Agenten, Akteure, Abenteurer: Beiträge zur Ausstellung »Europa und das Meer« am Deutschen Historischen Museum Berlin [1 ed.] 9783428555192, 9783428155194

Dieses Buch möchte dazu beitragen, unseren Blick auf die Interdependenzen zwischen Europa und der Welt zu schärfen. Das

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Agenten, Akteure, Abenteurer: Beiträge zur Ausstellung »Europa und das Meer« am Deutschen Historischen Museum Berlin [1 ed.]
 9783428555192, 9783428155194

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Agenten, Akteure, Abenteurer Beiträge zur Ausstellung „Europa und das Meer“ am Deutschen Historischen Museum Berlin Herausgegeben von Jürgen und Martina Elvert

Duncker & Humblot · Berlin

Agenten, Akteure, Abenteurer

Agenten, Akteure, Abenteurer Beiträge zur Ausstellung „Europa und das Meer“ am Deutschen Historischen Museum Berlin

Herausgegeben von Jürgen und Martina Elvert

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlag: Cornelius Wagner, Kohlenhafen Hamburg St. Pauli (1908) (© Deutsches Schiffahrtsmuseum Bremerhaven) Alle Rechte vorbehalten

© 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISBN 978-3-428-15519-4 (Print) ISBN 978-3-428-55519-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-85519-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

INHALTSVERZEICHNIS EINFÜHRUNG Jürgen Elvert Zur Einführung. Europa, das Meer und die Welt. Reflexionen über einen neuen Zugang zur Europäischen Geschichte ................................................................................. 11 1. MYTHOS Ulrich Fellmeth Antike Gesellschaften und das Meer. Vom Mythos über den Logos zur Seeherrschaft ................................................... 23 Raimund Schulz Krieg und Seefahrt in der Antike ........................................................................... 37 Thomas Schmidts Antike Häfen .......................................................................................................... 43 Ulrich Fellmeth Das Meer und die Selbstorganisation in antiken Gesellschaften. Ein Essay an den Beispielen „Entstehung der polis“ und „Ende der römischen Republik“ ..................................................................... 57 2. SCHIFFBAU UND SEEFAHRT Heinrich Walle Amsterdam – Ein Zentrum der Entwicklung des europäischen Schiffbaus ........................................................................................ 73 Christian Ebhardt Das Problem der Arbeitsorganisation im Schiffbau. Zur Raum- und Sozialordnung der Werft .............................................................. 85

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Inhaltsverzeichnis

3. KRIEG ÜBER SEE Christoph Schäfer Krieg über See ....................................................................................................... 93 Arne Karsten Seekriegsführung und Staatsbildungsprozess in der europäischen Geschichte ........................................................................... 103 Jann M. Witt Mahan und seine Wirkung auf Tirpitz und Raeder.............................................. 109 Udo Sonnenberger/Sebastian Bruns Marinen im 21. Jahrhundert. Konstanten, Spannungsfelder und Trends ........................................................... 117 4. ENTDECKUNGEN Wolfgang Schmale Entdecken. Eine kleine Mentalitätsgeschichte..................................................... 123 Michael Kraus Kritik, Einspruch, Paradoxien, Öffnungen. Kurze Anmerkungen zur langen Geschichte der Entdeckungen ......................... 133 Horst Dippel Georg Forster und die Erfahrung der Kulturen der Südsee ................................. 141 Nikolaus Böttcher Die Relación de méritos des Francisco de Orellana. Oder: Die mittelalterlichen Wurzeln der spanischen Conquista .......................... 153 Ulrike Kirchberger „Animal Agency“ als Nebenwirkung der Kolonialgeschichte? Ökologische Netzwerke und Transfers zwischen Australien, Indien und Afrika, 1850–1920 .......................................... 163 5. KULTURAUSTAUSCH Wolfgang Reinhard Heiliger Konfuzius, bitte für uns! Kulturaustausch durch Mission und die Chinamode des 18. Jahrhunderts ......... 177

Inhaltsverzeichnis

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Javier Francisco Vallejo Das jesuitische ‚trojanische Pferd‘. Sektorale Kooperation und Wettbewerb im transandinen Vizekönigreich Peru .................................................................. 189 Andreas Flurschütz da Cruz/Mark Häberlein Jussuphs Geschichte. Agency, Kontingenz und Autorität in der Epoche der Türkenkriege ................... 199 Christoph Marx Mission und kultureller Austausch in Afrika ....................................................... 221 Ute Schüren Missionare und Esoteriker. Kulturelle Aneignungsprozesse am Beispiel der Religion der yucatekischen Maya .................................................................. 227 Hermann Mückler Christliche Mission und Kulturaustausch in Ozeanien ........................................ 235 6. SKLAVEREI Michael Zeuske Globalgeschichte der Sklaverei ........................................................................... 243 Klaus Weber Europäische, asiatische und afrikanische Waren im transatlantischen Sklavenhandel ..................................................................... 259 Claus Füllberg-Stolberg Der transatlantische Sklavenhandel ..................................................................... 267 Wolfgang Reinhard Fünf kleine Negerlein. 550 Jahre Missachtung und Selbstbehauptung der Afrikaner ............................. 275 7. MIGRATION Jochen Oltmer Migration über See............................................................................................... 289

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Inhaltsverzeichnis

Tobias Brinkmann Von Eydtkuhnen nach Ellis Island. Die Massenmigration aus Osteuropa über deutsche Hafenstädte 1880–1914 ..... 301 Joachim Schlör Die Schiffsreise als Denkraum. Quellen zur deutsch-jüdischen Emigration zwischen dem Abschied von Europa und der Ankunft in Palästina .................... 307 Dirk Hoerder Koloniale und postkoloniale Migration nach Europa .......................................... 315 Jochen Oltmer Migration als Ergebnis individuellen Handelns und kollektiven Aushandelns. Eine geschichtswissenschaftliche Verortung ....................................................... 321 8. IMPORTE: FREMDES WIRD EIGENES Reinhard Wendt Importe und Impulse aus der überseeischen Welt: Fremdes wird Eigenes .......................................................................................... 339 Jürgen G. Nagel Hamburg, die Niederlande und das Zeitalter der Handelskompanien ................. 355 Astrid Windus/Andrea Nicklisch Die Biographie der Dinge. Die Godeffroy’schen Ethnographica als Wanderer durch Zeit und Raum .......... 365 Hiram Morgan On the Pig’s back. Subaltern Imperialism, Anti-colonialism and the Irish Rise to Globalism .......... 375 Bea Lundt Kwame Nkrumah (1909–1972). Die Autobiographie eines afrikanischen Politikers und Visionärs im Spiegel ihrer Rezeption in Europa .......................................... 397 9. HANDEL: EXPORT AUS EUROPA Markus A. Denzel Maritime Weltwirtschaft. Ökonomische Aspekte der „Europäisierung der Welt“ ....................................... 417

Inhaltsverzeichnis

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Samuel Eleazar Wendt/Klaus Weber Made in Germany. Deutsche Industrieprodukte für die Welt ............................................................. 427 10. RESSOURCEN: VOM FISCH ZUM ÖL Jens Ruppenthal Schatzkammer und Mülleimer: Europas Meere zwischen Nutzung und Verschmutzung ..................................... 437 Ole Sparenberg Metalle aus dem Meer. Eine kurze Geschichte des Tiefseebergbaus ........................................................ 449 11. MEERESFORSCHUNG Gerd Hoffmann-Wieck Meeresforschung. Geschichte und Geschichten aus Westeuropa und den USA ............................... 459 Helen M. Rozwadowski The Development of ICES ................................................................................... 475 Julia Heunemann Strömungen als Differenzphänomene. Zur Formalisierung von Strömungswissen bei James Rennell ............................ 481 Nele Matz-Lück Seerechtsgeschichte(n)......................................................................................... 489 12. TOURISMUS Dagmar Bellmann Mikrokosmos an Bord: Der Beginn der modernen Kreuzfahrt ........................... 501 Verzeichnis der Personen, Orte und Schiffe ........................................................ 517 Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter .............................................. 533

„Da liegt von langen Kais eingefaßt, wie die Indianerinseln von Korallenriffen, unsere Inselstadt der Manhattoes. Über die brandende See nimmt der Handel seinen Weg. Rechts und links laufen die Straßen nach dem Meere zu. Betrachte dir die Massen von Menschen, die ins Wasser starren! Mache an einem langweiligen Sonntagnachmittag einen Bummel durch die Stadt! Wenn du von Corlears Hook nach Coenties Slip und von da über Whitehall nach Norden gehst, siehst du nichts als Tausende von Menschen, die wie schweigsame Posten dastehen und traumverloren in das Meer hinausstarren. Sie haben sich gegen die Holzpflöcke gelegt, sie sitzen auf den Molenköpfen, sie sehen über die Bollwerke der Schiffe, die von China kommen, und wieder andere sehen hoch über die Takelage hinweg, um einen möglichst weiten Blick auf das Meer zu haben. Alle sind Landratten. Wochentags haben sie mit Holz und Mörtel zu tun, da sind sie an Ladentische gebunden, an Bänke genagelt oder an Pulten befestigt. Was soll das bedeuten? Sind denn die grünen Felder nicht mehr da? Was tun sie hier? Aber es kommen noch mehr Menschen. Sie gehen dicht an das Wasser heran, als wollten sie hineintauchen. Seltsam! Keiner begnügt sich mit einem Platz, wenn es nicht die äußerste Landseite ist; im Schutz der schattenspendenden Warenspeicher zu hocken, würde ihnen nicht gefallen. Sie müssen so nahe wie möglich an das Wasser heran, nur gerade, daß sie nicht hineinfallen. Von Straße und Promenade, von Gasse und Allee kommen sie von allen Himmelsgegenden herangeströmt. Hier versammelt sich alles. Bewirkt das die magnetische Anziehung der Kompaßnadel auf den Schiffen oder woher kommt es?“ 1

ZUR EINFÜHRUNG Europa, das Meer und die Welt. Reflexionen über einen neuen Zugang zur Europäischen Geschichte Jürgen Elvert Das obenstehende Zitat aus dem ersten Kapitel von Herman Melvilles „Moby Dick“ zeigt, dass das Meer ebenso wie Häfen und Hafenstädte die Zeitgenossen bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts faszinierten. Und Melville erinnerte seine Leser daran, dass maritime Dinge die Menschheit schon immer in ihren Bann gezogen hätten: „Warum war den alten Persern das Meer heilig? Warum schufen die Griechen einen besonderen Gott des Meeres und ließen ihn den Bruder von Zeus sein?“ 2 Dafür, dass das Meer mitsamt seiner Hafenstädte und Häfen der Menschheit seit jeher 1 2

Das Zitat wurde genommen aus: Herman Melville, Moby Dick, Kapitel 1: Loomings, http:// gutenberg.spiegel.de/buch/moby-dick-oder-der-weisse-wal-8065/2 [letzter Abruf: 24.1. 2018]. Ebd.

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als von großer Bedeutung erschien, gibt es zahllose Beweise in der Literatur, in der Malerei, in der Musik oder in der Architektur. So stehen immerhin zwei der sieben Weltwunder in der Antike in enger Verbindung mit Hafenstädten – Der Koloss von Rhodos und der Leuchtturm von Alexandria. Hafenstädte waren die Ausgangspunkte der Reisen antiker Seefahrer und Kaufleute, auf denen sie den europäischen Küstenverlauf erschlossen und so den Kontinent entdeckten. Im Mittelalter war Europa umgeben von einem dichten Netz maritimer Handelswege, die maßgeblich zur Sicherung von Wohlstand und Fortschritt des europäischen Kontinents beitrugen. Das Rückgrat der spanischen, portugiesischen, niederländischen, französischen und britischen Imperien war das Meer als Brücke von Europa nach Außereuropa sowie die an den Küsten gelegenen Hafenstädte als Anker- und Umschlagplätzen nicht nur für Waren, sondern auch für Information und Wissen. Dieser Befund gilt bis heute: Ohne das Meer und die Häfen würde auch die heutige Weltwirtschaft nicht funktionieren. Trotzdem waren die Befunde, die auf einer Hamburger Konferenz zum Thema „Maritime Defense and Security“ getroffen wurden, eher ernüchternd. Einer der Referenten brachte die Problematik auf den Punkt, als er feststellte: „Sadly there isn´t much credit given for waters, people or vessels protected and violence deterred at sea. Out of sight at sea means out of mind ashore and as a consequence the man in the street does not recognize his maritime dependency.“ 3 Diese Diagnose scheint auch auf unser heutiges Verständnis von der Bedeutung von Meer, Häfen und Hafenstädten für unser tägliches Leben zuzutreffen. Bestenfalls lässt sich ein freilich zumeist gering ausgeprägtes Verständnis für die wirtschaftliche und ökologische Bedeutung des Meeres sowie von Häfen und Hafenstädten feststellen. Aber wenn es darum gehen sollte, die verschiedenen Ebenen der Bedeutung von Häfen für die jeweilige Geschichte, Gesellschaft, Kultur oder Architektur von Städten, Regionen oder Nationen zu bestimmen, tendiert unser einschlägiges Wissen gegen Null, von der gesamteuropäischen Bedeutung des Meeres und der Häfen ganz zu schweigen. Unbestritten ist, dass es heute bereits in großem Umfang Hafenforschung gibt. Allerdings ist diese zumeist beschränkt auf bestimmte Einzeldisziplinen wie Ortsgeschichte, Soziologie, Ökonomie oder Verkehrswissenschaften. Interdisziplinäre Forschungsansätze auf diesem Gebiet sind dagegen rar gesät, sowohl als Einzelfallstudien als auch als breiter und komparativ angelegte Untersuchungen. Sicher gibt es immer Ausnahmen von der Regel, auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaften freilich zählt dieses Thema bis heute zu den so gut wie gar nicht erforschten Themen, schon gar nicht im europäischen oder globalen Kontext. Dabei kann beispielsweise die Geschichte Europas auch vom Meer her geschrieben werden. Hier wäre Hafenstädten die Rolle von Knotenpunkte eines europäischen und globalen maritimen Netzwerks beizumessen. Denn wie Flughäfen oder Bahnhöfe sind auch Häfen weit mehr als bloße Ballungsräume von Menschen und Waren. Sie sind vielmehr kulturprägende Orte, die nicht nur persönliche Identitäten stiften, sondern auch 3

http://meerverstehen.net/2012/09/18/maritime-sicherheit-verteidigung-2012-was-bleibt/ (Abruf 21.4.13).

Zur Einführung

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grenzüberschreitende Begegnungen und Erfahrungen beispielsweise auf sprachlichem oder sozialem Gebiet ermöglichen. In den Kulturwissenschaften hat sich in den letzten drei Jahrzehnten in Folge des sog. „Cultural Turns“, der kulturwissenschaftlichen Wende eine Art Diskursgemeinschaft entwickelt, in der lebhaft über neue Wege und neue Erkenntnispotentiale gestritten wird. Dieser Diskurs ist auch in den Geschichtswissenschaften auf ein deutlich hörbares Echo gestoßen, die Zahl der einschlägigen Arbeiten in den letzten Jahren beachtlich angewachsen. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick hat in ihrer Studie über Cultural Turns sieben verschiedene Richtungen und einen Meta-Turn ausgemacht, die sich in den Kulturwissenschaften etablieren konnten: den Linguistic Turn als Meta-Turn, weil mit ihm gleichsam alles begann, dann den Interpretive Turn, den Performative Turn, den Reflexive bzw. Literary Turn, den Postcolonial Turn, den Spatial Turn sowie den Iconic Turn. 4 Aus der Perspektive der Geschichtswissenschaften erscheinen zwei Ansätze von besonderem Interesse: der Postcolonial Turn und der Spatial Turn. Seit Edward Saids provokativer Orientalismus-Studie 5 aus dem Jahre 1978 konnten Arbeiten aus dem Bereich der Postcolonial Studies viele neue Erkenntnisse zutage fördern und mit den Subaltern oder Regional Studies neue Forschungsbiete eröffnen, neue Perspektiven aufzeigen und insgesamt zumindest in den daran beteiligten Wissenschaften eine größere Aufgeschlossenheit für globale Zusammenhänge wecken. Aber trotz des „Hype“ um Said oder auch Dipesh Chakrabarty 6, der, von den Subaltern Studies kommend, sich wohl als derzeit wichtigster Vertreter des Postkolonialismus etabliert hat, haben kritische Analysen gezeigt, dass die argumentative „Unterfütterung“ sowohl der „Orientalismus-“ als auch der „Provinzialisierungs“-Thesen eher schwach waren. Said hatte einige ausgewählte französische und britische Orientalisten als „Kronzeugen“ angeführt, um zu zeigen, dass „der Westen“ (also Europa und die USA) Orientalismus-Forschung primär als Instrument zur Etablierung westlicher politischer Macht im Orient genutzt hätten. Chakrabarty nutzte eine regionale Studie aus Bengalen, um Differenzen zwischen europäischem Denken und außereuropäischer Erfahrung mit diesem Denken aufzuzeigen. Damit wollte er seine These von der Relativierung des europäischen Einflusses im globalen Rahmen untermauern. 7 So gesehen, haben zwei eher gewagte Forschungsthesen aus den Kulturwissenschaften die europäische Geschichtsschreibung in die Defensive gedrängt, indem

4 5 6 7

Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2010, 162. Edward Said, Orientalism, New York 1979. Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000. Zur Kritik an Said siehe: Birgit Schäbler, Edward Saids Buch Orientalism als Erfolgsgeschichte, in: Burkhard Schnepel / Gunnar Brands / Hanne Schönig (Hgg.), Orient – Orientalistik – Orientalismus. Geschichte und Aktualität einer Debatte, Bielefeld 2011, 279–302, (bes. 287– 294).

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sie die Rolle Europas im globalen Kontext auf reine Machterhaltungsstrategien reduzierten bzw. mit Hilfe des Provinzialisierungstopos relativierten. Damit jedoch wird ein schiefes Bild von der Rolle gezeichnet, die Europa und die die Europäer im globalen neuzeitlichen Kontext gespielt haben. Der postkoloniale Ansatz läuft Gefahr, verzerrte Bilder und Erkenntnisse zu produzieren, insbesondere im Hinblick auf den europäischen Einfluss bei der Gestaltung der modernen Welt. Ich bin der Ansicht, dass ein großer Teil der postcolonial Studies heute die Bedeutung außereuropäischer Faktoren überschätzen und dabei den komplexen Prozess außer Acht lassen, der den europäischen Ausgriff nach Übersee seit dem 15. Jahrhundert kennzeichnet. Dessen Besonderheit sind die vielschichtigen Wechselwirkungen zwischen europäischen und außereuropäischen Ebenen, die einerseits den nicht-europäischen Raum geprägt haben, andererseits aber auch deutlich sichtbare Rückwirkungen auf die Gestalt Europas und die europäische Zivilisation hatten. Eine dem gegenwärtigen Forschungsdiskurs entsprechend angemessene Analysemöglichkeit dieser Faktoren bietet der akteursorientierte Ansatz (agency-approach), der unter anderem vom indischen Soziologen Homi Bhabha und seinem US-amerikanischen Kollegen Stephen Greenblatt und anderen entwickelt wurde. 8 Agency bedeutet hier die selbstbestimmte Aktivität des Einzelmenschen, aber auch von Gruppen und Gemeinschaften. Hierbei wird der Aspekt der Selbstbestimmtheit solcher Aktivitäten betont und damit die Gefahr der Produktion von deterministischen Bildern und teleologischen Prozesses ganz erheblich reduziert, in denen die Akteure, also die Menschen, als bloße Erfüllungsgehilfen übergeordneter Prozesse in Erscheinung treten. Allerdings gilt es, den agency-Ansatz durch neuere Erkenntnisse zu ergänzen. Da nämlich Bhabha das Prinzip der Zufälligkeit zu einem Kernelement menschlicher Aktionen und Reaktionen erklärt – er spricht in diesem Zusammenhang von der activity of the contingent, der Aktivität des Zufälligen –, wäre sein Ansatz, für sich genommen, als Maßstab für den europäischen Einfluss auf die Welt und den Einfluss der Welt auf die Entwicklung der europäischen Zivilisationen ungeeignet. Wenn wir jedoch mit Dietmar Rothermund den agency-Ansatz ergänzen mit neueren Erkenntnissen aus den Natur- und Gesellschaftswissenschaften, denen zufolge jedes im Prinzip offene System dazu tendiert, sich selber zu organisieren, dann bietet sich m. E. ein methodisch und hermeneutisch vielversprechender Zugang zu unserem Betrachtungsgegenstand. 9 In diesem spielt auch der europäische Griff nach der Welt seit dem 16. Jahrhundert als ein Spiegel für die Entwicklung der europäischen Gesellschaft(en) unter dem Einfluss der Kontakte mit nicht-europäischen Zivilisationen eine bedeutende Rolle. Die europäische Expansion seit dem 16. Jahrhundert und die damit verbundenen Folgen für Europa und die Welt erscheinen hier als ein prinzipiell offenes System, in dem nicht nur die „Anderen“ verändert, sondern Europa und die Europäer selber grundlegend verändert wurden. 8

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Vgl.: Dietmar Rothermund, Organisierte Handlungskompetenz: Europas Entwicklung und die außereuropäische Welt, in: Harald Fischer-Tiné (Hg.), Kolonialismus, transkulturelle Prozesse und Handlungskompetenz, Münster 2002, S. 1–10, hier S. 1. Vgl. ebd.

Zur Einführung

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So wäre Europas Griff nach der Welt und dessen Konsequenzen in der Tat als eine activity of the contingent zu verstehen, freilich verbunden mit einem inhärenten Selbstorganisationsprinzip, die in einem komplexen und dynamischen Prozess sowohl Europa als auch weite Teile der Welt ständig verändert haben. Es gilt also, die Grundmuster dieses Prozesses herauszuarbeiten und dessen Mechanismus zu erklären, da dieser die Welt von heute geformt hat. Mit diesem Ansatz dürfte es in der Tat gelingen, unser heutiges Verständnis vom globalen Einfluss Europas in der neuzeitlichen Geschichte angemessen zu erklären. Darüber hinaus eignet sich dieser Ansatz ausgezeichnet dazu, um die Selbstentdeckung Europas seit der Antike herauszuarbeiten, schließlich verlief dieser Prozess ähnlich wie der der Entdeckung der Welt. Ich komme damit zum zweiten, für die Geschichtswissenschaften im Allgemeinen und unser Vorhaben im Besonderen wichtigen Zweig des Cultural Turns, dem Spatial Turn. Ein kurzer Blick auf die Entstehungsgeschichte dieses neuen RaumParadigmas zeigt, dass der Begriff Spatial Turn erstmals im Jahre 1989 eher zufällig und vergleichsweise unspezifisch in einem Buch des nordamerikanischen Humangeographen Edward Soja auftauchte. Aber auch wenn gerade in der Geographie auch weiterhin heftig die Nutzung des Spatial Turn als Forschungsparadigma kritisiert wird – schließlich handelt es sich bei der Geographie um die Raumwissenschaft par excellence – erlebte der Begriff seither eine Erfolgsgeschichte in den Kulturwissenschaften und hat zwischenzeitlich sogar die Theologie und Organisationslehre erreicht. Aus der Sicht der Geschichtswissenschaften kann diese Erfolgsgeschichte nicht überraschen, schließlich stellt der Raum doch neben der Zeit eine der zentralen Kategorien geschichtswissenschaftlicher Forschung dar, die freilich infolge des Missbrauchs der Geopolitik durch den Nationalsozialismus lange Zeit tabuisiert war. Das änderte jedoch nichts daran, dass die Geschichtswissenschaften den Raum benötigen, um aussagekräftige Ergebnisse zu präsentieren. Als ein gutes Beispiel für die Bedeutung des Raumes für die Historiographie sei hier Karl Schlögels „Im Raum lesen wir die Zeit“ angeführt. 10 In diesem und in anderen Werken hat Schlögel maßgeblich dazu beigetragen, das Raumparadigma für die deutsche Geschichtswissenschaft wieder hoffähig zu machen, indem er es vom Ballast des nationalsozialistischen Missbrauchs befreite und ihm eine gänzlich andere Bedeutung verlieh. Umso verblüffender ist es, dass er dem größten Raum der Erde, dem Meer, der immerhin mehr als zwei Drittel der Erdoberfläche bedeckt, vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Zwar beginnt Schlögel mit Reflexionen über Alexander von Humboldts Schiff und Navigation, allerdings beziehen sich seine Ausführungen hauptsächlich auf die Schiffsausrüstung, die Ausstattung von Humboldts Kabine und die Schwierigkeiten, wissenschaftliches Neuland zu erschließen. Hier sind nun die für unser Vorhaben wichtigen Begriffe eingeführt: die Methode, der zeitliche Horizont und der Raum – in unserem Fall führt das zu der Frage,

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Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München 2003.

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welche Bedeutung das Meer in der europäischen Geschichte und für die Stellung Europas in der Welt gespielt hat und weiterhin spielt. Warum plädiere ich überhaupt für die Nutzung der maritimen Perspektive, für einen Maritime Turn in den Geschichtswissenschaften? Etwa 70% der Erde sind von Wasser bedeckt, 80% der Weltbevölkerung lebt an oder in der Nähe von Meeren (bei steigender Tendenz) und ca. 90% des Welthandels wird über See transportiert. Diese 70-80-90-Faustregel dient dem Pentagon als Begründung für die globale Präsenz der US-Navy, also dem Schlüsselwerkzeug, das seit etwa einem Jahrhundert wesentlich zur Sicherung der globalen Macht der USA beiträgt. Sie ist Ausdruck einer ausgeprägten maritimen domain awareness zumindest der amerikanischen politischen, militärischen und wissenschaftlichen Eliten im Sinne eines hochentwickelten Verständnisses für das das Meer, dessen Spezifika und dessen Bedeutung in geopolitischer, strategischer und ökonomischer Hinsicht für die USA. Dieses ausgeprägte Meereswissen ist begründet im fest im amerikanischen kollektiven Gedächtnis verankerten Wissen um die Bedeutung des Meeres in der eigenen Geschichte und für die eigene Kultur. Schließlich war es der Atlantik, über den seit der Entdeckung des Kontinents Millionen von Menschen mehr oder weniger freiwillig von Europa und Afrika fuhren, um dort seit dem 16. Jahrhundert die heutige US-amerikanische Gesellschaft zu formen. Und spätestens seit dem 19. Jahrhundert war es dann der Pazifik, den es, zunächst als „frontier“, zu erreichen und anschließend, im Zeitalter des Hochimperialismus, zu beherrschen galt. Ein vergleichbar weit verbreitetes Wissen um die Bedeutung des Meeres für Europa insgesamt sucht man hierzulande bis heute vergebens. Die nationalstaatliche Ordnung des Kontinents bestimmt auch weiterhin die kollektive Selbstwahrnehmung der Europäerinnen und Europäer als Angehörige einer bestimmten Nation mit einer jeweils eigenen Geschichte und Kultur. Dabei wären die geographischen Voraussetzungen für eine dezidiert europäische maritime domain awareness durchaus günstig, denn mit einer Küstenlänge von über 110.000 km bei einer Grundfläche von rund 10,5 Millionen qkm ist Europa der maritime Kontinent schlechthin. Diese simple geographische Tatsache steht freilich in einem erstaunlichen Missverhältnis zu einer ausgeprägten sea blindness vieler Europäerinnen und Europäer im Sinne einer Indifferenz in Bezug auf die Bedeutung des Meeres für sie, für ihre Geschichte, ihre Gegenwart und auch die Zukunft des Kontinents, unabhängig davon, ob es um die nationale oder eine europäische Wahrnehmung der See geht. Diese sea blindness spiegelt sich auch in den Kultur- und Gesellschaftswissenschaften. Hier dominiert bis heute, dem spatial turn zum Trotz, die Sichtweise vom Land her. Es scheint so, als ob gerade die Kultur- und Gesellschaftswissenschaften nach wie vor „festen Boden unter den Füßen“ brauchen, um belastbare Erkenntnisse gewinnen zu können. Diese Feststellung ist umso erstaunlicher, als die Natur-, Geo- und Wirtschaftswissenschaften schon seit Längerem die Bedeutung des Maritimen für die menschliche, also auch für die europäische Zukunft erkannt haben. Ob als Rohstoff-Vorratslager, als Hort schier unerschöpflicher regenerativer Energie, als Nahrungsmittelreservoir einer weiter wachsenden Weltbevölkerung, als Haupttransportwegenetz des Welthandels: Die Bedeutung des Meeres erscheint in einschlägigen

Zur Einführung

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Spezialuntersuchungen beinahe ebenso grenzenlos wie das Meer selber. Freilich sind Spezialuntersuchungen meist etwas für Spezialisten, sie werden von einer breiteren Öffentlichkeit daher kaum zur Kenntnis genommen. Auch ist in diesem Zusammenhang der Begriff „grenzenlos“ nur noch unter Vorbehalt zu verwenden. Er spiegelt die von Hugo Grotius im 17. Jahrhundert geprägte Auffassung vom Mare liberum und muss daher heute schon fast als Anachronismus betrachtet werden, weil, wie weiland von Selden in seiner Antwort auf Grotius empfohlen, weltweit Staaten versuchen, ihren Einfluss auf Meeresräume jenseits der 12- oder 200-Meilenzonen auszudehnen. Im Gegensatz zur Politik stehen die Kultur- und Gesellschaftswissenschaften maritimen Dingen bis heute mit einer bemerkenswerten Indifferenz gegenüber. Insofern sei an dieser Stelle die Forderung gestellt, dass sich auch die Kulturwissenschaften im Allgemeinen und die Geschichtswissenschaften im Besonderen stärker mit maritimen Fragestellungen befassen sollten – und zwar von vornherein aus einer dezidiert europäischen Perspektive. Nur so, denke ich, lässt sich auf Dauer das allgemeine gesellschaftliche Wissen um die Bedeutung des Meeres erweitern und vertiefen und, damit einhergehend, eine größere gesamtgesellschaftliche Aufgeschlossenheit gegenüber entsprechenden Fragestellungen erreichen. Für die Geschichtswissenschaften bietet die Nutzung der maritimen Perspektive eine Vielzahl neuer Perspektiven. Dabei kann und darf es nicht nur um bereits heute zumindest von Spezialisten bearbeitete Themenfelder wie Schifffahrts- oder Werftengeschichte gehen. Auf diesem Gebiet sind schon in der Vergangenheit respektable Arbeiten vorgelegt worden. Hier wären insofern lediglich neuere Forschungsansätze zu berücksichtigen, die, im räumlichen Sinne, komparatistisch angelegt sind, oder, im methodischer Hinsicht, verstärkt trans- und interdisziplinäre Aspekte berücksichtigen. Schon damit wäre eine „Europäisierung“ entsprechender geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis gewährleistet. Schließlich nimmt „das Meer“ gleichsam die Rolle eines Bindeglieds zwischen Europa und der Welt ein, denn von Europa aus wurde die Welt von See her erschlossen, zum anderen wurden die in Übersee gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen über See nach Europa transportiert, um hier wiederum wirksam zu werden und die „alte Welt“ und ihre Bewohner selber zu verändern. So gesehen, begann die „Amerikanisierung“ Deutschlands in der Tat nicht 1945, sondern schon im 18. Jahrhundert mit der Verbreitung der Kartoffel, die ja bekanntlich über See nach Europa transportiert wurde. Darüber hinaus gilt es, neue Perspektiven aufzuzeigen und daraus neue Fragestellungen zu entwickeln. In diesem Zusammenhang sei beispielsweise auf die Bedeutung von Hafenstädten und Häfen aus geschichtswissenschaftlicher Sicht verwiesen, und zwar im europäischen Vergleich. Hafenstädte müssen als „Knoten“ oder „Relaisstationen“ in einem globalen Netzwerk verstanden werden, in dem es um Handel, um Kommunikation, um Wissenstransfer, um Kulturaustausch, aber auch um politische und ökonomische Macht geht. Am Beispiel von Hafenstädten lassen sich so kurz-, mittel- und langfristige Entwicklungsprozesse und räumliche wie sachliche Zusammenhänge herausarbeiten, die zugleich der Bedeutung des Maritimen angemessen Rechnung tragen. In Bezug auf die Geschichte Europas wird

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dies unser entsprechendes Wissen zwar nicht revolutionieren, freilich in einer bislang so nicht gekannten Weise neu ordnen und damit neue Sichtweisen eröffnen, neue Zusammenhänge aufzeigen und so zugleich einen Beitrag leisten für eine größere Aufgeschlossenheit gegenüber der Bedeutung des Meeres in der und für die europäische Geschichte. Freilich wird es dabei keine eindeutige Antwort geben, die Geschichtswissenschaften sollten jedoch vor der Vieldeutigkeit der Erkenntnisse nicht zurückschrecken. Denn zweifellos kann die Geschichte der europäischen Expansion, des Kolonialismus und des Imperialismus sich erst dann in vollem Umfang zeigen, wenn sie als ein europäisches Phänomen verstanden wird. Die nationale Perspektive verstellt den Blick auf die innereuropäischen Wechselwirkungen, auf die gesamteuropäische Dimension des Kolonialismus und somit letztlich auch auf dessen globale Dimension. Globalgeschichtliche Themen haben in den letzten Jahren in den Geschichtsund Kulturwissenschaften eine deutliche Aufwertung erfahren, eine Vielzahl neuer Perspektiven und Forschungsansätze wurde erprobt. Mittels Disziplinen übergreifender Fragestellungen wird versucht, ein ganzheitlicheres Bild von unserer Vergangenheit zu zeichnen, als dies bisher innerhalb der jeweils eigenen Disziplin möglich war. Analog dazu wird innerhalb der Geschichtswissenschaften der Suche nach inter- und transnationalen Zusammenhängen, nach Erklärungsansätzen für menschliches Verhalten und Handeln und nach der Bedeutung von Raum und Zeit für unsere Gegenwart wachsende Bedeutung beigemessen. Die Tragweite dieses Paradigmenwechsels wird dann besonders deutlich, wenn wir uns daran erinnern, dass insbesondere die Geschichtswissenschaft lange Zeit als eine Art „Legitimationswissenschaft“ des Nationalstaats galt. Eine Erklärung hierfür ist wohl in der Entwicklungsgeschichte des Fachs selbst zu finden. Die geschichtswissenschaftliche Methodik wurde gewissermaßen parallel zum modernen Nationalstaat europäischer Prägung erarbeitet, lange Zeit diente die Nation der Historiographie als Hauptreferenzrahmen, die ihrerseits den Nationalstaat historisch legitimierte. Demzufolge ließe sich das Konzept Benedict Andersons von den „Nationen als gedachter Gemeinschaften“ (imagined communities) durchaus zu „Nationen als gedachter und historisch legitimierter Gemeinschaften“ erweitern, zumal die historische Legitimation von Nationen trotz gegenläufiger Tendenzen auch heute noch tagtäglich stattfindet. Ich denke hier beispielsweise an Formen der Geschichtsvermittlung in Ausstellungen und Museen. Nationalmuseen müssen sich schon ex officio mit der Vergangenheit der jeweils eigenen Nation befassen, schließlich liegt ihr Auftrag in der Bewahrung, Pflege und Präsentation des kulturellen Gedächtnisses von Nationen. Damit jedoch prägen sie das Geschichtsbewusstsein ihrer Besucherinnen und Besucher, die ihrerseits wohl mehrheitlich von den Ausstellungen erwarten, dass sie ihr jeweiliges Vorwissen um die Besonderheiten der nationalen Geschichten bestärken und erweitern. Dieser Aufgabe gerecht zu werden und zugleich die jeweils präsentierte nationale Geschichte in einen trans- oder internationalen Kontext einzubetten, um zu zeigen, dass Nationen keineswegs isoliert handelnde Entitäten sind, sondern ihre Geschichte jeweils vor dem Hintergrund ihrer Einbettung in den internationalen Kontext betrachtet werden sollte, stellt eine schwierige Gratwanderung dar. Historische Phänomene werden auch heute noch üblicherweise als nationale

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Meistererzählungen präsentiert und tragen so zu einer weiteren Verfestigung eines primär am Nationalstaat ausgerichteten Geschichtsbewusstseins bei. Mangels alternativer Blickwinkel verlangt eine historisch interessierte Öffentlichkeit daher nach weiteren Narrativen aus der nationalen Perspektive, was wiederum eine Verfestigung des in erster Linie nationalstaatlich orientierten Geschichtsbewusstseins nach sich zieht. Die Rolle des Nationalstaates als primärer gesellschaftlicher Referenzrahmen bleibt damit unhinterfragt, obwohl in Zeiten allgemeiner Globalisierung dessen Öffnung für internationale Zusammenhänge dringend notwendig wäre. Die Aufgabe der Wissenschaft hingegen liegt darin, nach solchen alternativen Blickwinkeln zu suchen. Die in diesem Band versammelten Beiträge möchten dazu beitragen, unseren Blick auf die Interdependenzen zwischen Europa und der Welt zu schärfen. Das Meer diente dabei seit den ersten europäischen Entdeckungsfahrten nach Übersee als Brücke zwischen der Alten und den Neuen Welten in Übersee, es war sogar die Voraussetzung dafür. In ihnen spiegeln sich die folgenden Prämissen, die während der Diskussionen über das Narrativ der gleichnamigen Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin von den hier versammelten Autorinnen und Autoren entwickelt wurden: 11 1. Die Geschichte der europäischen Nationalstaaten kann nur vor dem Hintergrund ihrer internationalen Verflechtungen angemessen und verständlich dargestellt werden. Jede Form nationaler Geschichtsschreibung sollte somit immer auch ein Stück weit europäische bzw. Globalgeschichte sein. 2. In der Moderne, in etwa seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert, wurden die Geschichten der europäischen Staaten wie die Geschichte des europäischen Kontinents insgesamt entscheidend durch ihre globalen Verflechtungen geprägt. 3. Die globale Dimension der modernen europäischen Geschichte ist zum einen die Geschichte des europäischen Kolonialismus und Imperialismus. Sie muss zum anderen genauso jene Rückwirkungen erfassen, die von den Begegnungen zwischen Europäern mit jeweils „Anderen“ ausgingen. 4. Die ersten Begegnungen mit „Anderen“ waren anfangs mangels besseren Wissens zwangsläufig seitens der Europäer von Unverständnis geprägt. Die ersten Urteile über „Andere“ wurden daher üblicherweise auf der Grundlage des jeweils in Europa verfügbaren Wissens gefällt und gingen zumeist mit einer Abwertung des „Anderen“ einher. Diese buchstäblichen Vor-Urteile sind jedoch eher als Gradmesser europäischer Wissensdefizite zu verstehen denn als sachgerechte Urteile über Angehörige anderer Zivilisationen. Das gilt gleichermaßen auch für die „Anderen“. So erschienen den Chinesen jahrhundertelang alle Zivilisationen jenseits des eigenen Herrschaftsbereichs als „barbarisch“. 5. Diese Defizite im Urteilen wurden schon von Zeitgenossen erkannt, die ihrerseits Methoden entwickelten, um das bzw. die „Andere/n“ besser verstehen zu können. Die Entwicklung der europäischen Wissenschaftslandschaft und damit letztlich auch der europäischen Zivilisation der Moderne insgesamt ist somit von 11

Nach: Jürgen Elvert, Europa, das Meer und die Welt. Eine maritime Geschichte der Neuzeit, München 2018.

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der Notwendigkeit stark beeinflusst, wenn nicht geprägt worden, die zahlreichen neuen, infolge der Begegnungen mit dem nicht-europäischen „Anderen“ nach Europa gelangten Informationen zu verstehen. Dies betrifft die Ausdifferenzierungen der Wissenschaften in Europa, ebenso die Aufnahme bestimmter nicht-europäischer Stilelemente in die neuzeitliche europäische Malerei oder Architektur. 6. Diese Begegnungen wurden ermöglicht und konnten nur gepflegt werden, weil es in Europa genügend Expertise im Hinblick auf Seefahrt und Schiffbau gab. Dieses maritime Know-How ist wiederum das Ergebnis eines weit in die europäische Antike zurückreichenden Entwicklungsprozesses. In dessen Verlauf entdeckten und vermaßen Seefahrer und Kaufleute die meisten europäischen Küstenlinien und -regionen. Sie lernten, durch gezielte Beobachtung natürlicher Verhältnisse oder durch Nutzung von eigens zu diesem Zweck entwickelten Instrumenten, sich in unbekannten Gewässern zurechtzufinden und zu bewegen. Überdies entwickelten sie neue Techniken zum Bau von Schiffen, die groß und stabil genug waren, um den Herausforderungen von langen Überseereisen standhalten zu können. 7. Im 15. Jahrhundert waren das notwendige geografische und navigatorische Wissen ebenso wie die technischen Voraussetzungen gegeben, um mit den überseeischen Entdeckungsfahrten beginnen zu können. Diese unterschieden sich von den vorangegangenen, eher zufälligen Kontakten einzelner Europäer mit nicht-europäischen Zivilisationen in aller Regel dadurch, dass ihnen ein – wenngleich vergleichsweise wenig ausgefeilter – Plan zugrunde lag, welcher die Erlangung ökonomischer Vorteile, die Erweiterung jeweils eigener politischer Einflußsphären und schließlich auch die Fortsetzung des Kampfes gegen den Islam vorsah. 8. Infolgedessen überzogen die Europäer die Welt mit einem dichten Netzwerk aus maritimen Handels- und Verkehrswegen zum Zwecke des Transports von Menschen, Gütern und Informationen. Über dieses Netz wurden europäische rechtliche Normen und moralische Werte in alle Teile der Welt transferiert, welche die weitere Entwicklung der davon betroffenen Regionen nachhaltig und bis in die Gegenwart beeinflussten. So wurden Eroberungen in Übersee üblicherweise nach europäischem Vorbild gestaltet. Das betraf nicht nur die räumliche Ordnung der unterworfenen oder neugegründeten Siedlungen und Städte, sondern bezog sich auch auf das geltende Recht und die christlich geprägten moralischen Maßstäbe, im Guten wie im Bösen. 9. Umgekehrt wurden, ebenfalls über das Meer, Informationen, Güter und Menschen aus Übersee nach Europa oder in andere Teile der Welt verbracht. So sorgte der Import von Nutzpflanzen in Europa nicht nur für eine Veränderung der Ernährungs- und Konsumgewohnheiten, sondern auch für eine nachhaltig veränderte europäische Kulturlandschaft insgesamt. Man denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an die verschiedenen Formen des Orientalismus als Modeerscheinung, an die Entwicklung der europäischen Tee- oder Kaffeehauskultur oder an die mit dem Tabakkonsum verbundenen kulturgeschichtlichen Folgen, von der Einführung entsprechender Salons über die Erfindung der „Zigarettenlänge“ als neuer Zeiteinheit bis hin zur Verbannung aus dem öffentlichen Raum.

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10. In diesem globalen Netzwerk bildeten und bilden Hafenstädte die zentralen Knotenpunkte. Hafenstädte waren und sind nicht nur Umschlagplätze von Menschen und Gütern, sondern auch Zentren maritimen Wissens, bezogen auf Schiffbau und Seefahrt und die damit verbundenen Voraussetzungen und Folgen. Hafenstädte sind die Orte, in denen Informationen aus dem Hinterland gesammelt wurden, wo man sie diskutierte, und gegebenenfalls auch modifizierte oder sogar transformierte, bevor diese dann in alle Teile der Welt weiterverbreitet wurden. Umgekehrt trafen Informationen aus Übersee zunächst in den europäischen Hafenstädten ein, wo sie ausgewertet werden konnten, bevor sie ins Hinterland weitergeleitet wurden. Sie konnten daher insbesondere in Hafenstädten ihre erste Wirkung entfalten. Und auch wenn deren Bedeutung als Schnittpunkte globaler Kommunikationslinien durch die Einführung moderner Kommunikationstechniken wie Telefon, Fax und Internet zurückgegangen ist, treffen Import- und Exportgüter weiterhin in Hafenstädten direkt aufeinander. Die typisch hafenstädtische Infra- und Sozialstruktur, die sich im Zuge der Entwicklung der europäischen Moderne herausgebildet hatte, bietet nach wie vor den am besten geeigneten Rahmen für den Umschlag dieser Güter und profitiert so weiterhin erheblich von dieser Rolle. Schon von ihrer Funktion her müssen Hafenstädte weltoffen angelegt sein. Diese Weltoffenheit spiegelt sich auch im Verhalten der hafenstädtischer Bevölkerung. Deren Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen und dieses in vorhandene Strukturen, Denk- und Verhaltensmuster zu integrieren, in der Regel ausgeprägter ist als im Hinterland. Nicht von ungefähr haben sich zuvorderst Hafenstädte in der Geschichte immer wieder als Keimzellen intellektueller und kultureller Avantgarden erwiesen. 11. Soweit möglich, muss dem Handeln von Akteuren besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Waren es doch die Akteure, die mit den intendierten und nicht-intendierten Folgen ihres Handelns den Verlauf der europäischen und globalen Geschichte bestimmt hatten. Sicher handelten diese in ihrem jeweiligen zeitlichen und sozialen Kontext und standen somit unter dem Einfluss eines bestimmten und anerkannten Normen- und Wertekanons. Doch war dieser wiederum das Ergebnis vorangegangener, von Menschen geführter Diskurse, genauso wie deren Denken und Handeln spätere Wert- und Normensysteme prägen sollte. Die Fokussierung auf menschliches Handeln ist zudem dazu geeignet, den Verlauf der europäischen und Weltgeschichte der Moderne nicht als vorgezeichneten oder gar pfadabhängigen Prozess anzusehen, sondern als von Zufälligkeiten geprägt. Akteure können Individuen sein, ebenso aber auch Gruppen von Individuen, die sich zur Verfolgung gemeinschaftlicher Interessen zusammengeschlossen oder einen institutionellen Rahmen gegeben haben. 12. Die Menschen und ihr Handeln formten die europäische Zivilisation, wie wir sie heute kennen. Ebenso nachhaltig beeinflussten sie den Verlauf der Weltgeschichte, jedoch nicht im Sinne einer „Europäisierung“ der Welt, sondern als Akteure in einem jahrhundertelangen und zumeist über das Meer geführten Austauschprozess. Dieser erscheint als eine Art Dialog zwischen Europa und der Welt, welcher die Gestalt der Welt dabei ebenso formte und prägte wie die Europas, und dergestalt Europa und die Welt in ein neues Verhältnis zueinander stellte, einander näher brachte. Das Meer diente dabei als das verbindende Element, welches die

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ehemals räumlich weitgehend voneinander getrennten Erdteile vernetzte und das Schicksal der auf ihnen lebenden Menschen miteinander verknüpfte. Dieser Globalisierungsprozess lässt nicht nur die europäische Zivilisation, sondern alle daran beteiligten Zivilisationen auf der Erde als maritime Zivilisationen erscheinen. Freilich scheint diese Erkenntnis anderswo auf der Welt heute deutlicher präsent zu sein als in Europa selbst.

ANTIKE GESELLSCHAFTEN UND DAS MEER Vom Mythos über den Logos zur Seeherrschaft Ulrich Fellmeth Vom 2. bis Anfang des 1. Jahrtausends dominierten die Minoer, Karer, Phönizier und Ägypter die Schifffahrt im Mittelmeer. Aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. sind auf Kreta sogar künstlich angelegte Hafenanlagen bekannt: etwa Amnissos, der Hafen von Knossos. In Ermangelung reflektierender schriftlicher Quellen ist die wirtschaftliche, politische und kulturelle Bedeutung dieser frühen antiken Begegnungen mit dem Meer allerdings nicht genauer einzuschätzen. Sicher ist, dass um 1.000 v.Chr die Phönizier und bald darauf auch die Griechen seegängige Segel- und Ruderschiffe entwickelten, die mit bis zu 40 Metern Länge ganz beträchtliche Ausmaße hatten. Doch auch von den Phöniziern haben wir leider fast überhaupt keine schriftlichen Quellen und die griechische Schriftlichkeit setzt erst um 800 ein. Mit den Epen von Homer haben wir somit das erste umfangreichere und reflektierende Schriftzeugnis im Zusammenhang mit dem Meer und der Schifffahrt. Der Autor datiert die Ilias an das Ende des 8., die Odyssee an den Anfang des 7. Jahrhunderts v. Chr. Beginnen wir also mit Homer. Aus der Ilias ergibt sich folgendes Bild: Der Schiffskatalog im 2. Buch, der die Schiffskontingente der griechischen Stämme und Königreiche im Troianischen Krieg aufzählt, spiegelt weitgehend die mykenischen Verhältnisse Ende des 2. Jahrtausends wider. Freilich scheint die Zahl von den dort genannten 1.186 Schiffen vor Troia – das entspräche etwa knapp 10.000 Kriegern – doch deutlich übertrieben zu sein. Außerdem dürften die Hinweise auf 120 Mann Besatzung für die großen Schiffe und 50 für die kleineren eher in die Zeit des Homer gehören. Diese Langschiffe der Griechen fuhren in homerischer Zeit vorwiegend im küstennahen Bereich und wurden einfach an windgeschützten Sandstränden aufgeschleppt. 1 Dennoch war den Griechen des 8. und 7. Jahrhunderts das Meer fremd und unheimlich. So gibt es etwa in fast allen indoeuropäischen Sprachen ein Wort für Meer, der Wortstamm ist mari, im Griechischen fehlt dieses Wort aber. Das spätere griechische Wort für Meer „thalassa“ heißt ursprünglich lediglich „salziges Was-

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Homer Odyssee 2,389; 6,263ff.; Hesiod erg. 623, 670.

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ser“. Die Ende des 2. Jahrtausends aus einer meerfernen Gegend im Norden zugewanderten Griechen hatten ursprünglich offenbar keine Notwendigkeit verspürt, ein Wort für das Meer in ihrem Sprachschatz zu erhalten. 2 Ein zweites Beispiel: Die Helden bei Homer essen gebratenes Fleisch, Fisch steht nicht auf ihrer Speisekarte, es sei denn bitterer Hunger treibt sie dazu, mit der ungeliebten Speise vorlieb zu nehmen. 3 Dies ist insofern verwunderlich, als Homer selbst in seinen Vergleichen deutlich zeigt, 4 dass Angeln und Netzfischen zu seiner Zeit durchaus üblich war. Es scheint also nicht der altgriechischen Tradition entsprochen zu haben, dass Helden Meeresfrüchte verspeisen.

