 Ebd., 121. 117 Es ist in der Tat möglich, den in Della cosa ultima dargelegten Weg als ununterbrochenen Dialog mit Severinos Philosophie zu lesen – so wie das in Dell’Inizio schon präsente opponens eine Gestalt des Philosophen aus Brescia sein kann, als entscheidender Gesprächspartner-Gegner. Der Sinn ihrer Begegnung hat offensichtlich mit dem Sinn des ihm (un-)angemessenen Seins und Wissens zu tun. Cacciaris Diaporetica und die Epistemica Severinos führen einen Dialog über das Gleiche, bis zum Schluss. Im «Congedo», der letzten Seite des Buchs, erklärt Cacciari, dass «es letztendlich eine Auseinandersetzung mit ihm ist» (ebd., S. 554), vor allem mit Destino della necessità (Milano 1980) und Gloria (Milano 2001). Was eine analytische Gegenüberstellung der beiden Philosophen angeht, vgl. MAGLIULIO, Nicola, Cacciari e Severino. Questiones disputatae, Milano 2010. 118 CACCIARI, Della cosa ultima, 76.
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I. Das dem Logos Vorhergehende
Dass die Einzigartigkeit sich gewährt und sie weiß, da zu sein, kann kein erworbenes Wissen sein, und auch keine Anhäufung von Sinn. Die epistéme kann in ihrer perichoretischen Bewegung niemals zum Herzen des Dings vordringen, seine Einzigartigkeit benennen, sich seinem Licht anschließen, sein Erscheinen im Augenblick seines Sich-Gewährens erfassen. Diese Unmöglichkeit besteht nicht aufgrund des schattigen Geheimnisses, das sie begleitet, der unüberwindlichen Illatenz, die ihre Essenz bewahrt. Hingegen ist es die perfekte Manifestativität, die unmittelbare und leuchtende Evidenz der Einzigartigkeit, welche die dauerhafte Diskursivität des Logos in keiner Weise anzupassen und zu ergreifen weiß, im nicht ableitbaren Akt ihres Sich-Stellens. Vermittlungen und Definitionen verfehlen das Ziel des Dings in seiner Letztlichkeit: Es gibt kein anderes Wissen vom höchst realen Seienden als fortlaufende Abschattungen [Deutsch im Original]. Die Operation des Sinns geschieht also ohne Pause und ohne Ruhe, wie eine Diaporetik: Aber genau innerhalb dieser ‹Negativität› bietet sich das Reale in seiner absoluten Konkretion und im Punkt des Subjekts. In Bezug auf die Eintragung dieser nicht beurteilbaren Einzigartigkeit, von der es kein Wissen gibt, schlingt sich Husserls epoché in den platonischen Weg des Siebten Briefes (341 c 4–d 2), der jene verdammt, die das Schweigen des nicht mitteilbaren máthema verraten. «Hier offenbaren Kants ‹Abgrund der Vernunft› und der Sinn von Schellings positiver Philosophie ihre unerschöpfliche platonische Quelle»119. Der Diskurs kann also niemals zu seinem Anfangs-Punkt gelangen, so wie er niemals das Geheimnis des Dings wird sagen können, in der Einfachheit und Irreduzibilität auf etwas anderes: Die Vermittlung, von der jeder Logos lebt, erlaubt den Kontakt mit dem Ding nicht, sondern entfernt und abstrahiert es im Gewirr der Verbindungen, der Verweise und der Bestimmungen, und macht eine von Sinn entleerte Welt aus ihm: «Der Logos ‹verfälscht› den Augenblick – und kann nicht anders»120. Das höchste Ding, das prâgma toûto, ist wie der Anfang: Man kann es nicht sagen, denn es ist die Grube im Herzen der Effektivität. Es gibt sich, jedes Mal, in seiner Unmittelbarkeit, so wie sich der Anfang im Ding selbst wie sein Unsagbares gibt: Das ihm angemessene Auge kann nur das des Blinden sein, wie Plotin feststellt, das heißt, desjenigen, der vom Mysterium als Mysterium weiß, der das Ding als unerkennbar kennt. Im Lichte dieser Überlegungen wird der Dialog mit dem Denken Severinos stringenter: Eine Welt des Unvollendbaren zeigt sich im Ápeiron, von Dingen, die der Zeitlichkeit des Sterblichen entgehen und fortdauern, da sie über-sinnliche Seiende sind. Nur in dieser Anschauung wird die Einzigartigkeit als «Gabe der Freiheit des Anfangs»121 begriffen, im Kontrast zu jeglichem ‹Pfeil der Zeit›, welcher der finalen Vernichtung geweiht ist. Für Cacciari ist es nur innerhalb dieser Vision, die die Spuren des Neoplatonismus nachzeichnet, möglich die Bestimmung der vielfältigen Seienden in ihrer unübersteigbaren Verbindung mit der Arché zu bewahren und ihre gegenseitige 119 Ebd. 120 Ebd., 453. 121 Ebd., 489.
Kapitel 2
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Freiheit zu erhalten: Es ergibt sich, in der Tat, eine (analogische) Beziehung, die eine radikale Sympathie zwischen Verschiedenen ausdrückt, die auf der einen Seite das Fortschreiten der Seienden daran hindert, den Anfang zu verschlingen, aus dem sie ek-sistiert, und auf der anderen Seite ein Vorausgesetztes zu denken, das alles in sich einschließt, in einer Identität über jede mögliche Bestimmung hinaus. Jenseits von jeder Eindeutigkeit und Zweideutigkeit ist jedes Seiende ein analogischer Weg zum Anfang von allem, der erlöst ist in seinem reinen Mögliches-Sein und gleichzeitig aionische Gabe ohne Vergangenheit und Zukunft. Das ist für Cacciari das Mystische: Die Möglichkeit, wie Bertoletti feststellt, «die aionische Bedeutung des ‹Einzelnen› im unbegrenzten und folglich ewigen Spiel des Anfangs zu er-blicken»122. Ob es sich denn um ein Spiel, ein Symbol, eine große Erzählung handelt, ist eine Frage, die dem Philosophen gestellt werden muss. Auf jeden Fall erscheint jedes Antlitz hier als vollkommenes Symbol des unwiederholbaren und einzigartigen Zuges der noch nicht durch die vielzähligen Versuche, sie auszudrücken, entfremdeten res. Aus diesem Grund ist jedes Antlitz, jedes Ding unvergesslich: Jedes Ding ist höchstes Ding, denn es ist Ikone des Anfangs, absolutes Abbild des Lebens, Beben des Endlichen in seiner unsagbaren Epiphanie123, unschätzbare Gabe in seiner ‹ewigen Kontingenz›. Die Schönheit des Dings, bewahrt im ewigen Grund, aus dem sie kommt, erscheint immer noch mit Schattierungen, im Hell-Dunkel einer ungewissen Vision, und weist auf das Offene. Erst am Ende, en escháto, wird sie als das gesehen werden, was sie wirklich ist, in ihrer höchst realen Wirklichkeit. Wie der hl. Paulus sagt: «Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse; dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin» (1 Kor 13,12).
Erst dann werden die Dinge in ihrer völligen Unterschiedlichkeit und gleichzeitig in ihrer absoluten Beziehung erscheinen, unendliche Endlichkeiten in einem lebendigen Kosmos, Ausdruck der universalen Eintracht, die das letzte Mysterium des Realen ist: eine für immer auferstandene Realität, so wie sie seinerzeit der reine Blick des Franz von Assisi erfasst hat.
122 BERTOLETTI, Massimo Cacciari. Filosofia come a-teismo, 82. 123 Vgl. CACCIARI, Le dieu qui danse, Paris 2000.
ZWEITER TEIL
DAS MÖGLICHE UND DAS GEOFFENBARTE Theologische Schnittpunkte, Vermutungen und Widerlegungen
Kapitel 1
1. Freiheit des Ursprungs: Schelling «Der Begriff, den sich eine Epoche vom Wert der Alterität macht, ist […] eng mit dem verbunden, den sie von einer möglichen Offenbarung hat»1. In der Neuzeit dominiert ein Begriff von Offenbarung als Prozess des Selbst-Verständnisses des Einen, als Zirkularität des Geistes, der Anfang und Ende verbindet: Der Anfang wird also zum Anfang der Vollendung, der werden muss, aus dem etwas in einer Offenbarung [Deutsch im Original] ohne Überbleibsel heraustreten muss, in einer ewigen Entwicklung, in der Gott sich letzten Endes im Wesentlichen sich selbst zeigt. In diesem System ist der Blick zurück notwendigerweise der letzte Blick, wenn der Prozess am Ende angelangt ist2. Der deutsche Idealismus stellt folglich für viele Interpreten – Philosophen und Theologen3 – eine radikale Aufforderung dar, gerade angesichts des christlichen Mysteriums eine vollendete Ontologie des Seins und gleichzeitig eine Logik, die sich für das Verständnis und die Benennung des Seins selbst eignet, auszuarbeiten. Den Unterschied zwischen Unum und Esse zu denken, erscheint Cacciari, jenseits der neoplatonischen Tradition und durch den christlichen Deus-Trinitas, eine Notwendigkeit des Denkens: Sie gebietet, die Freiheit der Genese des Logos und der Schöpfung der Seienden, aber auch die Freiheit ihrer Bestimmung jenseits jeder Einpassung der Geschichtsphilosophie in die Logik eines perfekten Systems zu konzipieren, das die Freiheit jedes Anfangs dazu bestimmt, einfach durch die Notwendigkeit des Endes überwunden zu werden: Das ihr folglich in Wirklichkeit vorausgeht und sie entleert. In einer fortdauernden Polemik mit Hegels Auffassung des Endes, strebt die Philosophie Schellings seiner Ansicht nach, diese ‹unmögliche Freiheit› zu überwinden, und zwar, indem sie den Anfang, wie gesagt, in der Form des reinen Vermögens (quod 1 2
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FORTE, In ascolto dell’altro, 17–18. Auch Forte hebt hervor, dass die moderne Theologie die Kategorie der Offenbarung [Deutsch im Original] bevorzugt hat: «Dieser Begriff, der sich mit Luthers Sprache durchgesetzt hat, bezeichnet den Akt des Offenlegens dessen, was zuvor verborgen war. Er bevorzugt eine der beiden dialektisch im lateinischen Wort re-velatio enthaltenen Bedeutungen […]: Und zwar dem Enthüllen (re-velare als Akt des Beseitigens der Bedeckung), gegenüber dem Verdichten (re-velare als dichteres Verhüllen). Diese Auffassung von Offenbarung dominiert auch die Exegese im modernen Denken» (Ebd., 18). Piero Coda schreibt: «Das, was die christliche theologische Tradition mit der Terminologie der Trinität ausgedrückt hat, erläutert laut Hegel auf perfekte Weise die Bewegung des Absoluten, die er auf spekulativer Ebene mit dem Begriff Geist ausdrückt.» (CODA, Il negativo e la trinità. Ipotesi su Hegel, Roma 1987, 165–166). Auch Coda empfindet, in Übereinstimmung mit Cacciari, dass das idealistische Denken, insbesondere von Hegel, im zeitgenössischen Panorama eine mehr oder weniger verdrängte oder nicht wahrgenommene Konstante darstellt.
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II. Das Mögliche und das Geoffenbarte
non debet esse) und der Indifferenz denkt. Nicht im Sinne des Vermögens zu sein, das unverzüglich in das Sein übergeht und die Möglichkeit des Nicht-Seins aus dem Anfang ausschließt. Die theogonische und die kosmogonische Bewegung können also nicht auf der Grundlage einer substanziellen und pantheistischen Konzeption gedacht werden, auf einer Linie mit Spinoza und Hegel, bei welcher der Übergang vom Vermögen zum Akt, von der Ursache zu den Seienden unvermeidbar ist. Das absolute Primat der Freiheit – das Absolute ist Freiheit – wirkt sich tiefgehend auf die letzte Bedeutung der Existenz aus. Wir wünschen uns in der Tat mehr als alles andere, frei zu sein: So ist es gewollt, am Anfang. Für Schelling ist es das Wirken [Deutsch im Original] selbst, das den Sinn der Wirklichkeit [Deutsch im Original] bestimmt, in einer Art via negationis der geometrischen Ordnung Spinozas. Der Zweck einer solchen Offenbarungs-Philosophie kann also gut im Ziel zusammengefasst werden, die Suche nach einem ersten Prinzip der Philosophie und die Behauptung von abstrakten Ideen als die Paralyse des Denkens zu betrachten, und zu zeigen, dass die wahre Philosophie nur mit freien Handlungen beginnen kann. Schellings Bestreben einen alternativen Weg zur klassischen Metaphysik zu suchen und den Kreislauf zu unterbrechen, in den Sein und Freiheit unüberwindbar eingeschlossen waren (dadurch auch Natur und Geist aussöhnend, die noch in ihrer gegenseitigen Irreduzibilität getrennt waren), stellt einen unvermeidlichen Anziehungspunkt für die Suche nach einem neuen itinerarium Dei in existentiam dar. Einem Weg also, bei dem die absolute Freiheit Gottes der Ursprung jeder möglichen Erfüllung von Freiheit ist. Ein Ursprung der Freiheit, der selbst Freiheit ist, in seiner Eigenschaft als Ursprung: wo eine theologisch-christliche Weise denkbar wird, in der die Offenbarung des Absoluten eingefügt ist in die Schöpfung und eingewebt in ihre Geschichte. Das Christentum stellt für Schelling einen neuen Anfang der Epochen dar, einen wesentlichen Einschnitt, denn nur im Christentum kann sich die Idee von Freiheit vollständig bilden und Geschichte wirklich möglich werden (sie dabei in antike und moderne Geschichte einteilend). In einer Betrachtungsweise, die auch Hans Urs von Balthasars Theodramatik in den Vordergrund rückt, geschieht nur in der Dialektik von endlicher und unendlicher Freiheit, begleitet vom Bedürfnis, ihre Antithese zu überwinden, die Formung und wirkliche Erfahrung des Frei-Seins. Gleichzeitig wird für Schelling die Freiheit als noumenon-Ursache zu einer wesentlichen theologischen Frage: Die menschliche Freiheit kann nicht gerettet werden, wenn man nicht einen freien Gott denkt: «Der freie Gott, so setzt Schelling entgegen, muß gedacht werden als anfangen könnend. Er muß nicht nur etwas anfangen können, er muß selbst anfangen können; anders ausgedrückt: er muß selbst Gott sein wollen»4. In diesem Sinne gilt: «Freiheit ist unser Höchstes, unsere Gottheit»5, bei dem es um unsere – und die göttliche – intime Essenz geht.
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JACOBS, Schelling lesen, 144. SCHELLING, Philosophie der Offenbarung, in: SW, XIII, 256.
Kapitel 1
81
Während Schelling im Orbit des idealistischen Kreises und seines von der Vernunft (allerdings außerhalb der Vernunft selbst) gedachten Absoluten verbleibt, liegt die Neuheit seines Denkens im Sprung in die Offenbarung, der unverzüglich Blick in die Schöpfung wird, die nun im Mittelpunkt seiner Philosophie der Gegenwart steht. Die Erzählung von Gottes ‹Vergangenheit› in den Weltaltern, aus deren nächtlichem Abgrund die dialektische Verwirklichung der wirklichen Geschichte entschieden wird, geschieht stets im Hinblick auf die Prophezeiung einer Zukunft, in der auch der letzte Zipfel der Schöpfung berufen ist, wieder im göttlichen Schoße aufgenommen zu werden. Dieser Prozess verbleibt jedoch beständig in der Spannung zwischen einer begrifflichen Wiederaufnahme dieses Wegs des Absoluten in der Geschichte und seiner Rettung vor jeder ontologischen Versuchung, das wirkliche Leben unter dem rationalistischen Umhang der Metaphysik des Fundaments zu ersticken. Mit dieser Ambivalenz, die Cacciari deutlich hervorhebt, hat sich auch die zeitgenössische theologische Exegese eingehend beschäftigt, wobei sie offen ist für eine über die reine Kontraposition zum klassischen Blickwinkel hinausgeführte Auseinandersetzung6. Das Unentscheidbare des von Schelling aufgezeigten omnikompossiblen Prius wird solches bis ans Ende aller Zeiten bleiben. Dieses innerhalb und außerhalb des Idealismus-Stehen, das Schellings System auszeichnet, stellt für die Philosophie der Gegenwart eine Perspektive und eine Aufgabe dar, da es auf die Einbeziehung des freien Willens vonseiten des Menschen gerichtet scheint, der wünscht, das Überreichliche in seiner Unverständlichkeit zu beschreiten, um im Erstaunen einer Präsenz gewahr zu werden, die in der Geschichte wirkt. Die Freiheit stellt also die Essenz der Schöpfung dar, den Zustand der Möglichkeit des Hervorbringens einer Welt. Wie Pareyson bemerkt, nimmt die Wirklichkeit in diesem Sinne einen zutiefst tragischen Charakter an, denn wenn die Freiheit mit der Essenz des Wirklichen identifiziert wird, bedeutet das nicht nur, Kampf und Widerspruch zu bestätigen, sondern auch «eine Grundlage vorauszusetzen und auf die Untrennbarkeit von Positivität und Negation zu zielen»7. Cacciari insistiert – vielleicht über die Intentionen Schellings hinaus – auf der Omnipossibilität, die nicht nur den Anfang, sondern auch das Ende von allem bestimmt. Während sich das Wirken Gottes bei der ursprünglichen Gabe durch die Irreversibilität der Offenbarung auszeichnet, bleibt das göttliche Wort in dieser absoluten Zurschaustellung) von Gottes Freiheit zur Alterität (zum Verschiedenen, Unbekannten, Fremden – bis hin zum Feind – wie die Mission des Sohnes bezeugt) jedem möglichen – einseitig unentscheidbaren – éschaton gegenüber offen. Der Freiheit des endlichen Geschöpfes ist wirklich bis an das Ende aller Zeiten die Bestimmung und Voll-
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Vgl. KASPER, Walter, Das Absolute in der Geschichte. Philosophie und Theologie der Geschichte in der Spätphilosophie Schellings, Freiburg 2010; BRITO, Emil, La création selon Schelling: universum, Leuven 1987; BRITO, Philosophie et théologie dans l’œvre de Schelling, Paris 2000. PAREYSON, Pensiero ermeneutico e pensiero tragico, in AA.VV., Dove va la filosofia italiana?, BariRoma 1986, 137. Vgl. hierzu TOMATIS, Ontologia del male; TOMATIS, Escatologia della negazione, Roma 1999.
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II. Das Mögliche und das Geoffenbarte
endung der göttlichen Offenbarung im Geschöpf anvertraut «Doch wenn der Menschensohn kommen wird, meinst du, er werde Glauben finden auf Erden?»8. Cacciaris Suche beabsichtigt, die Öffnung – das Paradox, aber auch die Aporie – des abgründigen Gedankens der göttlichen Freiheit bis ans Ende zu beschreiten, im Versuch auf diese Weise einen Weg für die geschichtliche Freiheit zu erschließen, die diese Öffnung bewältigen muss.
2. Im Anfang war das Wort Im zweiten, reichhaltigen Kapitel von Dell’Inizio richtet Cacciari seine Reflexionen über das Vorausgesetzte hin zur Befragung des klassischen Ortes, von dem sie ihren Ausgang genommen haben, das heißt, der Untersuchung der trinitarischen Theologie, die die innergöttlichen Beziehungen spekulativ erforscht9. Der Anfang erscheint in seiner Freiheit zu entscheiden, das Dunkel des unvordenklichen Chaos zu verlassen, sich zu beschränken und das Andere zu schaffen, als mögliche Übertragung der christlichen Idee vom Ausströmen des Logos, der Offenbarung des Verbum, des Vaters, der sich zeigt und Platz schafft für die Ek-sistenz des Sohnes. Man muss den Unterschied zwischen Unum und Esse jenseits der neoplatonischen Tradition und durch den Deus-Trinitas denken, um die Freiheit der Hervorbringung des Logos und der Schöpfung der Seienden, aber auch die Freiheit ihrer Bestimmung zu begreifen, über jede exzessive Voraussicht im Kielwasser einer allwissenden Geschichtsphilosophie hinaus. Gerade die Untersuchung der Entstehung des Sohnes aus dem Vater erlaubt es Cacciari, den Unterschied des Anfangs besser zu beleuchten, zusammen mit der Freiheit seiner Manifestation. Die trinitarische Dynamik stellt auch auf seinem spekulativen Weg den archetypischen ambitus der Reflexion über Identität und Unterschied, der Frage nach Immanenz und Transzendenz und der Möglichkeit, von Gott zu und seiner Beziehung zu den geschaffenen Dingen sprechen dar.
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Lk 18,8. Vgl. CACCIARI, Dell’Inizio, 619. Die Bestätigung des Dreifaltigkeits-Primats in der christlichen Tradition ist radikal und transparent bei Schelling: «Wenn ich in der Philosophie der Mythologie schon darauf aufmerksam gemacht habe, daß die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes ihrem Grunde, ihrer Wurzel nach keine speziell christliche sey, so zeigt sich dieß in dem gegenwärtigen Vortrag […]. Wollte man die Idee von der Dreieinheit Gottes für eine speciell christliche halten, so müßte man darunter eine solche verstehen, die durch das Christentum erst eingesetzt und zu glauben geboten worden sey. Allein wie verkehrt dieß sey, läßt sich auch dem Befangensten einleuchtend machen. Denn, nicht weil es ein Christenthum gibt, darum existirt jene Idee, sondern umgekehrt vielmehr, weil diese Idee die ursprünglichste von allen ist, darum gibt es ein Christenthum. Das Christenthum ist ein Erzeugniß, eine Folge dieses ursprünglichen Verhältnisses. Die Idee dieses Verhältnisses selbst ist daher nothwendig älter als das Christenthum, ja, inwiefern das Christenthum im Laufe der Zeit nicht erscheinen konnte, ohne daß jene schon im Anfang war, so ist diese Idee so alt, ja älter als die Welt selbst. Diese Idee ist das Christenthum im Keim, in der Anlage, das historische Christenthum, d.h. das Christenthum, wie es in der Zeit erscheint, ist also nur eine Entwicklung dieser Idee, ohne welche es ebensowenig eine Welt als ein Christentum geben würde» (SCHELLING, Die Philosophie der Offenbarung, in: SW, XIII, 312–313).
Kapitel 1
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Die absolute Originalität, mit der das Christentum die Wahrheit erscheinen lässt, zeigt sich in der Tat in der trinitarischen Doktrin mit unvergleichlicher argumentativer Wucht, die in Johannes den Punkt der größten offenbarenden Konzentration erreicht. Gerade angesichts ihrer trinitarischen Theologie ist für Cacciari die Definition der christlichen Tradition als perfectio omnium religionum gerechtfertigt, da sie fähig ist, sinnliche und göttliche Natur, Einheit und Vielfalt, Wahrheit und Geschichte in Einklang zu bringen. Gleichzeitig besteht die unübertreffliche Originalität der christlichen Religion nach Ansicht des Philosophen in ihrem unerschütterlichen Bewusstsein, dass das Mysterium auch dann Mysterium bleibt, wenn «das Leben erschienen ist» (1 Joh 1,2). Die trinitarische Religion stellt die außerordentliche theoretische Leistung dar, dank der es möglich war, eine nicht kontingente Beziehung zu denken, einen ewigen Zusammenhang zwischen dem Einen und den Vielen, zwischen Gleichheit und Unterschied, in einer erhabenen harmonischen Konstruktion im Lichte des Logos. Die göttliche Einheit ist nämliche Gleichheit mit sich selbst und Ko-Implikation der Unterschiedlichen, die sich nicht in reine Pluralität übersetzt, sondern in fecunditas semplicissima. Genau an dieser Stelle der Verschiedenen-Untrennbaren, in dem jeder Geist von Trennung geschlagen wird, können Theologie und Philosophie seiner Meinung nach einen authentischen Raum der gegenseitigen Provokation finden; der Mensch selbst kann, indem er sich zum Bild der Trinität erhebt, wie Anselm von Canterbury sagt, lernen seine Isolierung zu überwinden und seine Freiheit wirklich in die Tat umsetzen. Für Cacciari muss gerade die christliche Häresie des Monotheismus gedacht werden, das heißt, «die Quintessenz des trinitarischen Bandes: die Gleichzeitigkeit von Unterscheidung und Koessenzialität»10. Im Vergleich zur jüdischen und islamischen Tradition ist die trinitarische Doktrin tatsächlich «eine revolutionären Haltung gegenüber dem Problem des innergöttlichen Lebens, ja sogar das explizite, radikale und skandalöse Aufbringen dieses Problems11. Das Problem besteht folglich nicht so sehr darin, die Vereinigung von Vater und Sohn12 und die Intimität ihrer Verbindung zu denken, die von der Tradition mit Bildern von Vermählung und Kommunion dargestellt wird, sondern die skandalöse Unterscheidung ihrer Figuren, die zugleich Bedingung der Möglichkeit ihrer gegenseitigen Liebeserklärung ist.
10 Ebd., 178. 11 CACCIARI, I comandamenti. Io sono il Signore Dio tuo, Bologna 2010 (mit CODA), 133. 12 Für die idealistische Theologie, die im Sohn-Verbum die Essenz des Vaters sieht, bleibt die Manifestation die grundlegende Dimension der innergöttlichen Beziehungen: Der Logos präsentiert nicht einfach das Herz des Vaters, sondern bildet sein Herz, seine tiefste Essenz. In diesem Sinne erscheint es Cacciari irreführend, das Verhältnis Gedanke – Wort als Abbild des homoúsion anzunehmen: «Der Logos gibt nicht wieder und wiederholt nicht, sondern stellt den Gedanken selbst des Vaters dar – so wie es heißt, dass das Denken mit der Sprache verwächst, dass es die Sprache ist, die es formt, dass es immanent ist im Akt des Subjekts, das spricht. […] Die Essenz des Wortes kann nicht derjenigen des Gedankens gleich sein. Und wenn wir über ihren Unterschied ‹hinaus› denken wollen, können wir nicht anders, als entweder den Gedanken im Wort auszulöschen oder das Wort im Gedanken zum Schweigen zu bringen. Wir können ‹koinonía› und ‹diakrisis› nicht zusammen denken» (CACCIARI, Dell’Inizio, 174).
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II. Das Mögliche und das Geoffenbarte
Cacciari beabsichtigt nicht, die Vorstellung von der Trinität in der Form der dialektischen Triade zu lösen, die in der vermittelnden Kraft der Determination und der Negation das Ganze schafft und im perfekten Kreis der Liebe zwischen den Dreien jede Neuheit auslöscht, jede Dramatik der Beziehungen entfernt. Der Philosoph entdeckt das höchste Zeugnis der trinitarischen Wahrheit im Prolog des vierten Evangeliums. Der Logos des Johannes ist in seiner Nähe zum Vater (pròs tòn theón, Joh 1,2) nicht arché, sondern en archê. Cacciari besteht auf dem wörtlichen Sinn des Evangeliums: Im Anfang ist das Wort, und der Sohn ist nicht in Patre. Der Anfang ist von beiden, von Vater und Sohn, im ‹Raum› der Omnikompossibilität, die jeder Zeugung und jeder Existenz vorausgeht, auch der Gottes. Die super-essenzielle koinonía der Verschiedenen findet Raum im en archêi, im Anfang. «Vater und Sohn – und das gesamte Drama ihrer Unterscheidung – sind im Anfang; der Anfang ist von beiden»13. Die intime Beziehung zwischen Vater und Sohn findet im Anfang statt, so wie das Drama ihrer Verbindung und Unterscheidung im Schoße des Anfangs stattfindet. Die homoúsia entspricht nicht den Figuren, deren Essenz sie ist, sondern stellt ihre Grundlage dar, das Aus-dem und das In-dem sie sind, das Pricipium, den ursprünglichen Hintergrund, innerhalb dessen der Unterschied und die gemeinsame Essenz der Drei geschieht, der allein es zu verdanken ist, dass sie sich unterscheidend vereinen und sich vereinend unterscheiden. Auf der Spur des unvordenklichen Vorausgesetzten Schellings überschreitet Cacciari das idealistische Schema: Er denkt den Anfang nicht in Patre und löst die Drei im Schema des Aktes und des Vermögens auf, sondern betrachtet den Pater selbst in der superessentiellen Herkunft der Trinität – to theion – das heißt, im ursprünglichen Schoß, der ihm vorausgeht: Das unvordenkliche Prius ist die Bedingung für die Möglichkeit der Unterscheidung und der koinonía seiner ewigen Gestalten. «Die arché, in der sie bestehen, ist weder Sohn noch Vater, noch ist sie nicht Sohn oder nicht Vater. Der Anfang ist nicht Vermögen dieser Determinationen und auch nicht Negation ihrer Möglichkeit. Er ist Kompossibilität sie zu beginnen wie nicht zu beginnen»14. Cacciari bemerkt, dass sie genau in dieser Gemeinschaft der Verschiedenen wirklich untrennbar werden: Nur in der arché liegt die Bedingung ihrer vollkommenen Unterscheidung und zusammen ihrer Untrennbarkeit. «Wenn der Name der arché der Vater wäre – und deshalb simul der Beziehung, zu welcher der Vater als solcher gehört – würde der Anfang das Schweigen und den Abgrund ausschließen. Der homoúsion würde ausschließlich die Essenz des Wortes und der Manifestation bedeuten»6215.
In dieser Logik der In-Differenz, die eine supraessentielle Gemeinschaft zulässt und folglich eine im Wesentlichen modalistische Tendenz aufweist, ist der Anfang nicht mehr in allem und für alles offenbar [Deutsch im Original], ein perfekter Kreislauf der
13 CACCIARI, Dell’Inizio, 180. 14 Ebd., 181. 15 Ebd.
Kapitel 1
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Manifestation, sondern gleichzeitig, im Sinne Schellings, Schweigen und Wort, Ausdruck und Rückgang, in einer Systole und Diastole der Offen-barung, wo der Schatten des ursprünglichen Abgrunds jede Erfahrung der Manifestation begleitet. Cacciaris crux philosophiae lässt sich also bei einer wesentlichen Frage nieder: Nur von der Indifferenz des reinen possest ausgehend, kann die Freiheit des Ursprünglichen garantiert werden, die ihrerseits die Bedingung für die Möglichkeit der Freiheit der existierenden Freiheit darstellt, zusammen mit der wechselseitigen Verbindung ihrer Freiheiten. Die anfängliche In-Differenz bleibt das, von dem aus Gott sich ent-scheidet, das, in dem das Vorausgesetzte entscheidet, Vater zu sein, und den Erstgeborenen des außergöttlichen Seins hervorbringt, dem er die Aufgabe anvertraut, Herr der Schöpfung zu sein: Das Unsichtbare und Unerklärbare bleibt jenseits dieses Prozesses, unerreichbarer Grund, in dem alles gemacht wurde und in den alles zurückkehrt. Anders ausgedrückt, nimmt Gott Gestalt an, indem er sich vom Chaos des völlig in sich Eingehüllten ablöst und seine Kräfte befreit, die vorher versunken waren in ihrer Undeutlichkeit. Gott bewegt sich so vom Unbewussten und der Indifferenz der Kräfte, wo er schweigend über sich selbst meditiert, zu seiner Gestaltwerdung, die von der obskuren Freiheit des Anfangs ‹sich selbst macht› im zunehmenden Licht16 der Schöpfung, der Natur und der Geschichte. Das ewige Wesen beugt sich herab und öffnet sich dem Werden und den vielzähligen Determinationen, wobei es Eins und ewig bleibt und gleichzeitig Raum schafft für die zeitliche Konfiguration der Seienden. Die gemeinsame Essenz, die den Deus-Trinitas gründet, seine superessentielle Herkunft, die arché, in der seine Figuren ab aeterno bestehen, ist weder der Vater noch der Sohn noch der Geist. Also ist das homoúsion, die transzendentale koinonía, aus der jedes Ding ohne Notwendigkeit seinen Anfang nimmt, in der arché. Das ist die veritas indaganda von Cacciaris Denken. Der Anfang ist also nicht Gott, aber Gott ist im Anfang, en arché en o logos. Zwischen Anfang und Anfangendem, Deus-Esse und Prius besteht also ein ontologischer Unterschied, da der Anfang weder bestimmt noch unbestimmt ist, das Non-alter ist, aus dem alles, auch Gott selbst, herstammt, das Indifferente, aus dem alles andere Mögliche zehrt. Der dissós logos, der den Weg Cacciaris auszeichnet, offenbart in diesem Übergang vom Anfang zu den Dingen seinen radikal aporetischen Zug, seine wesentliche Unmöglichkeit. Warum das Sein anstelle des Nichts? Letztlich gibt es weder einen Grund noch eine Sprache um es zu sagen. In seiner Analyse des Übergangs von Schellings negativer Philosophie zur positiven Philosophie öffnet sich eine kaum zu schließende Kluft, die notwendigerweise mit einem Wagnis oder einem Sprung (Ur-Sprung [Deutsch im Original]) zu überbrücken ist, sollte man ihn denken wollen.
16 «Gott macht sich selbst und so gewiß er sich selbst macht, so gewiß ist er nicht ein gleich von Anfang Fertiges und Vorhandenes; denn sonst brauchte er sich nicht zu machen» (SCHELLING, Die Philosophie der Offenbarung, in: SW I, 7, 432).
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II. Das Mögliche und das Geoffenbarte
3. Dramatis Personae: im Raum der Trinität Cacciari denkt also die Unterscheidung der Personen nicht innerhalb der trinitarischen Beziehungen, zwischen Vater und Sohn und Geist, sondern zwischen Gott und Vater. Die trinitarische Erzählung beruht also auf dem, was sie nicht ist, auf der unerreichbaren arché, auf dem Anfang und seiner reinen Indifferenz, die das-aus-dem von DeusTrinitas ist, aus dem er in seiner Freiheit-Unterscheidung herkommt. Es ist to thein als Quelle-Ursprung, in dem Deus-Trinitas sich errichtet: Auf diese Weise wird der Anfang in keiner Weise verdrängt, sozusagen aufgelöst in der Dialektik der Determinationen, sondern er wird als ambitus der ursprünglichen Unterscheidung gedacht, wo Gott sich ent-scheidet und seine innerste Spannung überwindet, Vater wird, also etwas außerhalb von sich hervorbringt. «Das im Deus-Trinitas immanente Fieber des Negativen, das der Sohn ‹erzählt›, gründet sich auf dieser archetypischen Unterscheidung, das heißt: Sie gründet auf dem Nicht-Seienden des Anfangs. Ist dieses Problem einmal beseitigt, sind wir ‹ganz einfach› gezwungen, diese Dissonanz ewig zu variieren: aut Schelling aut Hegel»17.
Dieser Übergang nimmt auf Cacciaris Weg eine absolute Bedeutung an: Auf diese Weise ist nämlich das Göttliche nicht von Anfang an Vermögen-zu-sein, Schöpfer ab initio, Gott allein, der sich über sein Logos mit sich selbst aussöhnt. Die limitierende Idee vom Vorhergehenden, das jedem Denken vorausgeht, bringt jene positive Philosophie hervor, in der die Vernunft ihren Abgrund erfährt, den kein System jemals wird ausarbeiten können. Cacciari setzt genau an diesem Punkt den wesentlichen Unterschied an, der Philosophie und Theologie vereint und trennt. Auch wenn für beide das essentielle Problem darin besteht, den Anfang zu denken und in Erinnerung zu bringen, geht die Theologie – von Thomas bis zu Meister Eckhart – von Gott als Anfang und Ursprung aller Dinge aus, auch wenn sie versucht, seine Wirklichkeit als Super-Essenzialität und Supra-Göttlichkeit auszudrücken. Das ist für den Philosophen, der bei dieser Benennung nicht nachgeben kann, Glaube: dass Gott der Anfang sei und allen Existierenden Anfang gegeben habe. Der Philosoph kann diese Möglichkeit nicht zurückweisen: dass Gott eine Gestalt des Vorausgesetzten sei, in der Form eines Befehls, der dem Vermögen, welches ihm eine Stimme gibt, Ausdruck verleiht. Cacciari jedoch beabsichtigt, weiter zu gehen, indem er das Vorausgesetzte als Offenes ausruft, aus dem Gott selbst ek-sistiert. So verstanden, kann die Philosophie keine Bestimmung des Unendlichen kennen, um zum «transzendenten A-theismus»18 zu werden. Sie weiß höchstens, dass die, die sich darbietet, nur eine Darstellung ist. Die Theologie wiederum kann nicht glauben, dass dies das letzte Wort über die Wahrheit des Vorausgesetzten sein soll: Genauso
17 CACCIARI, Dell’Inizio, 218. 18 Vgl. BERTOLETTI, Massimo Cacciari. Filosofia come a-teismo, 45–46.
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wenig kann sie jedoch wissen, ob ihres für immer gültig ist. Der Theologe ist der Mensch der unzweifelhaften und endgültigen Entscheidung (Barth), der den DeusEsse mit dem Anfang in Übereinstimmung bringt. Dem Denken des Philosophen ist diese Erzählung fremd. Er kann Gott nicht als das reine Seiende denken, sondern ist der Ansicht, dass auch ER aus seinem Prius ek-sistiert: «Die Grundlage ist in ihm, aber sie ist nicht er. Er existiert tatsächlich, wenn er der Herr wird»19. Cacciari interpretiert die Entscheidung Gottes der Einzige und immer-präsent zu sein (Ex 3,14), und folglich das Göttliche in sich aufzunehmen und zu konzentrieren, in diesem Sinne, in einer Art a-theistischen Auslegung der Heiligen Schrift. ‹Ich bin› wird zum allumfassenden ambitus des to theion und setzt sich gegen das Vorhergehende durch, bestimmt seine Essenz in der Freiheit seines Geistes. Aus diesem Grund ist JHWH ontologisch eifersüchtig auf alle anderen Götter: Er ist es in der Tat, der ohne Unterlass Israel auffordert, sich endgültig für Ihn zu entscheiden, jeden anderen Namen Gottes aufzugeben und Seiner Stimme und seinem Wort zu gehorchen, in der Ausschließlichkeit eines heiligen Bündnisses. Die Einmaligkeit der jüdisch-christlichen Offenbarung wird also wie eine Gestalt, eine besondere Bestimmung des Undenklichen interpretiert, in dem ein Wort, ein Antlitz, ein Name, ein Bündnis, eine Form des Anfangs entschieden wurden, um Gott in der Geschichte zu sagen, ohne dass diese Lösung seine ursprüngliche Omnikompossibilität erfüllen könnte. Das Ausströmen des Logos und die Schaffung der Welt stellen den ersten Sieg der Liebe über den Egoismus dar, über die indifferente ‹ursprüngliche Natur› der Kompossiblen20. Die Liebe ist es, die endlich die Mitteilung des Verbum und die Möglichkeit, dass es in allen Winkeln der Welt umgeht entscheidet. In diesem Sinn kann man sagen, dass Cacciari den ersten Brief des Johannes neu interpretiert: Gott hat sich en arché als agápe beschlossen. Der göttliche Natur leidet aber es nicht, «daß er bloß ewiges Nein ist, ewige Versagung seiner selbst; es ist ebenso gut seine Natur, daß er ein Wesen aller Wesen sey, das unendlich sich Gebende und Mittheilende»21. So kommt es, dass das Verlangen zu vereinen, das jede Generation bewegt, eine unüberwindbare kosmische Kraft besitzt, die fähig ist, jeden abgründigen Impuls zu überwinden, jede Sehnsucht nach dem Anfang: «Die ganze Schöpfung geht auf Erhebung des Ja über das Nein», denn auch «die wirksamste Kraft der Selbstheit und der Finsterniß dennoch von Licht und Liebe umfangen sey»22. Für Barth ist Gott der Herr über alles – über das Ja und das Nein – der in Christus sein definitives Ja zur Schöpfung spricht: Im Tod hat er das ursprüngliche Nein zum Sterben gebracht und in seinem Symbol alle eines Siegs versichert (consummatum est). In Cacciaris Auffassung dagegen bleibt das göttliche Nein nicht vollständig 19 CACCIARI, I comandamenti. Io sono il Signore Dio tuo, 117. 20 «In demselben Akt also, da Gott sich zur Offenbarung entschloß, wurde zugleich entschieden, daß Gott als das ewige Nein Grund der Existenz des ewigen Ja seyn sollte; es wurde eben damit zugleich bestimmt, daß Gott als die ewige Vereinigung des äußeren Seyn überwindlich seyn sollte durch die Liebe» (SCHELLING, Die Weltalter (1815), in: SW, VIII, III, 303). 21 Ebd., 225. 22 Ebd., 286.
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in der Vergangenheit, der für immer überwundenen Epoche, zurück: Das negative Vermögen des Rückgangs, der Vernichtung, der Negation bleibt schmerzlich präsent. Das Ja ist also nicht unwiderruflich – was für Cacciari die immer noch aktive Präsenz des Bösen bedeutet – und das göttliche agón dauert fort, solange die Schöpfung Leben besitzt, und das im Überfluss (Joh 10,10). In diesem Kampf ohne sicheren Ausgang, gegen den Verlust, gegen die Ermattung von allem, zwischen Gott und der Existenz der Menschen, zeigt sich eine effektive Kom-patibilität: So wie die Geschöpfe das Drama, die Trennung, die Unruhe bewohnen, muss bedacht werden, dass auch in Gott eine dramatische Bewegung abläuft, in seinem abgründigen Kampf mit dem Nichts. Wie Balthasar sagen würde, ist das Kreuz das Zeichen der Dialektik, die das innergöttliche Leben beseelt: So betrachtet, weist es weiter, und zwar auf das Offene, aus dem Deus-Trintas selbst ek-sistiert. Das bedeutet, dass der Tag des Verderbens immer kommen kann, an dem die Geschichte der Welt endet und «der ‹gute› Willen des Architekten machtlos zu Boden sinkt»23. Für Cacciari ist Schellings abyssus, im Gegensatz zu Hegels Auslegung, in keiner Weise ermittelbar, weist jede Logik zurück und geht über jede Kausalität und vorherbestimmte Finalität hinaus. Folglich wird die tragische Möglichkeit deutlich, die Cacciaris Theo-logie begleitet: Ohne festzustellen, dass der Anfang das Nihil absolutum ist, in Übereinstimmung mit seinem Denken des Vorausgesetzten, kann er jedoch sagen, dass das Nein der göttlichen Essenz innewohnt. Die Kompossibilität des Anfangs bringt diese unüberwindliche Sehnsucht des Vaters nach seinem Prius mit sich und eine – unvorhersehbare, nicht dialektische, unergründliche Rückkehr zu ‹dem›, aus welchem sein eigenes Eksistieren stammt. Es geht hier nicht um den Tod Gottes, sondern um unendlich mehr, «es betrifft ein niemals-Sein Gottes, eine ursprüngliche Unmöglichkeit Gottes»24. Die vollendete Unterscheidung vom Anfang entscheidet die Freiheit des innergöttlichen Lebens: Es handelt sich nicht mehr um Kompossibilität, nicht um das Mögliche [Deutsch im Original], sondern nimmt die Züge einer realen Sterblichkeit an, als Folge der Tatsache, dass er vom Vorausgesetzten frei ist, dass er nicht der Anfang ist. «Der Skandal besteht darin, dass Gott sterblich ist, im grundlegenden Sinne, dass Er als Leben untrennbar ist davon, Nicht Anfang zu sein, dass dieses Nicht sein Wesen darstellt»25. Es ist der Geist, der die Menschen hin zum unbestimmten Abgrund lenkt, aus dem sie kommen, und dabei das ‹verstörende› ihres Unus sumus ohne Antlitz noch Namen zeigt, diese supra-substantielle Essenz, die ihre Beziehung nicht gänzlich ausleuchten kann. Der Geist ist mehr als nur das Vermögen von agápe unter den beiden: Er ist auch derjenige, der ihr intimstes Geheimnis offenbart, der es als Unsagbar sagt, «denn der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefe der Gottheit» (1 Kor 2,10). Nur
23 CACCIARI, Della cosa ultima, 486. 24 CACCIARI, FORTE, VITIELLO, Filosofia e cristianesimo. Dialogo sull’inizio e la fine della storia, Napoli 1997, 36. 25 CACCIARI, Dell’Inizio, 218.
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der Geist weiß, dass die innergöttliche Beziehung am unerreichbaren Abgrund des Anfangs teilhat, weiß, dass sie von dort kommt, dass der Logos, der aus Gott strömt, ‹nicht alles ist›, sondern ewig mit der unerreichbaren Freiheit des Anfangs kommuniziert, die die Freiheit und Güte seines Gebens gründet26. Rublëvs Trinität ist für Cacciari die Ikone, der es vielleicht am besten gelingt, die Form des patheîn im Kreislauf der Verschiedenen und Unzertrennlichen anzugeben, als absolut geteilte Qual, die das Band der perfekten Liebenden nicht auflöst27. In ihr sendet der Vater segnend aus, fast als trenne er sich von seinem innersten Teil; der Sohn nimmt den Auftrag an, auf den Opferkelch weisend; der Geist schließt den großen Kreis von agápe und bewahrt die Ruhe und den Frieden zwischen den Dreien. «Nichts darin geht vergessen vom drâma zwischen Vater und Sohn; der Heilige Geist wird sie an alles erinnern» (vgl. Joh 14,26)28. Das Herz des Göttlichen sammelt sich in stiller und mühevoller Betrachtung im Sohn, der zum Mittelpunkt der Sehnsucht und auch der Erwartung wird, da das Unum noch nicht ganz perfekt ist: Die Zeugung) des Sohnes durch den Vater ist nicht vollendet, bis sie nicht in jeder Existenz geschieht. Alle Geschöpfe, die ihm anvertraut wurden, sind noch auf dem Weg zur Vollendung und das Bangen und Hoffen ist in den Blicken der Engel, die die heilige Ikone der Drei bewahrt, zu ersehen. So wie aus dem segnenden Gestus des Vaters Seine Sehnsucht nach der Vergangenheit hervorgeht, so weist der patheîn des Sohnes auf die noch nicht erreichte Zukunft. «Die Pole jedes vorstellbaren Lebens – vom Unvordenklichen bis zur ewigen Zukunft –, das Leben also, enthüllt diese Ikone voller Gnade»29. Die Möglichkeit einer kontinuierlichen Offenbarung, eines erneuerten SichSchenkens und Sich-Zeigens liegt tatsächlich in den Händen des Sohns, der allein in der Lage ist, der Sehnsucht des Vaters zu widerstehen und in seiner tragischen Freiheit die Qual des Anfangs zu ertragen. Das ist das ganze Ausmaß der Freiheit des Sohns, das vielleicht nur er bis zum Ende auf sich nehmen kann, und das ebenfalls an die tragische Möglichkeit des Nicht gebunden ist, die über alles herrscht.
4. Die extreme Freiheit des Sohns: Agápe In Cacciaris Auslegung hat nur der Sohn auf dramatische Weise die unendliche Öffnung der unmöglichen arché offenbart, hat doch er selbst die tragische Erfahrung des unergründlichen Abgrunds gemacht, des ‹Nein›, das jedes Ding begründet/zugrunde richtet, dem gegenüber seine Freiheit als Sohn aufgehoben ist. Der Ruf Jesu Christi
26 «Der Sohn weiß nicht all das, was der Geist weiß: weder das kairós seiner perfekten Präsenz (des höchsten Sinnes seiner parousía) noch was aus der Erde wird. Das éschaton der Beziehung zwischen den Personen ist dem Sohn nicht bekannt; aber eine wahre Beziehung, ohne dass die Personen sich dem gemeinsamen Abgrund zuwenden, wäre nicht denkbar. […] Der Geist ‹befreit› die innergöttliche Beziehung davon, sich als absolut darzustellen.» (Ebd., 386–387) 27 Vgl., CACCIARI, Tre icone, Milano 2007, 13–30. 28 CACCIARI, Dell’Inizio, 591. 29 Ebd., 592.
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am Kreuz nimmt bei Cacciari eine dramatische Bedeutung an: Das Drama des Kreuzes des Sohnes ist nicht enthalten in der Notwendigkeit eines festgelegten Schicksals, sondern geschieht historisch – und dramatisch – vor dem Hintergrund der Kompossibilität des Anfangs, in Abwesenheit jeglicher theologischer Gewissheit. Sein Leben ist teleía agápe (1 Joh 4,18), das heißt, es ist Zeugnis dessen, was sein könnte, aber noch nicht ist, der unmöglichen eschatologischen Vision, der Vollendung, die dem Widerruf immer noch offen steht, seiner Negation, jenseits jeglichen Zwanges sich zu offenbaren und zu verwirklichen. Der Nomos von agápe ist nun angekündigt und gültig, aber immer noch werden in der Zeit der Entscheidung Geduld und Hoffnung beschworen. Der Philosoph erkennt in der christologischen Figur das Wirken eines Archetyps, für alle kommenden Zeiten: In der Tat gibt der Sohn das äußerste Maß an Freiheit an, das in der Zwischenzeit von allen verlangt wird, und unterstreicht die eschatologische Dimension der agápe, die in der Gegenwart angekündigt wird: «Das Leiden (das patheîn), welches die Liebe hier mit sich bringt, erreicht seinen ganzen Umfang, wenn der Mensch das Unmögliche erkennt, das von ihm gegenwärtig verlangt wird: ne simus homines …»30. Die teleía agápe ist eine unsagbare Erfahrung, denn sie ist die vollkommene Liebe, zu der wir im Möglichen unserer Gegenwart aufgerufen sind, obgleich sie für uns unmöglich ist. «Die wahre Bedeutung des mandatum besteht in dem Verlangen, uns zu lieben, wie der Sohn uns geliebt hat – der Sohn, dessen Worte und Gesten offenbar sind, dessen Leben wir vollständig vor Augen haben»31. Cacciari kehrt beharrlich zur Aporie zurück, die das Gebot der Liebe unausweichlich hervorbringt. Die – furchtbare – agápe verlangt nämlich, im Nomos zu verbleiben, und gleichzeitig mit völliger Hingabe zu lieben, wie es nur dem Sohn gelingt. Aus diesem Grund muss die Liebe der Welt immer von der unmöglichen Gabe einer Zukunftsvision begleitet werden, zeichnet doch die Antinomie jede gegenwärtige Erfahrung aus. Leiden und Geduld bestimmen die Zeit, in der es einstweilen möglich ist zu leben, in Erwartung einer definitiven Fülle, in der wir endlich fähig sein werden, einen jeden als das zu sehen, was er tatsächlich ist, das heißt mit dem Blick einer perfekten agápe. Gerade anhand dieser Passagen wird deutlich, dass Cacciaris Weg zum Anfang im Wesentlichen politisch ist: Der ganze Sinn und das Schicksal des gemeinschaftlichen Lebens finden genau in der Kluft zwischen den Zeiten, das heißt im Unvollendeten, das die Geschichte kennzeichnet, statt. Aus diesem Grund verbindet Cacciari den Tod der Prophezeiung mit dem gegenwärtigen Tod der Politik: Jede politische Entscheidung besteht in der Tat nur angesichts eines prophetischen Blicks und einer unmöglichen Vision. Den Raum des Unerreichbaren abzuschaffen, wirkt sich zwangsläufig auf das zivile Leben aus, da es das Leben der Gesellschaft auf Regulierungen von Ämtern und Aufgaben, auf ein von der Bürokratie gesteuertes administratives und quantitati-
30 CACCIARI, Dell’Inizio, 568. 31 Ebd.
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ves Regime reduziert32. «Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn; ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel» (Mt 5,38–39). Dieses non resistere malo stellt für den Philosophen das nicht explodierte Zentrum der christlichen Verkündigung dar, sein gleichzeitig unumgängliches und unmögliches Merkmal, dem der Gläubige nicht entkommen kann. Das Band des Bösen zu zerreißen und die eiserne Logik des Opfers zu überwinden, den todbringenden Kreislauf, der auf das Böse mit dem Bösen antwortet, zu unterbrechen, bedeutet selbstlos zu verzeihen, die über-menschliche Öffnung zu besitzen, die jeden Schlag, jede Täuschung, jede Böswilligkeit abschwächt, als nehme sie sie in ihren Schoß auf. «Zulassen, dass die Gewalttätigkeit des Stromes entweicht, sich in der Leere erschöpft – in der in uns bewirkten kénosis»33. Cacciari erblickt paradoxerweise in Nietzsche den Willen, der Prophet des Adveniens zu sein, der zumindest in der Lage ist einen Weg ‹über den Nihilismus hinaus› anzukündigen, ohne dass es ihm gelänge, ihn einzugliedern. Nietzsche und Paulus erscheinen in ihrer unendlichen Gegensätzlichkeit als die beiden absoluten Umdeuter jeder Logik des Vermögens: Der eine, weil er sie in seinem Willen, alles sein zu lassen, dämpft, der andere durch seinen Blick auf das unmögliche éschaton, in dem jeder, dank der Stärke der Schwäche, die perfekte agápe kennenlernen wird (2 Kor 12,10). Nietzsche möchte eine weitere Möglichkeit der geretteten Existenz eröffnen, die viel mit der antinomischen Logik der evangelischen Seligkeit gemein hat: Es ist die abgründige Dimension des Ja, der Vision der als ewig und notwendig gegebenen Existenz, die nur verlangt, geliebt und aufgenommen zu werden. Gegen jedes Vorurteil als Trennung und Strafe, gegen den von Groll und Enttäuschung gezeichneten Menschen, gegen alles Denken in Werten, das a priori die Prinzipien verabsolutiert, zeichnet sich das große Ja ab, das alles aufnimmt, und alles Entschlafene erlösen kann. Während Nietzsche denjenigen liebt, von dem er sagt «denn er schenkt immer und will sich nicht bewahren»34, liebt der Sohn auch den, der ihn verfolgt, denn er weiß nicht, was er tut. Der téleios lässt zu, dass sein Vermögen fließt, «sich fruchtlos erschöpft, den anderen nicht mehr gebraucht»35. Das ist das Zeichen des Reiches, jenseits von Gut und Böse: Das ist für Cacciari das umgekehrte Vermögen von agápe, das sich nicht darauf beschränkt, einzuhalten, zu widerstehen und jeder negativen Energie Form zu geben, sondern die Kraft hat, sie in sich zu erschöpfen, sie zu verzehren und ihrem Untergang zuzuführen, ohne ihrerseits unrein zu werden36. Genau hier, angesichts dieser Vergebung über jede Gabe hinaus, dieser Hoffnung entgegen aller Hoffnung, dieser Liebe, die jedes
32 CACCIARI, Della cosa ultima, 221. Vgl. CACCIARI, Il nomos dell’amore, in DIONIGI, Ivano (Hg.), La legge sovrana. Nomos Basileus, Milano 2006, 79–86. 33 CACCIARI, Della cosa ultima, 240. 34 NIETZSCHE, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, in: Sämtliche Werke, Band 4, Berlin 1980, 17. 35 CACCIARI, Della cosa ultima, 144. 36 «Wahrlich, ein schmutziger Strom ist der Mensch. Man muss schon ein Meer sein, um einen schmutzigen Strom aufnehmen zu können, ohne unrein zu werden» (NIETZSCHE, Also sprach Zarathustra, 15).
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Maß übersteigt, berührt man, für Cacciari, das Offene, in dem alle Möglichen zusammenlaufen können und endlich in ihrer abgründigen Höhle gerettet sind. Dann bleibt noch die Stunde der Entscheidung der Kinder. Werden sie fähig sein, auf das befreiende Band zu blicken, das die Untrennbaren-Verschiedenen verbindet? Die Zeit, die uns bleibt, ist geprägt von einer unmöglichen agápe: Im Übrigen werden wir genau deswegen gerichtet, vom Thron seiner Herrlichkeit (Mt 25,31–46). Unterdessen muss die agápe ein Gebot bleiben, bis es notwendig wird, vom Menschen das ‹unmögliche› Opfer der Liebe zu sich und zur Welt zu fordern, bis er frei sein wird, von der Freiheit, die des Sohnes ist. «Wie außergewöhnlich ist das schmerzvolle Bewusstsein Christi des Unmöglichen, das für den Menschen bedeutet, vor dieser Notwendigkeit bewahrt zu werden»37. Gottes agápe übersteigt jede Erklärung und jede ultimative Äußerung, die versucht, ihn in das positive Recht oder die Gesetzestreue einzufügen und dort zu erschöpfen. Trotzdem weist Cacciari erneut auf die Antinomie hin, die das neue Gebot beunruhigt: Ohne Nomos wird nur iniquitas hervorgebracht, da die Anomie «die agápe erstarren lässt, sie zergliedert»38. Das Gesetz des Sohnes hebt nicht einfach den Nomos der Väter auf, es vermag sogar, sein essentielles Drama zu bewahren, seine Bestimmung anzugeben und den Weg zu lenken, neuen Schwung zu erwecken. Das Zeitalter des Sohnes, das heißt die konkrete Geschichte der Menschen bis zu ihrem éschaton, lebt im Erkennen, in der Wache und in einer leidvollen und geduldigen Sehnsucht, die jede Substanz durchzieht und auf jenen vollendeten Frieden und jene vollkommene caritas weist, nach denen es strebt, ohne sie jemals wirklich erprobt zu haben. Die Agápe verlangt die Aufgabe der religio der Seele, die an die eigene Selbstbestimmung bindet; sie verlangt den Kampf gegen die philautía, die der Liebe entgegengesetzten Kraft, die ihre eigene Verwirklichung sucht und nie dahin führt, sich angesichts der reinen Zukunft zu sammeln und zu betrachten, soweit das möglich ist. Das unendliche Maß an Liebe und Freiheit, das dem Sohn zu eigen ist, stellt den Unterschied dar, der für Cacciari die Geschichte vor der Düsternis ihrer ‹herrlichen und progressiven› Geschicke rettet: Es bewahrt die Wahrheit darin, Versprechen zu sein und die Freiheit darin, noch nicht entschieden worden zu sein.