Sirenen-Abenteuer des Odysseus. Attisch-rotfiguriger Stamnos, ca. 480–470 v. Chr.

Und die Odyssee, wie auch die anderen Mythen (etwa Aeneas, Argonauten, Europa 5) stellen das Meer als einen gefährlichen Herrschaftsbereich von Göttern (Po-

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Vgl. Lesky 1947, 7ff. Vgl. etwa Homer Odyssee 4,368. Etwa Homer Ilias 16, 406; 24, 80; Homer Odyssee 10,124, 22, 384; 19, 109. Zum Europa-Mythos. Der Begriff Europa hat ja zwei Bedeutungsvarianten: 1. Der geographische Begriff von Europa. Hier gilt, dass Europa zwar im Westen, Süden und Norden von Meeren begrenzt ist, im Osten aber klare Landmarken fehlen, die eine Grenze markieren können. Somit wird der geographische Begriff von Europa zu einer eher abstrakten willkürlichen Setzung. Dies hat man in der Antike schon so gesehen. Herodot (5. Jahrhundert

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seidon, Ilias 15,184ff.), Kyklopen, Dämonen und Zauberinnen dar, den zu durchqueren sich nur wahrhafte Helden zutrauen dürfen. Sogar noch im 4. Jahrhundert – als der athenische Seehandel schon voll entwickelt war – konnte die attische Komödie noch die Vorbehalte gegen das Seefahrertum pflegen: „Wer das Meer befährt, muß melancholisch sein, oder ein Bettler oder lebensmüd …“. 6

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v. Chr.) etwa: „Ich wundere mich, was für Vorstellungen man sich von der Größe und dem Zuschnitt der drei Erdteile macht. (4,42, Übers. Th. Braun, H. Barth 1985) […] Ob Europa im Osten von der See umflossen wird, weiß man nicht; so viel aber weiß man, dass es sich der Länge nach vor den beiden Erdteilen hinzieht. Ich kann auch nicht dahinterkommen, weshalb die drei Erdteile [Europa, Asien und Libyen], die doch ein Land sind, drei verschiedene Namen haben und nach Weibern genannt sind und weshalb in Ägypten der Nil und in Kolchis der Phasis [der heutige Rioni in Georgien] – nach anderen der in den Maiotissee [Asowsches Meer] fließende Tanais [Don] und die kimmerische Furt – die Grenze zwischen ihnen bilden soll. Ebenso wenig habe ich ermitteln können, wer diese Abgrenzungen vorgenommen hat und weshalb man die Erdteile so genannt hat.“ (4,45, Übers. Th. Braun, H. Barth 1985). Und der Europa-Mythos war schon im 5. Jahrhundert v. Chr. als ungeeignet angesehen worden, einen geographischen Begriff von Europa zu stützen. Herodot: „Von Europa aber weiß kein Mensch, ob es von der See umflossen wird, noch woher und von wem es seinen Namen hat, wenn man nicht annehmen will, dass es ihn von der tyrischen Europa hat. Früher hatte es überhaupt keinen besonderen Namen, sowenig wie die anderen. Offenbar war diese Europa ja aus Asien, und sie ist gar nicht in das Land gekommen, das von den Griechen jetzt Europa genannt wird, sondern nur von Phoinike nach Kreta und von dort nach Lykien.“ (4,45, Übers. Th. Braun, H. Barth 1985). Also: Der Europa-Mythos taugte schon im 5. Jahrhundert v. Chr. nicht dazu, den geographischen Begriff von Europa zu stützen. 2. Der identitätsstiftende Begriff von Europa, die ‚Idee von Europa‘ (Bernard-Henri Lévy). Nun, einen solchen ideellen Begriff von Europa gab es in der Antike nicht. Antike Menschen dachten politisch, kulturell und kultisch in Kategorien wie ‚Staat der Athener, Spartaner, Korinther … und ihr Herrschaftsgebiet‘ oder ‚Staat der Römer und ihr Reich‘ (das übrigens weit über das geographische Europa hinausging). Bestenfalls gab es im kulturellen und kultischen Bereich polis-übergreifende Ideen wie ‚die Griechen‘ in Abgrenzung von ‚den Barbaren‘ (panhellenische Spiele). Eine ‚Idee von Europa‘ kann man frühestens im frühen Mittelalter fassen – etwa: Karl der Große als ‚pater europae‘. Ihre identitätsstiftende Wirkkraft hat die ‚Idee von Europa‘ aber wohl erst ab der Renaissance entfalten können. Deshalb ist auch der Europa-Mythos im gedanklichen Zusammenhang mit der ‚Idee von Europa‘ für die Antike fehl am Platze. Die unbestrittene Beliebtheit des Europa-Mythos in der Antike (Literatur, bildliche Darstellungen) muss also anderen Motiven gefolgt sein, als dem Bedürfnis nach einer gemeineuropäischen Identität. Alexis fragm. 211, Übers. nach Lesky 1947, 31. Vgl. auch Archippos 43, Übers. nach Lesky 1947, 28: „Wie fein ist’s doch, das Meer vom Lande aus zu schaun, O Mutter, ohne daß zu Schiff man fahren muß“.

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Und tatsächlich ist die Schifffahrt, oder besser gesagt die Piraterie 7, bei Homer eine Mutprobe junger Aristokraten 8, der letzte Ausweg von verzweifelten und verarmten Menschen 9 oder die Domäne der verachteten, weil mit Gewinnabsicht Handel treibenden Phönizier. 10 Und auch bei den einfachen Leuten – das zeigen die „Werke und Tage“ Hesiods – war die Schifffahrt eigentlich nur die letzte Alternative von Verzweifelten. 11 Diese angstbesetzte Distanz zum Meer als unheimlichem und anarchischem Raum wurde in der Folgezeit partiell überwunden, blieb aber als eine Grundhaltung der Menschen lange Zeit bestehen. 12 Wie auch immer – nach einer langen Zeit seit dem Ende der mykenischen Kultur, einer Zeit ohne umfangreicheren Schiffsverkehr und vor allem ohne Häfen scheint die Seefahrt ab dem Ende des 8. Jahrhunderts wieder Schwung aufzunehmen. Die zentrale Stelle in der Odyssee ist Nausikaas Beschreibung der Phäakenstadt. Nausikaa klärt nämlich den bei den Phäaken gestrandeten Odysseus auf, was ihn erwartet, wenn er ihr in die Stadt folgt: Aber sobald wir die Stadt betreten, um die eine hohe Mauer getürmt – auf jeder Seite ein trefflicher Hafen, Schmaler Zugang; den Weg entlang sind die doppeltgeschweiften

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Zur antiken Piraterie vgl. neuerdings in Grieb / Todt 2012: Burkhard Meissner, Kidnapping und Plündern, Piraterie und failing states im antiken Griechenland, 21–45; Philip de Souza, Pirates and Politics in the Roman World, 47–73; Volker Grieb, Vom mare nostrum zum mare barbaricum. Piraterie und Herrschaftsetablierung in der mediterranen Welt zwischen Antike und Mittelalter; sowie: Derks 2012. 8 Odysseus, Homer Odyssee 9, 38ff.; 14, 85–88; 14, 230–233; 24, 109–113; Menelaos, Homer Odyssee 4, 79ff.; Achilleus, Homer Ilias 9, 328–331; vgl. auch Platon leges 823; Thukydides 1,5 bringt dieses Phänomen auf den Punkt: „Denn die Hellenen der Frühzeit und von den Barbaren, diejenigen, die auf dem Festland nahe dem Meer lebten, und die Inselbewohner verlegten sich, gleich nachdem sie begonnen hatten, häufiger mit Schiffen zueinander überzufahren, auf die Seeräuberei; dabei führten gerade die mächtigsten Männer, um eigenen Gewinnes willen und um Nahrung für die Schwachen. Sie überfielen die unbefestigten und dorfartig angelegten Städte, plünderten sie und bestritten daraus den größten Teil ihres Lebensunterhaltes – ohne daß diese Tätigkeit irgendwie Schande brachte, sondern das Gegenteil, sie trug sogar Ruhm ein.“ (Übers. H. Vretska). 9 Vgl. etwa die Lebensgeschichte des Achilochos (7. Jahrhundert) vgl. Schulz 2005, 53f. 10 Vgl. etwa in der Odyssee die Geschichte des Königssohns Eumaios, der von phönizischen Händlern geraubt und als Sklave an Laertes, den Vater des Odysseus, verkauft wurde. Homer Odyssee 15, 418–475. 11 Hesiod erga 629ff.; 640ff. 12 In seinem Landwirtschaftswerk äußert Columella (1. Jahrhundert n. Chr.) seine Vorbehalte gegenüber dem Meer sehr eindrücklich. Bei einem Vergleich der Landwirtschaft mit anderen Erwerbsarten fallen etwa folgende Worte: „Oder könnte es […] wünschenswerter scheinen, sich dem Glücksspiel der Seefahrt und des Handels auszusetzen, bei dem das landgeborene Wesen Mensch entgegen allen natürlichen Bedingungen der Wut von Wind und Wasser preisgegeben, den Wellen ausgeliefert, wie die Vögel fremd an fernen Gestaden eine unbekannte Welt durchirrt?“ Columella 1 (praef.), 7 (Übers. W. Richter).

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Schiffe aufs Land gezogen, ein jedes auf eigenem Standplatz. Dort ist ihnen der Markt um den schönen Bezirk des Poseidon Mit tief eingelassenen Findlingsblöcken gepflastert. Dort besorgen sie auch die Geräte der Schiffe, der schwarzen, Taue und Segelwerk, und schaben und glätten die Ruder. Denn die Phäaken legen nicht Wert auf Köcher und Bogen, Sondern auf Masten und Ruder und ebenmäßige Schiffe, Und sind stolz, mit ihnen das graue Meer zu durchqueren. 13

Nun – das musste schon etwas unerhört Neues für den basileus Odysseus oder vielmehr für das Publikum Homers gewesen sein. Weshalb sonst musste Nausikaa so ausführlich beschreiben, wie ihre Heimatstadt aussah.

Rekonstruktion der Stadt Smyrna, ca. 8. Jahrhundert v. Chr. (nach W. G . Forrest 1966)

13 Homer Odyssee 6, 262–272 (Übers. R. Hampe 2010).

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Die Kernpunkte sind: Siedlung direkt am Meer, natürlicher Hafen mit schmalem Eingang direkt bei der Siedlung, die Schiffe sind immer noch am Strand an Land gezogen, unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Stadt und der Seefahrt, die Siedlung ist ummauert, in der Siedlung befindet sich das merkantile Zentrum, der Markt. Der Erzähler, den wir als Homer fassen, stammte mit Sicherheit aus Ionien, also aus Westkleinasien, und das alte Smyrna, das der Beschreibung durch Nausikaa doch sehr ähnelt, war ihm gewiss bekannt. 14 Und diese spezielle neue Siedlungsform, die sich zu Lebzeiten Homers im 8. Jahrhundert v. Chr. entwickelte, nennt Homer ausdrücklich polis. Wie war es zu dieser Siedlungsform gekommen? Seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. scheint es im griechischen Bereich zu einem rapiden Anwachsen der Bevölkerung gekommen zu sein. Die kargen Felder in den kleinen kultivierbaren Parzellen im Berggebiet Griechenlands und Westkleinasiens konnten die wachsende Bevölkerung bald nicht mehr ernähren. Viele verließen deshalb die Höhensiedlungen und ließen sich in den fruchtbaren Schwemmlandgebieten an der Küste, möglichst an der Mündung eines Flusses, nieder. Dort bot auch der Fischfang eine weitere Nahrungsquelle. Auch in der Wirtschaftsweise ergaben sich Veränderungen. Während noch die homerischen Helden ihren Wohlstand vorwiegend in Viehherden maßen, ging man in den küstennahen Schwemmlandgebieten schnell zum Getreideanbau über, der es ermöglichte, pro Flächeneinheit wesentlich mehr Nahrungsmittel produzieren, und somit mehr Menschen ernähren zu können. Es entwickelten sich dörfliche Siedlungen, von denen eine als Zentralort der entstehenden polis fungierte. Die neue Siedlungsform erforderte jedoch auch neue Formen der Selbstorganisation. Die küstennahe Siedlung war – insbesondere vom Meer aus – wesentlich angreifbarer, als die Höhensiedlungen der basileis und mussten besonders geschützt werden. 15 Die wachsende Bevölkerung verursachte auch schnell Auseinandersetzungen um das begrenzte Ackerland. Und je mehr die zentrale Siedlung wuchs, umso mehr waren infrastrukturelle Aufgaben zu lösen: Schutzmauer und Organisation der Verteidigung, Straßen, Plätze, Wasserversorgung, Grenzmarkierungen und Kataster, Rechtsprechung usw. Der Adelsrat musste nun regelmäßig tagen und erhielt eine Geschäftsordnung. Aber damit nicht genug: Die Aufgabenfülle war so groß, dass bald unbezahlte Jahresämter für die Kriegsführung, die Religionsausübung und die Rechtsprechung geschaffen wurden. Und die nichtaristokratische wehrfähige Bevölkerung, auf der seit dem Aufkommen der Hoplitenkampftaktik im 7. Jahrhundert die Hauptlast der Kriegsführung lastete,

14 Diese Argumentation setzt voraus, dass die oben abgebildete Rekonstruktion der Stadt Smyrna im 8. Jahrhundert (ohne jeden weiteren Kommentar abgebildet in W.G. Forrest, Wege zur hellenischen Demokratie, München 1966, S. 76, aber mit der Bildquellenangabe „British School of Archeology Athens, Zeichnung von R.V. Nicholls“) auf archäologischen Funden gründet und nicht auf der Beschreibung der Phäakenstadt in der Odyssee. Im letzteren Fall läge dann nämlich ein Zirkelschluss vor. 15 Vgl. etwa Thukydides 1,5, Zitat siehe Anm. 9.

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wurde immer stärker zur wichtigsten Instanz bei der Bewältigung der Gemeinschaftsaufgaben. Diese hier nur sehr grob skizzierte innere Entwicklung in den neuen, polis genannten Siedlungen verlief selbstverständlich in den einzelnen Landschaften sehr unterschiedlich und auch unterschiedlich schnell. Eines scheint aber doch erkennbar zu sein: Dieser Wandel fand dort am rapidesten statt, wo die polis in sehr engem Kontakt zum Meer und zum Seehandel stand. Und in diesen poleis erhielt die agora, der Ort an dem dieser Wandel greifbar wurde, zunehmend eine merkantile Bedeutung. Herodot lässt etwa den Perserkönig Kyros abfällig über die Griechen sagen: „Ich fürchte mich nicht vor Leuten, die mitten in ihrer Stadt einen Platz haben, wo sie zusammenkommen, um einander zu belügen und falsche Eide zu schwören.“ Denn so fügt Herodot sogleich erklärend hinzu: „Mit diesen Worten wollte er die Griechen überhaupt verhöhnen, bei denen man auf dem Markte kauft und verkauft; denn bei den Persern gibt es keinen Handelsverkehr und überhaupt keinen Marktplatz.“ 16 Diese merkantile Funktion der Agora unterschied also nach griechischem Selbstverständnis eine polis geradezu von den Stadtkulturen des Vorderen Orients. Doch die Entwicklung der polis war damit noch nicht abgeschlossen: Das Grundproblem der ständig wachsenden Bevölkerung verursachte in vielen poleis weiterhin Lebensmittelverknappungen und soziale Unruhen. Das begrenzte landwirtschaftlich nutzbare Umland setzte hier das Limit. Entweder war man gezwungen, die benötigten Lebensmittel aus entfernteren Regionen über See in die Städte zu transportieren, oder man musste die Bevölkerung reduzieren. Die geläufigste Methode, die Zahl der Bürger zu reduzieren war, ein Bürgerkontingent mit Schiffen und Startkapital auszustatten und über das Meer zu senden, um anderswo eine neue polis zu begründen. Und tatsächlich: Seit Mitte des 8. Jahrhunderts v. Chr. wurde in mehreren Wellen im gesamten Mittelmeerraum und im Schwarzmeergebiet eine große Zahl von Kolonien gegründet. Zunächst und hauptsächlich vom griechischen Festland aus im Westen, dann ab dem 7. Jahrhundert v. Chr. stärker und nun auch von der kleinasiatischen Küste aus in Thrakien, im Marmara- und Schwarzmeergebiet. Diese Koloniegründungen wurden alle auf Schiffen übers Meer durchgeführt. Und es ist gewiss kein Zufall, dass Homer, der ja am Beginn dieser Kolonisationsbewegung lebte, mit seinen Seefahrts-Abenteuern das Interesse seines Publikums erregte. Im Laufe der Kolonisation entstanden im nördlichen Mittelmeer, in der Ägäis, im Marmara- und Schwarzen Meer griechische Stützpunkte, und zwar in Gestalt von poleis. Und dieses Netz von poleis bot die Möglichkeit und erzeugte die Notwendigkeit, einen regen Handels- und Informationsaustausch wiederum über das Meer zu pflegen: Um 500 waren das nördliche und östliche Mittelmeer und das Schwarze Meer jedenfalls mit einem Netz an griechischen Städten gesäumt, sodass,

16 Herodot 1, 153 (Übers. Th. Braun, H. Barth 1985).

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wie Cicero dies lyrisch ausgedrückt hat, man „den Fluren der Barbaren einen Saum Griechenland vorgewebt“ sehe. 17

Weltbild des Herodot (5. Jahrhundert v. Chr.)

Weltbild des Klaudios Ptolemaios (2. Jahrhundert n. Chr.)

17 Cicero de re publica 2,4,9 (Übers. K. Büchner 1979).

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Die beiden Abbildungen zeigen, obwohl es sich nur um schematische Rekonstruktionen handelt, wie elementar sich die geographischen Kenntnisse entwickelt haben. 18 Dabei kam es auch zu einer enormen Wissensvermehrung. Die geographischen und nautischen Kenntnisse vervielfachten sich, 19 die Kontakte auch der entferntesten Kolonien mit den dortigen Barbaren wurden rund ums Mittelmeer bekannt und die Seefahrt wurde vom aristokratischen Abenteuer zur alltäglichen Erscheinung, zu einer Frage des rationalen Kalküls. Eine Entmythologisierung des Meeres ging also einher mit einer enormen Wissensvermehrung, mit transmaritimen kulturellen Migrationsbewegungen und einem immer intensiver werdenden Seehandel. Das Meer wurde zum Raum, durch den Kommunikation, Warenaustausch, aber auch kriegerische Auseinandersetzungen immer stärker möglich waren und auch immer gebräuchlicher wurden. Manche poleis beschritten jedoch auch den anderen Weg, sie besorgten sich die benötigten Nahrungsmittel und andere Rohstoffe übers Meer aus entfernteren Regionen. Nehmen wir als Beispiel Athen. Das zusätzlich benötigte Getreide für die Stadt wurde hauptsächlich aus dem Schwarzmeergebiet erhandelt, die Rohstoffe aus Thrakien und Makedonien. Freilich – eine große Gefahr für die von weither beschafften Güter war die Seeräuberei. 20 Der Tyrann Peisistratos in Athen (600 – 528 v. Chr.), begann in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts – wie übrigens alle anderen Tyrannen seiner Zeit auch – entlang der großen Handelsrouten Kolonien zu Sicherung zu gründen und ganz offenbar eine Flotte von Schiffen aufzubauen, die unter anderem dem Schutz dieser Handelsrouten dienten. 21 Auf diese Rüstungen baute schließlich Themistokles auf, als er ab 492 v. Chr. angesichts der persischen Bedrohung die athenische Flotte systematisch ausbaute. Und tatsächlich waren die Flottenbauprogramme Athens und anderer griechischer

18 Es handelt sich bei den hier abgebildeten Karten um Rekonstruktionen des Weltbildes der jeweiligen Autoren. Den meisten geographischen Werken der Antike waren keine Karten beigegeben, die geographischen Vorstellungen waren dort also nur schriftlich festgehalten. So hat etwa Herodot sehr wahrscheinlich keine Karte geliefert, Klaudios Ptolemaios dagegen könnte durchaus eine Weltkarte gezeichnet haben. Keine der möglicherweise vorhandenen Weltkarten der wissenschaftlichen Geographen der Antike ist uns jedoch überliefert. Die abgebildeten Karten stellen also lediglich eine unvollständige Übertragung der von den jeweiligen Autoren – schriftlich gegebenen – Fülle an geographischen Informationen in eine Graphik dar. Dennoch: Die Entwicklung der Geographie von Hekataios von Milet, ca. 560 bis 480 v. Chr.; über Herodot von Halikarnassos, 490/480 v. Chr. bis um 424 v. Chr.; Eratosthenes von Kyrene, 276/273 v. Chr. bis um 194 v. Chr., bis Klaudios Ptolemaios, um 100 n. Chr. bis nach 160 nach Chr., stellt in der Tat einen Quantensprung in der wissenschaftlichen Geographie dar. 19 Vgl. Platon Politeia 371 ab: „Und wenn der Handel zur See geführt wird, werden wir gar mancher anderer bedürfen, die dessen kundig sind, was zum Seewesen gehört.“ (Übers. Fr. Schleiermacher, D. Kurz 1990). 20 Vgl. in Grieb/Todt 2012: Burkhard Meissner, Kidnapping und Plündern, Piraterie und failing states im antiken Griechenland, 21–45; Derks 2012. 21 Vgl. Schulz 2005, 63f., 87f.

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Stadtstaaten die Basis für den Sieg der Griechen gegen die eingefallenen persischen Heere in der Seeschlacht bei Salamis um 480 v. Chr. 22 Die Angst der Stadtstaaten Westkleinasiens und der Ägäis vor der persischen Bedrohung blieb dennoch groß. Ausdruck dieser Sorgen war die Gründung eines Verteidigungsbündnisses, des attischen Seebundes um 478 v. Chr. Der Bund war zunächst ein Zusammenschluss von autonomen poleis, die gleichberechtigt über die Bundesangelegenheiten entschieden. Diese Herrschaftsform über das Meer war etwas ganz Neues. Die Menschen versuchten nun nicht nur kognitiv das Meer zu beherrschen, es zu einem rational kalkulierbaren Durchgangsraum zu machen, sondern das Meer auch administrativ zu durchdringen. Das Meer verlor also sowohl seine mythische Dimension, als auch seine normenfreie, anarchische. Zunächst verlief auch alles zur Zufriedenheit aller Beteiligten. Der physische und der Rechtsfrieden in der Ägäis führten zu einem enormen Aufschwung des Handels. Es war dennoch ein problematisches Konstrukt. Eine starke Flotte war für das Ziel, den Ägäisraum und die dort ansässigen Bündner und die Seehandelsrouten zu schützen, unumgänglich. Da nun aber Athen über die weitaus größte Flotte im Bund und zudem über die meiste Erfahrung im Seekrieg verfügte, schien es nur folgerichtig, dass regelmäßig Athener den Oberbefehl über diese Flotte erhielten. Auch die zivile Verwaltung des Bundes, ja sogar die Bundeskasse gerieten so allmählich in die Hände der Athener. Und so kam es dazu, dass aus der führenden polis im Bund eine hegemoniale polis wurde und schließlich der Bund in einem athenischen Seereich aufging, in dem die ehemaligen Bündner eher den Status von Untertanen hatten. Die Entwicklung ist hier nur skizziert dargestellt worden. Ein paar Dinge sind hoffentlich dennoch klar geworden. Das Vorhandensein von überseeischen Stützpunkten, mit denen intensiver Handel getrieben wird, macht die Sicherung der Seehandelsrouten notwendig. Und von einer militärischen Sicherung einzelner Routen ist es nur noch ein kleiner Schritt hin zur Seeherrschaft, zur militärischen und administrativen Durchdringung ganzer maritimer Regionen. Diese Seeherrschaften mögen zunächst föderativer Natur gewesen sein, hatten aber die Tendenz zu Herrschaften einzelner herausragender poleis zu mutieren. Die attischen Seebünde und natürlich das römische Reich sind die markantesten Beispiele hierfür. Aus dem bislang herrschaftsfreien Raum Meer war ein beherrschter Raum geworden, der zunehmend administrativ durchdrungen wurde. Nun schließt sich ein Gedanke aus der institutionengeschichtlichen Perspektive an: Auch die Seeherrschaften blieben polis-organisiert. Dies war ein politischer Webfehler, der Konsequenzen nach sich zog, denn die dominierenden poleis selbst blieben ebenfalls polis-organisiert. Deren Institutionen waren mit der Aufgabe, transmaritime Reiche zu verwalten, so überfordert, dass es zu verheerenden politischen und sozialen Erosionserscheinungen gekommen ist (attische Seebünde, Späte

22 Zum Seekrieg in der Antike vgl. den Beitrag von Raimund Schulz, Krieg und Seefahrt in der Antike, in diesem Band.

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Römische Republik). Dieser institutionelle Webfehler der Seeherrschaften wurde erst in der römischen Kaiserzeit überwunden. Nun noch ein Wort zu den Häfen. 23 Voraussetzung für die verschiedenen Formen von Seeherrschaften waren natürlich Kriegsflotten. Diese wiederum benötigten entsprechende militärische Häfen. Im griechischen und hellenistischen Raum waren die Kriegshäfen zwar gesonderte Bereiche aber doch in die zivilen Häfen integriert. Im Piräus etwa waren die zwei östlichen Buchten die Häfen für die Kriegsflotte, die westliche große Bucht war der Handelshafen. Erst in der römischen Kaiserzeit wurden speziell für militärische Zwecke gesonderte Häfen gebaut, etwa Antium oder Ravenna. Wie wir gesehen haben, waren die zivilen Häfen für die griechischen poleis die unverzichtbaren Schnittstellen zum mittelmeerweiten Handel und zum mittelmeerweiten Kulturaustausch. Die beiden Aspekte von Häfen in der antiken Welt will ich etwas näher ausführen. Während Platon seine Idealgemeinde aus Furcht vor negativen Einflüssen auf die Moral und Disziplin der Bürger von jeglichem Handel fernhalten wollte,24 macht Aristoteles einige interessante Konzessionen an die Realität. Zwar nimmt er die ablehnende Haltung von Platon zunächst auf: Von der Tatsache nämlich, daß gewisse Menschen, die unter anderen Gesetzen aufgewachsen seien, nun als Fremde ankommen, behauptet man, sie wäre mit Rücksicht auf die gute Gesetzesordnung nicht zuträglich, ebenso nicht der Menschenreichtum. Denn zufolge der Nutzung des Meeres komme es zwar dazu, daß man eine Menge Kaufleute ausschickt und aufnimmt, es stehe dies aber der rechten Staatslenkung entgegen. 25

Andererseits: Den Nutzen eines gut gehenden Handelsumschlagplatzes – außerhalb der Stadtmauern –, der der Stadt viel Wohlstand einbringt, sollte die Stadt dennoch genießen dürfen. Die vermeintlichen sittlichen und politischen Gefahren, die von solch einem Ort ausgehen, an dem sich fremdes und notorisch unzuverlässiges Volk versammelt, muss man dann aber durch strenge Gesetze von der polis selbst fernhalten. 26 Diese Ausflucht des Aristoteles war nötig, denn einen solchen geistigen Spagat zwischen dem reinen Dogma und der Erfahrung der alltäglichen Wirklichkeit im Piräus hätte wohl auch der wohlmeinendste Athener nicht aushalten können. Die Wirklichkeit sah nämlich eher so aus, wie sie Thukydides (um 455 – um 400 v. Chr.) den Perikles in seiner Rede über die Größe Athens darstellen lässt: „Dank der Größe unserer Stadt strömen aus aller Welt alle Güter bei uns ein – und so haben wir das Glück, ebenso bequem die Erzeugnisse des eigenen Landes zu genießen wie die fremder Völker.“ 27

23 24 25 26 27

Vgl. den Beitrag von Thomas Schmidts, Antike Häfen, in diesem Band. Platon leges 704d–705b; 847b–e. Aristoteles politica 1327a 15ff., 1327a 25ff. (Übers. F.F. Schwarz). Aristoteles politica 1327a 32ff. Thukydides 2,38,2 (Übers. H. Vretska).

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Freilich bedurften die Metropolen jeweils auch eines gut funktionierenden Hafens. So lässt etwa Cassius Dio den Kaiser Claudius anlässlich einer Hungersnot in Rom im Jahre 42 n.Chr. räsonieren: „Fast das ganze von den Römern benötigte Getreide mußte eingeführt werden. Dabei fehlten aber dem Gebiet an der Tibermündung sichere Landeplätze und geeignete Häfen, so daß ihnen die Seeherrschaft keinen Nutzen brachte. […] Angesichts dieser Schwierigkeiten entschloß sich nun der Kaiser zum Bau eines Hafens.“ 28 Mit dem Bau des Claudius- und später des Traianshafens in Portus verfügte Rom dann aber über Landeplätze ausreichender Dimension. Noch ein anderes Phänomen steckt in der schon angesprochenen Reserviertheit Platons und Aristoteles gegenüber Häfen und dem Seehandelsverkehr. Wenn jene behaupten, die fremden, barbarischen Sitten könnten die eigene Poliskultur stören, so ist da eine deutliche Angst vor dem Fremden zu spüren – heutzutage würden Politiker des rechten Spektrums von einer Gefahr der „Überfremdung“ sprechen. 29 Nun – das was da geschützt werden sollte, war in Wahrheit jedoch nicht etwas von vorn herein Vorhandenes, es war erst das Ergebnis eines mittelmeerweiten Kulturaustausches. Die für die griechischen poleis so typische Offenheit gegenüber neuen Ideen, die Veränderungsbereitschaft und das Interesse am Fremden, wären ohne die Vernetzung durch übers Meer fahrende Händler, aber auch Künstler, Architekten, Ärzte, Philosophen überhaupt nicht vorstellbar. Plutarch listete in seiner Solon-Biographie rückblickend den gesamten Ertrag des Kontaktes zum Meer für die seefahrenden poleis auf: „Der Handel hatte besonderes Ansehen, weil er die Erzeugnisse der Fremde ins Land brachte, Freundschaften mit Königen vermittelte und reiche Erfahrung einbrachte.“ 30 Es steht außer Frage, dass die Entwicklung der griechischen (und später auch der römischen) Kultur eng an die gegenseitige Beeinflussung der Kulturen rund ums Mittelmeer gebunden ist. Und obwohl aus diesem Grunde etwa die athenische Poliskultur keineswegs statisch war, sondern sich in einem ständigen Entwicklungsprozess befand, der sich aus der Konfrontation mit fremden Einflüssen ergeben hat, wurde der jeweilige Stand der eigenen Kultur paradoxerweise als etwas Überlegenes empfunden, das es vor barbarischen Einflüssen zu schützen galt. Ähnlich verhielt es sich im römischen Reich.

28 Cassius Dio 60,11 (Übers. O. Veh 1985). 29 Dies scheint eine althergebrachte Furcht gewesen zu sein, vgl. Homer Odyssee 17, 382ff.: Denn wer ginge wohl hin und lüde selber die Fremden / Herzukommen, wenn sie dem Volk nichts nützliches wirken. (Übers. R. Hampe 2010). 30 Plutarch Solon 2 (Übers. K. Ziegler 1979); vgl. auch die graduell veränderte Haltung Xenophons gegenüber den ständig in Athen lebenden (vermögenden) Fremden (Metöken) in seinen poroi: Um das Steueraufkommen durch die kopfsteuerpflichtigen Fremden in der Stadt zu erhöhen und um die Handelstätigkeit in der Stadt durch die Anwesenheit von vielen Fremden anzukurbeln, sollten jene alle möglichen Vergünstigungen, ja sogar das Recht, in der Stadt Immobilien zu erwerben, erhalten. Xenophon poroi 2,1ff.

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Solch eine ambivalente Haltung gegenüber dem Fremden, insbesondere dem Fremden in Übersee, ist jedoch typisch für die antiken Gesellschaften, sie blieb zugleich ein Bestandteil des europäischen Bewusstseins bis tief ins 20. Jahrhundert hinein. Erkennbar ist aus der Geschichte der Phönizier, Griechen und Römer eine Tendenz der Einzelpersonen und Kollektive, das Meer zunächst als Transitraum und sodann als Herrschaftsraum zu erschließen und schließlich das Meer als Durchgangsraum zur Errichtung und Ausbeutung transmaritimer Herrschaften zu nutzen. Ungeachtet dessen blieb das Meer im Denken und Empfinden antiker Menschen aber zugleich auch ein mythischer, angstbesetzter, anarchischer Raum – eine weitere Ambivalenz, die lange wirksam blieb. ABBILDUNGEN Abb. 1: Sirenen-Abenteuer des Odysseus. Attisch-rotfiguriger Stamnos, ca. 480–470 v. Chr. British Museum. Abb. 2: Rekonstruktion der Stadt Smyrna, ca. 8. Jahrhundert v. Chr. aus: W.G. Forrest, Wege zur hellenischen Demokratie, München 1966, 76, dort mit der Bildquellenangabe „British School of Archeology Athens, Zeichnung von R.V. Nicholls“. Abb. 3: Weltbild des Herodot (5. Jahrhundert v. Chr.) aus: Anne-Maria Wittke, Eckart Olshausen, Richard Szydlak, Historischer Atlas der antiken Welt (Der neue Pauly Supplemente Band 3), Stuttgart 2007, S. 5. Abb. 4: Weltbild des Klaudios Ptolemaios (2. Jahrhundert n. Chr.) aus: Anne-Maria Wittke, Eckart Olshausen, Richard Szydlak, Historischer Atlas der antiken Welt (Der neue Pauly Supplemente Band 3), Stuttgart 2007, S. 5.

KRIEG UND SEEFAHRT IN DER ANTIKE Raimund Schulz Der Mittelmeerraum ist ein ungewöhnliches Terrain der Weltgeschichte. Einer seiner hervorstechendsten Merkmale besteht in der Vielzahl militärischer Konflikte zur See: Die Kriegsschiffe der Griechen schlugen bei Salamis die persische Flotte zurück. Der Peloponnesische Krieg zwischen Athen und Sparta und ihren Verbündeten wurde durch große Seeschlachten entschieden, genauso wie der erste Krieg zwischen Rom und Karthago. Die Seeschlacht bei Actium 31 v.Chr. war die Geburtsstunde des römischen Kaiserreiches, und die Niederlage der letzten gesamtrömischen Schlachtflotte bei Karthago gegen die Vandalen besiegelte 500 Jahre später das Ende des westlichen Imperiums. Seeschlachten haben Herrschaftsbildungen begleitet oder beendet, innenpolitische Entwicklungen (wie die Athener Demokratie oder den Übergang von der römischen Republik zum Prinzipat) gefördert oder ermöglicht. Der Seekrieg war unverzichtbares Mittel von Herrschaft und Expansion, das Meer bildete ein Turnierfeld machtpolitischer Entscheidungen wie in keiner anderen Weltregion der Antike, weder im Indischen Ozean noch im chinesischen Meer. Was sind die Gründe hierfür und wie verlief die Entwicklung des Seekrieges, der die mediterrane Antike so tief geprägt hat? Bis in die Zeit der militärischen Luftfahrt bildete die Marine das teuerste und technisch anspruchsvollste Kriegsgerät der Geschichte. Um es zu unterhalten, bedurfte es mehrerer Voraussetzungen: Es müssen zuallererst gravierende außenbzw. machtpolitische Zwänge verbunden mit einer besonderen, Meer und Land verknüpfenden geopolitischen Konstellation gegeben sein, welche diese Zwänge forcierte: Das Mittelmeer ist ein vergleichsweise berechenbarer maritimer Großraum und zumal im Norden durch eine vielfach gegliederte Küste, zahllose Eilande sowie weit in das Meer hineinragende Halbinseln geprägt. Fast alle Metropolen lagen in Küstennähe und besaßen Zugänge zum Meer; sie konnten über See versorgt, aber auch angegriffen werden. Machtkämpfe konnten somit selten ohne Berücksichtigung der maritimen Verhältnisse ausgetragen werden, und es kommt nicht von ungefähr, dass alle Seeschlachten nahe der Küsten stattfanden. Diese waren zwar in der Regel aufgrund der Gefahren des Naturelements verlustreicher als Landkämpfe. Doch wurden die Opfer selten mit entsprechenden Ehren vergolten, weil sich die politischen Eliten meist mit der älteren Tradition des als heroischer empfundenen Kräftemessens zu Lande identifizierten. Um die Bevölkerung bei der Stange und auf den harten Bänken der Ruderschiffe zu halten, bedurfte es deshalb zweitens besonderer Anreize materieller oder politscher Art sowie einer über längere Zeit gewachsenen gesellschaftlichen Disposition, die sich mit der Ethik des Landkrieges kombinieren ließ. Drittens mussten die Akteure über erhebliche materielle Mittel,

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technisch-nautische Erfahrung und logistische Organisationskunst verfügen, und dies wiederum setzte viertens eine bestimmte innenpolitische Integrationsdichte und eine stabile Autorität voraus, die alles zum Aufbau einer Seemacht Notwendige bereitzustellen in der Lage war. Viele dieser Faktoren waren erstmals dort gegeben, wo so vieles seinen Anfang nahm: in Ägypten. Die Pharaonen mussten seit jeher nicht nur das Niltal über seine maritime Einfallspforte im Norden gegen Seeräuber und Invasoren verteidigen, sondern auch Ägypten mit Bauholz sowie Weihrauch und Spezereien versorgen. Zu diesem Zweck sandten sie Schiffe an die Levante und durch das Rote Meer in das legendäre Weihrauchland Punt. Gegen Ende des 13. Jh. v.Chr. konnte Pharao Ramses III. die aus der Ägäis kommenden „Seevölker“ zurückschlagen und Teile von ihnen in Syrien ansiedeln. Von deren nautischer Expertise profitierten die phönizischen Hafenstädte, die schon bald ihre Schiffe den stärkeren Landmächten zur Verfügung stellen mussten. 525 v.Chr. unterstützte eine große phönizische Flotte den Perserkönig Kambyses bei der Eroberung Ägyptens. Um dem Angriff zu begegnen, hatte Pharao Psammetichos seine Kriegsschiffe mit einer zusätzlichen dritten Ruderreihe und einem Rammsporn ausrüsten lassen. 1 Während bis dahin die meisten Seeschlachten in Enterkämpfe ausarteten, machte die erhöhte Ruderkraft den sog. Dreiruderer (griech.: Triere) selbst zur tödlichen Waffe. Um den Rammsporn in die Flanke des Gegners zu bohren oder deren Ruderreihen zu zerstören, benötigte man allerdings eine große Zahl eingeübter Ruderer; die komplizierte Bauweise war teurer und führte zu größerem Verschleiß. Deshalb konnten sich nur solche Mächte ganze Flotten des neuen Schiffstyps zulegen, die wie die Ägypter und die Perser über entsprechende finanzielle Mittel verfügten. In der Welt der griechischen Stadtstaaten war das zunächst nur dort gegeben, wo persische Hilfsgelder den Schiffbau ermöglichten oder Tyrannen wie Polykrates von Samos oder Gelon von Syrakus die Macht hatten, die Ressourcen ihrer Gemeinden über einen längeren Zeitraum in den Bau der Trieren zu lenken. Der Übergang zu staatlichen Flotten unter der Aufsicht der Bürgergemeinde erfolgte erst, als mehrere Städte der griechischen Halbinsel sich dem Angriff des Perserkönigs Xerxes entgegenstellten. In Athen setzte Themistokles den Bau von 200 Trieren durch, finanziert durch die Silberminen von Laureion und Spenden der reichen Bürger. Athen besaß damit neben Syrakus die stärkste Kriegsflotte der griechischen Welt. Sie bildete den Kern der Verbände, welche die durch Stürme und vorangegangene Gefechte geschwächte Flotte der Perser 480 v.Chr. in der Bucht von Salamis zurückschlug und ein Jahr später bei Mykale (Kleinasien) vernichtete. Kurz danach schlossen die Athener mit den Griechen der Ägäis unbefristete Verträge, welche die Bündnispartner dazu verpflichtete, Schiffe und Mannschaften zu stellen oder Geld zum Bau und Unterhalt der Flotte zu liefern. Athen hatte von Anfang an die Führung inne und konnte mit bis zu 300 Kriegsschiffen ihren Einfluss weit über die Ägäis ausdehnen. Nach der Vernichtung einer persischen Flotte an der kleinasiatischen Küste stieg die Stadt endgültig zur ersten Seemacht des ostmediterranen Raumes auf. Der Historiker Thukydides war hiervon so beeindruckt, 1

De Souza 1998, 276; Wallinga 1993.

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dass er die gesamte griechische Frühgeschichte nach den Kriterien von Seemacht und Flottenorganisation beschrieb. 2 Begleitet wurde die für griechische Verhältnisse einzigartige maritime Machtzusammenballung durch die besondere Entwicklung der innenpolitischen Verfassung. Es waren vornehmlich Bürger aus den ärmeren Schichten, welche die Ruderbänke der Athener Kriegsschiffe besetzten (300 Trieren erforderten rd. 60.000 Mann). Nach dem Sieg bei Salamis und den anhaltenden Erfolgen der Flotte räumte man ihnen größere politische Mitsprache ein. Gleichzeitig musste die Volksversammlung viel komplexere Agenden bezüglich der Flottenpolitik behandeln als andere Poleis. Umgekehrt ermöglichten die nach Athen fließenden Gewinne nicht nur den Ausbau der Seestreitkräfte, sondern auch die Finanzierung der kostspieligen demokratischen Institutionen (Gerichte, Rat, Volksversammlung). Flotte und demokratische Verfassung bedingten somit einander. Beides stärkte die innere Stabilität der Stadt und ihre wirtschaftliche Prosperität, die selbst schwere Niederlagen zu verkraften half. Die aggressive Seekriegspolitik der Athener Demokratie erregte freilich auch unter den Griechen Widerstand. Er mündete in den sog. Peloponnesischen Krieg zwischen Athen und seinen Bündnern auf der einen Seite und dem alten Gegner Sparta und dessen Verbündeten. Entschieden wurde er auf dem Meer. Mit Hilfe persischer Gelder waren die Spartaner imstande, selbst große Kriegsflotten zu bauen und schließlich den Gegner auf dessem ureigensten Element zu schlagen. Doch fehlten dem Sieger nicht nur eigene Ressourcen, sondern auch die gesellschaftliche Disposition sowie die Erfahrung, um das von Athen hinterlassene Machtvakuum auszufüllen. 394 v.Chr. vernichtete eine persische Armada die letzte spartanische Flotte; fortan beherrschten wieder die Perser das östliche Mittelmeer. Initiativen zur Neuausrichtung des Seekrieges entwickelten sich derweil im fernen Westen erneut unter dem Druck militärischer Zwänge. 406 v.Chr. ließ der Tyrann Dionysios I. von Syrakus im Kampf gegen Karthago gewaltige Schiffe mit ein bis drei weiteren Ruderreihe(n) (Polyremen) und einem breiteren Deck bauen. 3 Auf ihm fanden eine größere Zahl von Marinesoldaten sowie ebenfalls in Syrakus entwickelte Katapulte ihren Platz, mit denen man gegnerische Schiffe von oben bestreichen sowie zusammen mit den Landtruppen befestigte Hafenanlagen angreifen konnte. Dionysios läutete damit eine neue Form des Flotteneinsatzes ein, der sich aber im Osten erst durchsetzte, als Alexander das Perserreich erobert hatte und seine Nachfolger über dessen Ressourcen disponieren konnten. Angetrieben durch ein ehrgeiziges Kriegsethos, bauten die Ptolemäer in Ägypten und die Regenten von Makedonien immer größere Schlachtschiffe, um ihre territoriale Herrschaft von der Seeseite abzusichern und auszuweiten. Die Eroberung von Küstenstädten spielte dabei eine ebenso wichtige Rolle wie große Seeschlachten. Gleichzeitig unterstrichen die Mehrreiher die materielle Potenz und den Anspruch der Könige, nicht nur Herren über das Land, sondern auch über das Meer zu sein.

2 3

Thukydides 1,1–19. Vgl. Schulz 2012, 96–106. Murray 2012, 78–85.

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Im Westen folgten Karthago und die römische Republik dem Trend zu Großkampfschiffen, doch vermieden sie dabei den verschwenderischen Gigantismus der östlichen Monarchen. Karthago entwickelte eine modulare Bauweise mit vorgefertigten Teilen, mit der man kostensparend und schnell Kriegsschiffe gleicher Bauart auf Kiel legen konnte. Rom übernahm im Kampf um die Herrschaft über das getreidereiche Sizilien – der erste Seekrieg um eine mediterrane Insel – dieses Prinzip und konnte (264-241 v.Chr.) mit Hilfe der unteritalischen Griechen eine Schlachtflotte von Drei- und Fünfruderern in den Kampf schicken. Um fehlende Erfahrung im taktisch-nautischen Bereich auszugleichen, statteten syrakusanische Ingenieure die Schiffe mit katapultgeschleuderten Enterhaken aus; die spätere Tradition hat aus ihnen fälschlicherweise „Enterbrücken“ gemacht. Aufs Ganze gesehen entschieden jedoch nicht diese Maßnahmen den Krieg, sondern die materiellen Ressourcen Italiens, die es den Römern erlaubten, immer wieder neue Flotten auf Kiel zu legen. Nach dem Sieg begann Rom wie seinerzeit Athen im Osten seinen Einfluss im westlichen Mittelmeer auszubauen, indem es sich wichtige Küsten, Inseln und Bündnispartner sicherte. Im zweiten Krieg gegen Karthago (218-201 v.Chr.) konnte so der in Italien unbesiegten Hannibal zeitweilig von der Verbindung nach Nordafrika und Spanien abgeschnitten werden. Der Sieg bei Zama machte Rom endgültig zur Herrin des westlichen Mittelmeeres. In den folgenden Kriegen gegen die östlichen Monarchien konnte man es sich leisten, den Gegner zu Lande zurückzuzuschlagen und den Seekrieg den Bündnern Rhodos und Pergamon zu überlassen. Das sparte Kosten, und da nach dem Sieg über die alten Seemächte des Ostens erst recht die außenpolitischen Zwänge fehlten, war man auch weiterhin nicht gewillt, auf dem Meer aktiv zu werden. Es entstand ein Machtvakuum, das wie häufig in der Geschichte des Mittelmeerraums durch Piraten und ihre Helfer gefüllt wurde, diesmal jedoch in ganz neuen Dimensionen: Seeräuber errichteten an den mit Schiffsbauholz und Metallen gut versorgten Küsten Kilikiens Werften und Arsenale, ihre Flotten operierten von hier aus weit in den Mittelmeerraum hinein. Rom reagierte erst, als die Piraten zusammen mit den Seeräubern des Westens die Getreideversorgung Italiens soweit störten, dass in der Stadt am Tiber Hungersnöte ausbrachen. 67 v.Chr. erhielt Cn. Pompeius ein außerordentliches Kommando, das ihm die Befehlsgewalt über die gesamte Küste des Mittelmeeres in einer Tiefe von 75 km sowie gewaltige Geldmittel zum Bau von 500 Schiffen verschaffte. Binnen weniger Monate konnte er die Piraten zur Aufgabe zwingen. Pompeius hatte nicht nur erneut demonstriert, welch durchschlagende Erfolge zu erzielen waren, wenn man den Seekrieg konsequent mit der Eroberung von strategisch wichtigen Landbasen verband; er zeigte erstmals auch die Wege auf, die zur Beherrschung des gesamten Mittelmeers führten. Diese Lehre musste jeder beherzigen, der in den Bürgerkriegen der Folgezeit die Macht im Gesamtreich zu erringen suchte. Der Sieg zu Lande führte unweigerlich über die Beherrschung des Meeres. Nach dem Tode Caesars durchkreuzten bis zu 1000 Kriegsschiffe das Mittelmeer. Erneut waren es gewaltige Seeschlachten wie die von Naulochos (Sizilien 36 v.Chr.) und schließlich die von Actium (an der Straße von Otranto) zwischen Antonius und Kleopatra auf der einen und 31 v. Chr. Agrippa und Octavian auf der

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anderen Seite, die der Alleinherrschaft des späteren Augustus den Weg bereiteten. Erst als der Prinzeps das Imperium unter seine Herrschaft gesichert hatte, ließ der Druck nach. Es gab keine gegnerischen Seestreitkräfte mehr und die Kriege verlagerten sich an die Grenzen des Reiches. So konnte Augustus in einer der größten Abrüstungsaktionen der Geschichte die Zahl der Schlachtschiffe drastisch reduzieren und sich auf eine stehende Marine mit kleineren, vornehmlich in Italien (Golf von Neapel und bei Ravenna) stationierten Teilflotten beschränken. Erneut war es der innerrömische Kampf um die Alleinherrschaft, der für kurze Zeit wieder das Meer zum Kriegsschauplatz erhob. 300 Jahre nach Actium sicherte sich Konstantin in einer Seeschlacht am Bosporus das Kaisertum. Danach konzentrierte er die Marine auf die Kontrolle des Marmarameers nahe der neuen Hauptstadt Konstantinopel und auf die Sicherung des Getreidetransports von Afrika nach Italien. Doch diesmal verfing das Kalkül nicht. Die Kaiser des Westens waren nicht mehr in der Lage, die für die Beherrschung des Meeres so wichtigen Küstenzonen zu schützen. Ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, eroberten in der Mitte des 5. Jh. die Vandalen Karthago und begannen wie einst die Piraten Italien von der Kornversorgung abzuschneiden. Den Todesstoß erhielt das Westreich, als 468 n.Chr. eine letzte große Flotte des Gesamtreiches vor Karthago zurückgeschlagen wurde. Auch dem Ostreich fehlte trotz der zeitweiligen Rückeroberung Nordafrikas, Italiens und Teile des südöstlichen Spanien die Kraft, die machtpolitische Einheit des Mittelmeeres zu sichern. Damit begann gleichermaßen eine neue Epoche der Seekriegsgeschichte und der Mittelmeerwelt.

ANTIKE HÄFEN Thomas Schmidts Die Epoche der griechischen und römischen Kultur ist eng mit dem Meer, zunächst einmal vor allem mit dem Mittelmeer verknüpft. Zeugnisse von antiken Hafenbauten lassen sich noch heute erforschen bzw. besichtigen. Zum Teil befinden sich auch moderne Hafenanlagen direkt auf den antiken Molen und Wellenbrechern. Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen die bekannten Häfen der antiken Metropolen, über die zweifellos ein Großteil des Seehandels abgewickelt worden ist. Allerdings muss man sich vergegenwärtigen, dass unzählige kleine Häfen und Anlandemöglichkeiten existierten, die ohne aufwändige Baumaßnahmen betrieben werden konnten; häufig genügten Buchten und Strände. Der Vorteil künstlich angelegter Hafenanlagen lag vor allem in ihrer schützenden Funktion für die Schiffe, zudem erlaubten sie eine Anlandung an Küstenabschnitten, die normalerweise keine Ankerplätze boten. Sie schufen die Voraussetzung für das erstaunlich weit verzweigte Handelsnetz der griechischen und römischen Welt, das in erster Linie auf dem Seehandel fußte. Zahlreiche archäologische Zeugnisse belegen dies. Darüber hinaus waren die Hafenstädte natürlich auch Schauplatz für Kulturkontakte, was sich insbesondere bei der Ausbreitung von Religionen und Kulten zeigt. Deutlich wird dies etwa bei den Missionsreisen des Apostels Paulus, bei denen sich auch Widerstände gegen eine neue Religion ablesen lassen. DIE FRÜHZEIT Bereits in der späten Bronzezeit war die mykenische Welt, deren maßgebliche Zentren im südlichen Griechenland lagen, Teil eines Seehandels-Netzwerkes, das von Ägypten bis nach Süditalien reichte. Bislang sucht man allerdings Belege für künstlich angelegte Häfen vergebens. Mutmaßlich aufgrund günstiger naturräumlicher Voraussetzungen wurden Buchten genutzt, die in der Ägäis mannigfach existieren. Dies widerspricht nicht einer Bebauung ufernaher Zonen mit Bauwerken, die wir am ehesten der Funktion von Häfen zuordnen. Potentielle minoische Schiffshäuser wurden in Kommos, im Süden Kretas, identifiziert. Auch die bekannten Wandmalereien von Akrotiri (Santorin) geben eine Vorstellung einer Stadtansicht vom Wasser aus. Frühe Zeugnisse von Hafenbauten lassen sich jedoch eher in der Levante, im Siedlungsbereich der Phönizier finden. Bedingt durch das Fehlen natürlicher

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Landeplätze wurden dort bereits in der Bronzezeit Strukturen in Felsen eingetieft bzw. aus Steinquadern erbaut 1. DIE HÄFEN DER GRIECHISCHEN SEEMÄCHTE Die Große Kolonisation, die um die Mitte des 8. Jahrhunderts v. Chr. einsetzte, führte zu einer Gründung zahlreicher griechischer Hafenstädte von Spanien bis nach Kleinasien, Nordafrika und in den Schwarzmeerraum. In der Frühphase ist dabei nicht zwingend mit aufwändigen Hafenbauten zu rechnen. Bemerkenswerterweise werden in der Odyssee von Homer keine Häfen außer im Land der Phäaken erwähnt. 2 Einen ersten literarischen Hinweis auf aufwändige Baumaßnahmen zum Schutz eines Hafens überliefert Herodot für Samos. Den Bau eines Wellenbrechers von 370 m Länge durch Polykrates in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhundert zählte dieser zu den größten Bauprojekten der griechischen Welt. Auffällig ist dabei, dass hier der Hafen Teil eines städtebaulichen Konzepts wird und kein von der Siedlung isolierter Teil ist. Eine wesentliche Motivation dürfte dabei die Entwicklung neuer Kriegsschifftypen sein. In Samos treffen wir laut Herodot nun auch folgerichtig auf ein Element, das typisch für die antiken Häfen wird: die Schiffshäuser. Polykrates soll zudem eine Thalassokratie als erster Grieche seit dem sagenhaften König Minos angestrebt haben. 3 Häfen wurden somit auch zum Ausdruck militärischer Stärke. Die Schiffshäuser, die je nach Größe der Flotte eine beträchtliche Länge der Uferzone beanspruchen konnten, verdeutlichen dies. Sie lagen als überdachte Holzständerbauten auf einer Schräge oberhalb der Wasserlinie und konnten die aus dem Wasser in den trockenen Bereich gezogenen Schiffe aufnehmen. Schiffshäuser sind zahlreich in der griechischen Welt bekannt. Zudem mussten diejenigen Häfen, in denen die Flotten lagen, geschützt werden. Zu diesem Zweck wurden die Häfen, genauso wie die Städte, mit Umfassungsmauern umgeben und die Einfahrt mit Türmen gesichert. Je nach Lage der Stadt bildeten die Hafenbefestigungen einen Teil der Stadtmauern 4.

1 2 3 4

K. Baika, Greek harbours of the Aegean, in: X. Nieto/ M. A. Cau (Hg.), Arqueología náutica mediterránea. Monografies des CASC 8, Girona 2009, 430–431 mit weiterer Literatur. Homer, Odyssee 6, 263–265. Samos: Herodot, Historien 3, 45 (Schiffshäuser) 3, 60 (Baumaßnahmen); 3, 122, 2 (Thalassokratie). Dazu R. Tölle-Kastenbein, Herodot und Samos, Bochum 1976, 72–81. D. Blackman / B. Rankov, Shipsheds of the Ancient Mediterranean, Cambridge 2014.

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Abbildung 1: Der Hafen von Piräus (Umzeichnung K. Hölzl).

Als führende Seemacht der griechischen Welt baute Athen den Piräus (griechisch Peiraieus) als Hafen aus. Mehrere Kilometer von der Küste entfernt gelegen, musste die Stadt einen Zugang zum Meer durch eine eigene Hafensiedlung, ein epineion, sicherstellen. Zunächst war die Bucht von Phaleron genutzt worden, seit dem frühen 5. Jahrhundert begann der systematische Ausbau von Piräus. Themistokles, der auch den Aufbau der Flotte betrieb, sorgte für die Vollendung der Stadtbefestigung. Um die Mitte des 5. Jahrhunderts wurden dann auf Initiative von Perikles die lange Mauern angelegt, die den Piräus mit der 8 km entfernten Stadt Athen verbanden. Er war es auch, der den Architekten Hippodamos von Milet beauftragte, die Stadt neu anzulegen mit dem seinerzeit innovativen regelmäßigen Straßenraster. Somit entstand eine Hafenstadt, die funktional sowohl die militärischen als auch die kommerziellen Bedürfnisse der Metropole Athen erfüllen musste. Die gewählte Halbinsel mit ihren Landzungen sorgte hierbei für gute naturräumliche Voraussetzungen. Drei Buchten wurden zu Hafenbecken ausgebaut und jeweils in das Befestigungssystem integriert. Im Westen lagen die beiden kleineren Häfen Zea und

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Munychia. Inschriften belegen 196 bzw. 82 Schiffshäuser, deren Reste zum Teil noch dokumentiert werden konnten. Beim Zea-Hafen befand sich auch die Skeuothek, ein 130 x 18 m großes Arsenal, das für die Lagerung von Segeln und anderem Schiffszubehör um die Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. errichtet worden war. Diese Kriegshäfen waren auch von der Stadt durch Mauern separiert und nicht allgemein zugänglich. Auf der Westseite der Halbinsel befand sich der in erster Linie als Handelshafen benutzte Kantharos, auch wenn hier noch einmal 94 Schiffshäuser belegt sind. Die Einfahrt des Kantharos schmückte der Löwe, der im späten 17. Jahrhundert nach Venedig verschleppt und dort vor dem Arsenal aufgestellt wurde. Östlich an das Hafenbecken schloss sich das Emporion an. Es handelt sich dabei um ein durch Grenzsteine und eine Mauer klar definiertes Quartier, das als Freihafen fungierte. Die Grenzline diente somit als Mautlinie. Große Hallenbauten innerhalb des Emporions bildeten die Areale, in denen die Händler zusammenkamen. Auch Geldwechsler und Bankiers waren hier zu finden. Für die Versorgung Athens von überragender Bedeutung war die Große Halle (makra stoa), die als Stapelplatz für Getreide genutzt wurde, das zum Teil aus dem Schwarzmeergebiet stammte. Auf der Landzunge entstand zudem ein Stadtgebiet mit einem eigenem Markt (agora), Theatern, Heiligtümern und Wohnbauten. Piräus mit seinen Häfen stellt sicherlich ein Musterbeispiel dar, zumal eine reiche schriftliche und archäologische Überlieferung für ein relativ umfassendes Bild sorgt, das uns für andere Städte verwehrt bleibt. Aufgrund der vom Meer etwas abgelegenen Metropole, bestanden hier bessere Voraussetzungen für eine freie Stadtplanung als bei den direkt am Meer gelegenen Zentren. In der hellenistischen Zeit, ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. traten neue Seemächte auf den Plan, die auch ein größeres Repräsentationsbedürfnis zeigen. Zwei der bekannten antiken Weltwunder befanden sich im Bereich von Häfen: der Leuchtturm Pharos in Alexandria und der Koloss von Rhodos. Sowohl die in Ägypten residierenden Ptolemäer als auch die Stadt Rhodos waren zwei maßgebliche Seehandelsmächte dieser Epoche. Auch im Schiffbau wurden nun die Grenzen des technisch machbaren ausgetestet. Mitunter gigantisch anmutende Kriegs- und Handelsschiffe wurden im Hellenismus gebaut. Allerdings konnte dies die Hafenanlagen überfordern, wie das Beispiel der Syrakusia lehrt, eines von Archimedes im Auftrag Hierons II. von Syrakus um 240 v. Chr. konstruierten Frachtschiffs. Es wurde schließlich Ptolemaios III. Euergetes geschenkt, da er aufgrund seines Tiefgangs in keinem Hafen außer Alexandria ankern konnte und fristete dort sein Dasein nunmehr unter dem Namen Alexandris 5.

5

Vgl. L. Casson, Ships and seamanship in the ancient world, Baltimore/London9 1995, 185 f.

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Abbildung 2: Der Große Hafen von Alexandria (Umzeichnung K. Hölzl).

Eben jener Hafen von Alexandria war in vielfacher Hinsicht bemerkenswert. 331 v. Chr. von Alexander dem Großen gegründet, entwickelte sich die Stadt als Residenz der Dynastie der Ptolemäer zu einer herausragenden Seehandelsmetropole im östlichen Mittelmeerraum. Von hier aus wurden nicht nur die gewaltigen in Ägypten produzierten Getreideüberschüsse verschifft, sondern auch begehrte exotische Luxusgüter, wie etwa Pfeffer und Elfenbein aus Indien, die über das Rote Meer und den Nil bis nach Alexandria gelangten. Konkurrenz im näheren Umfeld war schon aufgrund der naturräumlichen Voraussetzungen nicht zu fürchten: Die Küste galt unter Seefahrern als gefährlich und bot kaum Möglichkeiten zur Anlage von Häfen. Beschreibungen antiker Autoren liefern uns eine Vorstellung vom Ha-

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fenareal, zusätzlich haben Unterwasserforschungen der letzten Jahrzehnte wertvolle Erkenntnisse geliefert 6. Ein Damm von über 1 km Länge mit zwei Durchfahrten wurde aufgeschüttet, um die Insel Pharos mit dem Festland zu verbinden. Dadurch entstanden zwei Hafenareale, der Eunostoshafen im Westen sowie der Große Hafen im Osten. Letzterer, der auch durch die Unterwasserarchäologie erforscht wurde, erweist sich als eine Ansammlung von verschiedenen Hafenanlagen, darunter auch zwei nicht allgemein zugängliche königliche Häfen, von denen einer der Flotte vorbehalten war. Die enorme Leistungsfähigkeit des Hafens mag man am Getreideumschlag ermessen, der in der Kaiserzeit zunächst die Stadt Rom und später Konstantinopel versorgte. Der für die Spätantike überlieferte Spitzenwert von mehr als 300.000 t bzw. fünfeinhalb Millionen Säcken jährlich 7 spricht für sich und setzt ein logistisches Netzwerk von Lagerhäusern, effizienter Verwaltung, großen Kaianlagen und leistungsfähigen Strukturen zum Beladen und Abfertigen der Schiffe voraus. Der als Pharos bekannte Leuchtturm war mit einer zu rekonstruierenden Höhe von über hundert Metern das mutmaßlich höchste Gebäude der Antike und wurde bekrönt von einer Statue des Zeus Soter (Retter). Erbaut im 3. Jahrhundert v. Chr., wurde es ein Symbol für den Hafen von Alexandria. Noch bis ins späte 2. Jahrhundert n. Chr. stellt er ein Motiv der alexandrinischen Münzprägung dar. Für die Sicherheit der Schifffahrt an der gefahrvollen nordafrikanischen Küste lieferte der Pharos einen unschätzbaren Beitrag, nach dem Zeugnis von Flavius Josephus war sein Licht bis in 300 Stadien (ca. 50 km) Entfernung sichtbar 8.

6 7 8

M. Clauss, Alexandria. Schicksale einer antiken Weltstadt, Stuttgart 2003, 78–85 sowie F. Goddio / J. Yoyotte, Der große Hafen in Alexandria, in: F. Goddio / M. Clauss (Hg.), Ägyptens versunkene Schätze, München/Berlin/New York 2007, 324–334. Zahlen nach Clauss 2004, 84. Flavius Josephus, Jüdischer Krieg 4, 612–615 mit weiteren Angaben zum Pharos.

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KARTHAGO UND DER AUFSTIEG ROMS

Abbildung 3: Der Kriegshafen von Karthago (Umzeichnung K. Hölzl).

Karthago, die führende Seemacht im westlichen Mittelmeerraum, verfügte über einen exzeptionellen Hafen. Dieser wurde allerdings erst spät, um 200 v. Chr., errichtet. In der Tradition des phönizischen Hafenbaus waren die Hafenbecken künstliche angelegt (Kothon). Vom Meer aus gelangte man durch eine Zufahrt in den rechteckigen 400 m langen Handelshafen, auf den der durch Mauern gesicherte kreisrunde Kriegshafen folgte, dessen Ufer ebenso von Schiffshäusern für die Kriegs-

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flotte gesäumt waren wie die in der Mitte künstlich angelegte Insel (sog. Admiralitätsinsel). 9 Das Schicksal dieses Hafens ist ein Teil des gewaltigen Umbruchs in der Mittelmeerwelt, der mit dem Aufstieg Roms einherging. Karthago verschwand nach der Niederlage im 3. Punischen Krieg 146 v. Chr. und der anschließenden Zerstörung als Seemacht. Mit Korinth wurde im selben Jahr eine zweite für den mediterranen Handel wichtige Hafenstadt zerstört. Bereits im Jahre 167 v. Chr. hatte Rom auch Einfluss auf die Handelsschifffahrt im östlichen Mittelmeerraum genommen, indem es Delos zum Freihafen erklärt hatte, um Rhodos als Seemacht zu schwächen. Für Delos bedeutete dies einen Standortvorteil, der die kleine Insel zu einer Drehscheibe des Seehandels, vor allem auch mit Sklaven, werden ließ. Hiervon zeugen die ausgedehnten Kaianlagen von insgesamt 1,7 km Länge ebenso wie die bauliche Entwicklung der Stadtviertel mit ihren Märkten (agorai). 10 DIE HÄFEN IM RÖMISCHEN KAISERREICH Die Bezeichnung des Mittelmeers als mare nostrum (unser Meer) ist nicht nur das Resultat einer großflächigen Annexion von Anrainern, die unter dem ersten römischen Kaisers Augustus de facto abgeschlossen war. Zwar wurden einige Küstenabschnitte noch bis zur Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. von Klientelkönigen regiert, Rom war aber alleinige Seemacht geworden. Die Seeschlacht von Actium 31 v. Chr. stellte einen Wendepunkt dar. Bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts waren keine Feinde zur See im Mittelmeer zu fürchten. Maßgeblich zur Sicherheit der Hafenstädte, insbesondere im östlichen Mittelmeerraum, trug der Sieg des Pompeius über die Piraten im Jahr 67 v. Chr. und im Folgejahr über den mit diesen verbündeten König Mithridates von Pontos bei. Mit der Sicherheitslage änderten sich nun auch die Anforderungen für die Häfen. Die über Jahrhunderte charakteristische militärische Komponente war nunmehr funktionslos geworden. Die römischen Flottenverbände verfügten neben ihren Hauptstützpunkten in Misenum und Ravenna im Mittelmeerraum noch über einige weitere Basen. Für die übrigen Hafenstädte waren aber fortan keine Schutzmaßnahmen und Areale für Kriegsschiffe mehr notwendig. Die Häfen waren nun in erster Linie Handelshäfen. Zusätzlich kann die römische Kaiserzeit als Epoche eines sehr ausgeprägten Seehandels, auch über weite Entfernungen hinweg, charakterisiert 9

Antike Beschreibung bei Appian, Römische Geschichte 8, 96. – H. R. Hurst / S. P. Roskams, Excavations at Carthage. The British Mission II 1. The circular harbour, north side: the site and finds other than pottery British Academy monographs in Archaeology 4, Sheffield 1994 zu den archäologischen Untersuchungen im Kriegshafen. 10 M. Zarmakoupi, Die Hafenstadt Delos, in: S. Ladstätter / F. Pirson / Th. Schmidts, Häfen und Hafenstädte im östlichen Mittelmeerraum von der Antike bis in byzantinische Zeit / Harbor Cities in the Eastern Mediterranean from Antiquity to the Byzantine Period, Byzas 19, Istanbul 2014, 553–570. Nach K. Lehmann-Hartleben, Die antiken Hafenanlagen des Mittelmeeres. Beiträge zur Geschichte des Städtebaues im Altertum, Klio Beihefte 14, Leipzig 1923, 159 betrug die Länge der Kaianlagen 1700–1800m.

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werden. Der Umfang des Fernhandels erreichte eine für die vormoderne Welt ansonsten nicht erreichte Dimension. Beispielhaft für den Wandel eines Hafens steht der bereits erwähnte Kriegshafen Karthagos. Im Zuge des Wiederaufbaus der Stadt unter Kaiser Augustus wurden die Schiffshäuser nicht wieder instand gesetzt, stattdessen entstand auf der Admiralitätsinsel eine Portikusanlage mit Tempel. Zusätzlich revolutionierte die Entdeckung des Unterwasserbetons den Hafenbau. Durch die Beimengung von Pozzulaner Erde, vulkanischer Asche aus dem Umfeld des Vesuvs, war es möglich, einen Beton zu kreieren, der unter Wasser aushärtet. 11 Somit konnten Hafenanlagen auch an Stellen installiert werden, die von Natur aus ungeeignet waren. Ein frühes Beispiel ist der Hafen von Caesarea Maritima, den Herodes der Große errichten ließ; ein Großhafen an einem sandigen Abschnitt der levantinischen Küste. Besondere Anforderungen an den Seehandel stellte die Versorgung der stadtrömischen Bevölkerung mit Getreide. Kaiser Augustus schuf eine eigene Behörde, die für die Überwachung von Transport und Lagerung der Lebensmittel verantwortlich war. Mit einer Einwohnerzahl von mehreren Hunderttausenden bis mutmaßlich mehr als 1 Million in der Spitze konnte die Lebensmittelversorgung nicht mehr aus Italien und seiner Kornkammer Sizilien allein gemeistert werden. Die Masse des Getreides kam nunmehr aus den nordafrikanischen Provinzen und Ägypten. Der traditionelle Hafen Roms, das an der Tibermündung liegende Ostia, konnte allerdings den Schiffsverkehr nicht bewältigen, so dass die großen Getreideschiffe aus Alexandria den Hafen von Puteoli in Kampanien anliefen, von wo aus der Weitertransport organisiert wurde. Erst Kaiser Claudius (41–54 n. Chr.) begann mit dem

11 C. J. Brandon / R. L. Hohlfelder / M. D. Jackson, Building for Eternity. The History and Technology of Roman Concrete Engineering in the Sea, Oxford 2014.

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Abbildung 4: Portus Augusti. Der Claudius- und der Trajanshafen (Umzeichnung K. Hölzl).

Bau des großen Seehafens Portus Augusti nördlich von Ostia. Die großen Molen umfassten ein Hafenbecken von 200 ha, ein Spitzenwert für die antike Welt. Über einen Kanal mit dem Tiber verbunden, wurden die Waren hier umgeschlagen und anschließend über den Fluss direkt nach Rom transportiert. Große Magazinbauten nahe der Hafenanlagen und in Ostia sorgten für die notwendigen Lagerkapazitäten. Die römische Administration überwachte den Betrieb des Hafens und des Weitertransports. Allerdings erwies sich der Hafen des Claudius bei starken Stürmen als ungeeignet. Deshalb wurde unter Kaiser Trajan, vermutlich zwischen 110 und 117 n. Chr. ein neues sechseckiges Hafenbecken im Anschluss an den Claudiushafen ausgeschachtet und mit Magazin- und Funktionsbauten entlang der Kaianlagen versehen. Weitere Ausbauten der Magazine erfolgten insbesondere im späten 2. / frühen 3. Jahrhundert. 12 Sowohl vom Claudius- als auch vom Trajanshafen besitzen 12 Vgl. S. Keay / M. Millett / L. Paroli / K. Strutt (Hg.), Portus. An archaeological survey of the port of Imperial Rome, Archaeological Monographs of the British School at Rome 15, London 2005. sowie S. Keay, The Port System of Imperial Rome, in: S. Keay (Hg.) Rome, Portus and

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Abbildung 5: Rückseiten römischer Münzen mit Hafendarstellungen des Hafens Portus Augusti: 1) Sesterz des Nero. – 2) Sesterz des Trajan. M. 1:2 (Fotos: RGZM, Mainz).

wir Münzdarstellungen, die eine Vorstellung von ihrer Gestaltung geben und zudem die Bedeutung dieser Baumaßnahmen betonen. Mit der römischen Herrschaft wurden auch Atlantik und Nordsee von Mauretanien bis nach Britannien Aktionsbereiche des Seehandels. Bemerkenswerterweise finden sich hier auch die am besten erhaltenen antiken Leuchttürme, nämlich in La Coruña (E) und Dover (GB). Funde von Fernhandelsgütern aus der mediterranen Welt in Britannien belegen das Funktionieren der Handelsnetzwerke. Allerdings stellten diese Gewässer neue Anforderungen an Schiffe und Häfen, wenn man Wetterbedingungen und stark ausgeprägte Gezeiten bedenkt. Der Seehandel wurde, wie auch in späteren Epochen, über Häfen in den Flussmündungen abgewickelt. So waren etwa Burdigala (Bordeaux) und Londinium (London) bereits in römischer Zeit bedeutende Hafenstädte. Wie die aus London an diversen Stellen ausgegrabenen

the Mediterranean. Archaeological Monographs of the British School at Rome 21, London 2012, 33–67 mit den Ergebnissen der neueren Forschungen zu diesen Häfen.

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Kaianlagen zeigen, wurde in den nördlichen römischen Provinzen häufig Eichenholz im Hafenbau verwendet, während Belege für die Steinbauweise relativ selten sind. 13

Abbildung 6: Der römische Leuchtturm von Dover. Baubefund und Rekonstruktion (Nach M. R.E.M. Wheeler, The Roman Lighthouse at Dover. Archaeological Journal 86, 1929, 32 Abb. 2).

13 G. Milne, The port of Roman, London 1985; Ch. Wawrzinek, In Portum Navigare. Römische Häfen an Flüssen und Seen, Berlin 2014, 80–82. 284–306.

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Mit der Völkerwanderung wurde das Ende des Mare nostrum eingeleitet. Germanische Völkerschaften, wie die Goten oder Vandalen, waren auch zur See aktiv und sorgten ab der Mitte des 3. Jahrhunderts zunächst mit Raubzügen, seit ihrer Staatenbildung in Nordafrika bzw. Italien auch als Seemächte für Unsicherheit. Hafenstädte wurden nun erstmals seit Jahrhunderten wieder Opfer von Plünderungen und Belagerungen. Viele der großen Häfen, darunter auch Portus Augusti, wurden schließlich aufgegeben. Zwar überlebten Traditionen des antiken Hafenbaus im byzantinischen Reich, allen voran in der Hauptstadt Konstantinopel, allerdings beginnt spätestens mit den Eroberungen weiterer Küstenabschnitte durch Sassaniden und Araber seit dem frühen 7. Jahrhundert auch dort ein neues Kapitel in der Geschichte des Seehandels.

DAS MEER UND DIE SELBSTORGANISATION IN ANTIKEN GESELLSCHAFTEN Ein Essay an den Beispielen „Entstehung der polis“ und „Ende der römischen Republik“ Ulrich Fellmeth Dieser Beitrag will untersuchen, welche Impulse von der Nutzung des Meeres und der Begegnung mit dem überseeischen Fremden hinsichtlich der Selbstorganisation antiker Gesellschaften ausgingen und wirksam waren. Es darf gehofft werden, dass neue Zugänge, etwa der Agency-Ansatz oder die Institutionengeschichtsschreibung, interessante Einsichten bieten. Leitfragen sind also in diesem Beitrag: Wie haben sich antike Gesellschaften selbst organisiert, als der immer enger werdende Kontakt zum Meer, zu überseeischen Kulturen und die Entstehung von überseeischen Herrschaften nach neuen Organisationsformen verlangten? Und: Die so geschaffenen Institutionen – wie nachhaltig, wie effizient waren sie? Als Gegenstände der Untersuchung bieten sich zwei welthistorisch bedeutsame institutionelle Erscheinungen der Antike an: Die „Genese der polis als stadtstaatlicher Selbstverwaltungsverband“ und „das Ende der römischen Republik und der Übergang zur kaiserlichen Reichsverwaltung“. 1 Beginnen wir mit der polis. Nach einer langen Zeit seit dem Ende der mykenischen Kultur, einer Zeit ohne umfangreicheren Schiffsverkehr und vor allem ohne Häfen, scheint die Seefahrt ab dem Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr. wieder Schwung

1

Als einführende Literatur sei in Auswahl empfohlen: Hermann Bengtson, Griechische Geschichte von den Anfängen bis in die römische Kaiserzeit, München 51996; Jochen Bleicken, Die athenische Demokratie, Paderborn 21994; ders., Geschichte der römischen Republik, Oldenbourg, München 62004; ders., Die Verfassung der Römischen Republik. Grundlagen und Entwicklung, Paderborn 82008; Klaus Bringmann, Geschichte der römischen Republik, München 2002; ders., Krise und Ende der römischen Republik (133–42 v.Chr.), Berlin 2003; Lionel Casson, Die Seefahrer der Antike, München 1979; Karl Christ, Pompeius – Der Feldherr Roms, eine Biographie, München 2004; ders., Krise und Untergang der römischen Republik, Darmstadt 62008; Albin Lesky, Thalatta, Der Weg der Griechen zum Meer, Wien 1947; Christian Meier, Res publica amissa. Eine Studie zu Verfassung und Geschichte der späten römischen Republik, Stuttgart 42017; Ernst Meyer, Römischer Staat und Staatsgedanke, Zürich, München 4 1975; ders., Einführung in die antike Staatskunde, Darmstadt 61992; Raimund Schulz, Die Antike und das Meer, Darmstadt 2005; Nathan Rosenstein/Robert Morstein-Marx (Hrsg.), A Companion to the Roman Republic, Oxford 2006; Michael Stahl, Gesellschaft und Staat bei den Griechen: Klassische Zeit, Perborn 2003.

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aufgenommen zu haben. In Homers Odyssee klärt Nausikaa den bei den Phäaken gestrandeten Odysseus auf, was ihn erwartet, wenn er ihr in die Stadt folgt: Aber sobald wir die Stadt betreten, um die eine hohe Mauer getürmt – auf jeder Seite ein trefflicher Hafen, Schmaler Zugang; den Weg entlang sind die doppeltgeschweiften Schiffe aufs Land gezogen, ein jedes auf eigenem Standplatz. Dort ist ihnen der Markt um den schönen Bezirk des Poseidon Mit tief eingelassenen Findlingsblöcken gepflastert. Dort besorgen sie auch die Geräte der Schiffe, der schwarzen, Taue und Segelwerk, und schaben und glätten die Ruder. Denn die Phäaken legen nicht Wert auf Köcher und Bogen, Sondern auf Masten und Ruder und ebenmäßige Schiffe, Und sind stolz, mit ihnen das graue Meer zu durchqueren. 2

Nun – das musste schon etwas unerhört Neues für das Publikum Homers gewesen sein. Weshalb sonst musste er Nausikaa so ausführlich beschreiben lassen, wie ihre Heimatstadt aussah. Die Kernpunkte ihrer Schilderung sind: Siedlung direkt am Meer, natürlicher Hafen mit schmalem Eingang direkt bei der Siedlung, die Schiffe sind am Strand an Land gezogen, unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Stadt und der Seefahrt, die Siedlung ist ummauert, in der Siedlung befindet sich das merkantile Zentrum, der Markt. Und diese spezielle neue Siedlungsform, die sich zu Lebzeiten Homers im 8. Jahrhundert v. Chr. entwickelte, nennt Homer ausdrücklich polis. Wie war es zu dieser Siedlungsform gekommen? Seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. scheint es im griechischen Bereich zu einem rapiden Anwachsen der Bevölkerung gekommen zu sein. Die kargen Felder in den kleinen kultivierbaren Parzellen im Berggebiet Griechenlands und Westkleinasiens konnten die wachsende Bevölkerung bald nicht mehr ernähren. Viele verließen deshalb die Höhensiedlungen und ließen sich in den fruchtbaren Schwemmlandgebieten an der Küste, möglichst an der Mündung eines Flusses, nieder. Dort bot auch der Fischfang eine weitere Nahrungsquelle. Auch in der Wirtschaftsweise ergaben sich Veränderungen. Während noch die homerischen Helden ihren Wohlstand vorwiegend in Viehherden maßen, ging man in den küstennahen Schwemmlandgebieten schnell zum Getreideanbau über, der es ermöglichte, pro Flächeneinheit wesentlich mehr Menschen zu ernähren. Es entwickelten sich dörfliche Siedlungen, von denen eine als Zentralort der entstehenden polis fungierte. Die neue Siedlungsform erforderte jedoch auch neue Formen der Selbstorganisation. Die küstennahe Siedlung war – insbesondere vom Meer aus – wesentlich angreifbarer, als die Höhensiedlungen der basileis und mussten besonders geschützt werden. 3 Die wachsende Bevölkerung verursachte auch schnell Auseinandersetzungen um das begrenzte Ackerland. Und je mehr die Zentrale Siedlung wuchs, 2 3

Hom. Od. 6, 262-272 (Übers. R. Hampe 2010). Vgl. etwa Thuk. 1,5: „Denn die Hellenen der Frühzeit und von den Barbaren, diejenigen, die auf dem Festland nahe dem Meer lebten, und die Inselbewohner verlegten sich, gleich nachdem sie begonnen hatten, häufiger mit Schiffen zueinander überzufahren, auf die Seeräuberei; dabei

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umso mehr waren infrastrukturelle Aufgaben zu lösen: Schutzmauer und Organisation der Verteidigung; Straßen, Plätze, Wasserversorgung; Grenzmarkierungen und Kataster; Rechtsprechung usw. Der Adelsrat musste nun regelmäßig tagen und erhielt allmählich eine Geschäftsordnung. Aber damit nicht genug, die Aufgabenfülle war so groß, dass bald unbezahlte Jahresämter für die Kriegführung, die Religion und die Rechtsprechung geschaffen wurden. Und die nichtaristokratische wehrfähige Bevölkerung, auf der seit dem Aufkommen der Hoplitentaktik im 7. Jahrhundert die Hauptlast der Kriegführung lastete, wurde immer stärker zur wichtigen Instanz bei der Bewältigung der Gemeinschaftsaufgaben. Diese hier nur sehr grob skizzierte innere Entwicklung in den neuen, polis genannten Siedlungen verlief selbstverständlich in den einzelnen Landschaften sehr unterschiedlich und auch unterschiedlich schnell, oftmals war sie auch durch Tyrannenherrschaften unterbrochen. Eines scheint aber doch erkennbar zu sein: Dieser Wandel fand dort am rapidesten statt, wo die polis in sehr engem Kontakt zum Meer und zum Seehandel stand. Welche Alternativen zu dieser Form von Selbstorganisation standen denn zur Verfügung? Hervorgegangen war die polis aus dem ethnos, dem griechischen Stammesstaat. Diese politische Organisationsform hat sich im zentralen, westlichen und nördlichen Griechenland bis ins 4. Jahrhundert v. Chr. erhalten. Diese Gebiete zeichneten sich durch kleine dörfliche Siedlungen aus, die nur untergeordnete Kompetenzen innehatten. Unter der politischen Führung der lokalen Adelsgeschlechter konnte sich – außer im Kriegsfalle – keine übergeordnete staatliche Organisation entwickeln. So blieb denn auch die politische Strahlkraft der vielen kleinen Stammesstaaten, aber auch der großen wie etwa des thessalischen Bundes oder des makedonischen Stammeskönigtums, bis ins 4. Jahrhundert v. Chr. sehr begrenzt. Mit der Begründung größerer Territorialherrschaften durch Philipp II. von Makedonien oder gar durch Alexander den Großen bekam das Stammeskönigtum als politische Organisationsform dann allerdings neue Entwicklungsperspektiven und Wirkungsmöglichkeiten. Vom 8. bis zum 4. Jahrhundert v. Chr. blieb die polis aber die dominierende und die offenbar effizienteste politische Organisationsform. In diesen poleis erhielt die agora, der zentrale Versammlungsplatz, zunehmend auch eine merkantile Bedeutung. Herodot lässt etwa den Perserkönig Kyros abfällig über die Griechen sagen: „Ich fürchte mich nicht vor Leuten, die mitten in ihrer Stadt einen Platz haben, wo sie zusammenkommen, um einander zu belügen und falsche Eide zu schwören.“ Denn, so fügt Herodot sogleich erklärend hinzu:

führten gerade die mächtigsten Männer, um eigenen Gewinnes willen und um Nahrung für die Schwachen. Sie überfielen die unbefestigten und dorfartig angelegten Städte, plünderten sie und bestritten daraus den größten Teil ihres Lebensunterhaltes – ohne daß diese Tätigkeit irgendwie Schande brachte, sondern das Gegenteil, sie trug sogar Ruhm ein.“ (Übers. H. Vretska).

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Ulrich Fellmeth Mit diesen Worten wollte er die Griechen überhaupt verhöhnen, bei denen man auf dem Markte kauft und verkauft; denn bei den Persern gibt es keinen Handelsverkehr und überhaupt keinen Marktplatz. 4

Diese merkantile Funktion der agora unterschied also nach griechischem Selbstverständnis eine polis geradezu von den Stadtkulturen des Vorderen Orients. Gelegentlich wurde von Seiten der konservativen sokratischen Philosophie sogar ein gefährliches Übergewicht des Seehandels und damit zusammenhängend eine „Überfremdung“ der Bürgergemeinde konstatiert: Die hohe Zahl von fremden Kaufleuten in der Stadt Athen stehe nach Aristoteles „der rechten Staatslenkung entgegen“. Er empfiehlt, die Häfen örtlich und organisatorisch von den Stadtgemeinden zu trennen. 5 Gefürchtet wurde also nicht der Lokalhandel innerhalb der polis-Gemeinde, sondern der Seehandel, der in der Tat viele Fremde in die Hauptwarenumschlagplätze spülte. 6 Was Aristoteles dabei aber übersah, war die überaus befruchtende Wirkung der vielen fremden Kaufleute, aber auch Anderer – speziell bei der inneren Entwicklung der poleis. Die für die griechischen poleis so typische Offenheit gegenüber neuen Ideen, die Veränderungsbereitschaft und das Interesse am Fremden wären ohne die Vernetzung durch übers Meer fahrende Händler, aber auch Künstler, Architekten, Ärzte, Philosophen gar nicht vorstellbar. Plutarch listete rückblickend den gesamten Ertrag des Kontaktes zum Meer für die seefahrenden poleis auf: „Der Handel hatte besonderes Ansehen, weil er die Erzeugnisse der Fremde ins Land brachte, Freundschaften mit Königen vermittelte und reiche Erfahrung einbrachte.“ 7 Und schließlich verursachte die Seefahrt einen Differenzierungs-Schub innerhalb der innerstädtischen Handwerke. Sokrates meinte etwa in Platons politeia: „Und wenn der Handel zur See geführt wird, werden wir gar mancher anderer bedürfen, die dessen kundig sind, was zum Seewesen gehört.“ 8 Unzweifelhaft gehörten das Meer und der Seehandel zu den wichtigsten Fermenten, die die politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der polis vorangetrieben haben. Doch die Entwicklung der polis war damit noch nicht abgeschlossen: Das Grundproblem der ständig wachsenden Bevölkerung verursachte in vielen poleis weiterhin Lebensmittelverknappungen und soziale Unruhen. Das begrenzte landwirtschaftlich nutzbare Umland setzte hier das Limit. Entweder war man gezwungen, die benötigten Lebensmittel aus entfernteren Regionen über See in die Städte zu verschiffen, oder man musste die Bevölkerung reduzieren. Die geläufigste Methode, die Zahl der Bürger zu reduzieren war, ein Bürgerkontingent mit Schiffen

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Hdt. 1, 153 (Übers. Th. Braun, H. Barth). Aristot. pol. 1327a 15ff., 25ff., 32ff.; vgl. auch Plat. leg. 704d-705b; 847b-e. Thuk. 2,38,2 (Übers. H. Vretska), Rede des Perikles: „Dank der Größe unserer Stadt strömen aus aller Welt alle Güter bei uns ein – und so haben wir das Glück, ebenso bequem die Erzeugnisse des eigenen Landes zu genießen wie die fremder Völker.“ Plut. Sol. 2 (Übers. K. Ziegler). Plat. pol. 371 ab (Übers. Fr. Schleiermacher, D. Kurz).

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und Startkapital auszustatten und über das Meer zu senden, um anderswo eine neue polis zu begründen. Zudem tat die Institution der Realteilung ihr übriges. Schon nach mehreren Generationen war der Landbesitz in so kleine Parzellen zerstückelt, dass kaum mehr die Existenz einer Familie gesichert werden konnte. Auch hier schien nur die Auswanderung eine Perspektive zu bieten. Und die großen Grundherren, die Aristokraten, versuchten es in Luxus und Prachtentfaltung den lydischen und phrygischen Fürsten gleichzutun. Sie versuchten ihre landwirtschaftliche Produktion, auf Kosten der Kleinbauern, auf profitablere Monokulturwirtschaft in Form von Wein- oder Ölanbau umzustellen. Die Kleinbauern gerieten immer mehr in Abhängigkeit, ja sogar in Schuldknechtschaft gegenüber den Aristokraten. Zugleich verschärfte sich unter den Aristokraten der Konkurrenzkampf um die soziale und politische Vorherrschaft. Zusätzlich gab es nun eine Klasse von Neureichen, die durch Seehandelsgeschäfte schnell zu großen Vermögen gelangt waren, über die neu eingerichtete bürgerliche Infanterie, die Hoplitenphalanx, eine militärische Karriere gemacht haben, und nun den alten Aristokraten die Führungsrolle streitig machten. Ein gefährliches Gemisch, das immer wieder gewaltsame Auseinandersetzungen um die Macht, staseis, zur Folge hatte. Um dies zu illustrieren: Die Unterstützer der Tyrannis in den griechischen poleis waren in der Regel die verarmten und verschuldeten Kleinbauern. Wie auch immer – auch bei solchen inneren Auseinandersetzungen gab es Verlierer, die besser die Stadt verließen. Es gab also verschiedene gute Gründe für polis-Bürger, Arme, Aristokraten und Neureiche, der Enge der heimatlichen polis zu entfliehen und das Glück über dem Meer in der Fremde zu suchen. Und tatsächlich: Seit Mitte des 8. Jahrhunderts v. Chr. wurde in mehreren Wellen im gesamten Mittelmeerraum und im Schwarzmeergebiet eine große Zahl von Kolonien gegründet. Zunächst und hauptsächlich vom griechischen Festland aus im Westen, dann ab dem 7. Jahrhundert v. Chr. stärker und nun auch von der kleinasiatischen Küste aus in Thrakien, im Marmarameerund Schwarzmeergebiet. Wie solch ein Auswanderungsunternehmen vor sich ging, das schildert uns Herodot, wenn er erzählt, wie Kolonisten aus Thera die Kolonie Kyrene in Lybien gründeten. Eine langanhaltende Trockenheit auf Thera verursachte offenbar ein großes Hungerelend. Als die Theraier daraufhin das Orakel in Delphi befragten, erhielten sie den Auftrag, eine Kolonie in Lybien zu gründen. Zunächst wurden nautische und geographische Informationen über das Kolonisationsziel gesammelt und sodann eine Schiffs-Expedition dorthin unternommen. Als die Expedition zurückkehrte, beschloss man auf Thera einen Kolonistentrupp unter der Führung eines Oikisten zusammenzustellen und auf Schiffen loszuschicken. Im Zielgebiet lebte die Kolonistentruppe zunächst auf der Afrika vorgelagerten Insel Platea zwei Jahre mehr schlecht als recht. Erst als man von der sicheren Insel aus das Terrain und die damit verbundenen Risiken ausgekundschaftet hatte, setzte man auf das Festland

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über und gründete, nach einer Zwischenstation, das später so hochberühmte Kyrene. 9 Zwei Dinge scheinen mir an diesem Bericht von einer Koloniegründung bemerkenswert: Nahrungsmittelknappheit und Not waren der Auslöser. Bei anderen Gründungen mögen staseis, die oft gewaltsamen Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft in der polis, der Auslöser gewesen sein. Die Orakel in Delphi und Didyma spielten – übrigens bei allen Koloniegründungen – eine ganz entscheidende Rolle. Offenbar waren die Orakel auch zu Zentren des geographischen und nautischen Wissens geworden. Dies ist nicht verwunderlich, waren sie doch die Zentren des gemeingriechischen Wissensaustausches. Dennoch sammelte man auf Thera auch noch auf eigene Faust Informationen und erkundete das Ziel durch eine Expeditionsfahrt. Bei Herodot bleibt jedoch unerwähnt, dass sämtliche Kolonien von Anfang an als autonome poleis angelegt waren, mit Isonomie, Autonomie und Autarkie – also Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, einer wie auch immer strukturierten Selbstbestimmung und Selbstorganisation sowie wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Handelsgesichtspunkte scheinen bei den meisten Koloniegründungen keine herausragende Rolle gespielt zu haben – wenngleich der Seehandel quasi unabsichtlich und im Nachhinein durch die große Zahl überseeischer Kolonien einen ungeahnten Aufschwung erhalten hat. Für uns sind zwei Tatsachen bedeutsam: Die Koloniegründungen wurden alle auf Schiffen übers Meer durchgeführt und im Mittelmeer, im Marmara- und Schwarzen Meer waren nun poleis vorhanden. Es ist gewiss kein Zufall, dass Homer, der ja am Beginn dieser Kolonisationsbewegung lebte, mit seinen SeefahrtsAbenteuern das Interesse seines Publikums erregte. Dieses Netz von poleis bot die Möglichkeit und erzeugte die Notwendigkeit, einen regen Handels- und Informationsaustausch wiederum über das Meer zu pflegen: Die schnell wachsende Bevölkerung und die Bautätigkeit in den Kolonien erbrachten eine verstärkte Nachfrage nach Rohmaterialien, Nahrungsmitteln und spezialisierten Handwerkern. Zugleich boten die Kolonien ein Netzwerk an sicheren Anlegestellen und Märkten, wo sowohl die Rohstoffe aus dem jeweiligen barbarischen Umland als auch Waren des mittelmeerweiten Handels gehandelt wurden. Um 500 war das nördliche und östliche Mittelmeer und das Schwarze Meer jedenfalls mit einem Netz an griechischen Städten gesäumt, sodass, wie Cicero dies lyrisch ausgedrückt hat, „den Fluren der Barbaren einen Saum Griechenland vorgewebt“ zu sein schien. 10 Dabei kam es auch zu einer enormen Wissensvermehrung. Die geographischen und nautischen Kenntnisse vervielfachten sich, 11 die Kontakte auch der entferntesten Kolonien mit den dortigen Barbaren wurden rund ums Mittelmeer bekannt und 9 Hdt. 4, 150-159. 10 Cic. rep. 2,4,9 (Übers. K. Büchner 1979). 11 Die Entwicklung der Geographie von Hekataios von Milet, ca. 560 bis 480 v.Chr.; über Herodot von Halikarnassos, 490/480 v. Chr. bis um 424 v. Chr.; Eratosthenes von Kyrene, 276/273

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die Seefahrt wurde vom aristokratischen Abenteuer zur alltäglichen Erscheinung. Es dürfte deshalb auch kein Zufall sein, dass die sich mit Naturwissenschaften, Mathematik, Astronomie und Geographie beschäftigenden Vorsokratiker, also die Naturphilosophen des 6. und 5. Jahrhunderts zumeist aus den Zentren der Kolonisationsbewegung in Westkleinasien und Süditalien stammten. Das Gesamtergebnis ihrer Wirksamkeit ist eine Entmythologisierung der Welt, und insbesondere eine Entmythologisierung des Meeres. Das Meer und die Seefahrt wurden, trotz aller Risiken, zum Gegenstand rationalen Kalküls. Und die intellektuelle Elite des 6. Jahrhunderts wanderte zwischen den Mutterstädten und den Kolonien. Ein prominentes Beispiel wäre etwa Pythagoras (um 570–nach 510 v. Chr.). Geboren auf Samos soll er in seiner Jugend Studienreisen nach Ägypten und Babylonien gemacht haben. In der Mitte seines Lebens migrierte er nach Süditalien, gründete in Kroton eine Philosophenschule und beendete sein Leben in Metapont. Und so wie die Philosophen reisten auch Architekten, Künstler, Ärzte, Geographen, Militärfachleute kreuz und quer durch diesen nun gemeingriechischen Raum. Eine Entmythologisierung des Meeres ging also einher mit einer enormen Wissensvermehrung, mit transmaritimen kulturellen Migrationsbewegungen und einem immer intensiver werdenden Seehandel. Welche weiteren Rückwirkungen gab es vom Meer auf die Selbstorganisation der griechischen Stadtstaaten? Nehmen wir als Beispiel Athen. Das Getreide für die Stadt wurde hauptsächlich aus dem Schwarzmeergebiet erhandelt, die Rohstoffe aus Thrakien und Makedonien. Freilich – eine große Gefahr für die von weither beschafften Güter war die Seeräuberei. Der Tyrann Peisistratos in Athen (600–528 v. Chr.), begann in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts – wie übrigens alle anderen Tyrannen seiner Zeit auch – entlang der großen Handelsrouten Kolonien zur Sicherung zu gründen und ganz offenbar eine Flotte von Schiffen aufzubauen, die unter anderem dem Schutz dieser Handelsrouten dienten. Auf diese Rüstungen baute schließlich Themistokles auf, als er ab 492 v. Chr. angesichts der persischen Bedrohung die athenische Flotte systematisch ausbaute. Und tatsächlich waren die Flottenbauprogramme Athens und anderer griechischer Stadtstaaten die Basis für den Sieg der Griechen gegen die eingefallenen persischen Heere in der Seeschlacht bei Salamis um 480 v. Chr. Die Angst der Stadtstaaten Westkleinasiens und der Ägäis vor der persischen Bedrohung blieb dennoch groß. Ausdruck dieser Sorgen war die Gründung eines Verteidigungsbündnisses, des attischen Seebundes um 478 v. Chr. Der Bund war zunächst ein Zusammenschluss von autonomen poleis, die gleichberechtigt über die Bundesangelegenheiten entschieden. Eine solche Seeherrschaft, eine Herrschaftsform über das Meer war nun etwas ganz Neues. Die Menschen versuchten nun nicht nur kognitiv sondern auch administrativ das Meer zu beherrschen. Das Meer verlor also sowohl seine mythische Dimension, als auch seine normenfreie, anarchische.

v. Chr. bis um 194 v. Chr., bis Klaudios Ptolemaios, um 100 n. Chr. bis nach 160 n. Chr., stellt in der Tat einen Quantensprung in der wissenschaftlichen Geographie dar.