5. Die fortwährende Agonie der Gläubigen Angesichts dieser Spannung fordert Cacciaris Philosophie auch die Theologie dazu auf, einzuhalten und zu zögern, um wieder eine spezielle Sensibilität für das, was nicht erhofft und das, was nicht erwartet werden kann, zu entwickeln: Es ist in der Tat ein großer Unterschied, ob man von Vorhersage oder Versprechen redet: Letztgenannte durchzieht eine unbekannte Bahn, die die Menschen sowohl im Empfinden ihrer Schwäche wie in der Sehnsucht nach ihrer Freiheit erzittern lässt. Das andere ist im-
37 CACCIARI, Dell’Inizio, 571. 38 Ebd., 565.
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mer noch Adveniens. Die Öffnung des possest (Nikolaus von Kues) bedeutet tatsächlichen Einzug in den vom Versprechen in Aussicht gestellten Raum: das noch nicht verwirklichte, aber schon wirkende, von dem Paulus spricht, wenn er daran erinnert, dass der Geist sich regt und seufzt (Röm 8,26–27) bis zum Tag der Erfüllung. Die Theologie, aber auch das christliche Leben, ist aufgerufen zu einer regen Sensibilität für den Sinn, einer beständige Aufmerksamkeit, einer andauernde Spannung, die wie eine Strömung alle Formen und Kräfte des ästhetischen, politischen, religiösen und zivilen Lebens der Einzelnen und der Gemeinschaft durchzieht. Aus diesem Grund kann der Philosoph sagen, dass der christliche Glaube ein Glaube «der Gewissheit ist, einer Gewissheit jedoch, die sorgenvoll auf den Anfang und das Ende gerichtet ist: Eine Ankündigung, die in ihrem Wort den Anfang nicht erlöst (sondern deren Wort im Anfang ist), und die Heil verspricht, ohne es vorwegnehmen oder vorher verstehen zu können. Es ist ein Glaube, der während des Wartens leidet»39.
Für Cacciari bestehen der skándalon der christlichen Erfahrung und ihre religiöse Besonderheit vor allem in ihrer radikal eschatologischen Natur, die sich zwischen zwei zeitlichen Abgründen spannt: Das Kreuz ist kein Symbol, das alles klärt und alles offenbart, aber es hat die Kraft, sich seiner ewigen Zukunft, der Möglichkeit, aufgenommen oder nicht aufgenommen zu werden, sich dem Vermögen des Ja oder dem des Nein zu öffnen. Nicht nur das Wissen, auch der Glaube im Zeitalter des Sohnes – das heißt, in der ‹Zwischenzeit›, die wir nach der Offenbarung bis ans Ende der Zeit zu leben haben – kann niemals siegreich sein und sich niemals mit der Gewissheit eines inakzeptablen Aberglaubens trösten: Er ist stetig beunruhigt, gezwungen zu leiden und zu zweifeln und in fortwährender Agonie zu verbleiben. Der Gläubige kann für den Philosophen nichts anderes als ein pistòs ápistos sein, das heißt derjenige, der sich noch nicht gänzlich von seiner Sünde zu befreien weiß und sich des Nicht bewusst ist, das sein Vertrauen gefährdet. Ein Glaube, der unfähig ist, den begründenden Charakter der Ent-hülltheit zu erkennen, den die Verkündigung immer mit sich bringt, verwandelt die kirchliche Gemeinschaft in eine granitische Organisation, in der die Gewissheit das Versprechen übersteigt, die Schlüssigkeit der Diskurse jedes Gespräch ausschließt, die Verkündigung zunichte macht und nicht erlaubt, dass die Wunder eintreten. Ursprünglich jedoch besteht im Herzen des christlichen Glaubens eine wesentliche Öffnung: Sie stellt allerdings die am schwierigsten zu verstehende und anzunehmende Seelenverfassung dar, sowohl in Bezug auf die wesentlichen Erfahrungen der Beziehungen zwischen Subjekten, als hinsichtlich der Möglichkeit eines authentischen Wandels oder einer gesellschaftlichen Revolution, die in der Lage wäre, das Existierende zu verändern. Cacciari ist überzeugt, dass das Christentum ein störendes Element, einen Stein des Anstoßes unter den Menschen darstellt (oder darstellen sollte), der nicht dazu da
39 CACCIARI, Primo monologo filosofico. Colloquium salutis. Domande a Bruno Forte di Massimo Cacciari, in: FORTE, Trinità per atei, Milano, 149.
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ist, den Geist in seinen Überzeugungen zu belassen, sondern ihn in einer fortwährenden Befragung aus sich hinaus zu bewegen: «Der Glauben macht uns am Sinn unseres Daseins fest oder treibt uns, im Gegenteil, zum Auszug, aus dem, was wir sind, ohne das Wohin? zu kennen.[…] Der Glaube würde also nicht auf das delphische Rätsel antworten, sondern seinen Sinn radikal verwandeln und seine Paradoxie hervorheben. Der Glaube würde nicht sagen, wer wir sind – sondern, aus dem auszuziehen, was wir sind. Er bildet unser Antlitz nicht ab, sondern erschüttert es zutiefst»40.
Der Glaube ist also kein Weg, der uns zu uns selbst führt, in einer Dynamik der befriedeten Widerspiegelung, sondern ist im Gegenteil, wie Cacciari insistiert, die Annahme einer Wahrheit, die uns konvertiert, uns aufwühlt, uns von unserem Zentrum ablenkt, um uns woanders existieren zu lassen. Der gläubige Mensch ist nicht aufgerufen, im Glauben den Raum seiner Identifizierung oder die Erfahrung der Entwicklung seines spirituellen Potentials zu suchen, im asketischen Trachten nach Selbstverwirklichung. Der Glaube ist im Gegenteil das, was unser Ex-sistieren ermöglicht, der sogar mit der Unmöglichkeit der eigenen Berufung konfrontiert, um uns wieder an einen anderen Ort als den allen Verlangens nach Versicherung des Daseins zu entsenden. Der Verlauf der Geschichte des christlichen Glaubens kann folglich nicht außerhalb von Paradoxon und des Widerspruch gedacht werden: Wenn es wahr ist, dass die Offenbarung vollzogen ist und in einem depositum fidei verwahrt wird und einer Tradition anvertraut wurde, dann ist das Christentum in seinem Wesen eine kontinuierliche Wieder-Bekehrung im Lichte einer Wahrheit, die immer indaganda ist. Die Dimension der Manifestation des Logos ist radikal eschatologisch und die Glaubensgemeinschaft, die sie von Anfang an empfangen hat, konnte den ádelon, aus dem sie kommt, niemals definitiv entfernen und wird ihn nie definitiv entfernen, oder ihre Vollendung, die noch nicht ist, vorher darstellen können. Die Unmöglichkeit einer völligen symbolischen Erfüllung führt dazu, dass wir auf das warten, was nicht erwartet werden kann, in einer ununterbrochenen Exegese, die die Bedeutung des Worts Gottes niemals erschöpft. Schon mit Abraham lädt die Heilige Schrift ein, auszuziehen und das Land zu verlassen, um es wirklich zu bewohnen; sie fordert unwiderruflich in die Ferne zu ziehen, um sich selbst wiederzufinden: «Geh aus dir heraus, um zu sehen, wer du bist; werde ein Fremder, um zu bewohnen»41. Cacciari stellt sich dann Fragen über die heutige Kirche, unter dem Blickwinkel der téleia agápe, die sie seit jeher zusammenruft, und von den Gläubigen fordert, sich zu bemühen, immer mehr ‹zum Grund› vorzudringen, das nicht auslöschbare debitum dem Anderen gegenüber zu erfassen. Die Religion ist gerade im Namen dessen, was sie erwartet, aufgerufen, die Freiheit zu besitzen, ihre Anhänger nicht an sich zu binden und ihren gesamten Glaubens-Raum zu besetzen und jedes Mal von Neuem ihre Macht, die Menschen zu versichern, zu bestätigen. Die Kirche ist des Sohnes: Ihre Be-
40 CACCIARI, Della cosa ultima, 129. 41 Ebd., 137.
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rufung ist es also, über sich selbst hinaus zu schauen und dem eifersüchtigen Impuls der Zugehörigkeit Einhalt zu gebieten, indem sie versucht, jede Vorstellung von Besitz zu überwinden und sich ‹Dem› zuzuwenden, das in seinem unerreichbaren Ursprung unmöglich versichert werden kann. Keine Form von agápe, so großzügig und rein sie auch sein mag, kann auf irgendeine Weise die Zukunft garantieren, vor der Dunkelheit der Vergangenheit schützen, in der leuchtenden Gnade ihrer Offenbarung. Gerade die christliche agápe ist es, die auf das Mysterium des Vaters, auf den Abgrund der Freiheit, aus dem er kommt, und die Möglichkeit sich zurückzuziehen, sich in die Sehnsucht nach dem Anfang einzuschließen, verweist. Das Nicht-Seiende stellt nicht die verstorbene göttliche Vergangenheit dar, die mit dem Schöpfungsakt, der die Welt hervorgebracht hat, versiegt, sondern die immer aktuelle Möglichkeit, dass das Ende wieder vorherrscht, dass die Existenz unterbrochen wird, dass der Tod der Hüter der letzten Möglichkeit des Wortes wird. «Und hier zeigt sich das Wirken des Menschen wirklich cumpatibilis mit dem innergöttlichen Drama. Das Böse in Gott bedeutet die reale Möglichkeit, dass die schöpferische Entscheidung, die vollkommen freie Gabe, vergeht, unterbrochen wird»42. Das colloquium salutis zwischen Gott und der Welt nimmt die Züge einer Dramatik des Glaubens an, der gerade in der Freiheit des Anfangs den Schoß seiner Generierung und die Möglichkeit seiner Degeneration erkennt. Die dialektische Verbindung, in der die Philosophie und die Theologie den Deus-Trinitas häufig gedacht haben, unter dem Gesichtspunkt seiner Offenbarung zwischen der Generierung des Logos und der Schaffung der Welt – zwischen historischer Verkörperung und eschatologischer Vollendung – muss sich auf verantwortungsvolle Weise mit der Vorstellung von der Eventualität der Dissonanz, der Möglichkeit des Unwirtlichen auseinandersetzen, wenn die Freiheit seines Anfangs, seiner theo-logischen Bedingung von Möglichkeit, wirklich geachtet werden soll. Der Vorbehalt des unentscheidbaren Mysteriums des Absoluten und der Güte seiner Offenbarung unterbricht also die um jeden Preis harmonisierende Spannung der Vollendung. Der Diskurs des Anderen blickt über den Abgrund einer radikalen Freiheit, die jedoch – auch in der gläubigen Theologie – die Kraft wiederfinden muss, Staunen und Zittern hervorzurufen.
6. Dramatische Eschatologie Der Glaube erkennt sich schwach und zweifelnd «neben dem Sohn, im Sohn, am Kreuz»43: In dem Augenblick, in dem er sich opfert, stellt der Sohn die radikalste Frage. Im erhabensten Moment seiner Hingabe äußert er den furchtbarsten Zweifel: «Eloì, Eloì, lema sabactàni?» (Mk 15,34).
42 Ebd., 365. 43 CACCIARI, Dell’Inizio, 579.
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II. Das Mögliche und das Geoffenbarte
In diesem Schrei geschieht laut Cacciari die Geschichte, denn das Fundament der Agonie des Gläubigen kommt zum Vorschein, die schwache credulitas, die ein Zeichen des Zeitalters ist, in dem er sich wiederfindet: Selbst der Glaube des Sohnes empfindet den Schwindel des Verlassenwerdens, genau in dem Augenblick, in dem er sich vertrauensvoll opfert. In diesem Zusammenhang können einige bedeutende Überlegungen von Paulus, Thomas von Aquin, Kierkegaard und Heidegger über die Angst als eigentlichen Ort einer regenerierenden Verzweiflung herangezogen werden, die fähig ist, den Menschen dahin zu führen – spes contra spem – sich von jeder tröstlichen Täuschung und jeder schon geklärten Wahrheit zu befreien, um – jenseits aller unechten Annäherung an die Welt – auf den Grund des eigenen Seins zu blicken. Das «offenbarende Vermögen der angustia»44 lenkt das Subjekt hin zu jener unmöglichen Hoffnung, die der Aufschrei des Sohnes für alle Zeiten in sich konzentriert, ohne dem Himmel irgendeinen Trost zu entreißen. Die tragische Wahrheit seiner Stimme zeigt, wie das Wort keine schon bestimmte und als unmittelbare Darstellung des Wahren verstandene Wahrheit kommunizieren wollte, und dass die Vollendung bis zum Ende geglaubt und erhofft wird. Keine Notwendigkeit der kénosis, keine Notwendigkeit des Kreuzes; keine Folgerichtigkeit der Wiederauferstehung: einzig Hoffnung – als reiner Aufruf zum Möglichen – die sich durch die Verzweiflung und einen zur unerreichbaren Freiheit, in der alles letztlich enthalten ist, gerichteten Blick festigt. Gott offenbart die Möglichkeit der Vervollkommnung der Gabe, und zwar im Respekt vor der Freiheit des Kreuzes und der Schöpfung selbst. «Aber wer garantiert, versichert, predigt die Notwendigkeit, die unterwirft? Nur das Idol»45. Der Schrei des gekreuzigten Sohnes klärt die Offenbarung nicht. Im aionischen Augenblick, der die Zeiten sammelt, der wie in einem Punkt das innergöttliche Leben zusammenhält, versichert sie nicht einfach einer Zukunft, erfüllt nicht die Erwartung des Anderen, der immer noch ankommen muss. «Die Aussöhnung geschieht, ist Ereignis, zukünftiges Ereignis, keine Grundlage, keine ursprüngliche Form unterstützt sie. In principio haben wir nicht einmal das Versprechen, nur die Hoffnung. Sie hängt im Wesentlichen an der Entscheidung des Sohnes, so wie unser Glaube, nach Augustinus, am Kreuz»46.
Die parousía des Sohnes ist wie ein Blitz, der unerwartet, «von einem Ende des Himmels bis zum anderen leuchtet» (Lk 17,24). «Und deswegen reiner kairós – so wie diese Geburt und diese pathémata Christi kairós ist»47. Cacciari denkt die Bestimmung der Offenbarung auf ab-solute Art, wie etwas, das immer noch zu erwarten ist, und in jedem Sinne unmöglich vorwegzunehmen: Sicher nicht wegen der göttlichen Zurückhaltung, sondern weil die parousía nicht notwendig ist, das heißt, niemals vom Prozess 44 45 46 47
CACCIARI, Della cosa ultima, 166. Ebd., 365 CACCIARI, Dell’Inizio, 208. Ebd., 616.
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verschluckt werden kann. Das ist in der Tat Schöpfung: Die Präsenz einer Welt, die immer außerhalb von Gott sein wird, der Er sich aussetzt, deren Unglauben, Blindheit und Missverständnis er entgegen tritt, auf deren Erwiderung und eine vertrauensvolle Umarmung er hofft, dabei alles liebend, unabhängig von jeder Anerkennung oder Kenntnis. «Aber dieses Wagnis der Offenbarung wohnt dem innergöttlichen drâma inne, dort wo es in sich, in seiner Fülle, die Entscheidung des Menschen aufnimmt»48. Der Philosoph problematisiert die christliche Eschatologie anhand des Anfangs ernsthaft: Die ursprüngliche Freiheit vom Anfang, von der alle Dinge, die ek-sistieren, ihren Ausgang genommen haben, wird absolute Freiheit des Endes und unvorhersehbare Bestimmung der Offenbarung. Die Frage ist real, aber die Antwort bleibt in der Schwebe, bis zum letzten Tag: Wird der Mensch capax divini sein? Die Offenbarung wartet im Wesentlichen auf die Antworten der Menschen, da sie ohne diese nicht leben kann. Das Denken stößt beharrlich mit dieser unerhörten symmetrischen Öffnung zusammen, ohne sie jemals wirklich begreifen zu können. Wie Kierkegaard in seinem Tagebuch schreibt: «Daß Gott freie Wesen in seinem Angesicht schaffen kann, ist das Kreuz, das die Philosophie nicht zu tragen vermag, aber an dem sie hängen bleibt»49. In Cacciaris System entsprechen Protologie und Eschatologie dem zentralen Punkt des Kompossiblen und hängen beide an der supraessentiellen Freiheit, die der abgründige Schoß ist, in dem alles zusammenläuft – am Anfang und am Ende. Das Problem des Anfangs, das Cacciari untersucht und erneut befragt, führt zu einem konsequenten Überdenken des eschatologischen Themas, das auf seinem offenen und nie entschiedenen status beharrt, auf seiner absoluten Unvorhersagbarkeit, was damit zu begründen ist, dass es sich den vielfältigen Entscheidungen der einzelnen Menschen anvertraut. Innerhalb dieser Vision, fordert Cacciari dazu auf, zwischen Komödie und Tragödie – zwischen Täuschung und völliger Annahme der Kom-possibilität der Geschichte zu entscheiden. «Wenn das Ende vorweggenommen werden kann, dann gibt es die Spaltung schon immer, als Moment des Ganzen, und die einzige richtige Anschauung des Deus-Trinitas bleibt jene, die bei Hegel geschieht! Wenn das Ende hingegen nichts als ein Versprechen ist, dann kann seine Verweigerung wirklich das Scheitern des göttlichen Plans bedingen. Und das erscheint mir vollkommen mit dem Revelatum übereinzustimmen: Als Sohn und Erbe (nicht Diener, aber auch nicht Engel!), konnte Jesus den Kelch auch zurückweisen!»50
Die gesamte Schöpfung, die ungeduldig auf die Offenbarung wartet (Röm 8,19), spiegelt das Drama des innergöttlichen Lebens wider, das noch nicht weiß, noch nicht wissen kann, ob die parousía des Sohns jemals wirklich angenommen und geliebt werden kann. Unsere Epoche ist die agonische Epoche der Entscheidung, in der jeder 48 Ebd., 618. 49 KIERKEGAARD, Soren, Die Tagebücher 1834–1855, 2. Auflage, Leipzig 1941, 93. 50 CACCIARI, Primo monologo filosofico, in: FORTE, Trinità per atei, 148.
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seine Worte und seine Taten darbringt. Der Vater schweigt, während das Zeitalter des Sohnes unruhig zwischen der Möglichkeit des Glaubens und des Unglaubens schwankt, zwischen der Fähigkeit, der Zukunft einen Sinn zu geben, und dem Verschwinden der Zukunft, bis zur Negation Gottes: «Dass die parousía auf das Nicht-Glauben trifft, kann nicht nur abstrakt die Vernichtung des Gläubigen, des Sohnes, des Lebens der Kinder betreffen, sondern auf eine gewisse Weise jede Bedeutung des Aión, und folglich das innergöttliche Leben selbst. Die Theologie hat zum großen Teil auf die Verdrängung dieser Fragen ‹gebaut› und sich so faktisch einer ‹heiligen› Konzeption des Mysteriums unterworfen»51.
Es ist in der Tat in jedem Moment immer noch möglich, dass der menschliche Glaube nicht widerstehen kann. Nur die Zukunft hat die Antwort: «Der Sohn weiß nicht, welches das Antlitz des éschaton sein wird – er weiß nicht, ob er Amen auf seine parousía wird antworten können»52. Johannes ist derjenige, der am meisten an die Tatsache glaubt, dass der Mensch fähig ist, die Apokalypse des Sohnes anzunehmen, denn auch er wartet auf sie; und Petrus ist derjenige, der das Wagnis zutiefst versteht: «In welchem Sinne jedoch sollen wir vom möglichen Scheitern der Offenbarung sprechen? Dieser Begriff muss ohne jede psychologisch-emotionale Wertigkeit verwendet werden. Er bedeutet, dass in der Offenbarung auch ihre eigene Vernichtung enthalten ist, denn sie ist im Wesentlichen die Apokalypse des Sohnes, eine Apokalypse, die die ebenso freie der Kinder, der Miterben, fordert um ihr eigenes Pleroma zu erlangen. Es gibt keine abstrakte Trennung zwischen Offenbarung und möglichem Nicht-Seiendem. Darin besteht die Passion des Sohnes: im Eröffnen, zusammen mit dem Verlassen-sein des Menschen, der Möglichkeit des Verlassens (des NichtGlaubens – und also des Nicht-an-das-Leben-Glaubens) und der Möglichkeit des Glaubens, nicht trotz, sondern in und für dieses Verlassen so wie der Sohn glaubt»53.
Die Frage, die der Philosoph als entscheidend dafür ansieht, das Thema des éschaton richtig zu behandeln – und die schon bei der Apokalypse des Sohnes gestellt wird –, findet sich im Lukas-Evangelium: «Doch wenn des Menschen Sohn kommen wird, glaubst du, dass er auch werde Glauben finden auf der Erde?» (Lk 18,8). Diese Frage, die bis heute unbeantwortet ist, wird ihre Antwort tatsächlich erst in der Zukunft finden, die man in keiner Weise kennen, sondern vielleicht nur vorausahnen kann. Kein Ausgang ist entschieden und keine Zeit vollendet, obschon Jesus auferstanden ist und über den Tod triumphiert. Cacciari betrachtet und analysiert die Auferstehung von Piero della Francesca, die in Sansepolcro in der Toskana aufbewahrt wird: In der von mühevoller Arbeit gekennzeichneten strengen Landschaft, vor der sich Christus aus seinem Grab erhebt, liest der Philosoph eher eine bestürzende Frage als einen Sieg, eher einen tragischen Zweifel als eine triumphierende Antwort. Man muss den Blick vom verletzten-geheilten Körper zum Antlitz und zum Blick Christi schweifen lassen und
51 M. CACCIARI, Dell’Inizio, 620. 52 Ebd., 645. 53 Ebd.
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dann zu den Figuren zu seinen Füßen – Soldaten, die von Verzweiflung, Gleichgültigkeit, Schläfrigkeit eingehüllt sind. «Christus ist allein, so allein wie am Gethsemane, wo die Jünger, die ihn hätten unterstützen sollen, zu seinen Füßen schliefen. Hier wird seine Einsamkeit von den erschöpften Wächtern ‹begleitet›, dort von den Jüngern, denen es nicht gelang, auch nur eine einzige Stunde zu wachen. […] Kann es sein, dass sein Antlitz hier jede Traurigkeit ‹überwunden› und über jedes Verlassen triumphiert hat?»54
Während dieses Bild im Dichter Yves Bonnefoy schlicht Trostlosigkeit hervorruft, liest Cacciari auf dem Antlitz des Christus mit den zusammengepressten Lippen Melancholie und Desillusionierung; ein tiefes Bewusstwerden scheint durchzuschimmern, ein geniales Bewusstsein der Tatsache, dass sein extremer Akt der Freiheit, das heißt seine freie und dramatische Selbstopferung, kein definitives Heil bringt und den Menschen weder mit dem Göttlichen zu vereinen noch den Menschen mit dem Menschen auszusöhnen weiß. Aufrecht im Grab stehend, weiß der auferstandene Christus, dass kein Schicksal vorbestimmt und keine Geschichte für immer gezeichnet ist. Es scheint, als seien die Männer wirklich nicht in der Lage die Verletzungen auf dem Körper, die Ausdruck des Dramas seiner Passion und der Wahrheit sind, über die sie Zeugnis ablegt – die agápe des Vaters – nicht zu sehen, zu verstehen und zu heilen, da sie im tiefen Schlaf liegen oder nichts von dem Ereignis wissen, das ihren Weg unterbrochen hat. «Niemals hat die Finsternis diese Figur, die aufersteht, auslöschen können; aber niemals wird sie dem Maße ihrer Freiheit entsprechen können, ein dem Menschen unmögliches Maß, Effekt der reinsten agápe. Niemals wird sie die Wahrheit seines Ereignisses nichtig machen können; aber nie werden sie sie in sich aufnehmen können»55.
In der Szene der Auferstehung gibt es niemanden, der den Sohn, der nach dem Tod wieder erscheint und die Neuheit und Wahrheit seines Kommens bekräftigt, erwartet. Die Einsamkeit seines Aufschreis tritt nun zurück vor der Fülle einer parousía, die jedoch nur Unverständnis und Schweigen hervorruft. «Doch wenn des Menschen Sohn kommen wird, wird er auch Glauben finden auf der Erde?»: Die Frage Lukas scheint hier, nach Ansicht Cacciaris, eine relative, bestürzende Antwort zu finden. Auf der anderen Seite sieht der Philosoph im desillusionierten Blick Christi eine übermenschliche Geduld, als sei er ein Feind jeder Verzweiflung, vorwärts gewandt, über die ausgestreckten Körper der schlafenden Wächter hinaus. Cacciari findet hier, in dieser bewussten und außergewöhnlichen Haltung, die unverständliche Gnade und das letzte Wort des Evangeliums:
54 CACCIARI, Tre icone, 37. 55 Ebd., 38.
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«Nicht nur hat er entschieden, den Kelch zu leeren, er hat auch dieses Kommen völlig frei und gütig entschieden. Er hat sich nichts dafür erhofft. Er hat nicht erwartet, endlich erkannt zu werden. Und doch ist er erschienen und wieder erschienen – in der Finsternis und gegenüber der Finsternis»56.
Diesem Übermaß an Gnade, diesem Wagnis setzt sich der Sohn aus, wenn er aus dem Grab heraus wieder unter die Seinen tritt: So wie keine Gewähr seine Ankündigung begleitete, so erwartet keine wohlgesinnte Notwendigkeit seine Rückkehr. Die Vollendung der Offenbarung hängt wirklich von ihrem Ablauf, von der großen Erzählung, die ein ums andere Mal gemacht werden kann, von der Geschichte und den Geschichten ab, die in jeder Epoche gesponnen werden. Wenn der Sohn nicht ohne die Schöpfung der Welt57 gezeugt wird, dann wird es keine Vollendung der Offenbarung ohne die Beteiligung aller Lebenden geben. Cacciari drückt es so aus: «Das bringt ohne Zweifel mit sich, unser eigenes Dasein – in der Konkretheit, Historizität und Erratizität seiner Ek-sistenz – im göttlichen, seinem Antlitz ko-essentiellen Pleroma ‹anzusiedeln›»58. Die Berufung der Kinder, die um den Anfang wissen, ist die zu einer unmöglichen Wartezeit, die nicht nach Versicherungen verlangt: Sie ist bereit, sich zu verirren, wie derjenige, der bereit ist wie die heilige Teresa alle Wege der Burg zu beschreiten, jeder moradas mit festem Willen zu begegnen, obgleich äußerstes Vertrauen, verlässlicher Gehorsam und ein klarer Blick auf das eigene Dunkel und den unerreichbaren Grund nötig sind. Dieser Weg eignet sich nicht für denjenigen, der im Gegenteil «das Feuer der gütigen Liebe» nicht kennt oder wie K. jene Kräfte nicht kennt, «die wirklich ‹offenbaren›: innere Sammlung, Hingabe, Geduld»59. Das Wort ist gesprochen, seine logoi sind vollendet: Nun erwartet die Schöpfung ihre Vollendung im Zeichen der Gläubigen.
56 Ebd., 40–41. 57 «Was den Moment der Zeugung betrifft, so habe ich schon bemerkt, daß wenn die Zeugung eigentlich, d. h. als ein wirkliches hinaus- oder außer-sich-Setzen des Seins des Sohns vorgestellt wird, die Zeugung in diesem eigentlichen Sinne sich nur mit der Schöpfung zugleich denken lässt. Der Anfang der Schöpfung ist auch der Anfang der Zeugung des Sohnes» (SCHELLING, Philosophie der Offenbarung, 102). 58 CACCIARI, I comandamenti. Io sono il Signore Dio tuo, 149. 59 CACCIARI, Hamletica, 53.
Kapitel 2
1. Vorausgesetztes und Darstellung Die tragische Dimension der Philosophie Cacciaris – und gleichzeitig ihre unausweichliche Aufgabe, ihre Daseinsberechtigung – findet sich in dem Versuch, das Unsagbare zu sagen, das nicht Darstellbare darzustellen und die ewige Spannung zwischen Offenbarung und Mysterium zu bewahren, mit dem Ziel sich der Vorstellung von einer genötigten, vorher-sehbaren Ordnung, die alles in sich einschließt, entgegenzustellen. Die Entscheidung des Denkens muss deshalb diesem antidogmatischen und kritischen Anspruch gegenüber jeder einfachen dialektischen Lösung und jedem objektiven abschließenden Charakter, der das Absolute als Idee/Realität hinstellt, die konzeptualisiert werden kann, treu bleiben. Das Stigma des Denkens sitzt im unüberwindlichen Unterschied zwischen Bild und Vorausgesetztem, zwischen Sprache und Anfang, zwischen Denken und ápeiron. Cacciaris Philosophie möchte Ausdruck des Denkens als Drama sein, bis hinein in seine diskursive Darstellung. Die westliche Vernunft war jedoch seit Sokrates, wie Nietzsche sagen würde, jedoch versucht, den dunklen Grund dieses pólemos zu verdrängen, in dem sie lebt: eine ständige Gefahr, aber auch Lebenssubstanz ihrer erklärenden Tätigkeit. Vielleicht schwebt dort ein bisschen vom Geiste Lev Šestovs, dem Freund und Gesprächspartner Nietzsches, und seines unum argumentum: Der Verlust der rettenden Dramatik zugunsten der völligen Konzentration auf das reine Wissen, ist die wahre Tragödie der modernen Philosophie. Jedenfalls konzentriert sich die authentische Denkarbeit Cacciaris auf diese unausweichliche Krux des Logos: Die Frage nach dem Anfang. Die Frage versinkt im Abgrund. Es geht nicht einfach darum, zu einem unerschütterlichen, für immer gesicherten Grund zurückzugehen; auch nicht darum, zum historisch erreichbaren Ursprung der Dinge zurückzufinden, und ebenso wenig, sich auf die reine Annahme, das Anhören eines Revelatum, das in der Zeit erscheint, zu konzentrieren. Das ethos des Zögerns und des Beharrens auf dem Anfang ist der erstaunte Sitz des Philosophierens, «denkend zu widerstehen»61: Es sucht – und erträgt – keine bequemen Vereinbarungen von gewisser Sicherheit, die man einfach bewohnen kann, sobald die Arbeit abgeschlossen ist. Cacciaris philosophische Arbeit trägt unaufhörlich die Züge einer Geste der Emanzipation von jedem vorausgesetzten Inhalt: eine schlaflose – formale und die Kategorie betreffende – Reinigung des Denkens, mit dem Ziel einer Re-Vision der Welt. Eine kühle Leidenschaft, in gewisser Weise, und unermüdlich wachsam gegen61 CACCIARI, Geo-filosofia dell’Europa, Milano 1994, 161.
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über jedem entgegenkommenden syn-ballein, das bei den begrifflichen Mühen spart. Weißglühende Vernunft, allerdings, die jeden Begriff der Prüfung durch ihren Schmelzpunkt unterzieht. Nur das Denken kann den aporetischen Charakter einer Wahrheit auf sich nehmen, die weiter geht als die Übereinkunft, formale Gegensätze zu verwenden: die Dichotomie wahr – unwahr, Freiheit – Notwendigkeit, Einheit – Vielfalt. Das unmögliche Denken des Anfangs muss in einer Dimension tätig werden, die sogar von den normalen Beschränkungen des Prinzips, nicht zu widersprechen, befreit ist. In der Absicht, eine unüberwindliche Unterscheidung zwischen Glauben und Wissen zu bewahren, die sich niemals auf dem gleichen Weg vereinen – ohne dass sie sich deshalb aus ihrer innigen Bindung lösen würden – schreitet die Philosophie Cacciaris per ypó-thesis – im eigentlichen Sinne von ‹darunterstellen› – voran, jenseits der von der Theo-logie und der Theo-sophie errichteten Schwelle62. Aus diesem Grund will sein spekulativer Weg eine ‹Disziplin der Seele sein›: asketische Erziehung zur Schwelle, Initiation in den heiligen Respekt vor den Grenzen. Die weise Öffnung verleiht dieser Philosophie die Unbefangenheit, sich direkt mit dem unübertrefflichen Reichtum der Sprache – des Mysteriums sogar – des Glaubens auseinanderzusetzen. Im Glauben nämlich, in seiner äußersten Provokation erfasst, der Bereitschaft, die Beziehung zwischen dem Einen und der Vielfalt, zwischen Identität und Differenz, zwischen Anfang und Schöpfung zu erforschen, fühlt sie sich wohl. Auch die klassischen Wege zum Beginn werden auf diaporetische Weise beschritten, dabei Umwälzung und Überraschung bewirkend, die in der Lage sind, die traditionelle Behandlung der fundamentalen theologischen Fragen zu überprüfen und zu verwirren: De Deo Uno et Trino, De anima, De praedestinatione. Nicht ohne Grund hat sein spekulatives Werk eine lebhafte Debatte hervorgerufen, und ruft sie weiter hervor, auch unter Theologen, die in seinen Themen, seiner Sprache und den behandelten Autoren einen Raum der wirklichen Auseinandersetzung finden, angefangen bei der Dringlichkeit der gestellten Fragen, der unruhigen Strenge seiner Argumentation und seinem Wunsch, einen wahren Dialog zu beginnen. Auch dank seiner systematischen (und natürlichen) Bereitschaft zu widersprechen. Trotz der formal a-theistischen Struktur seiner Spekulation (oder gerade weil er von einem Ort aus zu denken scheint, an dem der privative Anfang keine reine Negation ist), weiß der venezianische Philosoph den theologischen Diskurs weltlich zu befra62 Der Theologe Bruno Forte stellt eindringlich fest: «Die thesis wird erahnt, nicht besessen: evoziert, sogar erkannt in den Worten ‹clamans in deserto›, dem unauslotbaren Abgrund, der unvordenklichen Erinnerung, bei der man nur in einer langen scholé, einer keineswegs nachlässigen Muße des Denkens, ‹verweilen› kann. Im Ersten Buch ist diese scholé Kritik an der Vorstellung vom Anfang, um seine Unbeweisbarkeit zu ‹beweisen›. Nicht-Zurückführbarkeit auf einen Begriff oder ein beherrschbares Wesen im Zweiten und Dritten Buch (Mnemosyne. Die Zeit, das tun; Das Zeitalter des Sohnes), der Ablauf des Textes ist wie eine Disziplin der Seele, eine ‹asketische› Erziehung, die Grenze nicht zu überschreiten, sich vom ‹Blitz› des Verbum erreichen zu lassen, das blendet und zum Verstummen bringt, an dessen Kreuz man nur in einer Art gekreuzigten Stillstand, langer Agonie ‹hängen› kann, die Kampf, Wache, Hoffnung, Erinnerung und Vorwegnahme des unfassbaren ‹éschaton› ist» (FORTE, Dell’Inizio: in dialogo con Massimo Cacciari, 274–275).
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gen, mit der Absicht, sich methodisch von jeglicher Darstellung Gottes zu trennen, «und zwar, um ihn wieder treffen zu können – in den Formen, den Namen und Vermutungen, die nur der Adveniens in sich birgt»63. Die Aufgabe des Denkens erfüllt sich in der Befreiung des Absoluten von seinen logischen und apophatischen Bildern, die ihn auf eine bloße Grundlage des Intellekts reduzieren. Auf jeden Fall ist Europa oder die Christenheit, wie Del Noce schon aufgezeigt hat, seit jeher der Raum eines Dialog-polemós zwischen den platonischen, mystischen und christlichen Traditionen und dem Atheismus, eine lebhafte, fortdauernde Auseinandersetzung, die im rationalistisch-wissenschaftlichen Verständnis der Natur und im klassischen Idealismus die Konzentration und Ausbreitung einer Kultur des etsi Deus non daretur findet64. Der Philosoph, kann man sagen, vermag keinen Namen Gottes zu kennen, während es möglich und richtig ist, dass er die Namen des Idols kennt, um sie immer wieder theoretisch auflösen zu können. Angesichts dieses kritischen und reinigenden Willens handelt es sich um einen Atheismus, der vor dem Thema Gott und der Möglichkeit seiner Nennung nicht zurückweicht, auch wenn er radikal über die Kategorien der klassischen Metaphysik hinausgeht, hin zu jenem unvorausdenkbaren Anfang, aus dem Gott selbst ek-sistiert: «Was bleibt noch zu denken – fragte sich Valery – wenn das Wort ‹Gott› beseitigt wird?»65.
2. Über Freiheit und Indifferenz Im Dialog des Theologen Bruno Forte mit Cacciaris Werk Dell’Inizio fallen vor allem die flüchtigen Züge eines Unvordenklichen, dass sich nie fassen lässt, das zum Schluss und auch am Anfang keinerlei Determination annimmt, als Gegenstand der Auseinandersetzung ins Auge66. Die zentrale Frage des Dialogs zwischen dem Theologen und dem Philosophen bleibt selbstverständlich die «uneinnehmbare ‹Thesis›»67 vom Anfang: gedacht in der radikalen Indifferenz, die Cacciari entschlossen von jedem Charakter der Zufälligkeit und Produktivität zu befreien beabsichtigt, so wie auch von der Notwendigkeit jeglicher idealistischen Dialektik, dank des abgründigen Charakters von Kom-possibilität als Garantie einer vollkommenen Freiheit. Dort, in dieser abgründigen Öffnung des
63 CACCIARI, Il problema dell’ateismo in Del Noce, in «Paradosso» 6 (1994), 206. 64 Vgl. DEL NOCE, Augusto, Il problema dell’ateismo, Bologna 2010, mit einem Nachwort von CACCIARI, Sulla critica della ragione ateistica, XXIX-LXV. Cacciari scheint sich paradoxerweise das Leitprinzip von Hegels System zu eigen zu machen, demzufolge die Philosophie als KenntnisWissenschaft einen Gott weder bestimmen noch voraussetzen kann [«Der Philosoph hat keinen Gott und kann keinen haben.» (FICHTE, Johann Gottlieb, Rückerinnerungen, Antworten, Fragen, in: Gesamtausgabe Bd. II/5, Stuttgart-Bad Cannstadt 1979, 130)] 65 CACCIARI, Sulla critica della ragione ateistica, LIX. 66 FORTE, Dell’inizio: in dialogo con Massimo Cacciari, 274–283. 67 Ebd., 275.
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Möglichen – jenseits von Hegel, aber auch von Schelling – erblickt Forte ein Übermaß an Vernunft, eine erforderliche Umwandlung der Freiheit, die sich, um solche zu sein, schließlich selbst verleugnen, die Unwiderruflichkeit der Berufung und der Gaben Gottes ins Wanken bringen muss (Röm 11,29): die Gottes Wohlgefallen am Lieblingssohn ein Ende bereitet (Mk 1,11). Forte richtet anhand dieses Punkts seine grundlegende Frage an Cacciari: Wenn «der Anfang wirklich unsagbar ist, bedeutet es dann nicht, ihn zu sagen, wenn er in absoluter In-differenz eingefangen wird? Und wenn Deus-Trinitas dionysisch als yperoúsie, ypérthee, yperágathe angerufen wird, ist dann Schellings Dialektik der Freiheit nicht ein Gefängnis für ihn?»68.
Schon Anfang zu sagen, bedeutet für Forte eine Be-grenzung: So wie ‹göttliche Indifferenz› eigentlich seine omnikompossible Natur entstellt. Der Theologe vertritt die Ansicht, dass der einzige Weg, den Anfang zu nennen, der sei, dass ‹er selbst› sich in der Wahrheit des Kreuzes sage, sich offenbare, selbst wenn er sich verleugnet. Nur das Wort/der Sohn ist in der Lage, das Schweigen des Vaters zu nennen, als den Hintergrund seiner Zeugung, seinen ursprünglichen Schoß: «Wenn man von der Offenbarung des Sohnes ausgeht, gelangt man zum Vater: Wenn man von der Tatsache ausgeht, dass diese Offenbarung das ewige Wort ist, das in der Geschichte gesagt wird, gelangt man zum göttlichen Schweigen, von dem es voranschreitet, mit dem es eins ist und von dem es sich unterscheidet»69.
Bruno Forte ist auf der anderen Seite aber auch überzeugt, dass Cacciaris Philosophie, die nie das tiefe Band, das Mnemosyne und Lethe vereint, entfernen will, nicht zu denen gehört, die im Namen der Unsagbarkeit des Anfangs bereit sind, das Denken einfach aus dem Denken zu entlassen, die in der resignierten Dekonstruktion jedes spekulativen topos der Tradition Bestätigung suchen.70 Ebenso wenig möchte er Cacciaris Projekt der postmodernen Tendenz der reinen Verbreitung von Signifikaten zuordnen. Er verzichtet aber auch nicht darauf, das Vorhandensein einer Aura der düsteren Notwendigkeit festzustellen, die in Cacciaris offenem Horizont paradoxerweise über der Nicht-Notwendigkeit schwebt, welche die Menschen bestimmt: und zwar dort, wo sie in ihrem Ek-sistieren das Nicht des Anfangs darstellen, wie in einem Akt der Kontraktion und Selbstnegierung des Ursprünglichen. Das Denken versteift sich – das heißt, es staunt nicht mehr, sondern wird sozusagen erschüttert – angesichts des radi68 Ebd., 279. 69 Ebd., 271. 70 «Nur eine oberflächliche Lektüre könnte die spekulative Kraft übersehen, die in Cacciaris Seiten liegt, und dort ein unruhiges Scheitern der allumfassenden Visionen des Modernen und den daraus folgenden (aber wirklich ‹daraus folgenden?›) Nihilismus einiger ‹Postmoderner› finden. Waisen der Ideologie. Nicht das sind Register und Substanz dieses Werkes: Nicht die Weigerung zu denken, sondern die größte Mühe des Denkens beseelt es, und wenn die Grenze angesichts des Anfangs erreicht und leidenschaftlich proklamiert wird, geschieht das nur um den Preis der höchsten Ausübung der Vernunft. […] Dell’Inizio zeigt, dass nicht ‹Schwäche des Denkens›, sondern Kraft und Energie den schönsten Wettstreit antreten!» (Ebd., 277–278).
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kalen Wagnisses des Menschen, seines radikalen Ausgesetztseins an einen omnikompossiblen Grund, wo die agápe, die sich schenkt und ihn ruft, von Anfang an ihr mögliches Doppeltes in sich trägt. Das heißt, ihr vollkommenes Gegenteil. Der stets mögliche Widerruf der Entscheidung, die das Leben schenkt – und am Kreuz des Sohnes, aber auch der Freiheit hängt, mit welcher der Mensch, capax divini, antwortet –, öffnet sich einem unentscheidbaren éschaton, das in nichts das Geschenk der Gnade sicherstellt. Alles bleibt an eine indifferente Freiheit gebunden, die ab-soluta gegenüber jedem Treueversprechen, jeder frohen Nachricht ist. An der feinen Linie, die den Glauben vom Unglauben trennt, spielt sich, nach Forte, alles ab: vom Anfang bis zum Ende. Und die entscheidende – tremendum – Frage des Lukas, die die gesamte Untersuchung des Vorausgesetzten symbolisch begleitet, wird angesichts der Schwelle, die nicht überschritten werden kann, gestellt: «Doch wenn des Menschen Sohn kommen wird, meinst du, dass er auch werde Glauben finden auf Erden?» (Lk 18,8). Abschließend fordert Forte Cacciari auf, den Schritt hin zu jener Indifferenz zu tun, die Freiheit ist, welche frei sein lässt, gerade darin, Geschenk der Gnade zu sein, in der unwiderruflichen Treue ihres Bewahrens. Nach Ansicht Giovanni Trabuccos71 definiert die Distanz zu den traditionellen theologischen Kategorien – die den Anfang als Ursprung und Vater denken – Massimo Cacciaris Denken vom Anfang. Trabucco bemerkt, dass Cacciari in seinem Überdenken und Überschreiten des Neoplatonismus und der Spätphilosophie [Deutsch im Original] Schellings, Gott en arché stellt, also den Anfang vor Gott denkt. Als offensichtliche Folge, die andererseits eine methodische Implikation auf Cacciaris spekulativem Weg ist, trifft die Absolutheit der Offenbarung – das heißt auch des theologischen Wegs, der ihre Zugehörigkeit kritisch aufzeigen muss –, in Bezug auf den philosophischen Diskurs erst später, also danach, ein: wodurch sie eine Rolle der bloßen Vertretung, der vorher gebildeten Abhängigkeit von einer spekulativen Ontologie einnimmt. Dieser Ansatz erlaubt es der Theologie weder, ihre eigene Evidenz aufzuzeigen, noch in ihrer Einzigartigkeit erkannt zu werden: Sie wird wieder ihrer Autonomie übergeben, doch bestätigt diese Geste gleichzeitig ihr Außerhalbsein72. Allerdings sollte gerade über die Beziehung zwischen Anfang und Offenbarung nachgedacht werden: über ihren Unterschied, nicht aber ihre wechselseitige Getrenntheit. Während der Anfang das abgründige Nicht-Seiende in seiner reinen Omnikompossibilität ist, kann die Offenbarung «nicht anders, als wieder – wie bei Schelling – ein Prozess zu werden, der sich vollzieht; die Geschichte Gottes ist eine der möglichen Gestaltwerdungen des Anfangs; und mit ihr die Geschichte des Menschen»73. Anders ausgedrückt: Es besteht die Gefahr, dass der Deus Revelatus mit der Geschichte und der Deus-Trinitas mit den Weltaltern vereinigt wird, bis hin zur Vermenschli-
71 TRABUCCO, Giovanni, Dalla crisi all’inizio. Massimo Cacciari, un percorso filosofico, in: «Teologia», 17 (1992), 155–181. 72 Vgl. BERTULETTI, Angelo, L’assolutezza della verità e l’evidenza della fede, in: «Teologia», 16 (1991) und BERTULETTI, Sapere e libertà, in: AA.VV., L’evidenza e la fede, Milano 1988. 73 TRABUCCO, Dalla crisi all’inizio, 177.
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chung Gottes, dabei die Möglichkeit einer menschlichen Geschichte des Menschen auslöschend. Wir wollen sicher nicht die paradoxe Tendenz eines Prozesses anprangern, der in sich abgeschlossen ist, bei einem Autoren, dessen Emanzipation von der Dialektik des Anfangenden der Anlass für seine Erforschung des Vorausgesetzten war. Und doch riskiert auch die Philosophie Cacciaris – ganz unerwartet – gerade aufgrund der vorgefassten Getrenntheit von Metaphysik des Anfangs und Geschichte der Offenbarung, dass die Offenbarung zurückgeführt wird zur Möglichkeit, von dem Prozess verschlungen zu werden, mit dem sie anfänglich nichts zu tun hatte. Die Aporie zeigt sich in der Tatsache, dass – falls die Offenbarung nicht dem Horizont des Anfangs zugehört – schon entschieden ist, dass sie auch nichts mit der Fähigkeit zu tun hat, eine Freiheit zu stiften, die in der Lage wäre, sie zu erkennen und anzunehmen74. Und schließlich hat eine Offenbarung, die nichts mit der reinen Freiheit des Anfangs zu tun hat, ganz einfach auch nichts mit der Freiheit zu tun. Ihrer eigenen, vor allem. Und deswegen mit jeder anderen. In diesem Sinne kann man feststellen, dass es Cacciaris contra-dictio, die das possest alles Wirklichen umfasst, nicht ganz gelingt, sich vom Willen zum Vermögen des darstellenden Logos und seiner natürlichen Neigung zur De-finition zu befreien: Da ist die Aporie eines Denkens, das auf jeden Fall entscheidet, den Anfang zu sagen, während sich jeder Logos und jeder nomos von Anfang an schlicht als unmöglich erweisen. Cacciari entscheidet sich zweifellos bewusst dafür, trotzdem in diesem Widerspruch zu verweilen: Man kann sagen, dass genau dies die intentio profundior seines spekulativen Wegs ist, auf dem Philosophie und Tragödie den gleichen Raum des dissós logos bewohnen. Genau dort, in diesem Zustand des Unvermögens, kündigt sich die abwesende Anwesenheit an, ent-hüllt sich, so dass der Logos wirklich die Differenz, die Unmöglichkeit, die Gründe darzulegen erfahren kann. Gleichzeitig ergibt sich genau so die Möglichkeit, dass sich das Unerreichbare zeigt: sogar als Unmöglichkeit aller Möglichkeiten. So dass der Anfang – unter allen Möglichen und Unmöglichen – auch die Vorstellung als eine seiner realen Möglichkeiten annimmt: einschließlich der Vorstellung von dem, was unmöglich vorzustellen ist. Das De possest muss also auch diese mögliche Unmöglichkeit des Philosophierens annehmen, die als solche eben daran erkannt wird, dass sie sich dieser Schwankung aussetzt und sich bis zu ihrer Negation hinauswagt. Jedoch riskiert das Überschreiten jeder Logik der Identität genau in diesem Sinne einen Rückfall in die Negation jeder möglichen Anerkennung und folglich der unumschränkten Bestätigung einer Freiheit, die notwendigerweise Indifferent ist, eines Prius, das a priori omnikompossibel ist.
74 Nach Trabucco negiert schließlich auch Pareysons spekulativer Weg «den Unterschied, den seine Ontologie der Freiheit doch gänzlich als Ergebnis eines radikalen hermeneutischen Prozesses einweist» (Ebd., 178).
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3. Apathischer Ursprung und negativer Mystizismus Der Theologe Piero Coda hebt die unbegehbare und zugleich unvermeidbare Aporie von Cacciaris Anfang in seiner Freiheit, nichts zu sein, hervor75: die Abwesenheit von Wegen und Destinationen als Merkmal seiner Omnikompossibilität, die sich nicht auf jede creatio, aber auch nicht auf jede de-creatio zurückführen lässt. Die menschliche Freiheit trägt in ihrer agonischen Gegenwart das gesamte Gewicht – die Notwendigkeit –, die Zukunft und die Möglichkeit des Nicht-Seienden des Anfangs zu entscheiden. Die menschliche Geschichte wird jedoch auf diese Weise wieder im Anfang aufgenommen: eine im Ursprünglichen des Möglichen schon vollkommen erfüllte Aufgabe und deswegen der entscheidenden Substanz, welche das nondum des éschaton ihr zuerkannte, beraubt. Der Aufruf-Charakter der Manifestation von Differenz-Freiheit erweist sich folglich als Anrufung der praktischen Entscheidung, die ihr entspricht, als sub-determiniert. Die menschliche Antwort auf die Freiheit, die die Vollendung vonseiten des Menschen verlangt, scheint gleichzeitig dem Ursprünglichen entrissen und von der Gestaltwerdung der Offenbarung abgeleitet zu sein: die sie irgendwie notwendigerweise begründet, dabei jedoch ihre anfängliche Möglichkeit wiederholt. Anders ausgedrückt, sie fast erleidet: «Sie bestimmt sie und lässt sich von ihr bestimmen»76. In Wirklichkeit kann, wenn man das Bild von der Freiheit als Eigenschaft des Subjekts belässt, nur die theologische Identität der Grundlage dem Seienden eine authentische Intentionalität garantieren, und dazu die Unableitbarkeit einer Wahrheit, die wirklich dazu aufruft zu kämpfen und sich für sie zu entscheiden. Das heißt, es ist möglich, die Freiheit auf die Initiative – eher, als auf den bloßen Anfang – zurückzuführen, die fordert (und natürlich erlaubt) aufgenommen und geliebt zu werden: auf eine Weise, die nicht (gnostisch) auf das Wissen reduziert werden kann, die ihr Vorausgesetztes (abstrakt) untersucht. Die einzigartige menschliche Erfahrung und der Zeugnischarakter des Glaubens sind die Züge, nach denen man sich am meisten sehnt in Cacciaris Untersuchung über den Anfang und das Ende. Nur von hier aus kann man sich nämlich – wie Cacciari verlangt – mit der entscheidenden Frage auseinandersetzen, die die Zukunft des Anfangs begleitet: «Doch wenn des Menschen Sohn kommen wird, meinst du, dass er auch werde Glauben finden auf Erden?» (Lk 18,8). Dieser Charakter der indifferenten – unbedeutenden, apathischen – Schwankung, in die sich schließlich das verwandelt, was eine gewagte – heroische, dramatische – Darlegung des Ursprünglichen Hintergrunds der Offenbarung sein sollte, wird auch von Elmar Salmann befragt77.
75 CODA, Intorno all’‹Inizio› di Massimo Cacciari, 60–61. 76 TRABUCCO, Dalla crisi all’inizio, 179. 77 Vgl. SALMANN, La natura scordata, in: ID., Presenza di Spirito. Il cristianesimo come gesto e come pensiero, Padova 2000, 306–323.
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Der Theologe erkennt die Faszination und das provokative Potential von Cacciaris Weg, der fähig ist, sich in einem tiefgründigen Überdenken des klassischen Diskurses, der radikalen Befragung der Freiheit des Subjekts und des dramatischen agon ihres Ent-hüllens zu widmen, in Bezug auf das ursprüngliche ‹Nicht›, das als ewiger Schatten über der Schöpfung schwebt. Auf der einen Seite befragt Salmann den Blickwinkel Bruno Fortes, bei dem die Figur des Vaters, in seinem unfassbaren Schweigen, im durchbrechenden Grund seiner schöpferischen Freiheit riskiert, sich «zu leicht in der Idee der Gabe» einzurichten. Auf der anderen Seite distanziert er sich von Cacciari, bei dem «alles in der Schwebe bleibt, bis zum éschaton – in einem Glauben, der leidet, während er wartet, der weder Frieden noch Trost findet, und noch weniger Aussöhnung mit Gott oder sich selbst»78. In Forte besteht in der Tat die Gefahr, dass die Güte der göttlichen Gabe jede Ambivalenz und jede Dramatik ausräumt; in Cacciari dagegen wird die Dialektik zwischen Einem und Sein, Indifferenz des Vorausgesetzten und Offenbarung, Wahrheit und Freiheit, Darstellung und Ikone, Eschatologie und Vollendung entsetzlich und schließlich unerträglich. Jeder Moment lebt im Schatten seiner Negation, ist er doch ausgeströmt aus dem Anfang, dem Riss und der Spaltung. Salmann meint: «Dort geht ein starker Wind, der die Luft reinigt, den Weg des Denkens aber auch verschlungen, zuweilen sogar beliebig macht. Wo alles aporetisch ist, führt nichts irgendwohin, und das Denken dreht sich um sich selbst und neigt dazu, den Logos der Tradition zu zermürben, den er zuvor so eifrig zurückgerufen hat»79. Cacciaris spekulativer Weg erscheint Salmann in seiner Grundstruktur als «Philosophie des Nordwinds, der kalten Bora», die stark und spekulativ ist, und von den Höhen Nietzsches und Wittgensteins herkommt. Auf jeden Fall ist der Theologe überzeugt, dass die «agnostische Gnosis» Cacciaris tatsächlich in der Lage ist, das Mysterium wiederzubeleben, es dabei um seine metaphysische Substantialität und seine «vom Sein überkrustete Konzeption»80 erleichternd, wobei er jedoch immer, in seinem weltlichen Fideismus, auf der Schwelle der reinen Hypothese verharre, gerade dann, wenn er sich von ihr verabschiede. Weder der exklusive Paternalismus noch der negative Mystizismus sind somit, für Salmann, in der Lage, die nötige Dialektik von Ursprung und Vater aufzunehmen, die die Freiheit von beiden und die Liebe, die ihr agon nährt, bergen könnte. Das beharrliche Insistieren auf dieses Fragen und Darstellen ist nämlich auch für eine Theologie, die immer noch und für immer quaerere Vultum Suum ersehnt, und gleichzeitig das mögliche Ausbleiben der Antwort zu ertragen weiß, eine der größten und interessantesten Herausforderungen der Gegenwart. Jedoch kann, so Salmann, die Indifferenz nicht Hüterin der Liebe sein, nicht einmal in ihrem alles umhüllenden und alles fassenden Geist. Die agápe kann also in Cacciaris Philosophie ihren wirklichen Platz nicht finden: zwischen dem Anfang und dem Vater erscheint ihre Konsistenz höchst flüchtig und dürftig. 78 Ebd., 309. 79 Ebd., 312. 80 Ebd., 307.