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Zunächst verlief auch alles zur Zufriedenheit aller Beteiligten. Der physische und der Rechtsfrieden in der Ägäis führten zu einem enormen Aufschwung des Handels. Es war dennoch ein problematisches Konstrukt. Eine starke Flotte war für das Ziel, den Ägäisraum und die dort ansässigen Bündner und die Seehandelsrouten zu schützen, unumgänglich. Da nun aber Athen über die weitaus größte Flotte im Bund und zudem über die meiste Erfahrung im Seekrieg verfügte, schien es nur folgerichtig, dass regelmäßig Athener den Oberbefehl über diese Flotte erhielten. Auch die zivile Verwaltung des Bundes ja sogar die Bundeskasse geriet so allmählich in die Hände der Athener. Und so kam es dazu, dass aus der führenden polis im Bund eine hegemoniale polis wurde und schließlich der Bund in einem athenischen Seereich aufging, in dem die ehemaligen Bündner eher den Status von Untertanen hatten. Die wichtigsten Stationen dieser Entwicklung sind schnell aufgezählt: Bis Mitte des 5. Jahrhunderts verfügte fast nur noch Athen über eine Flotte, die anderen Bündner leisteten Geldbeiträge. 454 wurde die Bundeskasse unter dem Vorwand einer persischen Bedrohung von Delos nach Athen gebracht. Gleichzeitig trat die Bundesversammlung nicht mehr zusammen. Die Geschicke des Bundes und insbesondere auch die Verwendung der Mittel aus der Bundeskasse wurden fortan von der athenischen Volksversammlung bestimmt. 450 wurden athenisches Geld, athenische Maße und Gewichte und athenisches Handelsrecht im gesamten Bündnisgebiet durchgesetzt. Der Handel wurde zunehmend auf den Piräus konzentriert, was Athen ungeheure wirtschaftliche Vorteile, den Bündnern aber nur Nachteile brachte. Und schließlich: In der Phase der radikalen Demokratie unter Ephialtes und Perikles (ca. 460–430) erhielten die besitzlosen Theten Athens ein immer stärkeres politisches Gewicht. Ihnen den Unterhalt zu sichern war ein „Muss“ für jeden demokratischen Führer. Ein großer Teil der athenischen Theten fand nun seinen Unterhalt als Ruderer in der Kriegsflotte. Die Kriegsflotte war somit zur Existenzgrundlage dieser in Athen so einflussreichen sozialen Gruppe geworden. Man kann sich leicht vorstellen wie sich das Abstimmungsverhalten dieser die Volksversammlung dominierenden Gruppe in Bundesangelegenheiten gestaltete. Kurzum: Athen dehnte seine Autonomie und Autarkie auf das Seebundgebiet aus und die Bundesgenossen verloren zunehmend ihre eigene Selbständigkeit. Es ist kein Wunder, dass einzelne Bündner auszubrechen versuchten. Jene wurden jedoch von Athen regelmäßig mit brutaler militärischer Gewalt zum Verbleib im Bund gezwungen. Die Entwicklung ist hier nur skizziert dargestellt worden. Ein paar Dinge sind hoffentlich dennoch klargeworden: Das Vorhandensein von überseeischen Stützpunkten, mit denen intensiver Handel getrieben wird, macht die Sicherung der Seehandelsrouten notwendig. Und von einer militärischen Sicherung einzelner Routen ist es nur noch ein kleiner Schritt hin zur Seeherrschaft, zur militärischen und administrativen Durchdringung ganzer maritimer Regionen. Diese Seeherrschaften mögen zunächst föderativer Natur gewesen sein, hatten aber die Tendenz zu Herrschaften einzelner herausragender poleis zu mutieren. Dies war in mehr als einer Hinsicht problematisch. Beachtlich ist in diesem Zusammenhang ein weiterer Grundzug der griechischen poleis, eine agonale

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Grundhaltung, die die poleis in einen ständigen Konkurrenzkampf stürzte. Dies führte im Ernstfalle dazu, dass man die eigene Autonomie und Autarkie bis auf den letzten Blutstropfen zu verteidigen bereit war, nicht aber, dass man die Autonomie und Autarkie anderer poleis achtete. Und so kam es – aus der Sicht von Athen ganz selbstverständlich – dazu, dass aus der führenden polis im Bund eine hegemoniale polis wurde und schließlich der Bund in einem athenischen Seereich aufging, in dem die ehemaligen Bündner eher den Status von Untertanen hatten. Nun – das Fehlen von adäquaten Organisationsformen zwischen den Bündnern hat aus dem Zusammenschluss der Seebundmitglieder quasi eine „Parasitäre Seeherrschaft“ der Athener entstehen lassen. Nun könnte man einwenden, auch dies, die parasitäre Seeherrschaft der attischen Seebünde sei eine Form der Selbstorganisation, die sich historisch eben herausgebildet hat. Freilich war diesen parasitären Seeherrschaften zu Eigen, dass für sie eben keine neuen, den Anforderungen eines Seereichs entsprechenden Organisationsformen entwickelt, sondern die alten Organisationsformen der polis angewandt wurden. Die polis-Organisation hatte nämlich bei kleinen Personenverbänden von zumeist 2.000 bis 5.000 Bürgern und mit Stadtgebieten von selten mehr als 100 km² ihre Wirkkraft entfalten können. Es scheint so zu sein, dass die polis unter den gegebenen naturräumlichen Bedingungen die gegebene Organisationsform für kleinere Bürgerverbände mit kleinem Stadtgebiet gewesen ist. Besonders bedeutsame poleis mit großem Einflussgebiet, wie etwa Athen oder Sparta, waren in der Minderheit – dort aber zeigten sich die Grenzen der polis-Organisation sehr bald. Für die Herausforderungen, die die Beherrschung und Verwaltung von größeren Territorien oder gar von Seeherrschaften mit sich brachten, wurden auch dort keine neuen politischen Organisationsformen entwickelt, sondern die herkömmliche nun aber inadäquate polis-Organisation fortgeführt. Kann das gut gehen? In der Wirtschaftsgeschichtsschreibung hat sich seit geraumer Zeit eine spezielle Methode etabliert. Man untersucht verstärkt Institutionen, also Übereinkünfte formeller oder informeller Natur, die das menschliche Zusammenleben zu regeln helfen. Diese Institutionen werden genau beschrieben, dann aber auf ihre Effizienz und Nachhaltigkeit überprüft. Nun – die parasitäre Seeherrschaft ist eine solche Institution und es lohnt sich, deren Effizienz und Nachhaltigkeit zu überprüfen. Dies kann aber weder beim ersten attischen Seebund im 5. noch beim zweiten im 4. Jahrhundert so richtig gelingen, da diese nach kurzer Zeit infolge militärischer Auseinandersetzungen zerbrochen sind. Auf der Suche nach einem ähnlichen Phänomen in der Antike fällt der Blick auf die römische Republik. Wenn auch die Römer ursprünglich keineswegs eine Seeherrschaft angestrebt haben, so hat doch die territoriale Ausdehnung Roms ab Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. eine Situation geschaffen, in der ein transmaritimes Herrschaftsgebiet irgendwie zusammengehalten werden musste. Seit der Mitte des 3. Jahrhunderts ging Rom dazu über, neu hinzugewonnene überseeische Gebiete zu Provinzen zu machen. Provinzen waren Untertanengebiete des Volks von Rom und demzufolge waren sie tributpflichtig, es galten dort römische Gesetze, die

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römische Währung, Maße und Gewichte und die dortigen poleis und civitates waren bestenfalls nur noch halbautonome Selbstverwaltungen. Eine eigenständige Militär- oder Außenpolitik war für sie undenkbar. Außerdem gelang es Rom schnell, den zuvor regen und multizentralen Seehandel der hellenistischen Zeit auf Rom/Ostia und Puteoli zu konzentrieren und damit die mittelmeerweiten Ressourcenflüsse nach Italien zu leiten. Dies, verbunden mit den Transfers von Kriegsbeuten und Tributen aus den Provinzen nach Italien führte schnell zu einem wirtschaftlichen Ausbluten der Provinzen und einem allzu schnellen Anwachsen des Reichtums in Italien. Alles in allem ist dies eine der athenischen Seeherrschaft nicht unähnliche Herrschaftsform. Eine Herrschaft wurde ausgeübt über küstennahe Landstriche, die sich rund ums Mittelmeer gruppierten. Verbunden waren all diese beherrschten Gebiete durch das Meer. Gesandtschaften, Handel, Truppentransporte, Reisen – alles wurde zum Hauptteil über das Meer abgewickelt, auch die Kriege waren zu einem nicht geringen Teil Seekriege (1. Punischer Krieg, Actium, Seeblockaden im Bürgerkrieg). Die Sicherung und Beherrschung dieses überlebensnotwendigen Transitraumes war deshalb unumgänglich. Ähnlich wie bei den attischen Seebünden, unternahm das republikanische Rom jedoch keine Schritte, durch neue Selbstorganisationsformen den neuen Gegebenheiten gerecht zu werden. Das mittelmeerumspannende Reich mit seinen vielfältigen Herausforderungen hinsichtlich der Außenpolitik, der Kriegführung, der Verwaltung, des Handels und des Kulturaustausches wurde mit den politischen und sozialen Strukturen eines Stadtstaates (mit allerdings stark aristokratischer Note), der römischen res publica, regiert. Im republikanischen Rom haben wir also eine ähnliche Problematik und ähnliche Organisationsformen wie bei den parasitären Seeherrschaften der attischen Seebünde. Aber in der römischen Republik können wir die Effizienz, auch über einen längeren Zeitraum beurteilen. Man entwickelte also angesichts der so ganz neuen politischen Herausforderungen keine neuen adäquaten Organisationsformen, sondern modifizierte die herkömmlichen Organisationsformen der res publica so gut es eben ging. Doch es ging nicht gut! Das soll an drei Beispielen gezeigt werden. Zentrum des politischen Lebens im republikanischen Rom war der Senat. Die führenden Familien waren in ihm versammelt, aus diesen stammten in der Regel auch die Magistrate. Dem Senat oblag die Provinzialverwaltung, die Finanzverwaltung, die Vorberatung von Gesetzesinitiativen und der Kandidaturen für eine Magistratur, Kriegserklärungen sowie die Kontrolle der Beamten. Alles in allem war der Senat ein Organ mit überragender Machtfülle und Garant der Kontinuität der römischen Politik. Hierzu war es aber notwendig, dass der Senatorenstand eine gewisse Homogenität in ökonomischer, sozialer und machtpolitischer Hinsicht aufwies. Durch die Konzentration der mittelmeerweiten Ressourcenflüsse auf Italien und die Tributpflichten der Untertanengebiete kam es jedoch zu einem Zufluss von schier grenzenlosem Kapital aus den Provinzen. Dieser sprunghaft ansteigende

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Reichtum verteilte sich allerdings nicht gleichmäßig auf alle Römer, nein – er konzentrierte sich in den Händen der tonangebenden Senatorenfamilien und bei Leuten, die sich mit Bank-, Staatspacht- und Handelsgeschäften beschäftigten. Es kam sogar zu einer ökonomischen und sozialen Differenzierung innerhalb der Senatsaristokratie. Da gab es dann allmählich sehr reiche und einflussreiche Senatorenfamilien, aber eben auch verarmte, politisch fast bedeutungslose Familien – deren Verbitterung wie ein schleichendes Gift wirkte. Überdies drängten die equites, also die Angehörigen des Ritterstandes in die politische Verantwortung. Jene waren durch Handels-, Staatspacht- und Geldgeschäfte zu immensen Vermögen gelangt. Und zusätzlich forderten die italischen Bundesgenossen, auf deren Schultern ein nicht geringer Teil der militärischen Belastungen ruhte, rechtliche Gleichstellung und politische Teilhabe. Das heißt nicht zuletzt, dass die Eliten in den Gemeinden der Bundesgenossen politischen Einfluss in Rom geltend machten. Ein gefährliches Gemisch. Und in der Tat bildeten sich Parteiungen innerhalb und außerhalb des Senats, deren Auseinandersetzungen über weite Strecken der Späten Republik den Senat daran hinderten, seinen Kernaufgaben nachzukommen. Die senatorischen Eliten und mit ihnen der Senat erlebten eine Desintegration, die den Senat letztendlich seine führende Rolle innerhalb des politischen Getriebes in Rom kostete. Die mit großer Macht ausgestatteten oberen Magistrate, die zweite Säule im politischen Geschäft der römischen Republik, entstammten gewöhnlich dem Senatorenstand und mussten sich der Standessolidarität des Senats beugen. Dies zumal die römischen Beamten im Prinzip nur für ein Jahr amtierten. Nach dem Amtsjahr war ihre weitere Karriere vom Senat abhängig, weshalb man gut daran tat, im Amt den Senat nicht zu verärgern. Somit war gewährleistet, dass die Magistrate keine partikularen Interessen, sondern vielmehr die Interessen des Senats als dem politischen Zentrum der res publica verfolgten. Überdies war die Gewalt der Magistrate durch die Institution der Kollegialität eingeschränkt, es gab da immer mindestens einen Kollegen mit gleicher Amtsgewalt, der einzelne Maßnahmen durch Interzession aufhalten konnte. Die Zahl der Aufgaben in der Verwaltung und im Militär war aber mit der Ausweitung des römischen Reichs rund ums Mittelmeer immens gewachsen. Die ordentlichen römischen Magistrate waren schon zahlenmäßig nicht mehr in der Lage, all diese Aufgaben wahrzunehmen. Einige Gemeinschaftsaufgaben wurden an private Unternehmer verpachtet, so etwa der Steuereinzug, Zölle, Bergwerke, Straßenbau, Wasserleitungen oder der Nachschub für das Militär. Diese privaten Gesellschaften aus dem Ritterstand waren profitorientiert, das will sagen, ihnen lag nicht eine gerechte Verwaltung, sondern vielmehr die Optimierung ihrer Gewinne am Herzen. Speziell beim Steuereinzug und bei den Zöllen kam es zu bösen Exzessen. Und die von denselben Leuten scheinbar gut gemeinten Kredite an zahlungsunfähige überseeische Steuerzahler entpuppten sich oft als Wucherkredite mit einer Zinsschöpfung von bis zu 35%. Untergeordnete Verwaltungsaufgaben wurden also mit schlimmen Folgen für die Provinzialen privatisiert. Die Führungsaufgaben in der Provinzialverwaltung sollten jedoch beim Senatorenstand verbleiben. Da die Zahl der zur Verfügung stehenden Magistrate nicht

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ausreichte, wurden die Militärkommanden und Statthalterschaften der regulären Magistrate in den Provinzen zunächst einfach verlängert (prolongiert). Später wurde die Institution der Promagistrate geschaffen – ehemalige Magistrate, die mit voller Amtsgewalt ausgestattet in den Provinzen und im Militär Dienst taten – nun aber ohne kontrollierende Kollegen! Überdies waren die militärischen Operationen auf dem Meer und in Übersee nicht mehr in einem Jahr abzuschließen, sie währten mitunter über mehrere Jahre. So kam es, dass die Promagistrate immer häufiger prolongiert werden mussten – damit war auch das Prinzip der Annuität durchbrochen. Nun muss man sich nur noch die Karriere etwa eines Pompeius anschauen. Im Jahre 82 hatte er sich mit einer Privatarmee in die Dienste der Bürgerkriegspartei des Sulla gestellt und wurde von Sulla mit einem militärischen Kommando nach Sizilien und Nordafrika geschickt, obwohl er noch zu jung für ein Kommando war und die erforderlichen Wahlämter noch nicht durchlaufen hatte. Im Jahre 77 erhielt er ein prokonsularisches Imperium im Sertoriuskrieg in Spanien und kämpfte 71 noch gegen die Reste der Spartacus-Anhänger in Italien. Erst im Jahr 70 v. Chr. erreichte er, zusammen mit Marcus Licinius Crassus, erstmals das Konsulat. Sein politischer Einfluss schien jedoch zu schwinden. So kam es sehr gelegen, dass die Seeräuberei im östlichen Mittelmeer die römische Wirtschaft und insbesondere die Versorgung Italiens mit Lebensmitteln so empfindlich störte, dass er mit umfassenden Vollmachten 12 ausgestattet mit dem Krieg gegen die Seeräuber beauftragt wurde. Es gab zwar Widerstände im Senat gegen die Machtfülle, die Pompeius da zugestanden werden sollte, aber die Lage war offenbar so prekär, dass die Beauftragung nicht zu verhindern war. Für Promagistrate, die ja der Kontrolle durch Kollegen entbehrten und zudem nicht immer auf ein Jahr bestimmt waren, hatte man in der römischen Verfassungspraxis eine ursprünglich wirksame Kontrolle entwickelt. Im Gegensatz zu gewählten hohen Magistraten, deren Amtsgewalt im ganzen römischen Imperium gleichermaßen Geltung hatte, war die Gewalt von Promagistraten an einen bestimmten Aufgabenbereich gebunden. Die Begrenzung auf eine bestimmte Aufgabe bedeutete zumeist die Einschränkung auf eine genau umrissene geographische Region, eine Provinz oder einen Krieg in einer bestimmten Ecke des Imperiums. Die Ein-

12 App. Mithr. 428-32 (Übers. O. Veh): „Als schließlich die Römer den Schaden und die Schande nicht mehr länger ertragen konnten, bestellten sie auf Grund eines Gesetzes den Gnaeus Pompeius, ihren damals in höchstem Ansehen stehenden Mann, auf drei Jahre zum Feldherrn und zwar mit unbeschränkter Befehlsgewalt über das Meer innerhalb der Säulen des Herakles [also im gesamten Mittelmeer] und über die Küstengebiete 400 Stadien [ca. 75 km] landeinwärts. Sämtliche Könige, Dynasten, Völker und Städte aber erhielten die schriftliche Weisung, Pompeius auf jede Weise zu unterstützen. Außerdem verlieh ihm das Volk die Vollmacht, Truppen auszuheben und Gelder einzutreiben. […] Noch nie war vor Pompeius ein durch die Römer mit derart umfassender Befehlsgewalt ausgestatteter Mann zum Kampfe ausgezogen: Im Augenblick verfügte er über ein Heer von 120.000 Mann zu Fuß und 4.000 Mann zu Pferd sowie über 270 Schiffe einschließlich der Eineinhalbruderer. 25 Unterführer von senatorischem Rang, sogenannte Legaten, waren ihm beigegeben.“

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schränkung auf einen Aufgabenbereich wird etwa auch durch die Rechenschaftspflicht gegenüber dem Senat deutlich. Gewesene Promagistrate mussten darlegen, ob und wie sie ihre genau umrissene Aufgabe erledigt hatten. Sie konnten – anders als ordentliche Magistrate – auch ihres Amtes enthoben werden, wenn sie ihrer Aufgabe nicht, ungenügend oder gar verbrecherisch nachkamen. Die Einschränkung auf einen bestimmten Aufgabenbereich und die Rechenschaftspflicht waren die verfassungsrechtlichen Mittel, um die Macht von Promagistraten einzugrenzen. Wenn man sich nun vor Augen hält, was Pompeius im Krieg gegen die Seeräuber zugebilligt wurde, so wird schnell deutlich, dass dadurch die republikanischen Verfassungsprinzipien nahezu in allen Punkten verletzt wurden. Es konnte sich bei dem Auftrag an Pompeius nur um eine Promagistratur handeln. Mit der Terminierung auf drei Jahre war das Prinzip der Annuität verletzt – wenngleich dies zu jener Zeit bei Promagistraten nicht mehr die Ausnahme, sondern fast schon die Regel war. Was schwerer wog, war der nahezu unbegrenzte Aufgabenbereich, der Pompeius zugestanden wurde. Weder geographisch (das gesamte Mittelmeer und rundum ein Küstenstreifen von 75 km Breite), noch politisch (Verpflichtung aller verbündeten Völker, Könige, Staaten auf Pompeius), noch militärisch (überall sollte er unbegrenzt Truppen ausheben dürfen), noch finanziell (überall sollte er uneingeschränkt Gelder eintreiben dürfen) war sein Amt irgendwie eingegrenzt. Solch eine Machtfülle hätte sich gewiss mancher gewählte Konsul gewünscht, nun aber sollte ein Promagistrat – ohne Kollegen! – diese Macht erhalten. Mehr noch – mit der Zuordnung von nicht weniger als 25 Legaten (Unterführern) senatorischen Ranges wurde Pompeius auch sozial so deutlich hervorgehoben, dass es nicht wundert, wenn im Senat der Vergleich mit Romulus oder bei Appian das Bild vom 'König über Königen (gemeint sind die Legaten)' bemüht wurde. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass hier im Grunde alle, die Macht eines Magistraten oder Promagistraten einschränkenden Verfassungsprinzipien aufgehoben worden sind. Es folgte 66–62 v. Chr. das Kommando des Pompeius gegen Mithridates VI von Pontos in Kleinasien. Nach der Rückkehr von diesem überaus erfolgreichen Unternehmen, entfremdete sich Pompeius vom Senat. Wieder war er in der Gefahr, seinen politischen Einfluss zu verlieren. Nun zwang ein empfindlicher Engpass in der Getreideversorgung der Stadt Rom im Jahre 57 abermals zu drastischen Maßnahmen. Pompeius wurde die cura annonae, die Sorge für die Getreideversorgung, übertragen und zwar in Form eines fünfjährigen Prokonsulats mit imperium innerhalb wie außerhalb Italiens. Wieder einmal wurde er in einer Notsituation mit umfassenden Vollmachten ausgestattet. Wen wundert es denn dann noch, wenn genau dieser Mann im sogenannten ersten Triumvirat gemeinsam mit Caesar und Crassus die republikanische Ordnung aus den Angeln hob und im Jahre 52 consul sine collega, also oberster Magistrat ohne die Einschränkung der Kollegialität, war? Noch etwas ist bemerkenswert: An ganz entscheidenden Wendepunkten der Karriere des Pompeius spielte das Meer, die parasitäre Seeherrschaft und die institutionell ineffiziente Verwaltung derselben die ausschlaggebende Rolle.

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Die überseeischen Amtsträger und nicht selten die Flottenkommandeure verselbständigten sich also immer stärker, emanzipierten sich von ihrem eigenen Stand und entzogen sich der Kontrolle des Senats. Der Versuch, ein Reich rund ums Mittelmeer, im Inneren verbunden durch das Meer, mit der Verwaltungsstruktur der res publica zu verwalten, scheiterte in der späten römischen Republik sukzessive. Die parasitäre Seeherrschaft, wie sie von Rom während der Republik ausgeübt wurde, hatte zudem böse volkswirtschaftliche und soziale Folgen für die Untertanen in den Provinzen, aber auch für die Römer in Italien. Die Leiden der ausgeplünderten Provinzen beschreibt etwa Plutarch in der Vita des Lucullus, er meint zu der ehemals reichen Provinz Asia in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr.: „[Sie war] von unsäglichen und unglaublichen Leiden heimgesucht, indem sie von den Steuerpächtern und Wucherern ausgeräubert und geknechtet wurde.“ 13 Aber auch Rom und Italien blieben von den Auswirkungen der einseitigen Ressourcenflüsse nicht verschont. Zunächst gerieten Rom und Italien in eine gefährliche Abhängigkeit von Importen. Tacitus meint etwa: Und doch brachte wahrhaftig einst Italien seinen Legionen in entfernte Provinzen Nachschub, und auch jetzt hat man nicht unter Unfruchtbarkeit zu leiden, aber wir bearbeiten lieber den Boden in Africa und Ägypten, und den Wechselfällen der Schifffahrt ist das Leben des römischen Volkes anvertraut. 14

Aber auch innere soziale Folgen zeigten sich. Die Anhäufung des Reichtums in Händen der führenden Schichten Roms zog eine enorme Ausdehnung des Großgrundbesitzes in Italien nach sich. Davon war eine große Menge von Klein- und Mittelbauern betroffen. Appian berichtet davon: [Sie zogen] die angrenzenden Landstriche und was sonst an bescheidenem Grundbesitz armer Leute vorhanden war, an sich, teils durch Kauf unter gütlichem Zureden, teils durch gewaltsame Wegnahme. So konnten sie statt kleiner Güter ausgedehnte Latifundien bebauen, wofür sie dann Sklaven als Arbeiter und Hirten einsetzten […] So wurden die einflußreichen Persönlichkeiten steinreich und das Sklavenvolk nahm über das Land hin massenhaft zu, während die Italiker an Zahl und Stärke dahinschwanden und sich in Armut, Steuerabgaben und Feldzügen erschöpften. 15

Diese Armen bildeten dann in der Stadt die gefürchteten politischen pressure groups und die Armen auf dem Land die Militärklienteln – beides gefährliche Instrumente in den Händen von nach Macht strebenden Politikern. Die Armen erhofften sich von ihren jeweiligen Anführern eine Verbesserung ihrer persönlichen sozialen Lage, fühlten sich ihm persönlich, nicht mehr der res publica verpflichtet und bildeten somit die Grundlage für die brutalen Militärherrschaften eines Marius, Cinna, Sulla, Pompeius, Caesar, Antonius oder Octavian. Und die Spezialisierung in den – weitgehend mit Sklaven betriebenen – Großbetrieben auf die rentableren Produktionsformen Wein- Ölanbau oder extensive

13 Plut. Luc. 20 (Übers. K. Ziegler). 14 Tac. ann. 12,43 (Übers. E. Heller). 15 App. civ. 1,7 (Übers.: O. Veh).

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Tierzucht ging auf Kosten des Getreidebaus. Dies verschärfte die gefährliche Abhängigkeit von den überseeischen Importen abermals. Die diversen Unterbrechungen der Lieferungen übers Mittelmeer, etwa durch Seeräuberei oder durch kriegerische Handlungen, waren unmittelbar und empfindlich in Italien und besonders in Rom spürbar. 16 Doch nicht nur hinsichtlich der Lebensmittel, sondern ganz allgemein waren Rom und Italien vom Wirtschaftsraum Mittelmeer abhängig geworden. Sogar der Finanzmarkt geriet in Anhängigkeit von den überseeischen Provinzen. Cicero beschreibt eine Finanz- und Bankenkrise, die mit der Revolte des Mithridates VI. im Jahr 88 v. Chr. einherging: Wir wissen ja, daß damals, als in Asien sehr viele Leute große Summen verloren, der Kredit in Rom wegen der geminderten Zahlungsfähigkeit rar wurde. […] Glaubt mir, was ihr ja selbst einseht, daß unser Kreditwesen und Kapitalmarkt hier in Rom und auf dem Forum mit dem Geldwesen in Asien eng verflochten sind. Dieses kann nicht ruiniert werden, ohne daß die hiesige Finanzwirtschaft von derselben Erschütterung erfaßt wird und zusammenbricht. 17

Zusammenfassend kann zur Effizienz und Nachhaltigkeit der stadtstaatlich organisierten parasitären Seeherrschaft der Römer gesagt werden: Das politische System Roms desintegrierte sich sukzessive, der innere soziale Zusammenhalt zerbrach, insbesondere beim Senatorenstand, Partikularinteressen brachen sich Bahn und setzten gewaltige zentrifugale Kräfte frei und die auf Rom zentrierte mittelmeerweite Wirtschaft geriet in immer schwerer zu beherrschende Krisen. Die Ineffizienz des Versuchs, mit den politischen Strukturen und den Mentalitäten einer polis eine parasitäre Seeherrschaft zu gestalten, wird sehr augenfällig. Und es ist kaum ein Zufall, dass die Ordnung, die die res publica ablöste, der Prinzipat und die kaiserliche Reichsverwaltung, genau an diesen Punkten ansetzte: Die Kaiser waren im Prinzip Militärherrscher, die sich jedoch rechtlich in das Ämtersystem der Republik integrierten. Sie hielten lediglich mehrere republikanische Amtsgewalten, unter anderem die Befehlsgewalt über die Provinzen, in denen Militär stand, in Händen – und das nicht nur für ein Jahr, sondern dauerhaft. In dieser Weise dominierend, konnten die Kaiser sowohl den Senat als politisch agierendes Organ in den Ruhestand senden, als auch verhindern, dass sich weiterhin Partikularinteressen Bahn brachen. Insbesondere schufen sie eine den Anforderungen genügende kontinuierliche Reichsverwaltung mit Ressortbildung, straffer hierarchischer Führung und durchgängiger Kontrolle. Diese konnte dann auch eine ausgewogenere Verteilung der mittelmeerweiten Ressourcenflüsse – oder anders gesagt eine moderatere Ausbeutung der Provinzen – gewährleisten, 18 den inneren Zusammenhalt der römischen Bürger wiederherstellen und den ordnungspolitischen Rahmen für eine längere Phase des Wohlstandes und des wirtschaftlichen Wachstums setzen.

16 Vgl. etwa Cic. dom. 5. 17 Cic. imp. Cn. Pomp. 19 (Übers.: O. Schönberger). 18 Suet. Tib. 32,2: „Ein Hirte beweise sich als guter Hirte, wenn er das Vieh [die Schafe] schere und nicht die Haut über die Ohren ziehe“ (Übers. H. Martinet).

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Die Ausdehnung Roms im Mittelmeerraum erforderte eine selbstorganisierte Anpassung der politischen Institutionen. Dass diese Anpassung erst so spät und so schmerzhaft kam, mag verwundern, auf die lange Distanz gesehen kam sie aber doch und entwickelte für zwei bis drei Jahrhunderte eine bemerkenswerte Effizienz. In den angeführten Beispielen wurde gezeigt, dass antike Gesellschaften auf Veränderungen der politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen, die vom Kontakt zum Meer und von sich bildenden Seeherrschaften hervorgerufen worden waren, entweder mit einem Selbstorganisierungsprozess reagierten und adäquate Institutionen schufen, die eine bemerkenswerte Effizienz entwickelten – oder in den herkömmlichen inadäquaten Institutionen verharrten und deshalb mittelfristig scheiterten.

AMSTERDAM – EIN ZENTRUM DER ENTWICKLUNG DES EUROPÄISCHEN SCHIFFBAUS Heinrich Walle Amsterdam etablierte sich im 17. Jahrhundert während des „Goldenen Zeitalters“ der Niederlande zu einem Zentrum des europäischen Seehandels. Aus einer Sumpflandschaft aufgestiegen, wurde diese Stadt zum Knotenpunkt des europäisch-asiatischen Seehandels. Allein durch diese geographischen Voraussetzungen waren die in den niederländischen Küstenregionen siedelnden Friesen und späteren Niederländer darauf angewiesen, das Meer und den Fischfang als wichtige Ressource und Wasserwege als Verkehrs- und Handelswege zu nutzen. Damit war man in gewisser Weise traditionell mit Seefahrt und Schifffahrt überhaupt verbunden. Dass Amsterdam im 17. Jahrhundert zum wirtschaftlichen und geistigen Zentrum der Schifffahrt wurde und in diesem Jahrhundert mit dem Bau von ca. 40.000 Schiffen alle anderen europäischen Seefahrtsnationen übertraf, ist auch Ergebnis einer Jahrtausende langen Entwicklung des europäischen Schiffbaus. Europa, das war vom Altertum bis zur frühen Neuzeit die Landmasse um das Mittelmeer, die als „Oikumene“ ein Gebiet umfasst, das von den Säulen des Herkules, der heutigen Meerenge von Gibraltar im Westen, und im Osten vom Fluss Phasis, dem heutigen Rioni in Georgien am Fuße des Kaukasus begrenzt wird. Diese „Oikumene“ erstreckte sich von der iberischen Halbinsel bis zum Ostrand des Schwarzen Meeres. Bis zur Eroberung Konstantinopels am 29. Mai 1453 rechnete man auch die Länder der Süd- und Ostküste des Mittelmeeres zu Europa, während die Nordseeküste den nördlichen Abschluss bildete. Das Mittelmeer war Zentrum eines Wirtschafts- und Kulturraumes, der vom Schwarzmeergebiet bis zum Atlantik reichte. Ganz anders als in den Weiten des Atlantiks oder des Pazifiks war dieses Seegebiet als ein Randmeer mit technisch relativ „einfachen“ Mitteln und Methoden zu befahren, was im Laufe der Jahrtausende zu einem dichten Netz von Verkehrsverbindungen führte; denn wie bereits der Reisebericht des Apostels Paulus von Palästina nach Rom im Jahr 49 n. Chr. erwähnt, erreichte man im Mittelmeer selbst bei unsichtigem Wetter oder Sturm nach rund 14 Tagen immer eine Küste. Jede Darstellung einer Entwicklung des Austausches von Waren kommt nicht um die Feststellung herum, dass der Transport von Gütern mit einem Wasserfahrzeug, gleich welcher Konstruktion, mit dem geringsten Energiebedarf möglich ist. Wie gegenwärtig noch von der internationalen Schifffahrtsversicherung „Det Norske Veritas – Germanischer Lloyd DNV GL“ eindrucksvoll dokumentiert, gilt

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das in geradezu extremer Weise auch heute noch. Seit dem 19. Jahrhundert konnte man gegenüber dem Transport auf Landwegen mit der Eisenbahn weitere Energie sparen, während seit dem 20. Jahrhundert mit dem Luftverkehr das wohl energieaufwendigste Transportsystem entstanden ist. Damit ist Schifffahrt von den Anfängen im Altertum bis hin zur Gegenwart, vor allem auf Grund ihres günstigen Energiebedarfs, ein in entscheidendem Umfang die Entwicklung Europas mitprägendes Transportsystem und Kommunikationsmittel. Daher sind Wasserstraßen, ob Binnengewässer, Randmeere wie das Mittelmeer oder später die Ozeane, keineswegs trennende Grenzen, sondern Verbindungswege. Nicht von ungefähr bezeichnen Seeleute auch heute noch gelegentlich ihr Schiff als „Pott“ oder „Eimer“. Formgebung und Konstruktion eines Schiffes werden entscheidend von den hydrographischen Bedingungen seines Einsatzgebietes bestimmt. So entscheiden sich nach Form und Bauart Schiffe für den Einsatz auf Binnengewässern grundsätzlich von Seefahrzeugen. In gleicher Weise bestimmt das verfügbare Baumaterial die Konstruktion. Schiffe, die in Gebieten mit großen Wäldern gebaut wurden, unterscheiden sich in ihrer Konstruktion deutlich von solchen, die in waldarmen Gegenden entstehen. Bis zum heutigen Tage werden Formgebung und Konstruktion auch vom Verwendungszweck bestimmt. Schiffe zur Beförderung von Passagieren unterscheiden sich von solchen, die zum Transport bestimmter Ladungen gebaut werden, ganz zu schweigen von Kriegsfahrzeugen, bei denen in der Neuzeit das Schiff nur Trägerplattform der Bewaffnung und zusammen mit dieser selbst schwimmendes Waffensystem ist. Nicht zuletzt bestimmen später auch rechtliche Bestimmungen die Konstruktion, wie beispielsweise das Verfahren, die Abgaben für den Sundzoll nach der Größe des Oberdecks zu bemessen. Dies führte im 17. Jahrhundert dazu, bei der niederländischen Fleute das Oberdeck möglichst klein zu halten. Damit werden Form und Bau eines Schiffes von einer Vielzahl hydrographischer, technischer, wirtschaftlicher und politischer Voraussetzungen bestimmt. Der europäische Schiffbau lässt sich inzwischen durch Bodenfunde und zeitgenössische Bilddarstellungen seit fast 7.000 Jahren dokumentieren. Das Fundmaterial besteht aus einer Vielzahl von Wrackteilen. Funde gänzlich erhaltener Schiffe sind hier eher die Ausnahme. Zu den ältesten Funden gehören Einbäume aus der Zeit von etwa 5000 v. Chr. sowie Teile von Schiffen aus der Zeit von 3050 v. Chr, in Ägypten. Als Original hat sich eine Nilbarke von gut 43 m Länge erhalten, die in Einzelteile zerlegt, bei der Cheops-Pyramide gefunden wurde und um 2550 v.Chr. entstanden ist. Als weitere Beispiele von relativ vollständig erhaltenen Schiffsfunden sind hier noch das sog. Kyrenia-Schiff, ein kleines Hochseeschiff aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., die Funde römischer Flusskriegsschiffe von Oberstimm und Mainz aus dem 2. und 4. Jahrhundert n. Chr., das Handelsschiff von Laurons bei Marseille vom dem Ende des 3. Jahrhunderts. n. Chr., die Wikingerschiffe aus dem 7. bis 10. Jahrhundert n. Chr., die Hansekogge von Bremen von 1380 und schließlich die Wasa von Stockholm aus 1628 zu nennen. Alle zeitgenössischen Bilddarstellungen, von Felszeichnungen aus dem Altertum bis hin zu Darstellungen der bildenden Kunst oder Modellen, die als Votivschiffe für kultische Zwecke ent-

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standen, sind keine technischen Schiffsdarstellungen, wie sie als technische Zeichnungen und Werftmodelle seit dem 18. Jahrhundert angefertigt wurden. Um aus solchen Bildquellen technische Aussagen über das Aussehen oder konstruktive Details tatsächlich gebauter Schiffe zu gewinnen, bedarf es einer subtilen Quellenkritik, die immer auf einer interdisziplinär begründeten Betrachtungsweise beruhen muss. Geradezu Pionierarbeit hatte hier Paul Heinsius geleistet, der schon 1956 aus den Darstellungen der Hansekogge auf Stadtsiegeln konstruktive Einzelheiten ableiten konnte, die der Fund der Bremer Kogge von 1962 teilweise im Original bestätigte. Noch schwieriger gestaltet sich die Auswertung schriftlicher Quellen, da der handwerklich betriebene Schiffbau von antiken und selbst auch von mittelalterlichen Autoren, wenn überhaupt, dann oft nur indirekt thematisiert wurde. Bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielte Erfahrungswissen, selbst im modernen Großschiffbau, eine wichtige Rolle. Vom Altertum bis in die frühe Neuzeit war Schiffbau angewendetes Erfahrungswissen. Naturwissenschaftlich begründete Methoden, wie sie die Ingenieurwissenschaft inzwischen vermittelt, fanden im Schiffbau nur langsam und schrittweise erst seit dem 17. Jahrhundert Eingang. Die Schiffbauer wussten aus Erfahrung, dass ein stromlinienförmig gestalteter Schiffskörper funktional, d. h. seetüchtig und sicher war. Selbst für Binnenschiffe suchte man solche konstruktiven Lösungen. Ein stromlinienförmig gestalteter Körper erzeugt bei seiner Bewegung durch das Wasser wenig Verwirbelungen und benötigt daher eine geringere Energie für den Vortrieb. Andererseits musste der Schiffbauer, besonders für Frachtschiffe, einen möglichst voluminösen Schiffsrumpf bauen, um möglichst viel Ladung transportieren zu können. Dennoch wurden Bug und Heckpartien der Rümpfe tunlichst stromlinienförmig gestaltet. So besitzen die hier als Beispiele genannten Schiffsfunde Gestaltungselemente von Stromlinienformen, deren Effizienz von modernen Messmethoden durchaus bestätigt wird. Dass ein auf Erfahrungswerten beruhender Schiffbau gegenüber ingenieurwissenschaftlich angewandten Methoden nicht weit zurückstehen muss, zeigt sich am Beispiel der Entwicklung des sog. „Kriegsfischkutters“ von 1941. Zwecks Schaffung eines effizienten Standarttyps für ein Hochseefischereifahrzeug von 24 m Gesamtlänge (Die gleiche Länge wie die der Hansekogge von 1380) wurde von der Meierform GmbH in Wien nach hydromechanischen Versuchen eine Bootsform entwickelt, die in ihrer Effizienz den besten auf Erfahrungswissen konstruierten Typ eines Nordseefischkutters nur geringfügig übertraf. Wie bereits erwähnt, beruhte Schiffbau bis in die Neuzeit auf Erfahrungswissen, und wissenschaftlich begründete Methoden fanden erst sei der frühen Neuzeit und dann zunächst langsam und schrittweise Eingang. Ein grundlegender Fortschritt in der theoretischen Erfassung der Gestalt des Schiffskörpers war, dass die Schiffbauer die komplizierte dreidimensionale Form eines Schiffskörpers in zwei Ebenen darzustellen lernten: Nach Spanten- und Wasserlinienrissen konnte der Schiffskörper zunächst als ein Skelett von Spanten, d. h. Rippen, auf einem Kiel vorgefertigt werden. Durch Aufbringung der Außenhaut wurde danach der Schiffskörper vollendet. Diese Bauweise setzte sich im Großschiffbau erst seit dem 18. Jahrhundert durch. Vorher wurde der untere Teil des Rumpfes als Schale allein

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durch die Planken zusammengefügt. Durch nachträglich eingepasste Bodenwrangen als Querverbindungen zu den Planken erhielt man die nötige Festigkeit der Rumpfschale. Mit sog. Auflangern wurden dann Stützen für die weitere Beplankung errichtet. Aus Bodenwrangen und Auflangern entstand auf diese Weise ein Spant als durchgehende Rippe und Querverbindung des Rumpfes. Im niederländischen Schiffbau des 17. Jahrhunderts wurde, wie bei der Wasa von 1628 erkennbar, noch die Schalenbauweise (shell first) im Großschiffbau angewandt. Die Dominanz von Erfahrungswissen hatte zur Folge, dass Schiffe bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts immer Unikate waren. Selbst wenn diese unter Umständen bereits recht ähnlich aussahen, wurde eine Gleichförmigkeit, wie beispielsweise im Automobilbau des 20. Jahrhunderts, nicht erreicht. Damit können Schiffe zwar grundsätzlich nach Typen aufgrund gleicher Konstruktionsmerkmale unterschieden werden, aber bei Fahrzeugen aus dem vorindustriellen Zeitraum kann ein Fund, wie beispielsweise die Hansekogge von 1380, keineswegs als „die Kogge schlechthin“ verallgemeinert werden. Basil Greenhill, ehemals Direktor des Maritime Museum Greenwich und dort Begründer der schiffsarchäologischen Abteilung, vertrat die Auffassung, dass die Ausformung eines Schiffes zum schwimmfähigen Hohlkörper generell auf den Urformen: Floß, Fellboot, Rindenkanu und Einbaum beruhe. Er versuchte, diese Theorie an Hand von Vergleichen mit noch im 20. Jahrhundert beobachteten Schiffsund Bootsbauverfahren aus Gebieten Indiens, Arabiens und Afrikas als Übereinstimmung mit archäologischen Funden nachzuweisen. Als Urform eines Schwimmkörpers kann man in der Tat Flöße aus zusammengebundenen Stämmen ansehen, deren Tragfähigkeit durch untergespannte aufgeblasene Tierbälge erhöht wird. Fellboote, die aus einer Bespannung von Gerüsten aus Holz oder Knochen mit Tierhäuten bestehen, sind beispielsweise Kajaks bei den indigenen Völkern der Arktis. Moderne Kajaks, in ihrer Formgebung diesen Fellbooten sehr ähnlich, setzen diese Bauart aus Kunststoffteilen und durch Anwendung ingenieurwissenschaftlicher Methoden für Materialien und Fertigung als moderne Faltboote fort. Diese Fellboote sind auch in südskandinavischen Felszeichnungen und Schiffsbildern der bronze- und eisenzeitlichen Kunst des Ostseeraumes dargestellt. Man kann in ihnen durchaus die Anfänge des nordischen Schiffbaus sehen. An Hand von Arbeitsspuren an einem Ren-Geweih, welches bei Husum gefunden wurde, wird dieses als ältester stofflicher Nachweis für den Bauteil eines Fellbootes aus dem 9. Jahrtausend v. Chr. interpretiert. Funde von Überresten und bildlichen Darstellungen gab es auch in den Ländern südlich des Mittelmeeres. Rindenkanus aus Nordamerika und Kanada sind schiffbaugeschichtlich gesehen eine Sonderform, die heute nicht mehr aus Baumrinde, sondern oft in nahezu gleicher Formgebung als Sportboote und aus Kunststoff gebaut werden. Das vierte Prinzip, der Einbaum; ein ausgehöhlter Baumstamm fungiert als primitiver Schiffskörper, dessen Volumen durch seitlich angesetzte Planken zum eigentlichen Boot vergrößert wird, die ebenfalls aus Baumstämmen durch eine besondere Spalttechnik gewonnen werden. Auch dies kann durchaus als Urform für die Gestaltung eines Schiffskörpers mit einem zentralen Kiel angesehen werden.

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Floß und Einbaum als Urform korrespondieren durchaus als Urformen des Schiffbaus mit dem Plankenschiffbau. Ronald Bockius bemerkt, dass durch die Einführung des Bronzebeils seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. die Eiche zum bevorzugten Rohstoff für den Schiffbau wurde. Dieses Hartholz ließ sich mit dem neuen Werkzeug erheblich leichter als mit Steinwerkzeugen bearbeiten. Mit der bildhauerischen Gestaltung einer Bootsform aus einem massiven Baumstamm hat der Plankenschiffbau trotz handwerklicher Überschneidungen, so Bockius, eigentlich nichts zu tun. Planken wurden bis zum Mittelalter nicht durch Sägen, sondern mit einer Spalttechnik aus dem Stamm mit Äxten und Keilen gearbeitet. Je nach Wuchsart des Baumes, Feuchtegrad des Holzes, Stammschnitt und Formgebung lassen sich Planken nach Bedarf biegen. Am leichtesten geschieht dies längs in Faserrichtung. Die Erzeugung einer Schiffsform aus Planken wird so von deren Biegeverhalten bestimmt. Damit lassen sich Schwimmkörper mit harmonisch und elegant empfundenen Linien herstellen, die als stromlinienförmige Körper die hydrostatischen Eigenschaften, wie Widerstand und Reibung, vermindern. Ein besonderes Beispiel dafür ist der skandinavische Schiffbau seit Mitte des 1. Jahrtausends n. Chr. Kürzere Planken führten zu kastenförmigen Schiffskörpern, wie es der altägyptische Schiffbau zeigt. Entscheidend für die Technik des Plankenschiffbaus waren Verfahren der Verbindung der Planken miteinander und mit Querversteifungen in der Rumpfschale. Dabei entstanden Verbindungen durch Laschungen und Verzurrungen mit Fasern, mit denen die Hölzer regelrecht „vernäht“ wurden. Eine Besonderheit der Verbindung, vor allem von kleinteiligen Planken, wie sie beispielsweise im holzarmen Ägypten auch beim Bau von Möbelstücken Anwendung fand, war die Verbindung der Planken mit Nut und Federn, d. h., eine Verkeilung mit kleinen durch Holzdübel fixierten Brettchen, die in Nuten lagerten. Die Verbreitung der Nut und Feder-Technik zur Verbindung von Hölzern konnte Ronald Bockius nach archäologischen Funden bis nach China nachweisen, und dieses Verfahren wurde im mediterranen Schiffbau bis zur Spätantike praktiziert. Nach Funden aus Ägypten, die man auf 3050 v.Chr. datiert, verbreitete sich der Plankenschiffbau, wie der archäologische Befund zeigt, seit dem frühen zweiten Jahrtausend v. Chr. über das ganze Gebiet der Oikumene, d. h. vom Mittelmeerbereich bis nach England und Wales. Felsritzungen an der norwegischen Küste aus der späten Steinzeit zeigen kastenförmige Boote, die mit Tierfellen bespannt waren. Das ist die archäologische Quelle für die Existenz von Fellbooten im Norden der Oikumene, d. h. in Südskandinavien. Man diskutiert, ob in Funden aus der Zeit um 5000 v.Ch. der Anfang der Entwicklung zu hochseefähigen Wikingerschiffen im Einbaum, dem auf der ganzen Welt verbreiteten Ur-Boot, zu sehen ist. Nach Funden von 2500 v. Chr. gab es bereits Boote, die aus einem aufgespreizten Einbaum mit an dessen Seitenwänden aufgesetzten, sich dachziegelartig überlappende Planken bestanden. Man nimmt heute an, dass in Südskandinavien am Anfang das Fellboot stand und in der jüngeren Steinzeit schrittweise das Fell durch Planken ersetzt wurde. Das geschah, wie die Felsritzungen nahelegen, an Orten, wo Wald und schiffbare Gewässer nahe beieinanderlagen. Auch hier wurden die Planken mit Darm oder Bast zusammengenäht und die Verbindung danach durch Holzstifte verstärkt. Der waldreiche Norden lieferte Eichen, aus denen sich Planken von über

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20m Länge herstellen ließen. Durch die dachziegelartig überlappenden Planken konnten damit in der so genannten Klinkerbauweise schlanke, elegant geformte, Schiffe mit harmonischen, d. h. stromlinienförmigen Linien gebaut werden. Beim Nydam-Boot, einem Kriegsfahrzeug von 320 n.Chr. mit Planken von knapp 23 m Länge, findet sich erstmals eine Verbindung der Planken an ihrer Überlappungsseite durch eine besondere Form von Eisennieten. Die Klinkerbauart verlieh der Rumpfschale eine hohe Festigkeit. Höhepunkte dieses skandinavischen Schiffbaus, einer Variante des Plankenschiffes, waren dann die zwischen 800 und 1000 entstandenen Wikingerschiffe. Im Siedlungsraum der Friesen, dem Gebiet der Nordseeküste von der Rheinmündung bis zur Elbe, entwickelte sich eine andere Form des Plankenschiffs. Geeignet für diese Tidengewässer entstanden mit ihren auf Stoß gesetzten und sich nicht wie in der Klinkerbauweise dachziegelartig überlappenden Planken in der Kraweelbauweise Schiffe mit flachem Boden, die bei Ebbe problemlos trockenfallen konnten und nicht umkippten. Damit bestimmte das Einsatzgebiet eine hierfür angepasste Schiffsform. Es entstanden flachbodige, kiellose und deshalb Wattenmeer taugliche Handelsschiffe. Diese flachgehenden Fahrzeuge waren aber auch für die Verwendung auf Flüssen geeignet und dienten dem Verkehr ins Binnenland. Um 900 n. Chr. finden sich im dem Gebiet des Niederrheins erste historische Quellenangaben über einen Schiffstyp, der dort als „cog“ bezeichnet wird. Über Funde aus der gleichen Zeit von „Sinteln“, d. h. Kalfatklammern, mit denen die Kalfaterung zur Abdichtung der Zwischenräume der Planken aus Werg und Holzteer fixiert wurde und die für die spätere „Kogge“ charakteristisch waren, lässt sich ein Entwicklungszweig dieses neuen Schiffstyps im friesischen Raum verfolgen. Über Kontakte friesischer Händler mit skandinavischen Kaufleuten muss diese friesische Schiffbautradition in den Ostseeraum gedrungen sein, wo man Seeschiffe nach der skandinavischen Bautradition fertigte. Forderungen nach einem Schiff von höherer Ladekapazität als Folge des stetig wachsenden Warenaufkommens und einer beginnenden Knappheit von Bauholz, verursacht durch den erheblichen Holzabfall bei der Herstellung der radial aus den Eichenstämmen gespaltenen Planken, waren wirtschaftliche und materiell bedingte Gründe für die Entstehung eines neuen Schiffstyps. Aus einem Wattenmeer tauglichen Küstenschiff vollzog sich hier der Entwicklungsschritt zu einem hochseefähigen Handelsschiff. Auf das Jahr 1100 konnte der Fund einer „Proto-Kogge“ unter der Schlachte im Hafengebiet von Bremen datiert werden. Es handelt sich um Reste eines Schiffes, das auf der Basis eines flach ausgehöhlten Eichenstammes mit seitlich aufgesetzten Planken und einem Heckruder ausgerüstet war. Diese Protokogge, das „Bremer Schlachte-Schiff“, gilt als das weltweit erste Schiff dieses Typs. Frühe Koggen des 12. Jahrhunderts waren Schiffe mit geklinkerten Bordwänden und kraweel gebautem flachen Boden. Sie besaßen einen bauchigen Rumpf und einen durchgehend großen Laderaum. Für die Kogge typisch, bestanden die Plankenverbindungen aus „Spiekern“, doppelt umgeschlagenen eisernen Nägeln. Die Nähte der Kalfaterung, d. h. der Abdichtung der Plankenzwischenräume, wurden durch die koggentypischen Sinteln geschlossen.