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Hier wartet ein anderes Wort des Seins darauf, gehört zu werden. Und zwar das eines Offenen, das die ursprüngliche Bedingung einer Freiheit des Seins ist, die nicht prädisponiert, aber verfügbar ist für alles, bis zum Tod, damit die Freiheit für alle sei. Die Frage der Theologen bedrängt die unhaltbare Dialektik dieser offenen Öffnung des Möglichen. Aber nicht nur, wie Forte feststellt, denn in dieser Richtung fängt Cacciari den Anfang paradoxerweise in den Maschen einer unnennbaren Lethe ein, die reine ursprüngliche Indifferenz ist, und grenzt ihn so in diesem absoluten Nennen ein. Man könnte weiter fragen: Ist der Anfang radikale Offenbarung von allem und Nicht-Seiendem oder kann man ihn Noch-nicht-Offenbarung nennen? Von dieser Auseinandersetzung ausgehend nämlich zeigt sich die Unumgänglichkeit der Fragestellungen, die Cacciaris Philosophie aufbringt, in Hinblick auf die Möglichkeit einer Theologie des Logos, in der sich die Frage nach dem Verhältnis von Anfang und Offenbarung des Seins, und noch ursprünglicher, von Sein und Freiheit, radikal stellt. Das Thema der Freiheit ist auf der anderen Seite ein entscheidender Schritt hin zum authentischen Verständnis des christlichen Wunders und des Mysteriums, das seiner tiefsten Essenz innewohnt. Ohne Freiheit ist es tatsächlich unmöglich, sich Deus-Trinitas und die Wirklichkeit seiner Beziehung zum Menschen und zur Welt vorzustellen. Die christologische Wahrheit selbst würde ohne Freiheit zur bloßen individuellen und zeitlichen Ikone des Absoluten, eine historische Erscheinung, die zu verschwinden bestimmt ist, als dialektische Darstellung des Geistes in der Zeit, die jede Ausdehnung und jedes Geschenk bestimmt und schließlich jede Auferstehung zwingt. Auch das Glauben, Lieben und Hoffen des Menschen würde ohne Freiheit sofort seinen Sinn verlieren, seine ontologische Dichte, seine moralische Qualität und Kraft, die societas und Geschichte begründet und Recht und bürgerliches Ethos in jedem Raum des menschlichen Zusammenlebens einführt.
4. Das Transzendentale der reinen Exposition Die Befragung muss sich an diesem Punkt auf die Bedeutung dieser Öffnung des Offenen, dieser von jedem Zwang und jeder Kontingenz befreiten Freiheit richten, als atopischer Raum, der notwendig ist für jede Offenbarung, in dem die unendliche Möglichkeit zugleich ihre eigene Unmöglichkeit ist. Die Frage muss sich vor allem auf die direkte Beziehung konzentrieren, die Freiheit und Offenbarung verbindet: Das ist die einzige Möglichkeit, um der Inkongruenz zu entkommen, zu der die Verfälschung einer ursprünglichen Trennung führt, die die Öffnung des Offenen und das Positive der Manifestation ohne wechselseitige Beeinträchtigung garantieren sollte. Zumindest in diesem Punkt konvergiert Cacciaris Denken mit den Argumenten der Kritik. Wir wollen zunächst den Punkt der Überschneidung definieren. Die wesentliche Fragestellung richtet sich auf das Wunder der Freiheit selbst: In die Richtung der reinen, ab-soluten Omnikompossibilität gedrängt, findet sie sich gefährlich eingehüllt in einen paradoxen Zwang zum Undifferenzierten wieder, fast bedrängt von der Aufforderung, Nicht-Seiendes zu sein oder hin zur radikalen Möglichkeit der Gegenteile, ge-
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gen jeden Willen zur Definition. Welcher Logos kann sich in eine solch abgründige Unentschiedenheit wagen, die die Logik der Repräsentation, aber auch die der ursprünglichen Disposition verweigert, ohne sogleich ihre Bedeutung zu entleeren – oder zu entscheiden –, ohne sich tatsächlich zu ihrer Bestimmung zu äußern? Freiheit ist Wort, das entscheidet, und Sinn hervorbringt: Als reine Abwesenheit von Orientierung ist sie auch als Öffnung bedeutungslos. Im Bestreben, die Freiheit des Anfangs in ihrer absoluten Omnikompossibilität zu retten, riskiert Cacciari, aus dem Offenen das Reich der Notwendigkeit zu machen, die es nicht erträgt, angerührt zu werden. Das ewige ápreiron ohne Eigenschaften ist das andere – aber ebenso unveränderliche – Gesicht des Ipsum Esse subsistens, in seiner reinen Omnipotenz ohne Antlitz und Gefühle, zu allem bereit, oder zu nichts: in der reinen Indifferenz der Alternativen. Welche Freiheit lässt es dort heraustreten? In der vollkommenen Betäubung des Möglichen, das das Nicht-Seiende sowie jede andere das Seiende betreffende Determination an sich bindet, verliert der Abgrund die Züge des Mysterion, um zum willkürlichen und gleichzeitig notwendigen Hintergrund eines Absoluten zu werden, das ewig in seiner eigenen Indifferenz zu sich selbst gespaltenen – aufgelöst – ist. Das jeder Differenz gegenüber Indifferente war nie Anfang und wird es nie sein. Müsste es, um Anfang genannt zu werden, nicht zumindest das Vermögen seiner Exposition, das reine Beginnen der Kommunikation in sich bewahren? Bedeutet denn die radikale Möglichkeit der Offenbarung – der Anfang kann in Cacciaris Annahme nicht mehr als das sein – nicht zumindest Mitteilbarkeit? Ohne die Bereitschaft sich zu exponieren, lässt sich nicht einmal der Abgrund als Abgrund denken. Für weniger als diese unwiderrufliche Differenzierung wird der reine Horizont des Möglichen widerrufen. Jede Öffnung – und sei es nur das einfache Chaos sagen, in der schon von Heidegger vorgeschlagenen Etymologie – ist zumindest das. Eine Bewegung zwischen dem Nichts und dem Sein, ein reiner Übergang [Deutsch im Original] der Bedeutung, weswegen es einfach darum geht zuzulassen, dass das Absolute sich exponiert. Abyssus abyssum invocat: Der Abgrund kann auch nicht exponiert werden, das heißt, jeder Möglichkeit offen bleiben, und nicht in die folgende Kette von Ereignissen einzuverleiben, nicht auf die unendlichen Produktionen seiner Generativität zu reduzieren sein. Aber ohne seine Disposition für das Mögliche oder Unmögliche ist er nur flatus vocis, nicht radikaler Gedanke. Und der flatus vocis würde wiederum bezeugen, dass die Disposition wirkt: Sie hat schon entschieden, in vollkommener Freiheit, gegen die ybris des Gedankens, der sie im Zweifel widerruft, im reinen Unvermögen seines Effekts. Aber man muss noch weiter gehen. Welche Beziehung besteht zwischen affectus und Abgrund [Deutsch im Original]? Denn nur, wenn wir denken können, dass das ursprüngliche Aus-Strecken des Anfangs von der absolut freien Intention eines affectus gelenkt wird, der sich dem anderen zuwendet, ist es möglich, über die reine, auf ihre eigene Identität gerichtete Notwendigkeit der Metaphysik der Substanz und ihre autoreferentielle und im Voraus gebildete Unwandelbarkeit hinauszugehen. Zwischen dem Unwandelbaren und dem Wan-
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delbaren, dem Notwendigen und dem Kontingenten, dem Möglichen und dem Unmöglichen, muss eine Ontologie der radikalen Freiheit die Alternative von Disponiblem und Nicht-Disponiblem schaffen, die sich in keiner Weise mit den anderen ontischen Paaren der Freiheit überschneiden oder lösen lässt. Damit wollen wir die Idee der Freiheit nicht einfach als Entscheidung ansehen, das Seiende zu produzieren, als Vorausgesetztes des Ausströmens des Seins. In der affektiven Dialektik des Disponiblen und Indisponiblen, ist eine Freiheit zu denken, die weder blinde Notwendigkeit noch leere Öffnung ist. Das Chaos ist nicht der Anfang, so wie der Logos nicht der Ursprung ist: Es handelt sich also darum, über eine Ontologie der substantiellen Ableitung, die unter dem Zeichen der reinen aporetischen Opposition (Chaos-Anfang) und dem der reinen formalen Identität (Logos-Ursprung) steht, hinaus zu gehen. Die Zeugung des Sohnes wird von der Schöpfung vorausgeschickt und versprochen: die Absolutheit der Freiheit ist ganz in der Freiheit des Absoluten, das sich in der Schaffung der Möglichkeit des anderen exponiert, dank der Möglichkeit, die in der Zeugung des anderen besteht. Eine Ontologie der Exposition, die das Absolute verspricht, erlaubt es, den Anfang des Seins im – nicht selbstbestätigenden, also der Disposition nicht widersprechenden – Aus-Strecken des Zeugens zu ermitteln. Die Liebe arbeitet hier ohne Vorgefasstheit der Absolutheit (das absolute Sein ist affektives Aus-Strecken der Zeugung, das die zeugende Disposition nicht vernichtet) und ohne Entleerung der Freiheit (die Hin-Neigung, in der das Absolute sich exponiert, richtet sich auf jeden Fall an die freie Übereinstimmung, der sie zugedacht ist). In dieser Richtung würden wir uns nicht schon in der Umarmung des Ersten absolvens wiederfinden, der in der Verwirklichung der Freiheit geschieden oder erschöpft ist. Das Denken lässt das Transzendentale der absoluten Exposition erscheinen, als ursprüngliche Grundlage/Durchbruch der Autoreferentialität des Seins: nicht von der Metaphysik garantiert, nicht von der Dialektik vermittelt. Das ist die unbedingte Bedingung der Möglichkeit des Möglichen, der Standort der anhaltenden, nicht widersprochenen Öffnung des Offenen. Der Abgrund des Anfangs aller mitteilbaren, disponiblen, bestimmbaren Inhalte und Handlungen kann alles sein oder nicht sein, außer das Nicht-Mitteilbare, NichtDisponible, Nicht-Bestimmbare. Dieses radikale Aus-Setzen ist es, was im Vergleich zu jedem bloßen Durch-Setzen oder Selbst-Setzen die Freiheit und den Unterschied zwischen Offenem und reinem In-differentem ausmacht. Es ist nicht der Akt, unüberwindlich und unverzüglich in sich selbst eingeschlossen zu sein; es ist nicht der Rückzug in das Indifferenzierte als bildende Figur des niemals wirklich gegebenen Möglichen. Es ist die wirkliche Bewegung zwischen den beiden, die in gewisser Weise dem entspricht, was ausgerechnet Hegel als reines Entstehen der Negativität zu denken wünschte: Nicht im Versuch, das Ganze zu gründen oder zu repräsentieren, sondern als Erfahrung des Vermögens der Exposition, der Trennung oder der Aufgabe des Selbst. Um auf diese Weise das Absolute in die Gegenwart einzuschreiben und gleichzeitig die Gegenwart von jeder Verabsolutierung zu befreien.
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Auf jeden Fall wird die Ambivalenz des reinen Möglichen unerträglich und undenkbar, radikal unerreichbar, über die Grenze ihrer Mitteilbarkeit hinaus, einfach eingeschlossen in ihre Unmöglichkeit. Das wäre nicht der Anfang von Allem, sondern der reine Nicht-Anfang des Nicht-Seienden, ein Schoß, der absolut unfruchtbar ist für die Formulierung jedweder Frage, unbegehbar auch für den geschicktesten dissós logos, in den schrecklichen Schwankungen des Omnikompossiblen. Das possest der Selbst-Disponibilität reduziert sich in diesem Sinne angesichts der Erschaffung des Anderen weder auf eine reine Haltung der Alterität noch auf eine reine Widerspiegelung der Identität. Das undenkbare Mysterium ist – wenn man sich unbedingt in den Abgrund der Initiation des Göttlichen hineinbegeben will – die Bewegung zwischen den beiden, die sich gleichzeitig von beiden losspricht: Das ist auf der anderen Seite das Mysterium der Zeugung, das jenseits des Einen besteht, so wie es jenseits der reinen Anhäufung von Sein besteht und jede Fixierung erzittern, jede Subsistenz vortreten lässt.
5. Das Offene und das Heil des Seienden Das Thema muss überdies aber auch unter dem Gesichtspunkt der wirklichen Konsistenz dessen, was vom Anfang ausgehend fortschreitet, befragt werden, das heißt von der Ek-sistenz, die die Welt der Seienden ist, das pragma touto, das die historische Vielgestalt ist, welche tatsächlich die weltliche Raum-Zeit bewohnt. Cacciari stellt beharrlich fest, dass die unveräußerliche Einzigartigkeit jedes Seienden gerade deswegen gerettet wird, weil sie dem Unum angehört, aus dem und in das sie fällt: nicht verlassen, nicht einfach als Sein ohne Schicksal, als endliches Sterbliches, das gezeugt und aus dem indifferenten Schoß des Seins ausgestoßen wurde, von ihm getrennt. Im Gegenteil, in dieser Vision wird jedes Seiende sogar zur Ikone, die – in ihrer unwiderruflichen Existenz, ihrer Lebenszeit – immer hin zum uneinnehmbaren Anfang zeigt, aus dem alles kommt, auf jene Öffnung, «die ihr zusteht zu sein, die ihr Freiheit schenkt»81. Gianni Vattimo richtet hierzu eine Kritik an Cacciari, welche die komplexe Abstraktheit seines Denkens zum Ursprung hervorhebt: Das Nicht-Anfangende, ein wirkliches und freies, nicht-logisch ableitbares Ereignis, welches seinen Anfang darstellt, das nicht tröstet, sondern verantwortlich macht, bleibt seiner Ansicht nach letztlich obskur; es hat nichts mit der Geschichte zu tun, da es ein «Götter-Drama ist, das sich über unseren Köpfen abspielt»82, und nicht geeignet, zur Aktion anzuregen. Auf diese Anschuldigung des Mystizismus, der sich auch Antonio Negri anschließt, aller-
81 CACCIARI, Quale Dio? Paralipomeni a Della cosa ultima, 115. 82 VATTIMO, Gianni, Questioni a Cacciari, in: «Filosofia e teologia», Anno VII, Nr. 1, Januar–April 1993, 144.
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dings auf die frühen Arbeiten des Philosophen bezogen83, antwortet Cacciari mit der Bestätigung der zweifellos nicht pragmatisch-revolutionären Natur seines theorein, tritt aber gleichzeitig für die Wesentlichkeit jener ein, die er ‹Formen des Tuns› nennt: deren Sinn dazu bestimmt ist zurückzuweichen, auf diese Weise die Aktion zur Unfruchtbarkeit verdammend, wenn das Rätsel ihrer Zeugung nicht ans Licht gebracht wird. Dieses Problem erscheint, wie wir schon gesehen haben, von Anfang an von einer Ontologie des Omnikompossiblen gezeichnet, der es nur mit Mühe gelingt, die bestimmende ex-positiva Möglichkeit des Prius zu erklären, immer dem Risiko einer möglichen krisis ausgesetzt – und damit der formenden Schwankung, zu der alles, was des Anfangs ist, sich hinzuwenden scheint. Cacciari lehnt andererseits jeden «Diskurs über die grundlegende Disposition des Seienden»84 ab, da er notwendigerweise den Anfang dazu bestimmt, mit der Totalität der Existierenden verbunden zu sein, und folglich seine Absolutheit und Freiheit gefährdet und ihn auf die Daseinsberechtigung jeden Dings, das ist, reduziert. Für ihn bleibt der einzige Weg, das ápeiron des Indifferenten zu denken, um den Anfang zu sagen, ohne einen Namen zu nennen, ohne ihn mit der Grundlage der Beziehung in Übereinstimmung zu bringen. Der Wert dieser Provokation besteht darin, dass sie die Theologie verpflichtet, den trinitarischen Anfang anders zu denken: Das heißt, ihn außerhalb der Abstraktheit der undeutlichen Äquivalenz des substantiellen Göttlichen zu denken, die den einzigartigen Dynamismus der Freiheit, die ihm persönlich innewohnt, verbirgt. Die Freiheit muss die Personen und die Natur des Göttlichen – um die traditionelle Terminologie zu verwenden – vollständig durchlaufen. Dieses trinitarische ‹Mehr-als-notwendig› sollte jedoch vermeiden, die Freiheit aufhebend in der näheren Bestimmung der persönlichen Eigenschaft unterzubringen, die in einem Spannungsverhältnis mit einer Idee von der Natur Gottes steht, welche hingegen von der reinen und einfachen Notwendigkeit des Ipsum Esse beherrscht wäre, das auf abstrakte Weise mit sich selbst identisch ist. Ebenso wie sie auch vermeiden sollte, den ontischen Gedanken von Freiheit mitten hinein in die Identität der Substanz zu tragen und ihn unverzüglich in eine abstrakte Autoreferentialität des Subjekts einzuschließen. Dies würde bedeuten, die absolute Freiheit des Göttlichen innerhalb einer einfachen Spiegelung seiner eigenen Natur aufzulösen, die a priori jede Reinheit und jede Geschichte von jeder Zuneigung epekeina tes ousias befreit. In beiden Fällen wird die Freiheit verdrängt, verbraucht sich das Ereignis schon in seinem Anfang, ist die Vollendung nur als Wiederholung des Ursprungs denkbar. Das ist die Wahrheit, die in Cacciaris Einwand enthalten ist, ihn motiviert, indem die abstrakte Übereinstimmung von Gott und Anfang als Wurzel dieser unvermeidlichen Richtung aufgezeigt wird. 83 NEGRI, Antonio, Simplex sigillum veri. Per la discussione di Krisis e di Bisogni e teoria marxista, in: «aut aut», September 1976, 180–195. 84 CACCIARI, Della cosa ultima, 74.
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Im Lichte der bis hier durchgeführten Untersuchung erscheint aber auch der kritische Punkt seiner pars construens, die nicht ganz vor dem Risiko gefeit ist, die Anlage dieser Abstraktion Schritt für Schritt wieder aufzunehmen; und sei es sub contrario und auf negativem Wege. Die Aporie betrifft die Auseinandersetzung mit Cacciari: Aber auch ganz allgemein (und besonderes nützlich, erforscht doch Cacciaris Denken seine gesamte fruchtbare Virtualität), mit dem gesamten Weg Schellings. Die Gestalt der Freiheit muss an diesem Punkt radikal gedacht werden, bis zu ihrem Grund. Die Freiheit liegt nicht in der formalen Radikalisierung des Möglichen, sondern in der substantiellen Disposition des Disponiblen. Die Freiheit ist das Prius der Intentionalität, die den Sinn stiftet, nicht das weit entfernte Prius ihres, in sich vollkommen sinnlosen Ermessens. In Wirklichkeit ist die Freiheit nicht im ‹intakten› Charakter des Anfangs oder dem ‹vollendeten› Charakter des Endes. Sie ist im ‹Schlag›, der den Anfang der Bestimmung markiert: das heißt, der bestimmend den Anfang gibt. Anders ausgedrückt: Ihre ganz eigene Möglichkeit fügt sich in den Punkt des Übergangs – der auch der Punkt der Einzigartigkeit ist – ein. Aus diesem Grund muss die Freiheit von Anfang an ontologisch gedacht werden. Eine Freiheit, die jenseits der Einfügung in diesen Punkt, in der Trennung vom Horizont des Sinns, entbrennt – oder ontisch liegt –, entbrennt nicht einfach. Die Freiheit des Undifferenzierten ist perfekte Indifferenz der Freiheit gegenüber. In diesem Fall ignorieren sich das Mögliche und die Freiheit völlig, haben keinerlei Möglichkeit der Kommunikation: Das ápeiron ist nicht ápeiron, die Freiheit ist nicht Freiheit, die Materie ist nicht Materie, der Geist ist nicht Geist. Es gibt nicht nur kein Leben, sondern es gibt nicht einmal sein prius. Cacciaris Beschäftigung mit dem Problem der christlichen Offenbarung hat folglich das Verdienst, der Theologie wesentliche Fragen zu stellen, mit denen die Theologie sich nicht freiwillig auseinandersetzen würde. Dennoch kann das Nachdenken über den Anfang nicht – wie es der Philosoph wünscht – zur radikalen philosophischen Exegese der christlichen Offenbarung werden, denn er möchte die Schwelle überschreiten, die von seinem Blickwinkel aus Philosophie und Theologie trennen. Cacciaris Exegese zielt darauf ab, der Freiheit den ganz ursprünglichen Sinn zurückzugeben, dem die Idee von der Offenbarung nicht widersprechen kann, ohne sich den theologischen Gebrauch zu versagen: das heißt, über die klassische (griechische) Institution der ontologischen Differenz hinaus, die zwischen der absoluten Verbindung (skandalon), die der biblische Anfang stiftet, und der absoluten Gesetzwidrigkeit entscheidet, welche die ursprüngliche Indifferenz birgt. Das Überschreiten des Denkens vom Anfang als Relatio non adventitia dient dazu, den absolut exponierten – nicht notwendigerweise durchgeführten, verheißungsvollen, geklärten – Zug der Offenbarung zu manifestieren. Der Gott der biblischen Tradition, auf den Cacciari sich als höchste Verkörperung/Personalisierung des Anfangs in der westlichen Tradition bezieht (auch wenn sie seiner Auffassung nach entschieden wurde, das heißt, geglaubt und philosophisch vorgefasst und in ihrer Problematik noch nicht vollständig verstanden und befragt), kann in seiner skandalösen und unerhörten Manifestation hinsichtlich seines mithologhein wirklich erlöst werden. Das Eindringen Gottes, eine Manifestation seiner Eifersucht,
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seiner «glühenden Leidenschaft» und seiner «unbezwingbaren Sehnsucht», die «Ausdruck einer so heftigen Gefühlsbewegung sind, dass sie das Gemüt zum Kochen bringen»85, ist für Cacciari ein Anzeichen dafür, dass er im Wesentlichen an seine Schöpfung gebunden ist, eingebunden in einen unerhörten Pakt – der nichts rechtfertigt, nicht gründet –, der ihn für immer in «einer Liebe, die ihm keine Ruhepause gönnt»86, umschließt: Nun, dieser Gott erzwingt keine fideistische Lösung. Ebenso wenig jedoch braucht er es, dekonstruiert, fluktuierend gemacht zu werden, wie in einer Art Schwanken ohne Grund und Hintergrund, im Horizont des reinen Möglichen, das ihm die Neuheit seiner radikalen Aussetzung an das offene Spiel der Freiheit und des Ereignisses garantieren würde.
6. Zeit der Entscheidung: Theodramatik Der unerklärliche Akt der Liebe, den die christliche Offenbarung als Öffnung des Seins jedes Möglichen voraussetzt, wird – als konkretes Mögliches der Freiheit, nicht als abstrakte Freiheit des Möglichen – das ursprünglich Verfügbare, dem der Deus-Esse logischerweise treu ist. Nicht aufgrund der Logik des vor dem Möglichen gebildeten Notwendigen, und auch nicht aufgrund der Indifferenz des vorher gebildeten Möglichen gegenüber der Freiheit. Einfach deswegen, weil der Deus-Esse ewig anwesend ist in seiner Entscheidung – für immer –, verfügbar zu sein für das Angebot, das aus seiner ursprünglichen Disposition (die Zeugung des Sohnes als un-vor-denkbarer Träger des Freiheitssinnes) zur Disponibilität für die kreatürliche Verbindung entspringt (der Sinn, der der ursprünglichen Freiheit zu zeugen frei zugestanden wird). Von daher sein Aufruf – keine erzwungene Bestimmung – an die Menschen, dem Bündnis treu zu bleiben, auf dass sie dem Versprechen vertrauen und den Pakt annehmen, ohne sich Idole zu schaffen [«Und du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allem Vermögen» (Dtn 6,5)]: Dieser wird sicherlich offen bleiben für jede Antwort, auch für die Möglichkeit der Ablehnung, der Flucht nach hinten in Richtung einer beruhigenden Nicht-Freiheit. In der Theo-logie Cacciaris entspricht der Sohn der unerwarteten und unerhörten Form des Göttlichen, eine wahre novitas in Bezug auf die vielgestaltigen vorherigen Manifestationen Gottes, Alpha und Omega unseres Zeitalters, auf dem Höhepunkt seines Todes und seiner Auferstehung. Jedoch ist das, was in der Stunde des Sohnes geschieht, nicht einfach Aussöhnung, keine absolute Vollendung. Cacciari nimmt sich vor zu zeigen, dass seine Entleerung, sein Dem-Menschen-ähnlich-Werden der ambitus unserer Widersprüche bleibt. In seiner kénosis beherbergt der Sohn weiterhin Nikodemus und Pilatus, weil sein überraschendes Erscheinen jene Einheit nicht sucht, die die Geschichte a priori entscheidet,
85 CACCIARI, La prima parola, 39. 86 Ebd., 41.
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nicht einmal in seinem Kreuz. Unvordenkliche Vergangenheit und immer mögliche Zukunft stellen für den Philosophen den Logos des Sohnes dar, seine dramatische Geschichte, die keine Gnosis des Anscheins und der falschen Leidenschaft überschatten kann. Man kann jedoch beobachten, dass die Theologie schon von sich aus vom tatsächlichen Ausströmen der Fleischwerdung des Sohnes aus der Zirkularität der reinen Vorherbestimmung weiß. Die Theologie ist sich bewusst, dass diese Vorherbestimmung nicht der Sinn der Destination des Sohnes ist. Die biblische Erzählung zeigt im Übrigen deutlich ihre Nichtbeteiligung an jeglicher triadischen Dialektik von Vater und Sohn und Geist. Die Vorstellung von der triadischen Zirkularität (die perichoresis) als Muster einer notwendigen Historizität oder einer formalen Prozessualität, in denen jedes Ereignis schon entschieden ist, in dem die Würfel schon gefallen sind, ist nicht in jedem Sinne Theologie der Heiligen Schrift, sicherlich nicht von Paulus und Johannes. Die historische Tatsächlichkeit des christlichen Geschehens entspricht, selbst für die gläubige Theologie, nicht bloß einer Erfahrung der Manifestation oder des Ausdrucks der Wahrheit, die einfach zur Ikone-Bildlichkeit gemacht wird, zum BildSymbol, das für jede beliebige Allegorie zur Verfügung steht. Es ist nämlich stets eine ‹Theodramatik› im Gange, um einen Begriff Balthasars zu verwenden. Die Geschichte Jesu Christi – die christliche Phänomenologie des Göttlichen – begründet den entscheidenden Charakter der Entscheidungs-Wirksamkeit der Freiheit, weil sie ontologisch die theologische Qualität der Beziehung zur Welt darstellt. In ihr hat die Doktrin ihren unausweichlichen Bezugspunkt. Gerade dank ihr und in ihr schöpft, verwirklicht und integriert das gläubige Denken die Merkmale der Einzigartigkeit und Freiheit, in der nicht vorher denkbaren Parrhesia ihres christologischen Geschehens. Keine metaphysische Voraussetzung der Person oder der Substanz und keine transzendentale Implementierung der Freiheit und des Seins können das christologische Geschehen ersetzen. Das A-priori-Wissen besitzt eine wüstengleiche Macht, denn in seiner Argumentation, in der Stringenz seiner Ableitung, kann es «keinem wirklich in sich Lebendigen»87 begegnen. In dieser Richtung verlieren die Äußerlichkeit und der Unterschied der Schöpfung sowie die eschatologische Erwartung, die in sich die Freiheit der Bestimmung jedes Existierenden umfasst, an Bedeutung, in einer uneingeschränkten Objektivierung und Versachlichung des ursprünglichen Logos, der Telos wird, seit jeher entschieden, der gegenwärtigen Epoche und der kommenden angehörig ist. Und die Dimension des Mysteriums nimmt die Züge eines erhabenen rhetorischen Überbaus oder einer gläubigen ornamentalen Spannung an. Die Vorher-Bestimmung Christi und auch die Bestimmung in Christus lassen sich nicht von hier ableiten. Cacciari beleuchtet dies eindringlich: «Die parousía des Sohnes ist ‹gleich wie ein Blitz› (Mt 24,27), wie ein blitzender Blitz, ‹astrapé atrápousa› (Lk 17,24). Auch der Engel, der den Stein vom Grab rollt und die Auferstehung verkündet, war von leuchtender Gestalt (Mt 28,3). Ebenso wie die Auferstehung geschieht auch die 87 CACCIARI, Dell’Inizio, 135.
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parousía: ein nicht einzufangendes und nicht voraussehbares Licht, das die ‹Berechnungen› der falschen Propheten hinwegfegt»88.
Die Erfahrung Jesu Christi kann also nicht einfach eine Form der göttlichen Offenbarung sein, ein ankündbarer Moment des überzeitlichen Projekts von Welt. Gerade weil sie keiner Szene des Göttlichen von reinem Symbolwert entspricht, sondern seine bildenden Form ist, lässt die dem Sohn übergebene Freiheit Gott selbst in die Dramatik seines Frei-seins eintreten und besiegelt seine Wahrheit. Die Dramatik der Menschwerdung, in die auch Balthasar seine Gedanken vertieft hat – wenngleich in dem anti-tragischen Geist, der ihren Sinn versichert, wie wir sehen werden –, beherbergt jedoch immer (und für immer, bis zur Vollendung) den wirklichen und erschütternden Skandal eines Todes Gottes am Kreuz, einer Himmelfahrt des Fleisches im Auferstandenen, einer Ankündigung, die immer und immer noch von Gott-agápe zurückgewiesen wird, die die Geschichte aus dem Gleichgewicht bringt: der Welt und auf gewisse Weise auch des Christentums selbst, bis zur Vollendung und zum Gericht (das seine Bedeutung in Bezug auf das Andauern des Offenen bis zur Erfüllung der Entscheidung erhält, dessen Stunde nur der Vater – nicht einmal der Sohn – kennt: Weil es die Stunde ist, in dem sich der abgründige Prozess der Zeugung des Menschlichen aus Gott vollendet, den insbesondere der Vater ‹zur Kenntnis nimmt›). In seiner eigenen, einzigartigen Passion unterscheidet sich der Sohn, äußert sich und gleicht auf freie Weise seiner Essenz, in der er eins mit dem Vater ist, und zwar gerade, indem er nicht der Vater ist.
7. Der christliche Weg und das Rätsel der Bestimmung In der gesamten Geschichte des Sohnes – vom prius der unvordenklichen Zeugung bis zum éschaton der historisch errichteten Herrschaft über die Welt – spielt sich das Drama der Weltalter ab, ihre historische und zugleich ewige Verflechtung89. In der Agonie des Sohnes, der sich selbst bis zum Tode hingibt, spielt sich die Vergangenheit des Vaters ab: des ganzen Glaubens, des ganzen Unglaubens, der ganzen Hoffnung und Verzweiflung, der ganzen Liebe und Feindseligkeit entlang der Achse der Zukunft des Vaters, die kommen wird. Der Sohn ‹pflanzt sich› mitten in dieser Dialektik der Schöpfung auf, zur Bewachung des Nicht-Unbeteiligtseins – besser noch, der aktiven Beteiligung – Gottes an der Geschichte der Entscheidung. Der Geist durchläuft sie, ohne auf irgendeine Weise ein eigenes Alter oder einen eigenen Ort als Alternative zur Allgegenwart des Sohnes zu haben. 88 Ebd., 616. 89 Balthasar hatte in den 50er Jahren sogar ein Projekt der ‹Theologie der Geschichte› entworfen, in dem sich die gesamte Heilsgeschichte und Weltgeschichte – da sie eine Geschichte der Freiheit, ihrer Bestimmung und ihrer Vollendung ist – in die Dimension des eidos des Sohnes eingegliedert wurde: deren eikon und pleroma (das heißt Archetyp) Jesus Christus in seiner differentiellen Einzigartigkeit ist. Vgl. BALTHASAR, Hans Urs von, Theologie der Geschichte, Einsiedeln 1959.
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Die Aussöhnung hängt zeitlich immer an der Gegenwart des Sohnes, der den Sinn jedes Mal von Neuem entscheidet, das heißt bei jeder Entscheidung. Der Sohn erträgt bis zum Schluss – das ist das abgründige Leiden, die letzte unendliche Qual – die extremste Möglichkeit, nämlich bei seiner Rückkehr ‹keinen Glauben zu finden auf Erden›. Jedoch erträgt er die Gefahr seines Widerrufs durch den Vater nicht – und das ist die Grundlage seiner radikalen Duldsamkeit, die schon in den Tod am Kreuz für Freund und Feind eingebettet ist – der für immer in der unwiderruflichen Konkretheit des Ereignisses (in dem der Logos aus der simulierten Abstraktheit seiner reinen Indifferenz ausgeströmt ist, die für die Freiheit des Sohnes keine einfache und befreiende Möglichkeit sein kann) eingeschlossen und besiegelt ist. Die immer offene Möglichkeit seiner Verweigerung hingegen, das heißt, der Raum dessen, was zur Vollendung seiner Passion fehlt, ist die geteilte Gegenwart seiner Verbindung zu den seinen: Ihre Teilhabe ist das Sakrament jenes fortwährenden Erleidens der fortwährenden Gefahr der Zuneigung Gottes, das bis zum Ende in die Geschichte eingebettet bleibt. Cacciari sagt es ganz offen: «Der Sohn ist ‹pathetós‹, er leidet ohne Täuschung, denn er vergisst die Wahrheit des puer-servus nicht, sondern manifestiert sie im Gegenteil. […] Der Sohn befreit nicht einfach vom patheîn, sondern ruft auf, mit ihm zu leiden»90. Dieses Merkmal führt, in Bezug auf die andauernde Mission des Sohnes, ins Zeitalter der Kirche. Cacciari thematisiert diese Übereinstimmung, über deren Interpretation man eine weitere Untersuchung der theologischen (christlichen) Vereinbarkeit des radikalen Diskurses über den Anfang führen kann. Das skandalon des Christentums lebt in den feinen Fältelungen dieser Dialektik ohne Garantien, außer der ursprünglichen Disposition Gottes. In der ruhelosen Dialektik Cacciaris bezeugt das Ereignis diese Disposition (von der es jedoch nicht abgeleitet werden kann): Gleichzeitig bleibt die anfängliche Indifferenz immer stärker, und auch intakt. Erneut schöpft also Cacciari zu Recht den ursprünglichen und nicht ableitbaren Charakter der absoluten Freiheit aus dem Ereignis und nicht aus einer im Voraus gebildeten Ursache des Möglichen. Aber er verwendet diesen Logos der Freiheit, der durch das Ereignis (und einen trinitarischen Ablauf) errungen wurde, gegen das Ereignis, indem er ihm die Fähigkeit versagt, den Wert der Indifferenz der ursprünglichen Freiheit in den der radikalen Disponibilität umzuwandeln. Eine solche Umwandlung kann sich in der Tat im Register der theologischen Orthodoxie, in der die ewige Zeugung des Sohnes das Prinzip ist, aus dem die Erfindung einer schöpferischen Beziehung hervorgeht, deren Qualität affektiv entschieden wird (das heißt, im ontologischen Register der Freiheit der Liebe, und nicht auf der Grundlage eines rein ontologischen Zustands der Notwendigkeit/Möglichkeit) dem Denken hingeben, ohne dass die Freiheit von ihr entleert wird.
90 CACCIARI, Dell’Inizio, 547.
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Aus der Auseinandersetzung mit der potentiell antiphrastischen Richtung von Cacciaris intensiver Untersuchung geht eine für die Philosophie wie für die Theologie wichtige Bestätigung hervor. Das Mysterium der Bestimmung geht in der Tat nicht – wie das Problem der Freiheit und des Sinns – aus der Frage nach dem Ursprung hervor. Es ist sogar so, dass die Frage nach dem Ursprung sich nicht einmal stellen würde, wenn nicht mitten aus einer zwischen der Mahnung der Notwendigkeit und der Unsicherheit der Freiheit zerrissenen Geschichte das Ereignis hervorgehen würde, das den Fluss der Möglichen und der Indifferenz der Gegensätze unterbricht, und dabei den Horizont einer Bestimmung aufleuchten lässt, die die Freiheit auffordert, sich ihrem kairós zuzuwenden, den ganzen Umfang der eigenen Gefühlsbewegungen aufzunehmen, den eigenen Impulsen einen Sinn und einen Ausgangspunkt zu geben. Wenn diese Frage aufkommt, dann deswegen, weil ‹der Weg› vorgezeichnet ist. Ohne ‹den Weg› wäre das Sein nur ein gegenüber seiner eigenen Disponibilität indifferenter Anfang, das heißt, das Nichts ohne Frage nach dem Möglichen. Einst, zu Beginn, hieß das Christentum einfach: ‹der Weg›. Cacciari steht für die radikale Aufforderung, die Priorität des Rätsels der Bestimmung gegenüber der Abgründigkeit des Ursprünglichen zu denken. Die Freiheit des Anfangs gilt nämlich für immer: das heißt, sowohl für das Sein wie für das Nichts. Tatsächlich spielt sich das drâma der Beziehung zwischen Gegenwart und Sohn, zwischen Anfang und Versprechen, in der distensio temporis ab. Wir werden sehen, dass sich Balthasars Theologie vom Anfang bis zum Ende gerade in diesem Bereich sehr engagiert. Cacciari verbindet das Kreuz und die Auferstehung mit der extremen Dramatik eines Zeugnisses für nichts und eines Selbstopfers für niemanden. Das ist wirklich der wesentliche Punkt des Samens eines Worts, das tatsächlich auf dem Feld stirbt und dessen Früchte man nicht kennt bis zum Ende der Zeit. In der fortwährenden Spannung von Glaube und Unglaube, Erwartung und Resignation, immer noch andauernder Schöpfung und Rückkehr zum abgründigen Anfang, in dem sich jedes Geschöpf bewegt, da es pistòs ápistos dieses Weltalters ist, bittet uns das Antlitz des Auferstandenen, ihn anzunehmen, auf seine Ankündigung von Leben zu antworten, so wie er die Antwort auf das Wort des Vaters war, ohne die Verletzungen zu verbergen, die daraus hervorgingen. Im gegenteiligen Fall würde die Gegenwart das schon Entschiedene jeder Zukunft werden, in einem vorhersehbaren Kreislauf, der jede Hoffnung und Erwartung nimmt. Die parousía ist hingegen ungreifbares Licht, unerwarteter Blitz, Gegenwart der Apokalypse, Offenbarung des Rechts, und gleichzeitig paradoxerweise unvollendete Zeit, die immer noch im Kommen begriffen ist, in der Spannung hin zum letzten Tag. Diese unvollendete Zeit ist die Zeit der Kirche. Die Kirche, stellt Cacciari fest, hat die Aufgabe, den Raum der Möglichkeit der Übereinstimmung für die Freiheit des Sohnes offen zu halten, die sich gänzlich im Wagnis seiner Disponibilität abspielt: ohne vorherbestimmte Versicherung der Antwort. Die Kirche hat die Aufgabe, Raum des Verständnisses zu sein, Zeit der Einbettung des Worts zu sein, damit es Erzählung der Menschen werde. Die Kirche wurde als erste gerufen, die Erwartung zu hüten,
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II. Das Mögliche und das Geoffenbarte
während des Wartens zu beherbergen, und zu bezeugen, dass das extreme Maß der Freiheit des Sohnes das Noch-nicht des Menschen ist. Mit dieser radikalen Öffnung der Bestimmung der Geschichte und des Sohnes, legt Cacciari, wie uns scheint, der heutigen theologischen Auseinandersetzung eine entscheidende Frage vor. Jenseits von vereinfachenden Konstruktionen, jenseits der Kategorie von Notwendigkeit, die nicht in der Lage ist, die Freiheit der Subjekte zu bergen, drängt diese Offenheit des Reichs die Theologie zu einer größeren Weisheit der Zeit, zu einer radikaleren Sensibilität für die Zeitalter, zu einer tatsächlich gläubigen Haltung. Das historische Wirken der Subjekte erlangt eine unübertroffene Tatsächlichkeit, die niemals vorausgesetzt und immer in itinere ist: Die Zeit der Entscheidung ruft, in der Härte ihrer tragischen Einsamkeit, die besten Leidenschaften der Seele auf den Plan, damit das Sein und nicht das Nichts sei. Im von Versicherungen leeren Raum, allein in der Hoffnung, dass am letzten Tag noch Glaube sein werde, ist ein jeder zu einer radikalen Verantwortung aufgerufen, so dass jeder Akt nicht nur über sich selbst entscheidet, sondern auch über die Ewigkeit als solche. Die Aussicht, dass der Anfang sich enthülle, trägt ein einzigartiges anthropologisches Potential in sich, das in der Lage ist, nach dem Vorbild Bonhoeffers, ein erwachsenes Christentum ohne Stützen zu formen, das fähig ist, dem conatus seiner Epoche zu widerstehen und jede Neigung zum Bösen in sich aufzunehmen, indem er sie deaktiviert, verzeiht, sogar segnet.
8. Anfängliche Indifferenz und ursprüngliche Zuneigung Es ist zweifellos möglich, die Überraschung des Mysteriums des Ursprungs zu nennen, das wie ein Quell in seinem eigenen Schoß entspringt, ohne von anderswo herzukommen und ohne die Möglichkeit, jemand anderen als Gott selbst zu repräsentieren. Die Bestimmung ist jedoch für den Vater der Ort der vollkommenen Anerkennung dessen, was die ewige Zuneigung von agápe mit sich bringt, in ihrem Streben über Gott hinaus. Da agápe weder mit der reinen Indifferenz des Möglichen noch mit dem notwendigen Vermögen des Aktes übereinstimmt, ‹weiß› sie seit jeher ‹wer der Sohn ist› und ‹wer Sohn ist›. Ebenso ‹weiß› sie seit jeher, dass sie ein Thema von Ressentiment und Nicht-Übereinstimmung sein kann, ist doch genau dieses das Register der Zuneigung, die ohne gegenwärtige Freiheit nichts ist und nichts vermag. Das Zurückweichen der Hingabe und die Auflösung der Verbindung sind jederzeit möglich, es bleibt jedoch der Horizont, kraft dessen es unmöglich ist, diese Doppelform des Widerrufs einfach mit der reinen Rückkehr zur anfänglichen Indifferenz zu verwechseln, die wieder eine ihr eigene Reinheit der Freiheit erlangt, geschützt vom Zugriff des Logos (der ihr widerspricht) und des Nomos (der sie beurteilt). «Die Welt – sagt Cacciari – klammert sich an ihre ‹Geschichte›, jenseits allen Beurteilt-Werdens. Warum flieht die Welt verzweifelt davor, sich im kairós der Entscheidung zu erken-
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nen? Warum ist sie der Apokalypse gegenüber taub?»91. Balthasar würde seinen Blick auf das radikale Böse richten: die – durch den Logos nicht zu erklärende und vom Nomos nicht zu beherrschende – Verweigerung der Liebe, der agápe Gottes. Cacciaris Einstellung könnte am Ende, bei der Hervorhebung des abgründigen und blendenden Charakters dieses Punkts, undenkbar und unbeherrschbar erscheinen. Seine Absicht ist es, die Reinheit der Freiheit zu gewährleisten und ihr dunkles Licht der UnEntschlossenheit zu bewahren. Von der Freiheit weiß Cacciaris Diaporetik nichts anderes – oder will es vielleicht nicht wissen. Wie Piero Coda richtig feststellt, bringt die Berücksichtigung des Sohnes im spekulativen Spiel von Dell’Inizio, trotz der offensichtlichen Abhängigkeit von der christologischen Form, die diese Art der philosophischen Befragung möglich macht, einen Zug der Undeutlichkeit und Indifferenz in der Gesamtheit der vielfältigen Formen des Heiligen und der Offenbarung des Göttlichen mit sich. Das Doppelte des Nicht-sein-Könnens, welches das Symbol des Sohnes mit sich bringt, setzt das Kreuz einer so radikalen Ambivalenz aus, dass es die Ursachen seines ‹Ausschlaggebendseins› für die dramatische Befragung der vollkommen exponierten Freiheit, die es verkörpert, verliert. Das ‹Vollkommen-exponiert-Sein› dieser Freiheit ist die Form von agápe selbst, nicht der Vorbehalt ihrer vollkommenen Unbestimmtheit. Für weniger als das hat die Radikalität dieser Exposition keinen Namen, da das indifferente Absolute oder das rein Mögliche als Namen der Freiheit problematisch sind, und sicherlich, wie schon Salmann festgestellt hat, unvorstellbar als Namen für agápe. Die Natur von agápe, die die Abgründigkeit ihrer Dramatik gerade in Cacciaris Text erklärt, verliert schlicht ihren Sinn, wenn sie ihrem Gegenteil gleichgestellt wird. Die Problematik dieses Ausgangs, die im Ereignis der agápe transparent erscheint, führt, laut Coda, immer zur Verwegenheit der anfänglichen These zurück, und zwar zu der Idee, dass die Reinheit des Anfangs, als prius der Freiheit, ihre vollkommene Überlagerung mit der absoluten Willkür des omnikompossiblen Grunds [Deutsch im Original], der Gott als seine Finsternis vorausgeht, mit sich bringt. Denn sie ist unergründliches ápeiron, dem gegenüber jeder Determination sogleich Gewicht genommen, sie zurück zum Raum der reinen Zufälligkeit geführt wird, das heißt Umschreibung des Nichts (das – auch in Gott selbst – stets vorhandene Risiko der Ent-Schöpfung, der annihilatio), wo es nicht einmal Zuneigung – Neigung oder zumindest Anrufung – für die ‹Erfindung› des Seins gibt, um zumindest den Namen zu rechtfertigen: Anfang92. Coda schließt: «In diesem Sinne zeigt sich Cacciaris These über den Anfang als in sich widersprüchlich, wenn sie mit der Freiheit des Höchsten (die nicht im geringsten symbolisch ist!) in Verbindung gebracht wird, und weist einen Mangel an einer radikalen spekulativen Vertiefung auf»93.
91 CACCIARI, Tempo della decisione, 10. 92 Vgl. CODA, La via del negativo e la Trinità. Per una risposta alla ‹sfida› hegeliana, in: «Asprenas», 36 (1989), 315–330. 93 CACCIARI, Dell’Inizio, 61.
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II. Das Mögliche und das Geoffenbarte
Cacciaris Öffnung des unmöglichen Anfangs erscheint aber in jedem Fall als äußerst interessante Provokation, markiert sie doch die offene Richtung der Bestimmung. Sie entzieht sich nämlich jeder im Voraus umfassenden Logik, jeder Möglichkeit der rein typologischen Vorwegnahme, jeder indiskret visionären Dogmatik rund um die Endzeit. Das, was sich abspielt, ist in der Tat eine Dramatik. Die kénosis und die Geschichte Jesu Christi, sein Jetzt und seine Ausrufung des Reichs warten in diesem Sinne bis zum letzten Tag auf die Lösung ihres Rätsels – den Sinn ihrer Freiheit. Die Zeit, die aufgrund der anfänglichen dialektischen Vibration der Zuneigung Gottes in das Sein eingezogen ist, ist nicht mehr dieselbe, wenn sie in ihren anfänglichen Abgrund zurückkehrt. Die Ausdehnung der ewigen Zeugung auf das Aus-Strecken, welches das Geschöpf in sie einhüllt, bewirkt, dass der Anfang nicht mehr der von vorher ist. Er wäre es trotzdem nicht, auch in der paradoxen Annahme, dass alles in eine reine Vergangenheit des Nichts-Tatsächlichen zurückkehre, was die Übereinstimmung mit diesem Aus-Strecken, über den Sohn hinaus, angeht. Selbst wenn der Glaube auf Erden fehlte, würde das Göttliche doch jedes unruhige Beben der Einzigartigkeit auf der Suche nach Sinn vergegenwärtigen. Die Beharrlichkeit, mit der Cacciari zwischen Erwartung und Versprechen unterscheidet, gibt der Theologie in der Tat zu denken. Aufschlussreich ist selbst seine übermäßige Konzentration auf den Anfang und das Ende, das die Bestimmung verliert. Das heißt, die Art und Weise, in der sich die Freiheit und die Notwendigkeit von Sinn miteinander verflechten. Der Nachdruck, mit dem sich die philosophischtheologische Reflexion auf den Anfang und das Ende konzentriert hat, ohne den Übergang der Zeugung des Sohnes durch die Schöpfung und die Bestimmung als unwiderrufliche Zuneigung Gottes zu durchdenken, zeigt jetzt vielleicht die Notwendigkeit einer konsequenteren Vertiefung. Die ewige göttliche Zeugung zu denken, ist nicht das Gleiche, wie die intakte Autoreferentialität des Anfangs zu denken. Und die ewige Disposition des Geistes zu denken, ist nicht das Gleiche, wie die Vorherbestimmung des Endes zu denken. Das christologische Ereignis, inmitten der Geschichte der Bestimmung, entzieht ihrer unvermeidlichen Abstraktion die Vorstellung vom Anfang, nicht weniger als die vom Ende. Balthasars Theologie, die der philosophischen Praxis des Gott-Denkens ganz und gar nicht ausweicht, hat sich ausgiebig damit beschäftigt. Vor dem Hintergrund der Thematik vom Anfang und vom Abgrund, die letztendlich Schelling eingeweiht hat – und die zu lange in der theosophischen Abwicklung des Logos gefangen war, der irrationalen romantischen Eindringlichkeit zugeschrieben wurde –, verlangt sie nun, eine göttliche Zuneigung, ohne die der Logos undenkbar ist, in Betracht zu ziehen. Wir wollen also einen ‹unmöglichen Dialog› einleiten, zwischen dem theologischen Weg Balthasars und dem diaporetischen Weg Cacciaris, und nehmen in dem Theologen – als einzigem seiner Generation – eine intensive Auseinandersetzung mit der spekulativen Problematik des Ursprungs wahr. Dieser Diskurs wird am systematischsten in der Theologik behandelt, wo er in einem mehr oder minder expliziten Abweichenden-Einklang im Schattenkegel Schellings abzulaufen scheint. Die Auseinandersetzung mit den zweifellos unterschiedlichen – man könnte auch sagen: unstimmigen
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– spekulativen Blickwinkeln Massimo Cacciaris und Hans Urs von Balthasars geht von der Überzeugung aus, dass ihr postidealistischer philosophisch-theologischer Weg eine radikale, wenn auch divergierende Ausübung des Christentums darstellt: Ihr ist es zu verdanken ist, dass die ontologische – und nicht einfach mythische oder symbolische – Interpretation der christlichen Verkündigung darauf gerichtet ist, ihre – nicht nur hermeneutische Virtualität – der starken Vorstellung von Gott, dem Menschen und der wirklichen Entstehung der Welt zu zeigen. Während Balthasars Voraussetzung ganz natürlich bereit ist für ein christliches Verständnis des Ursprungs und der Bestimmung von Sinn, betrachtet auch Cacciaris antinomische Philosophie, wie wir gesehen haben, den vom Christentum eingeweihten kulturellen, theologischen und anthropologischen Raum als nicht bloß heuristischen Schlüssel, um Bedeutungen und große Erzählungen wieder zusammenzufügen, die sich im ‹liquiden Zustand› der Postmoderne verflüchtigt haben. Für den Philosophen stellen seine Sprache und seine Ankündigung im Gegenteil eine wahre, nicht im geringsten obsolete Chance dar, Zeit und Raum der Gegenwart theoretisch und historisch zu verarbeiten und die Bedingungen der Möglichkeit von Gegenwart und Zukunft der Subjekte ab origine zu überdenken. Seine Verbindung zum Christentum scheint vom Schicksal und der Notwendigkeit bestimmt, als könnte er das Sein und die Historizität nicht denken, ohne seine Geschichte zurückzuverfolgen, als könnte er die Logik nicht darlegen, ohne die Beziehungen zwischen Deus-Trinitas zu durchlaufen, als könnte er nicht von Liebe sprechen, ohne auf die teleía agápe des Sohnes zu blicken. Unter diesem Gesichtspunkt zeigen die beiden Autoren ein besonderes Bewusstsein und eine obsessive Beharrlichkeit darin, den Anfang und die letzten Dinge als durch eine ursprüngliche Freiheit miteinander verbunden zu betrachten, deren Abgründigkeit und Unvordenkbarkeit zum Raum einer radikalen Öffnung des Realen werden. In dieser Öffnung nehmen die Existenz und die Historizität des Seins, als ursprünglich formende Dimensionen des Möglichen und nicht einfach als Synonym der Vergänglichkeit und Endlichkeit verstanden, einen unabdingbaren Wert für die Wirklichkeit und Denkbarkeit des Absoluten an.