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Die Planken waren nun Abfall sparend zunächst noch tangential, und nicht mehr radial aus den Stämmen gespalten. Ab dem 13. Jahrhundert wurden sie zunehmend als Bohlen aus den Stämmen gesägt. Ein weiteres Kennzeichen der Kogge waren der aufragende Vorsteven und das am Achtersteven befestigte Ruder, für dessen Vorkommen am Bremer Schlachte-Schiff von 1100 das wohl früheste archäologische Zeugnis ist. Seine Verbreitung aber ist seit dem 13. Jahrhundert auch aus bildlichen Darstellungen dieser Zeit bekannt. Der wohl am vollständigsten erhaltene Koggenfund dürfte immer noch der Fund der Bremer Kogge aus dem Jahr 1962 sein. Dendrochronologische Untersuchungen geben als Entstehungsjahr 1380 an. Somit war dieses Schiff ein Exemplar des bedeutendsten Schiffstyps für das Spätmittelalter, welches sozusagen als „Lastesel der Hanse“ ein entscheidendes Mittel zum Erfolg dieser Handelsmacht gewesen ist. Spätmittelalterliche Koggen vermaßen etwa 20 bis 30 m Länge, bei einer Breite von 5 bis 8 m. Ihre Tragfähigkeit von 40 bis 100 Lasten entsprach einem Ladegewicht von 80 bis 200 Tonnen. Als einmastige Segler mit einer Segelfläche von ca. 200 m2 konnten sie bei mäßigen Windstärken 3 bis 6 kn laufen. Sie waren damit schneller als Fuhrwerke an Land und bezüglich ihrer Ladekapazität diesen weit überlegen. Durch Kontakte zur Handelsschifffahrt aus dem Mittelmeer mutiert die Kogge im 15. Jahrhundert zu einem neuen Schiffstyp, dem Holk, Kraweel oder der Karacke. Durch Abkehr von der Klinkerbauweise und Übergang zum Kraweelbau für den gesamten Rumpf konnte man nun durch die stoßweise Anfügung der Planken die Plankengänge verlängern und aus Teilstücken zusammensetzen. Hinzu kamen noch die Ausformungen der Querverbindungen zu vollständigen Spanten. Das ermöglichte den Bau größerer Schiffe, wobei auch die Segelfläche vergrößert wurde, deren Handhabung durch den Übergang zu Takelagen mit mehreren Masten und später zur Aufteilung der Segelfläche an einem Mast auf mehrere Segel erhalten blieb. Die mittelalterliche Hanse war die größte Handelsorganisation, in der Städte in den östlichen Niederlanden eine Rolle spielten. Sie unterhielten Handelsverbindungen nach Städten an der Ostseeküste, dem Baltikum und Skandinavien. Aus den Niederlanden wurden dorthin Heringe, Wolle und Tuche exportiert, während Leder, Felle, Holz, Harze, Holzkohlenteer, Wachs, Talg, Eisen, Kupfer, Stockfisch, Hanf und Alaun importiert wurden. Seit dem 16. Jahrhundert unterliefen Kaufleute aus Seeland und Holland zunehmend die Monopolstellung der einst so mächtigen Hanse. Sie erhielten Handelsprivilegien der dänischen und schwedischen Könige. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts hatte sich der Schwerpunkt des Fernhandels in die niederländischen Westprovinzen verschoben. Dies führte unter anderem auch zum Aufstieg von Amsterdam als Hafen- und Handelsstadt. Für ein Land, das darauf angewiesen war, Grundnahrungsmittel, wie Getreide, durch Importe zu beschaffen, hatten niederländische Händler bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts Verbindungen zu den Kornmärkten von Danzig und anderen Ostseestädten aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt erhielt Amsterdam eine entscheidende Funktion der Weiterverteilung dieser Getreideimporte in andere Länder. Die niederländischen

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Provinzen verfügten außer ihren seit langem bestehenden Handelsverbindungen in den Ostseeraum zusätzlich über ihre Anbindung an den Rhein als effizienten Handelsweg und damit einen Zugang zu den waldreichen Gebieten Mitteleuropas. So konnten über Fluss- und Seewege für den Schiffbau notwendige Materialien, wie Holz, Flachs, Hanf und Teer in großem Umfang eingeführt werden. Verbesserungen der Arbeitsorganisation hatte eine Verbilligung und Steigerung des Schiffsbaus zur Folge. Die Erfindung der mit Windkraft betriebenen Holzsägemühlen von 1591, mit denen massenweise Schiffsplanken aus Stämmen gesägt werden konnten, gehörte zu den betrieblichen Verbesserungen, welche die Produktivität des Schiffbaus nachhaltig förderten. Der durch den Handel geschaffene Wohlstand hatte den sensationellen Aufstieg der Niederlande zur Seemacht zur Folge. Das führte zu einer Expansion des Schiffbaus in den Werften von Amsterdam und seiner Umgebung sowie zum Ausbau einer ausgedehnten Infrastruktur von Wasserwegen in Verbindung mit Kanälen, Deichen und Schleusen. Die als Folge dieses Wohlstandes 1602 in Amsterdam von am Ostindienhandel beteiligten holländischen und zeeländischen Gesellschaften zu einem Monopol gegründete „Vereenigde Oost Indische Compagnie“ (VOC) war sozusagen eine regelnde Behörde. Als konzessionierte Aktiengesellschaft waren ihr von den Generalstaaten souveräne Rechte übertragen. Eine weitere, und für die Expansion des Handels unverzichtbare Folge, war die Entstehung eines Bankensystems, wodurch Amsterdam im 17. Jahrhundert zum zentralen Umschlagplatz europäischer Kapitaltransfers wurde. Seit der Gründung der VOC im Jahr 1602 verkehrten niederländische Schiffe weltweit. Außer den bereits bestehenden Verbindungen zu Häfen in der Ostsee und nach Skandinavien, wurde der Handelsverkehr mit Spanien und Portugal und den Mittelmeerländern ausgebaut. Neu waren Verbindungen über den Atlantik nach Nordamerika und Brasilien. Über den Atlantik segelten niederländische Schiffe auch nach Westafrika und durch den Indischen Ozean nach Indonesien, wo der VOC der Aufbau eines niederländischen Kolonialgebietes gelang, das erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges seine Unabhängigkeit vom niederländischen Mutterland errang. Dies war die Grundlage für ein von Europa ausgehendes Welthandelsnetzwerk. Mitte des 17. Jahrhunderts war Amsterdam zum weltgrößten Hafen geworden und hatte Handelsbeziehungen mit 625 ausländischen Häfen. Grundlage dieser Entwicklung war die Verfügbarkeit einer Flotte von zahlreichen Schiffen unterschiedlicher Größe und Bauart. Die niederländische Schifffahrt bestand im 17. Jahrhundert aus einer Kriegsflotte und einer Vielzahl von Handelsschiffen jeder Größe von kleinen Frachtkähnen auf den Binnenwasserstraßen bis hin zu den großen nach Java und China segelnden Ostindienfahrern. Durch diese Aufteilung in Kriegs- und Handelsschiffe konnte die niederländische Handelsschifffahrt, vor allem in den von der Piraterie nicht mehr bedrohten europäischen Seegebieten, mit nahezu unbewaffneten Schiffen betrieben werden. Sie benötigten unbewaffnet weniger Personal und waren auch vom Bau her gesehen kostengünstiger. Als wichtigste Quelle für den niederländischen Schiffbau des 17. Jahrhunderts gilt das 1671 in Amsterdam erschienene Werk, in dem Nicolaas Witsen (1641–

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1717), Bürgermeister und Regent von Amsterdam und Mentor des Zaren Peter I. von Russland, den niederländischen Schiffbau darstellt. Wie der Gesellenbrief des Zaren Peter der Große ausweist, der 1697 auf der Werft des VOC in Amsterdam, am Bau der russischen Fregatte Peter und Paul mitgearbeitet hatte, wurde Schiffbau damals rein erfahrungsmäßig betrieben. Der Gesellenbrief bescheinigte nur praktische Fertigkeiten und keine Kenntnisse theoretischer bzw. physikalischer Grundlagen. Der Auftraggeber bestimmte der Werft den Bau eines Schiffes nach Typ und Größe. Diese richtete sich nach der Länge des Kiels. Die Abmessungen und Formen aller Bauteile wurden nun von den Schiffbauern nach einem System von erfahrungsmäßig festgelegten Proportionen dimensioniert. Die Fertigung einer Konstruktionszeichnung nach Spanten- und Linienrissen war noch nicht üblich. Da sich die niederländischen Häfen alle im Bereich von Tidengewässern befanden, deren Wassertiefe bei Ebbe u. U. sehr gering war, bauten die niederländischen Schiffbauer im Gegensatz zu ihren Kollegen aus England und Frankreich selbst die größten, nach Übersee verkehrenden Schiffe, mit möglichst geringem Tiefgang. Kleinere Schiffe, wie Küstensegler und Schiffe für den Verkehr auf Binnenwasserstraßen wurden als sog. Plattbodenschiffe gebaut, welche problemlos bei Ebbe trockenfallen konnten. Zur Verminderung der Abdrift beim Segeln trugen sie Seitenschwerter. Diese Bauart hat sich bis ins 20. Jahrhundert erhalten, wobei seit Ende des 19. Jahrhunderts in den gleichen Formen diese Fahrzeuge aus Eisen und dann aus Stahl gebaut wurden. Nach der Kiellegung wurde der untere Teil des Rumpfes als Schale gebaut. Aus den der Querfestigkeit dienenden Bodenwrangen wurden danach durch Ansetzen von Auflangern die Spanten als Träger der Außenhaut errichtet. Große Hochseeschiffe, wie Linienschiffe und Fregatten oder auch die Ostindienfahrer waren dreimastige Rahsegler zwischen 45 und 55 m Länge, deren Aussehen dem der Galeonen entsprach, wie sie damals von europäischen Seefahrernationen gebaut wurden. Die „Pinasse“ war ein vom Aussehen der Galeone ähnliches Schiff von knapp 40 m Länge und wurde als Stückgutfrachter verwendet. Die „Fleute“ war ein in den Niederlanden entstandenes dreimastiges Handelsschiff von großer Ladefähigkeit und geringem Tiefgang. Im 17. Jahrhundert war es das für die Europäische Fahrt und hier vor allem im Verkehr nach den Ostseehäfen bevorzugte und am meisten verbreitete Handelsschiff, mit dem vor allem Massengüter transportiert wurden. Charakteristisch für die Fleute, deren Länge zwischen 28 m und 36 m lag, war das bewusst schmal gehaltene Oberdeck, das dem Schiffsrumpf ein „flötenähnliches“ Aussehen gab, daher der Name. Mit dieser Bauform sollten die Abgaben des bei Kopenhagen erhobenen Sundzolls niedrig gehalten werden, deren Höhe sich nach den Ausmaßen des Oberdecks der passierenden Schiffe richtete. Die Fleute war ein reines Handelsschiff und diente keinen repräsentativen Zwecken, weshalb eine aufwendige Verzierung entfiel. Durch die Verwendung standardisierter und arbeitsteilig organisierter Fertigungsmethoden sowie mit ihren kleinen Besatzungen von je nach Größe 8 bis 22 Mann, war dieser Schiffstyp ausgesprochen wirtschaftlich. Man kann davon ausgehen, dass die Fleute nach

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der Kogge der zweite nordische Schiffstyp war, der später auch dem mediterranen Schiffbau zum Vorbild diente. Die „Kat“ war ein weiterer Schiffstyp aus den Niederlanden, der im 17. Jahrhundert als flachbodiges Schiff für den Transport von Langholz aus dem Baltikum als Rohstoff für Rundhölzer, wie Masten und Rahen eingesetzt wurde. Das zumeist aus Nadelholz sehr preiswert gebaute Gebrauchsfahrzeug von ca. 33 m Länge war nach den Angaben von Nicolaas Witsen nicht für schwere Frachten, wie Getreide oder Eisenerz geeignet. Die „Herings-Buise“ war ein Ende des 16. Jahrhunderts in den Niederlanden entstandenes Fischereifahrzeug für den Heringsfang. Mit einer Besatzung von 20 bis 30 Mann konnte das 18 bis 19 m lange Schiff mit drei umlegbaren Masten zwei Monate lang auf See bleiben und dabei den Fang in mitgenommenen Fässern und Salz konservieren. Dadurch konnte der Handel mit Heringen von den Niederländern dominiert, und der auf See bereits verarbeitete und haltbar gemachte Fang bis nach Süddeutschland verfrachtet werden. Im Grunde genommen war die Herings-Buise eine Frühform heutiger schwimmender Fischfabriken, die ebenfalls ihren Fang auf See marktfertig verarbeiten. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstanden in den Niederlanden Beiträge zur Navigation. Es war vor allem die Entdeckung praktischer Segelrouten auf dem Weg in die ostindischen Kolonialgebiete. Im Gegensatz zu den von portugiesischen Seefahrern benutzten Routen wählte 1611 der Kaufmann und spätere Generalgouverneur der VOC, Hendrik Brouwer, einen anderen Weg. Ohne auf Einzelheiten näher einzugehen, nutzte Brouwer die in der Kapregion vorherrschenden Westwinde, um hier zwischen dem 35. und 40. Breitengrad die Länge von etwa 1.000 Seemeilen nach Osten abzusegeln und dann nach Norden auf den Indonesischen Archipel abzuhalten. Damit umging man die Windstillen in den Mallungen und verkürzte die Reisedauer. Die VOC übernahm 1617 diese Route in ihre Segelanweisungen und legte sie verbindlich fest. Niederländische Mathematiker konnten durch Messungen das Gradnetz der Erde genauer bestimmen, und mit Beginn des 17. Jahrhunderts entstanden wichtige Werke der nautischen Kartographie, die hauptsächlich in Amsterdam verlegt wurden, wo sich seit Beginn des 17. Jahrhunderts zahlreiche Fachverlage für Land- und Seekarten niedergelassen hatten. Die Familie Blaeu veröffentlichte in Amsterdam in ihrem Verlag Segelhandbücher mit Küstenbeschreibungen, welche zahlreiche Auflagen hatten. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts sollten niederländische Kartographen ihre Führungsposition behalten, die dann von Engländern und Franzosen eingenommen wurde. Vom 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts war die Schifffahrt der Niederlande in Europa führend. Das betraf vor allem den Schiffbau, der in dieser Zeit mit einer Jahresproduktion von 400 bis 500 Schiffen einen später nicht mehr übertroffenen Spitzenwert erreichte. Außer privaten Handelsgesellschaften orderten nahezu alle westeuropäischen Staaten bei niederländischen Werften Schiffe. So beauftragte der schwedische König Gustaf Adolf II. niederländische Schiffbauer mit dem Bau der Wasa. Die Konvoy-Schiffe der Hamburgischen Admiralität wurden von niederländischen Schiffbauern gebaut, so wie auch der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm

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von Brandenburg für seine Flotte Schiffe aus den Niederlanden beschaffte. Der niederländische Walfang in der Arktis, ebenfalls ein damals bedeutender Wirtschaftsfaktor, beschäftigte zahlreiche Seeleute aus Ostfriesland, wie nautische Publikationen aus den Niederlanden bei deutschen Nautikern bis zum Ende des 19. Jahrhunderts aus Gründen der Verwandtschaft des Plattdeutschen mit der niederländischen Sprache mehr als andere in Gebrauch waren. Zwar nahm die Bedeutung der Niederlande in der Schifffahrt seit Mitte des 18. Jahrhunderts im Vergleich zu anderen europäischen Seemächten ab, dennoch erlangte diese europäische Nation mit der Entdeckung des „barischen Windgesetzes“ 1857 durch den niederländischen Physiker Christoph Buys Ballot (1817–1890) als Grundlage der modernen Meteorologie gerade in der Seefahrt weltweite Beachtung. Mit Hilfe von Barometerständen konnten Seeleute das Zentrum einer Zyklone bestimmen und dadurch ihr Schiff aus dem gefährlichen Sektor eines Sturmtiefs heraus manövrieren oder als Segler ihren Kurs optimieren. Die hier skizzierte Jahrtausende lange Entwicklung des Schiffbaus hatte in der vorindustriellen Zeit im „goldenen Zeitalter der Niederlande“ vom 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts weltweit und damit für Europa führend ihren Höhepunkt erreicht. Durch den wirtschaftlichen und machtpolitischen Aufwuchs von Frankreich und Großbritannien mit ihrem Vordringen nach Übersee wurden die Niederlande später von ihrer führenden Stellung verdrängt. Die seit Mitte des 18. Jahrhunderts vor allem in England einsetzende Industrialisierung hatte mit dem Übergang vom Holz- zum Eisen- und dann zum Stahlschiffbau im späten 19. Jahrhundert eine grundlegende Umwälzung des Schiffbaus zur Folge. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurden noch konstruktive Elemente des Holzschiffbaus mit den neuen Materialien fortgeführt. Das wird vor allem im niederländischen Binnen- und Küstenschiffbau deutlich, in dem traditionelle, aus dem Holzschiffbau entwickelte Formgebungen in Gestalt der sog. „Plattbodenschiffe“ aus Eisen und Stahl bis ins 20. Jahrhundert fortgeführt wurden. Durch die in den USA und Deutschland in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts eingeführte Sektionsbauweise erhielt der Schiffbau seine bisher letzte umfassende konstruktive Fortentwicklung. Der am Ijssel-Meer gelegene Hafen Amsterdam steht durch seine Blütezeit vom 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts symbolhaft für den Höhepunkt der Entwicklung des europäischen Schiffbaus mit seinen vielfältigen Verknüpfungen im europäischen Schiffbau und weltweiter Seefahrt, deren Bedeutung für „Europa und das Meer“ bis heute spürbar und nicht zu unterschätzen sind. WEITERFÜHRENDE LITERATUR Ronald Bockius, Schifffahrt und Schiffbau in der Antike, Stuttgart 2007. Philipp M. Bosscher, Zeegeschiedenis van den Lage Landen, Bussum 1975. Philipp M. Bosscher, Een nuchter Volk en de Zee, Beeldverhaal van des Nederlndse Zeegeschiedenis, Bussum 1979. Basil Greenhill / John Morrison, The Archaeology of Boats & Ships. An Introduction, London 1995. Paul Heinsius, Das Schiff der hansischen Frühzeit, 2. bearb. Aufl., Köln/Wien 1986.

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DAS PROBLEM DER ARBEITSORGANISATION IM SCHIFFBAU Zur Raum- und Sozialordnung der Werft Christian Ebhardt 1982 – mitten während der sogenannten Werftenkrise – kam eine breit angelegte soziologische Studie zur Arbeit auf norddeutschen Werften zu einem bemerkenswerten Schluss: „Der Stahlschiffbau gehört zu den wenigen Branchen, die sich, im Wesentlichen bedingt durch die Individualität, Komplexität und Größe des Produkts, einer Industrialisierung lange Zeit entzogen haben“. 1 Diese Feststellung verwundert insofern, als wir uns hier in einem Zeitraum bewegen, der von Zeithistorikern zumeist im Kontext des Strukturwandels und des Strukturbruchs, im Bereich der Wirtschaft wahlweise auch der De-Industrialisierung oder des Übergangs in ein „post-fordistisches“ System in weiten Teilen Westeuropas behandelt wird. Dieser Einordnung müsste logischerweise eine wie auch immer geartete Phase der Industrialisierung vorgeschaltet gewesen sein. Die Bewertung des ab den 1970er Jahren einsetzenden Transformationsprozesses ist zwar weiterhin Gegenstand umfangreicher Debatten, das grundlegende Element dieser Umbruchsphase wird hingegen kaum in Abrede gestellt. Dies trifft auf den (europäischen) Schiffbau in besonderem Maße zu, der sich nach einer ausgeprägten Wachstumsphase seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einem Prozess umfangreicher Kapazitätsreduktionen, zahlreicher Betriebsschließungen und zum Teil drastischer Arbeitsplatzverluste befand. Die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatten über die Zukunft menschlicher Arbeit haben in den vergangenen Jahren im Kontext fortschreitender Globalisierung und sich immer rascher entwickelnder Digitalisierung deutlich zugenommen. Im Zuge dieser Intensivierung öffentlicher Debatten ist auch die Geschichte der Arbeit wieder verstärkt in den Fokus von Historikern gerückt. 2 Die Globalisierung als dominierendes Phänomen der letzten Jahrzehnte hat darüber hinaus dazu geführt, dass sich auch dieser Forschungsbereich aus den Grenzen natio-

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Michael Schumann / Edgar Einemann / Christa Siebel-Rebell / Klaus Peter Wittemann (Hgg.), Rationalisierung, Krise, Arbeiter. Eine empirische Untersuchung der Industrialisierung auf der Werft (1). Frankfurt am Main 1982, 9. Lutz Raphael, Life Cycle and Industrial Work. West German and British Patterns in Times of Globalisation, in: German Historical Institute London Bulletin (2016), 23–45, hier 23.

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naler Untersuchungshorizonte heraus geöffnet hat. Gleichzeitig hat die Fachrichtung aus angrenzenden Bereichen, etwa der sozial- und kulturgeschichtlich interessierten Technikgeschichte neue Impulse und geänderte Blickwinkel erfahren. Viele dieser Arbeiten befassen sich mit dem Verhältnis menschlicher Arbeit und technischer Rahmenbedingungen und deren wechselseitiger Determinanten. 3 Auch die Geschichte der Arbeit im industriellen Schiffbau ist aufs engste mit der technischen Entwicklung seiner Produktionssysteme verbunden. Der moderne Schiffbau unbenommen Strukturwandels eine Hochtechnologiebranche mit starker wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Prägekraft für die Küstenregionen Norddeutschlands, die aus einer langen Tradition herrührt. Der industrielle Schiffbau hat seinen Ursprung im 19. Jahrhundert in einer komplexen Gemengelage unterschiedlicher Faktoren. Angefangen bei der deutlichen Zunahme des Transatlantikhandels und der Auswanderung über neue Formen der Finanzierung bis hin zu technischen Innovationen reicht die Spannbreite der Antriebskräfte, die den Übergang vom Holz- zum Stahlschiffbau und vom Segel zu maschinellen Antrieben forcierten. Mit diesem Übergang vollzog sich auch der Wandel vom handwerklichen zum industriellen Schiffbau. In Deutschland kamen weitere Impulse mit der Reichsgründung von 1871 in Form staatlicher Aufträge und Subventionen hinzu. Sie betrafen zunächst die Marinerüstung – die zu einem beträchtlichen Teil von privaten Werften übernommen wurde –, um nur wenig später auch den zivilen Schiffbau voran zu treiben .Die ersten industriellen Werften entstanden so an den Nord- und Ostseeküsten des Deutschen Reiches im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs war das Deutsche Reich zur drittgrößten Schiffbau-Nation hinter dem mit überwältigenden Anteil führenden Großbritannien und den USA aufgestiegen. Nach Rückschlägen durch die Weltkriege und die Krisen der Zwischenkriegsjahre setzte nach 1945 ein Boom insbesondere im Frachtschiff- und Tankerbau ein, der mit den Ölkrisen der 1970er Jahre jedoch in eine globale Schiffbaukrise umschwenkte. In Deutschland setzte der Schiffbau als Reaktion auf die erstarkende Konkurrenz in Ostasien – allen voran Japan, in jüngerer Zeit auch Südkorea und China – fortan auf Nischenprodukte wie Spezialschiffe, Großyachten, Kreuzfahrtschiffe und Marineschiffbau. 4 Technikhistorisch betrachtet entwickelte sich der Schiffbau von einem handwerklichen Gewerbe mit dem Helgen als zentralen Bauort hin zu einer modernen Montageindustrie mit einer relativ geringen Fertigungstiefe. In Westeuropa war dieser Prozess im Zuge der De-Industrialisierung mit der Konzentration auf hochwertige Schiffe besonders ausgeprägt. Gleichzeitig hat die Globalisierung auch dadurch die schiffbauliche Fertigung nachhaltig beeinflusst, dass Outsourcing und

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Vgl. Martina Heßler, Kulturgeschichte der Technik (Historische Einführungen 13). Frankfurt am Main 2012, 38–71. Thorsten Ludwig / Florian Smets / Jochen Tholen (Hgg.), Schiffbau in Europa. Panelstudie 2008; Studie im Auftrag von Otto-Brenner-Stiftung, Hans-Böckler-Stiftung und Community of European Shipyards’ Associations (CESA) (OBS-Arbeitsheft 59) 2009, 4.

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weltweite Lieferketten dramatisch zugenommen haben. Die Digitalisierung wiederum hat nicht nur in den Entwurfs- und Konstruktionsabteilungen Einzug gehalten, wo unter Verwendung von CAE/CAD Software wesentlichste Arbeitsschritte in den „virtuellen Raum“ verlagert wurden. 5 Unter dem Schlagwort Industrie 4.0 wird auch die Automatisierung und Robotisierung der schiffbaulichen Fertigung weiter zunehmen. Computergestützte Schweiß- und Brennroboter sind in vielen Fällen schon die Regel. Schwere körperliche Arbeit ist dadurch zwar nicht von der Werft verschwunden, wurde jedoch deutlich reduziert. Um die aktuelle Situation des Schiffbaus in Deutschland einordnen zu können, ist es jedoch notwendig zu verstehen, wie er sich historisch entwickelt hat. Der Befund einer nur teilweisen Industrialisierung, wie er in dem einleitenden Zitat aufgeworfen wird, ist erst dann verständlich, wenn man sich die Mikroperspektive der Studie mit ihrem Fokus auf Arbeitsprozesse im Werftalltag vergegenwärtigt und einnimmt. Hier entwirft sich tatsächlich ein Bild der Arbeitsorganisation, das stark vom „fordistischen“ Ideal der Massenproduktion und Fließbandfertigung abweicht und durch die Einzelfertigung eines hochkomplexen Produktes geprägt war. Dieser Umstand bedeutet jedoch nicht, dass der Schiffbau, wie er bis dato in Deutschland und im Wesentlichen in ganz Westeuropa betrieben wurde, rückständig war und sich die am Werftbetrieb beteiligten Gruppen nicht mit Fragen der Produktionstechnik und Arbeitsorganisation befasst hätten. Die Durchsetzung der industriellen Disziplin ist eines der Grundprobleme der modernen Unternehmensführung, die sich im Zuge der Entwicklung industrieller Großunternehmen mit fortschreitender Arbeitsteilung und verstärktem Maschineneinsatz des ausgehenden 19. Jahrhunderts entwickelte. Die Disziplinierung der anwachsenden Arbeiterschaft war aus der Sicht der Unternehmensführungen allein schon deswegen notwendig, um eine bestmögliche Ausnutzung der Maschinenparks zu garantieren. Der Industriebetrieb galt seit Beginn des 20. Jahrhunderts aber auch als ein Ort der Gefahr, da sich hier Konflikte des Industriekapitalismus in Form von Streiks, aber auch als Keimzelle revolutionärer Bewegungen manifestierten. 6 Auf der Betriebsebene griff man als Antwort auf dieses Grundproblem auf vielfältige Disziplinierungsstrategien zurück, die in der Mehrzahl auf die Einhaltung von Zeitregimes aber auch die räumliche Einhegung des Betriebes abzielten. Im Schiffbau gestaltete sich dies aufgrund des Produktionssystems, das zwischen Baustelle, Werkstatt und Fabrik changierte, besonders schwierig. Etabliert wurde das spezifische System des Schiffbaus mit dem Übergang von handwerklichen Holzund Segelschiffwerften zu industriellen Eisen-, Stahl- und Dampfschiffbaubetrieben ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Der Zeitraum zwischen 1880 und 1945 war dabei durch die Verwissenschaftlichung des Konstruktionsprozesses mit

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CAE/CAD stehen für „computer aided engineering“ und „computer aided design“ und bezeichnen den Einsatz spezieller Software im Entwurf und der Konstruktion eines Produktes. Timo Luks, Der Betrieb als Ort der Moderne. Zur Geschichte von Industriearbeit, Ordnungsdenken und Social Engineering im 20. Jahrhundert (Histoire 14). Bielefeld 2010, 10.

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der Einführung von Konstruktionszeichnungen und den Einsatz von Arbeitsmaschinen, die Elektrifizierung und schließlich die Umstellung auf Transportmaschinen wie Kräne und Züge geprägt. Der Schiffbau um die Jahrhundertwende befand sich in einem Spannungsfeld zwischen extremen Hochtechnologieprodukten, für die fortschrittliche Ingenieurswissenschaften notwendig waren, und stark handwerklich geprägten Fertigungsverfahren. Nun hielt auf den Werften ein geradezu klassisches Werkstattprinzip mit zumeist auch räumlich separierten Einzelbereichen Einzug. Als übergeordnete Organisationseinheiten hatten sich die drei Teilbereiche Schiffbau, Schiffsmaschinenbau und Verwaltung herausgebildet, die gemeinsam eine Vollwerft ausmachten. Der Einsatz von Arbeitsmaschinen und (Fach)Arbeitern wurde aufgeschlüsselt nach ihrer Art beziehungsweise nach Berufsgruppen und nicht nach dem Produktionsfluss zusammengefasst. Die verschiedenen Abteilungen besaßen in der Regel eine eigene Kostenstelle und eigene Hauptverantwortliche, in der Regel Meister. Die Herstellungsverfahren des Schiffbaus waren gerade aufgrund der Komplexität des Produktes vergleichsweise kleinteilig, schwer zu standardisieren und lange handwerklich geprägt. Viele Arbeiten fanden im Freien statt und beinhalteten daher überaus hohe Arbeitsbelastungen. Der nächste Umbruch kam nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit der flächendeckenden Nutzung von Schweißverfahren und der Einführung des Sektionsbaus. Dieser Schritt hatte eine fundamentale Umgestaltung des Produktionssystems von Werften zur Folge, ermöglichte er doch eine gesteigerte Vorfertigung und eine Verlagerung von Produktionsschritten weg vom Helgen hin zu wettergeschützten Hallen. Das wesentliche Merkmal des Schiffbaus – die Einzelfertigung – blieb jedoch auch weiterhin bestehen. Der letzte grundlegende Wandlungsprozess setzte mit der Digitalisierung sowohl der Konstruktion als auch der Fertigung ab den 1980er Jahren ein. Aus historischer Perspektive ist dieser Prozess, mit dem nun erstmals auch im Schiffbau eine Teilautomatisierung der Fertigung möglich wurde, bislang kaum untersucht worden. Die Entwicklung der Produktionssysteme im Schiffbau hatte immer auch tiefgreifende arbeits-soziale Umwälzungen zur Folge. Die erste Phase war durch den Übergang von handwerklichen in der Mehrzahl holzverarbeitenden Berufen zu industriellen Berufen der Metallarbeiter geprägt, der zur Ausbildung einer spezifischen Form der Arbeitsorganisation führte. Im Schiffbau war bis in die 1930er Jahre das „Craft-“ oder „Team-System“ üblich, in dem hochqualifizierte Facharbeiter dominierten, die flexibel eingesetzt werden konnten und eine schnelle Anpassung an neue Produkttypen erlaubten. Die industriellen Facharbeiter des Schiffbaus arbeiteten relativ autonom und mit vergleichsweise flachen Hierarchien. 7

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Marcel van der Linden / Hugh Murphy / Raquel Varela, Introduction, in: Raquel Varela / Hugh Murphy / Marcel van der Linden (Hgg.): Shipbuilding and Ship Repair Workers Around the World. Case Studies 1950–2010. Amsterdam 2017, 15–43, hier 16.

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Aufgrund der Komplexität von Werften war der Zugriff des Managements auf Arbeitsprozesse eingeschränkt und nur schwer zu überwachen. 8 Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein bildeten Meister und Vorarbeiter die entscheidenden Instanzen im Betrieb. Sie legten fest, wie und in welcher Reihenfolge Arbeiten erledigt wurden. 9 Es waren die Helgen und Schiffbauhallen und nicht die Arbeits- und Akkordbüros, in denen de-facto die Arbeit organisiert wurde. Im Unterschied zur industriellen Massenproduktion wies der Schiffbau weiterhin eine hohe Binnendifferenzierung auf, die im Wesentlichen anhand von Gewerken und der Kooperation von klassischen Handwerksberufen und industriellen Arbeitern strukturiert war. Das primäre Disziplinierungsmittel dieser Zeit war neben den üblichen Arbeitsordnungen ein komplex differenziertes Lohn- und Akkordsystem, das auch eine ausgeprägte Binnenhierarchisierung der Unternehmen zur Folge hatte. Die Kontrollpositionen wurden durch Meister und Untermeister auf der Werkstattebene und Obermeister sowie Betriebsingenieure in der „Vertikalen“ übernommen. 10 Der Vorteil dieses Systems war die ausgeprägte Flexibilität und ein relativ geringer Maschinenbestand. Der Nachteil bestand in häufig langen und gedoppelten Wegen, der Notwendigkeit großer Zwischenlager und unvermeidlichen Leerlaufzeiten. Während der Zwischenkriegszeit hielt im Schiffbau, wie in vielen anderen Industriebereichen auch, die Rationalisierungsbewegung verstärkt Einzug. Ab den 1920er Jahren mehrten sich Stimmen, die den Werften und ihren Führungsebenen Rückständigkeit in Bezug auf Fragen der Produktionstechnik, aber auch der Arbeitsorganisation und der Personalführung unterstellten: „Während man in anderen Industrien, besonders in der Maschinenbau-Industrie des In- und Auslandes im letzten Jahrzehnt nach den Arbeiten Taylors und seiner Schüler und auch unabhängig davon musterhafte Betriebs-Organisationen unter Anwendung wissenschaftlicher Grundsätze erfolgreich eingeführt hat, und darüber eine stetig wachsende Literatur vorhanden ist, hat sich der Schiffbau diesen Anschauungen gegenüber bisher ziemlich ablehnend verhalten.“ 11 Als Erklärung für diesen Sonderstatus wurde zumeist das extrem komplexe Produkt Schiff angeführt, dessen Konstruktion einen wesentlichen Teil der Aufmerksamkeit des leitenden (Ingenieurs-)Personals beanspruchte. Es ist nicht gänzlich von der Hand zu weisen, dass Schiffbauingenieuren, die während des gesamten 20. Jahrhunderts die Leitungsgremien der Werften nahezu durchweg dominierten, allein schon aufgrund ihrer technischen Ausbildung und der hohen Identifikation

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Alastair J. Reid, The Tide of Democracy. Shipyard workers and social relations in Britain, 1870–1950. Manchester 2010, 19. 9 Olaf Mertelsmann, Zwischen Krieg, Revolution und Inflation. Die Werft Blohm & Voss 1914– 1923. München 2003, 50. 10 Johanna Meyer-Lenz, Schiffbaukunst und Werftarbeit in Hamburg. 1838–1896. Arbeit und Gewerkschaftsorganisation im industrialisierten Schiffbau des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1995, 158. 11 Ulrich Horst, Anwendung betriebswirtschaftlicher Grundsätze im deutschen Schiffbau. Berlin 1922, 2.

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mit dem Produkt Schiff, die es in ähnlicher Art wohl in kaum einer anderen Industrie gibt, den betrieblich-sozialen Aspekten der Werftarbeit eher geringere Bedeutung zuschrieben. Dennoch waren auch sie sich der Tatsache bewusst, dass technische Neuerungen im Arbeitsprozess immer auch Veränderungen im Sozialgefüge einer Werft zur Folge hatten und wenn schon nicht aus betriebssozialen Erwägungen heraus, so doch zumindest als Kostenfaktor mit in die planerische Tätigkeit einbezogen werden mussten. Ein Grundproblem bestand vielmehr weiterhin in der sehr komplexen und schwer vorab planbaren Arbeitsorganisation des Schiffbaus, die eine stringente Aufnahme mit Zeitmessungen und ähnlichen Methoden des „scientific management“ nur in beschränktem Umfang zuließ. Auch die „gerechte“ Bemessung von Akkordsätzen blieb ein konstanter Konfliktpunkt im Betriebsleben vieler Unternehmen und verdeutlicht erneut, dass eine Werft eben keine Fabrik war. Mit der flächendeckenden Nutzung des Schweißens und dem Übergang zum Sektionsbau änderte sich dies zumindest teilweise. Bedingt durch die neuen Verfahren wurde die Arbeit zumindest in den Schiffbauhallen grundlegend neu organisiert. Es kam zu einer weiteren Ausdifferenzierung von Tätigkeiten und Berufsqualifikationen. Insbesondere im Bereich des Schweißens konnten verstärkt auch anund ungelernte Kräfte eingesetzt werden, was zu einer Heterogenisierung der Qualifikationsgrade auf der Werft führte. Die wesentlichste Veränderung war allerdings räumlicher Natur. Mit der Einführung des Sektionsbaus konnten weite Teile der Vorfertigung vom Helgen oder Dock weg hin zu Schiffbauhallen verlagert werden. Dadurch wurde es erstmals möglich, den Helgen als natürlichen Engpass des Werftbetriebs auszuschalten und witterungsunabhängig im Schichtdienst zu arbeiten. Gleichzeitig stellten die Intensivierung der Vorfertigung und Montage erhöhte Ansprüche an die Konstruktionsabteilungen, die nun vermehrt auch Fertigungsbelange einbeziehen mussten und Projektsteuerungskompetenzen entwickelten. Auf Dauer führte dies zu einer Verschiebung von Machtstrukturen und Befugnissen aus den Werkshallen hin zu den Konstruktionsbüros und zu einer Aufwertung der Ingenieure gegenüber den Meistern im Unternehmen. Womit wir wieder bei der eingangs erwähnten arbeitssoziologischen Studie aus den späten 1970er Jahren angekommen wären. Die Globalisierung und Digitalisierung der schiffbaulichen Konstruktion und Fertigung haben die mit dem Sektionsbau eingeleiteten Entwicklungen zumindest in einigen Teilen noch weiter beschleunigt. Gerade die relativ standardisierten Arbeitsschritte in der Vorfertigung, insbesondere die Platten- und Profilbearbeitung können inzwischen weitgehend automatisiert abgewickelt werden. Dies hat zu erheblichem Stellenabbau im Bereich der geringqualifizierten Arbeiter geführt, während neue Stellenprofile entstanden sind. 12 Auf modernen Werften werden neben Schiffbauern und Schweißern nun vermehrt auch Elektroniker und Mechatroniker, Werkstoffprüfer und Systemplaner

12 André Holtrup / Günter Warsewa (Hgg.), Der Wandel maritimer Strukturen (Schriftenreihe / Institut Arbeit und Wirtschaft 02), Bremen 2008, 19.

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ausgebildet. Die Verschiebung von ausführenden Tätigkeiten hin zu Steuerungsfunktionen ist auch im Schiffbau im Zuge fortschreitender Automatisierung und Robotisierung in vollem Gange.

KRIEG ÜBER SEE Christoph Schäfer Schon für die Antike unterscheidet man den Seekrieg vom Phänomen des Seeraubs. Dabei kommt es zunächst einmal auf die Akteure an, denn auch die Stadtstaaten und Territorialreiche der Alten Welt konnten im Zuge militärischer Konflikte Krieg gegen Handelsschiffe führen und seeräuberische Akte begehen. Wenn letztere allerdings von nichtstaatlichen Personenverbänden durchgeführt wurden, spricht man von Seeräuberei oder Piraterie. Entscheidende Voraussetzung für das Führen von Seekrieg ist das Auftreten von spezialisierten Schiffstypen zur Projektion maritimer Macht. Wie der Schiffskatalog in Homers Ilias zeigt, wurden in der griechischen Frühzeit Schiffe eigentlich nur zum Transport von Landtruppen eingesetzt.1 Tatsächlich umfasst der Krieg über See auch amphibische Operationen und damit natürlich die Landung größerer Einheiten an feindlichen Küsten. Erst für das späte 8. Jh. v.Chr. kann der athenische Geschichtsschreiber Thukydides berichten: „Als Hellas mächtiger wurde und Erwerb und Gewinn mehr als früher gediehen, kamen in fast allen Städten Tyrannen auf ... und Flotten wurden in Hellas ausgerüstet, das Meer zu erobern. Die Korinther seien die ersten gewesen, die annähernd in der heutigen Weise sich auf Seefahrt verlegten, und die ersten hellenischen Trieren seien in Korinth gezimmert worden. Nach allem war es ein korinthischer Schiffbauer, Ameinokles, der den Samiern vier Schiffe baute. ... Und die älteste Seeschlacht, von der wir wissen, schlug Korinth gegen Kerkyra (= Korfu)!“ 2 Nach Ansicht des Thukydides hätte diese erste Seeschlacht zwischen Griechen um die Mitte des 7. Jh. v.Chr. stattgefunden. Zuvor haben sicherlich die Phönizier und vielleicht auch andere seefahrende Gesellschaften bereits begonnen, Schlachten auf dem Meer auszutragen. Von diesen ersten Begegnungen sind uns allerdings keine Details überliefert. Der von Thukydides erwähnte Typ des langgestreckten Kriegsschiffs mit drei Ruderreihen an jeder Seite, die Triere, wurde schnell zum beherrschenden maritimen Waffensystem im Mittelmeerraum. Die gleichermaßen schnelle wie wendige Triere verfügte über einen bronzenen Rammsporn, das Schiff selbst war zur Waffe geworden. Ein solch hochentwickeltes Fahrzeug setzte allerdings eine leistungsfähige Gemeinschaft voraus, denn neben dem technischen bzw. bootsbaulichen Wissen für den Bau musste die finanzielle Grundlage für Beschaffung, Pflege und Be-

1 2

Hom. Il. 2,494ff. Thuk. 1,13,1ff.

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trieb sichergestellt werden. Außerdem benötigte man eine gut trainierte Rudermannschaft von 170 Mann, um das Schiff unter Ruder effektiv im Einsatz bewegen zu können. Viele kleinere Stadtstaaten konnten sich die Bereitstellung solcher Einheiten nicht leisten, mussten sich mit weniger schlagkräftigen zwei- oder einreihigen Kriegsschiffen begnügen oder ganz darauf verzichten. Eine komplizierte Taktik mit periplus, dem Umfahren des Gegners zum Rammstoß in dessen Breitseite, oder diekplous, einem Manöver, bei dem die Riemen eines feindlichen Schiffes abgefahren wurden, ermöglichte jetzt größere Seeschlachten, in denen die Kriegsschiffe einer Flotte in entsprechenden Verbänden eingesetzt werden konnten. 3 Mit der Revolution der Fernwaffen durch die Einführung der Torsionsgeschütze im 4. Jahrhundert v.Chr. veränderte sich die Taktik erneut ganz erheblich. Jetzt gewann der Fernkampf mit schweren Projektilen aus Stein, mit durchschlagskräftigen Bolzen und nicht zuletzt mit Brandgeschossen eine herausragende Bedeutung. Dennoch blieb auch das Rammen des Gegners über Jahrhunderte hinweg ein mögliches Mittel, um ein feindliches Schiff auf den Grund des Meeres zu schicken. Den letzten großangelegten Rammangriff der Geschichte führte 1866 die österreichische Flotte unter Admiral Tegetthoff in der Seeschlacht bei Lissa durch, wobei die überlegene italienische Flotte entscheidend geschlagen wurde. In Einzelfällen kamen solche Aktionen noch im 20. Jh. vor, wenn etwa in den Weltkriegen wiederholt feindliche U-Boote gerammt wurden. Seekrieg war schon immer ein ökonomisches Problem. Der 477 gegründete erste Attische Seebund, eine Allianz von – in seiner Hochzeit – mehr als 400 Städten bzw. Stadtstaaten, bündelte die Kräfte der Griechen, um die persische Großmacht aus der griechischen Inselwelt heraus- und von den wirtschaftlich wichtigen Seeverbindungen zwischen Mutterland und Kleinasien sowie in den Schwarzmeerraum und das westliche Mittelmeer fernzuhalten. Wegen des hohen Aufwands für den Unterhalt einer Triere erwiesen sich die Kosten für kleine Bündner langfristig vielfach als zu hoch, daher zahlten diese zunächst lieber einen gewissen Beitrag in die auf Delos untergebrachte Bundeskasse. Athen als Führungsmacht hatte sich allerdings den Zugriff auf die Kasse gesichert und schuf auf dieser Basis eine derart schlagkräftige Flotte, dass es von nun an Macht weit über die von den Athenern direkt kontrollierten Gebiete projizieren konnte. Als im Jahr 465 mit der Insel Thasos der erste Bündner aus diesem System aussteigen wollte, war es bereits zu spät. Athen berief sich auf das Fehlen einer Ausstiegsklausel im Bundesvertrag und unterwarf Thasos mit eben jener Flotte, die von den kleineren Bündnern mitfinanziert worden war. Aus einem Bündnis (symmachía) war eine Herrschaft (arché) geworden. Wie konsequent Athen fast fünfzig Jahre später im Konflikt mit Sparta und dessen Peloponnesischem Bund bereits auf den Seekrieg setzte, lässt der athenische Stratege und Historiker Thukydides erkennen, der dem führenden athenischen Politiker und Militär Perikles folgende Worte an seine Mitbürger in den Mund legte:

3

Vgl. William L. Rodgers, Greek and Roman Naval Warfare, 10.

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„Dass wir aber für den Krieg und im Vergleich der vorhandenen Mittel nicht schwächer dastehen, sollt ihr erkennen, indem ihr Punkt für Punkt vernehmt: Alles bei den Peloponnesiern ist für den Hausgebrauch, Geld haben sie weder für sich noch im Staat, und in langwierigen und überseeischen Kriegen fehlt ihnen die Erfahrung, weil sie in ihrer Armut immer nur kurz einander selbst bekriegen. Ein solches Volk vermag weder Schiffe zu bemannen noch Fußtruppen öfter auszusenden, wofür sie ja von ihren Gütern fern sein und zugleich aus denselben die Kosten bestreiten müssten, und wo ihnen zudem die See versperrt ist. Und ein Krieg lebt vom Überfluss, nicht aus gewaltsamen Umlagen.“ 4 Zu Lande jede Entscheidungsschlacht zu verweigern und über See den Krieg immer wieder in das Herrschaftsgebiet des Gegners zu tragen, war daher das Konzept des Perikles. Tatsächlich wendete sich das Blatt erst dann zugunsten Spartas, als Athen durch eine Expedition in den Westmittelmeerraum und interne Querelen geschwächt war und die Spartaner mit persischen Hilfsgeldern eine eigene Kriegsflotte aufbauten, mit der sie den Athenern die Seeherrschaft entreißen konnten. Die endgültige Entscheidung fiel, als es der spartanischen Flotte gelang, die für die Versorgung Athens lebenswichtigen Handelsrouten in den Schwarzmeerraum zu unterbrechen. Binnen Jahresfrist mussten die Athener bedingungslos kapitulieren. Das durch Thukydides und Xenophon überlieferte Geschehen bildete schon für die Kriege des Altertums eine wichtige Folie für die Seekriegsführung. In den Bürgerkriegen der römischen Republik, deren Entscheidungsschlachten in Griechenland (Pharsalos 48 v.Chr. und Philippi 42 v.Chr.) geschlagen wurden, konnten die späteren Sieger Cäsar und Antonius angesichts der Beeinträchtigung ihrer Nachschublinien durch die überlegenen feindlichen Flotten von Glück sagen, dass ihre Kontrahenten sich von den in ihrem Lager anwesenden Senatoren schließlich doch zur Schlacht drängen ließen, obwohl ihre Strategie zur See erfolgreich war und eigentlich kriegsentscheidend hätte werden müssen. Im Mittelalter führte das oströmische Reich die Tradition des Imperium Romanum fort, die oströmisch-byzantinische Flotte dominierte zunächst das Mittelmeer. Mit ihren schnellen Dromonen bzw. Chelandia beherrschte sie nicht nur die Seewege am Bosporus, sondern kontrollierte auch weite Teile des Mittelmeers. Bei überseeischen Operationen wurden zusätzlich zu den spezialisierten Kriegsschiffen Transportfahrzeuge eingesetzt, die in ihren Reihen unter anderem Spezialschiffe etwa für den Pferdetransport mitführten. 5 Die Hegemonie Ostroms wurde ernsthaft erst durch die Araber in Frage gestellt, die zweimal sogar Konstantinopel attackierten – natürlich über See. Ihr Scheitern wurde nicht zuletzt durch eine neue Waffe verursacht, die den Seekrieg im Mittelmeer für die nächsten Jahrhunderte revolutionieren sollte. Erstmals setzte ein byzantinisches Geschwader 678 n.Chr. in der Schlacht vor Kyzikos „Griechisches Feuer“ ein und vernichtete damit die arabische Belagerungsflotte. Das Rezept für dieses neuartige Seekampfmittel wurde strengstens geheim gehalten und ist bis heute ein Geheimnis geblieben. Ein dünnflüssiger Brandstoff wurde aus Syphonen, 4 5

Thuk. 1,142,2ff. Archibald R. Lewis, Naval Power and Trade in the Mediterranean, 25ff. u. 98ff.

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einer Art Flammenwerfer, wohl mit Druckluft auch über größere Distanz auf feindliche Fahrzeuge gespritzt. Dabei soll sich diese Flüssigkeit bei Berührung mit Wasser entzündet und auf dem Wasser weiter gebrannt haben. 6 Traten anfangs die Araber mit Byzanz in Konkurrenz, so änderte sich dies, als mit den italienischen Stadtstaaten eine neue Gruppe von Seemächten den Plan betrat. Zur Sicherung ihrer Handelswege bauten Venedig, Genua und Pisa jeweils eine eigene Marine mit speziellen Kriegsschiffen und den notwendigen professionellen Mannschaften auf. Mit einem Netz von Stützpunkten kontrollierten sie nicht nur die Seerouten, sondern boten auch den Schiffen ihrer Kriegs- und Handelsflotten Schutz bei schwerem Wetter und die Chance, unterwegs kleinere oder größere Reparaturen vorzunehmen. Komplexe Seekriegsstrategien sind also nicht erst eine Erscheinung unserer Tage, sondern haben eine Jahrtausende alte Tradition. Schauen wir jetzt auf die Grundzüge der Seekriegstheorien des 19. und 20. Jahrhunderts, so ist zunächst festzuhalten, dass es eine allgemein gültige nach wie vor nicht gibt. Eine beachtenswerte Seekriegstheorie formulierte Ende des 19. Jahrhunderts der britische Vizeadmiral Philipp Colomb (1831–1899). Für ihn ist der Handel über See die Ursache für den Krieg über See, ohne Handel gäbe es also keinen Seekrieg. Folgerichtig dreht sich bei ihm alles um die Seeherrschaft, die zum Schutz des eigenen Handels und der Störung des feindlichen nötig sei. Die Seeherrschaft wird in der Regel durch die Kriegsflotte erkämpft. Danach kann und sollte sie ausgeübt werden. Dabei hat aus Sicht Colombs der Kampf mit den feindlichen Seestreitkräften Priorität vor der Sicherung der Handelsschifffahrt. Sein Konzept von Seeherrschaft ist eher statisch, er sieht sie als Zustand, der errungen und gehalten werden muss. Partielle oder beschränkte Seeherrschaft besitzt für ihn keine strategische Relevanz. 7 Colombs Überlegungen übten einen großen Einfluss speziell auf die deutsche Marinestrategie von Tirpitz aus, der wie Colomb auf eine in der Schlacht errungene Seeherrschaft zielte, danach erst böten sich die eigentlichen Mittel, den Feind zum Frieden zu zwingen. 8 Ende des 19. Jahrhunderts und im früheren 20. Jahrhundert spielte vor allem der amerikanische Marineoffizier Alfred Thayer Mahan (1840–1914) eine herausragende Rolle. Mahan hat nicht nur das Selbstverständnis der Vereinigten Staaten als Seemacht nachhaltig geprägt, er beeinflusste auch die europäischen und nicht zuletzt die deutschen Überlegungen zum Krieg über See, wobei gerade Tirpitz ihn nutzte, um seine Ansichten zur benötigten Seegeltung und Seemacht zu unterstreichen. 9 Seine Erkenntnisse bezog Mahan im Wesentlichen aus der Analyse der britischen Erfahrungen im Zeitalter der Segelschiffe. Dabei sind seine einzelnen Beobachtungen und Thesen nicht etwa völlig neu, im Gegenteil, er stützt sich auf eine 6 7 8 9

Ekkehard Eickhoff, Seekrieg und Seepolitik, 22f. u. 142ff. Philipp Colomb, Naval Warfare, 47ff. Dienstschrift IX, Eva Besteck, First Line of Defense, 126. Vgl. Uwe Dirks, Flottenbau und zeitgenössische Seekriegstheorie, 68f. Uwe Dirks, Flottenbau und zeitgenössische Seekriegstheorie, 68.

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ganze Reihe von Vorläufern aus unterschiedlichen Epochen, angefangen mit dem bereits erwähnten Thukydides, dann aber Francis Bacon, Walter Raleigh und schließlich auch Montesquieu. Das entscheidend Neue an Mahan ist das Zusammenführen vieler Einzelerkenntnisse zu einer ersten umfassenden Analyse von Seemacht und ihrer militärischen Dimension. In Mahans Augen besteht das Ziel des Seekriegs in der Kontrolle von Seerouten bzw. Verbindungen über See. 10 Hierfür sei die Seeherrschaft notwendig, die er aber nicht statisch betrachtet. Sie könne sowohl räumlich wie zeitlich differieren, muss also nicht überall mit der gleichen Intensität ausgeübt werden. 11 Dabei hebt er die ökonomische Bedeutung der Seeherrschaft hervor, weil die Minderung der wirtschaftlichen Nutzung der See die Kriegsfähigkeit eines Gegners insgesamt schwäche, wobei auch die Wegnahme von gegnerischem Privateigentum ein probates Mittel sei. 12 Entscheidend ist für Mahan das Ausschalten der feindlichen Flotte. Hierauf müsse man sich konzentrieren, weil dies die effektivste Art der Installation von Seeherrschaft sei. Folgerichtig kommt für ihn der Marine eine offensive Rolle zu, insbesondere gehe es darum, die Hauptmacht des Feindes zu schlagen. 13 Als Marineoffizier ist ihm die Bedeutung von Basen für den Einsatz der Schiffe bewusst, deshalb betont er das Zusammenspiel der Seeverbindungslinien mit geographischen Positionen, die wiederum durch die vor Ort vorhandenen Ressourcen den Einsatz der Flotten in einem Seeraum ermöglichen, vorausgesetzt, die Verbindungen sind sicher. 14 Die von Mahan publizierten Ideen haben eine enorme Wirkung entfaltet, immer wieder wurden sie auch im 20. Jahrhundert aufgegriffen. In jüngster Zeit führen ihn sogar Indien und die Volksrepublik China bei ihren Überlegungen hinsichtlich der strategischen Bedeutung der Kontrolle des Indischen Ozeans für die Vormachtstellung in Asien ins Feld. Während Mahan diverse Prinzipien und Beobachtungen formulierte, ging der britische Marinehistoriker Julian Stafford Corbett (1854–1922) deutlich weiter, indem er einen umfassenden, stärker professionell historischen Ansatz verfolgte. Er suchte, Prinzipien von bleibendem Wert zu identifizieren, die einen Krieg beeinflussen, bei dem die See eine wesentliche Rolle spielt. Dabei sah er diese als ein intellektuelles Werkzeug, um die Erfahrung und das Urteilsvermögen von Akteuren zu unterstützen. Keinesfalls verstand er seine Überlegungen als universell gültig – ein weiterer Unterschied zu Mahan. Für sein Hauptwerk wählte er daher nicht von ungefähr den Titel „Some Principles of Maritime Strategy“.

10 Alfred T. Mahan, Strategy, 166: „Communications dominate war.“ Ders., Strategy, 255: „Communications, in the full meaning of the term, dominate war. As an element of strategy, they devour all other elements.“ 11 Michael Hanke, Das Werk Alfred T. Mahan’s, 151ff. 12 Alfred T. Mahan, Influence, 22ff. u. 481. 13 Alfred T. Mahan, Influence 1793–1812, Vol. 1, 110 u. 321. Vgl. William Reitzel, Mahan on Use of the Sea, 101f. Albert A. Stahel, Klassiker der Strategie, 220ff. 14 Allan Westcott (Hg.), Mahan on Naval Warfare, 75ff.

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Corbett warnte, nichts sei so gefährlich beim Studieren des Krieges, als Maximen zu erlauben, das (eigene) Urteil zu ersetzen. Für seine Überlegungen rezipierte er unter anderem die These des preußischen Militärs und Theoretikers Carl von Clausewitz, dass der Krieg eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei. Von Clausewitz inspiriert, kategorisierte Corbett Kriege ihrer Natur nach in beschränkte und unbeschränkte. Was die Art des Krieges betrifft, differenzierte er zwischen offensiver und defensiver Ausrichtung, wobei er diese Unterscheidung als weniger hilfreich ansieht als erstere. Unter anderem aus den Entwicklungen auf den Kriegsschauplätzen in Kanada und Havanna im Siebenjährigen Krieg und Kuba im spanisch-amerikanischen Krieg, bei denen die Isolierung des Kriegsziels durch Flottenoperationen möglich war, sowie aus der hinreichenden Isolierung der Krim oder Koreas durch Seestreitkräfte wegen der überlangen und schwierigen Überlandverbindungen des Feindes, folgert er, dass beschränkte Kriege nur zwischen Inselstaaten oder Staaten möglich seien, die durch das Meer getrennt sind. Der beschränkte Krieg könne dann gegeben sein, wenn das Kriegsziel nicht lohnt, die ganze Bevölkerung zu den Waffen zu rufen, oder auch, wenn das Meer ein unüberwindliches Hindernis für den Einsatz der gesamten Militärmacht ist. 15 Armee und Flotte sind für Corbett Teile einer einzigen Streitkraft, deren Betrieb durch die wirtschaftliche Situation des Landes aufrechterhalten wird. Folgerichtig relativiert er die Wirksamkeit des reinen Seekriegs, der nur sehr langsam wirken könne, weshalb die kombinierte Kriegführung von Land- und Seestreitkräften zu bevorzugen sei. Die wirtschaftliche Seite des Krieges über See betont er deutlich stärker als Mahan. Aus der völlig richtigen Erkenntnis heraus, dass Seeherrschaft nichts anderes bedeutet, als die Möglichkeit, die über See führenden Verbindungswege zu kontrollieren gleichgültig, ob sie dem Handel oder militärischen Zwecken dienen, schließt er, dass das einzige Mittel zum Erzwingen einer solchen Kontrolle der Seehandelsstraßen in der Wegnahme oder Vernichtung des über See transportierten Eigentums sei. 16 Die Idee der Piraterie verurteilt er allerdings, weil sporadische Angriffe auf den feindlichen Überseehandel niemals so wirksam seien wie organisierte Operationen zur systematischen Kontrolle der gegnerischen Überseeverbindungen. 17 Außerdem würde die Piraterie beim Mannschaftsersatz für die Marine Schwierigkeiten verursachen und durch die gelegentlichen großen Gewinne einen schlechten, weil demoralisierenden Einfluss auf die regulären Seestreitkräfte ausüben. 18 Grundsätzlich gilt, dass Seeverbindungen anders als Landverbindungen meist zur gleichen Zeit von beiden Seiten genutzt werden können, da ja auf hoher See keine Territorialherrschaft etabliert werden kann. 15 Julian S. Corbett, Some Principles of Maritime Strategy, 56ff. 16 Julian S. Corbett, Some Principles of Maritime Strategy, 94f. 17 Vgl. hierzu Volker Grieb / Sabine Todt, Piraterien von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 2012. 18 Julian S. Corbett, Some Principles of Maritime Strategy, 95f.

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Weil aber die wirtschaftliche Bedeutung der Seeverbindungen so hoch sei, müsse der Seekrieg stets direkt oder indirekt das Ziel verfolgen, die Seeherrschaft zu sichern oder den Feind an ihrer Eroberung zu hindern. Es bedeute kaum einen Unterschied, ob man zunächst die feindliche Hauptflotte zur Schlacht stellen oder wirtschaftlichen Druck ausüben wolle. Auch wenn Corbett wie Mahan alle Anstrengungen auf die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte konzentrieren möchte, weil diese das unmittelbar zur Bezwingung des Gegners führende Mittel sei, stellt er doch klar, dass das wirksamste Mittel zur Schwächung der Finanzkraft eines vom Meer abhängigen Gegners die Verstopfung der Quellen seines Überseehandels sei. 19 Manchmal kann eine Entscheidungsschlacht nicht herbeigeführt werden, man muss dies auch nicht unbedingt. Da die See eine unbeherrschte ist, gilt es dann umso mehr zu erkennen, wo man zeitlich und örtlich begrenzt eigene Seeherrschaft herstellen oder auch, wo man sie dem Feind streitig machen kann. 20 Wenn man Corbetts flexible Theorie weiter denkt, bedeutet dies, dass die zielgerichtete Kontrolle der „Hotspots“ der Seehandelsverbindungen der Schlüssel zum Erfolg im Seekrieg ist, unabhängig davon, ob die gegnerische Hauptflotte vernichtet ist oder ihr nur der uneingeschränkte Zugriff auf die „Hotspots“ verwehrt wird. Dies unterstreicht noch einmal die ökonomische Seite des Seekriegs, die in vielen Konflikten sogar die entscheidende Komponente gewesen ist wie etwa in den englisch-niederländischen Kriegen des 17. Jahrhunderts. Und selbst in Kriegen über See, in denen dies nicht auf den ersten Blick erkennbar ist, können wir eines festhalten: Ohne die Frage nach der Wirtschaftlichkeit wurde kaum je ein Krieg über See geführt. Da aber schon der Aufbau und der Unterhalt einer Flotte eine Menge an Ressourcen verschlingt, stellte und stellt sich immer das Problem, inwiefern sich diese Investitionen rechnen. Dabei muss der Profit keineswegs direkt ersichtlich sein. Es kann insbesondere für vom Handel abhängige Staaten auch darum gehen, ganz allgemein das sichere Befahren der Seehandelsrouten zu gewährleisten, wobei der Ertrag sich in der Wirtschaftsleistung niederschlägt, die entscheidend das Steuerkaufkommen beeinflusst, über das wiederum die Marine finanziert wird. Seeverbindungslinien zu sichern, ist also in jedem Fall und ganz wesentlich von grundlegender ökonomischer Bedeutung, allerdings variiert diese je nach wirtschaftlichem Entwicklungsstand und der Leistungsfähigkeit der jeweiligen Gesellschaft. Aktuelle Strategen gehen gelegentlich etwas zu weit, wenn sie wie J. Boone Bartholomees, Jr., die „maritime warfare“ als „primarily economic“ betrachten, getrieben von dem Bemühen, dem Feind den ökonomischen Vorteil der Seeverbindungen zu verwehren. 21 Der Hinweis auf die Flotten totalitärer Staaten wie etwa der Sowjetunion mag genügen. Wenn ideologische Kriegsziele ins Spiel kommen, können ökonomische Gründe in den Hintergrund treten, obwohl der Aufwand für die Marine – und eine Flotte ist immer eine teure Investition – nicht außer Acht gelassen werden sollte, weil eine längerfristige Überbeanspruchung der Wirtschaft 19 Julian S. Corbett, Some Principles of Maritime Strategy, 99ff. 20 Uwe Dirks, Flottenbau und zeitgenössische Seekriegstheorie, 64. 21 J. Boone Bartholomees, Jr., Naval Theories for Soldiers, 310.

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durch Militärausgaben, die nicht annähernd mehr in Relation zur Wirtschaftsleistung stehen, entweder zum Zusammenbruch eines Systems oder zur Anwendung des Instruments in einem Krieg führt. In letzterem wird die Wirtschaft jedoch wiederum aufs Äußerste angespannt, Verluste können nur durch Eroberung und Kontributionen kompensiert werden. Wirtschaftliche Aspekte spielen selbst in Kriegen eine Rolle, in denen man dies nicht als erstes vermutet. So war der als Krieg über See gegen Russland geführte Krimkrieg (1853–1856) zwar zunächst eine Operation gegen die russischen Küsten im Ostseeraum, am Schwarzen Meer und auf der Krim, allerdings wurde Russland durch die Blockade auch ökonomisch vom Seehandel abgeschnitten. Auch im spanisch-amerikanischen Krieg von 1898 standen ökonomische Ziele nicht im Vordergrund bei den Aktionen der US Navy, allerdings zeitigten sie sehr wohl ökonomische Effekte wegen der Beherrschung der Verbindungen in den betroffenen Seegebieten. 22 Im Zeitalter der Dieselantriebe und – im militärischen Bereich – auch nuklearer Antriebssysteme ist die Seefahrt nicht mehr konzentriert auf die durch Wind und Strömung begünstigten und dadurch limitierten Segelrouten. Damit ist der gut verfügbare Seeraum noch wesentlich weiter geworden. Im ökonomischen Bereich geht es zum einen um die Gewinnung von Ressourcen aus dem Meer oder vom Meeresboden. Fischerei ist immer schon ein wichtiger Wirtschaftszweig gewesen, die Gewinnung von Bodenschätzen wie Öl und Gas auch offshore ist eine neuere, aber nichtsdestoweniger wirtschaftlich bedeutende Erscheinung. Daneben hat aber auch der Seehandel eine enorme Bedeutung erlangt. Die erste Wirtschaft im europäischen Raum, bei der wir Globalisierungsphänomene beobachten können, ist aber bereits die des Imperium Romanum mit einem einheitlichen Währungsraum und einem ebensolchen ausgefeilten Rechtssystem. Nicht umsonst spielt der Transport von (Massen-)Gütern im Imperium eine zentrale Rolle, und zwar insbesondere für die Versorgung der Truppen, die gerade in den Grenzprovinzen an der Peripherie des Reiches konzentriert waren. Obwohl heutzutage mit den Möglichkeiten zum Gütertransport auf der Straße, mit der Eisenbahn oder auch auf dem Luftweg ganz andere Optionen für den Handel über weite Distanzen zur Verfügung stehen als in der Antike, ist damals wie heute der Schiffsverkehr die weitaus effektivste Art und Weise des Warentransports. Selbst die größten Transportflugzeuge können nur einen Bruchteil der Ladung eines durchschnittlichen Frachters befördern, und das zu so hohen Kosten, dass Luftfracht sich nur für hochwertiges Frachtgut mit einer entsprechenden Rendite rechnet. Ein großes Containerschiff kann heute zwischen 11.000 und 18.000 Standardcontainer (TEUs = Twenty-foot Equivalent Units) mit einem Gewicht von jeweils bis zu 24 t laden. Ein Güterzug hingegen kann in Deutschland wegen der schwächeren Güterwagenkupplungen nur etwa 50, in den USA zwischen 200 und 350 solcher Container transportieren, ein LKW bringt es auf 1–2! Das größte Transportflugzeug der Welt, die Antonov AN-124, schafft gerade einmal 120 t Zuladung. So 22 Ian Speller, Understanding Naval Warfare, 18.

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ist es nicht verwunderlich, dass die Hauptlast des globalisierten Handels über die See abgewickelt wird. Das bedeutet aber auch, dass eine Unterbrechung der Seeverbindungen und damit der Warenströme über See eine ernsthafte Bedrohung für den globalisierten Welthandel darstellen würde. Nicht nur die Stabilität und die Konjunktur einzelner Staaten, sondern das gesamte Weltwirtschaftssystem könnte so gefährdet werden. 23 Angesichts der hohen Relevanz der Seeverbindungen in den theoretischen Überlegungen zum Krieg über See lohnt ein Blick auf drei konkrete Beispiele, der angesichts der Fülle historischer Szenarien naturgemäß nur schlaglichtartig sein kann. Über die Abstraktion sollten wir so eine grundsätzliche Annäherung an die Prinzipien (europäischer) Seekriegsführung versuchen. Eine umfassende Theorie gibt es bislang nicht. Gerade die Seerepublik Venedig ist ein hervorragendes Studienobjekt wenn es um ein Überprüfen der Stichhaltigkeit der Theorien an der historischen Praxis geht. Mit Philipp Colomb würde man sagen, ohne die Bedeutung des Handels gäbe es keine Beteiligung der Venezianer am Seekrieg. Allerdings musste und konnte Venedig auch mit beschränkter Seeherrschaft leben. Mahan wird man insofern zustimmen, als Venedig die Verbindungslinien vor Augen haben musste und die Position von Stützpunkten mit sicheren Verbindungen kombiniert werden musste. Das zeigt die Kette der venezianischen Stützpunkte entlang der kroatischen und griechischen Küsten sowie auf zahlreichen Inseln des Mittelmeers. Allein die Stützpunkte Methoni und Koroni auf der Peloponnes besaßen eine derartige Bedeutung für die Kontrolle der Seeverbindungen zwischen Adria bzw. Ionischem Meer und dem restlichen Mittelmeer, dass man von den Augen Venedigs sprach. Häufig riskierte Venedig keine entscheidende Schlacht zur Ausschaltung der feindlichen Hauptflotte. Am ehesten passen hier Corbetts Prinzipien. Denn die Abhängigkeit von der Wirtschaft, die letztlich das Instrument der maritimen Streitmacht aufrechterhält, sowie die Rückkopplung an Politik und Diplomatie sind hier voll gegeben. Gleiches gilt für die geschickte Nutzung des beschränkten Krieges zur See. Während die angesprochenen Theoretiker des Seekriegs zur Analyse der venezianischen Seepolitik fruchtbringend herangezogen werden können, kehrt sich die Entwicklung am Ende des 19. Jahrhunderts um. Jetzt beeinflusst nicht mehr nur die Geschichte das Entstehen der Theorien, stattdessen wirken letztere ihrerseits auf die aktuellen Konzeptionen von Seemacht und Seekriegführung. Insbesondere Mahan wird sogar ein grundlegender Einfluss auf die deutsche Seestrategie nachgesagt. Kaiser Wilhelm II. persönlich soll die Rezeption seiner Vorstellungen vorangetrieben haben. Dabei lohnt es sich, die tatsächliche Reichweite von Mahans Ideen weiter zu verfolgen, wobei ein Vergleich der beiden Admirale Alfred Tirpitz und Erich Raeder lohnend ist und uns vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg führt. Im 21. Jahrhundert geht es nicht mehr um die Entscheidungsschlacht zwischen zwei Marinen, aber weiterhin um die Kontrolle von Zugangs- und Knotenpunkten

23 Ian Speller, Understanding Naval Warfare, 19.

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der Seeverbindungen. Im Zuge der Globalisierung spielen mehr denn je ökonomische Gesichtspunkte eine entscheidende Rolle beim Krieg über See. Und auch wenn sich Taktik und Seekriegsmittel in den letzten Jahrzehnten stark verändert haben, sind doch etliche Erkenntnisse des späten 19. und des 20. Jahrhunderts zum Krieg über See nach wie vor relevant. Sichere Seeverbindungen sind für alle vom Seehandel profitierenden Staaten elementar! Wer aber sichere Handelsrouten braucht, muss nicht nur hinreichend in die Marine investieren, mindestens genauso elementar ist auch ein modernes strategisches Konzept! LITERATUR J. Boone Bartholomees, Jr., Naval Theories for Soldiers, in: Ders. (Hg.), US Army War College Guide to National Security Issues, Vol. 1: Theory of War and Strategy, Carlisle PA 52012. Eva Besteck, Die trügerische „First Line of Defence“. Zum britisch-deutschen Wettrüsten vor dem Ersten Weltkrieg, Freiburg 2006. Ronald Bockius, Schifffahrt und Schiffbau in der Antike, Stuttgart 2007. Philip Colomb, Naval Warfare, its ruling Principles and Practice historically treated, London 1891. Julian S. Corbett, Some principles of Maritime Strategy, London 1911 (ND Annapolis 1988). Uwe Dirks, Flottenbau und zeitgenössische Seekriegstheorie am Beispiel der deutsch-britischen Rivalität 1906–1914, in: Jürgen Elvert, Lutz Adam u. Heinrich Walle (Hgg.), Die kaiserliche Marine im Krieg. Eine Spurensuche, (Hist. Mitt. Beih. 99), Stuttgart 2017, 57–81. Ekkehard Eickhoff, Seekrieg und Seepolitik zwischen Islam und Abendland. Das Mittelmeer unter byzantinischer und arabischer Hegemonie (650–1040), Berlin 1966. Volker Grieb / Sabine Todt (Hgg.), Piraterien von der Antike bis zur Gegenwart, (Hist. Mitt. Beih. 81), Stuttgart 2012. Michael Hanke, Das Werk Alfred T. Mahan’s. Darstellung und Analyse, (Studien zur Militärgeschichte, Militärwissenschaft und Konfliktsforschung 4), Osnabrück 1974. James R. Holmes / Toshi Yoshihara, China and the United States in the Indian Ocean: An Emerging Strategic Triangle?, In: Naval War Coillege Review 61,3/ 2008, 41–60. Archibald R. Lewis, Naval Power and Trade in the Mediterranean, A.D. 500–1100, Princeton NJ 1951. Alfred T. Mahan, The Influence of Seapower upon History (1660–1783), Boston 1890 (ND London 1965). Alfred T. Mahan, The Influence of Seapower upon the French Revolution and Empire, 1793–1812, Vol. 1-2, Boston 51894. William Reitzel, Mahan on Use of the Sea, in: B. Mitchell Simpson III (Hg.), War, Strategy, and Maritime Power, New Brunswick 1977, 95–107. William L. Rodgers, Greek and Roman Naval Warfare. A study of Strategy, Tactics, and Ship design from Salamis (480 B.C.) to Actium (31 B.C.), Annapolis 1937, ND 1980. Ian Speller, Understanding Naval Warfare, London/New York 2014. Albert A. Stahel, Klassiker der Strategie – eine Bewertung, Zürich 1995. Allan Westcott (Hg.), Mahan on Naval Warfare. Selections from the Writings of Rear Admiral Alfred T. Mahan, Boston 1941 (ND New York 1999).

SEEKRIEGSFÜHRUNG UND STAATSBILDUNGSPROZESS IN DER EUROPÄISCHEN GESCHICHTE Arne Karsten Im Jahre 1608 berichtete der Engländer Thomas Coryate in seiner „Beschreibung von Venedig“: Ich war im Arsenal, das deshalb, gewissermaßen von ars navalis, so genannt wird, weil dort die Kunst des Takelns betrieben wird sowie aller anderen für die Seefahrt nötigen Sachen. Ich bin überzeugt, daß es das reichhaltigste und am besten ausgestattete Lager für jede Art Rüstzeug sowohl zur See als auch zu Land, nicht nur der ganzen Christenheit, sondern der ganzen Welt ist. Jeder Fremde, wer es auch sei, wird von großer Bewunderung ergriffen, wenn er die Lage, Größe, Befestigung und den unglaublichen Reichtum an Vorräten sieht (...). 1

Coryates Bericht ist in zweierlei Hinsicht typisch: zum einen insofern, als ein Besuch des venezianischen Arsenals zum Programm eines vornehmen Reisenden im Venedig des 16. und frühen 17. Jahrhunderts einfach dazugehörte. Zum anderen durch den Ton staunender Bewunderung, mit dem der Besucher das im Arsenal Gesehene schildert. Beide Aspekte: das Arsenal nicht nur als Ort praktisch-handwerklicher Arbeit, sondern auch staatlicher Selbstdarstellung, und darüber hinaus: die Ver- ja Bewunderung, welche die Besichtigung einer frühneuzeitlichen Schiffswerft bei den Besuchern auslöste, mögen als Ausgangspunkt dienen für einige Überlegungen zum Thema „Europa und die Kriegführung zur See“, die ich im Folgenden entwickeln möchte. Vorangestellt seien einige grundlegende Beobachtungen. Der Mensch, als Landwesen, kann Krieg zur See nicht ohne komplizierte Hilfsmittel führen, und er kann ihn auch nicht alleine führen. Das ist eine triviale, aber dennoch wichtige Feststellung. Um physische Gewalt zur Durchsetzung von Interessen auf dem Wasser anwenden zu können, bedarf es materieller, technischer, organisatorischer und administrativer Voraussetzungen, die einen erheblichen gesellschaftlichen Enzwicklungsgrad voraussetzen. So wissen wir von großen Seeschlachten in der Geschichte Europas aus den Zeiten der griechisch-römischen Hochzivilisation, nur Salamis, Mylae, Actium seien an dieser Stelle genannt. Das Mittelalter aber kennt zwar sehr wohl Krieger auf großer Fahrt (denken wir an Wikinger und Normannen), aber doch keine großen, dauerhaft unterhaltenen Flottenverbände, oder eben den Kampf solcher Flotten gegeneinander.

1

Zit. nach: Thomas Coryate, Beschreibung von Venedig 1608, hgg. und übersetzt von Birgit Heintz und Rudolf Wunderlich, Heidelberg 1988, 105f.

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Erst im Hoch- und Spätmittelalter sollte sich das ändern. Und es ist in diesem Zusammenhang charakteristisch, dass die ersten großen Flottenverbände in den Hafenstädten Oberitaliens entstanden, bekanntlich der wirtschaftlichen Boom-Region dieser Epoche. So gingen die Venezianer als Schrittmacher des maritimen Fortschritts im 13. Jahrhundert daran, ihre Fernhandelsschiffe in Konvois zusammen zu fassen und von schwer bewaffneten Kriegsgaleeren schützen zu lassen. 2 Und auch Venedigs ewiger Konkurrent Genua mühte sich zunehmend um die Sicherung seiner Handelswege durch den Unterhalt von Kriegsschiffgeschwadern. Den spezifischen meteorologischen Bedingungen des Mittelmeeres mit seinen rasch wechselnden Winden und häufigen Flauten war es dabei geschuldet, dass die Galeere ihren Vorrang gegenüber Segelschiffen bis weit in die Neuzeit hinein behaupten konnte. Mit einer Länge von rund 30 Metern und einer Breite von lediglich 6 bis 7 Metern verfügte eine Galeere neben einem Lateinersegel über jeweils rund 30 Ruder (eigentlich: „Riemen“) auf ihren beiden Seiten, die von jeweils drei Ruderern geführt wurden. So bedurfte das schmale und für hohen Seegang anfällige Schiff allein für seinen Antrieb knapp 200 Mann, die ernährt und versorgt werden wollten, was die Betriebskosten erhöhte und die Reichweite verminderte. Die Autonomie der Galeere blieb auf wenige Tage beschränkt, weil dann Wasser und Nahrungsmittel gebunkert werden mussten. Dennoch blieb die durch die Ruderer gewonnene Unabhängigkeit von den im Mittelmeer unberechenbaren Windverhältnissen so wichtig, dass noch im 17. und 18. Jahrhundert Seemächte wie Spanien und Frankreich, die sowohl Atlantik- wie Mittelmeerflotten besaßen, in ihren Mittelmeerhäfen weiterhin Galeerenkontingente unterhielten. Die Vorherrschaft der Galeere erwies sich als grundlegend für die Seekriegsführung im Mittelmeerraum, und damit auch für die gesellschaftliche Entwicklung der großen Seehandelsrepubliken. Das zeigt insbesondere die Geschichte Venedigs seit dem Mittelalter. Um des Schutzes durch die muri salati, die „Mauern aus Salz(wasser)“ der Lagune gewiss sein zu können, sorgten die Venezianer früher als irgendeine andere Macht in Europa für die Ausbildung von Strukturen, die es ihnen gestatteten, binnen weniger Wochen eine schlagkräftige Flotte auszurüsten. Das Arsenal, 3 die berühmte Schiffswerft der Lagunenmetropole, wurde schon Anfang des 14. Jahrhunderts in Dantes Göttlicher Komödie besungen: Wie in dem Arsenal der Venezianer im Winter siedet das zähflüßge Pech womit sie ihre lecken Kähne dichten Da sie nicht fahren können und statt dessen Der eine neue Bretter fügt, der andre Die Seiten stopft dem viel und weit gereisten Der hämmert an dem Heck und der am Bug,

2 3

Zu dieser Entwicklung vgl. grundlegend die anschauliche Darstellung bei Frederic Lane, Seerepublik Venedig, München 1980, 195–212. Das Standardwerk zur Geschichte des Arsenals: Ennio Concina, L’arsenale della Repubblica di Venezia, Venedig 2006.

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der zimmert Ruder, Taue dreht der andre, der hißt das kleine, der das große Segel. 4

Dieser, auf Beschluss der venezianischen Regierung mehrfach wesentlich erweiterte, erste protoindustrielle Großbetrieb im mittelalterlichen Europa erstaunte, wie eingangs erwähnt, die Zeitgenossen schon durch seine schiere Größe, mehr noch aber durch die Präzision, mit der in den Glanzzeiten des Arsenals im 16. Jahrhundert mehr als 3000 Handwerker der unterschiedlichsten Berufe zusammenarbeiteten. Denn was brauchte es nicht alles an Produkten der Handwerkskunst, um eine kriegstüchtige Galeere auszurüsten, von Kielen und Planken über Ruder und Segel bis hin zu Ankern und Geschützen! Doch nicht nur durch das wohldurchdachte Zusammenspiel der verschiedenen Handwerker ist ein grundsätzlicher Zusammenhang zu konstatieren zwischen den Erfordernissen des militärisch geschützten Seehandels, und, mehr noch, der Seekriegsführung, einerseits, andererseits der Ausbildung moderner, das heißt: arbeitsteiliger und administrativ organisierter Strukturen. Vielfältig wie die hier zusammenarbeitenden Handwerksberufe waren nämlich die Ämter zur Leitung des Arsenals und seiner zahlreichen Unterabteilungen. 5 Die von den frühneuzeitlichen Zeitgenossen vielbewunderte Modernität und Differenziertheit der venezianischen Institutionen, allgemeiner: der venezianischen Verfassung, resultierte nicht zuletzt aus dem existenziellen Bedürfnis der Lagunenstadt nach einer effizienten Handels- und eben Flottenorganisation. Erst im Spätmittelalter begannen die Handelsschiffe, regelmäßig größere Distanzen zu überwinden. Von besonderer Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung Europas erwies sich dabei der Austausch zwischen den Mittelmeeranrainern und den Niederlanden, die sich durch den intensivierten Handelsverkehr seit dem 14. Jahrhundert neben Oberitalien zum zweiten wirtschaftlichen Kraftzentrum Europas entwickelten. Besonders die Genuesen profitierten vom Handel mit dem Norden und dehnten die Schifffahrtsrouten dementsprechend immer weiter aus. So ist es kein Zufall, dass jener Mann, der in Diensten des spanischen Königshauses mit drei Caravellen 1492 Amerika entdeckte, aus Genua stammte: Cristoforo Colombo. Ebenso wenig ist es ein Zufall, dass 1492 zu den klassischen Daten gehört, mit denen die Geschichtsschreibung den Beginn der Neuzeit markiert. Denn mit der Entdeckung der Neuen Welt durch die Europäer wurde ja wirklich, nicht auf einen Schlag, aber doch a la longue, alles anders. Das Mittelmeer verlor seine zentrale Rolle im europäischen Wirtschaftsleben und sank im Laufe des 16. Jahrhunderts nach und nach zu einem weniger bedeutenden Binnenmeer herab. Ein letztes Mal triumphierte die Galeerenflotte der venezianischen Republik im Bündnis mit Spanien und dem Papsttum 1571 in der Seeschlacht bei Lepanto über den osmanischen

4 5

Zit. nach: Dante Alighieri, Die göttliche Komödie, Deutsch von Ida und Walther Wartburg, Zürich 1963, 258. Einen (im Detail nicht immer zuverlässigen) Überblick über die Behördenstruktur des Arsenals bietet Kurt Heller, Venedig. Recht, Kultur und Leben in der Republik 687–1797, Wien u. a. 1999, 740–743.

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Gegner. 6 Lepanto war eine Schlacht, in der zwar die Überlegenheit der christlichen Armada an moderner Artillerie eine wichtige Rolle spielte, die aber dennoch ihrer Struktur nach traditionell-mediterran verlief: der Kampf spielte sich im Wesentlichen auf in einander verkeilten Schiffen als Enterkampf ab, also gewissermaßen als Landkampf auf dem Wasser, bei dem die individuelle physische Stärke und Tüchtigkeit der Soldaten den Ausschlag gab. Schon wenige Jahre später wurden die entscheidenden Seeschlachten von anderen Mächten auf anderen Meeren mit anderen Schiffen geschlagen. Die europäische Expansion sollte die Welt von Grund auf verändern, und die wohl wichtigste technische Voraussetzung für diese Veränderungen war die Entwicklung von Schiffen, die bis dahin gänzlich unvorstellbare Distanzen überwinden konnten und mit einer Vielzahl von zunehmend leistungsfähigen Geschützen ausgerüstet waren. Die dafür notwendigen nautischen, technischen und handwerklichen Innovationen waren alles andere als eine Kleinigkeit. Mit gutem Grund hat der schwedische Marinehistoriker Jan Glete darauf hingewiesen, dass „der Entwurf und die Konstruktion von kanonenbestückten Segel-Kriegsschiffen eine der schwierigsten Herausforderungen überhaupt im vorindustriellen Europa“ darstellte. 7 Doch im Laufe des 16. Jahrhunderts gelang es den Schiffbauern in den europäischen Hafenstädten, und zwar den atlantischen Hafenstädten, diese Herausforderung zu lösen. Das führte dazu, dass Kriegsschiffe, anders als zuvor, nicht mehr nur als Transportmittel für Soldaten dienten, die dann den eigentlichen Kampf führten, sondern durch Batteriedecks mit bald bis zu hundert Kanonen, selbst zu Kampfmitteln wurden. Insofern bedeutete der Einsatz von Kanonen letztlich nichts anderes als die Ersetzung von Menschenkraft durch Technik und Kapital. Der Vorteil dieser Neuerung bestand nicht nur in einer höheren militärischen Schlagkraft an sich, sondern auch, und vielleicht mehr noch darin, dass diese Schlagkraft leichter zu unterhalten und weiter zu transportieren war: Geschütze, Geschosse und Pulver bedürfen keiner Ernährung und Versorgung, um noch in den letzten Winkel der Erde befördert und dort wirksam zu werden. Der Einsatz physischer Gewalt als Basis von politischer Macht wurde damit, wenn man so will, exportfähig. Auf diese Weise konnte die Herrschaft über die See (und mittelbar über weit entfernte Regionen der Erde) in einer gegenüber älteren Formen unvergleichlich weiterreichenden und wirksameren Weise ausgeübt werden. Das Vordringen der Europäer in zuvor unbekannte Gegenden der Welt hatte zur Voraussetzung und führte zu einer ganzen Reihe von Revolutionen nicht nur im Schiffbau, sondern auch in der Seekriegsführung, die sich dann im Laufe des 17. Jahrhundert vollzogen, nämlich beim Einsatz von Kriegsflotten und im Bereich der 6 7

Grundlegend zu Vorgeschichte und Verlauf der Seeschlacht bei Lepanto 1571, die Vielzahl älterer Studien zusammenfassend und überholend ist die magistrale Arbeit von Alessandro Barbero, Lepanto. La battaglia dei tre Imperi, Rom/Bari 2010. „The design and construction of gun-carrying sailing warships was one of the most demanding tasks undertaken in pre-industrial Europe“, Jan Glete, Warfare at Sea 1500–1650. Maritime Conflicts and the Transformation of Europe, London 2000, 25. Eine gute Einführung in die Zusammenhänge zwischen Neuerungen in der Seekriegsführung und der europäischen Expansion bietet auch Carlo M. Cipolla, Segel und Kanonen, Berlin 1988.

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Flottenorganisation. Die Kombination von Kanonen und Segeln sollte sich, wie gesagt, als überaus schlagkräftig erweisen und eine wesentliche Voraussetzung für die Unterwerfung großer Teile der Welt durch die Europäer bilden. Die dabei entwickelten neuen Kampftaktiken machten es allerdings erforderlich, die Schiffe auch in Friedenszeiten im Dienst zu lassen, was hohe und immer höhere Kosten verursachte. Um sich die horrenden Ausgaben für ihre nicht mehr nur im Konfliktfall eilig zusammengestellten, sondern auch in Friedenszeiten diensttuenden Kriegsflotten leisten zu können, bedurften die europäischen Herrscher steigender Einnahmen, entweder, indem sie sich verschuldeten, oder aber durch die Erhebung neuer Steuern. Doch aus welchen Quellen es auch immer stammen mochte: An den Höfen der europäischen Herrscher floss jedenfalls Geld zusammen, das zu einem guten Teil in den Häfen, und zwar in den Bau und die Ausrüstung der großen Kriegsflotten, investiert wurde. 8 Nicht nur, aber doch auch deswegen wird man sagen können, dass an den Höfen und in den Häfen die zentralen Antriebskräfte für die Entstehung des modernen Europa zu finden waren. Der Kampf um die Ressourcen der neuen Welt führte somit nicht nur zur Verlagerung der Handelswege und der politischen Machtverhältnisse auf Kosten der Mittelmeeranrainer und zugunsten der Staaten an der Atlantikküste; er trug auch grundlegend zur Entwicklung des modernen Staates bei. Letzteres nicht zuletzt auch auf indirekte Weise, denn die gewaltigen Gewinnmargen, die der Fernhandel versprach, begannen schon bald auch private Unternehmer zu interessieren. Deren Initiative und die daraus resultierenden Einnahmen eröffneten neue Möglichkeiten sowohl im Bereich der Steuerhöhungen wie auch der Staatsverschuldung; und zwar umso mehr, als die privaten Unternehmer natürlich an einem wirksamen Schutz der Seehandelswege durch staatliche Kriegsflotten ein vitales Interesse hatten. Kurz: die enormen Profite, die der frühneuzeitliche Seefernhandel ermöglichte, bedurften, um realisiert und gesichert zu werden gänzlich neuer technischer, organisatorischer und administrativer Voraussetzungen. Sie setzten dadurch Veränderungsprozesse in Gang, die nahezu alle Bereiche der Gesellschaft betrafen, von solchen wirtschaftlicher Organisationsformen (es ist kein Zufall, dass die Aktie zur Finanzierung von Expeditionen der niederländischen Ostindien-Compagnie erfunden wurde), über militärische Innovationen im engeren Sinnen (erwähnt sei an dieser Stelle nur die Linienschiff-Taktik mit all ihren komplizierten Voraussetzungen) bis hin zu künstlerischen Erfindungen, etwa die Entstehung eines neuen Kunstgenres, des „Seestücks“ in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts. Der rasche Erfolg und die europaweite Verbreitung, die dieser neue Bildtypus fand, sind vielleicht 8

Auf diesen grundlegenden Zusammenhang hat u. a. hingewiesen Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 351: „Dabei stiegen die englischen Marineausgaben von 1,5 Mio. Pfund in den Jahren 1585–1604 auf 19 Mio. Pfund 1689–1697; die Kosten für den Bau eines Linienschiffes hatten sich indessen verfünffacht, von der Infrastruktur an Häfen, Werften, Kanonengießereien usf. ganz abgesehen. So trug auch die Marine das ihrige zur Ressourcenextraktion bei.“

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besonders geeignet, die fundamentale Bedeutung der Seekriegsführung für die Entstehung und Entwicklung des modernen Europas dem heutigen Betrachter anschaulich vor Augen zu führen.

MAHAN UND SEINE WIRKUNG AUF TIRPITZ UND RAEDER Jann M. Witt Gegen Ende des 19. Jahrhunderts etablierte sich die Seestrategie als eigene Disziplin neben der allgemeinen Militärstrategie. Als Seestrategie gilt der Teil einer Gesamtstrategie mit dem Ziel der Erringung und Behauptung von Seemacht im Frieden und der Seeherrschaft im Krieg. Seeherrschaft wurde dabei als der Zustand definiert, Seegebiete zu eigenen Zwecken zu nutzen und dem Gegner die Nutzung zu verwehren. Die notwendige Grundlage dafür ist dabei die Seegeltung, d.h. der durch maritime Präsenz begründete Anspruch auf Seemacht. Als Vater der Seestrategie gilt der amerikanische Marineoffizier und Marinehistoriker Alfred Thayer Mahan (1840–1914). ALFRED THAYER MAHAN Mahan wurde 1884 als Lehrer für Seekriegsgeschichte und Seekriegstaktik an neu geschaffene Naval War College in Newport, Rhode Island berufen. Als Dozent lag sein Schwerpunkt auf den strategischen Aspekten der Seekriegsgeschichte. Er hatte sich intensiv mit den Werken des Schweizer Militärtheoretikers Antoine-Henri Jomini, eines Veteranen der Feldzüge Napoleon Bonapartes, befasst und wollte nach dessen Vorbild durch die Analyse historischer Beispiele die grundlegenden Prinzipien der Seestrategie zu formulieren. Dazu wählte er das Beispiel des Aufstiegs Großbritanniens zur führenden Seemacht. Als Inselnation habe Großbritannien kein großes und teures Heer zur Verteidigung benötigt, sondern hätte sich ganz auf den Aufbau einer schlagkräftigen Marine konzentrieren können. Dank der Royal Navy, so Mahan, sei es Großbritannien schließlich gelungen, die Herrschaft über die Weltmeere zu erringen und ein weltumspannendes Kolonial- und Handelsimperium zu errichten. Mahan schloss daraus, dass diejenige Macht, die die Seeherrschaft erringen und dem Gegner die Nutzung der Seewege verwehren kann, der wahrscheinliche Gewinner eines Krieges ist. Dabei argumentierte er, dass allein die Vernichtung der gegnerischen Schlachtflotte die eigene Seeherrschaft dauerhaft sichern kann. In seinem 1890 veröffentlichten Buch „The Influence of Sea Power upon History, 1660–1783“ legte Mahan seine These von der Bedeutung der Seemacht für die Machtstellung eines Staates erstmals ausführlich dar. Kurz gefasst lautete seine Kernaussage: „Seemacht ist Weltmacht“. Mahan gilt damit als Begründer des Navalismus. Nach den Worten Golo Manns „begründete [er] die neue Lehre, wonach die großen Machtfragen noch immer zur See entschieden worden seien.“ In seinem

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zweiten Buch „The Influence of Sea Power upon the French Revolution and Empire, 1793–1812“, das 1892 erschien, betonte Mahan darüber hinaus den Zusammenhang zwischen militärischer und wirtschaftlicher Kontrolle über die Seewege, wobei er allerdings die Bekämpfung des feindlichen Seehandels der Vernichtung der feindlichen Seemacht gegenüber als nachrangig betrachtete. Auch geostrategische Aspekte spielten im Denken Mahans nur eine untergeordnete Rolle. Die generelle Interpretation der Lehren Mahans lautete daher, dass eigenen Seestreitkräfte die gegnerische Flotte vernichten mussten, um die Seeherrschaft zu erringen und zu sichern – daher die starke Betonung der Rolle der Schlachtflotte und der Entscheidungsschlacht, die vor dem Ersten Weltkrieg das Denken vieler Marineoffiziere beherrschte. Während Mahans Gedanken in den USA zunächst nur auf geringes Interesse stießen, wurden sie vor allem in Europa intensiv studiert und entfalteten in vielen Staaten große Wirkung auf die Marinepolitik und -strategie, insbesondere im Deutschen Reich. Der marinebegeisterte Kaiser Wilhelm II. studierte die Schriften Mahans intensiv und empfahl deren Lektüre auch allen deutschen Marineoffizieren. In der Kaiserlichen Marine wurden Mahans Werke, wie Wolfgang Petter treffend formuliert, „zu einer Art Marinebibel hochstilisiert“ und damit auch zur theoretischen Grundlage für den Aufbau der deutschen Schlachtflotte unter Admiral Alfred Tirpitz (1849–1930; seit 1900 „von Tirpitz“). DER „TIRPITZ-PLAN“ 1892 wurde Kapitän zur See Tirpitz zum Chef des Stabes des Oberkommandos der Kaiserlichen Marine ernannt. Beeinflusst von den Schriften Mahans und basierend auf der Erfahrung aus Flottenmanövern legte er 1894 in der „Dienstschrift IX“ erstmals seine taktischen und strategischen Überlegungen für den Einsatz der Kaiserlichen Marine vor. Der Kernsatz der „Dienstschrift IX“ lautete: „Die natürliche Bestimmung eines Kriegsschiffes und einer Flotte ist die Offensive“. Das Ziel war die Erringung der Seeherrschaft durch die Vernichtung der feindlichen Seestreitkräfte in einer großen Seeschlacht, das Mittel dazu eine starke Schlachtflotte. Die „Dienstschrift IX“ bildete damit die Grundlage für die späteren Flottengesetze. 1897 wurde Tirpitz, inzwischen zum Konteradmiral befördert, zum Staatssekretär im Reichsmarineamt und damit faktisch zum „Marineminister“ ernannt. Seine Berufung fiel zusammen mit einem grundlegenden Kurswechsel der deutschen Außenpolitik. Während Bismarck das Deutsche Reich als europäische Kontinentalmacht betrachtet hatte, sollte es nach dem Willen Kaiser Wilhelms II. nun auch zur See- und Weltmacht werden. Dafür wurde der Aufbau einer starken Flotte für notwendig gehalten. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt legte Tirpitz dem Kaiser eine Denkschrift vor, in der er feststellte, dass England der gefährlichste Gegner Deutschlands sei. Durch den Aufbau einer kampfkräftigen Schlachtflotte in der Nordsee wollte Tirpitz einen Krieg gegen das Deutsche Reich für die britische Flotte zu einem unkalku-

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lierbaren Risiko machen, weshalb sein strategisches Konzept auch als „Risikogedanke“ und die deutsche Schlachtflotte als „Risikoflotte“ bezeichnet wird. Die deutsche Schlachtflotte war in erster Linie eine politische Waffe. Ihre bloße Existenz sollte Großbritannien zu Zugeständnissen bewegen und die außenpolitische Machtstellung des Deutschen Reichs festigen. Käme es dennoch zum Krieg mit Großbritannien sollte eine Entscheidungsschlacht in der Nordsee über Sieg oder Niederlage bestimmen. Dass der Traum von der deutschen Weltmacht aber nur durch die Herausforderung Großbritanniens zu verwirklichen war, ignorierte Tirpitz ebenso wie das Problem der geostrategischen Lage des Deutschen Reichs: Im Kriegsfall konnten die Briten alle Zugänge zum Nordatlantik blockieren, wodurch der Operationsbereich der deutschen Flotte auf die Nord- und Ostsee beschränkt wurde. Zielstrebig nahm Tirpitz mit tatkräftiger Unterstützung durch den Kaiser und die deutsche Großindustrie die Aufrüstung der Marine in Angriff. Bereits Ende 1897 brachte er das erste Flottengesetz in den Reichstag ein, das am 28. März 1898 mit großer Mehrheit angenommen wurde. Bis 1904 sollte die Schlachtflotte eine Stärke von 19 Linienschiffen, acht Küstenpanzerschiffen sowie zwölf Großen und 30 Kleinen Kreuzern erreichen. Bereits am 12. Juni 1900 wurde – ebenfalls mit großer Mehrheit – im Reichstag ein zweites Flottengesetz verabschiedet, das faktisch eine Verdoppelung der Schlachtflotte bis 1917 vorsah. Zugleich wurde auch das Personal der Marine vergrößert, ebenso wurden die Hafenanlagen, Werften und Ausbildungseinrichtungen ausgebaut. Der Aufbau der deutschen Hochseeflotte hatte ein maritimes Wettrüsten mit der damals führenden Seemacht Großbritannien zur Folge und trug auch zur außenpolitischen Isolierung des Deutschen Reichs bei. Obgleich der Schlachtflottenbau nicht als eigentliche Kriegsursache gelten kann, verschärfte die massive Aufrüstung der Kaiserlichen Marine die ohnehin angespannten politischen Situation in Europa, die Anfang August 1914 im Ersten Weltkrieg mündete. Bei Kriegsausbruch erwies sich Tirpitz’ Konzept der „Risikoflotte“ als völliger Fehlschlag: Statt wie erwartet die Entscheidungsschlacht mit der deutschen Flotte zu suchen, errichteten die Engländer eine Fernblockade. Von ihrem Stützpunkt Scapa Flow auf den Orkney Islands aus bedrohten die britischen Schlachtschiffe als sogenannte „Fleet in being“ die in Wilhelmshaven liegende Hochseeflotte, wodurch die deutsche Schlachtflotte als strategisches Machtinstrument faktisch ausgeschaltet wurde. Nachdem die zu Kriegsbeginn erwartete Entscheidungsschlacht in der Nordsee zwischen der deutschen Hochseeflotte und der britischen Grand Fleet ausgeblieben war, verharrte die deutsche Schlachtflotte mit Ausnahme von einigen Vorstößen in die Nordsee und der Skagerrakschlacht am 31. Mai 1916 während des gesamten Kriegs in ihrem Stützpunkt Wilhelmshaven. Statt dessen konzentrierte sich die deutsche Marineführung vor allem auf den Handelskrieg mit U-Booten – mit dem zweifelhaften Erfolg, nach der Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Bootkriegs im Jahr 1917 durch die Versenkung zahlreicher amerikanischer Handelsschiffe die Vereinigten Staaten auf Seiten der Alliierten in den Krieg hineinzuziehen. Damit war die deutsche Niederlage unabwendbar geworden.