DRITTER TEIL
DIE HERKUNFT VON AGÁPE Der Logos der Liebe bei Hans Urs von Balthasar
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1. Gemeinsames Erbe, dialektischer Hintergrund Die beiden klassischen spekulativen Wege des Abendlands, die nach der Einheit von Anfang und Vollendung suchen – Plotins Weg zum ursprünglichen Einen, mit seinem Prozess des Ausströmens von Geist und Welten, und Hegels Weg des Geistes, der sich durch die Dialektik der historischen Welt entwickelt und wiederfindet –, werden also von neuen Fragen belebt und überdacht. Sie wollen einer grundsätzlichen Neubetrachtung unterzogen werden, radikal losgelöst von dem (onto-theo-logischen) Wahrheitsmodell, in dem sie sich eingerichtet haben. Um auf diese Weise wieder eingefügt zu werden in die Zuständigkeit ihrer Frage, außerhalb der Abstraktheit, in den der antike-metaphysische (platonische) Horizont sie geführt hat, im anthropologischen wie im theologischen Bereich. Cacciaris und Balthasars spekulative Wege führen die dem Christentum implizite ontologische Interpretation in diese Richtung. Unser primäres Interesse wurde nämlich von der – bei beiden auf unterschiedliche Weise vorhandenen – These angeregt, dass die christliche Wahrheit eine besondere Aktualität besitze bezüglich der Schaffung eines neuen Wegs für die Vorstellung von den Grundlagen. Der Kern des Christentums gestaltet in der Tat für diese Abläufe das Wort, welches passend ist für den aktuellen kulturellen Übergang und in der Lage ist, sowohl den aufklärerischen Diskurs der Moderne wie auch die postmoderne Tendenz der Verbreitung und Dekonstruktion auszuhebeln. Während der spekulative Bogen, den Cacciari spannt, ein fortgeschrittener Ausdruck des Verstehens der Widersprüche zu sein scheint, die der – literarischen und philosophischen – Moderne und zeitgenössischen Epoche innewohnen und die der Philosoph analysiert, aufgreift, neu lanciert, scheint sich Balthasar paradoxerweise als eine theologische Reaktion ante litteram auf seine Aporetik anzubieten. Es sei uns gestattet zu sagen: als habe der Theologe den tragischen Horizont von Cacciaris Anfang vorausgesehen – und tatsächlich hatte er ihn in Schellings Spekulation erahnt und in der Theologik auf seine fundamentale Aporie geantwortet. Das besondere Interesse ihrer Wege – die so dystonisch in ihrer Voraussetzung, spekulativen Form und ihrem literarischen Stil wie übereinstimmend im Beharren auf den grundlegenden Fragen und Bezügen sind – findet sich auch in der Tatsache, dass sie sich auf die Notwendigkeit einer radikalen Wiederaufnahme der Ontologie konzentrieren: in einem Sinne, der, obschon post-heideggerisch, gewiss der klassischen ontologischen Tradition und Metaphysik näher steht als der linguistischen Wende oder phänomenologischen Dekonstruktion. Die beiden Autoren stellen ungewöhnlich bestimmt fest, dass das menschliche und weltliche Phänomen, die Verflechtung ihrer
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III. Die Herkunft von Agápe
Beziehungen, der Formen und Kräfte ihrer Entstehung, nur dann erfasst und beleuchtet werden können, wenn man sie ontologisch interpretiert. Voraussetzung für das Überdenken der Bedingungen der Existenz, der Zeiten und Ereignisse der Welt, ist, dass die Tatsächlichkeit der Welt zurückgeführt wird auf die ursprüngliche Form ihres Beherbergt-Seins und Bestimmt-Seins im Horizont eines radikalen Sein-Könnens und anderenfalls eines radikalen Nicht-so-sein-Könnens. Die Frage nach der Möglichkeit des Seins in Beziehung zum Nichts erhält so einen anderen Klang: Die ontologische Übernahme der Fragestellung wendet sich gerade hinsichtlich der Erläuterung des Realen – möglich und dennoch radikal nicht-möglich und sogar un-möglich – der abgründigen Frage eines Vorausgesetzten und eines Anfangs zu, die sich nicht einfach in die Sprache des Seins übertragen lassen (das heißt, in die Begriffe einer Konzeptualisierung des Absoluten, die von seinem einfachen Gegebensein ausgeht). Die Provokation zielt also darauf, den ontologischen Realismus des Seins in seiner radikalsten Form wieder herzustellen, die gerade die Tatsächlichkeit des irdischen Seienden betrifft. Dennoch kann sie gar nicht anders, als auf Kollisionskurs mit einer konventionellen und schematischen Lesart des kreationistischen Modells zu gehen, die das Sein des Seienden per causas interpretiert, das heißt als einfache Wirkung eines schon gegebenen Seienden. Die Verbannung der Schöpfung in die Logik der reinen Kausalität, nach einem Paradigma, das sich immer mehr im naturalistischen Schema von Produktion und Nachahmung der Vorstellung vom Ding versteift, findet sich in der Tat im zeitgenössischen Panorama in einer allzu riskanten Nähe zur szientistischen Vision der materiellen Objektivierung und des technischen Vorgehens wieder. Die Kritik an der Hegemonie dieses Modells und an der Induktion, die es in der Denkart hervorgebracht hat, ist vielen Sichtweisen des zeitgenössischen Denkens gemein und wurde im Wesentlichen auch innerhalb des theologischen Denkens des Okzidents aufgenommen (dasjenige des Orients hat diese Vereinfachung traditionell zurückgewiesen – ihr sogar ausdrücklich entgegengewirkt). Der größte Teil der vitalen philosophischen Strömungen der Gegenwart und viele Stimmen der heutigen Kulturkritik schreiben dieser Hegemonie die grundlegende Entkräftung der Frage des Sinns zu. Der Verlust des Sinns von Geschichte – das Gefühl vom ‹Ende der Geschichte› ist bezeichnenderweise als mit dem ‹Ende der Metaphysik› verbundene Evidenz aufgetreten – scheint eng mit dem Vorherrschen einer utilitaristischen und instrumentalen Ausrichtung der Vorstellung von der Bestimmung des Seins verbunden, auf einer Linie mit dem ontologischen Blickwinkel einer Ideologie, die sich ausschließlich an der Idee des Produzierens und Reproduzierens von Objekten und Funktionen orientiert. Das rationalistische Zurückgehen bis zum fundamentum inconsussum und zur höchsten Ursache der Schaffung des Seienden, in der klassischen und modernen Auffassung der Ontologie verstanden, scheint die begriffliche Wirkungskraft und die spekulative Energie verloren zu haben, die nötig sind, um sich dem technisch-wissenschaftlichen Modell zur Idee von Ursprung und Bestimmung aller Dinge entgegen zu stellen. Umso mehr scheint das Erbe dieser Tradition mit begrifflichen Konzepten ausgestattet zu
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sein, die unangemessen sind für die Beleuchtung der Ästhetik und Dramatik des christlichen Ereignisses, in dem eine unwiderrufliche Freiheit nicht nur eine Welt des Anderen beginnt und bestimmt, sondern das Existierende in der Tatsächlichkeit seines Hervorgehens und der Selbstbestimmung seines Werdens sein lässt, und dabei dem Wort des Sohnes das Zeugnis seiner Wahrheit und Güte in der Geschichte anvertraut. Wie schon Heidegger in Identität und Differenz bemerkte, kann der Mensch vor der GottUrsache nicht tanzen oder musizieren: Genauso unwahrscheinlich ist es jedoch, dass er sich hinkniet und betet. Natürlich ist die von uns bei der Beschäftigung mit Balthasar untersuchte Haltung nicht die einzige, die theologisch ‹fehl am Platz› ist und der Tendenz widersteht, die Grundfrage [Deutsch im Original] dem Archiv mit obsoleten Fundstücken der Geistesgeschichte zu übergeben. Cacciari gehört im zeitgenössischen Panorama der von Heidegger in Gang gesetzten Überwindung [Deutsch im Original] der klassischen Metaphysik zweifellos zu den philosophischen Figuren, die sich die universale Aufgabe, den Ursprung zu denken, zu eigen machen. Das Problem des Absoluten ist ganz und gar nicht vergangen, wenn man dieses Thema im Blickwinkel der Frage nach dem Sinn des menschlichen Abenteuers in einer endlichen Welt und einer begrenzten Geschichte betrachtet. Und folglich die Frage nach der Notwendigkeit, der Anomalie einer tatsächlich dem Sinn zustrebenden Existenz zwischen den Extremen des Seins und des Nichts aufwirft. Die Frage nach dem Sinn ist schließlich die Frage nach der Bestimmung, die sich sogleich auf die Frage nach dem Ursprung auswirkt. In dieser Richtung nimmt ‹das Wunder der Schöpfung›, im Kielwasser von Balthasars Theologie, seine Dichte und Realität angesichts einer Offenbarung an, die sich entschieden in die Geschichte einfügt, so dass sich das extrem Objektive, wie Rosenzweig sagen würde, mit dem extrem Subjektiven verknüpft: Das faktische Hervorgehen der Welt der Seienden ist folglich, in seinem Gewicht und seiner Tatsächlichkeit, ekstatisch aufgehoben in einem Ursprung und einer chiffrierten Geschichte, die die Strenge eines zugleich erstaunten und kühnen Verständnisses verlangt, das in der Lage ist, den rationalistischen oder im Gegenteil unüberwindbar apophatischen Standpunkt des westlichen Denkens zu bekehren. Die theoretische Forschung Balthasars und Cacciaris möchte die dem Christentum innewohnende Ontologie zu Tage fördern, welche die Vernunft der Moderne in ihrer treibenden Einzigartigkeit nicht zu entziffern, zu argumentieren und mitzuteilen vermochte. Die Postmoderne scheint – mehr oder weniger bewusst – das Bedürfnis nach dieser Entwicklung zu verspüren: Zumindest dort, wo sie sich nicht einfach mit der Bestürzung angesichts des Fehlens eines Ziels und der Antwort auf das Warum abfinden will – das heißt mit dem Nihilismus, nach Nietzsches Definition –, dem der Westen unter vielen Gesichtspunkten entgegenzugehen scheint. Angesichts dieses epochalen Wandels, in dem die philosophische koiné nicht zögert, das Christentum als Vision der Zeit, gelebte Identität, soziale Praxis und anthropologische Perspektive zu verdrängen, bekräftigt der italienische Philosoph beharrlich seine ontologische Tragweite, als entscheidendes Gegenmittel am Horizont der Abriegelung), der Erstarrung, der AutoZentrierung, aber auch der Annäherung an das Nichts, die schon Nietzsche vor mehr
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III. Die Herkunft von Agápe
als einem Jahrhundert prophezeit hat. Im zeitgenössischen Panorama scheint Massimo Cacciari die kulturelle und soziale Herausforderung seiner Zeit anzunehmen und zwar genau von diesem Punkt aus: das heißt der Überzeugung, dass es nötig ist, die christliche Tradition kritisch zu durchlaufen, um die Angelpunkte des Ursprungs und der Freiheit, der Subjektivität und des historischen Wirkens, der Schaffung einer Gemeinschaft und ihrer Möglichkeit von Zukunft zu beleben und neu zu denken, dabei von Mal zu Mal die innersten Antinomien verzeichnend, vor dem Hintergrund eines Unerreichbaren, dem gegenüber die Sprache nicht forciert werden sollte. Und tatsächlich ist es nur im Schatten ursprünglicher Geschichten von Transzendenz und Immanenz, von Freiheit und Notwendigkeit gegeben, historische Geschichten von Gefühlen und Bindungen oder bürgerlichen Abenteuern von Verantwortung und vorausschauenden politischen Entwürfen zu erzählen.
2. Die theologische Latenz Schellings In seiner neuesten Produktion, die ihre umfassendste und strukturierteste theoretische Ausarbeitung in Dell’Inizio und Della cosa ultima gefunden hat, bringt Cacciari, wie wir gesehen haben, eine Form der diaporetischen Rationalität ins Spiel, die sich mit den wesentlichen Fragen der klassischen Ontologie – von der nach dem Ursprung bis zur eschatologischen Erwartung in der verbleibenden Zeit – in einem fruchtbaren dialektischen Gespräch mit dem Wissen des Glaubens auseinandersetzt. Eben durch diesen ungelösten Dialog fühlt sich die philosophische Vernunft, im Kielwasser Schellings, von Anfang an durch die symbolische virtus eines mythisch-poetischen Logos bestärkt. Aufgrund seines Beharrens auf der riskantesten und abgründigsten Befragung, die, wohl wissend, dass sie verletzt werden wird, den Blick in den omnikompossiblen Anfang hinein richtet, «von dem aus die Dinge sind», erforscht Cacciari die unterirdischen – verschlossenen oder verblassten – Kanäle von Glauben und Wissen. Das Interesse, das die Position Schellings hinsichtlich der Möglichkeit hervorruft, Gott in der Epoche des Niedergangs der Metaphysik zu nennen, erscheint entscheidend und ergreifend, denn es richtet die Aufmerksamkeit auf eine Theologie der Verbindung zwischen Erschaffung der Welt und Zeugung des Logos, in der die Welt selbst die Bedingung für die Verwirklichung Gottes als Freiheit und agápe ist. Die vorrangige Stellung, welche Schelling der philosophischen Reflexion über Religion und Mythologie einräumt, die den Anfang und das Ende seines spekulativen Weges markiert – von Tentamen criticum et philosophicum und Über Mythen bis zu seiner ‹positiven Philosophie› –, gründet auf dem charakteristischen Zug, der seinen dialektischen Idealismus auszeichnet: Nur das mythische Phänomen oder die religiöse Erfahrung sind in der Lage, das Absolute aufzunehmen und zu nennen, denn in ihnen durchdringen sich das Endliche und das Unendliche konstitutiv im Besonderen und nehmen in der historischen Tatsächlichkeit Gestalt an. Eine imposante philosophische Strömung hat sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an der Quelle von Schellings Ursprung gespeist, von Bloch bis Florensky, von Rosenzweig bis Heidegger und
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Jaspers. In Italien haben sich in jüngerer Zeit Vitiello und eben Cacciari zu den Reflexionen Pareysons und seiner Schule gesellt und bieten sich, in der Unterschiedlichkeit ihres theoretischen Aufbaus und theologischen Wegs, als Gesprächspartner mit besonderer Sensibilität gegenüber der Nutzung des spekulativen Ansatzes des späten Schelling an. Die Auseinandersetzung der Theologie mit dem idealistischen Erbe hat im Übrigen schon in den letzten Jahrzehnten ihre Vitalität gezeigt, auch was die Möglichkeiten einer neuen Diskussion ihres Programms angeht. Diese Auseinandersetzung geht über die Grenzen der traditionellen apologetisch-komparativen Interpretation zwischen idealistischer Metaphysik und klassischer Metaphysik hinaus und bewegt sich frei hin zur strategischen Relevanz der ‹dynamischen› Interpretation des Absoluten in Bezug auf das epochale Ziel, Gott neu zu denken unter dem Blickwinkel einer Offenbarung-als-Ereignis Gottes in der Geschichte. Das erneuerte Interesse für eine Philosophie, die der historischen Offenbarung lauscht, mit der Absicht, die Fruchtbarkeit eines nicht essenzialistischen Denkens des Logos und eines nicht substanzialistischen Denkens des Absoluten wiederherzustellen, bestärkt auf seine Weise die neue SchellingForschung [Deutsch im Original]. Die unterschiedlichen Wege von Balthasar, Kasper, Salmann, Forte, Sequeri und Coda zeigen jeder auf seine Art, direkt oder indirekt, die treibende Kraft dieses neuen Ansatzes. Das neue kritische Interesse an dem ontologischen Übergang, den Schelling vorbereitet und vertieft hat – und der ihn von seiner unvermeidlichen, beschränkenden Ansiedelung in der idealistischen Triade befreit, die die Suche nach einer Art System der Systeme hervorgebracht hat –, bringt eine gründliche Betrachtung seiner Spätphilosophie als Übergang hin zu einem post-idealistischen Neuland mit sich. In Wirklichkeit privilegiert dieses Interesse die Suche nach einer ontologischen Artikulation der Nennung Gottes, in der die Beziehung zur Historizität und zum Bewusstsein im Schoße eines der Sache innewohnenden Werdens Gottes ansässig ist. Schellings Systemprogramm [Deutsch im Original] ist – über die spezifischen Aneignungen hinaus – das, was Žižek als vanishing mediator zwischen den Epochen bezeichnen würde: auf der einen Seite dem Geist des nie ganz aufgegebenen idealistischen Systems zugewandt, auf der anderen Seite einer neuen religiösen, insbesondere christlichen Philosophie zustrebend, deren Offenbarungs-Formen und ontologischen Konstrukte eine transzendente Vorstellung vom Logos nähren, die die spekulative Uneinnehmbarkeit des Lebens anerkennt. Die Vernunft ist auf diese Weise gezwungen – juxta sua propria principia –, sich dem Staunen angesichts einer Abgründigkeit des Ursprungs zu öffnen, die eine andere als die des Logos ist, ihr entgegen kommt und sie erstaunt, ungelöst, erschöpft zurücklässt. Und sie vor allem zurückdrängt in Bezug auf ihren selbst-formenden Anspruch. Die Niederlage des rationalen Fundaments dieser Dialektik bewirkt jedoch nicht einfach, dass der Logos zurückweicht und erlischt: Das Leiden, das er bei seiner Demütigung durchläuft, stellt in Wirklichkeit eine Gelegenheit tiefgründiger Eingebungen dar, die den Logos in einen anderen Hintergrund treiben und dort wieder herstellen.
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III. Die Herkunft von Agápe
Auf Schellings Weg werden die Philosophie und die Theologie der Erschütterung und dem Enthusiasmus einer ästhetischen und dramatischen Erfahrung ausgesetzt, in der das religiöse Ursprüngliche die der Historizität und Pathizität des Lebenden innewohnenden Kräfte und Spannungen nährt. Schelling ist auf der Suche nach einer anderen Philosophie, «die mit dem Leben sich messen kann, die, weit entfernt, dem Leben und seiner ungeheuern Realität gegenüber sich ohnmächtig zu fühlen, oder auf das traurige Geschäft der bloßen Negation und Zerstörung beschränkt zu seyn, ihre Kraft aus der Wirklichkeit selbst nimmt, und darum auch selbst wieder Wirkendes und Dauerndes hervorbringt»1.
Gleichzeitig wird die Wirklichkeit der Geschichte selbst zum absoluten Raum der Manifestation Gottes, der in der freien Zeugung des Sohnes seine Züge von Unbedingtheit, Unverderblichkeit und Unbeweglichkeit dynamisch entfaltet. Anders ausgedrückt, ‹das Lebende›, Ursprung jeder Wahrheit und Freiheit, wird. In den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit bietet Schelling eine außergewöhnliche Vision des absoluten Wesens, das die reine und abstrakte Übereinstimmung mit sich selbst überschreitet. Während es nämlich rational möglich ist, sich Gott nach der Logik der Identität vorzustellen, ist es sehr viel schwieriger, ihn gleichzeitig lebend und zeugend zu denken: Das heißt, in einer mehr theologischen Interpretation, radikal fähig – in sich selbst – zu agápe und Freiheit. Auf diese Weise zeichnet sich innerhalb der philosophischen Tradition der rationalen Annäherung an Gott eine definitive Überwindung des von der Moderne geerbten rationalistischen Grundbegriffs ab. Dem Deismus des 18. Jahrhunderts kommt zweifellos das Verdienst zu, die rationale Bestätigung Gottes autonom gemacht und ihr ein Unterscheidungskriterium gegenüber jeder pseudo-mystischen und sentimentalen Tendenz des Wortes über das Göttliche gegeben zu haben. Der Rückschlag hat jedoch, wie man weiß, die Bestätigung des Göttlichen im Rahmen einer Vorstellung, die more geometrica ist, eingefroren, gebunden an die abstrakte Idee eines weit entfernten, fremden, gefühllosen Wesens (erster Beweger, Schöpfer, Höchstes Prinzip der Kausalketten). Ein Gott, der sich zweifellos immer mehr von der historisch-biblischen Bezeugung und dem tatsächliche Kern des Christentums entfernt, wo Jesus Christus das Wort, das Antlitz, die Wahrheit des lebenden Gottes ist. Wenn also die Abenteuer des philosophischen – und noch mehr des theologischen – Denkens vielen nun verblasst und aphasisch erscheinen in Hinsicht darauf, den Menschen bei ihrem Sein und Handeln Orientierung zu geben, geschieht das eben deswegen – wie schon Schelling bemerkt –, weil Philosophie und Theologie den hohen Anforderungen des Lebens nicht mehr gewachsen sind, unfähig, auf rationaler ebenso wie spekulativer Ebene, eine bedeutungsvolle Antwort auf das bedrohliche
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SCHELLING, Philosophie der Offenbarung, 11.
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(Schweben) des Nihilismus zu geben. «Das Leben behält aber am Ende immer Recht»2. Jenseits der Metaphysik des höchsten Seienden extramundum, aber auch als Alternative zu der rationalistischen Idee eines formlosen, sich selbst immer identischen Absoluten, das in seiner gesamten Vitalität aufgesaugt und zur blassen, blutleeren Abstraktion gemacht wurde, entspricht Schellings Gott der wahren Geschichte des Geistes, der theogonischen und kosmogonischen Erzählung, in der Natur und Idee ursprünglich miteinander verflochten sind. Die Düsterkeit der vergangenen Sichtweisen wird bei Schelling belebt von der lebendigen, mythischen und biblischen Geschichte Gottes und der Menschen, außergewöhnliche poiesis, absolute Schöpfung einer zugleich zeitlichen und ewigen Begebenheit. Schellings fesselnde Suche nach einer Hermeneutik und einer Ontologie der Freiheit, in der es das Wissen um das Symbol und den Mythos ist, das der Begegnung von Vernunft und Offenbarung den Weg bereitet, wird zur Suche nach einem Sinn für das Wirkliche und einem Sinn als dem von Gott Gegebenen. Gottes immanent-Werden im Raum des historischen Seins und Handelns, in der empiria der kontingenten Begebenheit, führt die Theologie auf positive Weise hin zur Hermeneutik des sich-selbst-Erzählens und -Symbolisierens Gottes, der es zu verdanken ist, dass die Bereitschaft, das Wort zu hören, sogleich eine denkende ist und vom intentio des Logos verarbeitet wird3. Diese narrative und symbolische Dringlichkeit wird gegenwärtig von dem festen Bewusstsein begleitet, dass das Modell der selbstgründenden Vernunft keine Sprache, Dialektiken, Formen, Bewegungen und Wege besitzt, die geeignet wären für das epochale Unternehmen der theologischen und anthropologischen Neubetrachtung, die eine radikal neue Annäherung an das Thema der Natur, der Materie, der ästhetischen und dramatischen, aber auch sozialen und politischen Substanz, der Welt und des Lebens fordert. Der Raum des Mythos schickt sich an, einer Ontologie der absoluten Möglichkeiten, der unendlichen Bestimmungen und der Zusammenhänge des Absoluten und der Welt zu entsprechen, die dort, wo sie noch latent sind, verlangen, vom Bewusstsein entschieden und verwirklicht zu werden, in der Freiheit, in den Begebenheiten der Geschichte. Der Mythos ist Erzählung des Wandels vom Unbekannten zum Bekannten, vom Abgrund zur Enthüllung: Im Kontrast zu jedem Optimismus und jeder theosophischen Empfindsamkeit, erweist sich diese metanoia jedoch als schwieriges Unternehmen und traumatische Entdeckung, so dass der Übergang von der Dialektik zum Mythenschaffen, in
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SCHELLING, Erste Vorlesung in Berlin, 15. November 1841, in: ID., Philosophie der Offenbarung, II, 364. Das ursprüngliche Verhältnis zwischen Absolutem und Freiheit, stellt Sequeri in seiner Analyse von Pareysons Denken fest, formt die Entstehung und die Bestimmung der Erfahrung radikal: «Das Anhören der Vernunft lenkt sie dahin, innerhalb dieses Zusammenhangs zu denken, mittels der hermeneutischen Praxis der Erzählungen von Offenbarung, die das Absolute im Verhältnis zwischen Sein und Freiheit, alle seine formenden Gestalten vergegenwärtigen. Konkret bedeutet das, bis in das Gott-Sein Gottes hineinzudenken, den Zusammenhang mit den Orten der Existenz, an denen Züge des Wirkens/Leidens Gottes gegenüber dem Sein und dem Nichts auftauchen» (SEQUERI, Ontologia della libertà e struttura della fede, 146).
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III. Die Herkunft von Agápe
dem das Denken und die Erzählung eine gemeinsame Sprache sprechen, für den Moment, so wie für Schelling, lediglich Vorankündigung und Vorwegnahme ist4. Schellings Spätphilosophie [Deutsch im Original] bietet also der Philosophie und der Theologie des Christentums einen höchst fruchtbaren Anstoß zur Ausarbeitung eines Denkens, das empfänglich ist für die Widerstände und Kräuselungen der Realität: Sie vollbringt also eine Wende – die für zahlreiche Gelehrte und Kritiker derzeit epochale Bedeutungen annimmt, die kein Zurückweichen zulassen – dank der Verbindung mit der Erfahrung und der Historizität, aufgefasst als formender Charakter des Wissens, als Gegenmittel zu den autarken und betäubenden Bedürfnissen der Vernunft und der mutmaßlichen Zeitlosigkeit sowohl des Geistes des modernen Systems wie des flüssigen postmodernen (Anti-)Materialismus. Gleichzeitig wird in seinem Appellieren an die Unbedingtheit der Wahrheit Gottes und an seine Freiheit eine wirksame Antiphrase gegenüber der nihilistischen Tendenz geboten, obgleich diese Wahrheit der unvordenkliche und indisponible Abgrund hinsichtlich jeder begrifflichen Stringenz bleibt. In dieser Richtung weist Cacciaris überwiegend platonische Spannung: Auch auf seinem Weg scheint der Mythos ganz genau der Logik zu entsprechen, die ihn stärkt und die sich als möglicherweise bedeutende Artikulation der unlösbaren Probleme herausstellt. Wie Lévi-Strauss5 bemerkt, erlaubt es der Mythos, einer Sackgasse, die dem Unmöglichen zuwinkt, eine logische Form zu geben, und stellt sich jeder orthopädischen Praktik entgegen, die versuchen wollte, seine Omni-(im)potenz zu er-ziehen.
3. Die Bastionen schleifen und die Schwelle bewohnen Hans Urs von Balthasars Erbe, das auf gewisse Weise in seine Gesamteinstellung einging, ist in seinen mannigfaltigen Ausformungen noch lange nicht vollständig untersucht worden, auch was die verschiedenen Probleme angeht, die mit der konstruktiven Vertiefung und Ausarbeitung der verwendeten Kategorien verbunden sind. Wir wollen uns hier darauf beschränken, zwei zentrale Merkmale von Balthasars Gedankengebäude zu ermitteln, die strategische Fragen zur Entwicklung des Problems stellen, das sie selbst aufwerfen. Es handelt sich dabei in gewisser Weise auch um problematische Punkte, die eine konkretere Bestimmung ihrer genauen Bedeutung verlangen. In erster Linie erwächst unser Interesse an einer Beschäftigung mit dem Standpunkt eines der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts daraus, dass Balthasar einige mögliche itinerari mentis ad Deum vorwegzunehmen scheint, die vielversprechend erscheinen und im Einklang sind mit den Fragen, die auch Cacciaris Philosophie radikal stellt. Balthasar war in der Tat seiner gewissermaßen (theologischen) Zeit voraus und unterzog Hinweise, die der Überwindung der aktuellen koiné der Schwächung und
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Vgl. HOGREBE, Wolfram, Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings ‹Die Weltalter›, Frankfurt am Main 1989, 14 ff. LÉVI-STRAUSS, Claude, Die Struktur der Mythen, in: Strukturale Anthropologie I, Frankfurt am Main 1977, 226–254.
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der Zersplitterung des Seins und des Denkens dienlich wären, einer genauen Untersuchung. Insbesondere ihre übereinstimmende Haltung zu einer Befragung des Zeitgenössischen bietet sich als Element für einen Vergleich mit der Ontologie Cacciaris an, und zwar anhand des ‹anachronistischen› Denkens des Ursprungs. In zweiter Linie führt diese Position beide auf die Spuren des deutschen Idealismus, dessen spekulative Bewegung immer noch äußerst fruchtbar für ein Überdenken und eine Neubelebung der Frage nach dem Ursprung und der Bestimmung des Göttlichen, des Menschen, der Welt erscheint. «Wie können wir dem Alten unter den neuen Bedingungen treu bleiben? Nur so können wir etwas tatsächlich Neues schaffen»6. Diese Frage Pascals erklingt in actu exercitu zwischen den Seiten Balthasars seit den Studien seiner Jugendzeit über die griechischen Kirchenväter – Irenäus, Origenes, Gregor von Nyssa, Maximus Confessor. Sein Interesse für ihre Schriften, das im mitreißenden und problematischen Klima der Querelle über die nouvelle théologie und ihrem Geist der theologischen und kirchlichen Erneuerung, herangereift war, bedeutet nicht einfach eine nostalgische Rückkehr oder einen Versuch der antiquarischen Wiederausgrabung, um die neuscholastische Theologie durch eine neopatristische Theologie zu ersetzen. Den umfassenden Reichtum der Gedanken der Kirchenväter zu beleuchten, die zu jener Zeit nur wenig bekannt waren, bedeutet für den Theologen, sich einem Christentum zu öffnen, das sich an die unbedingten Räume der Völker wendet und noch fähig ist, für alle zu hoffen. «Ihr Denken kann nicht ohne Veränderungen auf unsere heutige Zeit übertragen werden. […] Alles muss aufgenommen und verändert werden, und dabei von Grundlagen ausgehend, die nur auf diese Weise lebendig bleiben. […] Die Väter werden uns näher erscheinen, wenn wir bemerken (in einer gewissen Tiefe, allerdings), dass der von ihnen aufgenommene Kampf der gleiche ist, denn auch wir annehmen»7.
Balthasar begeistert sich auf den Spuren der Kirchenväter vor allem für das Paradox einer einzigartigen, historischen und gleichzeitig universalen Wahrheit. Die TheoKosmologie der Antike wird für ihn zum kreativen Raum für das theologische Überdenken eines christlichen Horizonts, der befreit wurde von der gegen die Dialektik der modernen Welt errichteten Bastion, und belebt von seiner hervorquellenden Energie, erneut aktuell und vibrierend durch den ursprünglichen Geist, der noch immer die wesentlichen Eingebungen des Mysteriums des pulsierenden Christentums zu verwahren weiß8. Sein Appell an die antiken Stimmen der Erneuerung und Regeneration geht
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ŽIŽEK, Die gnadenlose Liebe, Frankfurt am Main 2001, 80. BALTHASAR, Liturgie cosmique: Maxime le Confesseur, Paris 1947, 7–8 (Vorwort der französischen Übersetzung). «Die Treue zur Tradition ist keine Wiederholung und wörtliche Weitergabe einer Botschaft, die in philosophische und theologische Thesen verwandelt wurde, sondern vielmehr ‹die Haltung intimer Reflexion und des Bemühen um eine kühne Schöpfung, als notwendiger Auftakt einer wahren spirituellen Treue›). Es ist diese Haltung der kreativen Erfindung, welche die lebendige Tradition der Kirche im Wesentlichen ausmacht, und zu der eine monotone Theologie nicht fähig war: (‹Um sich selbst und ihrer Mission treu zu bleiben, muss sie [die Kirche] sich unablässig um kreative Einfälle bemühen. Ange-
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von der Überzeugung aus, dass eine Wahrheit, die nur weitergegeben wird, ohne grundlegend überdacht zu werden, ihre vitale Kraft verloren hat. In dieser Bewegung im Geiste Benjamins, der Rückkehr zu vergangenem Potential, damit sie ihre Energie in der Gegenwart reaktiviere – das heißt, in der Wiederaufnahme der leuchtenden Momente und Ereignisse, die im Laufe der Geschichte des Christentums nacheinander verraten, verdunkelt, verdrängt wurden –, lebt das futur antérieur der Theologie Balthasars auf. Nach seiner Auffassung schreitet die Geschichte nämlich nicht gemäß eines Gesetzes der rein linearen Evolution voran: Es geht um Unterschied und Wiederholung, Erinnerung, Aufschwung und Treue, die in jeder Epoche verlangen, einen neuen Zeitverlauf zu beginnen. Folglich ist die Gegenwart nur in ihrer Verbindung zur Vergangenheit generativ, im Bewusstsein der Versprechen, Ideen und Visionen, die die Vergangenheit gespeist hat, aber noch immer nicht verwirklicht wurden. Im Umkreis dieser Reflexionen, die die Jahrhunderte durchlaufen, bietet sich auch dem ekklesiologischen Diskurs eine ganz neue Gelegenheit zu einer kühnen Neubetrachtung seiner Perspektiven und Praktiken, im Lichte einer kreativen Beziehung zur Tradition, die die Glaubensgemeinschaft anfeuert und sie einlädt, in jedem neuen Zeitalter die große Erzählung des Christentums, der sie entspringt, neu zu schreiben. Die Kirche wird deswegen zu einer neuen ‹Osmose› mit ihrer Zeit aufgerufen, zu einer kulturellen und spirituellen Mobilisierung, die darauf gerichtet ist, die Erstarrung, prinzipielle Abschottung und vorgefasste dogmatische Annäherung zu überwinden, die unvermeidlich die Teilung der Welten und Risse im Menschlichen hervorbringen und wieder hervorbringen. Die antike und moderne Erfahrung des Denkens erleuchtet Balthasar in seiner Absicht, die ‹Bastionen zu schleifen›, in die Windungen der Historizität einzudringen, durch eine tatsächliche Beteiligung an den unruhigen Bewegungen und den Sehnsüchten des zeitgenössischen Menschen, an seinen Bestrebungen und dem Fluchtpunkt seiner Identität. Der Theologe fordert besonders den Katholizismus auf, die Freiheit nicht zu fürchten, da er doch die Religion der Freiheit ist: Gerade aus diesem Grund wäre der Geist zu einer graduellen Stumpfheit oder einem allmählichen Erlöschen bestimmt in einem kirchlichen Raum, der von einem rigiden Doktrinarismus und leeren Dogmatismus lebt, und sich hinter Strukturen verbarrikadiert, die für das SelbstVerständnis undurchdringlich sind und vor der Gegenwart schützen sollen. Die Überwindung einer tendenziell naturalistischen Auffassung der Kirche als Rechts- und
sichts der Ungläubigen, die in die Kirche, die Erbin der Synagoge, kommen sollten, musste Paulus sich etwas einfallen lassen. Das Gleiche mussten die griechischen Kirchenväter gegenüber der hellenistischen Kultur und der heilige Thomas angesichts der arabischen Philosophie und Wissenschaft machen. Auch für uns gibt es keinen anderen Weg angesichts der heutigen Probleme›). Zudem ist die Literatur der Kirchenväter vergleichbar mit einem ‹intimen Tagebuch, das die Kirche im Alter von siebzehn geschrieben hat›, das heißt in ihrer spirituellen Jugend: eine vergangene Zeit, die vergangen bleiben wird, ihr Geist jedoch sollte wiederbelebt werden, ihre grundlegende Intuition, ‹ihr kreativer Gestus›» (BALTHASAR, Présence et Pensée. Essais sur la Philosophie Religieuse de Grégoire de Nysse, Paris 1942, Avant-propos, VII-XII). Vgl. GIBELLINI, Rosino, La teologia del XX secolo, Brescia 1999, 254.
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Organisationsapparat wird von Balthasar, in Verbindung mit der rationalistischen modernen Theologie, im Gedanken an die Ikone einer lebendigen Kirche ausgearbeitet, in der die Substanz der antiken Stadt aufleuchtet; von diesem Bild muss man seiner Auffassung nach ausgehen, um das Mysterium des Ich und Gottes neu zu denken in der Historizität der menschlichen Geschehnisse, in der überraschten und kreativen Verfassung der Ursprünge, der gegenüber man wieder empfindsam werden sollte. Im Enthüllen dieses Horizonts zeigt Balthasar seine Unduldsamkeit gegenüber dem Abhandenkommen der Frage nach den Erfahrungen von Wahrheit, die das Leben lehrt und darlegt, eine Folge der rationalistischen Beschränkung, die sowohl vom szientistischen Positivismus als auch vom tendenziellen Abstraktismus der zugehörigen Neuscholastik bewirkt wurde und nun auch ihre ganze logische Dürre an den Tag legt. Auf der Welle der von der nouvelle théologie, die Mitte des 20. Jahrhunderts um Henri de Lubac aufgekommen war, in Gang gesetzten Reflexionen, zweifelt Balthasar den rational-systematischen Ansatz neuscholastischer Prägung an, der zu jener Zeit noch jeden Bereich des theologischen Denkens dominierte, und findet in der patristischen Theologie einen spekulativen und spirituellen Ansatz von großer Tragweite und Aktualität für das Verständnis und den Dialog mit der Welt, in der er sich denkend befindet. Nicht einfach aufgrund des Verlangens nach Aktualisierung oder Modernisierung der christlichen Botschaft, sondern im Bewusstsein, dass es nur mit der Rückkehr zu den Stimmen und Erfahrungen, die die Wahrheit des Christentums hervorgebracht haben, das heißt, nur im rigorosen und begeisterten Zurückgehen zu den Quellen der Offenbarung, wieder möglich sein kann, theologisch zu denken und evangelisch zu leben, jenseits jeglicher dogmatischer Forderung und jedes leblosen kirchlichen Verschließens. Balthasar weiß also, dass er aus dem anfänglichen Schoß der christlichen Reflexion die kreative Chance auf eine mögliche Theologie schöpfen kann, die den drängenden Fragen der Historizität und der Anthropologie offen steht und dem kairós ihrer Zeit gegenüber sensibel ist, ausgehend vom expansiven Kern der Frage nach Gott. Die grundlegende Intuition, die das Studium der Antike in seinen Überlegungen speist, ist also keine archäologische oder philologische Angelegenheit, sondern kreative Bewegung und reale Annäherung an das Zeitgenössische, die gerade aufgrund der Beschäftigung mit den patristischen Quellen imstande sind, ein neues und fruchtbares Zusammentreffen der Offenbarung und der Kultur der Zeit zu begünstigen, das darauf gerichtet ist, die essentiellen Fragen rund um den Menschen, die Historizität und die Suche nach Gott erneut zu entflammen. «Unser Fazettenauge passt für das Zersplitterte, das Quantitative; wir sind Analytiker der Welt und auch der Seele und können keine Ganzheit mehr sehen»9. Balthasar beabsichtigt, der anfänglichen Frage der Philosophie – warum gibt es im Allgemeinen etwas, anstatt nichts – ihr radikales Staunen zurückzugeben. Der analyti-
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BALTHASAR, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Bd. I: Schau der Gestalt, Einsiedeln 1988, 22.
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sche und fragmentarische Blick der Wissenschaften, die sich mit der Analyse des notwendigen Stranges von Verbindungen, Funktionen und positiven Berechnungen im Hinblick auf die unendlichen möglichen Vorhersagen und Wiederholungen beschäftigen, hat nach und nach die Kraft der Frage verdrängt. Gleichzeitig erkennt Balthasar, dass auch die Theologie seiner Zeit einer solchen entomologischen und intellektualistischen Tendenz ausgesetzt scheint, sich nur unter Mühen bereit zeigt zum wirklichen Verständnis der gegenwärtigen Welt, und immun ist gegen die historische Dialektik, die Phänomenologie der Ereignisse, den rigorosen Dialog mit der Kultur der Zeit10. In ihrer ‹splendid isolation› konnte die Schul-Doktrin in keiner Weise das spezielle Bewusstsein Balthasars gegenüber der Präsenz von lógoi spermatikói in den unterschiedlichen Weltanschauungen [Deutsch im Original], die am Aufbau des kulturellen und menschlichen Szenarios aller Epochen beteiligt waren, in sich nähren – derer sich die Kirchenväter hingegen zutiefst bewusst waren11. Die Theologie seiner Zeit war sich seiner Ansicht nach nicht wirklich des Epochenwandels bewusst, der sie durchlief. In ihrer rationalistischen Konzeptualität und ihrer autoreferentiellen Sprache konnte sie nicht wahrnehmen, dass sie selbst tief eingetaucht war in die fortschreitende Postmoderne, die langsam jede nichtpositivistische Lesbarkeit der Welt aushöhlte. Balthasar dagegen hatte, in der überzeugten Feststellung des Primats der Realität als Prinzip der theologischen Methode, selbst in seiner (allerdings nicht regressiven) ‹bewussten Inaktualität› das tiefe und ruhelose Bewusstsein, im post-christlichen Zeitalter zu leben und zu denken, am Ende einer Modernität, die «nie mehr unschuldig vor-christlich sein kann»12. Diese Position zwischen den Epochen verkörpert, könnte man sagen, die Besonderheit seines Zeitgenössisch-Seins, seines Seins innerhalb und außerhalb seiner Zeit, das gerade aus diesem Grund von größerer Lesbarkeit ist. Seine Überlegungen über seine Epoche, in der sich das schnelle Fortschreiten der technisch-wissenschaftlichen Beherrschung der Welt mit einem kulturellen Leben verbindet, das immer mehr etsi Deus non daretur ist, bringt den Schweizer Theologen zur Anerkennung der radikalen Chance, die sie dem theologischen Denken bietet. Es
10 BALTHASAR, Die Götterfrage des heutigen Menschen, Wien 1956. Bezüglich der besonderen Sensibilität der Theologie Balthasars gegenüber der Beziehung von Glauben und Kultur als bevorzugtem Schlüssel für das Verständnis seines gesamten Weges, vgl. SALA, Roberto, Dialettica dell’antropocentrismo. La filosofia e l’antropologia cristiana nella ricerca di H. U. von Balthasar: premesse e compimenti, Milano 2002. «Die Theologie bedarf der kritischen Würdigung, mehr als der akritischen Geringschätzung. Balthasar war ein Meister darin, alle Fragmente von Wahrheit in jedem Denker, Theologen oder Philosophen, Christ oder Nicht-Christ zu würdigen. Alles kann und muss als kostbarer Mosaikstein verwendet werden, um das harmonische Mosaik der katholischen Fülle der Wahrheit zu schaffen. Das war vielleicht seine größte Überzeugung als katholischer Denker» (Ebd., 11). 11 Das sind die Samen von Wahrheit (‹logoi spermatikoi›), die im immensen Raum des menschlichen Geistes verstreut sind: «zwar nicht so, daß einander ausschließende Lehren und Ansichten gleichen Anteil an diesem verstreuten Logos haben könnten (er müßte sich sonst immer wieder selbst widersprechen), wohl aber so, daß weiniger umfassende Sichten in umfassendere hinein integrieren». (BALTHASAR, Epilog, Einsiedeln 1987, 11). 12 SABETTA, Antonio, Teologia della modernità. Percorsi e figure, Cinisello Balsamo (MI) 2002, 419.
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geht in der Tat nicht nur darum, die von der Säkularisierung und dem daraus erfolgenden Versiegen der traditionellen metaphysischen Anhaltspunkte gegebene Herausforderung anzunehmen. Balthasar meint im Gegenteil, dass die von der Krise der modernen metaphysischen Vernunft hervorgerufenen Beschwerden akzeptiert werden müssen, als notwendige Aufforderung zur Regeneration des Logos, zur Wiedereröffnung von schon im Entstehen vergessener theoretischer Zugänge, zur Wiederaufnahme unterschiedlicher theologischer Kategorien, die in der Lage sind, nicht nur neue Grammatiken der Mitteilbarkeit der Offenbarung anzubieten, sondern auch Perspektiven einzufügen, die der notitia Dei ihre radikale realistische Intention zurückzugeben imstande sind. Auf der anderen Seite ist der Theologe nicht nur auf der Suche nach einem Denken des Christentums: Er wünscht nämlich, vom Christentum ausgehend zu denken. Das bedeutet, in einer unbefangenen, absoluten Gegentendenz (auch in Bezug auf die heutige Situation) an das Christentum als Erzeuger von Denken zu glauben, und nicht nur als theologische Doktrin, als moralischen Horizont oder Erfahrung der persönlichen Begegnung und des gemeinschaftlichen Lebens. Auf Balthasars Weg – man kann sagen, in noch größerem Maße als bei den zeitgenössischen Theologen – ist der Glaube an Christus sicher auch all das: Allerdings erscheint seine theoretische Arbeit darauf gerichtet, den christlichen Logos aus der Verarmung des Lehrbuchs und der Doktrin zu befreien, im Namen eines pathos und eines ethos, die mit diesem Logos zutiefst und unentwirrbar verflochten sind – um in dieser Bewegung, anhand einer Phänomenologie der historisch-sozialen Formen, die Koordinaten eines neuen Humanismus aufzuzeichnen, der imstande ist, die dramatische Komplexität der Existenz ohne abstraktes Zurückhalten und Vorverständnis anzunehmen. Balthasar schlägt zu diesem Zweck keine Rückkehr in die Vergangenheit vor, die in der Zwischenzeit dem Verdacht des falschen Bewusstseins ausgesetzt und von der ‹Philosophie mit dem Hammer› zertrümmert wurde: Ihre Vor-Zukunft beabsichtigt, wie gesagt, Raum zu schaffen für das Hervorkommen des novum, vom gründenden Ereignis aus, dieser universalen Einzigartigkeit, aus der die Form ein für alle Male hervorgegangen ist, um für immer zeitgenössisch zu sein. Der Theologe stellt sich somit als Initiator einer Denkweise heraus, die versucht, eine direkte Beziehung herzustellen zwischen den Formen der Nennung des spezifisch Christlichen (insbesondere des christologischen und trinitarischen Themas) und der Dramatik der Historizität als wesentlichem Charakter des Seins der Welt, die auf der Suche nach einer weiteren Vollendung, Bestimmung, Übereinstimmung ist. Andererseits ist bei dieser Suche die enge Verbindung mit der Komplexität der gegenwärtigen Zeit unausweichlich und ruft die theologische Reflexion dazu auf, das sensible Gewebe der Geschehnisse der eigenen Epoche, in der allein sie ihre Fäden wieder aufnehmen kann, mit Tiefgang und Klarsicht zu bewohnen. Die radikalste Frage, mit der sich die zeitgenössische theologische Erfahrung notgedrungen auseinandersetzen muss, ist seiner Meinung nach keine andere als ihre entscheidendste historische Antiphrase: der ‹Tod Gottes›. Balthasar ist überzeugt, dass das von Nietzsche angekündigte Ereignis die Summe der kulturellen und existentiellen Situation seiner Zeit ist; andererseits geht das klarsichtige Bewusstsein, sich an den
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äußersten Enden einer Epoche zu befinden, mit der tiefen Überzeugung einher, dass es ein Segen ist, in einer interessanten Zeit zu leben. Im Kielwasser von Bulgakow interpretiert Balthasar die gegenwärtigen Bedingungen anhand der anfänglichen Missbilligung Gottes, mit dem Vater, der den Sohn zeugt und ihn dann sich selbst überlässt: In dieser Bewegung des Schenkens, das nichts für sich zurückhält, wird ab aeterno eine absolute unendliche Distanz geschaffen, in die alle anderen möglichen Distanzen, Brüche und Aufgaben der endlichen Welt eingeschlossen und aufgenommen werden können. «In der Liebe des Vaters liegt ein absoluter Verzicht, für sich allein Gott zu sein, ein Loslassen des Gottseins und in diesem Sinn eine (göttliche) Gott-losigkeit (der Liebe natürlich), die man keineswegs mit der innerweltlichen Gottlosigkeit vermengen darf, die aber doch deren Möglichkeit (überholend) grundlegt»13.
In der Trennung von Vater und Sohn, gibt der Vater dem Sohn nicht so sehr etwas, das er hat, sondern alles, was er ist: diese «totale Selbstpreisgabe, die der Sohn und der Geist antwortend mitvollziehen werden, bedeutet so etwas wie einen ‹Tod›, eine erste radikale ‹Kenose›, wenn man will: einen Über-Tod, der als Moment in jeder Liebe liegt»14. In diesem ‹Über-Tod› Gottes, in dieser ewigen Trennung in Gott selbst sind alle Trennungen und kénoses der Welt gesammelt und bewahrt: In ihr wird jede andere Trennung – bewahrt und geliebt – möglich gemacht. Der Verlust Gottes der postmetaphysischen Zeit wird für den Theologen eine unverzichtbare Gelegenheit für eine radikale Frage, in der Genitiv, Subjekt und Objekt in eine paradoxe Kommunikation miteinander treten: Durch die Verknüpfung des abgründigen Mysteriums von DeusTrinitas mit der gegenwärtigen Situation wird die christliche Offenbarung zum Horizont, der imstande ist, die Endlichkeit vor dem sinnlosen Schmerz und der Endgültigkeit des Todes zu retten, gerade in der Zeit der Ernüchterung15. In diesem Sinne stellt seine theologia crucis eine wahre Hermeneutik der Modernität dar, mit einem tiefen Bewusstsein der Übergänge und Schatten, die jede Frage nach Gott unterbrechen, aus dem Gleichgewicht und in Schwierigkeiten bringen, die sich angesichts deduktivistischer Gewissheiten oder a priori von Prinzipien ausgehend stellt, die vollkommen außerstande sind, die Dramatik der realen Existenz zu fühlen und zu verstehen – und folglich zu orientieren und anzunehmen.
4. Philosophie und Theologie: Epochenwandel Die Krise, der die Kohärenz des theologischen Systems als Konstruktion eines von der – natürlichen und historischen – Welt getrennten Intellekts ausgesetzt ist, eröffnet 13 BALTHASAR, Theodramatik. Bd. III: Die Handlung, 2. Teil, Einsiedeln 1980, 301. 14 BALTHASAR, Theodramatik. Bd. IV: Das Endspiel, Einsiedeln 1983, 74. 15 Vgl. NOBERASCO, Giuseppe, Il compimento della libertà singolare, in: «Teologia», 3 (2011), 478– 481.
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Balthasar die Möglichkeit, die Theologie nicht mehr als Doktrin, sondern als Aktivität zu denken, die jedes Wesen in die Unrast des Sinns verwickelt. Wie Irenäus lehrt, ist es die biblische Wahrheit selbst, die einen kirchlichen Stil fordert, der aufmerksam und teilnehmend ist gegenüber dem Lauf der Welt – ohne deswegen einfach angepasst zu sein – und der sich der Tatsache bewusst ist, dass es keine Ankündigung und nicht einmal Prophezeiung – und folglich Wahrheit – gibt ohne die Geworfenheit [Deutsch im Original] Heideggers: das heißt, ohne jene wesentliche Voraussetzung der Existenz, welche die Passivität des Daseins für eine Welt öffnet, die ihm vorausgeht, und einem weiteren Feld, das es determiniert: «Jede christliche Theologie ist situationsbedingt, sie wäre sonst nicht Theologie einer geschichtlichen Offenbarung»16. Die Moderne ist also bei Balthasar eine kairologische Gelegenheit zur Auseinandersetzung des Christentums mit einem neuen anthropologischen Horizont, in dem die Bestätigung einer Freiheit ohne Beschränkungen, die Philosophie des Argwohns und die Rationalisierung der Welt eine andere Szene des Subjekts enthüllen und seine Nachtseite, die ungenannte Komplexität, die verstörenden Widersprüche und Möglichkeiten, die ausgebliebenen Antworten und ungewissen Bestimmungen zum Vorschein bringen17. Während Balthasars Beitrag zur Theologie des 20. Jahrhunderts unbestritten ist, haben erst in jüngerer Zeit einige kritische Analysen seines Denkens aufgezeigt, dass sein Weg tatsächlich zu einer mehr philosophischen Ausarbeitung strebt, die in der Trilogie Theologik – Wahrheit der Welt, Wahrheit Gottes und Der Geist der Wahrheit – einen anderen systematischen Willen und ein klarsichtigeres Bewusstsein zeigt, ohne dass dieser Impuls in eine Religionsphilosophie oder eine explizit philosophische Theologie gemündet wäre18. Balthasar gehört mit seiner Überzeugung von der Unangemessenheit der neuscholastischen Annäherung an die Themen, die den theologischen und anthropologischen Diskurs begründen, und der daraus folgenden Ablehnung jeder weiteren Verankerung 16 BALTHASAR, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. Bd. II. Fächer der Stile, Einsiedeln 1984, 32. 17 Vgl. SALA, Dialettica dell’antropocentrismo, 23–80; TONIOLO, Andrea, La theologia crucis nel contesto della modernità. Il rapporto tra croce e modernità nel pensiero di E. Jüngel, H. U. von Balthasar und G. W. F. Hegel, Milano 1995, 85–156, 221–247: Vgl. HENRICI, Peter, Die Trilogie Hans Urs von Balthasars. Eine Theologie der europäischen Kultur, in: «Communio», 34 (2005), 117–137. 18 «Es kann sein, dass es auf die Frage nach den philosophischen Grundlagen in Balthasar keine philosophische Antwort gibt, denn er kennt, dem Beispiel des heiligen Paulus folgend, keinen anderen Grund als Christus (vgl. Kor 3,11). Natürlich erkennt Balthasar die Bedeutung der Philosophie für die Theologie an. Aber vielleicht wollte er die Spannung zwischen Theologie und Philosophie aufrechterhalten, um die völlige Neuheit dieser in der Kenosis offenbarten persönlichen Ordnung Jesu Christi und im Grunde genommen der Dreieinigkeit zu bewahren.» (NARCISSE, Gilbert, I fondamenti filosofici, in FISICHELLA, Rino (Hg.), Solo l’amore è credibile. Una rilettura dell’opera di Hans Urs von Balthasar, Roma 2007, 73). Narcisse spricht in diesem Zusammenhang von einer ‹umgekehrten Analogie›, von der ausgehend die persönliche Ordnung Gottes zur Grundlage des gesamten Systems und des Seins selbst wird und es folglich die Theologie ist, die am Ende den philosophischen Diskurs begründet: «Aus diesem Grund könnte die anfängliche Frage umgekehrt werden: Welches sind die theologischen Grundlagen der Philosophie Balthasars?» (Ebd., 74). Vgl. PARADISO, Marcello, Nell’intimo di Dio. La teologia trinitaria di Hans Urs von Balthasar, Roma 2009. Vgl. auch FALCONI, Giovanni, Metafisica della soglia. Sguardo sulla filosofia di Hans Urs von Balthasar, Roma 2008.
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III. Die Herkunft von Agápe
in den Präambeln der klassischen Metaphysik, zu den Theologen des 20. Jahrhunderts, die mit besonderer Entschiedenheit versucht haben, der theologischen Forschung philosophische Qualität zu verleihen: und zwar im formalen Bemühen, die positiven Virtualitäten der klassischen Theologie und Philosophie unter einem neuen Gesichtspunkt zu versammeln, so wie sie sich auf ihren antiken Wegen, in den mittelalterlichen Schulen und beim modernen Ansatz, insbesondere dem idealistischen, abgezeichnet haben. Seine globale theoretische Sichtweise richtet sich auf das grundlegende Ziel – das sich die zeitgenössische Theologie bereits im Wesentlichen angeeignet hat –, über den extrinsezistischen Horizont des duplex ordo als ‹wahres Philosophieren des Glaubens› hinauszugehen, das den Blick fest auf den theologischen Weg des Denkens richtet. Der vorgefasste Gegensatz von Vernunft und Glauben lässt, selbst im Bewusstsein ihrer jeweiligen Formen und Gefüge, Raum für eine Übung des Erfassens, in dem Offenbarung und Vernunft sich voneinander durchdringen lassen, in der nicht zu transzendierenden Historizität beider. In ihrer Beziehung, stellt Balthasar fest, gibt es «keine neutrale Punkte und Fläche», da «die Welt, so wie sie konkret existiert, eine Welt ist, die je schon positiv oder negativ in einem Verhältnis zum Gott der Gnade und der übernatürlichen Offenbarung steht […]. Die Welt, als Gegenstand der Erkenntnis, ist immer schon in diese übernatürliche Sphäre eingebettet, und so steht auch entsprechend das Erkenntnisvermögen des Menschen immer schon unter dem positiven Vorzeichen des Glaubens oder dem negativen des Unglaubens»19.
Er beabsichtigt nicht zu folgern, dass die Philosophie angesichts bestimmter Grenzen ihre Aufgabe erfüllt hat und sich zurückziehen sollte, auf eine reine negative Weise (wie Cacciari in der Tat theoretisiert), um ganz still den Glauben sprechen zu lassen. Balthasar ist, in seinem augustinischen Ansatz, dagegen überzeugt, dass die Philosophie in ihrer Verflechtung mit der Theologie im Theologischen sogar ‹befreit› wird. Für Balthasar bleibt die Positivität des intimen Aktes der philosophischen Dimension (intelligo ut credam) bestehen, die ursprünglich jedoch über sich selbst hinaus gerichtet ist (credo ut intelligam)20. Balthasar distanziert sich auf diese Weise sowohl von einer unbewussten Übernahme der Gegebenheiten des Glaubens durch die Philosophie – wie sie seiner Ansicht nach bei Platon und Aristoteles stattgefunden hat – als auch von einer entmythisierenden und säkularisierenden Rückführung der übernatürlichen Wahrheiten in die Immanenz einer rationalen – aufklärerischen, idealistischen, existenzialistischen, neopositivistischen – Philosophie. Der Theologe entscheidet sich, im Gegenteil, für einen dritten Weg: «die Wahrheit der Welt in ihrer prävalenten Welthaftigkeit zu beschreiben, ohne jedoch die Möglichkeit auszuschließen, daß die so beschriebene Wahrheit gewisse Elemente in sich schließt, die unmittelbar göttlicher, übernatürlicher, Herkunft sind»21. 19 BALTHASAR, Theologik. Bd. I: Wahrheit der Welt, Einsiedeln 1985, 20. 20 Vgl. PRZYWARA, Erik, Analogia entis. Metaphysik, Ur-Struktur und All-Rhythmus, Einsiedeln 1962. 21 BALTHASAR, Theologik. Bd. I, 21–22.
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Balthasars Kritik am theologischen Denken richtet sich auf die beiden spekulativen Wege, die seiner Meinung nach die Stationen der modernen Suche nach dem Absoluten markiert haben und folglich als jene erscheinen, die besonders gut der Charakterisierung und Zusammenfassung dienen: Der kosmologische Weg, der das Verständnis der Offenbarung in der Antike und im Mittelalter geprägt hat, und der anthropologische Weg, der hingegen die Versuche, Gott zu nennen, in der Moderne bestimmt hat22. Man kann die zentralen Elemente dieser grundlegenden Gabelung nennen: Auf der einen Seite der immanentistische Kosmozentrismus Spinozas; auf der anderen Kants kopernikanische Revolution. Die eine hat, einem vertikalen Weg folgend vom Kontingenten zum Notwendigen, von der Endlichkeit zum Unendlichen, seiner Ansicht nach allmählich den ontologischen Unterschied aufgehoben, Gott auf ein absolutes Seiendes reduziert, das die Vollendung der Kette der Existierenden ist, und sogleich das ‹wunderbare Wunder› erschöpft, welches das Sein als solches und aus sich selbst heraus ist. Für diesen Weg ist der Summum Ens der äußerste Rand einer unendlichen Genealogie, einer Gesamtordnung von Ursachen, die weder Sprünge noch Unterbrechungen kennt, erster Beweger ohne Vergänglichkeit und Zeitlichkeit, unerreichbarer und unwiderruflicher Anfang aller Mannigfaltigkeit der Dinge. Der anthropologische Weg hingegen, der die Menschheit in ihrer unendlichen und unbestimmten Offenheit und ihrem spirituellen Schwung annimmt, ist seinerseits in eine subjektivistisch-transzendentale Rechtfertigung der Offenbarung zurückgefallen, die dem Kosmos ihr eigenes kalon und ihren eigenen Rhythmus23 aufzwingt und Gott sub specie humanitas denkt24. In diesem Fall wird der Mensch zwar auf der einen Seite langsam zu einem würdigen, nicht nur möglichen, sondern sogar bevorzugten Gesprächspartner des Absoluten und schickt sich an, wie schon bei Anselmus geschehen, Gott, den er spüren und nicht nur ableiten25 will, wahrhaftig entgegenzutreten; andererseits jedoch
22 BALTHASAR, Glaubhaft ist nur Liebe, Einsiedeln 2011 (7. Auflage), 8–32. 23 BALTHASAR, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. Bd. III/1: Im Raum der Metaphysik. 2. Teil: Neuzeit, Einsiedeln 2009, 944. 24 Balthasar weist darauf hin, dass sich in dieser kosmologischen und formalen Beschränkung die Form der Schönheit notgedrungen erschöpft, so dass «für die Verwunderung (daß lieber Etwas als Nichts ist) kein Raum mehr» bleibt, «sondern höchstens noch für die Bewunderung, daß alles innerhalb der Seinsnotwendigkeit so wunderbar ‹schön› erscheint» (Ebd., 943). Wie Gilbert feststellt: «Mit Hilfe dieser beiden exklusiven Wege, dem kosmologischen und dem anthropologischen, beschreitet der Geist zwei unterschiedliche, aber aufeinander folgende Wege zur Intelligenz der Seienden. Diese beiden Wege verweisen einer auf den anderen; die kosmische Äußerlichkeit wendet sich an die spirituelle Innerlichkeit; die Bedeutung des abstrakten Universalen wird von dem der individuellen Existenz und seinem Drama korrigiert. Die vertikale und die horizontale Linie kreuzen sich, ohne dass es einen Grund für ihre Verbindung gäbe; sie sind wie zwei Pfeiler einer Brücke, die zwar Bedeutung haben für den Bogen, den sie andeuten, den sie aber nicht von sich aus zu formen imstande wären; den Bogen gibt es obendrein, wie die Liebe, die es den Pfeilern erlaubt zu kommunizieren» (GILBERT, Paul, L’articolazione dei trascendentali in H. U. von Balthasar, in: ID., Saggi di metafisica, Roma 1995, 142–143). 25 Die wahrhaftige theoretische Steigerung, die im zweiten Teil des Proslogion mit der Hypothese der kohärenten ‹ästhetischen› Integration des unum argumentum («Warum ist Gott, der sich in meinem Denken als omnipräsent zeigt, für meine Wahrnehmung nicht präsent?») stattfindet, wird besonders in SEQUERIs Beitrag hervorgehoben, L’ordine degli affetti. Per un’estetica della redenzione, in: «Hermeneutica» (2003), 157–170.