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Insgesamt muss die deutsche Seekriegsstrategie vor und während des Ersten Weltkriegs als gescheitert angesehen werden. Die von Tirpitz geschaffene Schlachtflotte hatte die in sie gesetzte Erwartung, im Seekrieg gegen Großbritannien die entscheidende Waffe zu sein, nicht erfüllt. Um es mit den Worten Christian Graf von Krockows zu sagen: „Das Machtinstrument, das er schuf, blieb ein Riesenspielzeug ohne Sinn, über das die Geschichte ihr Urteil gesprochen hat.“ Demgegenüber hatte der zeitweilig erfolgreiche Einsatz der U-Boote gezeigt, dass der Handelskrieg als Waffe einer unterlegenen Marine durchaus geeignet war, die Seeherrschaft einer überlegenen Seemacht ernsthaft anzufechten. Als Konsequenz aus dieser Erfahrung bildete im Zweiten Weltkrieg nicht die doppelte Zielsetzung der Erringung der Seeherrschaft in der Nordsee und des U-Boot-Kriegs gegen die alliierte Handelsschifffahrt, sondern die Bekämpfung der britischen Seeverbindungswege den wesentlichen Kern der deutschen Seekriegsstrategie. Den Anstoß zu diesem grundlegenden Wandel im deutschen marinestrategischen Denken hatte Admiral Erich Raeder (1876–1960) gegeben, der von 1928 bis 1943 an der Spitze der deutschen Seestreitkräfte stand. DIE RAEDER’SCHE SEEKRIEGSSTRATEGIE Raeder hatte von 1912 bis 1917 als Chef des Stabes unter Admiral Franz von Hipper, dem Befehlshaber der Aufklärungsstreitkräfte der Hochseeflotte, gedient. Nach dem Ersten Weltkrieg in die Reichsmarine übernommen, verfasste er von 1920 bis 1922 zwei Bände über die Operationen der deutschen Kreuzer und Handelsstörer für das „Admiralstabswerk“, die offizielle deutsche Darstellung des Seekriegs im Ersten Weltkrieg. Im Oktober 1928 wurde Raeder unter gleichzeitiger Beförderung zum Admiral Chef der Reichsmarine. Sein wichtigstes Ziel war die Modernisierung der Marine. Zugleich hatte ihn seine historische Arbeit in seiner Auffassung bestärkt, dass sich die deutsche Marineführung im Ersten Weltkrieg zu sehr auf die strategische Rolle der Hochseeflotte in der Nordsee und den Handelskrieg mit U-Booten konzentriert, die grundlegende Bedeutung der Überwasserstreitkräfte für die Bekämpfung der atlantischen Versorgungswege Großbritanniens aber nicht erkannt habe. Unter Raeder wurden daher Operationen von schweren Überwasserschiffen gegen die gegnerischen Seeverbindungslinien zu einem integralen Bestandteil der deutschen Seekriegsstrategie. So waren die drei ab 1929 gebauten Panzerschiffe der DeutschlandKlasse speziell für weitreichende Handelskriegsunternehmungen konzipiert worden. Damals galten für die deutsche Marineführung Polen und Frankreich, nicht aber Großbritannien als mögliche Gegner. Adolf Hitlers Aufstieg zur Macht im Jahre 1933 und die damit verbundene Wiederaufrüstung des Deutschen Reichs wurde von Raeder und dem Großteil der weitgehend anti-republikanisch eingestellten Angehörigen der Reichsmarine begrüßt. Am 18. Juni 1935 unterzeichneten das Deutsche Reich und Großbritannien das deutsch-britische Flottenabkommen. Dieses bilaterale Abkommen gestattete

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dem Deutschen Reich, seine Marine auf legale Weise um das Dreifache zu vergrößern. Ebenso wurde Deutschland wieder der Besitz von U-Booten erlaubt. Damit wurden die Rüstungsbegrenzungen des Versailler Vertrags faktisch aufgehoben. Für Hitler war dieses Abkommen ein wichtiger Schritt in seiner systematischen Vorbereitungen für des bevorstehenden Zweiten Weltkriegs. Sowohl Hitler als auch Raeder betrachteten das Flottenabkommen lediglich als ein vorübergehendes Instrument, um den Wiederaufbau der Kriegsmarine außenpolitisch abzusichern. Seit 1938 galt auch Großbritannien als möglicher Kriegsgegner. Im Oktober 1938 formulierte das nach nach dem Hauptverfasser, Fregattenkapitän Hellmuth Heye, benannte „Heye Memorandum“ die erste strategische Agenda für einen Seekrieg gegen England. Der Schwerpunkt lag dabei auf der Bekämpfung der britischen Seeversorgungswege: „Die Kreuzerkriegführung ist die zweckentsprechende Zielsetzung für die kleinere Seemacht gegenüber der stärker von Seeverbindungen abhängigen größeren Seemacht.“ Anders als im Ersten Weltkrieg sollten für den Handelskrieg neben U-Booten auch Überwasserstreitkräfte eingesetzt werden. Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs schien dies der einzige Ansatz zu sein, der im Seekrieg gegen Großbritannien Aussicht auf Erfolg versprach. Darüber hinaus betonte Denkschrift die Möglichkeit, durch den geschickten Einsatz von Seestreitkräften eine Diversionswirkung zu erzielen: „Es gilt, durch den Einsatz an möglichst vielen Stellen die Kräfte des Gegners zu zersplittern und militärische Machtkonzentrationen des Gegners gegen die Handelszerstörer zu erschweren.“ Insgesamt bedeutete das „Heye-Memorandum“ eine grundlegende Neuorientierung der deutschen Seekriegsstrategie unter Abkehr der auf den Thesen Mahans beruhenden Seekriegskonzeption Tirpitz‘, die sich vor allem auf die Schlachtflotte konzentriert hatte. Zugleich wurde das „Heye Memorandum“ auch zur Grundlage für die geplante Erweiterung der Kriegsmarine. Im Frühjahr 1939 wurde ein umfassendes Marinerüstungsprogramm, der sogenannte „Z-Plan“, initiiert, dass bis 1947/48 abgeschlossen werden sollte. Entsprechend Raeders offensiver Handelskriegsstrategie war der Bau von 250 U-Boote und zwölf Panzerschiffen für die Bekämpfung der britischen Seeverbindungslinien geplant. Allerdings hatte sich Raeder geistig nicht vollständig von den Seemachtstheorien Mahans und Tirpitz’ gelöst, denn eine starke Überwasserflotte aus zehn Schlachtschiffen, vier Flugzeugträgern, über 40 Kreuzern und fast 160 Zerstörern sollte eine direkte Herausforderung der britischen Seeherrschaft ermöglichen. Da der „Z-Plan“ offen gegen das deutsch-britische Flottenabkommen von 1935 verstieß, wurde dieses von Hitler einseitig aufgekündigt. Mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 löste Hitler schließlich den Zweiten Weltkrieg aus. Von den drei Wehrmachtsteilen war die Kriegsmarine am wenigsten auf den Krieg vorbereitet. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs bedeutete auch das Ende des „Z-Plans“; alle bereits erteilten Bauaufträge wurden storniert. Angesichts der materiellen Schwäche der Kriegsmarine sah sich Raeder gezwungen, anstatt der von ihm präferierten direkten Konfrontation der Royal Navy mit einer starken Überwasserflotte die in seinen Augen „zweitklassige“ Option einer Handelskriegsstrategie mit U-Booten und schweren Überwassereinheiten zu

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verfolgen. Diese sogenannte „Schlacht im Atlantik“ währte über die gesamte Dauer des Kriegs. Dabei wurde im Fall der Schlachtschiffe, Panzerschiffe und Kreuzer der strategische Wert dieser Unternehmungen als mindestens ebenso wichtig erachtet, wie die Versenkung von Handelsschiffen, da durch ihren Einsatz eine große Zahl britischer Kriegsschiffe im Geleitschutz gebunden werden sollte, die dadurch nicht für andere Aufgaben zur Verfügung standen. Zugleich wollte man die Royal Navy zur Zersplitterung ihre Kräfte zwingen. Marinehistoriker wie Michael Salewski und Keith W. Bird beurteilen Raeders Ansatz, sowohl U-Boote, als auch schwere Überwasserstreitkräfte im Handelskrieg einzusetzen, als ein adäquates Konzept für eine effektive Herausforderung der britischen Seeherrschaft. Zwar verbesserte sich durch die Besetzung Norwegens und der französischen Atlantikküste ab 1940 die geostrategische Ausgangslage für die Kriegsmarine, doch hatte die Kriegsmarine aufgrund ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit trotz anfänglicher Erfolge vor allem im U-Bootkrieg der alliierten Übermacht zur See langfristig nichts entgegenzusetzen. Der Untergang des Schlachtschiffs Bismarck im Mai 1941 bedeutete faktisch das Ende der atlantischen Operationen der deutschen Überwasserschiffe und damit das Scheitern der offensiven deutschen Überwasserstrategie. Der Abbruch der Konvoischlachten aufgrund der massiv gestiegenen U-BootVerluste durch Dönitz im Mai 1943 markierte schließlich die endgültige deutsche Niederlage in der Schlacht im Atlantik. WEITERFÜHRENDE LITERATUR Keith W. Bird, Erich Raeder – Admiral of the Third Reich, Annapolis 2006. Kurt Fischer, Großadmiral Dr. phil. h.c. Erich Raeder, in: Gerd R. Ueberschär (Hg.), Hitlers militärische Elite. Lebensläufe, 2., verb. Aufl., Darmstadt 2011, 185–194. John B. Hattendorf: Mahan, Alfred Thayer; in: John B. Hattendorf (Hg.): The Oxford Encyclopaedia of Maritime History, Bd. 2, Factory Ships – Navies, Great Powers, Japan, Oxford 2007, 441– 443. Holger H. Herwig: Der Einfluß von Alfred Th. Mahan auf die deutsche Seemacht; in: Werner Rahn (Hg.): Deutsche Marinen im Wandel – Vom Symbol nationaler Einheit zum Instrument internationaler Sicherheit, Beiträge zur Militärgeschichte, hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd. 63, München 2005, 127–142. Rolf Hobson: Maritimer Imperialismus – Seemachtideologie. Seestrategisches Denken und der Tirpitzplan 1875 bis 1914, Beiträge zur Militärgeschichte, hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd. 61, München 2004. Alfred Thayer Mahan: The Influence of Sea Power upon History, 5. Aufl., Boston 1894 (Reprint, Mineola N.Y. 1987). Alfred Thayer Mahan: The Influence of Sea Power upon the French Revolution and Empire, 2. Bde., London 1892, (Reprint, St. Clair Shores, Michigan. o.J.) Wolfgang Petter: Deutsche Flottenrüstung von Wallenstein bis Tirpitz; in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.): Deutsche Marinegeschichte der Neuzeit, Deutsche Militärgeschichte in sechs Bänden 1648–1939, Bd. 5, Herrsching 1983, 13–262. Werner Rahn, Strategische Operationen und Erfahrungen der deutschen Marineführung 1914 bis 1944: Zu den Chancen und Grenzen einer mitteleuropäischen Kontinentalmacht gegen See-

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mächte; in: Werner Rahn (Hg.), Deutsche Marinen im Wandel. Vom Symbol nationaler Einheit zum Instrument internationaler Sicherheit, Beiträge zur Militärgeschichte, hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd. 63, München 2005, 197–234. Michael Salewski: Die deutsche Seekriegsleitung 1935–1945, 3 Bde., Frankfurt am Main 1970– 1975. Michael Salewski, Erich Raeder – Oberbefehlshaber „seiner“ Marine, in: Ronald Smelser und Enrico Syring (Hg.), Die Militärelite des Dritten Reichs. 27 biographische Skizzen, 2. Aufl., Berlin/Frankfurt am Main 1998, 406–422. Guntram Schulze-Wegener: Deutschland zur See. Illustrierte Marinegeschichte von den Anfängen bis heute, 2. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Hamburg 2007.

MARINEN IM 21. JAHRHUNDERT Konstanten, Spannungsfelder und Trends Udo Sonnenberger/Sebastian Bruns Unser Jahrhundert wird zuweilen als maritimes, häufig auch noch pointierter als pazifisches Jahrhundert bezeichnet. In Bezug auf die globalisierten Warenströme, die maßgeblich über See stattfinden, und die wachsende Bedeutung des asiatischpazifischen Raumes mag dies zutreffend sein. Gleichzeitig wird die Phase seit dem Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart aus militärischer Sicht teilweise als „postnaval era“ 1 gedeutet. Diese Beobachtung fußt unter anderem darauf, dass es seit dem Zweiten Weltkrieg keine kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen größeren Flottenverbänden auf See mehr gab. Begriffe wie „Seemacht“ und „Seeherrschaft“ finden zumindest in Deutschland auch aus diesem Grunde kaum noch Eingang in die Debatte über maritime Aspekte von Außen- und Sicherheitspolitik. Vielmehr hat eine zunehmende „Versicherheitlichung“ auch hier Einzug gehalten. Unter dem Begriff „Maritime Sicherheit“ sammelt sich eine große Bandbreite von Herausforderungen und Bedrohungen, denen gemein ist, dass wir mit ihnen zumeist in einem Zustand des Nichtkrieges oder Spannungsfalles, aber weniger im offenen Kriegszustand konfrontiert werden. Gleichzeitig bedarf es offensichtlich größerer Anstrengungen, um auch gesamtgesellschaftlich eine Sensibilität dafür zu wecken, dass der Wohlstand unserer exportorientierten Volkswirtschaft im Wesentlichen vom freien und ungehinderten Seehandel abhängt. Damit kommt Seestreitkräften, die diese Freiheit wesentlich gewährleisten sollen, eine systemische Funktion zu, die über althergebrachte Begriffe hinausgeht. Für den Schutz der Handelsschifffahrt bedarf es institutioneller Seemacht eines maritim denkenden und handelnden Staates – und einer funktionalen Seemacht, also eine konkrete Ausübung im Krisenoder Konfliktfall.

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Anmerkung der Verfasser: Sofern englische Begriffe verwendet werden, geschieht dies vor dem Hintergrund fehlender deutscher Entsprechungen, im Sinne einer notwendigen sprachlichen Präzision oder weil in der wissenschaftlichen Debatte vornehmlich das englische Vokabular verwendet wird.

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DER WANDEL VON SEESTREITKRÄFTEN SEIT DEM ENDE DES 20. JAHRHUNDERTS Seestreitkräfte sind daher keineswegs obsolet, nur weil insbesondere die Industrienationen der nördlichen Halbkugel in den vergangenen Jahrzehnten vom mare liberum profitierten. Marinen müssen sich vielmehr einer weitaus größeren Bandbreite an Herausforderungen stellen, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Diese umfassen mittlerweile schwerpunktartig Seeraumüberwachungsmissionen zur Verhinderung von illegalem Waffenhandel, der Proliferation von Massenvernichtungswaffen, die Bekämpfung von Piraterie und Schleuseraktivitäten und humanitäre Hilfeleistungen. Diesen Aufgaben ist gemein, dass sie sich nicht auf einzelne Territorialgewässer beschränken und eine internationale Zusammenarbeit horizontal unter größeren und kleineren Marinen und vertikal – mit Küstenwachen, NGOs, Sicherheitsregimen, Polizei und Zivilisten – erforderlich ist. Nichtstaatliche Gewaltakteure und kriminelle Organisationen werden die globalen Seehandelswege auch weiterhin für ihre Aktivitäten nutzen. Dabei werden einerseits Konflikte an Land negative Auswirkungen auf die Sicherheit in angrenzenden Küstengewässern haben und anderseits diese Krisenherde durch seeseitige Einflüsse befeuert. Bei dieser Wechselwirkung spielen maritime Kräfte eine zentrale Rolle als politisches Instrument. Parallel dazu ist aber weiterhin die Bereitschaft und Fähigkeit zum Kampf gegen feindliche Seestreitkräfte materiell und im Hinblick auf die entsprechende Ausbildung des Personals sicherzustellen. Insbesondere die wachsenden Spannungen zwischen der NATO und Russland und eine mögliche Konfrontation zwischen der Volksrepublik China, den Nachbarstaaten und den Vereinigten Staaten von Amerika im Südchinesischen Meer führen dazu, dass diese Aufgabe wieder verstärkt in das Blickfeld sicherheitspolitischer und militärischer Akteure gerät. Derzeit gibt es zwar keine maßgeblichen staatlichen Akteure, die ein Interesse hätten, den globalen Seeverkehr zu stören oder regional zu unterbinden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass sich sowohl westliche Seestreitkräfte, als auch Russland und China – wenn auch im Rahmen unterschiedlicher Missionen – im Kampf gegen die Piraterie am Horn von Afrika engagierten. Die geschilderten Konflikte und der Umstand, dass sich alle Seiten wieder auf operative Konzepte berufen, die für einen full scale war während des Kalten Krieges entwickelt wurden, sind gleichwohl aber zumindest Warnzeichen, dass die Freiheit des Seeverkehrs keine Selbstverständlichkeit ist und auch im Vergleich zur NATO unterlegene Marinen zumindest regional eine Gefahr des maritimen Friedens und der guten Ordnung auf See darstellen können. Zahlreiche Staaten, insbesondere im arabischen und asiatischen Raum, haben in den vergangenen Jahren große finanzielle Anstrengungen unternommen, um vor allem U-Boote und Schiffe mit Flugkörperbewaffnung zu erwerben, die dem modernsten rüstungstechnologischen Stand entsprechen. Dies führt einerseits zu regionalen Rüstungswettläufen und fordert andererseits, zumindest in begrenzten Seegebieten, die führenden Marinen der NATO heraus. Zusätzlich stellen moderne land- und seegestützte Flugkörper die vermeintliche Unangreifbarkeit

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insbesondere der US-amerikanischen Flugzeugträgerkampfgruppen in Frage. Manche Militäranalysten fürchten gar, dass diese Systeme in die Hände nichtstaatlicher Gewaltakteure geraten könnten. Die Angriffe auf Kriegsschiffe im jemenitischen Bürgerkrieg haben einen ersten Vorgeschmack darauf geliefert, obschon auch klassische asymmetrische Methoden wie ferngezündete Sprengboote nicht außer Mode gekommen sind. DAS VERÄNDERTE EINSATZUMFELD Zusätzlich lässt sich eine räumliche Verschiebung des Schwerpunkts des Einsatzes von Seestreitkräften feststellen. Es galt in den vergangen zwei Jahrzehnten nicht mehr eine Entscheidungsschlacht zwischen zwei Flottenverbänden herbeizuführen und Seeherrschaft zu erringen. Insbesondere die US-Marine betonte in ihren seestrategischen Konzepten ab Beginn der 1990er-Jahre die Bedeutung von Küstenzonen. Dort müssen sich Seestreitkräfte zwangsläufig dann aufhalten, wenn sie Häfen und Meerengen als Knoten- und Zugangspunkte unseres globalisierten Wirtschaftssystems sichern wollen. Damit gehen Aufgaben wie die Verhinderung des Transports von illegalen Gütern oder Menschenhandel, Aufklärung, humanitäre Hilfe und die Unterstützung von Landstreitkräften einher. Das Aufgabenspektrum von Seestreitkräften erweiterte sich damit von der Wahrung und gegebenenfalls Wiederherstellung einer good order at sea auch zu einer good order from the sea. Das deutsche Konzept „Basis See“ aus dem Jahr 2007 subsummiert die Vorteile von Marineeinheiten für militärische Landoperationen: Es betont den besonderen Rechtsstatus der Hohen See, der eine Stationierung von Seestreitkräften über lange Zeit ohne diplomatische Anmeldung und ohne politische Zustimmung eines Staates flexibel zulässt und damit die Demonstration politischer Entschlossenheit ohne völkerrechtliche Implikationen ermöglicht. Ohne eine landseitigen footprint können diplomatische Maßnahmen, Nachrichtengewinnung und in letzter Konsequenz auch der Einsatz militärischer Gewalt im Sinne einer weltweiten Machtprojektion sichergestellt werden. Gleichwohl setzen sich damit auch sehr fortschrittlich ausgerüstete Marinen der Gefährdung durch landseitige asymmetrische Bedrohungen aus. Inwiefern es gelingt, dieses Konzept auch zukünftig umzusetzen bleibt abzuwarten. Eine dafür notwendige Beschaffung unter anderem eines Joint Support Ship wird in Kreisen der Deutschen Marine wiederkehrend diskutiert. Derzeit ist es in den Haushaltsplanungen nicht hinterlegt, wenngleich es im Rahmen einer Kooperationsvereinbarung mit den Niederlanden erste Fortschritte gibt. Wie alle übrigen Marinen Europas und der NATO räumte auch die Deutsche Marine den gegenwärtigen Einsatzherausforderungen eine höhere Priorität ein.

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DIE FORTWÄHRENDE BEDEUTUNG TRADITIONELLER SEEKRIEGSMITTEL Die zahlreichen Landkonflikte seit 2001 in Zentralasien sowie im Nahen und Mittleren Osten, an denen auch Streitkräfte der NATO-Verbündeten beteiligt waren, führten dort zu einem stetigen Wandel von Bewaffnung und militärischen Doktrinen bei Heer und Luftwaffen, in Teilen auch Marineinfanterie. Für die klassischen Seestreitkräfte gilt dies weit weniger. Planungen bezüglich umfassenderer Seekriegshandlungen zwischen annähernd qualitativ und quantitativ ebenbürtigen Gegnern und daraus folgende Rüstungsprojekte mussten sich seit nunmehr 70 Jahren nur vereinzelt und in geringer Dimension einer Prüfung in der Realität unterziehen. Die regional und hinsichtlich der eingesetzten Seekriegsmittel begrenzten Kampfhandlungen auf See in den vergangenen Jahrzehnten verdeutlichen dennoch Zäsuren und lassen exemplarisch Rückschlüsse auf die Umsetzbarkeit und Wirkung des konkreten Einsatzes von Waffensystemen und damit verbundener Einsatzkonzepte zu. So wurde 1967 das Zeitalter der Flugkörper im Seekrieg eingeläutet, als der israelische Zerstörer INS Eilat von ägyptischen Schnellbooten durch Raketen aus sowjetischer Produktion versenkt wurde. Nur sechs Jahre später, während des YomKippur-Krieges 1973, fand erstmals ein Gefecht zwischen Flugkörperschnellbooten statt. Gleichzeitig wurden dabei durch die israelische Marine erfolgreich elektronische Störmaßnahmen gegen die anfliegenden Flugkörper der syrischen Marine eingesetzt und es gelang, die gegnerischen Einheiten ohne eigene Verluste zu versenken. Als Folge intensivierte sich die Entwicklung und die Einrüstung von Flugkörpern und Anlagen für den sogenannten „elektronischen Kampf“ auf Kriegsschiffen. Schon längst bemisst sich der Kampfwert eines Schiffes heute daher nicht mehr an der Anzahl, Kaliber und Reichweite der Rohrwaffen, sondern wesentlich an seiner Flugkörperbewaffnung, aber auch der Fähigkeit, gegnerische Schiffe über die Reichweite der Bewaffnung hinaus rechtzeitig aufzuklären und gegnerische Angriffe wiederum durch Störmaßnahmen zu vereiteln. 2 Neben Flugkörpern sind dabei der Torpedo und die Seemine die wirksamsten Waffen speziell gegen Überwassereinheiten. Sie beruhen dabei im Prinzip bis heute weitgehend auf dem technischen Stand aus der Zeit der beiden Weltkriege. Gleichwohl wurden diese Seekriegsmittel seit Beginn der 1990er-Jahre durch die veränderte Bedrohungsperzeption nicht nur von der Deutschen Marine vernachlässigt. Insbesondere die Fähigkeit zum Legen von Minensperren zur Verteidigung der eigenen Territorialgewässer ist durch die ersatzlose Außerdienststellung zahlreicher dazu befähigter Einheiten und eine unzureichende Bevorratung derzeit vermutlich stark eingeschränkt.

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Eine gewisse Renaissance erfahren allerdings Geschütze neuerdings insofern, dass sie angesichts asymmetrischer Bedrohungen häufig einen größeren Einsatzwert gegen kleine und schnelle Boote haben.

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Flugkörper und Torpedos bestimmten auch die Seegefechte des Falklandkrieges zwischen der britischen Royal Navy und der argentinischen Marine vor 35 Jahren. Dieser Konflikt ist bis heute Ausgangspunkt für das Studium des modernen Seekriegs und daher für Historiker wie für Politikwissenschaftler von gesteigertem Interesse. So versenkte das britische Atom U-Boot HMS Conqueror den argentinischen Kreuzer ARA General Belgrano (übrigens einen ehemaligen US-Kreuzer, der den japanischen Angriff auf Pearl Harbor 1941 überstanden hatte) durch einen Torpedo jener Bauart, die bereits in den 1920er-Jahren entwickelt wurde. Den Argentiniern wiederum gelang durch Exocet-Flugkörper aus französischer Produktion, den Zerstörer HMS Sheffield zu versenken und der Royal Navy damit den ersten größeren Verlust seit dem Zweiten Weltkrieg zuzufügen. Die britische Marine musste im Verlauf des Falklandkrieges noch einige weitere Schiffsverluste durch Flugkörper verzeichnen. Alle skizzierten Kampfhandlungen haben gemein, dass nur vergleichsweise wenige Einheiten beteiligt waren. Dies gilt auch für die übrigen Seegefechte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So bezeichnete der Kommandant des amerikanischen Flugzeugträgers USS Enterprise die Operation „Praying Mantis“, in der 1988 US-Schiffe und Marineflieger eine iranische Fregatte, ein Patrouillenboot und drei Schnellboote versenkten, auch ironisch als „Amerikas größte Seeschlacht seit dem Zweiten Weltkrieg“. TRENDS Neben den dargestellten Konstanten lassen sich jedoch auch Tendenzen erkennen, die das maritime Umfeld aus militärischer und sicherheitspolitischer Sicht in den nächsten Jahrzehnten prägen und möglicherweise nachhaltig verändern werden. Neben der bereits dargestellten Nutzung der See für illegale und terroristische Aktivitäten wird der Aufstieg der asiatischen Marinen, insbesondere der chinesischen People’s Liberation Army Navy (PLAN), die Kräfteverhältnisse verschieben. Ob der von US-Präsident Barack Obama 2011 erklärte „Pivot to Asia“ sich in der amerikanischen Außenpolitik fortsetzen wird, ist spekulativ. Es ist aber unstrittig, dass der Aufwuchs der chinesischen Marine und deren Nutzung zur Untermauerung von Pekings geopolitischen Ansprüchen aus der Perspektive der US-Navy die wesentlichste sicherheitspolitische Herausforderung darstellt. Im Hinblick auf die Flottenstrukturen lässt sich zwar einerseits feststellen, dass zahlreiche Staaten in den vergangenen Jahren zur Kontrolle ihrer Küstengewässer kleinere und leicht bewaffnete Boote und Schiffe beschafften. Gleichzeitig ist aber ein Spagat zwischen potentiellen hochintensiven Gefechten und langandauernden Stabilisierungsmissionen in einem zunehmend volatilen sicherheitspolitischen Umfeld zu bewältigen. Mit Ausnahme einiger Marinen im asiatischen und arabischen Raum besitzen alle Seestreitkräfte seit Ende der Ost-West-Konfrontation nur noch einen Bruchteil ihres Umfangs. Es wurden vermehrt Schiffe entwickelt und beschafft, die im Hinblick auf das veränderte breitere Aufgabenspektrum ausgerichtet sind und damit einerseits lang andauernde Seeraumüberwachungsoperationen, aber

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gleichzeitig auch die Fähigkeit zum hochintensiven Gefecht abbilden sollen. Durch Entwicklungs-, Beschaffungs- und Nutzungszyklen, die sich teilweise über mehrere Jahrzehnte erstrecken, wird seitens der Budgetverantwortlichen ein entsprechendes Potential gefordert, um der Ungewissheit über zukünftige Entwicklungen im Sinne eines Imperativs des technologischen Fortschritts gerecht zu werden. Neben diesen monetären Erwägungen beschreiten aufstrebende Nationen diesen Weg aber auch, um mit größeren seetüchtigeren und kampfkräftigeren Schiffen ihren Einsatzradius aus den eigenen Küstengewässern bis auf die Hohe See verlagern wollen. Am deutlichsten formuliert wiederum China diesen Anspruch auf globale Einsatzfähigkeit und Machtprojektion. Diese Rolle kann gegenwärtig nur von der US-Navy tatsächlich beansprucht werden. Aus technologischer Sicht wird die militärische Nutzung der See in den kommenden Jahrzehnten von einer zunehmenden Autonomisierung von Waffensystemen beeinflusst werden. Auch Laser und elektromagnetische Waffen („Railguns“) befinden sich bereits im fortgeschrittenen Entwicklungsstadium und haben ebenso wie der Cyberraum und das Problem der Nachwuchsgewinnung in schrumpfenden Gesellschaften das Potential, Veränderungen in der Seekriegsführung zu bewirken.

ENTDECKEN Eine kleine Mentalitätsgeschichte Wolfgang Schmale DER EUROPÄER – EIN ENTDECKER Dass Europäer die Welt entdeckten und umgestalteten, gehört zu den populären Annahmen. Aus der Binnensicht Europas ist das auch richtig. Ab dem 15. Jahrhundert schoben sich portugiesische Schiffe zunächst längs der westafrikanischen Küste immer weiter nach Süden, bis 1488 Bartolomeu Diaz das später so genannte Kap der Guten Hoffnung erreichte und weiter an der Ostküste Afrikas segelte, bis er umkehrte. 1492 ‚entdeckte‘ Kolumbus ‚Amerika‘. Und so ging es scheinbar weiter bis ins frühe 20. Jahrhundert, in dem das Innere Afrikas, die Arktis und die Antarktis auf dem – weniger ausschließlich als früher europäischen – Entdeckungsplan stehen. Das Entdecken neuer Technologien, Produktionstechniken, insgesamt das Erfinden sind im europäischen Selbstverständnis bis ins 19. Jahrhundert hinein Eigenschaften vorzüglich der Europäer. Obwohl in der umfangreichen frühneuzeitlichen Literatur, die der Schilderung von solchen See- und Entdeckungsfahrten gewidmet war, durchaus konkret von Portugiesen, Spaniern, Engländern, Franzosen, Niederländern usw. die Rede war, wurde auch austauschbar allgemein von Europäern geschrieben. Die Zuschreibung der Eigenschaft des Entdeckers erfolgte unterm Strich mit Bezug auf ‚die Europäer’. Längst wissen wir vieles besser, vor allem ist das Bewusstsein dafür gestiegen, dass „entdecken“ und „erfinden“ relative beziehungsweise subjektive oder, kritisch formuliert, europazentrische Begriffe sind. Ein Teil der Sichtweisen, die den Europäer als Entdecker betreffen, verfestigte sich im 18. Jahrhundert. Es gibt eine interessante und in Europa weit verbreitete Bildquelle, die so manches verrät und auf die als erstes geschaut werden soll: Erdteilallegorien.

DIE SPRACHE DER ERDTEILALLEGORIEN Im Verlauf des 16. Jahrhunderts entwickelte sich eine im Kern einfache und eingängige Visualisierungsformel für die Erde, die vielleicht nicht ganz so einfach wie

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Erdkugel oder Globus war, aber dennoch umstandslos verstanden werden konnte. 1 Es handelt sich um die vier Erdteilallegorien der Europa, der Asia, der Africa und der America. 2 Üblicherweise treten immer alle vier gemeinsam auf, sie sind aufgrund ihrer Ausstattung unschwer zu identifizieren. Zunächst handelte es sich um eine Visualisierung der Welt unter dem Gesichtspunkt der angenommenen vier Hauptkulturen oder Zivilisationen, die jeweils mit einem Kontinent in eins gesetzt wurden und die sich eher an den Kreis der Humanisten bzw. Gebildeten richteten. Die vier Erdteilallegorien finden sich anfangs in Frontispizen von Atlanten, in Fest- und anderen Sälen in den Palais von weltlichen und kirchlichen Fürsten sowie hohen Adligen, werden aber im Lauf der Zeit popularisiert. Im 18. Jahrhundert, aus dem die meisten Erdteilallegorien stammen, finden diese sich selbst in Dorfkirchen, und zwar nicht nur hin und wieder, sondern in bestimmten Regionen wie im Fürstbistum Augsburg und in Südtirol flächendeckend. 3 Grundsätzlich trifft man überall in Europa auf die Erdteilallegorien, sie sind aber offenbar in Italien, im Süden des Heiligen Römischen Reiches und in den österreichischen Erblanden besonders häufig eingesetzt worden, wenn es darum ging, weltliche oder kirchliche Gebäude mit Fresken bzw. Stuck auszustatten. Der Kernraum des Barock bedeutete zugleich eine Hochkonjunktur der vier Erdteilallegorien, die im Übrigen in allen gängigen bildtragenden Medien zu finden sind (also einschließlich Kanzeln, Altarbildern, Graphik, Gemälde, Webteppiche, Porzellan, Tonfiguren, Ofenkacheln usw.). Es gab ein paar Grundsätze, die die Künstler in der Regel beachteten und die in Vorlagenbüchern wie Cesare Ripas berühmter „Iconologia“ standardisiert worden waren. 4 Die Figur der Europa ist immer die vornehmste, ihre Attribute zeigen (soweit Platz vorhanden ist) die Fülle europäischer Kultur. Am unteren Ende der Hierarchie steht meistens die America, wenig bekleidet, ihre Attribute bezeugen ihre

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Abraham Ortelius, Theatrum orbis terrarum, Antwerpen 1570. Frontispiz: Das Frontispiz vereinigt erstmals die vier Erdteilallegorien und kennt zudem eine fünfte für „Feuerland“. Abbildungsbeispiel: . Typologie der Erdteilallegorien: Sabine Poeschel, Studien zur Ikonographie der Erdteile in der Kunst des 16.–18. Jahrhunderts, München 1985. Stand der Forschung: Wolfgang Schmale/Marion Romberg/Josef Köstlbauer (eds.): The Language of Continent Allegories in Baroque Central Europe, Stuttgart 2016. Datenbank (Forschungsprojekt P23980 des österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung FWF, Projektleitung: Wolfgang Schmale). (Alle zitierten URLs wurden zuletzt am 13. Juni 2017 besucht.) Diesen Befund lieferte das in Anm. 1 zitierte Forschungsprojekt; Details in . Zum Fürstbistum Augsburg s. Marion Romberg, Die Welt im Dienst des Glaubens. Erdteilallegorien in Dorfkirchen auf dem Gebiet des Fürstbistums Augsburg im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2017. Die Erstausgabe von Cesare Ripas „Iconologia“ erschien 1593 in Rom. Die Ausgaben seit 1603 wurden bebildert. Kurzinfo sowie Links zu digitalisierten Versionen der Iconologia sind zu finden auf: .

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Naturwüchsigkeit im Gegensatz zu Europa als Inbegriff von Zivilisation und oftmals Weltherrschaft. Trotz Standardisierung bestand Raum für unzählige Variationen, der Blick auf die vier Allegorien ist zumeist ein freundlicher und wertschätzender – ungeachtet der impliziten Hierarchie der vier Kontinente und Kulturen. GIOVANNI BATTISTA TIEPOLOS NEUGIERIGE EUROPÄER Zu den berühmtesten Fresken mit den Erdteilallegorien zählt Giambattista Tiepolos Ausführung im Treppenhaus der Würzburger fürstbischöflichen Residenz aus den Jahren 1752–1753. 5 Die Fresken entfalten sich auf über 600m² Fläche und zeigen daher sehr viel mehr als nur vier allegorische Figuren. Der Gedanke, dass jede Erdteilallegorie für eine Zivilisation steht, ist in Würzburg opulent ausgeführt, da kein Platzmangel herrschte. Tiepolo und seine beiden Söhne, die ihn in Würzburg unterstützten, war ein großartiger und dabei witziger Maler. Rechts neben der America malte er eine Szene mit Feuer – das Feuer steht für den Ursprung der Zivilisation –, vor dem sich ein Europäer auf dem Boden liegend befindet. Es sieht so aus, als puste er Luft/Sauerstoff ins Feuer, das heißt, er facht die Zivilisation an. Tiepolo ‚schmuggelte‘ in die Szenen neben der Figur der Africa neugierige Europäer hinein, die sich einem dort befindlichen Zelt nähern. Einer kriecht am Boden und hebt die Zeltplane an, um hineinzuschauen. Auch im Bereich der Asia befinden sich Europäer und Europäerinnen, darunter Tiepolo im Selbstporträt; der Zusammenhang besteht im Christentum, das in Asien entstand, aber dann – so Tiepolos und vieler anderer Künstler Botschaft – zur Identität Europas wurde. Die neugierigen Europäer in Afrika führen uns direkt zum Thema der Entdeckungen. Tatsächlich machte man sich im 18. Jahrhundert Gedanken, was typische Eigenschaften des Europäers seien. Schon der Kollektivsingular „der Europäer“ wurde erst im 18. Jahrhundert geprägt. 6 Karl von Linné verwendete 1735 in seiner epochemachenden Veröffentlichung „Systema Naturae“ die Bezeichnungen „homo europaeus“, „homo asiaticus“ usw. Wörtlich übersetzt lautet dies „europäischer Mensch“, „asiatischer Mensch“, usw. Dieser Ausdruck wurde aber im Deutschen, Französischen oder Englischen erst sehr viel später (19. bzw. 20. Jahrhundert) verwendet, während es im 18. Jahrhundert in den verschiedenen Sprachen „der Europäer“ hieß.

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Bildmaterial und bibliographische Hinweise: . Ausgezeichnete Detailabbildungen in: Peter O. Krückmann (Hg.), Der Himmel auf Erden. Tiepolo in Würzburg, München 1996. Zum Folgenden siehe zusammenfassend: Wolfgang Schmale: Gender and Eurocentrism. A conceptual approach to European history, Kapitel IV, Fallstudie II: The Gender of Eurocentrism: Homo Europaeus, 96–126.

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Auch im 19. und 20. Jahrhundert wurde die Frage gestellt, was den Europäer eigentlich zum Europäer mache. Dabei wurde nach „Modelleuropäern“ gesucht. Unter anderem schien Odysseus als Modell geeignet, dem typische Eigenschaften des Europäers zu entnehmen seien. In Odysseus finden sich der Seefahrer und der Entdecker, außerdem der Händler oder Kaufmann – je nach Lektüre der Odyssee. Es lässt sich vermuten, dass die Annahme, das Entdecken gehöre zur Identität des Europäers dazu, erst im 18. Jahrhundert entstand. Was aber haben die „Entdecker“ des 15. und der folgenden Jahrhunderte dann getan? Haben sie neue Länder entdeckt oder sind sie nur, zum Beispiel, über etwas ‚gestolpert‘? Oder waren sie in erster Linie Eroberer? Schauen wir zuerst auf das wichtigste ‚Werkzeug‘ der Entdeckungen, das Schiff. SCHIFFE Keine Entdeckung ohne Schiff. Das gilt so sehr, dass sogar bezüglich des Weltraums von „Raumschifffahrt“, von „space ship“, von „vaisseau spatial“ oder „navette spatiale“, von „astronave“ oder von (Polnisch) „statek kosmiczny“ gesprochen wird. Die (scheinbare) Zusammengehörigkeit von Schiff und Entdecken wurde zum festen Bild im ikonografischen wie im sprachlichen Sinn. Schiffe sind beispielsweise bei den Erdteilallegorien ein geläufiges Attribut, aber sie verweisen eher auf Handel oder auf die Ankunft eines Missionars wie Franz Xaver. 7 Im Wiener Augartenpalais (ca. 1692) 8 fährt das Schiff zwischen Europa und Amerika, es verweist aber in erster Linie auf Handel und Christentum, weniger auf Entdeckung. Nun ist die Christianisierung der Erde zusammen mit dem Handel eng mit den Entdeckungsreisen verbunden, gehört also zum Komplex ursprünglicher Motive für Schifffahrten. In der Metapher des Staatsschiffs, die beispielsweise in der Europaallegorie (1717/1718) im Schloss Weißenstein in Pommersfelden 9 eingesetzt wurde, schwingt, übertragen auf die Seefahrten, der Transfer der europäischen Idee von gemeinschaftlicher Ordnung in andere Kontinente mit. Das Schiff bildet außerdem eine wichtige Metapher für die christliche(n) Kirche(n). Das Schiff steht daher für Christentum, Handel und Ordnung von Gemeinwesen. Die Verschmelzung von Schiff beziehungsweise Schifffahrt mit Entdecken zu einem festen ikonografischen wie sprachlichen Bild hängt zweifellos mit der Bedeutung von Schiff im Alten wie im Neuen Testament zusammen. 10 Die Arche Noah scheidet sogar eine ursprüngliche Zivilisation von einer neuen, die im 16. 7

In der Datenbank kann direkt nach Schiff gesucht werden: Index>Iconclass>Suchfeld>„Schiff“ eingeben. 8 Eigentlich Palais Leeb, Bild: (ca. 1692). 9 Abbildungen: . 10 Bilder zum Thema Schiff in der Bibel: Arvid Göttlicher, Die Schiffe im Alten Testament, Berlin 1997; Arvid Göttlicher, Die Schiffe im Neuen Testament, Berlin 1999.

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Jahrhundert noch andauerte – so hat es sinngemäß Sebastian Münster in seiner Kosmografie, die erstmals 1544 erschienen ist, ausgedrückt. 11 In der Erzählung von Jonas spielt das Schiff eine zentrale Rolle, man denke zudem an das Motiv des Fischerboots in der Lebenserzählung von Jesus. Sturm, über Bord gehen, Schiffbruch sind Teil der biblischen Erzählungen. Bis zu einem gewissen Grad wiederholen daher die Schifffahrten des 15. und 16. Jahrhunderts im Selbstverständnis der Zeitgenossen biblische Muster, die sich sowohl auf die Glück verheißenden wie gefährlichen Seiten der Schifffahrt bezogen. Zugleich – wir befinden uns im Zeitalter des Humanismus – wurden die antiken Schriften rezipiert, die Schifffahrten reichlich thematisiert hatten. In der Vorrede zur Kompilation verschiedener Berichte aus verschiedenen Sprachen zu See- und Entdeckungsfahrten schreibt der Kompilator Conrad Löw, der sich selbst als „der Historien Liebhaber“ bezeichnet und der hier aus exemplarischen Gründen zitiert wird, ein Vorwort an den „Großgünstigen und Vilgeliebten Leser“ (1598). 12 Auf einer einzigen Seite, denn mehr umfasst das Vorwort nicht, bringt er faktisch alle mentalen Hintergründe zusammen. Er beginnt mit einer Bezugnahme auf das Alte Testament (Salomon und die Schifffahrt), es folgen mehrere römische Quellen (Cato, Kaiser Claudius, Pomponius Mela u.a.). Er beschreibt kurz die Entwicklung der „Kunst der Seefahrt“ in den letzten hundert Jahren, erwähnt Kolumbus, der die „New Welt … im namen der Königen von Hispanien erfunden“ habe – eine typische Formulierung. Und dann bereits setzt die Begründung ein, warum es, modern gesprochen, ein historisches Gedächtnis der See- und Entdeckungsfahrten geben müsse: Solche Reisen und Schiffarten/vnd besundere/auff welche/newe vnd beuor vnbekante Länder vnd Inseln/entdeckt vnd erfunden/seind wol werth das sie/vnd die so solche als rechte Meer oder Seehanen gethan nit in vergeß gestellt/sondern fleissig auff die nachkom(m)en bracht werden.

Es soll den Nachkommen überliefert werden, und zwar die Seefahrten selber als auch die Seefahrer, also die, modern gesprochen, Helden der Geschichte. Die Entdeckungsfahrten sind es „wert“ überliefert zu werden. Dazu kommt, dass Löw Texte aus verschiedenen Sprachen gesammelt und ins Deutsche übertragen hat – wie exakt auch immer –, um zum Bau der Überlieferung beizutragen. Es dreht sich um ein europäisches Gedächtnis. Die Entdeckungsfahrten haben Ende des 16. Jahrhunderts Eingang in den sich ausbildenden Themenkanon einer „europäischen Geschichte“ gefunden. Versuchen wir folglich zu verstehen, wie sich Europäer als die Entdecker selber anzusehen begannen, als die wir sie im Allgemeinen sehen. Es handelt sich um eine kurze oder kleine Mentalitätsgeschichte des Entdeckens. 11 Zur „Kulturtheorie“ des Sebastian Münster s. Wolfgang Schmale, Sebastian Münster (1488– 1552), in: Heinz Duchhardt et al. (Hgg.), Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch. Band 1, 29–49, Göttingen 2006. 12 Conrad Löw, Meer oder Seahanen-Buch, darinn verzeichnet seind, die wunderbare, Gedenckwuerdige Reise und Schiffarhten (…), Köln 1598. Benutzt wurde das digitalisierte Exemplar der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt: urn:nbn:de:gbv:3:1-207171.

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KLEINE SPRACH- UND BEDEUTUNGSGESCHICHTE VON „ENTDECKEN“ Von Kolumbus als dem berühmtesten Entdecker ist ja bekannt, dass er keineswegs einen neuen Kontinent entdecken wollte, sondern den Seeweg nach Indien über die vermutete Westroute erkunden wollte. Diese Idee wiederum beruhte auf einer plausiblen Spekulation, die Kolumbus aus antiken und mittelalterlichen Schriften ableitete, die er ausführlich studiert hatte. Anfangs war er, so gesehen, ein Entdecker wider Willen. Ein Wörterbuch der deutschen Sprache von 1616 13 will die moderne Bedeutung von entdecken (ein Land entdecken) etc. überhaupt noch nicht kennen. 14 Von den 158 15 Treffern (in Google Books, ausgehend von der Ngram Viewer Suche) für das Deutsche zwischen 1500 und 1700 entfallen lediglich drei auf das Thema der Entdeckung anderer Länder oder Kontinente. Ein Mehrfaches an Treffern für diesen Zeitraum zeitigen die anderen Sprachen wie Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch. Das kritische Wörterbuch von Stosch aus dem Jahr 1775 hingegen definiert „entdecken“ wie folgt: „Man braucht das Wort erfinden, mehr von solchen Dingen, welche wir durch unsern Verstand und Nachdenken heraus bringen; Entdecken von solchen welche vorher nicht sind bekannt gewesen, die wir aber hernach wahrnehmen. Oder, erfinden beziehet sich auf solche Dinge, welche vorher wirklich noch nicht da waren; Entdecken auf solche welche zwar vorher wirklich da gewesen sind, aber noch nicht bemerket worden, und nun erst bekannt werden.“ 16 Wenig später treffen wir auf chronologische Listen der Entdeckungen, wie wir sie heute gewohnt sind. Adam Christian Gaspari publizierte 1797 den ersten Band von „Vollständiges Handbuch der neuesten Erdbeschreibung“ 17 mit einer solchen Chronologie, die mit „1. Vor der Völkerwanderung“ und als erstem Eintrag „Vor Moses„ beginnt. „Entdecken“ wird auf diese Weise zu einem universalhistorischen 13 Teutsche Sprach und Weiszheit. Thesaurus linguae et sapientiae germanicae, in quo vocabula omnia germanica ... continentur et latine redduntur. Adjectae sunt quoque dictionibus plerisque anglicae, bohemicae, gallicae, graecae etc, Verlag Francus, 1616. Benutzt wurde das Digitalisat der Österreichischen Nationalbibliothek . 14 Sub verbo, Spalte 898 (es gibt weitere Fundstellen im Wörterbuch, die dasselbe besagen). 15 Verschiedene Ausgaben desselben Titels mitgezählt. 16 S.J.E. Stosch, Predigers zu Lüdersdorf, Kritische anmerkungen über die gleichbedeutenden wörter der deutschen sprache, nebst einigen zusätzen, und beigefügtem etymologischen verzeichnisse derjenigen wörter der französischen sprache, welche ihren ursprung aus der deutschen haben. Frankfurt an der Oder 1775, 274 . 17 Adam Christian Gaspari, Professors zu Jena, Vollständiges Handbuch der neuesten Erdbeschreibung. Welcher die allgemeine Einleitung, und einen Theil von Deutschland enthält. Weimar, im Verlage des Industrie-Comptoirs, 1797. Benutzt wurde die digitalisierte Ausgabe der Bayerischen Staatsbibliothek München .

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Phänomen, das bis ins Mittelalter viele Völker auszeichnet. Ab dem 16. Jahrhundert listet der Autor nur noch europäische Entdeckungen auf. Interessant ist das Bewusstsein von der Relativität einer Entdeckung. So schreibt Gaspari den Normannen für 895 die „Erste Entdeckung der neuen Welt“ zu, für „1200–1300“ notiert er: „Die Canarischen Inseln werden wieder gefunden“; beim Jahr 1302 vermerkt er: „ Gioia entdeckt nach der gemeinen Meinung den Compaß“. 18 Die weitaus meisten Einträge werden für das 16. Jahrhundert ausgewiesen. In der Regel wird der Name des Seefahrers/Entdeckers genannt, teilweise heißt es „Spanier“, „Portugiesen“, „Araber“, „Russen“, manchmal ist unbestimmt vom ‚ersten europäischen Schiff’ die Rede wie 1498: „Das erste europäische Schiff langt in Ostindien an“. 19 Das „Entdecken“ erscheint Ende des 18. Jahrhunderts als vollständig in das Konzept von europäischer Geschichte integriert. Aber wie stand es damit um 1500? Ein kursorischer Blick auf Publikationen seit dem späten 15. Jahrhundert, die sich mit Themen befassen, die wir gewöhnlich in die Schublade der Entdeckungsfahrten räumen, zeigt, dass beispielsweise im Deutschen das Verb „entdecken“ selten verwendet wurde. Eher war von „finden“, „erfinden“ oder „auffinden“ u. ä. die Rede. Eine fünf europäische Sprachen vergleichende Wortsuche mithilfe des Ngram Viewer von Google, der in Google Books Texte durchsucht, erbringt für das Verb „entdecken“ 20 den folgenden Befund (Grafik bitte direkt über die in Anm. 21 angegebene URL aufrufen 21): Dass die Wortfrequenz je nach Sprache und Zeitpunkt zwischen 0,01% und 0,06% schwankt, bedeutet nicht, dass das Wort sehr selten gewesen ist, im Gegenteil, beide Werte sind im Vergleich zu anderen Begriffen recht hoch. Wörter, die zum Basiswortschatz einer Sprache gehören und daher extrem häufig eingesetzt werden, erreichen eine Frequenz von 1% bis 3%. Bei der Begriffssuche ist die moderne Schreibweise der Begriffe zugrunde gelegt, wie sie sich zumeist im 18. Jahrhundert etablierte, aber es wurde „case insensitive“ gesucht, das heißt, dass orthographische Abweichungen (Groß-oder Kleinschreibung) eingeschlossen sind. Nur das englische „discover“ ist von Anfang an statistisch messbar präsent, gefolgt vom spanischen „descubrir“. Das französische „découvrir“ wird um 1550 häufiger, so richtig gängig aber erst nach 1650, während das deutsche „entdecken“ erst im 18. Jahrhundert eine quantitativ messbare Rolle spielt. An dem Befund ändert sich nicht viel, wenn ausdrücklich nach „kk“ statt „ck“ und alternativ nach „aufdecken“, „uffdekken“ usw. usw. gesucht wird. Das

18 Gaspari, op. cit., 39. 19 Gaspari, op. cit., 41. 20 Die alternative Suche nach „erobern“ in denselben Sprachen belegt, dass dieses Verb, unabhängig von den konkreten Kontexten, seltener als „entdecken“ verwendet wurde. Eine Befassung mit „entdecken“ lohnt sich daher mehr. 21 Ngram Viewer, vergleichende Suche für den Zeitraum von 1500 bis 1800, für die Verben „entdecken“ (Deutsch), „descubrir“ (Spanisch), „découvrir“ (Französisch), „trovare“ (Italienisch) und „discover“ (Englisch). (Niederländisch und Portugiesisch kann mit dem Ngram Viewer leider nicht durchsucht werden), .