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wird die ratio nach und nach zum Instrument, um die Wahrheit des Christentums zu messen, zum entscheidenden Kriterium einer Naturreligion in den Grenzen einzig der Vernunft. Der Übergang von Kants Kritizismus zu Feuerbachs Umsturz erscheint Balthasar in diesem Sinne als folgerichtig. Gleichzeitig, notiert Balthasar in seinen Reflexionen über den Bogen, den die moderne Metaphysik beschrieben hat, werden die Schönheit der Welt und die Offenbarung der Omnipotenz allmählich der mechanischen Erklärung des Universums untergeordnet, die als einzige der Würde des Wissens zu entsprechen scheint. Der theoretische Elan der philosophischen Überlegungen Balthasars richtet sich auf die Vertiefung des Zusammenhangs von Philosophie und Theologie, mit der Absicht, sowohl die rationalistische und onto-teologische Tendenz zu überwinden, die das Sein auf das Seiende reduziert und Gott als letztes Glied der Kausalkette denkt, als auch die anthropologistische Tendenz, bei der das Ereignis des Christentums zum reinen Phänomen des Bewusstseins wird, das a priori von den Kenntnisformen der Subjektivität abzuleiten ist.
5. Wahrheit als re-velatio Das klassische Paradigma des Wahrheitsbegriffs durchläuft – vor allem in Wahrheit der Welt – eine Art Konversion und Reform, die den Gedanken von der Übereinstimmung (adaequatio intellectus et rei) überschreiten will, um seine antike Bedeutung von alétheia und revelation wiederherzustellen: Die Wahrheit nimmt die Züge des NichtVersteckens an, des Austritts aus der lethe, aus dem Dunkel und dem Nicht-Sein, im überwiegend ontologischen, nicht nur im logischen oder gnoseologischen Sinne26. «Wahrheit kann also in einer ersten Beschreibung als die Enthülltheit, Aufgedecktheit, Erschlossenheit, Unverborgenheit αvλη,θεια des Seins bezeichnet werden»27. Der Einfluss der Analyse Heideggers kommt schon in der Sprache deutlich zum Vorschein, derer sich Balthasar bedient, um den manifestativen Charakter der Wahrheit zu bezeichnen, in dem die Züge des Entbergens und des Verbergens zuletzt untrennbar sind und ihn an eine Perspektive heranführen, die man als phänomenologische Ontologie definieren könnte28.
26 In der Einführung Zum Gesamtwerk zu Beginn von Wahrheit der Welt, verkündet Balthasar klar diese Absicht: «Im vorliegenden ersten Band wird vorwiegend philosophisch vorgegangen. Das endliche Sein wird auf seine Wahrheitsstrukturen […] hin durchgeforscht, wobei dem Leser vielleicht manches weniger Gewohnte begegnen wird, manches, das seit der Antike und auch seit der Patristik unvermerkt aus dem Blick geraten ist, sich aber aus der Rückschau auf die große Tradition durchaus rechtfertigen läßt» (BALTHASAR, Theologik. Bd. I, X). 27 Ebd., 28. 28 Tatsächlich trug die französische Übersetzung von 1952 von Balthasars Werk «Wahrheit der Welt» den Titel «Phénomenologie de la vérité». La vérité du monde (Paris 1952), während die neue Ausgabe, die auf der Ausgabe von 1985 beruht und 1994 publiziert wurde, den deutschen Titel wörtlich übersetzt: La Théologique. La Vérité du monde, Brüssel 1994.
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Massimo Cacciari beharrt, wie wir gesehen haben – bis an die Grenze eines Rückfalls in die archaische Gnosis –, auf der Betrachtung des Schattens, des Schweigens und des Nicht, die jede Manifestation begleiten und die antinomische Bedeutung der re-velatio erfassen. Sie evoziert in der Tat die unumschränkte Freiheit des Seins, das sich dem Erscheinen hingibt, und sich ebenso uneingeschränkt zurückzieht. Das genau ist Schönheit, in diesem Wortschatz. Nicht die Anpassung und Aussöhnung des Rätsels innerhalb der Schemata der logischen Notwendigkeit in Reichweite des Denkens und Wirkens. Es handelt sich, im Gegenteil, um das Eindringen der Logik seiner Freiheit, gegenüber dieser naiven Herabsetzung, in jene Verzauberung, welche die Totalität des Erscheinens mit sich bringt. Die Sprache des einfach Sagbaren und Äquivalenten, der Klarheit [Deutsch im Original] ohne Tiefe macht laut Cacciari nichts anderes, als das Vorausgesetzte, das sich in jedem Fall zeigt, zu verdrängen und zu beseitigen. In der Spannung, die diese unsagbare Offenheit erzeugt, be-lebt sich das Erbarmen des Denkens fortwährend, das – nach Wittgenstein – nur im Unterschied des Mystischen leben kann und jede Leiter wegwirft. Die Feierlichkeit dieses Wunders – in dem das Staunen der Vernunft von Schellings Spätphilosophie anklingt – muss bewahrt werden, als permanenter philosophischer Gestus, der jeder Frage, Vermutung, Deduktion innewohnt. Auch für Balthasar scheint diese Bedeutung der Wahrheit eine vorrangige Rolle einzunehmen, wenn er sich dafür einsetzt, die Einheit von Verbergen und Entbergen zu denken, um die manifestative Essenz Gottes, die in Herrlichkeit ihre ausführlichste Behandlung erfährt, fern von jedem abstrakten onto-theologischen Rückfall zu sagen. Was ihn betrifft, denkt der Theologe nämlich die Frage der Transzendenz Gottes als Manifestation eines Überschusses in der Endlichkeit, in dem sich Gottes intime Präsenz kundtut, die nie aufhört sich zu überliefern, und dabei gleichzeitig unüberlieferbar bleibt, «potenziell in der Form eines jeweils weiter enthüllbaren Hintergrunds»29. Gleichzeitig ruht die Wahrheit, die im Fragment enthüllt ist, auf dem Grunde des Seins und zeigt sich als das, was sie ist, in ihrer existierenden Einzigartigkeit: Während sie auf der einen Seite offen ist für eine unendliche Offenbarung, für ein unermessliches Transzendieren, öffnet sie sich auf der anderen Seite nicht dem Abgrund eines indifferenten NichtsSeienden, der sie einer immer fungierenden (Un-)Möglichkeit preisgibt. Aber auch in Balthasars Theologik tut sich, wie wir sehen werden, eine weitere Dimension des Seins auf, die es in seinem Inneren ergründet, eine ‹heilige Indifferenz› des Anfangs und der Grundlage, die an der ewigen Disponibilität des Sohnes hängt, der über sich selbst hinausweist. Das Enthüllen des Seins, sein Verlassen des Verstecks, sein bekannt sein für jeder, «der es in seiner Enthüllung erkennt»30, ist für den Theologen nicht der einzige sagbare Zug der Wahrheit. Die Idee von der Wahrheit als Offenbarung, die die Tiefe des Seins in den Seienden enthüllt, das Mysterium des effusiven SelbstAusstrahlens des Seins, das schon von den antiken Philosophen erahnt wurde, wird
29 BALTHASAR, Theologik. Bd. I, 34. 30 Ebd., 29.
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erst dann ‹verständlich›, wenn aus dem Raum der biblischen Offenbarung etwas von der absoluten Freiheit ‹Gottes› in spiritueller und persönlicher Form durchscheint. Die Verben relucere und resplendere drücken in der antiken Weisheit jene verborgenoffenbarte Anwesenheit des Göttlichen in der Natur tautegorisch aus, die bei Meister Eckhart und Nikolaus von Kues nicht nur ein Leuchten, sondern auch ein Sprechen des Vaters durch den Sohn, im Geist, wird, im analogischen Raum der wahrnehmbaren Zeichen: Die Dinge werden so als intentiones eines Gottes aufgefasst, der in der Schöpfung sich selbst frei mitteilt. In jedem Fall handelt es sich bei Balthasar nicht nur um alétheia, sondern auch um emeth, das heißt Konsistenz, Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit des Existierenden, der erscheint. Im Unterschied zum omnikompossiblen Prius, das zwischen dem Sein-Können und Nicht-sein-Können, Öffnung und Verschlossenheit, Chaos und Kosmos schwankt, bleibt die allmächtige Freiheit des Vorausgesetzten für Balthasar unbestreitbar vertrauenswürdig: Sie entspricht der «Entsiegelung einer wahren Unendlichkeit fruchtbarer Möglichkeiten und Situationen»31, zusammen mit dem Versprechen von weiteren Wahrheiten und Verbindungen. Die Idee von der Freiheit als ‹wahrem Anfang›, die Schellings Idealismus mit aller Kraft in seiner renovatio der Philosophie des Selbstbewusstseins vertritt, verwandelt sich für den Theologen in das Primat einer unbedingten Disponibilität, eines zuverlässigen Ursprungs, aus dem jedes Ding sein Sein ausschneidet. Eine uneinnehmbare Transparenz und eine unvordenkliche Zuverlässigkeit sind die wahre Erfahrung des Ursprünglichen bei Balthasar. Das Bewusstsein, etwas ‹immer Größerem› anzugehören, das sich auf der anderen Seite manifestiert, ohne seinerseits begriffen zu werden. Also müssen zwei Dinge feststehen, damit sich die extremen metaphysischen Pole der Ewigkeit der Essenz und der Materialität der Existenz nicht wie harte, und ebenso abstrakte Alternativen anstarren: das Innen-Über von Essenz und Existenz und die Idee, dass zwischen Essenz und Existenz eine Beziehung besteht, die über sich selbst hinausweist. ‹Öffnung› – Erwartung und Versprechen – zeigt eine Wahrheit an, die immer Zeichen eines in seiner Absolutheit undenkbaren ‹Außen› ist: das heißt, nie über eine Beziehung hinaus sagbar. Das Göttliche will sich, sowohl in der Abgründigkeit des Deus-Trinitas wie in seinem manifestativen Gefüge, nicht selbst genügen, sondern ‹schmachtet› nach dem ganz anderen, begehrt die Welt, in einem unerreichbaren Sich-Geben, das – im Sinne Plotins – einen einfachen Blick und ein sensibles Zuhören erbittet, die auf seine Spuren in der Welt gerichtet sind. Für Balthasar wird nämlich die Transzendenz von der Äußerlichkeit der Dinge ausgehend offenkundig: Kein Selbstbewusstsein könnte von sich aus irgendeine Präsenz hervorbringen, sondern kann einzig seine tätige und unhaltbare Energie in der phänomenalen Immanenz bewahren. «Immer wird das Geschenkte größer sein als das Aufnahmevermögen, immer wird ein Teil der Erfüllung darin bestehen, diesen zukunftgeladenen, zukunfterzeugenden Reichtum des ewigen Seins anzuerkennen»32. Folglich wird in der Dialektik
31 Ebd., 30. 32 Ebd., 222.
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von Sein und Phänomen, der Balthasars Sichtweise folgt, das Mysterium zur ständigen Eigenschaft der Wahrheit, die nicht ableitbar und unerschöpflich ist, auch für sich selbst. Der Logos drückt sich innerhalb des Raums der Wahrheit aus und funktioniert innerhalb seines unerschöpflichen Aktionskreises, der alles Existierende und jeden möglichen Diskurs umschließt. Es handelt sich also nicht darum, das Gewirk des Seins abschließend greifen zu können, da es «keine begrenzte Geographie des Landes der Wahrheit» gibt33. Gleichzeitig behauptet Balthasar: «Es gibt keine andere Gotteserkenntnis als die durch die Kontingenz der Welt hindurch vermittelte, aber es gibt auch keine, die unmittelbar zu Gott führen würde, als diese»34. Die Klarheit dieser Feststellung zeigt, wie sehr für Balthasar Gott als «das ursprünglichste Fundament unseres Daseins»35 erkannt werden kann, jedoch bestimmt nicht über eine Ahnung der unendlichen und unermesslichen göttlichen Wahrheit – die dem Subjekt niemals gegeben ist: Nur über die Wahrnehmung der eigenen Kontingenz, der eigenen Endlichkeit, des eigenen konstitutiven Daseins-in-der-Welt kann sich die Präsenz einer absoluten Identität, als Prinzip der Einheit und Wirklichkeit der Dinge, verschleiert und implizit offenbaren. In seiner Phänomenologie der Wahrheit, die schon in der ersten Fassung von Wahrheit der Welt (1947) – später der erste Band der Theologik – systematisch ausgearbeitet vorlag, erscheinen Theologie und Philosophie gewiss als untrennbar: Die philosophische Rationalität ist aufgerufen, dem Unergründlichen, das dem Realen Struktur gibt, gegenüber offen zu sein, seinem enthüllten und zuverlässigen Zug, und sich das übernatürliche Geheimnis des Seins nicht entgehen zu lassen, das mit seinen Formen und Kräften in das Gewirk der endlichen Dinge eindringt, die in das ‹Dämmerlicht› der göttlichen Offenbarung getaucht sind. Die Theologie wiederum kann nicht anders, als den metaphysischen Diskurs und die ontologische Ausarbeitung einzubeziehen, welche die verschiedenen philosophischen Strömungen im Laufe der Jahrhunderte hervorgebracht haben. Dabei geht es weder um einen einleitenden Diskurs, noch um die Übernahme eines spezifischen metaphysischen Systems. Balthasar ist auf der Suche nach einem dritten Weg, auf dem Philosophie und Theologie eine radikale Zirkularität leben, ausgehend vom analogisch-katalogischen Weg, der Gott und die Welt ontologisch vereint, in einer rigorosen ‹Zusammenarbeit›, einer tiefen gegenseitigen Öffnung. Es geht um die Frage – in ihrer ganzen Problematik – der Suche einer Vernunft, die zu feinsten Ableitungen und angemessenen Rückführungen fähig ist, angefangen bei der Gestalt [Deutsch im Original] der Welt, die wesentlich mit dem Licht der ungreifbaren christologischen und trinitarischen Wahrheit verbunden ist. Im effektiven und vitalen Entstehen der Dinge schimmert das trinitarische Mysterium durch, das in seiner immanenten Transzendenz jedem Ding der Schöpfung Gestalt verleiht und sich historisch in der tatsächlichen Existenz des Jesus von Nazareth offenbart hat. Auf dieser Linie 33 Ebd., 15. 34 Ebd., 46. 35 Ebd.
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III. Die Herkunft von Agápe
wird der philosophische Diskurs über die Gestalt des Seins natürlich vom theologischen absorbiert, ohne dass Letztgenannter ihn einfach in sich erschöpfen könnte. Die Anfang-Offenbarung prägt die Arbeit des Logos in einem aufsteigenden und absteigenden Diskurs. Es handelt sich letztlich darum, einen metaphysischen Weg anzubieten, der auf jeden Fall für die Faktizität des Realen, die immanente Gegebenheit des Seins empfindsam sein möchte, durch einen theoretischen Blick, der schon zutiefst vom theologischen Apriori durchdrungen ist: Die Wahrheit der endlichen Seienden liegt für Balthasar in der Wirkung einer Transzendenz, die in ihrer Gestalt erstrahlt, im Lichte eines grundlegend-theologischen Ansatzes, in dem Glaube und Vernunft jede im Voraus gebildete Unterscheidung verlieren.
6. Wahrnehmung der Form: Die Schönheit des Wahren Balthasar strebt die Ausarbeitung einer christlichen Philosophie an, die auf der Grundlage des Glaubens betrieben wird und sich von der Schönheit aus – «Schönheit, an die wir nicht mehr zu glauben wagen, aus der wir einen Schein gemacht haben, um sie leichter loswerden zu können»36 – auf die Suche nach dem ‹Sein jeden Seins›, der fungierenden Wurzel jeder Realität macht. In einem idealistischen Sinne könnte man sagen, dass für den Theologen die zentrale Frage ist, die Offenbarung des Absoluten in der Geschichte zu denken, das heißt, die Manifestation des Unendlichen im Kontingent-Werden der Dinge: Die Dichotomie von sinnlich und übersinnlich, Natur und Supra-Natur wird von der Diagonale einer Form durchlaufen, die jenes konstitutives Geflecht von Transzendenz und Immanenz erahnen lässt, das die Realität stützt. In dieser Richtung kündigt sich eine geheimnisvolle Bewegung im weiten Feld des Seins an, die sich weder in einem monistischen noch in einem dualistischen Sinne interpretieren lässt, und die Wirklichkeit in ihrer offenbarenden Essenz gestaltet. Die Form ist, nach der Hypothese, die schon Hegel in der Phänomenologie des Geistes ausarbeitet, die Selbstmitteilung, das Entstehen der Essenz, die ihrer Natur innewohnende Selbstbewegung [Deutsch im Original], die sie dazu bringt, sich zu exponieren. Die Form historisiert sich in der Begebenheit unterschiedlicher Gestalten, deren Mittelpunkt Christus bildet, in dem sich die Form in einer absoluten Erscheinung [Deutsch im Original] vollkommen verwirklicht. Für Balthasar bedeutet das Denken der Verbindung von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, die zwischen endlich und unendlich besteht, die Dichte des Endlichen zusammen mit der Alterität des ‹immer größeren› Unendlichen in ihrem vereinigenden, obschon in Bezug auf jegliche Identifikation abweichenden Zusammenhang zu bewahren37. «Dies ist des Menschen eigentümliche Situation: er kann, wenn er ehrlich
36 BALTHASAR, Herrlichkeit. Bd. I, 16. 37 Die Konzilsformel erklingt fortwährend in der Perspektive Przywaras, die als philosophische Hermeneutik dieser Formulierung betrachtet werden kann: «Inter creatorem et creaturam non potest tanta si-
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ist, Gott nur als den ganz Anderen als weltliches Sein ‹denken›, will ihn aber trotzdem, falls er erschiene, nur als eine Art überbietende Vollendung des Kosmischen und Anthropologischen sich vorstellen»38. Den Eingebungen Erich Przywaras folgend (Analogia entis, I–II, 1962), vertritt Balthasar den Standpunkt, dass die wesentliche metaphysische Frage seiner Zeit die Bestimmung des inneren Zusammenhangs von Manifestation und Transzendenz in den Phänomenen ist. Der theoretische Kern der Theologie Balthasars findet sich in seinem Wunsch nach einer radikalen Neuinterpretation und Wiederherstellung der Beziehung zwischen Unbedingtem und bedingter Vielfalt der Seienden, zwischen Vorstellung vom Absoluten und Vorstellung von der Kontingenz der empirischen Realität, unter dem Gesichtspunkt der Wechselseitigkeit der Freiheiten, und vor allem, wie wir noch sehen werden, im spekulativen Versuch, eine Metaphysik des Seins als agápe zu rehabilitieren. «Die Kunst der Aufsprengung aller endlichen, philosophischen Wahrheit zu Christus hin» vereint sich mit der «Kunst der klärenden Transposition»39, auf einer Linie mit Maréchal, Setillanges und Przywara. In dieser Hinsicht ist Balthasar zutiefst Theologe: Er wird stets die Überzeugung bewahren, dass die Philosophie über die Jahrhunderte bewusst oder unbewusst von der Offenbarung angezogen wurde, auch wenn sie sich ausdrücklich gegen sie wandte. Die Idee der Korrelation (die Przywara mit der dialektischen Theologie assoziiert, aber auf Hermann Cohen zurückgeht), hat Balthasar und seinen dialektischen Geist in der Verbindung von Offenbarung und Philosophie und Glauben und Kultur geprägt. Balthasars Philosophie kann deshalb als zutiefst ‹apologetisch› definiert werden, da er den Standpunkt vertritt, dass jedes authentische Denken seinem Wesen nach nur aus dem Christentum erstehen kann. Auch wenn die unterschiedlichen philosophischen Visionen aus einer Vielfalt von Ideen und Problemen und dem Kontrast der Dinge hervorgehen, so neigen sie in Wirklichkeit doch zu einer Einheit, als deren Zeuge sich das Christentum fühlt. Dieses theologische Apriori verleiht der freien Übereinstimmung Ausdruck, die zwischen analogia fidei und analogia entis entsteht, vor dem Hintergrund einer radikalen und antignostischen Auffassung der Welt als konsistentem und realem Ort, an dem sich die Wahrheit manifestiert. Der Theologe sieht in diesem Zusammenhang die automatische Auflösung und Zerrüttung der gesamten Dialektik des Denkens, in dem Moment, in dem es wagt, den Blick auf dem abgründigen Mysterium von Gottes Herrlichkeit ruhen zu lassen, ohne dass diese Zerrüttung jedoch zu einem Bruch, einer absoluten Differenz zwischen Gott und Geschöpf und schließlich zum Schweigen eines apophatischen Diskurses führen würde.
militudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notando» (DENZIGER, Heinrich, Enchiridion Symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, 432). 38 BALTHASAR, Glaubhaft ist nur Liebe, 47. 39 BALTHASAR, Von den Aufgaben der katholischen Philosophie in der Zeit, Einsiedeln 1998, 23. Vgl. BALTHASAR, Regagner une philosophie à partir de la théologie, in Pour une philosophie chrétiennee. Philosophie et théologie, Paris-Namur 1983, 175–187.
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Das Fühlen und Denken müssen von hier aus auf die Wahrnehmung eines neuen Rhythmus, auf die Vorahnung eines möglichen Berührungspunktes zwischen den Unähnlichen gerichtet werden. Barths heftige Reaktion auf die analogia entis – die von ihm als ‹Erfindung des Antichrist› betrachtet wurde – bleibt in jedem Fall das Regulierungsprinzip, oder besser gesagt, das immer vorhandene Gegenmittel angesichts eines exzessiven Positivismus der Offenbarung, der darauf gerichtet ist, sie auf ein reines Naturphänomen zu beschränken, wenn auch von ursprünglicher Bedeutung, das objekt- und bedürfnisbezogen angenommen und gedacht wird. Die Unähnlichkeit über jedes Ding hinaus bleibt ein Merkmal Balthasars, das die mannigfaltige Szene der weltlichen Phänomene bewohnt und umfasst. In einem analogischen ‹Ausnahmezustand› kann man feststellen, dass das Seiende immer etwas vom Sein ausdrückt; man kann jedoch nicht sagen, dass das Sein sich in diesem Sinne im Seienden ausdrückt. Das erläuternde Vermögen des Seins im Verhältnis zum Seienden (in dem Thomas von Aquin, Hegel und Heidegger zusammenlaufen und sich unterscheiden) erschöpft sich nicht in der eineindeutigen Übereinstimmung mit dem Seienden, die die ‹Herrlichkeit› des unumschränkten Mysteriums, aber auch die ‹Ästhetik› der irreduziblen Einzigartigkeit des Seienden auslöschen würde, im unfruchtbaren Kurzschluss einer verschmelzenden Intimität. Im Sein wird man aufgenommen, aber auch allein gelassen (Böhme und Hölderlin): «wir alle zusammen sind nicht zureichende Auslegung des Seins; es ist frei, sich noch unendlich anders zu zeigen, für unendliche Andere zu lichten. Trotzdem: was wäre Licht, wenn keiner es sieht?»40. Es ist folglich unmöglich, sowohl eine drastische Alternative anzusetzen, als auch die beiden zu identifizieren, in einer finalen Aussöhnung, die einer gegenseitigen Indifferenz entsprechen würde, oder der reinen Leere des Anfangs. Das Mysterium der exousia einer ursprünglichen Ausstrahlung, die die Welt in der Identität auflöst, wie die einer ursprünglichen Kenosis, die sie paradoxerweise dank ihres Sterblich-Seins differenziert, ist für Balthasar nicht entscheidend. Nur in einer Schwankung zwischen Sein und Seienden zeigt sich die freie und gelöste Wirklichkeit, angesichts ihrer nicht gezwungenen Offenheit, die nichts zwingt, wie eine Gnade (die der Theologe innerhalb der Differenz Gott-Welt einfach Liebe nennen wird). Auf jeden Fall öffnet sich der Raum der göttlichen Offenbarung, auch jenseits der ‹theophanischen› Tendenz (Barth), die Gott allein jede Kausalität und effektive Wirklichkeit zuschreibt, in der kreatürlichen Wirklichkeit. Man muss sich also «in die geheimnisvollen Strukturen geschöpflichen Seins»41 begeben, in denen allein die Form ihren tatsächlichen Ausdruck findet. «Wer mehr sieht, hat recht»42: Der Druck auf mögliche Transzendierungen des für die verbreitete Rationalität real Gegebenen besitzt sogleich – und für Balthasar gilt das
40 BALTHASAR, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. Bd. III/1: Im Raum der Metaphysik: 2. Teil: Neuzeit, Einsiedeln 2009, 964. 41 BALTHASAR, Theologik. Bd. I, VIII. 42 BALTHASAR, Epilog, 35.
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vornehmlich für die geläufige religiöse Apologetik – einen suspekten Zug, gegen den auf jeden Fall plausible Argumente vorgebracht werden. Falls ihm kein unwiderruflicher positivistischer Reduktionismus entgegengesetzt wird, könnte der Verzicht auf ein angebliches ‹Mehr-Sehen› als angemessenes Schweigen gegenüber einer vielfältigen und problematischen Grundlage des Seins erscheinen, oder als weise Umsicht gegenüber einem nicht Nachprüfbaren, das keine weiteren Veranschaulichung bietet. Balthasar dagegen denkt, dass die endliche Wirklichkeit kein in sich geschlossener Kosmos ist, der in sich selbst ruht, sondern immer ein Rätsel bleibt und über sich selbst hinausweist: «Nie ist ein Ding eine bloße Tatsache»43. Keine objektivierende oder immanentistische Vision der Welt – so wie sie von der spekulativen rationalistischen Tradition der Neuzeit begründet und vertreten wurde –, die in einer abstrakten Begrifflichkeit ohne Welt und einer dem Sinn gegenüber blinden Rezeptivität eingefroren ist, ist capax mundi, das heißt in der Lage, die Wahrheit des wirklichen Seins zu erfassen, deren Maß und Idee immer in einem unerreichbaren Übermaß wohnen. Unser Auge ist jedoch nach und nach unempfänglich geworden für die substanzielle Tiefe, die die Welt durchzieht. Diese Entleerung wurde auf der einen Seite von einem szientistischen Reduktionismus geschürt, der auf der letzten Dimension der Immanenz als tatsächlichen Schoß der weltlichen Energien beharrt: Die Starrheit einer universalen mathesis neigt in der Tat dazu, jedes Element in sich aufzunehmen, im Undifferenzierten einer Endlichkeit ohne Gehalt; und auf der anderen von einer spiritualistischen Vision der Welt, die gleichermaßen unfähig ist, sich auf der Höhe des thaûma zu zeigen, welches das Körper-Sein erwecken kann. Diese ent-realisierende Tendenz, die in der heutigen Virtualisierung ihre perfekte Vollendung findet, ist jetzt so weit, ihren verborgenen antiphrastischen Kern zu enthüllen: Sie zeigt sich in der Tat als effektive dialektische Reaktion auf das vom modernen Rationalismus hergestellte Bild von der Welt, wie das Doppelte einer Welt, die allmählich in einen Zustand, in einen eindimensionalen Horizont von objektivierten Einfach-Präsenzen verwandelt wird, getragen von einem geometrischen Gefüge von Kausalgesetzen und Vorrichtungen für das Vorhersehen, Dominieren, Unterwerfen, ohne eine Letztendlichkeit, die erforscht und erwartet werden will. Ebenso macht die aktuelle spiritualistische Tendenz mit ihrem ‹Außerhalb-Stehen›, ihrer grundlegenden Gnosis, ihrer umfassenden Entkörperung, in der Illusion, sie zu überschreiten, sich einfach von ihr zu lösen, nichts anderes, als eine Welt zu erhalten, die im Universum des Umlaufs und Austauschs, der ganz gleichwertigen Währung funktioniert, der Konsistenz enthoben und von jeglicher Intimität mit dem Sein abgetrennt ist. Balthasar beobachtet eine Realität, die undurchdringlich geworden ist, immun gegen den Wunsch, die Menschen zu versammeln, so dass sie kaum aufgerufen werden, zu gedenken oder dankbar zu sein, das heißt, wirklich sie selbst zu sein in der Verbindung und der gegenseitigen Anerkennung. Die Wissenschaft vermag, mit ihrem entomologischen Blick, der nur die Fragmente sieht, nichts anderes, als das zu trennen
43 BALTHASAR, Theologik. Bd. I, 54.
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und zu abstrahieren, was im Leben zusammen-gewachsen, konkret und ursprünglich vereint ist: Sie sieht die Dinge nicht anhand einer Form, sie sieht nicht, wie sie entstehen und wieder entstehen, in der Spannung zur Idee. Das Vorherrschen einer kalkulierenden, anästhetischen und abstrakten Logik erscheint Balthasar – der mit Dionysus dem Areopagiten und Plotin, mit Goethe, Schelling, Guardini und Barth44 aufgewachsen ist – als die größte Gefahr: Der gleichmacherischen Rationalisierung der Natur zu widerstehen, bedeutet nämlich für den Dichter wie für den Theologen, «zugleich für den echten Kosmos und für Gott» kämpfen: «beide stehen und fallen zusammen»45. Es ist gewiss nicht möglich, das Bedingte vom Unbedingten abzuleiten, und ebenso wenig, einfach von der Erfassung der Spuren der Welt zum göttlichen Sein überzugehen. Vielleicht müsste man, um mehr zu sagen, den gefährlichen Ausfall überschreiten, der von Spinoza bis zu Schellings Naturphilosophie reicht, sollte sich dabei aber, wie Balthasar auf seine Weise nicht versäumt ins Gedächtnis zu rufen, immer bewusst sein, welchen Preis diese Offenheit der christlichen Theologie auferlegt. An diesem Punkt könnte man sich der Terminologie Spinozas bedienen: Das Fragment ist Ausdruck des Ganzen, so wie das Ganze sich im Fragment anbietet und verbirgt, ohne sich je in ihm zu erschöpfen. Auf den Spuren von Leibniz und Schelling stellt Balthasar fest, dass das Einzelne Spiegel des Universums ist, Anzeichen einer Fruchtbarkeit – eines inneren Bewegers – von dem die Wissenschaft nur die Oberfläche, die Außenseite sieht. Schellings Intention, die mit dem entsprechenden Abstand auch Balthasars Ästhetik und ihre spekulative Betrachtung der Wirklichkeit zu beleben scheint, ist die Rückführung der Natur zum Ideal, ohne deswegen ihre Unbedingtheit zu leugnen: In beiden verbindet sich der Willen, die objektivistische Vision der Welt niederzuringen, die die Elemente als bewegungslos und die Natur als bloße Quelle, aus der man schöpfen kann, ansieht, mit der Annahme eines ‹höheren Empirismus›, durch den in der Wirklichkeit, die nie zu einem Gegenstand herabgesetzt werden kann, immer «eine verborgene Spur der Freiheit»46 verbleibt. Es handelt sich nicht um eine romantische – idealistische oder sentimentale – Verdopplung der Tatsachen. In einer Welt, die nunmehr gesättigt ist mit Dingen, vollkommen manipulierbar ist, da ihr das Mysterium gänzlich fehlt, die von einer ersten und zweiten Aufklärung durchbohrt wurde, möchte Balthasar die Dichte der Erfahrung des Seins in der konkreten Manifestation seines unfassbaren plus, auf einer Linie mit dem intellectus fidei Anselms wieder herstellen: in jenem Staunen angesichts des Id quo maius cogitari nequit, das es uns zumindest erlaubt, nichts Endliches zu verabsolutie-
44 Im ersten Band der Dogmatik zeigt Barth auch für die Theologie die Gefahr auf, die Dimension des Mysteriums zu verlieren (BARTH, Karl, Kirchliche Dogmatik I/2, Zürich 1938, 136ff, 187ff, 520ff), ebenso sein Schüler Jüngel [Vgl. JÜNGEL, Eberhard, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 2011 (7. Aufl.)] 45 BALTHASAR, Herrlichkeit. Bd. III/1, Teil 2, 715. 46 SCHELLING, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, in: SW III, 11 ff.
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ren – nicht einmal den Geist versus den Körper: «Genug, wenn wir wissen, daß kein Endliches, auch Verwirklichtes, sich selber hingestellt hat»47. Balthasar interpretiert so die Position des Thomas von Aquin neu, um den gegensätzlichen Extremen zu entgehen: des reinen Bildes auf der einen Seite – das immanent ist und jeden möglichen Sinn in sich konzentriert – und des reinen Begriffes auf der anderen – in dem die sinnlich wahrnehmbare Erfahrung eine Läuterung durchlaufen muss, um zu einer perfekten rationalen Evidenz zu gelangen: In Boethium de Trinitate stellt Thomas nämlich nicht nur intelligibilia per sensibilia und nicht nur intelligibilia in sensibilibus, sondern auch intelligibilia intra sensibilia fest. Diese Position zeigt auf, dass das Wahrnehmbare nicht nur das durch ist, das notwendig ist, um die intelligible Welt zu erreichen, sondern auch das intra, das heißt, ein umschriebener Raum, in dem allein die Kenntnis der intelligiblen Welt tatsächlich möglich ist. Nur eine gewisse ‹Bekenntnis› der Dinge führt zu ihr. Es gibt für Balthasar, wie für Thomas von Aquin, keine intuitive, direkte und positive Kenntnis des Intelligiblen, sie ist im Gegenteil stets indirekt, diskursiv, negativ: Sie bewegt sich nämlich entlang des Horizonts der wahrnehmbaren Welt und schaut durch alle Phänomene klar durch, in einer letztlich apophatischen Position. «Unsere gesamte Gotteserkenntnis bleibt streng beschlossen auf die Deutung weltlicher Zeichen»48. In den Dingen der Schöpfung setzt sich kraft der Immanenz von Gottes Herrlichkeit, die aus ihnen ausstrahlt, «eine Verheißung in sie, die eine unmittelbare Ankündigung Gottes ist. Gott spricht aus ihnen, Gott zieht den Betrachtenden durch sie zu sich, Gott lehnt sich gleichsam aus diesen Augen der Welt heraus, um den von der Schönheit der Dinge Verzückten unmittelbar anzuschauen»49. In Gott – und nur in Gottes Übermaß – findet sich das gesamte Maß der existierenden Welt, die sich uns nur in Schattierungen zeigt: Nur in Ihm gibt es völlige Anpassung, vollkommenes Wissen um die Essenz aller Dinge. Bei Gott ist die Wirklichkeit ent-hüllt. Angesichts dieses Bewusstseins, erkennt sich der Blick des erforschenden Subjekts als verkürzt, ohnmächtig, unvollkommen, denn er spürt, dass die Dinge immer mehr sind, als sie erscheinen. «Es muß, um die Dinge objektiv zu sehen, wie sie in Wahrheit sind, lernen und versuchen, sie so zu sehen, wie sie vor Gott, für Gott, in Gott sind»50. Balthasar definiert diese – transzendentale – innere Dichte des Seins als seine Intimität: «Es gibt kein Seiendes, das nicht über eine wenn noch so angedeutete, rudimentäre Innerlichkeit verfügte»51. Um es mit Weber zu sagen, ist keine Entzauberung, keine Rationalisierung der Welt möglich: Keine wissenschaftliche Forschung wird nämlich jemals zu diesem warmen Kern des Seins vordringen, denn die Wirklichkeit wird immer verzaubert, enthüllt und gleichzeitig verhüllt sein, und notwendigerweise immer reicher und komplexer als jedes mögliche Wissen. Das ‹Innere› ist für
47 48 49 50 51
BALTHASAR, Epilog, 41. BALTHASAR, Theologik. Bd. I, 265. Ebd., 268. Ebd., 56. Ebd., 84.
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Balthasar von einem ‹undurchdringlichen› Schleier umhüllt und das Subjekt ausersehen, die lebendigen Wirklichkeiten «wie reine Wunder»52 zu sehen. Dieses Mysteriums des Seins, «das der Schonung bedarf»53, verhindert, dass es einzig kontrollierbare und objektivierbare Zustände ohne Unterscheidungen gibt: Es gibt keinen Signifikant, der das Entstehen des Seins fixieren und keinen Blick, der seine Manifestation umfassen könnte. Balthasars Phänomenologie der Schöpfung möchte von der «uns bekannten und begegnenden Wahrheit» ausgehen: Diese Methode ist nach Ansicht des Theologen weniger voreingenommen als die, welche a priori die Möglichkeit einer göttlichen Offenbarung ausschließt. Dieser Weg beabsichtigt jedoch nicht, das metaphysische Denken einem irrationalistischen Ausgang zuzuführen: Das Erstaunen der Vernunft54, die Wirkung des unerwarteten, überschüssigen Entstehens des Seins, dem gegenüber das Subjekt einbezogen, aus dem Gleichgewicht, ex-statisch55 ist, entflammt angesichts einer Welt von offenbarenden Zeichen und Formen, deren Wahrheit nicht einfach in/aus der Welt ist, sondern auf einen anderen Horizont verweist. «Wurzelt sich doch das Übernatürliche in die innersten Strukturen des Seins ein, um sie wie ein Sauerteig zu durchsäuern, wie ein Hauch und allgegenwärtiger Duft zu durchwehen. Es ist nicht nur unmöglich, es wäre auch Torheit, diesen Duft der übernatürlichen Wahrheit aus der philosophischen Untersuchung mit allen Mitteln verbannen und ausmerzen zu wollen; viel zu stark ist die Übernatur in der Natur imprägniert, als daß sich diese noch völlig in ihrem Reinzustand (natura pura) rekonstruieren ließe»56.
In dieser Welt des Empfangens statt Verschließens gibt es keine neutralen, eindimensionalen Räume: Alles ist hieroglyphisch, wie bei Plotin, Symbol in Bewegung, als werde es von einer irreduziblen Form, einer immanenten Differenz, einer Wahrheit, die alles umfasst, durchlaufen. Vor diesem Horizont lernt das wissende Subjekt, das
52 Ebd., 87. 53 Ebd., 107. 54 R. Vignolo betrachtet das Staunen als ‹ekstatische Erfahrung› und Leitmotiv des philosophischen Gefüges der Theologie Balthasars, als «roten Faden, der nicht nur die beiden bedeutendsten spekulativen Beiträge, zwischen denen fast zwanzig Jahre liegen, historisch vereint, sondern sich auch als theoretisches Basisprinzip für seine Fundamentaltheologie und seinen ästhetischen Ansatz darbietet» (VIGNOLO, Roberto, Hans Urs von Balthasar: Estetica e singolarità, Milano 1982). Die Kategorie des Staunens bewahrt sowohl die Autonomie der philosophischen Forschung wie auch ihre Öffnung hin zu ihrer ‹theologischen Transposition›. Diese Überlegung erscheint sehr hilfreich für unsere Erkundung: Schon Luigi Pareyson hat hervorgehoben, dass der Übergang von der negativen zur positiven Philosophie bei Schelling – ein Autor, der unserer Meinung nach von großer Bedeutung für den Schweizer Theologen ist – durch die ekstatische und erstaunte Vernunft angesichts des reinen Existierenden möglich wurde. [Vgl. PAREYSON, Lo stupore della ragione in Schelling, in: «Informazione Filosofica», 4 (1991).] Während dieser Übergang bei Schelling alle Merkmale einer Wende zeigt, scheint es uns von Interesse, die Affinität des Hintergrunds und die mögliche Verbindung von Philosophie und Theologie zu bemerken, die Balthasar und Schelling in der Kategorie des Staunens feststellen. 55 Vgl. PAGAZZI, Cesare, La singolarità di Gesù come criterio di unità e differenza nella Chiesa, Milano 1997; SCOLA, Angelo, Hans Urs von Balthasar: uno stile teologico, Milano 1991, 29–45. 56 BALTHASAR, Theologik. Bd. I, 21.
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auf den Nachhall der Phänomene achtet, zu verstehen, dass alle Dinge ‹bedeuten›, und außerdem, dass man die Suche nach dem, was sie genau bedeuten, nicht forcieren soll. Der Anfang des von Balthasar hervorgehobenen ästhetischen Wegs ist einfach und radikal: Es handelt sich um den Weg, der im Wesentlichen imstande ist, «die Rede der Dinge, die sich aussprechen wollen, nicht zu unterbrechen»57.
7. Die Transzendentalen Ideen: Der Kampf mit dem Chaos Auch in Cacciaris Kommentar zu Walsers Der Spaziergang ist dieses Gefühl des zufälligen Wunders wahrzunehmen, das die Welt für den post-romantischen Wanderer [Deutsch im Original] bereithält. Indem er ‹Ja sagt› zu jedem Bild – des Lebens, der Natur, der Stille, des Todes – und den mannigfaltigen Eindrücken, Situationen, Begegnungen, begibt sich der Wanderer auf die Suche nach dem Ewigen im Zufall, das ihn auf seinem steinigen irdischen Weg in flüchtigen Momenten überrascht. Trotz seiner scheuen und ahnungslosen Aura beschwört auch Walsers Spaziergang die Erlösung, selbst in der desillusionierten Zeit der finis Austriae: «Er verlangt eine Suche, für die es kein Wort gibt. In einer Zeit des Nihilismus ist die ‹Herrlichkeit› der Dinge nur ein Blitz, der aufleuchtet und einen Augenblick lang ihre Zukunft durchzuckt»58. Genau deswegen – und Cacciari kann sich nicht weiter wagen – fragt die Erde nach Buße: das heißt, für das Unvermögen des Blicks einzuhalten, über die subtilen Präsenzen und momentanen Phasen hinauszusehen, die hingegen ‹mehr› anzeigen könnten. Es gibt kein Anzeichen von Transzendenz oder der Erfahrung von Ekstase in der profanen und zufälligen Erleuchtung, die den Wanderer Walsers überrascht wie ein feuchtes Fluidum, das die Formen einhüllt und auflöst. Vielleicht gibt es nur das beglückte und gefühlvolle Erstaunen ohne Angst angesichts einer Welt, die es anstelle des Nichts gibt. Balthasar gehört sicherlich nicht zu der Stimmung [Deutsch im Original] jener Zeit: Indem er in einem gewissen Sinne die ‹Sünde der Unempfänglichkeit› jedes Subjekts erkennt, bekräftigt er sein persönliches Ja zum Leben und der Zeit, und zwar über die Wirklichkeit der Formen. In Wahrheit der Welt spürt er am Ende des Abschnitts ‹Die Wahrheit als Geheimnis›, dass der einzige Weg, der es ihm erlaubt die mysteriöse Immanenz des Wahren zu nennen und zu vertiefen, die Doktrin der Transzendentalen ist: Angefangen bei der Evidenz des pulchrum, das sogleich das reine Aufglänzen des Wahren und des Guten ist, scheint er Balthasar «den geeignetsten Zugang zu den Mysterien christlicher Theologie»59. Seiner Ansicht nach hat die Trennung der einzelnen Transzendentalen allmählich zu ihrer metaphysischen Nebensächlichkeit geführt:
57 Ebd., 119. 58 CACCIARI, Dallo Steinhof. Prospettive viennesi del primo Novecento, 192. 59 BALTHASAR, Epilog, 37.
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«Es ist eine Frucht des modernen Rationalismus, der das Feld der Wahrheit auf ein vermeintlich isolierbares rein Theoretisches einzuengen trachtete, daß das Gebiet des Guten und des Schönen dadurch außerhalb des erkenntnismäßig Nachprüfbaren geriet und einer wie immer gearteten subjektiven Willkür oder doch privaten Glaubens- und Geschmackswelt überlassen wurde»60.
Die einheitliche Vision der Wirklichkeit wurde ist auf diese Weise zerrissen, zerbrochen, fremd geworden: Der Weg der Reflexion ist so, um es mit Hegel zu sagen, bei seiner definitiven Entleerung angelangt. Ihr wohnen wir in der Tat heute bei: Die daraus folgende Verbreitung der Signifikate, die Fragmentierung der Geschichten und die unkontrollierte Verbreitung von Bildern61, die in der heutigen Zeit eng mit der virtuellen Umwandlung der Welt verbunden sind, stellen in gewisser Weise den von Hegel in seiner Logik) angekündigten aufklärerischen Bogen) dar, den die Vernunft beschreibt, um in unserer Zeit die letzte Maske fallen zu lassen. Balthasars Wunsch, wieder einen lichterfüllten Blick auf die Welt zu erlangen, wählt also den Weg der Transzendentalen und stellt sich dem leblosen Streit grundlegender Dimensionen der Erfahrung entgegen. Ohne Zweifel hat der in Herrlichkeit ausgearbeitete spekulative Weg diese Richtung vorbereitet, von dem Bedürfnis beseelt, das Wahre als Einheit zu denken, von einer Form ausgehend, einer grundlegenden Struktur des Seins, im Sinne von Öffnung und Geschenk, in der die Beziehung von endlich und unendlich, von besonders und universal ihre radikale Evidenz findet. Das sinnlich Wahrnehmbare stellt also auf dem Weg des Thomas von Aquin ein absolut verbindliches Prinzip dar, das gleichzeitig ein Prinzip ist, mit dem man weiter, hin zu, über hinaus [Deutsch im Original] geht. Auf der anderen Seite geht es nicht darum, das Ästhetische in seinem vorübergehenden Wesenszug (im Sinne Walsers) aufzunehmen: Die philosophische und religiöse Rezeption der Kritik Kierkegaards – die ihren Beitrag durch das dem Vorbild des gebildeten und leichtlebigen Libertin nachempfundene ‹ästhetischen Stadium› der Existenz geleistet hat – und die philosophische Ausarbeitung Blondels gehen in der Tat von der ästhetischen Lebenseinstellung aus, um sie allerdings, mittels der Aufdeckung der Widersprüche, hin zur religiösen (und christlichen) Option zu entwickeln. Es geht auf der anderen Seite allerdings auch nicht um die Erhöhung des Ästhetischen – auf einer Linie mit der Philosophie der romantischen Moderne – hin zu einer Transzendenz des Lebens, die sich vom logischen und ethischen Moment emanzipiert (Schiller, Goethe) und schließlich auch vom religiösen (Burckhardt, Nietzsche). Für Balthasar ist das Ästhetische nicht Übergang, sondern Diagonale, die das Logische und das Ethische verbindet. Es ist vor allem der Idealismus Schellings, in dem sich eine Ästhetik abzeichnet, die «wie keine andere in der Neuzeit»62 ist, der deutlich in Balthasars Auffassung anklingt. Gewiss nicht als ‹Philosophie der Herrlichkeit›, sondern als ‹Philosophie der Kunst›: 60 BALTHASAR, Theologik. Bd. I, 19. 61 Vgl. SEQUERI, Introduzione, in: ID. (Hg.), Esteriorità di Dio. La fede nell’epoca della «perdita del mondo», Milano 2010, VIII. 62 BALTHASAR, Herrlichkeit. Bd. III/1, Teil 2, 898.
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«Und gerade die ästhetische Indifferenz zwischen Unendlich und Endlich, zwischen Gott, der in Welt erscheint, Welt, die auf Gott durchsichtig ist, wird für Schelling zum eigentlichen Schlüssel des Religiösen, denn die Differenz in der Indifferenz erlaubt die Konstruktion der geschichtlichen Religion: Ästhetik als Erscheinen des Unendlichen in der endlichen Gestalt (oder Natur) ist ‹Mythologie›, vorchristliche Religion; Ästhetik als Hineinbildung des Endlichen in das Unendliche ist ‹Offenbarung›, christliche Religion (und religiöse Philosophie»63.
In Schellings System, und ebenso in Hegels, erreicht das Schöne – nach seiner Auslöschung in der Neuzeit und bei Kant – wieder eine transzendentale Dimension, so dass Wahrheit und Schönheit wechselseitig gültige Modalitäten des Absoluten werden. Zwischen Endlichem und Unendlichen entsteht jedoch eine Art ästhetische Indifferenz: Gott erscheint in der Welt, die Welt ist Gottes Transparenz. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Balthasar eine Präzisierung vornimmt, die eine wesentliche Verbindlichkeit aufzeigt: Das aktuelle Interesse der Metaphysik für die Verbindung von Ästhetik und Religion, die Schelling in seinem opus postumum ausarbeitet, erscheint ihm nämlich wie eine Rekapitulation, eine Wiederaufnahme dessen, was er im ersten Band von Herrlichkeit (‹Schau der Gestalt›) behandelt hat: Ebenso betrachtet er Schellings ästhetischen Gesichtspunkt als eine ‹idealistische Darlegung› der wesentlichen Feststellung seines eigenen theologischen Programms. Dieses Interesse stellt für den Theologen ein wahres kairós dar, das ihn dazu verpflichtet, die Unterscheidung zwischen einer ‹Aussöhnung› im christlichen Sinne und einer philosophischen ‹Vermittlung› hin zur Identität zu denken. Zu diesem Zweck reicht es seiner Ansicht nicht aus – und ist sogar irreleitend – sich einer einfachen theologischen Theorie des Ästhetischen zuzuwenden. Balthasar vertritt hingegen die Auffassung, dass es der metaphysischen Radikalisierung einer theologischen Ästhetik der Offenbarung bedürfe. In seinen abschließenden Betrachtungen zum Thema der Beziehung zwischen philosophischer Ästhetik und Metaphysik, weist Balthasar auf den engen Zusammenhang zur Theologie hin. In erster Linie stellt er fest, dass das Schöne mit jenem ‹Zentrum zwischen Geist und Sensibilität› verbunden ist, das weder durch eine Wissenschaft der rationalen Harmonie des Gegenstands noch durch die reine Abweichung des subjektiven Genies in seiner ursprünglichen und kreativen Intuition erfasst werden kann. Der Verbindungspunkt findet sich im ‹Strahlen der Gestalt›, die sich supra-intentional in der ‹Weisheit des Herzens› manifestiert. In zweiter Linie ist die Schönheit Anziehungspunkt eines durch eine liebenswert triebhafte Charis verwandelten Eros, der den Abgrund der Liebe als Ursprung und Bestimmung eines jeden Dings erkennen lässt. Also weder l’art pour l’art noch das rational funktionelle Produkt: Die kreative Abweichung muss sich wieder mit der Instanz der Schöpfung zusammenfügen. Die ästhetisch und künstlerisch unerklärliche Schönheit jedoch beginnt dort zu erscheinen, wo sich eine Art ‹Schwebezustand› jedes Dings im Sein öffnet, wo es eben nicht einmal
63 Ebd., 899.
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III. Die Herkunft von Agápe
die Notwendigkeit der Notwendigkeit gibt und auch keine leere Freiheit der Freiheit. Denn es handelt sich um das Erscheinen der Herrlichkeit.
8. Die theologische Diagonale der Ästhetik «Ein Moment der Gnade liegt in aller Schönheit»64: In der Sphäre der harmonischen weltlichen Erfahrung, Ausdruck eines tiefen Einklangs – der für den Theologen seinen reinsten Ausdruck in der Symphonie findet – leuchtet die Spur des innergöttlichen Lebens und jenes ursprünglichen Hintergrunds auf, der jedes Ding umfasst. «Der Einstieg durch die Ästhetik mag ungewohnt, willkürlich scheinen, er ist nichtsdestoweniger […] der einzig sachgerechte. Nur er kann das Göttliche als solches in den Blick bekommen, ohne es vorweg durch eine Zweckbeziehung auf den Kosmos (der unvollendet nach dem Göttlichem Abschluß ruft) oder auf den Menschen (der noch unvollendbarer und in Sünde verloren einen Retter fordert) zu verunklären»65.
Herrlichkeit stellt in erster Linie einen Versuch dar, eine christliche Theologie im Lichte des dritten transzendentalen Prinzips (das Schöne, nach dem Wahren und dem Guten) auszuarbeiten, das einst die Theologie stark prägte und dessen Verdrängung nach Ansicht des Theologen einen großen Verlust für die Vitalität des christlichen Denkens in seiner Gesamtheit darstellt. Es handelt sich um ein Vorgehen, das sich der Tendenz entgegenstellt, die das Schöne «auf ein unbefahrenes Nebengeleise»66 abgeschoben hat. Balthasar beabsichtigt sie wieder auf die Hauptstraße zurückzuholen, aber nicht einfach als Ersatz der Artikulation des logischen und ethischen Moments der Theologie: Seiner Ansicht nach muss sozusagen die Gleichwertigkeit des Ästhetischen rehabilitiert werden, auch in Hinsicht der notwendigen Vollkommenheit des theologischen Wissensgebäudes. In zweiter Linie erkennt Balthasar in diesem Standpunkt den fruchtbarsten Weg zum Übergang einer Epoche, die, im Zuge der Erneuerung des antiken Wissens, aufgerufen ist, «mehr als Renaissance»67 zu sein, als Gegenmittel zu einer «für das Mysterium des Seins blindgewordenen Scholastik»68. Die Schwächung des Ästhetischen – der Bedeutung, die es versucht hat, in der fortgeschrittenen Moderne zu erlangen, zum Trotz – hat in der Tat seine Wirkung im Laufe der Zeit entfaltet und auch die erforderliche Konsistenz des Erkenntnismoments und des praktischen Wissens des Glaubens stark beeinflusst. Der Verlust des Prinzips der Anziehungskraft des Guten, durch die verbreitete zielgerichtete und berechnende Rationalität, entspricht in der heutigen Epoche einem fortschreitenden Desinteresse an der Ethik, die in der Tat vor
64 65 66 67 68
BALTHASAR, Epilog, 51. BALTHASAR, Mein Werk, 63. BALTHASAR, Herrlichkeit. Bd. I, 9. BALTHASAR, Herrlichkeit. Bd. III/1, Teil 2, 568. Ebd., 569.
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dem Hintergrund einer rein auf Effizienz gerichteten, dem Sinn fremden Vernunft nicht gemeinsam gedacht und entwickelt werden kann. Die Natur des Guten, und mehr noch die Wahrheit der göttlichen Offenbarung des höchsten Sinnes, lassen sich nämlich weder in die Anlage einer abstrakten funktionellen Kohärenz noch in das intellektualistische Prinzip der Anpassung des Intellekts an das Ding einfügen. In Wirklichkeit wird im Desinteresse eines Gefühls und einer ästhetischen Wertschätzung die radikale Antiphrase zur strategischen und formalistischen Vernunft der ‹effizienten Epoche› erstellt; und Metaphysik und Ethik können gerade in der Schönheit und ihrer Beziehungsenergie ihre Verbindung finden. Drittens wählt Balthasar den Weg der Schönheit, der einen Bogen zwischen der kosmologischen Wahrheit und der anthropologischen Güte spannt, das Reale an seine Form, die Kontingenz an die Ewigkeit, die historische Dimension und die Epiphanie ihrer tiefsten Wurzel, den objektiven Pol des Ereignisses und den subjektiven Pol der ursprünglichen Einheit des Bewusstseins bindet. Der kosmologische Weg und der anthropologisch-transzendentale Weg werden auf diese Weise von der Diagonale der Ästhetik durchquert, die für Balthasar als einzige imstande ist, das factum der Offenbarung in sich zu bergen, das heißt, die Objektivität der Form, in der sich Gottes Werk manifestiert, zu respektieren und gleichzeitig ursprünglich alle Potenzen der Seele zusammenzurufen. Beim ästhetischen Weg lebt die Form der Schönheit eine konstitutive Verbindung mit dem Grund, so dass sich die Wahrheit gleichzeitig an der Oberfläche und in der Tiefe zeigt, im Lichte einer ursprünglichen Struktur des Seins, das in seiner Essenz kommunikativ ist69. Wenn die Schönheit den theologischen Diskurs eröffnet, stellt sie einen möglichen Weg zur Nennung Gottes dar, der durch die Überschreitung der klassischen Logik des Zurückgehens zum Fondamentum inconcussum oder zur primären Ursache aller Dinge das Denken dem eigentlichen Quell des Lebens zuwendet, dessen Grund abgründig ist, da er der Kommunikation ohne Grund, ohne Ursache, ohne Notwendigkeit entspricht. Deswegen kann man feststellen, dass «Balthasars Philosophie, ausdrücklich und immer wieder betont, Seinsphilosophie ist»70, die auf Objektivität, die Herrlichkeit eines Actus essendi gerichtet ist, das sich ent-hüllt indem es sich zum Geschenk macht. Das Existierende ist folglich, in seiner Beteiligung am Sein und dem absoluten Wert seiner Besonderheit, in ein Mysterium gehüllt, das «die grundlegende Voraussetzung
69 Sequeri bemerkt: «Balthasars These ist in ihrer vollständigen Formulierung bekannt und in ihrem Kern ganz einfach: Die Einnahme des ästhetischen Standpunkts garantiert der Theologie das Primat des transzendenten Objekts (die Offenbarung Gottes), die Erfahrungs-Form seiner Auffassung (die Betrachtung der Einzigartigkeit Jesu Christi), des Verweises auf die ursprüngliche Einheit des Bewusstseins (dem die Möglichkeit einer Phänomenologie der Wahrheit entspricht)» [SEQUERI, La Musa che è la Grazia. Il musicale e il teologico nei ‹prolegomeni› all’estetica teologica di H. U. von Balthasar, in «Teologia» 15 (1990), 105]. 70 HENRICI, Zur Philosophie Hans Urs von Balthasars, in LEHMANN, Karl, KASPER, Walter (Hgg.), Hans Urs von Balthasar. Gestalt und Werk, Köln 1989, 256.
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III. Die Herkunft von Agápe
dafür» ist, «daß die Offenbarung der Dinge und ihre Erkenntnis nicht sofort den Charakter unbezwinglicher Langweile erhält»71. Die Schönheit ist, in ihrer Zirkularität mit den anderen Transzendentalen Prinzipien der Name dieser indisponiblen Wahrheit, «die unerklärliche aktive Strahlung des Seins-Mittelpunktes in die Ausdrucksfläche des Bildes hinein, eine Strahlung, die im Bilde selber sich abbildet und ihm eine Einheit, eine Fülle und Tiefe verleiht, die mehr ist als das, was das Bild als solches enthält. Sie ist schließlich das, was der Wahrheit den bleibenden Charakter einer Gnade gibt»72.
Die ganze Welt der uns umgebenden Bilder wird so, in der Endlichkeit der Bestimmungen, in der Einzigartigkeit der Fälle, ein «einziges Feld von Bedeutungen»73, das unmöglich rigoros zu konzeptualisieren ist, da die aktive Ausstrahlung des Seins in die unterschiedlichen phänomenalen Äußerungen sich keinerlei finaler Wiederzusammensetzung unterwirft. Das, was als Qualität der Offenbarung in den Dingen erscheint, ist immer ein neuer Zug von Schönheit: «Bei jeder neuen Begegnung mit ihm ist es ganz und heil und widersteht jeder Analyse»74. Wenn man Hegels Aufforderung folgt, muss man zu-Grunde-gehen [Deutsch im Original]. Balthasar stellt in der Terminologie Schellings fest, dass keine Erkundung und Analyse jemals diesen «unbegreiflichen Rest»75 werden klären können. Es gibt immer einen «nie aufgehenden Rest»76, der jeder Aneignung widersteht, jeder definitiven Aussöhnung von Denken, Sprache und Wahrheit des Seins, jeder finalen Versöhnung von Endlichem und Unendlichem. Man kann also mit Walter Benjamin sagen, dass die Schönheit in ihrer unenthüllbaren Essenz verbleibt, bewahrt in ihrem Geheimnis [Deutsch im Original], so wie die Wahrheit, von einem göttlich notwendigen Schleier, damit das Schöne nicht entweiche77. Es ist die Verhülltheit der Anmut, die jedes Ding davor bewahrt, unvermeidlich in die Bedeutungslosigkeit und die Erscheinungslosigkeit zu fallen. Die Frage der ursprünglichen – und originalen – Eröffnung der göttlichen Manifestation des Schönen, als artikulierte Transparenz der gloria Dei, ist es, die ihre unübertreffliche Konzentration in der Gestalt Christi erreicht. Die beiden Gestalten lassen sich weder aus einer allgemeinen Theorie des Seins ableiten, noch ‹von unten› denken, als supra-eminente Verwirklichung irgendeiner Offenbarung der Schönheit in einer innerweltlichen Form. Dennoch denkt Balthasar nicht an eine Alternative. Das Transzendentale des pulchrum, das untrennbar und wesentlich mit jedem wirklichen Sein verbunden ist, zeigt die Ausstrahlung der Schönheit/göttlichen Herrlichkeit, die sich dem gläubigen Menschen in dieser Ausdruckseinheit, dieser zusammen71 72 73 74 75 76
BALTHASAR, Theologik. Bd. I, 156. Ebd. Ebd., 154. Ebd., 155. Ebd., 157. ŽIŽEK, Der nie aufgehende Rest. Ein Versuch über Schelling und die damit zusammenhängenden Gegenstände, Wien 1996. 77 Vgl. BENJAMIN, Walter, Angelus Novus, Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt am Main 1988.
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gezogenen Darstellung (Gestalt [Deutsch im Original]), welche das Absolute in der Welt spürbar macht, gütig darbietet. Aus dem allgemeinen Zusammenhang können wir erahnen, dass ‹Gestalt› nicht einfach die intelligible Essenz und ebenso wenig die sinnlich wahrnehmbare Essenz ist: Für Balthasar geht es nicht darum, ein Bild zu offenbaren, eine Darstellung zu bieten oder eine Essenz zu definieren. Die Gestalt ist jene plastische Figur, jene Einheit der Wirklichkeit, die sich mit dem Ich in der Tiefe ihrer Manifestation, in dem ‹spirituellen Wissen› trifft, in welchem die Bilder zu phänomenalen, dynamischen, hieroglyphischen Gestalten werden, in denen sich die Essenz konzentriert. Genau in dieser Erfahrung der Gestalt-Kommunikation verwirklicht sich für den Theologen die wahre menschliche Bildung [Deutsch im Original], im inner-weltlichen Schauen durch die Phänomene. Wahrnehmung bedeutet die Bereitschaft die schönen Dinge zu sehen, die transparent existieren, in ihrem Kontakt mit dem Göttlichen, ohne dadurch zu einer visio Gottes zu gelangen: Der ästhetische Weg bleibt für Balthasar ein unübertrefflicher antignostischer Zugang, auch dort, wo der katalogische Weg des Grunds ihn im Zeichen der trinitarischen Wahrheit, deren Spiegelbild jedes Seiende ist, übersteigt.
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1. Göttlicher Logos und Ästhetik der Gestalt Die Form erstrahlt in ihrer Absolutheit und Irreduzibilität sowohl in den Erwartungen des Subjekts als auch in der objektivierbaren Evidenz der Manifestation: Das Phänomen ist in der Tat von sich aus imstande, sich universell verständlich zu machen, dank der ihm innewohnenden Fähigkeit zur Ausstrahlung, ohne Einschränkungen durch subjektive vorgefasste Bedingungen. Gleichzeitig handelt es sich zweifellos nicht um ein statisches, klares Licht, das sich ohne Einbeziehung der subjektiven Freiheit und Anerkennung unumschränkt durchsetzt. Auf der anderen Seite bleibt als ausschlaggebender Punkt die Tatsache bestehen, dass die Gestalt, die uns historisch begegnet, aus sich selbst heraus das ‹entscheidende Licht› ausstrahlt und in sich überzeugend ist. Das größte Problem ist deswegen für Balthasar folgendes: «wie denn das Absolute sich – endgültig – in einer ephemeren endlichen Lebensgestalt zu vergegenwärtigen vermag»78. Während das Subjekt also auf der einen Seite aufgerufen ist, sich der Wahrnehmung der Form zu öffnen, die in der Realität entsteht, ist es offensichtlich, dass der Theologe vor allem jeden Rückfall in die Metaphysik vermeiden will. Nicht der subjektive, synthetische Pol ist die Bedingung für die Möglichkeit von Gestalt [Deutsch im Original]: Jede Form des Kantianismus, so sehr sie auch existentiell konzipiert sein mag, verfehlt das Phänomen und verfälscht es. Hingegen ist es die Form, die das Subjekt einhüllt, wie eine Gnade, die ihm vorausgeht und es unendlich übersteigt: «Das Gnadenlicht […] kompensiert nicht das Ungenügen der ‹wissenschaftlichen› Argumente, es schenkt vielmehr die Sicht, proportioniert das Auge dem Gezeigten»79. Folglich dürfen die subjektiven Bedingungen der Wahrnehmung – jener Wahrnehmung [Deutsch im Original] – so weit und unabdingbar sie auch sein mögen, «nie und nimmer in die Konstitution der objektiven Evidenz des Gegenstandes miteingreifen oder diese einfach bedingen und damit ersetzen»80. Der im ersten Band von Herrlichkeit erläuterte Ansatz zeigt auf, wie sich aufgrund der einfachen Tatsache, dass Gott Mensch geworden ist, eine Übereinstimmung zwischen Gott und den universalen Formen des Denkens und Wahrnehmens eines jeden lebenden Menschen ergeben hat. Man könnte auch, vom ‹Körper der Offenbarung› sprechen, wie unser Theologe feststellt, in Anspielung auf den neutestamentarischen Gebrauch: Es ist der somatikos, «denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig» (Kol 2,9), das Bild des Tempels, in der die Herrlichkeit Gottes ihr Zelt auf-
78 BALTHASAR, Epilog, 73. 79 BALTHASAR, Herrlichkeit. Bd. I, 169. 80 Ebd., 447.
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II. Die Herkunft von Agápe
schlägt, das Jesus auf sich selbst bezieht (Joh 2,21), oder die Wirklichkeit der Kirche, die sein Leib ist (Eph 1,23; Kol 1,18.24). Mit der gebührenden Besonnenheit, sollten allerdings diese Formulierungen für Balthasar nicht einfach in einem übertragenen Sinne aufgefasst werden, ist doch der Leib Christi der wesentliche Punkt der Vereinigung aller Dinge im Universum (Eph 4,16)81. Auf jeden Fall trügen die Transzendentalen, selbst mit ihrer immanenten Anwesenheit in den Essenzen und Strukturen aller Seienden «etwas von der Freiheit und der Geheimnistiefe des Offenbarungsentschlusses Gottes» an sich. «Und weil die Schöpfung für Gott die Inchoation seiner Selbsthingabe an die Geschöpfte sein sollte, behält das geschöpfliche Sein als solches den Charakter des Inchoativen»82. Durch die Gestalt [Deutsch im Original] also wird das Subjekt in das Lebens des Seins eingeführt, in seine Intimität, in eine Polarität von Transzendenz und Immanenz, «wo in verschiedenen Graden der Deutlichkeit je das Ganze des Seins am einzelnen Seienden aufleuchtet»83. Die metaphysische Diagonale des Lichts, des Bilds und der Vision, die offenbarender met-hodos einer Transparenz des Seins durch alle Phänomene, einer Selbstmitteilung des abgründigen Mysteriums des Wesens aus den Wesen der Welt wird, soll also sowohl das Primat der Offenbarung in einem nicht rationalistischen oder doktrinalistischen Sinne wie die Erfahrungsform ihrer Wahrnehmung und die subjektive Evidenz des Glaubens garantieren, als sich umarmendes Wesen, als Sich-überwältigenLassen, das die empfänglichsten Seiten des Bewusstseins erklingen lässt. Balthasars Formulierung, die stets das offenbarende Ereignis vor Augen hat, trifft auf zentrale Fragen und Kategorien der phänomenologischen Forschung – Husserls vor allem –, angefangen bei der Beziehung Subjekt – Objekt oder dem Verweis auf die Frage der passiven Form der sogenannten anti-prädikativen Auffassung des Gegebenen84. Wie üblich setzt sich Balthasar, trotz der offensichtlichen Affinität der dem theologischen Gebrauch der Kategorien von Wahrnehmung und Evidenz innewohnenden Problematik, nicht direkt mit der phänomenologischen Problematik des Gegeben-Seins und seiner Auffassung im Geflecht von eidos und Idealität auseinander. Die Gründe für diese theologische Autonomie sind im Allgemeinen ausdrücklich genannt. Der theologische Blickwinkel ist direkt an der Thematik der Beziehung zwischen immanenter und transzendenter Dimension der christologisch-christlichen Gegebenheit interessiert, wo es eben um die Erkennbarkeit der Herrlichkeit Gottes in der weltlichen Gestalt geht. Balthasars Ästhetik enthüllt diesbezüglich ihre tieferen Intentionen, und zwar, das unübertreffliche Primat der Offenbarung und der Erkenntnis der Wahrheit zu überar-
81 Vgl. dazu NERI, Marcello, Il corpo di Dio. Dire Gesù nella cultura contemporanea, Bologna 2010. 82 BALTHASAR, Offenbarung und Schönheit, in: Verbum Caro, Einsiedeln 1990, 118. 83 BALTHASAR, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. Bd. III/1: Im Raum der Metaphysik: 1. Teil: Altertum, Einsieden 2009, 30. 84 «Die Eingestimmtsein des Fühlenden und Er-lebenden in das Sein liegt deshalb auch früher als die Unterscheidung von aktivem und passivem Erfahren » (BALTHASAR, Herrlichkeit. Bd. I, 235).
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beiten und zu behandeln: In Übereinstimmung mit Barth verbinden sich das absolute prius der objektiven Manifestation und die konstitutive Öffnung des Menschen am Ursprung in der Einsicht [Deutsch im Original] in ein Unsagbares, einer allerdings stets fungierenden Distanz, einer excedentia, die nicht weiter benannt werden kann85. Dieser geheimnisvolle Überschuss ist für Balthasar wie «die äußerste Füllung des weltlichen symbolischen Gefäßes mit dem Inhalt Gottes»86, demgegenüber jedes Ding transparent, empfänglich, einladend werden muss. Diese Philosophie der Herrlichkeit, die an ein Wesen denkt, das ‹eindringend zugrunde liegt›, zielt auf die Wahrung des Unterschieds in einer nicht-ontotheologischen Lesart, die imstande ist, das Vorhergehen der Freiheit Gottes zu hüten. «Der ontologische Unterschied stimmt in Balthasars Denken mit der Freiheit Gottes überein. Die Freiheit bezeichnet sogar den Unterschied, ist die Kategorie, die den Unterschied definiert und erhält»87. Die Gründung eines Wesens in Gott, das auf keinerlei Notwendigkeit zurückgeführt werden kann, verweist also auf eine extreme Freiheit, die weder dem Wesen selbst angehören könnte (da es nicht-subsistent ist), noch der existierenden Essenz (da diese jedes Mal schon in ihrer Wesentlichkeit gebildet ist). In Übereinstimmung mit Schelling, im Einklang vor allem mit seiner idealistischen Spätphilosophie, stellt Balthasar fest, dass es für das Geschöpf «keine anderen letzten Begründungen als die der souveränen Freiheit Gottes»88 gibt. Auf der anderen Seite birgt aber gerade diese radikale Läuterung des (noetischen und ethischen) Interesses, die die Freiheit der Manifestation garantiert, die Gefahr, die regressive Bedeutung des traditionellen Modells der Wahrheit als objektive Spiegelung zu reproduzieren. Die Anwendung des ästhetischen Registers besitzt zweifellos eine einzigartige und neue Potenzialität in Bezug auf die Vertretung des radikal offensichtlichen Charakters der Wahrheit und der theologischen Instanz in ihrer nicht ableitbaren Evidenz, die sich gemeinsam im wirksamen, ungeschuldeten und unerschöpflichen Merkmal der Offenbarung konzentrieren. Und gewiss findet sich in Balthasars Denken die Intention, dem gefühllosen und despotischen Bild der Wahrheit in ihrer klassischen Form (sei sie rationalistisch oder dogmatisch) entgegen zu treten. Die reine subjektive Empfänglichkeit im Namen eines ausschlaggebenden Charakters des Lichts, das in sich überzeugend ist, birgt auf der anderen Seite leicht die Gefahr, zu einem Begriff von Wahrheit zurückzukehren, der noch objektivistischer ist als jener der klassischen phänomenologisch-metaphysischen Struktur. Die Evidenz der Manifestation neigt nämlich dazu, den Raum des Bewusstseins auszufüllen, dessen Aufgabe es schließlich ist, ihr empfängliche Hülle und transparentes Gefäß zu sein und ihr sensori-
85 Balthasar stellt dieses Spannung zwischen manifestativer Evidenz, Suche nach Wahrheit und Unerschöpflichkeit des Wahren immer wieder fest: «.Es bleibt der ‹Überschwang› (excedens) und damit ‹die Unkenntnis›, und diesen Überschwang verstehen oder, was dasselbe ist, wissen, dass man Gott nicht kennt, ist das Letzte im menschlichen Wissen von Gott» (BALTHASAR, Theologik. Bd. II: Wahrheit Gottes, Einsiedeln 2010, 93–94). 86 BALTHASAR, Theologik. Bd. I, 267. 87 FALCONI, Metafisica della soglia, 117. 88 BALTHASAR, Theologik. Bd. I, 274.
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um klug zu verfeinern. So riskiert der Weg der Ästhetik den subjektiven Pol des Erkennens zu verringern, der letztlich der Exposition der Form, die sich frei und ungeschuldet entfaltet, unterworfen ist. Vielleicht stellt Balthasar aufgrund dieses Bewusstseins in der Theodramatik die Dialektik von endlicher und nicht endlicher Freiheit in den Mittelpunkt, in der sich die Beziehung zwischen Gott und der Welt, zwischen Freiheit und Wahrheit zeitlich ausdehnt in Bezug auf die christologische Gestalt und Begebenheit und ihre Folgen, die keinen abstrakten, zeitlosen philosophischen Prinzipien unterworfen können. Überdies eröffnet er in der Theologik den metaphysischen Diskurs für das «Geheimnis der Tiefe, der Innerlichkeit, der unschätzbaren Kostbarkeit des Seins»89, das sich selbst gegenüber Geheimnis und Wunder bleiben möchte. Eben diese Tiefe des Seins, die nicht objektivierbar ist, abgründig ist, und jedes Ding hinsichtlich seines Ursprungs und seiner Bestimmung am Leben hält, ist die Wirklichkeit der Liebe.
2. Die glaubhafte Liebe: Logik von agápe Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum für Balthasar die Einzigartigkeit Jesu Christi mit dem paradigmatischen Ort übereinstimmt, an dem die Form leuchtet und zutiefst erfasst wird. Nur im christologischen Ereignis wird nämlich eine angemessene Phänomenologie der Hingabe, durch die etwas von der Wahrheit aller Dinge zu erahnen ist, möglich und notwendig. Nur die Einfachheit des Blicks – das heißt, «eine Aufgeschlossenheit» und eine «entgegenkommende Zuwendung»90 zur Wahrheit – lässt sich wirklich von der gnädigen und supra-essentiellen Ausstrahlung des Geheimnisses der Liebe durchdringen, das sich definitiv genau in einem Mann offenbart hat, Jesus von Nazareth, ápax eph’ápax, in dem einmal und für immer der Zugang zur Wahrheit Gottes und des Menschen möglich wird. Balthasars Position in dieser Hinsicht ist klar: «Zu Gottes Glorie ward die Welt erschaffen, durch sie und zu ihr wird sie auch erlöst. Und nur wer, von einem Strahl dieser Glorie getroffen, einen anfangenden Sinn dafür hat, was unverzweckbare Liebe ist, kann der Anwesenheit der göttlichen Liebe in Jesus Christus ansichtig werden»91. Jedoch ist es gerade aufgrund ihrer Einzigartigkeit und Freiheit ohne Maß nicht möglich, der Gestalt Jesu [Deutsch im Original] einen Grund zu geben: Sie verweist einzig auf das Mysterium ihrer eigenen Existenz als Sohn, auf die Ankündigung und das Zeugnis ihrer historischen Mission, bis zum Schweigen des Ostermysteriums. Balthasar sieht in Jesus Christus den nicht ableitbaren Archetyp (die antiphrastische Un-Gestalt an ihrem Kreuze – Deutsch im Original)jeder anderen sichtbaren Form des Unsichtbaren. In ihm nehmen ein intimer Einklang, eine kontrakte Darstellung und eine definitive Einheit Gestalt an, die so ausdrucksvoll sind, dass sie 89 BALTHASAR, Theologik. Bd. I, 241. 90 Ebd., 116. 91 BALTHASAR, Mein Werk, Einsiedeln 1990, 62.
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die sublime Beziehung zwischen dem Mysterium Gottes und Mysterium der Welt verwirklichen, zum Heil aller. Die Verkörperung des Logos zieht den gesamten Kosmos der Seienden an: Der große Körper der Natur wurde protologisch und eschatologisch im Verbum-caro gedacht, das in sich das tiefste Geheimnis allen Seins birgt. Indem es die nicht transzendierbare Einzigartigkeit der Form Christi durchquert, erfährt jedes Phänomen einen unerlässlichen Sprung und ein unerwartetes Ungleichgewicht, wie in einer tiefen Verwandlung. Sein extremes, unvergleichliches Maß an Freiheit und Hingabe ist nämlich paradoxerweise die einzig mögliche Perspektive, in der die Dinge der Welt sich in ihrer ganzen Wahrheit und Fülle zeigen. Wie der slowenische Philosoph Slavoj Žižek sagen würde: das unmerkliche x, das die einmalige Einzigartigkeit Jesu Christi entscheidet, welche ihn ontologisch von jedem anderen Subjekt unterscheidet, und eine Kluft im Sein auftut, eine substantielle Faltung im gläubigen Subjekt produziert. Diese unmerkliche Abweichung, diese ontologische Vibration, die definitiv im Ecce homo erscheint, manifestiert in der Tat jenes Übermaß des menschlichen Lebens, durch welches das Subjekt nie mit sich selbst übereinstimmt, ohne welches das Leben des Menschen jedoch keinen Halt hätte, nichts hervorbringen und nicht lieben könnte92. Die Wahrnehmung der Form zeigt hier, durch die Endlichkeit, auch die konstitutiven Störungen und Mängel der Schöpfung, zusammen mit der Gerechtigkeit, in der jede Wirklichkeit und jede Subjektivität erkannt und aufgenommen werden wollen. Das Licht des pulchrum lässt in der Tat einen höheren Sinn in den Rissen der Welt aufleuchten – das Leiden der Schöpfung (Röm 8,18) –, die in eben seinem Spektrum mit einem Mal sichtbar werden: Jede Einzigartigkeit erscheint schließlich in ihrer Blöße, in ihrem den Bewegungen des Seins Ausgesetzt-Sein, der Unruhe ihres Geschehens und Vergehens in der Zeit, jenseits jeglicher vorgefassten Bestimmung und Festlegung. Aber für Balthasar reicht es nicht aus, der Wirklichkeit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es geht darum sie zu lieben. Nur in der Liebe nämlich erscheint die Wirklichkeit als das, was sie ist, in ihrer Endlichkeit und Unvollkommenheit, in ihrer tatsächlichen und einzigartigen Konsistenz: «Der schöpferische Blick der Liebe allein vermag dem Gegenstand jenes Maß anzumessen und jenen Spiegel entgegenzuhalten, der seine endgültige und daher objektive Wahrheit enthält, weil auch der Blick, mit dem Gott seine Geschöpfte betrachtet, nicht der richtende Blick der Gerechtigkeit, sondern der Liebesblick der Barmherzlichkeit ist»93.
Gerade weil die Liebe der grundlegende Zug der Wahrheit ist, deren Wissen nur bezeugt werden kann, bedeutet das Herstellen von Wahrheit – in Worten und Taten (oder durch Handeln und sprechen, wie Hannah Arendt sagen würde) – für Balthasar, lebender Ausdruck dieses ursprünglichen Grunds zu sein, der seinerseits das Sein, das Wissen und die Wahrheit selbst übersteigt. Das wahrnehmungsfähige und empfängli-
92 Vgl. ŽIŽEK, Slavoj, Die gnadenlose Liebe, 124–126. 93 BALTHASAR, Theologik. Bd. I, 77–78.
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che Subjekt, das heißt, jenes, das in den beschriebenen Grenzen fähig ist, eine Präsenz zu erfahren, die aus den Dingen der Welt strahlt, sich jedoch niemals bestimmen und greifen lässt, möchte nicht über das Reale verfügen, sondern zu seinen Diensten stehen: «Die erste Lektion, die das Dasein dem Subjekt erteilt, ist die der Hingabe, nicht der interessierten Bemächtigung» 94 . Tatsächlich beginnt man etwas vom Menschen und von der Welt zu erahnen, «wenn man die ursprünglichste Haltung des geistigen Geschöpfs nicht als Drang, sondern als dienende Bereitschaft versteht»95. Das prius entspricht nicht dem libidinösen Verlangen, dem Wunsch nach Macht, dem aggressiven Streben nach Aneignung, als indifferentem conatus nach Vergnügen: Im Herzen der Wirklichkeit erblickt Balthasar als verborgenere Haltung das Leuchten einer ursprünglichen Zuneigung zum Sein, die jedem Impuls vorauszugehen scheint. Dieses Rätsel liegt für Balthasar jedem authentischen Blick auf das Erscheinen der Seienden zugrunde, der gleichzeitig das wesentliche Prinzip der Beteiligung ist: Im Namen dieses Prinzips ist es möglich, das Ereignis der Fleischwerdung wahrzunehmen und im Kreuz nicht nur den Tod Gottes und die Niederlage des Sohnes zu erkennen, sondern die Überschönheit und Überwahrheit der Offenbarung in der Historizität ihres einzigartigen Geschehens96. Der ‹Logos im Fleisch› ist nämlich ausschlaggebend für die Schöpfung, so dass die Beziehung zwischen ursprünglichem Archetyp und Schöpfung nicht platonisch als fortschreitendes Abbauen, Verwelken, Verklingen, sondern als commercium interpretiert werden kann, da sein Bild [Deutsch im Original], als Wunderkraft und Wunderzeichen jedem Ding Gestalt und Essenz verleiht, das sich eben in seinem Licht in seiner essentiellen Wahrheit erkennen kann. Weder der anthropologische noch der kosmologische Weg könnten, nach Ansicht Balthasars, diese absolute Form in irgendeiner Weise veri-fizieren: Nur eine agapische Logik kann durch die Dinge sehen und die Wahrheit in der/von der Geschichte erahnen. Die Analogia entis hat im Sohn ihren Angelpunkt, ihre einzigartige und konkrete Universalität gefunden: In seiner Kenosis, in seiner wahrnehmbaren und sichtbaren Menschlichkeit, finden die Selbst-Behauptung und die Hingabe Gottes (Joh 14,19) ihre objektive Erscheinung [Deutsch im Original]. Die christliche Wahrheit erweist sich in ihrem Kern für Balthasar als definitive Vollendung und gleichzeitig Endpunkt der Entwirrung der kosmologischmetaphysischen und theologischen Forschung aller Zeiten, mit ihrer einzigartigen Fähigkeit, die Fragmente der antiken Weisheit aufzusammeln, nach dem ihm am Herzen liegenden patristischen Prinzip des semina verba. Gerade aus diesem Grund wird sie
94 BALTHASAR, Theologik. Bd. I, 68. 95 Ebd., 294. 96 Vgl. ROUSSELOT, Pierre, Die Augen des Glaubens, Einsiedeln 1963. Balthasar bezieht sich im ersten Band von Herrlichkeit auf Rousselots Text, stellt aber fest, dass der Standpunkt des französischen Jesuiten letztendlich kantianisch ist, da er den subjektiven Aspekt der Wahrnehmung privilegiert, während seine eigene theologische Ästhetik auf der Objektivität der Form beharrt. Vgl. BALTHASAR, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. Bd. I, 168.
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glaubhaft 97 . Die Geschichte der Metaphysik müsste seiner Meinung nach als Geschichte der metaphysischen Liebe ausgelegt werden, welche für Balthasar nur im Christentum eine Vollendung der Konzentration und des Ausdrucks finden, die imstande ist, durch die Jahrhunderte zu strahlen und das Entstehen der Ereignisse in der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in ein neues Licht zu tauchen. Zweifellos bilden Balthasars Zugehörigkeit zur Schule der Kirchenväter und seine Leidenschaft für die moderne und antike Literatur, Kunst und Philosophie den Ausgangspunkt für seine Konzeption der christlichen Wahrheit, die sich auf die ursprüngliche Evidenz von Gott, der Liebe ist und nichts anderes98 konzentriert: Liebe, die in sich wahrnehmbar erscheint, die sich in der Form und Leuchtkraft ihrer Schönheit dem Menschen-auf-derWelt offenbart, einem Blick, der noch fähig ist, einen totalen Sinn zu erfassen, das begründende Gefüge der gesamten Wirklichkeit zu erahnen99. Da der Christ an das Absolute der Liebe Gottes zur Welt glaubt, ist er angehalten, «das Sein in seiner ontologischen Differenz als Verweis auf die Liebe zu lesen»100, um im Lichte ihres ungreifbaren und pervasiven Mysteriums zu leben: Ungreifbar gerade in ihrer Pervasivität – denn nicht die Liebe ist in uns, sondern wir sind in der Liebe. In einer Zeit, die das Sein und Gott vergessen hat, muss seiner Ansicht nach das Zeugnis des christlichen Denkens diese universale Metaphysik mit Inbrunst anführen.
3. Eros und agápe: über die Alternative hinaus Die von der westlichen Kultur im Laufe der Jahrhunderte entwickelten philosophischen Standpunkte haben zweifellos der Liebe einen zentralen Stellenwert eingeräumt. Bei Platon und insbesondere im Neoplatonismus ist Eros die treibende Kraft und die Verbindung aller Dinge, ‹vermittelnder Dämon› zwischen Unsterblichen und Sterblichen. Als Vereinigung der Gegensätze entspricht die Liebe dem kosmischen Band (copula mundi), der Bedingung für die Möglichkeit des Kontakts von sinnlicher und über-
97 GIBELLINI, La teologia del XX secolo, 256. «Das göttlich durchseelte antike Weltbild, mag es mehr platonisch oder aristotelisch oder stoisch oder platonisch-proklisch angeschaut werden, schloß auf jeden Fall ein Gottesbild ein; es war Bild einer sakralen Welt, dem formal gesehen nur der Mittelpunkt fehlte. Als dieser sich selber einsetzte, erschienen die kosmischen Liebeskräfte überschwenglich erfüllt in Gottes Agape, die nach dem Areopagiten den Titel des wahren Eros für sich einfordert und alle in der Schöpfung waltende Eroskraft auf sich hin zentriert» (BALTHASAR, Glaubhaft ist nur Liebe, 9– 10). 98 BALTHASAR, Epilog, 73. In «dieser Liebe liegt jede mögliche Selbstaussage, Wahrheit und Weisheit, aber in ihrem Je-über-hinaus über alles Erdenkliche ihre Schönheit/Herrlichkeit» (Ebd.). 99 Balthasar stellt in der Präsentation seiner imposanten Trilogie (Herrlichkeit – Theodramatik – Theologik) fest: «Warum heißt der erste Teil dieser Synthesis Herrlichkeit? Weil es zuerst darum geht, der Offenbarung Gottes überhaupt ansichtig zu werden […]. Das bedeutet: Gott kommt nicht primär als Lehrer für uns (‹wahr›), als zweckvoller ‹Erlöser› für uns (‹gut›), sondern um Sich, das Herrliche seiner ewigen dreieinigen Liebe zu zeigen und zu verstrahlen, in jener Interesselosigkeit, die die wahre Liebe mit wahrer Schönheit gemein hat» (BALTHASAR, Mein Werk, 62). 100 BALTHASAR, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. Bd. III/1, Teil 2, 974.
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II. Die Herkunft von Agápe
sinnlicher Welt und für die Suche jenes Ganzen des Seins, das sich als das absolute Gute darstellt101. In dieser Hinsicht geht es angesichts der unvordenklichen erotischen Weisheit des Menschen darum, das Verlangen auf einen Weg der askesis/extasis zu führen, hin zur Zeugung des Schönen und den Besitz des Guten für immer, bis zur Verschmelzung mit dem Einen (henosis) und der Flucht vor sich selbst und den eigenen flüchtigen Identifizierungen. Die spirituelle Tradition, die aus den antiken Erfahrungen der Seele ihren Lebenssaft bezieht und sich auf dem ontologischen Bedürfnis nach Unsterblichkeit gründet, lädt ein, sich dem gesichtslosen Erhabenen hinzugeben, sich im Quell des Seins zu verlieren, um vom Leben des Einen überschwemmt zu werden. Balthasar meint jedoch, dass innerhalb dieses faszinierenden Horizonts die ursprüngliche Intuition der Liebe in einem gewissen Maße in jener «apersonalen Mystik der Einheit»102 überschritten, vereinfacht und sublimiert wird, die nicht mehr der Vermittlung der Schöpfung bedarf. Der Theologe ist überzeugt, dass es folglich nicht möglich ist, die ursprüngliche Wahrheit der Liebe durch die ekstatische, erotische und verschmelzende Erfahrung eines nur aufsteigenden Weges wieder zu erlangen, der in der sinnlichwahrnehmbaren und körperlichen Welt entbrennt und den Liebenden hin zur Liebe dessen führt, was unwandelbar und ewig ist, bis zum Guten an sich. Was das angeht, ist Balthasar überzeugt, dass die europäische Geistesgeschichte [Deutsch im Original] die authentische Erfahrung des dramatischen Kerns von Zuneigung und Gabe eher bei den griechischen Tragikern als bei der hellenistischen und tardo-hellenistischen philosophischen Spiritualität machen konnte – mit der insbesondere das Christentum einen Dialog geführt hat. Die post-plotinische Tradition hat auf jeden Fall die visuelle Energie des an Formen und realen Präsenzen reichen ‹hieroglyphischen Blicks›, dem man in Plotin und Proklos begegnet, und die mittlere und somit unübertrefflich aporetische Potenz des – immer zwischen List und Misere, Identität und Differenz, Wahrheit und ihrer Maske gespannten – platonischen Eros (metaxy) nach und nach geschwächt. Balthasar beobachtet, dass die Flucht hin zum Einen sich in der späteren Reflexion immer mehr als Verlust des Selbst in der Homogenität des undifferenzierten Einzigen, des Unbestimmten gestaltet, der im absoluten, idealistischen Wissen seiner Ansicht nach seine historisch-dialektische, wenngleich ebenso ‹totalitäre› Evolution findet. Es geht an diesem Punkt nicht darum, einfach einen systematischen Unterschied zwischen griechischem Eros und christlicher Agape festzustellen, dem gemäß Letztgenannte sich, wie die umfassende Studie von Anders Nygren vertritt, in einem absteigenden Weg verwirklicht, der von Gott als Gnade zu den Menschen führt, als Geschenk, das seinerseits geteilt, dem Nächsten angeboten werden muss, um dann wie-
101 ROBIN, Leo, La Théorie platonicienne de l’amour, Paris 1908; KRÜGER, Gerhard, Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens, Frankfurt a. M. 1992 (6. Auflage); REALE, Giovanni, Eros dèmone mediatore. Il gioco delle maschere nel Simposio di Platone, Milano 2005. 102 BALTHASAR, Theologik. Bd. I, XIII.
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der zum Ursprung zurückzukehren103. Diese radikal trennende Position hat tatsächlich in ihrem vorausgesetzten Dualismus die nachfolgende Auffassung der Liebe konditioniert und eine deutliche Unterscheidung von erotischer menschlicher Leidenschaft und spiritueller christlicher Liebe gesetzt, wobei Letztgenannte als unbedingtes Geschenk Gottes an jedes Geschöpf zu verstehen ist, zu dem man sola fide gelangen kann. In Balthasars Sichtweise erhält die Dialektik von Eros und Agape eine radikalere Bedeutung und geht gleichzeitig entschieden ‹über die Alternative› hinaus. Ihre äußerst ontologische Qualität verleiht ihr nämlich eine neuartige, grundlegende Zentralität, im theoretischen Versuch auf dem Grund allen Seins eine ursprüngliche verbindende Energie unterzubringen. Man könnte sagen, dass Philosophie und Theologie, Metaphysik und Christentum ihren point de capiton (Lacan) in agápe finden, wo jede apriorische Kontraposition oder Dualismus in einer neuen Konstellation aufgenommen/verknüpft werden, die – wie einem symbolischen Ausnahmezustand – die Spannungen löst und die Verbindungen ausbreitet, ohne die vorhandenen Unterschiede zu entfernen. Wie Alain Bardiou104 feststellt, entspricht der christliche (insbesondere paulinische) Diskurs nicht der Synthese von griechischer und jüdischer Tradition, sondern der Diagonale, die sie durchquert und gliedert: Sein Ziel ist es, eine dritte Form des Diskurses zu umreißen – nach der griechischen, die auf der Idee von Weisheit beruht, und auf die gerechte Einbeziehung des Einzelnen in die Ordnung von allem zielt, und der jüdischen, deren Lebenskraft auf der Prophezeiung gründet und von der Logik von Ausnahme und Bestimmung abhängt – die ein neues Verhältnis zur Wahrheit begründet, welche mit dem Christus-Ereignis identisch ist. Der antike Philosoph und der jüdische Prophet werden transversal von der unerhörten Figur des Apostels überwunden, der weder Weisheit verkündet noch Wunder prophezeit, sondern die einzig mögliche Form von Leben ankündigt – die nach dem Geiste, der den Tod überwindet – nach dem Gebot
103 Vgl. NYGREN, Anders, Eros und Agape. Gestaltwandlungen der christlichen Liebe, Gütersloh 1930 und 1937, ein grundlegender Text hinsichtlich der historisch-biblischen Behandlung des Themas. Nygren hat den Gebrauch des Begriffs in der christlichen theologischen Literatur rekonstruiert und insbesondere festgestellt, dass es notwendig sei, radikal zwischen der biblischen Auffassung von Agape als Gnade und dem griechischen Konzept von Eros als Streben nach dem Aufstieg in die ideale Welt zu unterscheiden. Schon Cornelio Fabro hat in seiner Einführung in Kierkegaards Taten der Liebe (1983) diese axiomatische Unterscheidung radikal in Frage gestellt, und jüngste Auseinandersetzungen mit dem Thema (Benedikt XVI., Thomas Söding, Giuseppe Angelini) bewegen sich auf derselben kritischen Linie, welche die von Nygren vertretene Dichotomie als Ausdruck der apologetischen Position des lutherischen Primats des Glaubens über die Liebe interpretiert. Diese Vision erscheint den Autoren letzthin als unfähig, die notwendige Beziehung zwischen den ursprünglichen ‹passiven› Formen der Zuneigung und den ‹aktiven› der Hingabe, den Bewegungen des Verlangens und der Ungeschuldetheit der caritas, zwischen Eros und Agape, die die biblischen Zeugnisse offenbaren, zu erfassen. Vgl. ANGELINI, Giuseppe, Eros e agápe. Oltre l’alternativa, Milano 2009. 104 Vgl. BADIOU, Alain, Paulus. Die Begründung des Universalismus, Zürich 2002. BADIOU, St. Paul, Founder of the Universal Subject, in CAPUTO, John D., MARTIN ALCOFF, Linda (Hgg.), St. Paul among the Philosophers, Bloomington 2009, 27–28.
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II. Die Herkunft von Agápe
von Agape. Das wahre Leben ist, wie der Dichter Rimbaud sagt, nur jenes, das die Liebe aufbaut. Balthasar richtet sich an dieser Diagonale von amor aus, in der Überzeugung, dass nur durch ihr universales Modell alle Erfahrungen zu ihrem Jetzt der Lesbarkeit [Deutsch im Original] – um es mit Walter Benjamin zu sagen – gelangen. Entlang dieser Linie bezeugt die Liebe das absolute Primat der ungeschuldeten und unerschöpflichen Selbstmitteilung Gottes und, noch radikaler, das Prinzip der absoluten Disponibilität, innerhalb derer Gott selbst handelt und wirkt. Agape offenbart sich als ontologisches und theologisches Prinzip und Zeichen der Göttlichkeit Gottes und, entsprechend, der Menschlichkeit des Menschen, der seine eigene Wahrheit in der Historizität seiner Existenz sucht. In Übereinstimmung mit den Titeln seiner Theologik ist Agape Wahrheit der Welt und Gottes, im Geist. «Glaubhaft ist nur Liebe»105, da sie der Struktur des Ereignisses der Offenbarung und der anthropologischen Struktur entspricht, die sich in dem Moment, wo sie ihre Tatsächlichkeit und ihre intimste Anerkennung verlangt, auf es bezieht. Folglich «kann dieser die Grundfesten des endlichen Wesen erschütternde Schrekken es erst durchfahren, wenn es verstanden hat, wie die Offenbarungsfigur zu lesen ist: nicht formal nur als ‹Wort›, sondern inhaltlich als absolute Liebe. So allein kann neutestamentlich geredet werden»106. Es ist gerade Balthasars Intuition von der ursprünglichen Zuneigung Gottes als Prinzip, das den christlichen Weg der Nennung Gottes begründet, über die unserer Ansicht nach noch weiter nachgedacht werden sollte. Obwohl der grundlegende Zug des christlichen Gottes – Agape – vor allem von der jüngeren Theologie aufgenommen wurde, so dass nun die göttliche Glaubwürdigkeit der Manifestation untrennbar erscheint von der letztlich trinitarischen Form der Liebe, entspricht dem augenscheinlich im Umkreis der philosophischen Theologie keine begriffliche Erneuerung der klassischen Ontologie des absoluten Grundes. Auf diese Weise setzt die Kluft zwischen Unterstreichung der trinitarischen Theologie und transzendentaler Artikulation des affektiven Ursprünglichen das christliche Wort über Gott einem gewissen Übermaß an Nominalismus aus. Balthasars theologischer Weg scheint allerdings zumindest eine mögliche Richtung hin zu einer Nennung des Absoluten aufzuzeigen, die tatsächlich gegenüber einer Dialektik von absolutem Ursprung und Bestimmung aufnahmebereit sind, und in der Logos und Agape eine gemeinsame Sprache sprechen. 105 Obgleich dies (Glaubhaft ist nur Liebe) derjenige von Balthasars Texten ist, in dem am deutlichsten das Thema ‹Gott als Liebe› und pulsierendes Zentrum der christlichen Verkündigung erscheint, wird es in diesem Werk nicht zum Anlass für eine effektive theologisch-philosophische Reflexion, eine eindringliche spekulative Überlegung rund um den agapischen und affektiven Grund des göttlichen Logos genommen. In Wirklichkeit erschafft Balthasar in Theologik den spekulativen Raum, in dem er sich mit größerem Bewusstsein darum bemüht, die im Wesentlichen affektive Dimension zu begründen, in der allein die Nennung Gottes und seiner Beziehung zum Menschen und der Welt möglich ist. Auch in diesem Werk bleibt, wie wir noch sehen werden, die Perspektive einer genauen und abschließenden Systematisierung dieses Themas offen und problematisch, wie eine Frage, die bis heute darauf wartet, wieder Gegenstand von theologischer Vertiefung und Aufmerksamkeit zu werden. 106 BALTHASAR, Glaubhaft ist nur Liebe, 38.
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Zuerst einmal kann festgestellt werden, dass – in Übereinstimmung mit Dei Verbum – nicht nur die Manifestation Gottes im Sohn – sein Wort, Bild, Ausdruck – einer Mitteilung von Liebe entspricht, in der Subjektgenitiv und Objektgenitiv sowohl die Revelatio qua creditur als auch die Revelatio quae creditur sagen; dem ist überdies beizufügen, dass es die intime Disposition des ‹Hörers des Wortes› selbst ist, die den Sinn der theologischen Wahrheit des Christentums entscheidet. Für Balthasar ist es vor allem eine reine Frage von met-hodos: Keine Wahrheit wäre ohne die Liebe intelligibel, die nicht als affektive und kontemplative – wenn nicht gar rein tröstliche – Ergänzung zu einer Suche hinzukommt, die ihre Zuverlässigkeit und Gewissheit auf ihrer Rationalität und Evidenz gründet. Auf dem christlichen Weg zur Wahrheit wird das Denken tatsächlich Bewegung von Gefühlen, so wie alle Seelenkräfte in das strahlende Herz der göttlichen Agape gerufen werden. Die Öffnung des Willens ist nämlich der höhere Sinn jeder ratio, die schließlich versteht, dass Liebe und Wahrheit untrennbar miteinander verbunden sind, und dass die Existenz ihre Vollendung einzig in der Bewegung der Kommunikation findet: «Ja, Für-sich-sein und Mitteilung sind sogar ein und dasselbe; sie bilden zusammen die eine, untrennbare Lichtung des Seins. Das aber bedeutet, daß der Sinn des Seins in der Liebe liegt und daß also Erkenntnis auch nur durch die Liebe und für die Liebe erklärbar ist»107.
Die Liebe wird für Balthasar das Maß der Wahrheit, der Schlüssel, um sich ihrer Enthüllung zu öffnen, die Bedingung, damit ihr Entstehen möglich wird, weil sie dem generativen Raum des Wahren und des Seins entspricht. Der Egoismus, der die Liebe nicht kennt, ignoriert einfach, weil er nicht aus dem ganzen Sinn des Seins und der Wahrheit schöpfen kann, die das Ziel allen Strebens nach Wissen sind. Balthasar zeigt also, dass die Liebe nicht nur das Prinzip aller Praxis, sondern auch der reinen Vernunft ist: Die Kenntnis ist nämlich nicht nur Wissen, sondern die Reaktion auf einen Kontakt, affektiver Kreislauf und eine genaue Form von Bindung.
4. Begegnungen, Einflüsse und Einwirkungen en agápe Das spekulative Interesse der systematischen Intuition Balthasars besteht darin, dass er die von der christlichen Kultur angesammelte systemische Schwäche gegenüber der Intelligenz der Kräfte in Frage stellt und gleichzeitig den traditionell in Bezug auf den Rationalismus der Form zum Ausdruck gebrachten Nachdruck kritisiert. Balthasar hat nämlich begriffen, dass die Theologie ohne eine positive Theorie und eine verfeinerte Ausarbeitung der Doktrin vom Vermögen (als Macht, nicht nur als Möglichkeit – [Deutsch im Original]) schlicht kein Logos besitzt, um Gott beim Eindringen seiner Gnade zu nennen; und ebenso wenig Namen, um die energheia als Wirken des Heiligen Geistes zu bezeichnen (die östliche Theologie unterscheidet 107 BALTHASAR, Theologik. Bd. I, 118.
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hier). In dieser substantiellen Aphasie werden die grundlegenden Wahrheiten der Offenbarung Gottes in der Geschichte zu Ausnahmezuständen – wie die Wunder und die Mystik – inmitten einer Normalität der Formen, die im theoretischen Bereich sogar aufgerufen sind, darüber zu wachen, dass der christliche Diskurs nicht in einen Zustand des Überschwangs verfällt (als würde, im Sinne Kants, ein spezielles Tribunal für jede eventuelle Schwärmerei – Deutsch im Original – eingerichtet). Für Balthasar muss dieses Risiko eingegangen werden: Wer nicht liebt, kann zweifellos über umfassendes und exaktes Wissen verfügen, verliert aber den Blick auf die gesamte Wirklichkeit und verdammt sich zu einem beschränkten Horizont. «Weil die volle Wahrheit nur in der Liebe erreicht wird, kann auch nur der Liebende den wahren Blick für die Wahrheit haben»108. Die Liebe ist für Balthasar das, was der Idee von Wahrheit die Möglichkeit versichert, sich nicht zu verschließen, sich nicht als vollendete Anpassung an eine Tatsächlichkeit ohne Geheimnis vorzustellen. Wenn die Erkenntniskraft des Logos sich nicht allen Möglichkeiten und Kräften des Verstehens öffnet, wenn sie für sich eine verminderte affektive Schwelle festlegt, kann sie für Balthasar den Menschen in keiner Weise fesseln, an der grundlegenden Frage festhalten, über den Sinn seines Seins befragen. In einer Welt, wo die Wahrheit von der Schönheit und der Zuneigung fortgerissen wird «und die es sich nicht mehr zutraut, das Schöne zu bejahen, haben die Beweise für die Wahrheit ihre Schlüssigkeit eingebüsst, das heisst, die Syllogismen klappern zwar pflichtschuldig wie die Rotationsmaschinen oder die Rechen-Roboter, die pro Minute eine genau wissbare Anzahl Ergebnisse fehlerlos ausspeien, aber das Schliessen selbst ist ein Mechanismus, der niemanden mehr fesselt, der Schluss selbst nicht mehr»109.
Zudem existiert die Intelligenz der Dinge evangelisch einzig als Akt der Liebe. Ebenso wenig kommt der theologische Logos ohne Pathos in die Welt, denn alles wurde in der Zuneigung gezeugt. Jede logische und gnoseologische Möglichkeit muss also für Balthasar zur unerreichbaren göttlichen Agape als offenbarende Dimension der Schöpfung hin streben, jenseits eines abstrakten Extrinsezismus und formalen Theoretizismus. Die Wiederentdeckung des patristischen Denkens – die wahre Gelehrsamkeit als christliche Philosophie, nicht nur wegen des veritativen Inhalts, sondern auch wegen der epistemischen Form – muss mit dem Logos in Einklang gebracht und wieder seiner Fähigkeit koinonía tes aletheias zu schaffen zugeführt werden. Eine konkrete und faszinierende Perspektive, die der antiken ‹katholischen› Fähigkeit die (erkannte oder einfach gesuchte) Präsenz des selben Zentrums in jeder Erfahrung zu lesen – das in die zahlreichen kulturellen, historischen, psychologischen Ausdrucksformen ausstrahlt (omnia probate, bonum tenete) – ihre ganze Würde zurückgibt. Ein solcher Weisheits-
108 Ebd. 109 BALTHASAR, Herrlichkeit. Bd. I, 17.
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Horizont der kritischen Vernunft muss zur Ausarbeitung einer theologischen Methode beitragen, die die Tendenz zu einer abstrakten Begrifflichkeit des neothomistischen Rationalismus zu überwinden gedenkt, indem sie die Theo-logie einer Ontologie des Realen öffnet, die imstande ist, dem Vergleich mit dem Denken – dem Logos – jenseits jeder aprioristischen ideologischen Annahme standzuhalten. In Übereinstimmung mit der Theologie Augustinus, Anselms und Origenes, aber auch dem thomistischen Denken, bleibt Balthasar seiner Überzeugung treu, dass es ohne guten Willen kein Wissen geben kann, dass man das, was man nicht liebt, was nicht die besten Eigenschaften der Seele und des Geistes anzieht, nicht wirklich wissen kann. «Eine Liebe, die alle Seelenkräfte, darunter das Denken und Erkennen für sich einfordert. Eine Erkenntnisbeziehung, die nicht im Dienst der Liebe stünde, hätte innerhalb von Theologie keinen Anspruch, Teil ihrer Logik zu sein. […] In der Theologie wird die Erkenntniskraft für ein sie übersteigendes Geschäft in Anspruch genommen, wie es in unvergleichlicher Prägnanz ein Wort Pauli ausdrückt: ‹Erkennen die Liebe Christi, die die Erkenntnis überstiegt› (Eph 3,19)»110.
Unbestreitbar hat diese Auffassung ihre Wurzeln nicht nur in der persönlichen und originellen kreativen Haltung des Schweizer Theologen und seiner leidenschaftlichen Wiederaufnahme der Kirchenväter und der klösterlichen Theologie, sondern auch in seiner umfassenden künstlerisch-literarischen Bildung, insbesondere was das eingehende Studium der deutschsprachigen Kultur und ihrer philosophischen, dichterischen und künstlerischen Produktion betrifft111. Auf der anderen Seite scheint es uns ebenso offensichtlich, dass es enge Affinitäten gibt zwischen der von der nouvelle théologie vorgebrachten Kritik hinsichtlich der Verarmung einer Theologie, die fast vollständig der Arbeit der begrifflich-diskursiven Vernunft anvertraut wurde, und Balthasars These von der Unzulänglichkeit eines rein logisch-rationalen Wahrheitsbegriffes. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, daran zu erinnern, dass vor allem die Begegnung mit Adrienne von Speyr (1940) – wie Balthasar selbst wiederholt112 deutlich macht – entscheidende und unauslöschliche Spuren sowohl in seinem Lebensweg als auch in seinem theologischen Denken hinterlassen hat. Balthasar hat den Einfluss der zum Katholizismus übergetretenen calvinistischen Gelehrten – deren Schriften im Wesentlichen das Ergebnis ihrer diktierten Gedanken sind, die der Theologe während 110 BALTHASAR, Theologik. Bd. II, 28. 111 Man beachte diesbezüglich Kants Ästhetik, das dichterische Werk Hölderlins und Goethes sowie Hegel und Schellings Überlegungen. 112 Balthasar erkennt in Bezug auf seine umfangreiche theologische Produktion seine radikale Abhängigkeit von Erich Przywara an. Und fügt hinzu: «Entscheidender noch ist die Verbindung mit dem großenteils noch unveröffentlichten Werk von Adrienne von Speyr, das ich seit 1940 entstehen sehe und allmählich herausgebe und mit dem meine Bücher in Thema und Klang korrespondieren» (BALTHASAR, Mein Werk, 17). Wir werden noch sehen, wie entscheidend der Einfluss von Adrienne von Speyr auf die entscheidendsten Fragen war, die Balthasar behandelt – insbesondere die des Transzendentalen der Liebe – vielleicht entscheidender, als die Kritik bis heute zugeben wollte. Was die Analyse ihrer menschlichen, spirituellen und kirchlichen Geschichte angeht, vgl. PARADISO, Il blu e il giallo. Hans Urs von Balthasar e Adrienne von Speyr. Un’avventura spirituale, Torino 2009.
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ihrer siebenundzwanzig Jahre andauernden engen Zusammenarbeit113 vervollständigt und redigiert hat – als wesentliches hermeneutisches Prinzips seines Werks anerkannt, so dass die tiefe spirituelle, existenzielle und theologische Interpendenz der beiden Autoren keinesfalls vernachlässigt werden darf. Balthasar erkennt in jedem Fall an, wie viel er dem konstanten Dialog und der religiösen Anleitung zu verdanken hat, die er mit der Schweizer Mystikerin aufgenommen hatte, vor allem in Bezug auf die Haltung von Hingabe und Gehorsam, aus der die Intuitionen, Meditationen, spirituelle Kommentare zur Heiligen Schrift und Erfahrungen des Sicheinfühlens hervorgingen, die Adrienne aus tiefstem Herzen mit ihm im Laufe vieler Jahre geteilt hat. Das reine «fern-von-sich-Sein», aus dem sich die spezielle Berufung Adrienne von Speyrs nährt, findet in der Tat im Sohn einen Archetyp und sein Maß: Christus offenbart der Welt, in seinem Gehorsam dem Vater gegenüber, angesichts der Regel des Heiligen Geistes, das Geheimnis des trinitarischen Lebens als Nächstenliebe. Die unbedingte Disponibilität und der «gegenseitige Gehorsam der Liebe», der sich selbst als einfache Durchlässigkeit zu Diensten zu sein versteht, die Gott von allen verlangt, finden in der trinitarischen Liebe und in der Liebe Christi für die Kirche und die Welt ihre Quelle und Bestimmung. Genau in dieser Öffnung, die seit der Gründung der Welt besteht, soll sich, laut Adrienne, die gesamte christliche Existenz abspielen. Tatsächlich ist sie davon überzeugt, dass wir im Rahmen dieses Geheimnisses leben, denken und sind. in diesem Geheimnis. Die johanneische theologische Sensibilität – an der sich die Gemeinschaft inspiriert, die Balthasar und von Speyr ins Leben gerufen haben – bildet den spirituellen humus, der ihr gemeinsames Lebens- und Denkprojekt generiert und regeneriert, das auf den evangelischen Empfehlungen und der radikalen Wahrnehmung jener Liebe Gottes basiert, die inmitten der komplexen Dramatik der Existenz den Menschen immer wieder in Sicherheit bringt und zu seinem Ursprung zurückführt. Es ist nicht möglich, Balthasars trinitarische Konzentration und das Feuer der Nächstenliebe, um das herum sein Denken entsteht, von der bis ins Äußerste denkenden und wahrnehmenden Präsenz der Mystikerin Adrienne zu trennen, von deren spirituellen, charismatischen und biblischen Erfahrung er lange Zeit umfangen und getragen wurde. Auf der anderen Seite wird seine theologische Reflexion immer innerhalb dieser Spirale der Nächstenliebe schweben und ihre Anziehung verspüren. Als werde sie am Leben erhalten.
5. Der Sohn, (unendliche) Exegese des Vaters Balthasar ist davon überzeugt, dass die authentisch theologische Gnosis als Erfahrung – und nicht nur als Wissen – einer Realität auftritt, die das formale intelligere übersteigt, und der sich jede spekulative Vernunft unterordnen muss. Vom Gesichtspunkt Blon-
113 BALTHASAR, Erster Blick auf Adrienne von Speyr, Einsiedeln 1968, 9.
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dels aus betrachtet, muss die abstrakte Logik des Wissens zur Logik des Lebens werden, eine moralische Entscheidung angesichts des absoluten Logos: «Wahrheit tun» (Joh 3,21; 1 Joh 1,6); «Wahrheit zeugen» (Joh 3,19; 18,37; 1 Joh 2,21), «in der Wahrheit wandeln» (2 Joh 4–6) sind Ausdrücke, die auf einen Schoß des Seins verweisen, in dem jedes Ding seinen Sinn erhält, da jede Realität angesichts eines unvordenklichen Horizonts der Disponibilität, in dem Gott sich als Trinität ausbreitet, erfahren, geglaubt und gewusst wird. Das zeigt, «dass der Gesamtlogos, auf den hin der Glaubende seine Entscheidung trifft, eine umgreifende Sphäre trinitarischer Logik ist, die auf irgendeine Weise erfahren werden muss, um im Horchen darauf und Ge-horchen die Wahrheit zu ‹erkennen› (2 Joh 1; 1 Joh 4,16; Joh 8,32), zu ‹wissen› (1 Joh 2,20–21 usf.) und sich daraufhin auszurichten»114. Es ist, als werde die via eminentiae, die sich also im itinerarium mentis ad Deum abzeichnet, dessen Verlauf über jede theoretische Vision hinausgeht, vom nicht anpassbaren ‹Unermesslichen› der Offenbarung der Liebe Gottes überstiegen und überwältigt (Eph 1,17–19). Aber auch, wenn beim Versuch der Nennung Gottes «die Pfeile aller Begriffe und Worte vor dem Ziel zu Boden sinken»115, ist Balthasars theologischer Weg nicht dazu angelegt zu schweigen. Sobald sich der mächtige Komplex der negativen Theologie in die Einfachheit der biblischen Erzählung begibt, kann er nicht anders, als sein Vorzeichen zu ändern: Das ekstatische Schweigen (sige, hesychia) verwandelt sich für Balthasar in ein anderes Schweigen, jenes der Anbetung des gnädigen Geschenks, die zur christlichen Theologie der Menschwerdung Gottes führt, «zur menschlichen Auslegung des Vaters durch den Sohn»116, zu einer Bestätigung, die alle möglichen Negationen und Aphasien berücksichtig und sie gleichzeitig überschreitet. Balthasars gesamte Reflexion in Theologik scheint sich letztlich zwischen diesen unterschiedlichen Arten des Schweigens zu bewegen. Balthasar denkt nicht, wie André Neher117, dass es Gott in der Bibel nicht gelungen ist, sich verständlich zu machen. Er glaubt nämlich nicht, dass das, was bleibt, nur «ein negativ-positives ‹peut-être›, Kann-sein, Vielleicht: ‹peinvolle Unsicherheit› (da ‹das Unmögliche möglich ist›: Auschwitz)»118 ist. Der von Balthasars Theologik verwirklichte Durchbruch zielt nicht darauf, einfach über den Diskurs hinauszugehen, hin zu einem irrationalistischen Mystizismus als ‹Austritt› aus dem Logos: Er möchte, im Gegenteil, Überdenken des Logos und im Logos sein, und eine wirklich affektive Beziehung beschwören, die sich gleichzeitig von jeder projektiven oder rein libidinösen Tendenz distanziert. Die Liebe kann für den Theologen nicht außerhalb der Wahrheit gedacht
114 BALTHASAR, Theologik. Bd. II, 31. Da der Anfang der Passion mit dem entscheidenden Wort Jesu Christi, dessen Wahrheit und Herrlichkeit ihre Vollendung am Kreuz finden, übereinstimmt, verliert die Verkündigung der Wahrheit notgedrungen den abstrakten und theoretischen Charakter der Verkündigung einer Doktrin oder der Offenbarung einer Idee und nimmt das Modell des Zeugnisses als grundlegend für die wirkliche Qualität der Manifestation des Wahren (Ebd., 18). 115 Ebd., 98. 116 Ebd., 96. 117 NEHER, L’exil de la parole, 148–149. 118 BALTHASAR, Theologik. Bd. II, 104.
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werden: Gerade die Selbst-Enthüllung des Seins und des Wissens – die sich schon ‹in der Liebe befinden› – benennen die Wahrheit. Bei seinem Vorhaben, sich in das numinosum hineinzubegeben, ist sich Balthasar natürlich völlig des seinem Gestus innewohnenden Wahnsinns bewusst: «Keine von Menschen erdachte religiöse Philosophie reicht dazu hin, den johanneischen Satz wagen zu können: ‹Gott ist die Liebe›»119. Und doch entkommt auch er, wie Cacciari, der Herausforderung nicht. Der ‹johanneische Einstieg›, auf den Wahrheit Gottes, der zweite Band der Trilogie Theologik, setzt, beabsichtigt nicht einfach den kontinuierlichen Hinweis, von Eunomius bis Hegel, zu verraten, der den Weg des Begriffs von seinem ewigen Verlangen Gott zu kennen und zu sagen abbringt, trotz Dionysos, Heidegger oder Barth; und ebenso wenig möchte er das Denken hin zum Apophatismus) einer negativen Theologie wenden, die den Menschen auffordert, sich das Gesicht jedes Mal, wenn er vorüberzieht, zu bedecken (Ex 33,20). Balthasar setzt sich der Dialektik und der Theodramatik einer Beziehung zwischen Endlichem und Unendlichen, zwischen Benennung und Schweigen aus, innerhalb derer das quaerere Deum den Menschen hin zu jener via eminentiae führt, auf welcher der gesuchte Gott immer über jedem Ding ist. Von Speyr selbst betont den radikalen Unterschied eines «immer größeren» Gottes, der nur im Sohn seine Erklärung, seine Verteidigung, seine Manifestation findet, und im Heiligen Geist die immer neue Erinnerung an seine «unausschöpfliche Tiefe»120. Auf jeden Fall ist der Theologe überzeugt, dass in der Geistes- und Religionsgeschichte aller Zeiten der primäre Bereich der negativen Theologie in der klarsichtigen Bestätigung des Unverständlichen oder des Unzugänglichen vor allem die außerbiblische Forschung – sei sie Zen, buddhistisch, neoplatonisch oder agnostisch – bewohnt hat und weiterhin bewohnt, die das Christentum, im Namen des Wortes, aufgerufen ist, in Frage zu stellen und schließlich zu überwinden121. Das Wort ist nämlich im Sohn nicht mehr im Exil. Balthasar arbeitet seine Theodramatik ausgehend von der Offenbarung im Verb/des Verbs aus: «Er kam in sein Eigentum und die Seinen nahmen ihn nicht auf» (Joh 1,11). Das gesamte JohannesEvangelium bedeutet für den Theologen den Verlauf, den Balthasar mit seiner persönlichen «dramatischen Ausstattung»122 neu auslegt, mit der Dialektik von unendlicher Freiheit Gottes und endlicher Freiheit des Menschen, zwischen Kommunikation und Nichtverstehen, zwischen der Offenbarung und ihrer Abweichung, ihrem Rätsel, ihrer Verhüllung. Die dramatische Szene öffnet sich eben angesichts dieser unruhigen Beziehung, das heißt, das reale Spiel der Existenzen auf der Suche nach der eigenen Anerkennung und Vervollkommnung läuft ab. Das ist die grundlegende Dialektik des
119 BALTHASAR, Theologik. Bd. III. Der Geist der Wahrheit, Einsiedeln 1985, 408. 120 BALTHASAR, Theologik. Bd. II, 15. 121 Vgl. BERTOLDI, Anita, Hans Urs von Balthasar: silenzio e ineffabilità di Dio: un pensiero sfidato dal silenzio, in «Rivista di Ascetica e Mistica», 64 (1995). 122 DIODATO, Roberto, Il tragico della libertà, in: BOTTURI, Francesco (Hg.), Soggetto e libertà nella condizione postmoderna, Milano 2003, 254.
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Verlangens, das seine Befriedigung im Kontakt mit dem Realen verlangt, obgleich es weiß, dass mit ihr auch seine Ermattung eintritt. Wer Gott von Angesicht zu Angesicht erblickt, bleibt nicht am Leben (Ex 33,20). Und wieder ist es Schelling, der Balthasar einen Denkanstoß gibt, in seiner ganzen Paradoxie: «Entweder überall keinen Anthropomorphismus, und dann auch keine Vorstellung von einem persönlichen, mit Bewusstsein und Absicht handelnden Gott, … oder einen unbeschränkten Anthropomorphismus, eine durchgängige und (den einzigen Punkt des notwendigen Seins ausgenommen) totale Vermenschlichung Gottes. Das ist es, was jene scheuen, die gern für Philosophen von Metier angesehen sein möchten… Sie sagen: Gott muss schlechterdings übermenschlich sein. Wenn er nun aber menschlich sein wollte, … wer dürfte etwas dagegen einwenden? Wenn er selbst herabsteigt von jener Höhe und sich mit der Kreatur gemein macht, warum sollte ich ihn mit Gewalt auf dieser Höhe erhalten wollen? Wie sollte durch die Vorstellung seiner Menschlichkeit ich ihn erniedrigen, wenn er doch sich selbst erniedriget?»123.
Ausgehend von einer solchen analogia relationis – einer Ähnlichkeit also, die immer angesichts der ‹großen Unähnlichkeit› entsteht – ist der menschgewordene Sohn das wahre Ebenbild des Unsichtbaren (Kol 1,15), das angeschaut werden muss, wenn das göttliche Mysterium interpretiert werden soll: Er nämlich ist die Figur des Dramas, in dem sich historisch, ephápax, die beiden Freiheiten, die menschliche und die göttliche, zusammenfügen. Im Mysterium seiner Mission, welches das Mysterium seiner universalen Einzigartigkeit ist, da er der Archetyp des authentischen Menschseins ist, öffnet sich der Raum für eine Ausübung der Freiheit, die allen einen Sinn und eine Bestimmung zu geben in der Lage ist. In der Trilogie erscheint die christologische Perspektive untrennbar mit der trinitarischen Zirkularität der göttlichen Personen verbunden, in einem nicht auflösbaren Geflecht, in dem die menschlichen Geschichte Christi sogleich die Herrlichkeit Gottes widerspiegelt, welche die Heilige Geist der Welt überbringt. Das Drama des Sohnes verweist also auf die dramatische Bewegung, die in Gott selbst stattfindet: Das Kreuz ist ein trinitarisches Ereignis, das die koinonía der Göttlichen berührt und sich zwischen Gott und Gott einfügt, in einem gemeinsamen Leiden, das der Heilige Geist dadurch, dass er das Band ist, besiegelt. Im Raum des christlichen Denkens ist es also nötig, («einen Blick in das Geheimnis des Logos und damit der Logik in Gott zu werfen»)124, das heißt, das abgründige Rätsel der Wahrheit
123 SCHELLING, Brief an Eschenmayer (1812), in: Werke, I, 8, 167–168, zitiert in BALTHASAR, Theologik. Bd. II, 66. Balthasar betont, «dass das fleischgewordene Wort ‹in sein Eigentum kann› (1,11), also nicht einfach (wie Karl Barth) in die Fremde geht, sondern in ein Land, dessen Sprache er kennt: nicht nur das galiläische Aramäisch, das das Kind in Nazaret lernt, sondern tiefer die Sprache des Kreaturseins als solchen. Die Logik der Kreatur ist der Logik Gottes nicht fremd; man könnte sie einem Dialekt vergleichen, dessen Reinsprache bei Gott gesprochen wird» (Ebd., 78–79). Balthasar kritisiert in dieser Richtung die analogische Doktrin Erich Przywaras, angesichts derer sich ‹in solch großer Ähnlichkeit› zwischen Gott und der Kreatur die immer ‹maior dissimilitudo› durchsetzt. Balthasar interpretiert das ‹allo pros allo› als ‹kontra›, als eine unendliche Distanz zwischen den beiden, die jede Möglichkeit der Ausarbeitung einer akzeptablen Christologie zunichtemacht. 124 BALTHASAR, Theologik. Bd. II, 117.
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Gottes zu erkunden, da es selbst entschieden hat, sich mitzuteilen, im Sohn Leib, Haus und Ausdruck zu werden. Das Wort entspricht für Balthasar dem «treuen und wahrhaftigen Zeugen der Schöpfung» (Offb 3,14), dem ursprünglichen Bild Gottes, seinem aus dem Schweigen erstandenen Wort125. Und da er erste Strahlung und Ausdruck (Charakter – Deutsch im Original) Gottes126 ist, kann Johannes sagen: «Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. In ihm war das Leben und das Leben war das Licht des Menschen» (Joh 1,3–4). Der Sohn ist also der Ausgedrückte und Gezeugte und gleichzeitig der Ausübende des Vaters in der weltlichen Form: «Niemand hat Gott je gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat ihn uns verkündigt» (Joh 1,18). Er ist der authentische Erläuterer und Vermittler und außerhalb von ihm gibt es keinerlei anderen Zugang zur Wahrheit Gottes. Der Sohn ist jedoch nicht nur Erklärung des Vaters, sondern vor allem Erklärung der Liebe des Vaters: Das Geschenk des Sohnes an die Welt ist der vollkommene Ausdruck der Liebe Gottes zur Welt, die ursprüngliche und endgültige Form der Hingabe und vollkommenes Zeugnis des wahren Lebens, im Zeichen von Agape. «Aber wir sahen bereits, dass der Sohn nichts anderes offenbart als die Güte oder Liebe oder Gnade des Vaters, so dass er in seiner Gesamtauslegung durch sein Leben, Sterben und Auferstehen – und einzig hier! – Gott als ‹Liebe› (1 Joh 4,8) deutlich wird […] Charis und Aletheia können nunmehr in einem Atemzug genannt werden: ‹Wir schauten seine Herrlichkeit … voll Gnade und Wahrheit› (Joh 1,14)»127.
Das fleischgewordene Wort ist für Balthasar keine abstrakte theoretische Wahrheit, sondern eine Wahrheit, die man in ihrer Evidenz wahrnehmen kann, weil sie das gegenwärtig gewordene Wort ist (1 Joh 1,1), die Herrlichkeit in ihrer eigenen Evidenz. Und es handelt sich nicht nur um das Erscheinen des Seins, sondern um die Evidenz von Agape, die Gnade der Wahrheit, Äußerlichkeit des Logos, pléroma (Kol 2,9) ist und jede innerweltliche Wahrheit ontologisch einschließt und erhellt. Entlang dieser Linie bestätigt Balthasar das absolute Primat der christologischtrinitarischen Wahrheit gegenüber jeder anderen möglichen Ansicht und geht dabei über jeden abstrakten Formalismus und jede repräsentative Auffassung des Wahren hinaus. Das «Prinzip der Leidenschaft» entscheidet tatsächlich über die Qualität des christlichen Diskurses, der im gekreuzigten Jesus seinen Archetyp sieht: Es handelt sich nicht einfach darum ein Konzept auszudrücken, sondern die Wahrheit zu bezeugen, sogar an ihr zu sterben. Zeuge des verum und des bonum zu sein, kann sich von diesem Augenblick nicht mehr darauf beschränken, etwas festzustellen: Es bedeutet, sich selbst anzubieten, sich an die Geschichte der Welt zu binden, in das Drama der ek-sistentia einzutreten. In der unbedingten Hingabe, die das Christusereignis verwirklicht, findet das Absolute seine endgültige Epiphanie und die Wahrheit ihre Fülle: In 125 IGNATIUS VON ANTIOCHIA, Epistola alla Chiesa di Magnesia 8,2. 126 BALTHASAR, Theologik. Bd. II, 61–113. 127 Ebd., 16.
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der «Anti-Form» seines Todes am Kreuz, bei dem die Person des Sohnes sich selbst freiwillig schenkt – das ist die ‹Gnade› –, geschieht die wahre Erscheinung [Deutsch im Original] Gottes. Die ursprüngliche Form des Vermögens findet hier die ihr eigenste Bedeutung, in der radikalen ‹messianischen Umkehrung›, durch die sich die Kraft völlig in der Schwäche entfaltet, und die Liebe die authentische Vollendung des Seins wird. Das entspricht in der Tat einer der mächtigsten paulinischen Visionen/Offenbarungen: «Denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark» (2 Kor 12,10). Das christologische Herz der Theologie Balthasars öffnet sich so einer trinitarischen Ontologie, die die Wahrheit jedes realen Seienden offenbart, welche in der ursprünglich im Christusereignis eingebetteten Freiheit ‹über alle Maßen› und der kenotischen Kraft des Kreuzes ihr Paradigma findet128. Jedoch handelt es sich nicht einfach um einen asketischen Weg, der auf die wahllose Annahme des Negativen vorbereitet, fast wie eine Verherrlichung der Schwäche als Auslöschung jeder Reaktivität; es geht hingegen darum, die göttliche Vorsätzlichkeit zu beleuchten und sich endlich von der christologischen Entscheidung einholen zu lassen, in der Existieren bedeutet sich hinzugeben, um dem anderen die Freiheit zu geben, über sich zu entscheiden.
6. Der Abgrund der unendlichen Enthüllung Die evangelische Offenbarung wird zum ontologischen und anthropologischen Paradigma, das in der göttlichen Kenosis – des Vaters und des Sohns – seine gründende Um-Welt [Deutsch im Original] hat, im Zeichen jener Hingabe-Gabe, die ihre Potenz in der Schwäche zugunsten des anderen darbieten will. Hier ist das Offene Lebensquell, nicht reines Prinzip der Kraftlosigkeit. Seine Exposition ist weiterhin mit Gefahren verbunden, denn sie ist nicht entsagend und mutlos («Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern, so dir einer einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar», Mt 5,39). Im Übrigen impliziert gerade die Erfüllung der endlichen Freiheit in der unendlichen – als wechselseitiges Spiel, bei dem die eine, die göttliche, gerade in ihrem freien und ungeschuldeten Wirken (das in der Theodramatik 129 dargestellt wird) der Grund der anderen ist – für Balthasar ein reales Entgegentreten. Das von Seiten Gottes nicht despotisch, von Seiten des Menschen nicht servil ist. Das Christusereignis offenbart die Tiefe des Grundes des Seins, aus dem jede endliche Freiheit entsteht, ohne sie deswegen jedoch zu zwingen: Balthasar spricht von Ein-Fluss, im Fahrwasser von Irenäus, von suasio. «Diese ist (wie Augustin klassisch in ‹De Spiritu et littera› ausführt) weder Zwang noch
128 Vgl. TÜCK, Jan-Heiner, Der Abgrund der Freiheit. Zum theodramatischen Konflikt zwischen endlicher und unendlicher Freiheit, in STRIET, Magnus, TÜCK, Jan-Heiner (Hgg.), Die Kunst Gottes verstehen. Hans Urs von Balthasars theologische Provokationen, Freiburg i. Br. 2005, 82–116. 129 BALTHASAR, Theodramatik. Bd. II: Die Personen des Spiels; 2. Teil: Die Personen in Christus, Einsiedeln 1998.
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Verführung von außen, sondern Freilegung der innersten Freiheit des Herzens, die gerade in der Liebe zu Gott und zum Nächsten besteht»130. In der Dialektik von Ent- und Verhüllen bewahrt die Offenbarung stets einen nicht enthüllbaren Rest, der sich nicht in Form eines Begriffs festsetzen, bestimmen oder subsumieren lässt. Die Offenbarung als Liebe [Deutsch im Original] setzt sich der Dramatik der endlichen Freiheiten, der Ablehnung, dem Übersehen, jedem möglichen beharrlichen Konflikt in der Tat ohne Sicherheiten aus. Wie auf dem Bild der Auferstehung von Piero della Francesca, kann auch der auferstandene Christus, in der würdevollen und aufrechten Erhabenheit «jeder Faser seines Leibs», zu Füßen seines Sarkophags verlorene Blicke und vom Schlaf überwältigte Körper finden, die nicht einmal eine Stunde lang wachen könnten131. Auch wenn im Auferstandenen das höchsten Maß an Liebe und an Freiheit ihren Ausdruck findet – id quo maius cogitari nequit – kann man nicht wissen, ob diese excedentia von jemandem verstanden wird. «Doch wenn des Menschen Sohn kommen wird, meinst du, daß er werde Glauben finden auf Erden?» (Lk 8,18). Für Balthasar geht es nicht um die Bestätigung eines universalen logischsoteriologischen Prinzips, das dem Leben und dem Tod jedes dramatische Element nimmt und folglich die Irrelevanz der Historizität und der Freiheit des Einzelnen angesichts einer allumfassenden Wahrheit aufzeigt, die schließlich dahin geleitet, für alle zu hoffen. Auf der anderen Seite gelangt Balthasar auch nicht zu dem ungewissen und unausweichlich in der Schwebe verbleibenden Resultat, das Cacciaris Diaporetik umreißt. Der nicht ermittelbare Grund einer ursprünglichen Disponibilität des Schönen, Guten und Wahren scheint in seiner Theologie alles in allem jede hypothetische finale, das Seiende auslöschende Abgründigkeit abzuschwächen. Jedoch ist es auch so, dass sich die Wahrheit Gottes dem gläubigen Bewusstsein zwischen der Transfiguration und dem Kreuz in einer schwankenden Bewegung enthüllt und verbirgt, in der die Wahrheit der Liebe niemals in sich selbst ruht, sich in ihrer elementaren Schönheit zeigt. Die Erfahrung von Agape kann nur in der Dimension des Mysteriums erstrahlen. Das geschieht, stellt der Theologe fest, in jeder menschlichen Beziehung: «Hätte ein Liebender das Bewußtsein, das Objekt seiner Liebe bis zum Rand erkannt und überschaut zu haben, so wäre dieses Bewußtsein das untrügliche Zeichen, daß seine Liebe an ihrem Ende angelangt wäre»132. Die Liebe spricht, wie Jesus, in Parabeln. Die vollständige Enthüllung enthält keine Liebe: In der Klarheit ohne Hell-Dunkel öffnet sich der Raum für den Besitz und die Disposition des anderen, nicht für die vertrauensvolle Hingabe, in der allein das wechselseitige Schenken Nahrung findet. Vielleicht erzählt Rubljows Trinität diese respektvolle Zurückhaltung, im supra-essentiellen Dialog der Personen, in dem jeder Agape gemäß seiner eigenen Natur schenkt. In der aionischen Ruhe des innergöttlichen Lebens verbirgt sich nach Balthasar das Geheimnis jeder leidenschaftlichen und ungewissen Ge130 BALTHASAR, Epilog, 56. 131 CACCIARI, Tre Icone, 31–42. 132 BALTHASAR, Theologik. Bd. I, 237.
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schichte der Welt, denn in ihrem pléroma ist seit jeher alles enthalten. Und alles das, was existiert, spiegelt in den Augen desjenigen, der sehen will, die absolute Form dieses unmöglichen Friedens. «Denn nur wo Geheimnis ist, ist Tiefe und ist Anlaß und Möglichkeit zu Verehrung»133. Zwischen Glauben und Liebe existiert für Balthasar eine konstitutive Verbindung: Das Wissen der Liebe ist eine Frage der Ent-Hüllung, wie der mystagogische Diskurs einer Frau (und Expertin für Eros), Diotima von Mantineia, in Platons Symposium schon zutiefst erfasst hatte. Aber Liebe ist hier nicht wie bei Platon eine zwischen den Göttern und den Menschen vermittelnde Gottheit, die das Subjekt allmählich auf der Skala der Schönheit von der körperlichen Liebe zur seelischen Liebe und zur übersinnlichen Welt erhebt bis zur ekstatischen Vision des Guten. Balthasar erblickt in der Herrlichkeit und Güte der Zeugung des Sohnes und seiner Hingabe am Kreuz die grundlegende Um-Gestalt [Deutsch im Original] jeder anderen charis und alétheia. Über die Dialektik von Offenbarung und Mysterium zu sprechen bedeutet zu verkündigen, dass der Vater durch seinen Sohn zur Welt gesprochen hat und gleichzeitig zu erklären, dass der Sohn das Rätsel des göttlichen Esse nicht abschließt, aufklärt und löst; es bedeutet festzustellen, dass der Sohn, im Gegenteil, vor allem dem ewigen Mysterium des Vaters öffnet, erneut die erstaunte Befragung aufbringt und seine Exsistenz dem Abba aussetzt, dem er sich anvertraut. Die Zeugung Gottes bleibt bei all dem an und für sich unerforschlich (das weiß nur der Vater), auch für denjenigen, der ihr co-substantielles Wort ist. Christus ist der Ent-Hüller, derjenige, der den Menschen das Mysterium Gottes als Mysterium überbringt. Der grundlegende Charakter der historia Jesu für die Bestimmung der Wahrheit Gottes, der es unmöglich macht, sein Menschsein darauf zu reduzieren, äußeres Instrument und kommunikative Ergänzung zu sein, die sich an einem bestimmten Punkt vom Sohn verabschieden muss, ist ausschlaggebend für die Einzigartigkeit des christlichen Glaubens. Der Sohn ist der Herr aller, denn er ist der Eingeborene, der vom Bösen befreit, und absolute Manifestation des Vaters – «Wer mich sieht, der sieht den Vater» (Joh 14,9) –, der «in den weltlichen Bildern und Gleichnissen das göttliche Urbild aufleuchten lassen kann»134. Auf der anderen Seite erinnert Balthasar daran, das sich in Jesus Christus nicht einfach das Rätsel der innersten Wahrheit Gottes klärt, an die sich der christliche Glauben wendet. Das Mysterium ist jedoch keine Wirklichkeit, die unvereinbar ist mit der Wahrheit: Sie ist sogar ihr innewohnende Eigenheit, die die Offenbarung nicht auslöscht, sondern im Gegenteil erweitert. Auch der Sohn, das ursprüngliche und definitive Wort des Vaters, verweist angesichts dessen, was Balthasar den «johanneischen Komparativ» nennt, über sich selbst hinaus, entsendet zu etwas, das semper major ist (Joh 1,50; 14,28). Ebenso wie Adrienne, mystisch auf einer Linie mit Ignatius von Loyola, ist Gott etwas ganz Anderes, der immer Größere, der gerade in seinem intimsten und
133 Ebd. 134 Ebd., 79.
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tiefsten Kern – der Nächstenliebe – unergründlich bleibt, wie eine unerreichbare, obgleich radikal präsente Abgründigkeit: interior intimo meo superior summo meo (Augustinus). Das bedeutet allerdings nicht, dass die Mühe, nach dem Sinn des Wortes Gott zu suchen, vergebens ist, führt sie doch zur totalen Freiheit Gottes, sich zu offenbaren, gerade weil er unbegreiflich ist. Auf jeden Fall verbirgt sich der Grund des Seins, der alles am Leben erhält, immer «vor unser aller Augen»135. Nur die Wirklichkeit der Liebe ist es, die eine Verbindung bewahrt zwischen Enthüllung und Verhüllung, Offenbarung und Übermaß, Wort und Schweigen. Der überreiche Weg der Liebe (1 Kor 13) übertrifft alle Erkenntnis und jede Weisheit (Eph 3,19) und überwältigt vor allem durch das «immer Größere» der göttlichen Gnade jeden angemessenen Diskurs. Obwohl der Wille zum Wissen das ist, was die Logik des Verlangens in ihrem Innersten bewegt (Lacan), und die Liebe der Raum ist, in dem dieser Wille seine weiteste Ausdehnung findet, kann der Wille keinem so abstrakten wie antivitalen Vermögen des Signifikanten nachlaufen: Der Gegenstand des Verlangens widersteht strukturell nämlich jeder Idealisierung. Idealistisch betrachtet kann man feststellen, dass das Wissen um die Liebe nicht wie eine Vor-stellung [Deutsch im Original] gedacht werden kann, als Position eines Objekts, das einem Subjekt gegenübersteht, sondern als Dar-stellung [Deutsch im Original] gedacht werden muss, als Inszenierung, und Ausstellung, da es jede Objektivität und jeden Gegensatz zurückweist136. So wie man beim Wissen nicht mehr von gegebener Präsenz sprechen kann, so kann man laut Balthasar auch bei der Wirklichkeit nicht vom Sein als Einfach-Präsenz sprechen, sondern nur vom Erscheinen, vom Geschenk der Präsenz. Von diesem Mysterium zu reden, bedeutet für den Theologen, das Herz des Seins zu erreichen, jene Intimität des Realen zu berühren, die sich selbst
135 WALLACE, David Foster, Das hier ist Wasser, Köln 2012, 34. Zu Beginn der Rede, die er anlässlich seines Hochschulabschlusses am 21. Mai 2005 am Kenyon College hält, erzählt Wallace diese kleine Szene: «Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: ‹Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?› Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: ‹Was zum Teufel ist Wasser?›» (Ebd., 9). Man kommt kaum umhin, an diesen kleinen Dialog zu denken, in einer idealen und ungewöhnlichen Übereinstimmung mit Balthasars Diskurs über Liebe: Sie ist so essentiell, ursprünglich und offensichtlich darin, Grundlage des Lebens, des Generierens und der Generationen zu sein, dass sie verborgen bleibt, vor den Augen aller. 136 «Sie [die Liebe] schließt alle Entgegensetzungen aus» (HEGEL, Die Liebe, in Frühe Schriften, Frankfurt am Main 1986, 246), denn der Gegensatz bedeutet Trennung, und in dieser Trennung wachsen die Herrschaft, die Distanz, die Objektivierung heran. In diesem berühmten Fragment über die Liebe interpretiert der junge Hegel die Liebe als Gefühl, aber nicht in einem psychologistischen oder romantischen Sinne: «Die Liebe ist ein Gefühl, aber nicht ein einzelnes Gefühl» (ebd.): Jede Parteilichkeit und folglich jeder Gegensatz wird im Namen eines Gefühls überwunden, welches das gesamte Leben durchläuft und berührt, bis es sich in der unendlichen Vielfalt der Gefühle verbreitet, um sich in seiner eigenen vereinigenden Einheit wiederzufinden. Die Liebe vereint also dank eines Gefühls, aber nicht eines einzigen, empirischen, willkürlichen, bloß spontanen und physiologischen Gefühls, und auch nicht dank der Summe aller Gefühle. Da die Liebe das Band und das vereinigende Element der Lebenden ist, setzt die Liebe gleichzeitig Einheit und Mannigfaltigkeit voraus und stimmt folglich mit der Vereinigung von Einheit und Trennung, Identität und Differenz überein, die der Name des Ganzen ist.
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ein Wunder bleiben möchte: «Die Liebe, die der Sinn und das Ziel aller Dinge ist, drängt nicht dahin, sich selber geheimnislos zu durchschauen, sie ist so sehr substanzielles Mysterium, daß sie sich selber ein Wunder bleibt»137. Dies geschieht, weil die Liebe, wie schon Hegel in seinen Jugendschriften festhält, eine vereinigende Macht ist, aber nicht durch die Kräfte des Intellekts: Der Intellekt vereint das Vielfältige über begriffliche Verbindungen, die durch Abstraktion entstehen und folglich die Spaltung von Begriff und vereinigter Mannigfaltigkeit aufrecht erhalten. Die Liebe vereint, aber nicht über die Vernunft (des Aristoteles, von Kant und Fichte), die ein unendlich aufgeschobenes, niemals völlig erworbenes Sein-Müssen voller Melancholie bleibt 138 : Dieser Stand der Dinge scheint unter jedem Gesichtspunkt eine Welt der Äußerlichkeit zu gestalten, in der es dem Leben nicht gelingt, sich selbst zu spüren, es sich hingegen in seine Isolation zurückzieht und sich ständig von einem Ende und von einem Ort zum anderen bewegt, im fortwährenden Wunsch nach Widerspiegelung, ohne dass es sich je in etwas wirklich finden, sich in einer sinnvollen Einheit sammeln könnte. In einem solchen Horizont des «Perpetuum mobile» kann sich das Leben nicht zur höchsten Bedeutung erheben, so dass mit dem Tod der Bedeutung auch der Tod selbst die Möglichkeit, alle Bedeutung zu verlieren, erfährt. Aus diesem Grund müssen die Wahrheit und die lebendige Welt – auch die der Religion und der Moralität – «in einer sinnlicheren Hülle»139 untergebracht werden, denn sie müssen vom Empfindungsvermögen, das heißt von der Einzigartigkeit aufgenommen und gewürdigt werden. Das bedeutet, die Anziehung einer Wirklichkeit zu verspüren, die gerade durch das Rätsel der Liebe unfassbar und zugleich verheißungsvoll ist: das sie begehrt und gleichzeitig zurückweist, in der Unmöglichkeit einer vollkommenen, versöhnten Bedeutung. Innerhalb dieses Grunds, der zurückweist und unsagbar ist, uns anzieht und zugleich abweist, der also kein Gleichgewicht um jeden Preis, sondern béance 140 bringt, die niemals erfüllt werden kann, wagt es Balthasars trinitarischer Diskurs dennoch, seinen Blick auf das Geheimnis der innergöttlichen Differenz zu richten und die intime Relationalität zu erleuchten, die abgründig in Gottes Herz wohnt. Es geht nicht darum, sich einer neuen Gegebenheit, einem neuen bestimmten Sinn, einer Materie, einer höheren Objektivität anzuvertrauen. Sondern es geht darum, dass das Leben in der Liebe das Leben spürt und sich also das Absolute exponiert. Das von dieser Kor-respondenz verstärkte Leben ist ein Leben, dem die
137 138 139 140
BALTHASAR, Theologik. Bd. I, 241–242. HEGEL, Die Liebe, 246. HEGEL, Fragmente über Volksreligionen und Christentum, in Frühe Schriften, 24. Die béance ist für Lacan die Kluft im Sein, ein zentraler Begriff seiner psychoanalytischen Theorie, der den unermesslichen Abstand zwischen dem Ex-sistieren, das heißt der Geburt des Subjekts, und der ursprünglichen Beziehung mit dem mütterlichen Körper bezeichnet: Das Austreten aus der dualen Beziehung mit dem Verlangen der Mutter und die Trennung, die auf es folgt, bringt das Subjekt dazu, unaufhörlich den Anderen zu suchen, das heißt, den anderen Teil, der ihm ein Gefühl der Vollständigkeit gibt. In diesem Fall kann es auf die Unmöglichkeit einer vollkommenen Bedeutung des Ursprungs bezogen werden, von dem wir zwar strukturell getrennt sind, der aber dennoch zum abgründigen Zentrum der Anziehung/Abstoßung jedes (un)möglichen Diskurses und jedes Versuchs der Symbolisierung wird.
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Fremdheit genommen wurde, ein entblößtes Leben, das sich selbst dann, wenn es sich im ganz anderen verliert, gegenwärtig ist.
7. Zeugung: Mysterium Trinitatis Balthasars theologischer Diskurs nimmt den agapischen Blickwinkel nicht allein deswegen ein, weil er eine Logik des Lebens ausarbeiten möchte, die imstande ist, die Wesentlichkeit der Beziehung Offenbarung – Schöpfung anhand eines Modells der konkreten und affektiven Vernunft zurückzugewinnen, das die vorherrschende intellektualistische Sichtweise der Glaubhaftigkeit der christlichen Wahrheit überwinden will. Obgleich sich diese Spannung durch sein gesamtes Werk zieht, folgt sein Standpunkt mehr spekulativ dem Prinzip von Agape als begründendem Ereignis der ontologischen Qualität der Offenbarung und der gesamten Schöpfung, das heißt, als das spezifisch Christliche der Nennung Gottes. Die Forschungsarbeit des Theologen scheint an einem bestimmten Punkt besonders eindringlich auf diesem Kern zu beharren, aus dem Bedürfnis heraus, ein solideres Denken um den affektiven Ursprung des Logos und das agapische Transzendentale herum auszuarbeiten. Wir glauben, dass, auch in der klassisch metaphysischen Ausrichtung von Balthasars Diskurs, die Theologie einer weiteren Vertiefung und einer aufmerksamen Überarbeitung der (wenn auch undenkbaren) Fruchtbarkeit dieses Grunds zugeführt wird. Die Stärke dieses Wegs, der sich im aktuellen theologischen Panorama als interessanter theoretischer Fokus darstellt, scheint sich besonders in Balthasars Überzeugung zu konzentrieren, dass – wenn die Frage des Affektiven und der Freiheit ihren spekulativen Ort des Keimens nicht im Ursprung findet – ihre kosmo-anthropologische Wiedererlangung notwendigerweise vorgefasst sein wird. Die tendenziell projektive Neigung zur äußeren Nebeneinanderstellung, wenn nicht gar des tatsächlichen Bedürfnisstrebens, entfaltet in der Tat eine nur schwer einzudämmernde Wirkung am Horizont einer substantialistischen Metaphysik oder einer Theologie, die einem anthropologisch-transzendentalen Weg folgt. In einem gegenüber der Dialektik der Kräfte und Formen von Agape bei der Nennung Gottes tendenziell aphasischen Panorama erscheint Balthasars Standpunkt als vielversprechend für das Überdenken des ontologischen Diskurses, in Übereinstimmung mit einer Vorstellung vom Wirklich-Sein als ursprünglicher und einladender Schoß von allem, das entsteht und zur Befragung des «ewigen Urbildes des absoluten Liebesereignisses»141 wird, in dem sich jedes Ding bildet und Leben findet. Balthasars Theo-Logik eröffnet einen anregenden spekulativen Horizont, denn sie entspringt dem Versuch, eine grundlegende Ontologie der Zeugung des Logos und der Erschaffung der Welt auszuarbeiten, in der die Gestalt von Agape, da sie realursprünglich von Gott ist, intuitiv als das affektive Absolute ans Licht kommt, in dem,
141 BALTHASAR, Theologik. Bd. II, 40.
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aus dem, zu dem hin Gott existiert und sich bewegt. Aus diesem Grund sollte innerhalb von Balthasars Sichtweise die philosophisch-ontologische Struktur des Ursprünglichen erforscht werden, das katalogisch die Grundlage aller geschaffenen Wirklichkeit wird: Das Mysterium der göttlichen Personen spiegelt und übersetzt sich nämlich, in der Unmöglichkeit, ihre communio und perichoresis gedanklich zu erfassen, in der Wirklichkeit der Transzendentalen der Schöpfung und errichtet sie142. Gott ist an sich ist nicht teilnehmbar. Doch seine Energien sind der Kreatur zugänglich (Gregorios Palamas). Das «schreckliche Mysterium des Vaters» und damit das Mysterium der Zeugung des Sohnes143 ist der Ort, wo die theologische Frage ihren Tiefpunkt erreicht. Hier nämlich stößt sie auf das inter-trinitarische Rätsel der göttlichen Abstammungen, bei denen das wechselseitige Schenken des Vaters an den Sohn und beider an den Heiligen Geist keiner Notwendigkeit und keiner Willkür entspringen, sondern einzig der Natur Gottes. Balthasar findet – analogisch und katalogisch, in einer asymmetrischen Zirkularität – den Kern dieser Gott und der existierenden Welt innewohnenden Dynamik und Dialektik (die immer leuchtende Dramatik, die die Beziehung zwischen unendlicher und endlicher Freiheit, aber auch die Kenosis des Vaters und des Sohnes beseelt) in der Logik der Liebe. Balthasar möchte in dieser Richtung über die klassische trinitarische Doktrin hinausgehen, wo der Vorrang der Einheit gegenüber dem Unterschied der drei göttlichen Personen – wie sie im augustinischen Modell definiert werden – die Gefahr birgt, die Wirklichkeit der Verbindung als Wahrheit des Deus-Trinitas zu trüben: «Gott kann ohne die Differenz der Hypostasen nicht der Gott sein, wie die Offenbarung ihn kennt: der Gott der Liebe. Wenn es aber absolut gut ist, dass es den Anderen gibt, dann ist diese Andersheit innerhalb der vollkommenen Wesenseinheit das Fundament für die mögliche Andersheit auch des mit Gott nicht wesenseinen Geschöpfs und für die diesem eigentümlichen unaufhebbaren Differenzen»144.
Balthasars spekulative Arbeit konzentriert sich folglich darauf, eine Auffassung vom Sein zurückzulassen, bei der Substanz und Relation als seine alternativen Bestimmungen erscheinen, deren jeweiliges Primat im Laufe der Zeit gegensätzliche metaphysische Konzeptionen hervorgebracht hat. Die von der Logik der Liebe ausgedrückte substantielle Relationalität hat den Vorzug, die starre ontologische Kontraposition aufzulösen, in der die klassische Philosophie erstarrt ist, um sich einer dynamischen Einheit von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zu öffnen, in der die Liebe die Verbin-
142 «Hier entsteht die Beziehung Trinität-Schöpfung, hier werden die Wurzel und der höchste Grund der Imagines Trinitatis in der Welt erkannt, nach der analogischen und katalogischen Methode, sowie innerhalb dieser zweifachen Bewegung, die Aufgabe der Liebe, die auch in der Differenz das Göttliche und das Menschliche vereint» (PARADISO, Nell’intimo di Dio, 19–20); vgl. auch TREITLER, Wolfgang, Wahre Grundlagen authentischer Theologie, in LEHMANN, Karl, KASPER, Walter (Hgg.), Hans Urs von Balthasar. Gestalt und Werk, Köln 1988, 175–190. 143 Vgl. SERRETTI, Massimo, Il mistero della eterna generazione del Figlio. Attraverso l’opera di Hans Urs von Balthasar, Roma 1998. 144 BALTHASAR, Theologik. Bd. II, 76.
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dung der Unterschiede ist. Es tut sich der Horizont einer Ontologie der Beziehung auf, in deren Licht Gemeinschaft und Geschenk die absoluten Bestimmungen des Seins werden, das nicht mehr als fondamentum inconcussum, sondern als ursprüngliche Einheit-Verbindung verstanden wird. Es handelt sich nicht darum, im Kielwasser der zeitgenössischen Phänomenologie das Sein als Gabe zu begreifen. Balthasar scheint sich, radikaler, einer unbedingten Öffnung, einer ursprünglichen Pro-Affektion zuzuwenden: hin zur Liebe also, als dem absoluten Sein innewohnender Name. Nichols erinnert uns daran, dass «die Wirklichkeit nur dann, wenn sie auf einem Weg erfasst wird, der gleichzeitig Christologisch und Trinitarisch ist, als Wirklichkeit vorgebracht werden kann, die wirkliche Fülle besitzt»145. Die Wiedererlangung der generativen Dimension des Vaters, also auch des affektiven Ursprungs des Logos, stellt sich tatsächlich als wesentlich dafür heraus, dem Charakter von ‹Enthüllung der Liebe und der Gnade›, den die christliche alétheia in ihrem begründenden Kern birgt, wieder Sinn zu geben. Balthasar stellt die ausgustinisch-thomistische Tradition nicht nur deswegen in Frage, weil sie das Modell des menschlichen Geistes bevorzugt, um das innergöttliche Leben analogisch zu sagen, und damit ein autoreferentielles Verschließen riskiert; problematisch erscheint vor allem die thomistische Vorstellung von der Abkunft des Worts – im Sinne eines intellektuellen Abstammens, im Unterschied zu dem des Heiligen Geistes, einer wahren Abkunft aus der Liebe. Balthasar ist nämlich der Auffassung, dass man vom Sein des Vaters von diesem lauteren Grund der Unvordenkbarkeit der Liebe ausgehend sprechen kann, den der Vater nur als Geschenk besitzt und der dem Sohn als Erstem gegeben wird. Die eingehende Beschäftigung mit der spekulativen Kreativität der theologisch-patristischen Vision und vor allem der tiefe Einfluss Adrienne von Speyrs formen Balthasars philosophischen Horizont in einem radikal theologisch-trinitarischen Sinne. Die Substanz wird, wie man in gewisser Weise sagen kann, in ihrem Status als Geschenk Subjekt, ohne sich dadurch plotinisch in ihrem Fortschreiten zu erschöpfen. Aus diesem Grund findet die Zirkularität der Transzendentalen im bonum den expansiven Zug des Seins, ohne den «auch das Licht der Wahrheit als ein kaltes, niemand beglückendes Licht erscheinen [könnte], wenn ihm nicht darüber hinaus die Wärme des Guten zukommen würde»146. Die Güte des Seins bedeutet die Überwindung des in sich und für sich Verweilens, hin zu einem elementaren Sich-Geben und Sich-Sagen (verum), in dem einzig die Tiefe Wert erlangt. Erst wenn sich das Fundament auftut, kennt es für Balthasar seine Tiefe: Gerade in seiner Selbst-Enthüllung, seiner Bewegung des Herausgehens aus dem in sich und für sich, nimmt es, als Licht und Maß dessen, was sich öffnet und erscheint, Gestalt an. Die philosophische Öffnung dieser theologischen Vision führt wieder zu Schellings Philosophie zurück. Das moderne Denken fasst Gott wieder als Leben und wirk-
145 NICHOLS, Aidan, Say it Pentecost: A Guide through Balthasar’s Logic, Edinburgh 2001, 65. 146 BALTHASAR, Theologik. Bd. I, 251.
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lichen Prozess auf, als Willen und Freiheit, sich selbst im Schöpfungsakt zu setzen. Schellings Gott ist causa sui: Allerdings nicht nach Spinozas Substanz, sondern im ursprünglichen Akt der Selbst-Öffnung, der Selbst-Bestätigung angesichts des anderen, das heißt, als Offenbarung und Schöpfung. Es liegt nämlich in seiner Natur sich zu geben und auszusetzen: Das, was man zeigt (pulchrum), teilt man mit, gibt man (bonum). Die Wahrheit ist für Balthasar immer Entdeckung des Seins, das sich, indem es sich zeigt, anbietet und offenbart unvermeidlich auch selbst erhellt: «Wenn der Grund sich äußert und in Erscheinung tritt, so wird er dadurch erst wirklich zum Grund, zu etwas, was erst dann Tiefe gewinnt, wenn es seine eigene Tiefe ermißt»147. In Übereinstimmung mit der idealistischen Dialektik wird das Sein zu seinem Selbst und findet seine Wahrheit, indem es sich äußert. Die anthropomorphe Metapher von der Zeugung des Sohnes wird, in der maior dissimilitudo, die sie stets begleitet, zum ewigen Paradigma jeder weiteren möglichen Zeugung, zum ursprünglichen Schoß jeder Geburt des Seins.
147 Ebd., 247.
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1. Am Anfang war das Wort: Kenosis Gottes Das Transzendentale des bonum drückt die kommunikative Bestimmung des Seins – wie ein generelles ontologisches Prius – als Tendenz zum Verzicht auf das Nur-fürsich-Sein aus, um sich dem anderen ungeschuldet und riskant zu ergeben (bonum diffusivum sui). Dennoch ist es das Transzendentale von amor – katalogisch gedacht in der Herkunft von Agape aus der ewigen Zeugung des Sohnes –, das die kommunikative Essenz des Guten besiegelt, im Zeichen nicht nur des Ausdrucks und der Ausstrahlung, sondern radikaler noch, der Beziehung. «Und wenn das Sich-Schenken des Vaters an den Sohn und beider an den Geist weder einer freien Willkür noch einer Nötigung, sondern dem innersten Wesen Gottes entspricht, so kann dieses innerste Wesen […] doch schließlich nur die Liebe sein» 148. Es handelt sich um die Zeugung des Logos, das heißt, des Gebens, oder besser gesagt, des Sich-Gebens Gottes: Man kann also feststellen, dass die intime Essenz nicht so sehr eine Substanz, als einen Akt, eine Bewegung bezeugt – mehr als ein Hauptwort ein Zeitwort («Am Anfang war das Wort», Joh 1,1). Die Selbst-Übergabe, «die Hingabe des Vaters seit jeher», und seine Aufnahme im Sohn und im Heiligen Geist, stellt für Balthasar das unvordenkliche und unvorstellbare Fundament aller Dinge dar. «Die Unausdenkbarkeit Gottes ist eins mit der Unausdenkbarkeit des Mysteriums des Vaters, der nie eine in sich selbst abgeschlossene, allwissende und allmächtige Person war, sondern der von jeher zum Sohn hin Sich-Enteignende, und damit nicht genug: mit und durch den Sohn sich nochmals an den Geist Übergebende. Das sich darin Durchhaltende ist das wesenhaft Göttliche»149.
Diese Unvorstellbarkeit kann als Kenosis Gottes bezeichnet werden: Der erste innertrinitarische Schenkungsakt, die erste unerklärliche Selbst-Übergabe ist die des Vaters, der seine Göttlichkeit nicht für sich behält, sondern der Freiheit seines Sohnes überlässt, der sie seinerseits dem Heiligen Geist übergibt, im ewigen Kreislauf der Liebe zwischen den dreien, der ersten und letzten Wurzel aller Dinge. Diese Ur-Kenose [Deutsch im Original] ist der Ursprung aller Theodramatik150 und stellt den katalogischen Schlüssel zum Verständnis jeder anderen Kenosis Gottes dar – Erschaffung der Welt, Menschwerdung und Mission des Sohnes –, bei welcher der Andere real und
148 BALTHASAR, Theologik. Bd. II, 126–127. 149 Ebd., 127. 150 BALTHASAR, Theodramatik. Bd III. Die Handlung, Einsiedeln 1980, 297–303 u. a.
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II. Die Herkunft von Agápe
analogisch lesbar wird, im Lichte des Abstiegs des Vaters, hinunter, bis ad inferos, in das Leiden des Sohnes. Durch die methodische Anwendung der ‹katalogischen Analogie› von trinitarischer Theologie und Philosophie des Seins möchte Balthasar sich also auch der unmöglichen Alternative analogia fidei/entis entziehen, mit dem Ziel, die unendliche Dramatik der weltlichen Existenz und der Heilsgeschichte im Lichte des unerreichbaren Rätsels des Mit-Abstiegs Gottes und der absoluten Analogie zu denken, die Jesus ist, in welchem Gott auf unübertreffliche und einzigartige Weise herabgestiegen ist. Jedes Seiende verweist für Balthasar also auf das, was es weiterhin gründet, und zwar kenotisch (katalogisch), als aufnehmendes Zentrum, eschatologische Fülle, radikaler Sinn, der die gesamte Schöpfung anzieht. Balthasar führt seine trinitarische Theologie auf einen Weg, der dem Cacciaris ähnelt – aber in gewisser Weise antiphrastisch ist –, in das abgründige Mysterium der Liebe Gottes, im Bestreben, eine theologische Ontologie auszuarbeiten, in welcher der ursprüngliche Grund als Selbst-Öffnung, Schenkung, Pro-Affektion die Arché bildet, in der, zu der hin jedes Ding entsteht, sich wendet, sich im Sein hält. In der Theologik zögert er nicht immer wieder festzustellen, dass die Liebe «der anbetungswürdige Kern aller Dinge [ist], aber sie betet sich nicht selbst anbetet, sondern wendet in einer unaussprechlichen Bewegung den Blick von sich selber ab»151. Der Theologe scheint uns, nicht ohne Scheu, zu einer tiefen Schicht des Kosmos führen zu wollen, zu einem Riss im Sein, durch den es möglich ist, den abgründigen, zuverlässigen, verborgenen Grund aller Dinge zu sehen, seiner ewigen Auswölbung. Das ist der «anbetungswürdige Kern», die unversiegbare Quelle des Realen, aus der wir alle schöpfen, einfach um am Leben zu bleiben. Es handelt sich um das Band, welches jeder endlichen Existenz voraus- und über sie hinausgeht, das ganze Sein umfasst und sich offenbart, indem es sich verbirgt, in seiner irreduziblen immanenten Transzendenz. Und das man gerade deswegen nicht risikolos benennen kann. Die unvordenkliche Liebe, «absolut gesetzt, ist das schlechthin Grundlose, das diese Eigenschaft allem mitteilt, was, ihre Fülle näher bestimmend, sonst noch als ‹Eigenschaft› Gottes erwähnt werden kann»152. Wie Lochbrunner feststellt, ist die Liebe in der trinitarischen Spiritualität Balthasars «nicht eine der identischen und gleichberechtigten wesentlichen Eigenschaften Gottes; alle attributa divina sind nämlich von Liebe durchdrungen und von der Hypostase bedingt»153. Balthasar schreibt: «Dass Jesus überhaupt da ist, ist ein Beweis der freien und doch absoluten Liebe des Vaters: ‹Sosehr hat Gott die Welt geliebt…› (Joh 3,16), ‹wenn er seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern ihn für uns alle dahingegeben hat, wie sollte er uns mit ihm nicht alles geben?› (Röm 8,32). Ist damit nicht das Erste und Innerste des Vaters ausgesagt, aus dem alles übrige erfließt
151 BALTHASAR, Theologik. Bd. I, 242. 152 BALTHASAR, Theologik. Bd. II, 127–128. 153 LOCHBRUNNER, Manfred, L’amore trinitario al centro di tutte le cose, in: FISICHELLA (Hg.), Solo l’amore è credibile, 121.
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und hinter das nicht zurückgegangen werden kann? Es ist nicht irgendeine Form von Liebe, wie die Welt sie kennt, sondern etwas, das das ewige Umsonst der Liebe des Vaters offenbart»154.
Die Kritik hat hier ein gewisses Ungleichgewicht festgestellt: In der von Balthasar beschriebenen trinitarischen Beziehung erscheint weniger eine wahre Zirkularität von Agape als eine gewisse Hegemonie der linearen Eindeutigkeit des Geschenks. Unter den göttlichen Personen scheint es keine ‹kenotische Reziprozität› zu geben, keine korrelative Bewegung, bei der jeder gibt und empfängt155. Das Gleiche scheint in der Beziehung zur endlichen Welt zu geschehen. Trotz dieser theologischen Kontraktion der Kenosis, könnte das «ewig Grundlose» der von Balthasar (patristisch) hervorgehobenen Liebe ein interessantes Instrument für die Entschlüsselung des Ursprünglichen bieten, vor dem Hintergrund der abgründigen Disponibilität des Realen zur Entäußerung aus Liebe: In ihr kann die gesamte Heilsgeschichte aufgenommen – und genannt – werden. Das unergründliche Grundlose der Zeugung des Logos und der Erschaffung der Welt nennt eine Wirkung ohne Ursache, einen Ursprung ohne Produktion, eine Wirklichkeit ohne Objektivierung, ein Fundament jenseits aller Finalität und Notwendigkeit. Eine grundlose Liebe [Deutsch im Original] also, die dem Grundlosen der Schöpfung entspricht, aufgrund dessen «kein Geschöpf […] sagen [kann], warum es ist, warum überhaupt etwas Wirkliches ist»156; so wie im Grundlosen der Erlösung niemand irgendein Recht oder irgendeine vorgefasste Bestimmung für sich in Anspruch nehmen oder verlangen kann. Balthasar unterstreicht, dass es hinter dem Grundlosen der Liebe nichts mehr zu erfragen gibt: Man kann nur sagen, dass in ihrem Abgrund seit jeher der Ursprung und der Sinn des tatsächlichen Entstehens des Lebens, des Besten, die wirkliche Orientierung desjenigen, der eine mögliche Bedeutung oder Vollendung sucht, eingefügt ist und bewahrt wird. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich um die gleiche Frage, die im Zentrum von Kants Kritizismus pulsiert, in dem die Freiheit als das unwägbares noumenon einer Wirkung ohne Ursache erscheint, ist sie doch eine Wirklichkeit, die Zeit und Raum durchschneidet und unmöglich noch weiter abgeleitet werden kann, jeden persönlichen Willen erträgt157. Schelling wollte seinerseits, auf den Spuren dieser radikalen Intuition Kants, die Idee von Freiheit weiterentwickeln, und hat sie auf alle Dinge ausgedehnt, sie als lebendigen Anfang von allem, auch von Gott selbst, gedacht, als Leben und wirklichen Prozess: In seinem transzendentalen System ist sie «das einzige Unverständliche, Unlösbare – von Natur aus das Grundloseste, Unbeweisbarste, doch gerade deshalb das Unmittelbarste und Offenbarste dessen, was wir wissen.
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BALTHASAR, Theologik. Bd. II, 129–130. Vgl. GRESHAKE, Gilbert, Der dreieine Gott. Trinitarische Theologie, Freiburg im Breisgau 2007. BALTHASAR, Theologik. Bd. II, 130. Vgl. MELCHIORRE, Virgilio, Il nome impossibile. Saggi di filosofia della religione, Milano 2011.
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II. Die Herkunft von Agápe
In Übereinstimmung mit dem an Schelling angelehnten Weg, den Balthasar und Cacciari auf unterschiedliche Weise beschreiten, setzt auch der Philosoph die Freiheit en arché: Allerdings handelt es sich nicht um die omnikompossible Indifferenz, aus der alles ek-sistiert, sondern um die Freiheit als Agape, ein ursprünglicher Akt, mit dem der Vater seine ganze Göttlichkeit ausdrückt und entäußert, indem er den anderen zeugt – den Sohn – mit einem Gestus, den nicht Er selbst, als unerreichbares Prius jeder anderen möglichen Beziehung, Zeugung und Äußerlichkeit, ausführt. Diese Mitteilung der göttlichen Natur in Form eines Akts der Liebe, der Leben schenkt (Zeugung) und sich nicht darauf beschränkt, es hervorzubringen wie irgendeine wirkungsvolle Ursache, ist für Balthasar das Siegel der Offenbarung, die sich christlich nennt: Gleichzeitig ist sie ein radikaler Hinweis darauf, dass – wie er selbst im dritten Band der Theologik feststellt: «Die reine Frucht der (auf das Eigensein verzichtenden) Liebe beruht als solche nicht auf einer Entäußerung, sondern ist die reine Positivität des Guten»158. Die omnikompossible Indifferenz des Vorausgesetzten verwandelt sich in Balthasars ontologischen Überlegungen in die Aussicht auf eine wohlwollende Öffnung, eine positive Auswölbung, ein unvergängliches Geschenk, das die Alternative von Liebe als Leerwerden oder Fülle/Verwirklichung des Lebens überschreitet. Dieser Horizont öffnet sich zur radikalen Aufforderung an die Figur der Schenkung, den traditionellen Hintergrund des Versuchs der ontologischen Interpretation der Liebe umfassend zu überdenken. Agape ist für Balthasar ursprünglich Zeugung im Guten (en arché – mehr noch als Zeugung des Guten). Es ist ein Verdienst Emanuel Tourpes159, auf den strategischen Wert dieser ganz lapidar ins Zentrum der metaphysischen Anlage von Theologik III gestellten Passage hingewiesen zu haben, in welcher der unleugbare Einfluss zu erkennen ist, den Ferdinand Ulrich160, dessen spekulative Intensität seiner Meinung nach zu Unrecht von der philosophischen und theologischen Kritik vernachlässigt worden war, auf Balthasar ausgeübt hat. Hier findet sich ein entscheidender Zugang zum Kernpunkt der Frage. Und tatsächlich scheinen die späten Werke des Theologen, folgt man den Zitaten und den ausdrücklichen oder verborgenen Hinweisen und Verweisen, von sechs Händen geschrieben zu sein: von Balthasar, zusammen mit Adrienne von Speyr und Ferdinand Ulrich161. Das Leitmotiv des Sein-als-Liebe ist auch hier das tragende Gerüst der Philosophie Balthasars: Der Reichtum dieser Annahmen entfaltet sich nicht nur entlang der kenotischen Achse, des Leerwerdens, der gehorsamen Entäußerung, sondern spiegelt
158 BALTAHSAR, Theologik, Bd: III. Der Geist der Wahrheit, Einsiedeln 2015, 209. 159 TOURPE, Emmanuel, La positivité de l´être comme amour chez Ferdinand Ulrich à l’arrière-plan de Theologik III. Sur un mot de Hans Urs von Balthasar, in «Gregorianum», 89, 1 (2008), 86–117. 160 Vgl. ULRICH, Ferdinand, Homo Abyssus. Das Wagnis der Seins-Frage, Einsiedeln, Freiburg im Breisgau 1998. Über die philosophischen Einflüsse auf Balthasar vgl. LOCHBRUNNER, Manfred, Hans Urs von Balthasar und seine Philosophenfreunde: Fünf Doppelporträts, Würzburg 2005. 161 TOURPE, La positivité de l´être comme amour chez Ferdinand Ulrich à l’arrière-plan de Theologik III, 88.
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sich im ontologischen Prisma der Überfülle/Fruchtbarkeit des Realen und der nährend-mütterlichen Dimension des agapischen Körpers des Seins162.
2. Analogia caritatis und Teilhabe Balthasar überdenkt also das klassische Prinzip der Analogie des Seins in einem trinitarischen Licht und verwandelt es in analogia caritatis: «Glaubhaft ist nur Liebe», denn in ihr wurde die Wirklichkeit gedacht und gezeugt, und nur im Lichte der Bindungen Agapes entfaltet sie sich und wird erkennbar. Das Vorausgesetzte Balthasars zeigt sich als Freiheit, die Freiheit schenkt und jede Trennung und jeden Schmerz in sich aufnimmt – ist dieses doch das Kreuz des Sohnes –, im transzendentalen Raum einer größeren Pro-Affektion – der Heilige Geist – als Ort-Band jeder Beziehung, in Gott und außerhalb von Gott. Das trinitarische Sein entspricht in diesem Sinn der Anfang-Umgebung jedes Seienden, und die Liebe, ihre immanente Wahrheit, dem logischen und ontologischen Prinzip, das die Wirklichkeit analogisch strukturiert. Die Unähnlichkeit, «über jedes Ding hinaus», die die Landschaft der Welt einhält und umfasst, ist der Unterschied von Agape, die jede endliche Bestimmung vorwegnimmt und sich in jeder möglichen Bindung widerspiegelt, wie immer in Erwartung, erkannt zu werden. Und in der «immer größeren Unähnlichkeit» entfaltet auch die analogia caritatis ihr gesamtes Vermögen: Gerade aufgrund dieser anfänglichen Differenz entgeht ihrer Bahn nichts von der besonderen Geschichte der Wesen. Jeder Ausdruck des Seins und jeder Punkt der Intensität muss für Balthasar zu seinem theologalen Ursprung zurückgeführt werden, in einem abgründigen und unerforschlichen, jedoch gründenden Austausch, der jenseits jeder anthropozentrischen, pantheistischen, ontologistischen Logik anzusiedeln ist. Denn die Liebe den Mensch «‹organisiert› […], er sie nicht; sie macht ihn – den immer Widerstrebenden – zu ihrem Organ»163. Wie ein dichtes, zartes Gewebe, das alle Dinge trägt, ohne dass es wirklich erfasst und festgesetzt werden könnte, zieht sich die Liebe durch die miteinander verbundenen Gefäße des Netzes der Seienden und belebt jede Verbindung des Lebens. Teilhabe und Distanz sind wie Systole und Diastole, zwischen denen sich der Rhythmus der analogia caritatis in der Schöpfung einrichtet, die seit der Entstehung der Welt an der «immer liebenswerteren» Geschichte Jesu Christi hängt, «totius Patris expressio»164. Das analogon ist nur in seiner universalen Einzigartigkeit erschienen, deren Licht sich wie ein Schimmer in den feinen Details bricht, von denen die Liebesgeschichten der Menschen ganz dicht durchzogen sind.
162 Vgl. IDE, Pascal, L’être comme amour chez Balthasar. Approches et prolongements, in: AA.VV., Chrétiens dans la societé actuelle. L’apport de Hans Urs von Balthasar, Magny-Les-Hameaux 2006, 259–304. 163 BALTHASAR, Glaubhaft ist nur die Liebe, 89. 164 THOMAS VON AQUIN, Super evangelium S. Joannis lectura, 1, Nr. 29.
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II. Die Herkunft von Agápe
Die ursprüngliche Liebe, die immer eins-vielfältig ist, bildet das Gewebe der Wirklichkeit, entsprechend der unendlichen Beziehungen, die ihre Absolutheit analog brechen, in der immer anderen Dialektik ihres Sich-Schenkens und Besitzens, ihrer Kraft und Schwäche, ihrer Fülle und Entbehrung. Diese Liebe entspricht folglich nicht der romantischen Darstellung, in der sich das Subjekt im Ausströmen oder der unbewussten Hingabe verliert. Sie ist weder Äther, durch den das Denken schweift, noch eine Dichte, in der sich das Gefühl ausbreitet, sondern ambitus des ganzen Scharfsinns, der ganzen Milde und der gesamten Klarsicht, derer die tatsächliche und aktive Einzigartigkeit bedarf. Es handelt sich nicht um die reine Annahme des Anderen, sondern um die Annahme der Exposition des Anderen, der Entäußerung dank des Anderen, im Sinne einer gegenseitigen Alteration. Es ist die Logik des Vermögens, die durch das Durchlaufen Agapes aus dem Gleichgewicht gebracht wird: Nur wer erkennt/fühlt, dass er nicht alles ist, kann Raum haben für das Erkennen/Fühlen des anderen. Das Paradoxe ist, dass die Liebe die Unvollständigkeit nicht heilt: Das Subjekt kann sich in der Liebe nicht einfach auflösen, sondern spürt, dass es analogisch, entsprechend seines eigenen besonderem Maßes, am Grund des Seins teilhat, aus dem alles, im Guten, entsteht. Agape steuert jedoch etwas Entscheidendes bei, und zwar das tiefe Bewusstsein um das Unvollständig-Sein, ohne das Lieben zum Problem wird. In diesem Sinne vollbringt die christliche Verkündigung, insbesondere die paulinische, eine wahre Umwertung der Werte und Bindungen: Mit revolutionärer Geste hat Paulus die messianische Umkehrung des Verhältnisses Vermögen/Akt bewirkt, durch die der Messias jede Herrschaft und Gewalt aufhebt (1 Kor 15,24) und erklärt, dass die Macht ihr telos nicht in der Form von Stärke und ergon erreicht, sondern in der von asthéneia, Schwäche165. Auf der einen Seite bewahrt Balthasar die ontologische Differenz des Vorausgesetzten radikal, so dass der Einfall des Prinzips Agape in die Schöpfung nur einen nachträglichen Widerhall der innergöttlichen Liebe, der absoluten Disponibilität, die den Sohn mit dem Vater verbindet, der ewigen Neigung zu sein, zu machen und zu werden darstellen kann. Auf der anderen Seite ist gerade die Kenosis des Vaters und die Schwäche eines Absoluten, das ausströmt, um sich der Welt auszusetzen, das affektive Apriori jeder anderen Möglichkeit von Bindung. Auf dieser analogischen Linie der Teilnahme, die darauf gerichtet ist, jeglichen Extrinsezismus und Dualismus zwischen Sein und Seienden zu überwinden und dabei einen «Unterschied der Liebe» zu bewahren, erblickt Balthasar die vielfältigen Formen der endlichen Welt in ihrer ursprünglichen Einbeziehung der unvordenklichen göttlichen Wahrheit und des Paradoxons der Einheit-Differenz der Anfänge: «In den Abgründen dieser Liebe ist von jeher alles angelegt und geborgen, was in der Dramatik der Heilsgeschichte durch die göttliche Liebe ersonnen werden kann. Diese Gegenseitigkeit der Liebe (‹relationis oppositio›) ist so unvorstellbar, dass ihrer Fruchtbarkeit der Heilige Geist ent-
165 Vgl. ŽIŽEK, Slavoj, Das fragile Absolute oder warum es sich lohnt, das christliche Erbe zu verteidigen, Berlin 2000.
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steigt, für dessen Hypostase wir keine angemessene Aussage finden als – nochmals Liebe: gleichzeitig die objektivierte Frucht und die innerste Flamme, höchste Objektivität und Subjektivität des Umsonst der dreieinigen, mit dem Wesen Gottes identischen Liebe»166.
Diese Unvorstellbarkeit stellt den Ausgangspunkt für eine Ontologie von Agape dar, in der diese absolute Disponibilität der göttlichen Personen in ihrem begründenden Kern gedacht und benannt werden könnte, allerdings in der Nicht-Fassbarkeit ihrer Essenz. Die Logik der Liebe ist für Balthasar die wahre Logik des Lebens, die imstande ist, den intellektualistischen und anästhetischen Weg des Konzepts hinter sich zu lassen, um dem «anbetungswürdigen Mittelpunkt» aller Dinge ganz nahe zu kommen. In dem unmöglichen Bogen, den der Theologe hin zum Ursprung spannt, wagt er es also, hinabzusteigen zum «grundlosen Grund», auf den jede Wahrheit hinweist und in dem sie aufgehoben wird. «Hier wird der Grund des Seins zum Abgrund, weil der Grund der Mitteilung kein anderer ist als die Mitteilung selbst, diese also auf dem Grundlosen ruht. Daß aber Mitteilung um keines anderen Grundes willen geschieht als um der Mitteilung willen, das kennzeichnet sie als Liebe»167. Die Unerklärlichkeit dieses «grundlosen Grunds», der von nichts mehr abgeleitet werden kann, beleuchtet für Balthasar einen neuen Sinn des Wahren: Hier also eröffnet sich entschiedener seine affektive Ontologie, angesichts derer die Liebe ursprünglicher und umfassender als die Wahrheit selbst erscheint, als ein unerforschlicher, doch nennbarer Grund eines Raums, dem das Wahre und das Sein entspringen, und der alles vor dem unnatürlichen Gesetz der Sterblichkeit und der Zerstörung bewahrt: «Man kann also wohl sagen, daß die Wahrheit aus der Liebe entspringt, daß die Liebe ursprünglicher, umfassender ist als die Wahrheit. Sie ist der Grund der Wahrheit, der sie erklärt und ermöglicht» 168 . Die Liebe ist für den Theologen nicht außerhalb der Wahrheit denkbar: Gerade die Selbst-Öffnung des Seins und des Wissens – die schon in der Liebe sind – benennen die Wahrheit. In Übereinstimmung mit der klassischen Tradition stellen das Wahre, das Gute und das Schöne für Balthasar die transzendentalen Eigenschaften des Seins dar, die sich untereinander austauschen und gegenseitig beleuchten, und die «unerschöpfliche Tiefe» und den «überbordenden Reichtum des Seins» bezeugen. Aber gerade im Namen der Wahrheit des Seins als Liebe schlägt der Theologe vor, die Doktrin der Transzendentalen neu zu formulieren, im Einklang mit dem allumfassenden Apriori von amor. Ein intimes und geheimnisvolles einschließendes Vorherrschen, eine vorausgehende Disponibilität bestimmt für Balthasar die Natur der Welt, des Menschen, Gottes, ohne dass man allerdings mehr dazu sagen könnte. «Denn was ist unbegreiflicher, als daß der Kern des Seins in der Liebe besteht und daß sein hervortreten als Wesen und Dasein keinen anderen Grund hat als den der grundlosen Gnade?»169. Auch in der
166 167 168 169
BALTHASAR, Theologik. Bd. II, 130. BALTHASAR, Theologik. Bd. I, 253. Ebd., 119. Ebd., 255.
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II. Die Herkunft von Agápe
Trinität, stellt der Theologe fest, finden göttliche Einheit, Güte, Wahrheit und Schönheit den Punkt ihrer größten Konzentration und ihrer gegenseitigen Beziehung in der Liebe, die «die Enge des in sich geschlossenen Subjekts sprengt»170, so dass sich die dilectio in der caritas erfüllen kann. Ein «verborgener Hintergrund» geht den wandelbaren Eigenschaften der Seienden voraus: verum, bonum und pulchrum finden ihren Ursprung und ihren Sinn in der vorhergehenden Disponibilität und ontologischen Offenheit, in dem ursprünglichen Kreis des Lieb-Habens, der den undurchdringlichen Grund des affektiven Prius darstellt. Das Sich-Zeigen der Wahrheit in Form ihrer (ästhetischen) manifestativenerlösenden Intention und ihr historisches Auftreten in ihrer Dialektik mit der endlichen Freiheit (Theodramatik) werden aufgenommen im absoluten Vermögen von amor, dem pro-affektiven Offenen, das jeder Gestalt [Deutsch im Original] und jeder Aktion vorausgeht. Wie Paulus den Korinthern erklärt, wäre man, selbst wenn man alles Wissen und jede Intelligenz hätte und allen Besitz bis zur Selbstaufopferung verteilen würde, ohne Agape nichts (1 Kor 13). Schönheit, Güte und Wahrheit können also nicht verabsolutiert werden – mit dem Risiko einer jeweils ästhetischen, voluntaristischen, rationalistischen Tendenz. Agape wird zur ursprünglichen Struktur, die sie wieder aufnimmt, an der jedes Ding teilhat und in seine Wahrheit zurückgeführt wird: Die ontologische Differenz kann nicht anders als sich in agapische Differenz zu verwandeln, in der die Einheit von Liebe und Form zur Einheit von Vision und Akt wird, und folglich von Wissen und Leben. «Und da von Liebe die Rede ist, wird die Frage unvermeidlich sein, ob sie nicht den verborgenen Untergrund für die ineinanderliegenden Transzendentalien bilden könnte»171. Jede Wahrheit verweist für Balthasar auf das Geheimnis dieser ursprünglichen Kommunikation, aus der sie ihre Bedeutung als Wahrheit zieht, so wie jede Manifestation der Form ihre absolute Motivation im Prinzip der Hingabe findet: weil «der Sinn des Seins in der Liebe liegt»172.
3. Phänomenologie oder Metaphysik von Agape? In der Metaphysik der Transzendentalen erlangt für Balthasar die Liebe das absolute Primat, das in seiner Tiefe das wahre Sein umfasst. Der Theologe zitiert hier den Philosophen Gustav Siewerth, dem seine Überlegungen zur Agape viel zu verdanken haben: «‹Liebe› ist solchermaßen umfassender als das Sein selbst, das ‹Transzendentale schlechthin›, das die Wirklichkeit des Seins, der Wahrheit und der Güte zusammenfasst»173.
170 171 172 173
BALTHASAR, Theologik. Bd. II, 37. BALTHASAR, Theologik. I, IX. Ebd., 118. SIEWERTH, Gustav, Metaphysik der Kindheit, Einsiedeln 1957, 63; BALTHASAR, Theologik. Bd. I, 162.
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Allerdings distanziert sich der Schweizer Theologe ausdrücklich von allen Sichtweisen – wie etwa die J.-L. Marions –, welche die Liebe außerhalb des Seins ansiedeln: Balthasar, der sich des Risikos einer möglichen neoplatonischen Hermeneutik seines Denkens bewusst ist, das sich entlang der klassischen Linie der Gnosis bewegt (wodurch er tatsächlich zum ‹Negativ Hegels› würde), spricht in Theologik II von einem «immanenten Überwinden»174, einem inneren Fortschreiten, im Register von Ablehnung und Geschenk175. Er hebt deutlich hervor, dass es erforderlich ist, Gottes Liebe als abgründige und unvorstellbare Dimension des absoluten Seins zu denken – die sich weder außerhalb noch oberhalb von ihm befindet176. Die Liebe ist die Tiefe des Seins selbst: Den unmittelbaren und entscheidenden Beweis liefert jede Phänomenologie des entstehenden Lebens, das ohne Liebe nicht wirklich wachsen, einen Sinn finden oder einfach nur auf der Welt bestehen könnte. Es geht um die wesentliche Tonalität jeglicher Existenz, die die intimsten Stellen der dem Subjekt eigenen Dichte berührt. Wie der Psychoanalytiker Charles Melman sagt: «Die Tonalität lebt im Allgemeinen dank der Beziehung zu einer Instanz, deren Wohlwollen garantiert, sicher erscheint. Wenn es jedoch keine ideale Instanz mehr gibt, hängt unsere Tonalität von etwas Ungewissem, von den Umständen ab»177. Aus der ursprünglichen Erfahrung des Du – insbesondere mit dem ersten Lächeln der Mutter, welches das Kind erfährt – entspringen das Selbst-Bewusstsein des Subjekts und die vielversprechende Wahrnehmung der Wirklichkeit, das heißt, die rosige und athematische Erfahrung der Liebe als «Herz der Welt». Diese in allen Kulturen und Epochen anzutreffende Erfahrung ist stets auch ein irreduzibles novum, für das Transzendentale des Selbst-Bewusstseins ebenso wie das Vorausgesetzte des Geschenks. Der mütterliche Code, der für die Entstehung notwendig ist wie das Wasser für das Leben, veranlasst das affektive Alphabet, das ein ungesättigtes An-Denken für jede zukünftige Beziehung ist: In den guten anfänglichen Beziehungen, die in den ersten Tagen und Monaten der Existenz aufgebaut werden, wird das vom Leben gegebene Versprechen als Gefühl der Dankbarkeit, auf der Welt zu sein, verinnerlicht. Gleichzeitig integriert das Subjekt eine Art Grundvertrauen in die Möglichkeit der richtigen
174 Vgl. TOURPE, Dialectic and Dialogic. The Identitiy of Being as Fruitfulness in Hans Urs von Balthasar, in BALTHASAR, Only Love is Credible, Grand Rapids-Cambridge 2008, 318–327. 175 Die abgründige Liebe ist also nicht vor dem Sein, sondern sie ist wie ihr höchster Akt, dem jede Verständlichkeit fehlt (Eph 3, 19). Vgl. BALTHASAR, Theologik. II, Fußnote 10, 125–126. In dieser wichtigen Fußnote erinnert Balthasar daran, dass G. Siewerth in seiner korrekten Interpretation von Thomas von Aquin (SIEWERTH, Das Sein als Gleichnis Gottes, Heidelberg 1958) das Bonum als SelbstÜberwindung des Esse definiert. Gleich darauf stellt er fest: «Freilich: erst von der absoluten Güte Gottes her wird so etwas wie ein nichtsubsistierender Seinsakt (für die endlichen Wesen) denkbar, aber sosehr ein solcher Seinsakt ‹Gleichnis Gottes› in der Welt ist […], es entströmt (emanat) Gott das Sein nicht von höher her als vom göttlichen Sein, das, wie wir hinreichend gezeigt haben, selber der Abgrund aller Liebe ist» (Ebd., 126). 176 Vgl. auch SARA, Juan Manuel, Forma y amor. Un estudio metafísico sobre la trilogía de Hans Urs von Balthasar, Doktorarbeit in Philosophie, Roma 2000, 237ff. 177 MELMAN, Charles (Entretiens avec Jean-Pierre Lebrun), L’homme sans gravité, Paris 2001.
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Bestimmung der Ex-sistenz für sich selbst und für alle anderen. Die Sorge und Hingabe, die aus dem mütterlichen Lächeln hervorgehen und dem Kind die Welt wie in einer unauslöschlichen, archetypischen Initiation eröffnen, werden das Subjekt als unbewusste Erinnerung begleiten, können von keiner späteren existentiellen Dramatik jemals völlig ausgelöscht werden, als wäre nichts – also Nicht-Liebe – gewesen. Diese ursprüngliche Intuition, die als keimendes Versprechen in den ersten Lebenstagen entsteht, stellt das Feld der unscheinbaren Kräfte dar, in dem nach und nach jedes mögliche Vorgefühl, jeder Traum und jede Vision en agápe entspringt. Genau hier, in diesem symbolischen Raum des Erfassens und Andenkens, dem geheimen Schrein jeder guten Erinnerung – wo im Sinne Heideggers denken, andenken und danken [Deutsch im Original] sich wie durch ein Wunder in ihrer gemeinsamen Wurzel wiederfinden –, geschieht die zweite, psychologische und gleichzeitig theologische Geburt des Subjekts: Das Bewusstsein erwacht jedes Mal wieder durch die Wahrnehmung der positiven und gründenden Präsenz eines Du, das liebevoll umfasst und stützt. In dieser umsorgenden anfänglichen Umgebung, aus der die späteren Auf-Fassungen und Vorahnungen hervorgehen, öffnet sich inchoativ der Horizont aller möglichen Beziehungen, auch die zu Gott, die in der ursprünglich-mütterlichen Liebe den geeignetaufnehmenden Schoß für ihre Offenbarung findet. Das Kind-Sein (in-fante) erinnert uns, wie Agamben feststellt178, an das Urlimit der Sprache, zu dem jedes Subjekt von Anfang an bestimmt ist, und das sich unaufhörlich wiederholt, wenn das Wort und der Gedanke das unmögliche Benennen/Konzeptualisieren von Agape versuchen. So wie das Bild der Kindheit «die Sprache transzendental begleitet»179, so begleitet Agape transzendental jede gute Geburt und jeden guten Aufenthalt im Sein. In beiden Fällen bleibt ein Geheimnis bestehen, das sich wiederum zeigt, ohne dass es in der Intensität seines Geschehens vollständig symbolisiert und verstanden werden kann. Leider fehlt den theologisch-philosophischen Überlegungen Balthasars eine vertiefende Weiterentwicklung des metaphysischen Ablaufs der affektiven Einbeziehung des Seins als begründende Beziehung des Logos, die logisch und ontologisch auf der Höhe dieser grundlegenden Intuition wären. Die anhand der trinitarischen Doktrin und der Transzendentalen ausgearbeitete Perspektive einer Phänomenologie der lebendigen Formen hätte ein Element von entscheidendem theoretischem Elan innerhalb seines analogischen Wegs darstellen können. Eine weitere Ausarbeitung dieser affektiven Phänomenologie wäre sehr nützlich gewesen, um die Beziehung zwischen religiöser Erfahrung und fundamentaler anthropologischer Struktur des Sohn-Seins zu beleuchten, und gleichzeitig die ontologische Analyse des Mysteriums der Liebe, die die Subjekte begründet, mit größerer Präzision zu artikulieren. Was diese Hinweise auf die Du-Ich-Beziehung angeht, vor allem die Beziehungsdynamik von Mutter und Kind, steht Balthasar tief in der Schuld der Überlegungen, die Siewerth in Metaphysik
178 AGAMBEN, Infanzia e storia. Distruzione dell’esperienza e origine della storia, Torino 2001. 179 M. CACCIARI, Dallo Steinhof, 135.
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der Kindheit anstellt180. Eingebettet in eine Interpretation von größerer Strenge und Systematik hätte Balthasars Vorstoß den Rahmen seiner transzendentalen Ästhetik erweitern und ihn zur Erkundung einer Sensibilität für den Sinn führen können, die in den anfänglichen Beziehungen entsteht und heranreift und ausschlaggebend für die Orientierung jeder weiteren Annäherung an die Welt des Bewusstsein ist181. Emanuel Tourpe weist darauf hin, dass Balthasar im Herzen seiner Theorie vom gezeugten Logos eine sogar zu starke Betonung der «heiligen Indifferenz» unterbringt: und zwar in Bezug auf den verzauberten Gehorsam und die indifferente Disponibilität zu dienen, die seiner Ansicht nach jedem Sein und jedem Wissen zugrunde liegen. Der ewige Akt der Aufnahme des Sohnes in seiner archetypischen potentia oboedentialis sei für den Theologen – metaphysisch oder katalogisch? – das Zentrum, welches alle Dinge gründet: In diesem Sinne ist «die grundlegende Form der Indifferenz nicht einfach ‹ontologisch›, sondern ‹christologisch-trinitarisch›» 182 und konzentriert Aktion und Passion, Identität und Differenz in sich. Eine solch empfängliche Indifferenz, die der Öffnung des Sohnes assimiliert wird, welche das Innerste einer jeden Existenz bewohnt, scheint in Balthasars Horizont selbst in ihrem wichtigen systematischen Nutzen vor allem den Zug der «gehorsamen Passivität» und «absoluten Zustimmung» zu zeigen, die auf eine gewisse Weise schon ab aeterno entschieden sind. So scheint sich der Diskurs des Theologen gerade in seinem Versuch, über die idealistische Dialektik hinauszugehen, der Notwendigkeit einer anfänglichen Gelassenheit [Deutsch im Original] zuzuwenden, welche die tragische Gabe des Sohnes in eine Ablehnung ohne wahres Geschenk – da ohne Freiheit – verwandelt, die in der feststehenden Szene einer leeren Erfüllung mit Liebe stattfindet (reines Erglänzen der Form, die sich in der Aushöhlung der bloßen Entzückung des Subjekts niederlässt). Ganz ähnlich wie die zweideutige Assimilation des Offenen und des Indifferenten, welche die – vor allem theologische – Kritik in Cacciaris Rekonstruktion des Anfangs ermittelt hat. Das Problem, das – analogisch – ersichtlich wird, ist das der 180 Diese vertiefende ontologische Linie, die darauf gerichtet ist, Sein und Liebe zu vereinen und die (vor allem von Suarez geerbte) rein theoretische Auffassung des Seins zurückzuweisen, nimmt ihren Ausgangspunkt bei der zentralen Reflexion Rousselots, um bis zu Blondel zu gelangen: Es ist aber Siewerth, der den «unvergleichlichen Hauch» darstellt, welcher das Werk Ferdinand Ulrichs und Heinrich Becks beseelt: Bei ihnen handelt es sich vielleicht um die Autoren, die mit der größten Überzeugung den spirituellen roten Faden verfolgt haben, der über Heidegger hinaus in der Lage war, das Denken aus seinem Vernunft-Gefängnis zu befreien und dem Abenteuer des Seins zu öffnen, im Lichte eines Anfangs von Synthese von actus essendi und Affektion. Vgl. TOURPE, ‹Thomas d’Aquin est le penseur de l’être comme amour›. À propos de deux livres récents, in «Revue Philosophique de Louvain», 106 (2), 363–371 ; ULRICH, Sein und Mitmensch, in «Salzburger Jahrbuch für Philosophie», 1974 (XIX); ULRICH, Schriften, Bd. 5, Gabe und Vergebung. Ein Beitrag zur biblischen Ontologie, Einsiedeln 2006. 181 «Die rein metaphysische Ebene hätte wahrscheinlich, wie in einer Art Erfüllung, die rein menschliche Ebene kreuzen müssen. So ‹in der Schwebe› hinkt die Abhandlung, denn ihr fehlt die Endgültigkeit, bzw. sie lässt ihr keinen Raum zum Atmen und erstickt sie in ihrem Inneren» (PARADISO, Nell’intimo di Dio, 234). 182 TOURPE, La puissance comme acte suprême. À propos de la «sainte indifférence» aus principe et fondament de la connaissance chez Hans Urs von Balthasar, in: JERUMANIS, André-Marie, TOMBOLLINI, Antonio (Hgg.), La missione teologica di Hans Urs von Balthasar, Lugano 2005, 152.
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Umkehrung und Aufnahme der Geschichte des Sohnes in einer vorgefassten theologischen Rhythmik der Erfüllung als Vollendung: Dialektik des Geistes, aber ohne Hervorbringung des Logos, die jeder tatsächlichen Hervorbringung in einer schmerzenden Geburt und jeder Begegnung des unterschiedlichen Willens vorangeht. Der komplexe Weg, der in der Theodramatik zurückgelegt wird, zeigt zweifellos das Bewusstsein für dieses Problem und die überzeugte Absicht, die notwendige Dialektik zwischen unterschiedlichen Freiheiten wieder zu erlangen, wo Historizität und Endlichkeit wirklich bei der Suche nach dem eigenen Sinn und der eigenen Vollendung ins Spiel kommen. Die unbesiegbare Priorität des Seins gegenüber der Subjektivität lässt jedoch die apodiktischen Züge der con-secratio zum Opfer gegenüber des con-sensus zum Dienen leichter hervortreten. Genau was diesen Punkt betrifft, scheint der radikale Christozentrismus Balthasars unvollendet zu bleiben: ohne entsprechende ontologische Reflexion und folglich ohne die empfohlene philosophische Vermittlung. Trotz seines mutigen Versuchs, Ästhetik (Gestalt Jesu – Deutsch im Original), Theodramatik (Dialektik der Freiheit) und Theologie (Transzendentale der Liebe) philosophisch miteinander zu verknüpfen, scheint sich Balthasars Diskurs einem akosmischen Einhalten der Zeit zuzuwenden, die theoretisch einem Horizont eingegliedert wird, der Gefahr läuft, dem historischen Wirken und den Personen des Dramas Gewicht zu nehmen. Auf diesem Wege neigt seine Reflexion dazu, den Raum der Freiheit als Berufung, in dem jeder Einzelne sich von seiner besonderen Kontingenz ausgehend einbezogen fühlt, in einen Raum der Freiheit als Bedingung/Ausstattung der Subjekte zu verwandeln: Der tiefste paulinische Sinn der Freiheit als Geschenk, das einem Geschenk entspricht und es historisch wiederbelebt, in der – auch tragischen – Unmöglichkeit einer Vollendung, läuft Gefahr, sich in die perfekte Zirkularität eines vorausgesetzten und versicherten Wegs zu verwandeln, innerhalb einer theologischen Vision ohne Eschatologie183. Angesichts dieses möglichen Ausschlusses des anthropologischen Moments zeigt sich in der Anlage von Balthasars Theologie des Glaubens das Risiko einer Reduktion oder Komprimierung des konstitutiven Moments der Subjektivität als Wertschätzung – und nicht bloß Widerspiegelung – der Wahrheit.
4. Das Erbe Balthasars. Ein neuer Anfang Aufgerufen von Cacciaris Einladung, die theologalen Implikationen der ausgestellten Freiheit des Subjekts, die gewagte und ausgebreitete Zeitlichkeit ihrer tatsächlichen Erfahrung und damit des dramatischen Ernsts der realen Geschichte – ohne allzu schnelle Immunisierung – radikal anzunehmen, muss die Theologie nach Balthasar wohl akzeptieren, die Erfüllung – die Vollendung, nicht nur die Entäußerung – Gottes
183 Vgl. ALBARELLO, Duilio, L’uomo, l’evocato. Una rilettura sistematica della ‹predestinazione in Cristo›, in «Teologia», 3 (2011), 261–391.
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und des Sohnes dieses Geschehens bis ans Ende zu denken. Die Erwartung darf das Versprechen nicht mit ihrem «bis wann» beeinträchtigen; aber das Versprechen darf die Erwartung nicht mit einem voreiligen und letztlich akosmischen und ahistorischen «alles ist erfüllt» entleeren. Wie Paulus sagt: «Denn wir sind wohl selig, doch in der Hoffnung. Die Hoffnung aber die man sieht, die ist nicht Hoffnung; denn wie kann man das hoffen, das man sieht» (Röm 8,24). Während «die Reiche der Welt unseres Herrn und seines Christus geworden [sind]» (Offb 11,15), fährt der Opponent mit seinem Werk der Verwüstung und Teilung fort, und die Schöpfung wimmert und leidet, bis zum letzten Tag. Cacciari schreibt: «Facta sunt – aber es ist die neue Schöpfung»184. Die christliche Offenbarung des Absoluten setzt sich nämlich selbst dem Risiko der Zeugung des ganz anderen als Endpunkt einer realen Übereinstimmung aus, der sie sich in freier Entscheidung anvertraut, angesichts der Vollendung einer Bestimmung – einer ganz neuen, verschwenderischen oder seligen, versiegelten oder geöffneten, auf jeden Fall gegebenen Geschichte –, die nur in jener Bindung tatsächlich wird. Cacciaris Perspektive drängt, gerade im Versuch sich von jeder Einverleibung durch das Eine gegenüber den Vielen zu befreien, hartnäckig in die Gegenrichtung, wobei er die ungeheure Größe der «Kraft, die das Leben des Existierenden verlangt»185 akzeptiert und sie von jeder zeitlichen Verfügung befreit. Hier ist paradoxerweise zu beobachten, dass die Härte des Trauerspiels [Deutsch im Original], die jedes Unternehmen der Bedeutungslosigkeit gefährlich nahebringt und die Gefahr mit sich führt, die Subjekte in der Unmöglichkeit, einen Schritt zu tun, zu lähmen (sogar eine ausweglose Omnikompossibilität berührt), eine mildere Barmherzigkeit und ein großzügigeres Verständnis gegenüber den verschlungenen und fehlbaren menschlichen Angelegenheiten bereitzuhalten und auszuströmen scheint. Selbst in ihrer zuweilen rauen und erbarmungslosen Klarsichtigkeit birgt seine Diaporetik eine gleichzeitig schmerzliche und wohlwollende Ironie gegenüber dem Vermögen und Unvermögen der Seienden, das sie hinführt zu den unendlichen Möglichkeiten, die Welt miteinander zu teilen, und zu einer intensiveren Dimension herausfordert. Agape hätte in der Tat viel darüber zu sagen, wenn sie bis ans Ende gedacht werden könnte. Und von Anfang an. Der Theologe scheint dagegen eher zurückhaltend, was ein solches Vorhaben angeht186. Eine metaphysische Über-Bestimmung scheint auch die intensive Dialektik zwischen den Menschen zu verdecken, die Jesu Zeugnis 184 CACCIARI, Della cosa ultima, 236. 185 Ebd., 512. 186 Marcello Neri nimmt eine kritische Analyse von Balthasars Gestalt des Bewusstseins und der Freiheit in ihrer elementaren Struktur vor und erkennt in der primären intersubjektiven Beziehung – dem dialogischen Apriori – den Raum, in dem das Subjekt zum Bewusstsein seiner selbst gelangt und es vom «schlechten Monismus einer reinen Autoreferentialität des Ich befreit» (NERI, La testimonianza in H. U. von Balthasar. Evento originario di Dio e mediazione storica della fede, Bologna 2001, 188). Allerdings stellt auch Neri fest, dass diese Perspektive ungelöst bleibt, da es ihr an einer angemessenen Ausarbeitung der elementaren (intersubjektiven) Struktur des historischen Bewusstseins und ihrer die fides stiftenden Qualität mangelt. Vgl. PRATO, Ezio, Il principio dialogico in Hans Urs von Balthasar. Oltre la costituzione trascendentale del soggetto, Milano 2010.
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II. Die Herkunft von Agápe
endgültig als konstitutiv für seine Verkündigung feststellt. Seine absolute Einzigartigkeit, das Ereignis, welches das Christentum begründet, besteht weder ohne die Jünger, die dazu bestimmt sind, sie anzunehmen, noch ohne die Frauen und Männer, die er auffordert, sie aufzunehmen, indem er sich strukturell der Geschichte und der erinnernden Wiederaufnahme derjenigen übergibt, die sich bis zum Ende aller Zeiten wünschen werden, sie anzuvertrauen. Die Nähe zum Sohn und der Kinder untereinander – dies erzählt die Geschichte des Evangeliums, dies bedeutet die Offenbarung von Agape – kann in keiner Weise auf eine metaphysische Ziffer oder die Ikone/das Symbol eines überzeitlichen Horizonts reduziert werden; sie ruft hingegen nach einer Bestimmtheit, einer historisch emporkommenden Tatsächlichkeit, einer Äußerlichkeit der Welt – auch das ist Schöpfung –, die in ihrer berührenden Klarheit gerade in der Bindung von Mutter und Kind, Mann und Frau und allen in jeder existierenden Geschichte ein- oder ausgeschlossenen Subjekten durchschimmert. Indem sie die Welt miteinander teilen, in den Wünschen und Visionen der eigenen besonderen Geschichte, lassen unvergleichliche Subjekte auf eklatante Weise, und oft auch ohne es zu wissen, die Notwendigkeit eines An-Denkens, einer verheißungsvollen Lebensform erstehen. Im Fluss von Schmerz und Freude, der sich unter ihrer Haut bewegt, bewahren die Menschen stets Nervenenden, die sensibel sind für den geheimnisvollen Grund, aus dem sie ihren Lebenssaft beziehen. Und so rufen sie ihn an, formen und erzeugen, beschimpfen und bekämpfen ihn, aber immer kehren sie zu ihm zurück – das ist das Mystische – in den unendlichen, sichtbaren und unsichtbaren Geschichten ihrer Einzigartigkeit in Bewegung. Im Untergrund der Zuneigung, der Gedanken und Gefühle lebt das Unausgedrückte einer ursprünglichen Pro-Affektion, eine geteilte Dichte von Agape und Erbarmen: Das gelobte Land – oder Heilige Land, wie es Guènon nennt –, das der spirituellen Kraft der Welt entspricht, die die Geschlossenheit der reinen Subsistenz durchbricht und die Fixierung des Individuellen beunruhigt, deren letzten Hüter die Dichter und Schriftsteller sind – vielleicht mehr noch als die Theologen und Philosophen. Cacciari und Balthasar sind sich dessen zweifellos zutiefst bewusst: Es ist kein Zufall, dass sie den metaphysischen Raum der Lektüre auf solch außergewöhnliche Weise bewohnen. Hier muss die Überwindung des begrifflichen Limits schließlich einmal von der kompakten Präzision des Wortes aufgenommen werden. Das Wagnis oder die Mystik des Durchbruchs des Logos muss, wenn es wirklich radikal und transzendental sein will, Erzählung, Literatur, neue Mythologie werden187: die ohne zu zögern gegen ihre rhetorische, nominalistische, irrationalistische Eingrenzung kämpft. Die Evangelien – Archetyp und Prototyp des Genres, wahre philosophia – ebnen den Weg: Sie verwirren 187 «Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die, soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist – wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie muss aber im Dienste der Ideen stehen, sie muss eine Mythologie der Vernunft werden. […] So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muss philosophisch werden und das Volk vernünftig, und die Philosophie muss mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns» («Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus», in: HEGEL, Werke, Bd. 1. Frankfurt a. M. 1979, 236).
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die Wege der Exegeten des verbum und der Theologen des cogitatum188. Der fleischgewordene Logos ist ein Element von Ungleichgewicht und Unruhe und gleichzeitig von Umwandlung und Einheit. Der, der en arché ist, der en parousia kommt. Der, der fragt, wo wir sind, wenn Agape gekränkt wird. Der, der fragt, ob er, wenn er kommt, Glauben auf Erden finden werde. Während die Philosophie Cacciaris in ihrem Innersten dazu neigt, zusammen mit Beckett und Herrn K., jegliche Handlung zu versprengen oder ihre Mehrdeutigkeit mit unfehlbarer Klarheit aufzuzeigen (Hamlet), gibt sich Balthasars Theologie bewusst der sinnlichen Empfindsamkeit Adrienne von Speyrs und der Poesie Charles Péguys hin, auf den Spuren der ursprünglichen Vertrauenswürdigkeit, die jede Geschichte zusammenhält. In dieser Richtung entspricht die Liebe dem absolut Disponiblen, das gleichzeitig jede mögliche Gerechtigkeit darstellt, denn es erträgt alles, ohne unterzugehen, und generiert alles, ohne zu de-generieren. Seine Omnipotenz kann niemals auf irgendeine Weise von der ursprünglichen rectitudo zergliedert werden, die vergeblich alle Dinge misst. (Anselm und Augustinus beharren – wenn man sie nach Balthasar lesen wollte – auf der Verbindung zwischen Gottes Liebe und Gerechtigkeit, auf dem intimen Wesen Gottes als absolute Disponibilität und Mit-Leid, das in seinem Innersten unvergleichlich weit von der Perfektion des unberührbaren Einen der Neoplatoniker entfernt ist, so leuchtend seine Unsagbarkeit auch sein mag.) Die Vorzeitigkeit der Liebe als Selbst-Öffnung des Ipsum Esse, das jedem Wirken und jeder Beziehung voraus-geht, ist der Schoß jedes Staunens und jeder Ekstase der Vernunft. Aus diesem Grund kann nach Balthasar nur der Christ wirklich empfänglich sein für das thaûma, aus dem jede authentische philosophische Suche hervorgeht. Und genau von hier aus – vom nicht Anpassbaren jeder Möglichkeit und jeder Tatsächlichkeit des Seins – entzieht sich auch dem gläubigen Wissen konstitutiv jeder abschließender Zugriff. Dieser Hintergrund widersteht jeder Symbolisierung, da jeder Begriff, jede Bedeutung und jedes Urteil schon innerhalb seines Ausstrahlungsfelds wirken. So wird, im Gefolge von Gabriel Marcel oder Henri de Lubac, Balthasars Zurückhaltung verständlich, sein Geheimnis zu forcieren, um es in ein Problem zu verwandeln: «Sofern man das Mysterium der Liebe als ‹hinter› der Wahrheit stehend betrachtet, muß man sagen, daß alle Wahrheit auf dieses Mysterium zurückzuführen ist, daß sie aus ihm ihren Sinn als Wahrheit herleitet und, weit entfernt es als Mysterium erklärend zu bewältigen, vor ihm zu verstummen und sich zu bescheiden hat»189.
188 Auch die akkurate und interessante Analyse des Wortschatzes von Agape und ihres antiken und neutestamentarischen semantischen Feldes, die der Bibelforscher Claudio Doglio unternimmt, konzentriert sich auf die christologische Einzigartigkeit und vertraut sich schließlich dem dichterischen Wort an. Vgl. DOGLIO, Claudio, La scelta di dire agápē. Figure linguistiche dell’originario evento cristiano, in SEQUERI, Esteriorità di Dio. La fede nell’epoca della ‹perdita del mondo›, Milano 2010, 69–106. 189 BALTHASAR, Theologik. Bd. I, 253.
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Das Transzendentale der Liebe scheint, wie in einer sublimen kantianischen Zweckmäßigkeit ohne Zweck, in seiner Objektivität ohne Begriff auf diese notwendige Funktion hinzudeuten, genau in dem Punkt, in dem jedes Lebende jedes Mal tatsächlich lebendig wird. Diesen Punkt der Gegenwart kann man nicht kennen, aber auch nicht einfach glauben: Er muss in gewisser Weise während seines Vorüberziehens gefühlt, erprobt, erfahren werden. Es handelt sich weder um eine Apologie des Gefühls noch um eine Rhetorik der Empfindung: Es handelt sich um das Vorüberziehen des Sinns, dem gegenüber der Logos seit Jahrhunderten äußerst sensible Sinneszellen besitzt.
5. Die post-idealistische Theologie: Aussichten Aus diesem tiefen Schoß des Seins heraus nimmt Balthasars Rhetorik ihren Ausgangspunkt bei der Ästhetik und bleibt stets der Gestalt [Deutsch im Original] eng verbunden, so wie auch ihrem Maß von Fleischwerdung, das heißt von Wirklichkeit. Indem er die Priorität der Form der Schönheit betont, die in allen Phänomenen erscheint, möchte Balthasar gemäß einer Art paradoxalem metaphysischem Empirismus hervorheben, dass gerade aus der Gegebenheit der Phänomene die Herrlichkeit eines verborgenen Hintergrunds des Seins hervorgehen kann: Dieses Mysterium entsteht in der Tat wie die Transparenz durch jedes Existierende des grundlosen Grunds, aus dem jedes Ding hervorkommt, zeigt sich als reines Ausstrahlen, als unfassbares Übermaß des Existierenden. «Und zwar erscheint der Grund in seiner besonderen Eigenschaft als sich selbst begründende Abgründigkeit. In diesem Erscheinen liegt die Interesselosigkeit aller Schönheit. Sie ist das reine Strahlen des Wahren und des Guten um seiner selbst willen, das in sich selber Ruhende und Strömende der Mitteilung, eine schwebende, nicht zu beschreibende Freude der in sich selbst begründeten Strahlung des Seins»190.
Die ästhetische und ekstatische Genugtuung, die die Wahrnehmung dieser Form im Subjekt, das sich von ihr berühren lässt, unvermeidlich hervorrufen muss, rührt aus der niemals perfekten Übereinstimmung zwischen Erscheinung und Wesen des Fundaments, das sich wirklich enthüllt, ohne sich allerdings jemals in seiner Manifestation zu erschöpfen. Der Rest, der niemals endgültig erscheinen kann, der noch in der lethe ruht, entspricht folglich für Balthasar der transzendentalen Wirklichkeit des Seinsgrunds, dem unteilbaren Rest Schellings, welcher als Bedingung für die Möglichkeit jeglicher Zeugung, als ursprünglicher Hintergrund, aus dem jedes Dings hervorgeht, in jedem Geschöpf lebt und sich manifestiert, ohne sich jemals völlig in ihm aufzulösen191. 190 Ebd., 254. 191 «Il y a là quelque chose qui ne peut qu’appartenir la pensée balthasarienne de la Trinité à la grandiose philosophie de la Révélation de Schelling. Cet apparentement est linguistique et théologique. La logique théologique que déploie Schelling dans ses Leçons de philosophie de la Révélation sont étonnamment
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Die Evidenz dieses Übermaßes ist für Balthasar dann unübertrefflich, wenn dieses «Nichterscheinen erscheint»192 . In ihrer undurchdringlichen Abgründigkeit, die sich selbst gründet, ist die Schönheit für Balthasar wie ein reines und ungeschuldetes Erstrahlen, das als Wirkung ohne Ursache zu benennen ist, absolute Disponibilität des Realen, als «Freude der Ausstrahlung des Seins», das ohne Notwendigkeit und ohne den Schatten eines egoistischen Einhaltens und Vorbehalts fließt. Es ist das Geschenk des Mysteriums, das Mysterium bleibt, auch wenn es sich ohne Mysterium schenkt. Die Gestalt des Geschenks benennt sie, erschöpft sie gleichzeitig aber nicht, stimmt doch diese Selbst-Öffnung nicht einmal mit ihrem Sich-Schenken und ihrer SelbstMitteilung überein: Sie scheint diese Erfahrung zu übersteigen und sogar zu begründen. Es ist möglich, die Geschenke Agapes zu genießen: Ihr ursprünglicher Grund bleibt jedoch unerreichbar, im Kreislauf der Geschenke. Wahrheit jedes Seienden, Nicht-Seiendes ihrer Wahrheit. Sie kann sogar durch die Elemente durchscheinen, die sich ihr am meisten widersetzen – Dunkelheit, Schmerz, Kreuz, Tod – und sich sogar in der finsteren Seite einer verletzenden Wirklichkeit, der Spannung eines negativen Willens oder der Unbändigkeit chaotischer Impulse manifestieren. Diese ursprüngliche Schönheit fürchtet nach Balthasar im Übrigen die Möglichkeit ihrer Zerstückelung nicht, in der Zufälligkeit ihrer ungerechtfertigten Missachtung: «Überall, wo sie als Erscheinung angegriffen wird, zieht sie sich in das Wesen zurück, wo sie unzerstörbar lebt als die wesentliche Schönheit des Seins»193. Auf der anderen Seite kann sie, gerade in ihrer Verletzung, durch nicht ableitbare Antiphrase auf noch radikalere Weise auf ihren Ursprung und ihre Bestimmung hindeuten: Balthasar lädt ein zu sehen, dass auch in den kleinsten Falten der gelebten Erfahrung, in den wandelbaren Intensitäten der alltäglichen Ereignisse, die Evidenz einer zarten Wirklichkeit aufscheinen kann, die der Benennung abgeneigt ist, und doch wesentlich und leuchtend und in ihrer Gnade imstande ist, der Welt Konsistenz zu verleihen. So wie es einst mit dem entstellten Ecce homo ohne Schönheit und Leidenschaft geschehen ist – der leidende Mensch, so «daß man das Angesicht vor ihm verbarg» (Je 53,3) –, bleibt es immer möglich, in einem kleinen Stück Leben, in den Furchen eines Gesichts, in einer unwillkürlichen Bewegung das Vorüberziehen von Sinn zu erfassen. Weder Hegel noch Augustinus hatten für Balthasar ausreichend spekulative Energie, um die Immanenz des Göttlichen als das ‹innermenschliche› begründende Prinzip zu bezeichnen. Weder die Logik der Identität (Hegel) noch die Ontologie der Differenz (Heidegger) wissen für Balthasar das Vermögen eines Prius zu artikulieren, das nicht sogleich die Idee einer schützenden Bewegung oder eines metaphysischen An-
proches de la logique trinitaire déployée par Balthasar dans la Dramatique divine. Cet apparentement se manifeste essentiellement dans les catégories du devenir, de l´historicité, de la temporalité, mais plus fondamentalement […] dans celles de dissimulation (Verstellung) et de retenue (Zurückhaltung), dont les correspondants linguistiques balthasariens sont ceux de « mise en réserve » (Hinterlegung) et de « dissimulation » (Verborgenheit)» (HOLZER, Vincent, Les implications métaphysico-religeuses d’une dramatique trinitaire, in «Gregorianum», Roma 2005, S. 314). 192 BALTHASAR, Theologik. Bd I, 254. 193 Ebd., 255.
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spruchs der absoluten Gründung hinzuzieht. Nur von dieser Linie der ursprünglichen Disponibilität des Realen, von einer Art unbedingtem ‹Ja› ausgehend, das sowohl über die Idee einer auf die produktive Effizienz des Grunds reduzierten Transzendenz als auch über die scotistische Lösung eines in seiner Freiheit omnipräsenten und allumfassenden Wesens und die Negation von Hegels Negation hinausweist, erscheint es möglich, das Wesen Gottes als Prinzip des disponiblen Absoluten zu denken, in dem sich Gott als Trinität entfaltet, in der mysteriösen Kraft Agapes. Im Kielwasser dieser Intuition, die – zumeist verborgen – aus dem atemberaubenden kritischen Dialog Balthasars mit Schelling hervorgeht, könnte die Theologie eine Dechiffrierung Agapes im Sinne einer Ontologie des affektiven Absoluten als ursprüngliches Vorausgesetztes versuchen, indem sie das ‹noch nicht› der von Schelling – und dann Cacciari – beschriebenen Gestalt einer ursprünglichen Indifferenz und eines stillen Abgrunds aufzeigt. Balthasar scheint uns, mit einer zu seiner Beharrlichkeit umgekehrt proportionalen Radikalität, ein Gesprächspartner zu sein, der der Frage gewachsen ist. In der Theologik, dem Werk seiner späten Reife, schimmert die Ontologie der Freiheit Schellings gerade in den entscheidenden Passagen häufiger durch: insbesondere dort, wo er sich um die Benennung Gottes als Agape und Freiheit bemüht. In der intensiven Auseinandersetzung mit dem ‹idealistischen Prometheismus› – etwa in Apokalypse der Deutschen Seele oder in Herrlichkeit – hat seine Analyse der Philosophie Schellings vor allem die Grenzen seiner System-Ontologie hervorgehoben, die das Absolute in das Scheitern der Geschichte und das Bestreben der Vernunft einbezieht: Orte, die schon ungeeignet sind, sich eine Vorstellung vom Menschen zu machen, und ganz sicher nicht für eine mögliche Idee von Gott in Frage kommen. Schellings System erscheint hier als Triumph der anti-christlichen Gnosis. Und doch taucht Schellings Denkform [Deutsch im Original] im Hintergrund der Theodramatik wieder auf, als Motor eines itinerarium libertatis in Deum, wenn auch in den hier erläuterten Grenzen. Und schließlich fließt das Staunen der Vernunft angesichts der (notwendigen) grundlosen Begründetheit der abgründigen Herrschaft (Freiheit) des Grunds in die in Balthasars Trilogie präsenten theologischen Intuitionen ein. Die Intention, den Blick in den bodenlosen Abgrund der unvordenklichen Liebe zu versenken, Agape transzendental als Horizont ohne Zweckmäßigkeit und Ursächlichkeit zu nennen, als reine Gnade der Kommunikation, scheint der von Schellings Überlegungen zum Vorausgesetzten gezogenen Spur zu folgen, im Bewusstsein ihrer Problematik und Ungelöstheit. Das letztendliche Ziel scheint es zu sein, das Absolute weder in einer reinen Position der Alterität noch als Widerspiegelung der Identität zu denken: Nur in dieser transzendentalen Perspektive erscheint es nämlich möglich, sich der Idee von Zeugung und Äußerlichkeit zu öffnen, über die weder das gnostische und neoplatonische Ausströmen noch die dialektische Opposition (einer gewissen Auslegung) Hegels für Balthasar Rechenschaft abzulegen wissen. Die Auseinandersetzung des Theologen mit diesem Horizont ist jedoch zumeist implizit. Auf den klaren Ausdruck dessen, was Schelling geschuldet ist, wären wir vielleicht nicht vorbereitet. Der Zeitpunkt seiner Lesbarkeit [Deutsch im Original] ist ge-
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kommen, mit der wir – vielleicht gerade heute – heimlich eine Verabredung hatten. Denn die vorherrschende Idee vom Einzigen, auf die die heutige Philosophie der Immanenz die Lebenskräfte und alle Formen des Logos beharrlich zurückführen/hinzwingen will, zieht aus dem Anonymen Anfang (der Natur, des Physischen, Organischen, Idealen) ihre Rechtfertigung, um uns zum Ende der Freiheit und des Sinns zu führen. Auf dem Spiel steht die Bestimmung das gesamte System der Gefühle: Seele, Körper und Geist. Das «immer Grundlose», das über jede vorgefasste Sicherheit und jede einfach abgeleitete Bestimmung hinausgeht, diese mysteriöse Liebe ohne Grund, in der wir leben, sind, wohnen – zu Recht und paradoxerweise gegen jede Hoffnung hoffend –, kann keinesfalls in einem blinden Prinzip ohne Qualitäten aufgelöst werden, in einem abgründigen und all-umfassenden Anfang, der nicht ableitbar jeder Möglichkeit offensteht194. «Um dies hinreichend zu entfalten, wäre an dieser Stelle eine ausführliche metaphysische Abhandlung einzuschalten, was im Rahmen dieser theologischen Arbeit nicht möglich ist» 195 . Die «zusammenfassenden Anspielungen», die «einer weiteren Ausführung bedürften», erscheinen wie ein implizites Angebot Balthasars von zukünftigen theologischen Ausführungen, eine begeisterte und entschiedene Aufforderung, damit die Sichtweise des agapischen Transzendentalen und von «Gott, der nichts anderes als Liebe ist» zum Höchsten werden, was von der theologischen und philosophischen Reflexion gedacht werden kann. Die zeugende und kreatürliche Gastlichkeit Gottes ohne Voraussetzungen oder Grenzen entspricht keinem einfachen undifferenzierten Prius der Omnikompossibilität, als unerreichbarer Grund eines abgründigen Anfangs: «Das Unfaßlichsein des Gottes der negativen Theologie wird aufgeklärt in das tiefere Unfaßlichsein des Gottes der grundlosen Liebe»196. Wenn die Postmoderne bedeutet, dass wir nicht mehr an diese Welt glauben – dass wir nicht mehr an Wunder glauben, wie Badiou sagen würde –, könnte das Angebot einer Ontologie von Agape, bei der Frage nach dem Anfang als «positive Unfassbarkeit» beginnt, einen direkten Weg für die Theologie darstellen. Eine schwierige Vorstellung, die der Einfachheit des Blicks das unerschütterliche Vor-Gefühl zurückgibt, dass wir, wenn wir auf die Welt kommen, nicht tragisch ins Leere stürzen. Ebenso wenig jedoch schaukeln wir erinnerungslos, völlig sterilisiert, in einem hyperbaren, übersinnlichen Grund. Agape ist Wunde-r [Deutsch im Original] und weiß immer von Neuem kleine (aber entscheidende) Durchgänge im Dunkel zu öffnen, durch die – vielleicht nur einen Augenblick lang – etwas vom Ursprung und der Bestimmung des Seins zu erken-
194 «Der Quellgrund der Gottheit, der das ‹Wort›, den ‹Sinn› in seiner unermesslichen Fülle hervorzubringen vermag, ist sicherlich weder das (gnostische) Schweigen noch ein irrationaler (idealistischer) Wille, sondern ein ‹Vater›, der sich, wenn auch selber unsichtbar, im ‹Spiegel› und in der ‹Gestalt› seines Sohnes wahrhaft darzustellen vermag» (BALTHASAR, Theologik. II, 139–149). 195 Ebd., 166. 196 BALTHASAR, Herrlichkeit. Bd. III/1, Teil 2, 577.
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nen ist, damit jedes Ding auf diese Weise vom Glanz [Deutsch im Original], der unvermeidlich aus diesen winzigen Rissen ausgeht, durchdrungen, jedes nackte Leben von ihm berührt werden kann – und sei es nur einen Augenblick lang. Das war es, was wir letztendlich sagen wollten.
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Zum Buch In den Spuren der philosophischen Theologie Schellings fragt die Autorin nach dem Ursprung des Seins: Ist die Geschichte bloß ein absurdes Kaleidoskop von Momenten, oder folgt sie einer heilsgeschichtlichen Programmatik? Zur Klärung dieser Frage bringt sie den italienischen Philosophen Massimo Cacciari und den Schweizer Theologen Hans Urs von Balthasar miteinander ins Gespräch. Beide sind – auf unterschiedliche Weise – Denker des Ursprungs. Beide verfolgen dabei das Ziel einer theologischen Rehabilitierung der Ontologie.
Die Autorin Dr. phil., Dr. theol., geb., ist Universitätsassistentin an der interdisziplinären Forschungsplattform Religion and Transformation in Contemporary European Society der Universität Wien.