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portugiesische „descobrir“ tritt erwartungsgemäß bereits im 16. Jahrhundert auf, kann allerdings nicht statistisch mit den anderen Sprachen verglichen werden, da der Ngram Viewer eine Suche in portugiesischen Texten nicht anbietet. Man muss auf die direkte Suche in Books Google (erweiterte Suche) ausweichen. Dort erhält man Treffer, aber keine Quantifizierung. Dasselbe trifft auf das Niederländische zu, wo man wie für das Portugiesische verfahren muss. „ontdekken“ tritt vorwiegend ab dem 17. Jahrhundert in Verbindung mit Entdeckungsfahrten auf. Statistisch werden Suchergebnisse für Zeiträume, die ältere Druckwerke wie hier im Beispiel einschließen, womöglich verfälscht, weil die OCR-Qualität der Digitalisate unterschiedlich gut ist. Die Häufigkeit, die nicht absolut dargestellt wird, sondern hochgerechnet wird, kann dadurch verzerrt werden. Der Augenschein in konkreten Druckwerken bestätigt allerdings die Grafik. 22 Die Häufigkeitsverteilung entspricht außerdem bis zu einem gewissen Grad der Rolle der protonationalen Initiatoren der Entdeckungsfahrten. Wichtiger für die Interpretation ist die Frage, in welchen Bedeutungskontexten die Verben stehen, da sie sich ja auf alles Mögliche beziehen können. In allen Sprachen sind christliche und allgemein historische sowie literarische Kontexte vorrangig, gleichwohl wird auch das Entdecken von Ländern thematisiert. Wenn von (geografischen) Entdeckungen in der Geschichte die Rede ist, dürfte Kolumbus die häufigste spontane Assoziation darstellen. Das hat mit der Situation des wider Willens zu entdecken zu tun. Schon 1494 würdigten Sebastian Brant, Leonardus Carmini und Carolus Verardus in einer Publikation, der sie den Abdruck der lateinischen Übersetzung aus 1493 des 1. Kolumbusbriefes anschlossen, dessen Tat, indem sie schrieben, ihr Zeitalter verdanke ihm viel (cui etas nostra multum debet). 23 Darin ist bereits eine die Epochen übergreifende hohe Bewertung enthalten. In seiner berühmten „Brevísima relación“ kritisierte Bartolomé de las Casas vehement die Praxis der Kolonisatoren in Südamerika, dennoch schrieb er vom „marauilloso descubrimiento“, von der „einem Wunder gleichen Entdeckung“ der „Indias“. 24 Dies ist das andere Stichwort der Kolumbus-Situation, das Stephen Greenblatt in seinem Buchtitel „Wunderbare Besitztümer“ aufgegriffen hat. 25 22 Der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass man z.B. auch nach „er entdeckte“, „er hat entdeckt“ usw. suchen könnte, da die Suche nur nach dem Infinitiv stark selektiv ist. 23 Verardus, Carolus, Brant, Sebastian, Carmini, Leonardus: In laudem Serenissimi Ferdinandi Hispaniarum regis/Bethica & reni Granatae/obsidio/victoria/& triu(m)phus/ Et de Insulis in mari Indico nuper inventis (Basel 1494), Blatt 190 recto. Benutzt wurde das digitalisierte Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München . 24 Bartolomé de las Casas, Brevísima relación de la destruyción de las Indias (…), ohne Ort 1552, S. 1. Benutzt wurde das digitalisierte Exemplar der Nationalen Zentralbibliothek Rom . 25 Amerikanische Originalausgabe: Stephen Greenblatt, Marvelous Possessions. The Wonder of the New World. Chicago 1991; Deutsch: Stephen Greenblatt, Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden. Reisende und Entdecker, Berlin 1994.

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Einige Schriften betonen besonders den Umstand, dass es sich bei den entdeckten Inseln und Regionen um den antiken Autoren unbekannte Gegenden handelt. Simon Grynäus deutet das schon im Titel eines Buches von 1534 an: „Die New welt, der landschaften unnd Insulen, so bis hie her allen Altweltbschrybern unbekant (…)“. 26 Die Überschrift zum ersten Kapitel sagt es dann noch klarer: „Die New welt der Landschaften vnd Insulen/so den Alten hochberümbten Weltkundigern/vnd Weltbeschreibern/Als Ptolomeo/Straboni/Pomponio Mela/Dionisio etc. vnbekant gewest“. 27 Die Erkenntnis, dass den Alten, also den antiken Autoren, etwas nicht bekannt gewesen war, besaß eine heute kaum mehr nachvollziehbare gewaltige Bedeutung. Und dass sie 1534 so deutlich formuliert wurde, ist zusätzlich bemerkenswert, wurden doch bis Ende des 16. Jahrhunderts Atlanten unverdrossen und meist am Anfang mit einer Weltkarte geschmückt, die nach den Texten des antiken Geografen Ptolomeus (ca. 100 – bis ca. 160 n. Chr.) gezeichnet worden war – und den Grynäus zu Recht als (sinngemäß) überholt bezeichnet. Die im 16. Jahrhundert ansetzende, vorrangig dann aber im späteren 17. Jahrhundert Fahrt aufnehmende Debatte über das Verhältnis antiker und moderner (zeitgenössischer) Autoren, die sogenannte „Querelle des Anciens et des Modernes“, unterstreicht die Tragweite der von Grynäus gewählten Überschriften. 28 Im Spanischen können „Eroberung“ (conquista) und „Entdeckung“ (descubrimiento) schon im 16. Jahrhundert unmittelbar nebeneinander stehen. 29 Entdecken und erobern scheint zusammenzugehören. Im unmittelbaren Sinn war das auch so, was entdeckt wurde, wurde zumeist auch erobert. Hinter der Sprachgepflogenheit stand noch mehr. In den bildlichen Darstellungen der „Neuen Welt“ werden in den ersten Jahrzehnten neben anderen Motiven wenig bekleidete oder nackte Frauen gezeigt, auf die der Eroberer in spanischer oder anderer Tracht trifft. 30 Dies wie auch zu Literatur gewordene Erzählungen hat

26 Simon Grynäus, Die New welt, der landschaften unnd Insulen, so bis hie her allen Altweltbschrybern unbekant (…), Straßburg 1534, .

27 Grynäus, ebenda, S. 1. 28 Eine sehr gute Einführung in die Debatte und ihre Tragweite leistet: François Hartog, Anciens, Modernes, Sauvages, Paris 2005. 29 Zum Beispiel bei Francisco Lopez de Gomara, Historia de Mexico, con el descubrimiento de la nueva España, conquistada por el muy illustre y valeroso Principe don Fernando Cortes. Anvers 1554. Benutzt wurde die digitalisierte Ausgabe der Bibliothèque de la ville de Lyon . 30 Holzschnitt als Illustration zum 1. Kolumbusbrief in: Carolus Verardus/Sebastian Brant/Leonardus Carmini, In laudem Serenissimi Ferdinandi Hispaniarum regis/Bethica & reni Granatae/obsidio/victoria/& triu(m)phus/ Et de Insulis in mari Indico nuper inventis (Basel 1494), Blatt 190 recto. S. digitalisiertes Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München, wie Anm. 23, Blatt 190 recto.

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Sabine Schülting in ihrem bekannten Buch „Wilde Frauen, fremde Welten“ interpretiert. 31 Im Zuge der sogenannten Entdeckungen wurde die „Neue Welt“ als „weiblicher Raum“ ‚konfiguriert‘, „jungfräuliches Land“ wurde ‚penetriert‘. Wie sich zeigt, verweist „entdecken“ auf einen erstaunlich komplexen Zusammenhang, in dem vieles zusammenläuft: Religion, Sex, Neu (modern, zeitgenössisch) versus alt/antik, Eroberung, Ordnung (eine zivilisatorische Leistung) in die „Neue Welt“ transferieren, nicht zuletzt Handel treiben und missionieren.

31 Sabine Schülting, Wilde Frauen, Fremde Welten. Kolonisierungsgeschichten aus Amerika, Reinbek 1997. Siehe außerdem exemplarisch: Michael Bernsen: Welterkundung als ,itinerarium amoris‘: Epos und erotischer Diskurs bei Luís de Camões und Jorge de Lima, in: Zeitschrift für Romanische Philologie 2006/122/1, 112–25. .

KRITIK, EINSPRUCH, PARADOXIEN, ÖFFNUNGEN Kurze Anmerkungen zur langen Geschichte der Entdeckungen Michael Kraus Als 1992 der 500. Jahrestag der „Entdeckung Amerikas“ gefeiert wurde, empörten sich zahlreiche indigene Vertreter über derartige Veranstaltungen. Der Karikaturist Cochi zeichnete Kolumbus, einen Missionar und einen Soldaten, wie sie bei ihrem Landgang auf fünf Indianer trafen über denen in einer Sprechblase zu lesen war: „Er sagt, dass er Kolumbus heißt und gekommen ist, uns zu entdecken“. Mit verdutzen Gesichtern stehen die drei Europäer den Vertretern der autochthonen Bevölkerung gegenüber, die sich ob der abstrusen Behauptung vor Lachen die Bäuche halten (Kraus 2000: 55). Der Begriff „Entdeckungen“ ist in Verruf gekommen. Zu den Hauptpunkten der Kritik zählen die europäische Überheblichkeit, etwas, was anderswo seit Jahrhunderten bekannt war, als eigene Entdeckung zu vereinnahmen, die Gewalt, die mit den Entdeckungsfahrten vielerorts einherging, im positiv besetzten Entdeckungsbegriff aber weitgehend ausgeblendet wird, sowie die Reduktion komplexer sozialer Phänomene auf die vermeintliche Leistung einiger weniger „Heroen“ (vgl. Reichert 2014: 479ff.). Diese Kritik ist dabei kein alleiniges Verdienst aktueller Wissenschaft. Neben den Vertretern indigener Gruppen findet sie sich auch bei Forschern früherer Jahrhunderte oder Künstlern formuliert. So notierte der Göttinger Physiker und Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts in seine Notizbücher, dass der „Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, [...] eine böse Entdeckung [machte]“ (Lichtenberg 1986: 345). Mitte des 19. Jahrhunderts verwehrte sich Alexander von Humboldt gegen den Vorschlag des Ingenieurs und Kartographen Heinrich Berghaus, die küstennahe, sich von Chile bis Ecuador ziehende Kaltwasserströmung als „Humboldt-Strom“ zu bezeichnen, mit dem Verweis, dass all dies bereits „300 Jahre vor mir allen Fischerjungen von Chili bis Payta bekannt [war]: ich habe bloß das Verdienst, die Strömung des strömenden Wassers zuerst gemessen zu haben“ (Humboldt, zit nach Kortum 1999: 98). Bertolt Brecht ironisierte in seinem 1935 veröffentlichten Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ eine Geschichtsschreibung, die Ereignisse von welthistorischer Bedeutung als vermeintlich alleine vollbrachte Taten „großer“ Bauherren und Eroberer darstellte. All dem ist zuzustimmen. Und doch gibt es Gründe, den Entdeckungsbegriff nicht ganz über Bord zu werfen. Was folgt, sind einige knappe Anmerkungen zu einem umstrittenen Konzept.

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DIE KENNTNIS DER MEERE Zu den Entdeckungsleistungen, die zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert erbracht worden sind, zählt die Erkundung neuer Reiserouten über die Meere. Die Meere waren an ihren Rändern ihren jeweiligen Anrainern natürlich gut bekannt. Und auch ihre Überquerung war keine rein europäische Errungenschaft, wie beispielsweise die diesbezüglichen Kenntnisse der Bewohner der pazifischen Inselwelt belegen, die umfassenden Handelssysteme im Indischen Ozean oder die „maritime Seidenstraße“, auf der chinesische Schiffsverbände bereits im frühen 15. Jahrhundert die Ostküste Afrikas erreichten (vgl. z.B. Finney 1992; Subrahmanyam 2002: 94–112; Feldbauer 2003: 34–52; Ptak 2007). Und doch zählen die Befahrung der Ozeane, die ersten Weltumsegelungen und die mit diesen Seereisen einhergehenden Wissenszunahmen bezüglich der Größe der Meere, des Verlaufs von Küstenlinien und des Umfangs der Landmassen zu bedeutenden europäischen Leistungen im genannten Zeitraum. Dabei war die Durchquerung der Ozeane in der Mehrzahl der Fälle vor allem ein Mittel zum Zweck, um neue Transportwege zu finden. Was interessierte, waren Ressourcen, Bewohner, Ländereien. Die durchschifften Wassermassen erscheinen in den publizierten Briefen und Berichten oftmals nur indirekt, in Form von Tages- oder Meilenangaben, die man zu ihrer Durchquerung brauchte, als ortsbestimmende Messdaten für Routenverweise oder auch mit Blick auf Wetterbedingungen und die damit einhergehenden Gefahren, die überwunden worden waren. Was die Entdeckung der Ozeane sowie der Lage von Inseln und Kontinenten heute noch anschaulich macht, sind die Visualisierungen der Kartographen (wobei verlässliche Seekarten aus politischen Gründen lange Zeit ein gut gehütetes Geheimnis blieben; Brendecke 2009: 131; zur Geschichte der Kartographie vgl. einführend z.B. Wolff 1992; Whitfield 1998; Woodward 2004). Der Blick auf die Karten verdeutlicht, welche Regionen nunmehr zum ersten Mal in den Horizont europäischer Schiffsbesatzungen, Herrscher und Wissenschaftler gerieten. Er verrät zugleich, wie wenig man über die Länder oftmals wusste als man sie am grünen Tisch der eigenen Herrschaftsansprüche verteilte, ging doch die virtuelle Aneignung dem faktischen Kennenlernen in vielen Regionen voraus. Und er zeigt die Zunahme des Wissens über die Größe der Ozeane. Die radikalen Veränderungen, die sich hierbei in gut 100 Jahren ergeben hatten, treten plastisch vor Augen, wenn man Karten, die die Kenntnisse des 15. Jahrhunderts widergeben, neben die Visualisierungen der Weltbeschaffenheit legt, die den Stand Mitte des 16. Jahrhunderts festhalten. Während im ersten Fall lediglich der Norden Afrikas eingezeichnet ist, der Indische Ozean ein Binnenmeer bildet und Amerika und der Pazifik noch vollständig fehlen, so findet sich all dies hundert Jahre später korrigiert und ergänzt. Vor allem auf der südlichen Halbkugel dominiert nunmehr das Meer und die frühneuzeitlichen Darstellungen betonen die Umschiffbarkeit einer zunehmend bekannteren Welt (Kraus/Ottomeyer 2007: 398). Auch die großen Kompendien zollten dem Rechnung. So beginnt beispielsweise die 1493 erschienene „Schedelsche Weltchronik“ nach dem Register und ei-

Kritik, Einspruch, Paradoxien, Öffnungen

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ner Diskussion antiker Weltentstehungstheorien mit einer ausführlichen Darstellung der biblischen Schöpfungsvorstellung. Die „Cosmographia“ Sebastian Münsters hingegen beginnt mit dem Meer. Nach Vorrede, Register und einer Vielzahl von – überwiegend – Land-Karten findet sich in diesem 1544 in erster und bis 1628 allein in deutscher Sprache in 27 Auflagen erschienenen Bestseller der Frühen Neuzeit als Auftakt ein „Grundtlicher bericht / von dem Meer / desselben natur und beschaffenheit“. Der Bezug zur Heiligen Schrift ist zu Kapitelbeginn wie auch eingestreut in verschiedene Absätze zwar weiter vorhanden, nimmt im Vergleich zur Kompilation des zeitgenössischen Wissens aber deutlich weniger Raum ein. Finden sich bei Schedel über die Verhältnisse außerhalb Europas bzw. des europäischen Festlandes ein Blatt mit Fabelwesen, eine Karte, die dem oben beschriebenen Bild des 15. Jahrhunderts entspricht, einige knappe Angaben zur Geschichte im östlichen Mittelmeerraum sowie auf dem vorletzten paginierten Blatt noch einige Zeilen über die portugiesische Seefahrt und die Besiedlung zuvor unbewohnter AtlantikInseln, so berichtet die Ausgabe der „Cosmographia“ von 1628 ganze 280 Seiten lang über reale oder vermeintliche Vorkommnisse in Asien, Afrika und Amerika. DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DER AKTEURE Ein zweiter Aspekt, der den „Entdeckungsbegriff“ nicht obsolet macht, ist die Perspektive der involvierten Akteure. Angelehnt an das Begriffspaar „Phonemik/Phonetik“ unterschied der Linguist Kenneth L. Pike zwischen einer emischen und einer etischen Perspektive, wobei die erste die „Innen-“ und die zweite die „Außensicht“ bei der Beschreibung einer Kultur bzw. menschlichen Handelns benennt (vgl. Hirschberg 1988: 116). Dabei geht es weniger um hermetisch abgeschlossene Kategorien – die dichotomische Grobschlächtigkeit und die Vernachlässigung von Wechselwirkungen sind bei dem genannten Konzept offensichtlich – sondern eher um ein heuristisches Prinzip, das die Unterscheidung von Konzepten und Wertorientierungen des Beobachters und des Beobachteten zu berücksichtigen versucht. So war sich beispielsweise Georg Forster, der James Cook zwischen 1772 und 1775 auf dessen zweiter Welt- oder vielleicht besser Weltmeer-Umsegelung begleitet hatte und dabei mit den Bewohnern zahlreicher Pazifikinseln in Kontakt gekommen war, sehr wohl bewusst, dass er nicht der erste Mensch – ja 1773 nicht einmal mehr einer der ersten Europäer – war, der die Insel Tahiti betrat. Und er war auch sensibel genug, um aufgrund der Ankunft der Europäer große Verwerfungen im Leben der Einheimischen zu befürchten. Doch hinderten ihn weder sein Wissen noch seine allzu berechtigten Bedenken daran, sich selbst als einen Vertreter des „Entdeckungszeitalters“ aufzufassen. Zum Ausdruck kommt diese Gemengelage von Wissen, Skepsis und Eigendefinition beispielsweise, als die Expedition Tahiti wieder verließ. Forster vermerkt: „Warlich! wenn die Wissenschaft und Gelehrsamkeit einzelner Menschen auf Kosten der Glückseligkeit ganzer Nationen erkauft werden muß; so wär’ es, für die Entdecker und Entdeckten, besser, daß die Südsee den unruhigen Europäern ewig unbekannt geblieben wäre!“ (Forster 2014 [1777]: 332). Auch wenn die Seefahrer aus Sicht der Pazifik-Insulaner lediglich Wohlbekanntes

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vorfanden, so verstanden sie das eigene Handeln – nicht nur in diesem Moment – als Entdeckung. Zurecht lässt sich die zitierte Auffassung nun als „eurozentrisch“ klassifizieren. Epistemologisch ist es allerdings sinnvoll, diesen Terminus nicht als Vorwurf, sondern als Analysekategorie zu verstehen. So wie es eine bzw. – da natürlich auch „Europa“ keine homogene Einheit bildet – nahezu unzählige eurozentrische Perspektiven gibt, so gibt es auch eine bzw. nahezu unzählige amerika-zentrische, indo-zentrische, sino-zentrische und andere Sichtweisen. Die entsprechende Benennung gibt den Standpunkt und ein (vermutetes oder analytisch offen gelegtes) Vorwissen des Autors an. Sie verweist auf den Referenzrahmen, in den das Wahrgenommene eingefügt und aus dem heraus es interpretiert wird. Für eine Einschätzung des Informationswertes vorhandener Quellen ist die Analyse ihres Zustandekommens hilfreich, nicht aber die pauschale Zurückweisung einer Darstellung ob ihrer Perspektivengebundenheit. ORGANISATIONSFORMEN DES WISSENS Mit der Zunahme der Schifffahrt rund um den Globus nahmen auch die Berichte über zuvor unbekannte Länder und Meere zu. Diese Informationen mussten organisiert werden. In Portugal bildete in der Frühen Neuzeit Lissabon (Pereira 2007), in Spanien Sevilla ein jeweils zentrales Schleusentor zwischen Europa und der außereuropäischen Welt. Nicht nur Menschen und Dinge, auch „Wissen“ passierte diese Tore – fragmentarisch und regelmäßig Gegenstand von Interpretationen und Transformationen. Die 1503 in Sevilla gegründete Casa de la Contratación regelte zum einen Schifffahrt und Handel in die „Neue Welt“. Zum anderen war sie zentrale Behörde für Geo- bzw. Kartographie. In Sevilla wurden sowohl nautische Instrumente mit Musterinstrumenten abgeglichen und vertrieben als auch nautische und geographische Informationen und Karten gesammelt und wiederum zu neuen Karten verarbeitet. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts wurde Sevilla nach Salamanca zudem zum zweitwichtigsten Publikationsort für wissenschaftliche Werke in Kastilien. Der berühmte „Kurz gefasste Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder“ des Bartolomé de las Casas, in dem dieser die Vernichtung der indigenen Bevölkerung anklagte, erschien hier 1552 in erster Auflage. Politiken des Wissens (und der damit verbundenen Macht) lassen sich weiterhin beispielsweise am Einsetzen der Zensur auszuführender Bücher im Jahr 1560 ablesen. „‚Wissen‘“, so hat es Arndt Brendecke formuliert (2009: 109), „war im Sevilla der Frühen Neuzeit immer auch ein operatives Geschäft. Als solches zwang es dazu bruchstückhafte, unsichere und bloß wahrscheinliche Informationen zur Grundlage von Handlungen zu machen, sie provisorisch zu erhärten und in der Praxis zu erproben. Das ‚Experiment‘ fand dann gewissermaßen ‚in vivo‘ statt, auf hoher See, in enormer Entfernung und unter großer Gefahr.“ Realpolitisch war Wissen dabei weniger in seiner Spielart von Kennen und Verstehen entscheidend; geordnet wurden die vorhandenen Wissensfragmente in erster Linie, um zwei andere Funktionen zu erfüllen: Kommunikation und Kontrolle (Brendecke 2009: 15ff.).

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Dass das europäische Entdecken eher ein Finden und dabei oftmals auch ein Erfinden war, ist von verschiedenen Autoren thematisiert worden (O’Gorman 1986 [1956]; Kohl 1989; Reichert 2014). Welch unterschiedliche Paradoxien die Produktion von und der Umgang mit Wissen dabei zeitigen konnten, soll im Folgenden an zwei Beispielen kurz angedeutet werden. Christoph Kolumbus ist in den vergangenen Jahrhunderten in Europa wie wohl kein zweiter als „Entdecker“ gefeiert worden. Doch wollte ausgerechnet er selbst seine „Entdeckung“ zeitlebens nicht wahrhaben. Die Existenz eines weiteren Kontinents, der in westlicher Richtung von Europa noch vor Asien lag, mochte Kolumbus nicht akzeptieren. Bis an sein Lebensende hielt er an der Überzeugung fest, den gesuchten Seeweg nach Asien gefunden zu haben (Kohler 2006: 16, 60). Auf seiner zweiten Reise über den Atlantik versuchte er im Juni 1494 seine subjektive Überzeugung gar auf autoritäre Weise zu einer vermeintlich objektiven Wahrheit zu erheben. Statt die Juana getaufte Insel, das heutige Kuba, zu umsegeln, um festzustellen, ob es eine Insel ist oder nicht, ließ Kolumbus seine Mannschaft schwören, dass „keinerlei Zweifel besteht, daß dies das Festland [= Asien] ist und keine Insel, und daß man, der besagten Küste entlangsegelnd, nach nicht zu vielen Meilen ein Land mit Menschen finden werde, die gebildet sind und die Welt kennen“ (zit. nach Todorov 1985: 32). Wer anderes behauptete, dem drohten drastische Strafen. Fehlinterpretationen konnten allerdings auch weniger autoritäre Grundlagen haben (in der Folge aber dennoch wirkmächtige Konsequenzen). 1505 publizierte Johann Froschauer in Augsburg einen Holzschnitt, der die Küstenbewohner des von portugiesischen Seefahrern angesteuerten östlichen Südamerikas darstellen sollte (siehe z.B. Wolff 1992: 29; Kraus/Ottomeyer 2007: 117). Der kolorierte Druck zeigt zum einen Facetten, die wir heute kaum mit der indigenen Bevölkerung dieser Regionen in Verbindung bringen würden: Bärtige Männer mit vergleichsweise europäisch wirkenden Gesichtszügen. Zum anderen finden sich, wenn auch in phantasievoller Anordnung, bereits zu diesem frühen Zeitpunkt wesentliche ikonographische Charakteristika, die das Bild südamerikanischer „Indianer“ in den folgenden Jahrhunderten in Europa prägen sollten: Federschmuck als zentrales Kleidungsstück sowie der Bogen als Waffe; dazu kommen weitgehende Nacktheit und Kannibalismus. Der knappe Text am unteren Bildrand betont zudem sexuelle Promiskuität. Froschauer bzw. der den Holzschnitt gestaltende Künstler hatte keine der abgebildeten Personen mit eigenen Augen gesehen. Und doch spricht manches dafür, dass sie selbst nur wenig erfunden haben. Die Abbildung speist sich aus zwei Quellen, die durchaus sorgfältig ineinander gefügt wurden. Dies waren zum einen Vorstellungen von „wilden Menschen“, wie sie in Europa bereits vor den Atlantiküberquerungen existierten und auch in verschiedenen künstlerischen Darstellungen, beispielsweise von Martin Schongauer, als behaarte, „unzivilisierte“ Waldbewohner bildlich zum Ausdruck gebracht worden waren (vgl. Colin 1989). Und sie bezieht sich auf die ersten Berichte aus der „Neuen Welt“. Wie eine Folie legt der Holzschnitzer Angaben über die angetroffenen Menschen, wie sie sich im 1502/3 zum ersten Mal publizierten „Mundus Novus“-Brief des Amerigo Vespucci finden, über Motive aus einem bereits existierenden ikonographischen Korpus. Die heute leicht

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als „falsch“ konnotierbare Darstellung beruht somit auf der durchaus korrekten Verzahnung vorhandener Informationen. Den „Wilden“ des deutschen Volksglaubens werden die aus der Neuen Welt berichteten Eigentümlichkeiten der dortigen Bevölkerung quasi aufgemalt und zugeschrieben. Der Holzschnitt lässt sich somit als stereotypenbildendes Medium der Frühen Neuzeit dekonstruieren. Doch kann er zugleich auch als Anschauungsmaterial genommen werden, um zu zeigen, wie sich rasch verbreitende Vorstellungen – methodisch durchaus nachvollziehbar und im vorliegenden Falle vermutlich frei von diffamierender Absicht – zustande kommen konnten. Besaß die eurozentrische Darstellung auch keine Richtigkeit, so hatte sie doch ihre rekonstruierbare Logik. DIE ERWEITERUNG DES BLICKS Das Festhalten am analytischen Wert kritisierter Konzepte wie „Entdeckung“ oder sogar „Eurozentrismus“ bedeutet nicht, dass bei diesen Konzepten stehen geblieben werden soll. Entdeckungsbehauptungen sind auf ihre „-zentrischen Schieflagen“ hin zu hinterfragen, „-zentrismen“ wiederum durch die Hinzufügung anderer Perspektiven zu erweitern und dadurch in ihrem vermeintlichen Wahrheitsgehalt zu relativieren und zu destabilisieren. Ausgeübte Gewalt darf nicht verschleiert werden. Wie recht der eingangs zitierte Lichtenberg mit seiner Spiegelung des Entdeckerblicks hatte, verdeutlicht beispielsweise die demographische Katastrophe, die die Anlandung der Europäer auf dem seit dem 16. Jahrhundert „Amerika“ genannten Kontinent auslöste. Schätzungen, die sich auf Brasilien beziehen, gehen davon aus, dass die indigene Bevölkerung in dieser Region zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert um weit über 90% zurückging. Erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist die Zahl der im heutigen Brasilien lebenden „Indianer“ in absoluten Zahlen wieder am Zunehmen (Gomes 2000: 3, 249). Neben dem vielerorts ausgeübten Terror nimmt das Lichtenberg’sche Bonmot auch die Wechselseitigkeit des Entdeckens in den Blick. Lohnenswert ist die Auseinandersetzung mit nicht-europäischen Perspektiven dabei auch mit Blick auf das Meer. Hier ist sowohl der Einfluss der arabischen Wissenschaft zu berücksichtigen (Kraus/Ottomeyer 2007: 330–340) als auch die Rolle der umfassenden, nicht-europäischen Schiffsbesatzungen (Chappell 2004), die den Europäern seit der Frühen Neuzeit ihre Reisen auf den Ozeanen dieser Welt ermöglichten. Des Weiteren lässt sich nach nicht-europäischen Konzeptionen der Ozeane fragen. Georg Forster begann die Einleitung zu seiner „Reise um die Welt“ mit der Benennung der in Europa bis dahin bekannten Meere. Sein kurzer Rückblick auf die – aus europäischer Sicht – Entdeckungen des 16. Jahrhunderts verdeutlicht nicht zuletzt den Aspekt ihrer Aneignung. So schreibt er beispielsweise, dass „der Spanier Vasco Nunnez im Jahr 1513. [sic] das Süd-Meer von den Gebirgen in Panama entdeckt, und sich darinn [sic] gebadet hatte, um es in Besitz zu nehmen“ (Forster 2014 [1777]: 24). Eine andere Perspektive auf das Meer wird in der Aussage von Tupaia deutlich, einem Experten für Navigation und hochrangigen Priester von den Gesellschaftsinseln,

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den James Cook auf seiner ersten Expedition mit an Bord genommen hatte. Mehrfach diente er als Vermittler zwischen Cook, seiner Mannschaft und der autochthonen Bevölkerung verschiedener Inseln. Als einige Maori vor Neuseeland drohten, alle, die an Land gingen, zu töten, zitierte Joseph Banks, der als Naturwissenschaftler die Cook’sche Expedition begleitete, Tupaia mit den Worten: „but while we are at sea you have no manner of Business with us, the Sea is our property as much as yours“ (zit. nach Smith 2009: 150). LITERATUR Arndt Brendecke, Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft, Köln/Weimar/Wien 2009. David A. Chappell, Ahab’s Boat. Non-European Seamen in Western Ships of Exploration and Commerce, in: Bernhard Klein / Gesa Mackenthun (Hgg.). Sea Changes. Historicizing the Ocean, New York/London 2004, 75–89. Susi Colin, The Wild Man and the Indian in early 16th century book illustration, in: Christian F. Feest (Hg.), Indians and Europe. An Interdisciplinary Collection of Essays, Lincoln/London 1989, 5–35. Peter Feldbauer, Estado da India. Die Portugiesen in Asien 1498–1620, Wien 2003. Ben Finney, Voyaging into Polynesia’s Past, in: Ben Finney, From Sea to Space, Palmerston North 2002, 5–65. Georg Forster, Reise um die Welt, Frankfurt/Main 2014 [1777]. Mercio P. Gomes, The Indians and Brazil, Gainesville 2000. Walter Hirschberg (Hg.), Neues Wörterbuch der Völkerkunde, Berlin 1988. Karl-Heinz Kohl, Cherchez la femme d’Orient, in: Gereon Sievernich / Hendrik Bude (Hgg.), Europa und der Orient 800–1900, Berlin/Gütersloh/München 1989, 356–367. Alfred Kohler, Columbus und seine Zeit, München 2006. Gerhard Kortum, „Die Strömung war schon 300 Jahre vor mir allen Fischerjungen von Chili bis Payta bekann!“ Der Humboldt-Strom, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Alexander von Humboldt. Netzwerke des Wissens, Ostfildern 1999, 98– 99. Michael Kraus, Gelächter aus dem Regenwald. Wider die eurozentristische Vereinnahmung des Humors, in: Dieter Kramer (Hg.), Die lachende Dritte. Satirische Grafik und Karikaturen aus den Ländern des Südens. Galerie 37 im Museum für Völkerkunde, Frankfurt am Main 2000, 55–60. Michael Kraus / Hans Ottomeyer (Hgg.), Novos Mundos – Neue Welten. Portugal und das Zeitalter der Entdeckungen, Dresden 2007. Bartolomé de Las Casas, Kurzgefasster Bericht von der Verwüstung der westindischen Länder, Frankfurt am Main 1987 [1552]. Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher (hg. von Franz H. Mautner), Frankfurt am Main 1986. Sebastian Münster, Cosmographia. Das ist: Beschreibung der ganzen Welt. Faksimile-Druck nach der Ausgabe von 1628, die bei Heinrich Petri in Basel erschien (hgg. von Anne Rücker und Frederik Palm), Lahnstein 2007. Edmundo O’Gorman, La invención de América. Investigación acerca de la estructura histórica del nuevo mundo y del sentido de su devenir, México 1986 [1958]. Paulo Pereira, Lissabon im 16. und 17. Jahrhundert, in: Michael Kraus / Hans Ottomeyer (Hgg.), Novos Mundos – Neue Welten. Portugal und das Zeitalter der Entdeckungen, Dresden 2007, 221–239.

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Roderich Ptak, Die maritime Seidenstraße. Küstenräume, Seefahrt und Handel in vorkolonialer Zeit, München 2007. Folker Reichert, Asien und Europa im Mittelalter. Studien zur Geschichte des Reisens, Göttingen 2014. Hartmann Schedel, Weltchronik. Kolorierte Gesamtausgabe von 1493 (Einleitung und Kommentar von Stephan Füssel), Augsburg 2004. Vanessa Smith, Banks, Tupaia, and Mai: cross-cultural exchanges and friendship in the Pacific, in: Parergon 26(2)/2009, 139–160. Sanjay Subrahmanyam, The career and legend of Vasco da Gama, Cambridge 2002. Tzvetan Todorov, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt am Main 1985. Robert Wallisch, Der Mundus Novus des Amerigo Vespucci (Text, Übersetzung und Kommentar), Wien 2002. Peter Whitfield, New Found Lands. Maps in the History of Exploration, London 1998. Hans Wolff (Hg.), America. Das frühe Bild der Neuen Welt, München 1992. David Woodward, Mapping the world, in: Anna Jackson / Amin Jaffer (Hgg.). Encounters. The Meeting of Asia and Europe. 1500–1800, London 2004, 14–31.

GEORG FORSTER UND DIE ERFAHRUNG DER KULTUREN DER SÜDSEE Horst Dippel In den Jahren der politischen Neuordnung der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch des vormaligen Ostblocks hatte Samuel P. Huntington 1993 seine raumgreifende These aufgestellt, dass zukünftig nicht ideologische oder ökonomische Konflikte die Weltordnung bestimmen würden, sondern kulturelle. „The clash of civilizations will dominate global politics.“ 1 Was hier als das prägende Grundmuster der Weltpolitik des 21. Jahrhunderts prognostiziert wurde, ist als solches zunächst kein neues Phänomen. Der Zusammenprall der Zivilisationen verkörpert einen Grundzug menschlicher Entwicklung nicht erst seit der Antike und nicht allein in Europa. Die seit geraumer Zeit neu diskutierte Geschichte des europäischen Kolonialismus und Imperialismus sieht, im Gegensatz zu der älteren Forschung und den weltweiten Denkmälern der Seefahrer und so genannten „Entdecker“, in diesem Zivilisationskonflikt den eigentlichen Dreh- und Angelpunkt des europäischen Ausgreifens in die Welt. In dieser Perspektive erscheint heute nicht der 10. Oktober 1492 als der Tag, der die Welt veränderte, sondern der 28. Mai 1905, als erstmals eine europäische Kriegsflotte, in diesem Fall die Russlands, von einer asiatischen Flotte, nämlich der japanischen, vernichtend geschlagen wurde und damit unter dem Jubel Asiens Russland um eine Beendigung des Krieges nachsuchen musste. 2 Während Huntington in seiner Analyse von 1993 den europäischen Kolonialismus und Imperialismus gänzlich ausgeklammert hatte, wurde der junge Georg Forster für einen kurzen, wenn auch prägenden Zeitraum einer seiner Mitakteure, was sein Denken nachhaltig veränderte und, so meine These, zu einer neuen Perspektive auf sich selbst, die Europäer und Europa führte, die seine nachfolgenden Schriften bestimmte. Übernommene Denkmuster prallten dabei auf neue Eindrücke und Erfahrungen, die der bei Antritt der Reise um die Welt siebzehnjährige Forster gleich einem Schwamm in sich aufsog und zu ordnen suchte. Selbst wo es sich noch nicht zu einem fertigen Gedankengebäude zusammenfügte, waren damit Richtungen vorgegeben, die sein weiteres Denken nachhaltig prägten. Der junge Forster hat sich im Juli 1772 gleich den übrigen Mitreisenden auf Cooks zweite Reise in die Südsee begeben mit dem Gefühl der Überlegenheit der europäischen Rasse und einem teils abwertenden, teils mitleidsvollen Blick auf die 1 2

Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations? in: Foreign Affairs 72/1993, 22. Dazu generell Pankaj Mishra, Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens, Frankfurt a. M. 2013.

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fremden Völker, denen sie auf ihrer Fahrt durch den Atlantik begegneten. Mit dem Eintreffen im Südpazifik – die erste Station war bekanntlich die wenig einladende Dusky Bay an der Südwestspitze Neuseelands – ändert sich die Einstellung so nachhaltig, dass der spätere Rezensent der Voyage Round the World, Christoph Meiners, ihm daraufhin Gefühlsduselei vorhielt. 3 Dagegen hatte sich Forster nach eigenem Bekunden lediglich bemüht, vorurteilsfrei zu berichten, 4 selbst wenn ihm dies kaum immer gelungen sein dürfte. Bereits die Benennung des Anderen lässt daher Nuancen durchscheinen, die sicher nicht ausschließlich in der Sprache begründet gewesen sein dürften, ihm aber möglicherweise selbst nicht einmal wirklich bewusst geworden sind. So sind die Bewohner der aufgesuchten Inseln der Südsee im englischen Original der Voyage Round the World durchweg „natives“. In der deutschen Übersetzung der Reise um die Welt ergibt sich hingegen fast so etwas wie eine dreigliedrige Hierarchie. Die Neuseeländer – der Begriff der Maori bürgert sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts in Europa ein – werden nun überwiegend als „Wilde“ bezeichnet. Die Bewohner der übrigen Südseeinseln sind in der Terminologie der Übersetzung zumeist „Indianer“; nur in einigen Fällen handelt es sich um „Wilde“. Die Bewohner Tahitis hingegen sind „Tahitier“, eine Rangstufe, die ansonsten nur eher wenige übrige Bewohner der Gesellschafts- und Freundschaftsinseln erreichen. 5 Dennoch wäre es verfehlt, diese Dreigliederung in der deutschen Ausgabe über zu interpretieren. Das entscheidende Medium in der Begegnung von Kulturen ist die Sprache, und die Forsters – hierbei hat sich der Vater Johann Reinhold Forster einen besonderen Ruf auf der Reise erworben 6 – waren stets bemüht, in die Sprache der Südseevölker einzudringen, wobei sie auf dem Kenntnisstand von Cooks erster Reise und den Vorgängerfahrten aufbauen konnten. Auf diese Weise erschloss sich ihnen vergleichsweise rasch, dass die Neuseeländer und die Bewohner der Osterinsel dialektgeographische Varianten der gleichen Sprache benutzten. Auf Cooks dritter Reise sollte der Besuch Hawaiis das polynesische Dreieck schließen. Dagegen wurden in dem westlich davon gelegenen Melanesien, deren Bewohner sich 3 4 5

6

Zugabe zu den Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen unter der Aufsicht der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften. Band 1, Göttingen 1778, 150. Vgl. dazu Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hrg. v. d. Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin, [zukünftig als AA], IV, 53–54. Yomb May, Georg Forsters literarische Weltreise. Dialektik der Kulturbegegnung in der Aufklärung, Berlin/Boston 2011, 70, hat bereits auf diese drei Bezeichnungen hingewiesen und dabei dokumentiert, dass Forster die Bezeichnung „Indianer“ und „Wilde“ in seinem gegen Kant gerichteten Essay Noch etwas über die Menschenraßen von 1786 problematisiert (AA, VIII, 136–137). Dass diese Bezeichnungen ein Spezifikum der deutschen Ausgabe sind und nicht in Forsters englischsprachigem Original enthalten sind, ist May nicht bewusst. Auch Forster verweist in dem genannten Essay nicht darauf. Vgl. dazu Karl H. Rensch, Wegbereiter der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft. Reinhold und Georg Forster als Erforscher der Sprachen des Pazifiks auf der zweiten Reise von Cook 1772–1775, in: Georg-Forster-Studien III/1999, 221–243; auch Yves Gilli, Der linguistische Beitrag in Georg Forsters Reise um die Welt, in: Georg-Forster-Studien XI/1/2006, 89– 110; Dieter Heintze, Die Forsters und die Südsee-Sprachen, in: Georg-Forster-Studien XVII 2012, 15–50.

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auch nach ihrer natürlichen Erscheinung von denen Polynesiens unterschieden, ihnen zunächst unverständliche Sprachen gesprochen. Wenn man bedenkt, daß in allen ostwärts gelegenen Eylanden dieses Oceans, imgleichen auf Neu-Seeland, eine und eben dieselbe Sprache (oder wenigstens Dialekte derselben) gesprochen werden; so kann man sich leicht vorstellen, daß uns die große Verschiedenheit der Sprachen, welche wir im westlichen Theil dieses Meeres antrafen, äußerst befremden mußte. 7

Weitere kulturelle Unterschiede taten sich auf. Es war die Entdeckung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, für das die weitgehende Homogenität des Klimas, sieht man einmal von Neuseeland ab, nicht die Ursache sein konnte. Wenn jedoch innerhalb der gleichen Klimazone in der Südsee in mehr oder weniger großer geographischer Isolation voneinander Völker in unterschiedlichen Kulturstadien nebeneinander existierten und die in Europa verbreitete Klimatheorie als Erklärungsmodell für dieses Phänomen ausschied 8 – „Ich meines Theils gestehe aber dem Clima bey weitem keinen so allgemeinen und allwürksamen Einfluß zu“9 –, stellte sich die Frage, wie diese Situation erklärt werden konnte. Zwei Dinge kamen Forster dabei zu Hilfe. Das eine war die Entdeckung einer offensichtlichen kulturellen Entwicklung, die bewirkte, dass der auf Neuseeland noch anzutreffende Kannibalismus sich in anderen Gegenden der Südsee bereits überlebt hatte, wie Forster die Reaktion des von Bora-Bora stammenden Maheine auf die Entdeckung des Kannibalismus in Neuseeland lehrte: Geboren und erzogen in einem Lande, dessen Einwohner sich bereits der Barbarey entrissen haben und in gesellschaftliche Verbindungen getreten sind, erregte diese Scene den heftigsten Abscheu bey ihm. 10

Wenn menschliches Leben nicht statisch zu begreifen war, sondern Entwicklungsstufen oder -stadien durchlief – was für Forster allein eine Frage der Evolution und nicht der Rasse war 11 –, so vermittelte die Reise lediglich den jeweils aktuell erreichten Stand. Allein die Entwicklungsstadienlehre, die der jüngere von dem älteren Forster, wenn auch mit entscheidenden Modifikationen, übernahm, wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, 12 konnte eine Perspektive für die potentielle weitere Entwicklung bieten. Nicht die äußeren Lebensbedingungen und die größere oder kleinere Entfernung von den Erdpolen, wie der ältere Forster meinte, entschieden 7

AA, III, 294. Vgl. dazu Dieter Heintze, Unter Melanesiern, in: Georg-Forster-Studien XI/1/ 2006, 63–88. 8 Zur Klimatheorie und ihrer Renaissance in der Aufklärung dank Montesquieus De l’Esprit des lois und Buffons Histoire naturelle vgl. Tanja van Hoorn, Dem Leibe abgelesen. Georg Forster im Kontext der physischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2004, 26–34; Gonthier-Louis Fink, Klima- und Kulturtheorien der Aufklärung, in: Georg-Forster-Studien II/1998, 25–55. 9 AA, III, 179. Vgl. dazu Hoorn, Dem Leibe abgelesen, 47–93. 10 AA, II, 404. Indem Jürgen Goldstein, Georg Forster. Zwischen Freiheit und Naturgewalt, Berlin 2016, 81–88, dieser Argumentation keine Beachtung schenkt, scheinen mir seine Schlussfolgerungen zu Forsters Einordnung des Kannibalismus unzutreffend. 11 Vgl. dazu Goldstein, Georg Forster, 78–79. 12 Vgl. dazu Horst Dippel, Revolutionäre Anthropologie? Oder der Versuch, Georg Forster neu zu lesen, in: Historische Zeitschrift 291/2010, 23–40.

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über den zu erreichenden Grad der Kultur eines Volkes. In einer deutlichen Spitze gegen den Vater hielt der jüngere Forster fest: Diejenigen Philosophen, welche den Gemüthscharakter, die Sitten und das Genie der Völker, lediglich vom Klima abhängen lassen, würden gewiß sehr verlegen seyn, wie sie, aus diesem allein, den friedlichen Charakter der Leute auf Neu-Caledonia erklären sollten. […] Der verschiedene Charakter der Nationen muß folglich wohl von einer Menge verschiedner Ursachen abhängen, die geraume Zeit über, unabläßig auf ein Volk fortgewirkt haben. 13

Die Vergesellschaftung der Menschen war daher für Georg Forster der erste notwendige Schritt, während gut ein hundert Jahre später der Reverend B. Kumalo von der African Methodist Episcopal Church in diesem Prozess vom „native“ zum „civilised man“ dank einer gelebten „progressiveness“ die individuelle Steuerung und damit die Möglichkeiten einer Prozessbeschleunigung sehr viel höher ansetzte.14 Doch als Endpunkt dieser Entwicklung konnte sich in beiden Fällen alles das entfalten, was Huntington als den Kern von Zivilisation im Unterschied zu anderen Zivilisationen ausmachte: Civilizations are differentiated from each other by history, language, culture, tradition, and, most important, religion. The people of different civilizations have different views on the relations between God and man, the individual and the group, the citizen and the state, parents and children, husband and wife, as well as differing views of the relative importance of rights and responsibilities, liberty and authority, equality and hierarchy. These differences are the product of centuries. 15

Forster hätte den Katalog wohl noch um Bildung und Erziehung, Fertigkeiten und Kenntnisse sowie Sitten erweitert. Hingegen lasen sich die Problemfelder „rights and responsibilities“ bei ihm als Friedfertigkeit und Gewaltbereitschaft. Alle diese sozialen Kategorien beschäftigten Forster auf seiner Reise durch die Südsee, und er suchte sie, häufig gemeinsam mit seinem Vater, Dr. Sparrman, Kapitän Cook u.a., immer wieder zu ergründen, wobei die Sprache oft das entscheidende Hindernis darstellte, tiefer in die Problematik einzudringen. Das traf besonders auf den gesamten Bereich Religion zu, bei dem sie über die eine oder andere Mutmaßung kaum hinauskamen, während ihnen die zentrale polynesische Kategorie des Tabus völlig unbekannt blieb. Am meisten Reflexionen finden sich dagegen bei Georg Forster über das Verhältnis von Mann und Frau, das ihm in besonderem Maße als Indikator der jeweils erreichten Kulturstufe geeignet schien. Mit dem Konzept menschlicher Veränderung und Entwicklung kam zugleich der jugendliche Aufklärer ins Spiel, der an seiner eigenen Vervollkommnung arbei-

13 AA, III, 327. 14 Zit. n. Gesine Krüger, Civilisation is the state of living and of progressiveness. Zur Bedeutung von Schriftlichkeit in Südafrika um die Jahrhundertwende, in: dies./Andreas Eckert (Hg.), Lesarten eines globalen Prozesses. Quellen und Interpretationen zur Geschichte der europäischen Expansion, Hamburg 1998, 167. 15 Huntington, The Clash of Civilizations?, 25.

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tete und von dem Fortschrittsglauben der Aufklärung und dem menschlichen Streben nach Perfektibilität durchdrungen war. 16 Dieses zweite Element der Forsterschen Überzeugung von dem Entwicklungspotential der Menschheit bestimmte seinen Blick auf die Völker der Südsee. So wie Cooks Reise für einige Wochen europäische Fertigkeiten und Wissenschaften in die Einöde von Dusky Bay gebracht hatte, so würde die fortschreitende Vergesellschaftung der Bewohner der Südsee zivilisatorischen Fortschritt gerieren, wenngleich er sich der großen Diskrepanz zwischen dem derzeitigen Entwicklungsstand mancher Südseegesellschaften und dem Europas durchaus bewusst war, so dass ihm die Möglichkeiten eines konkreten europäischen Einwirkens zugunsten eines nachhaltigen direkten Kulturtransfers eher begrenzt erschienen. Uns hindert in diesem Geschäft der allzu große Abstand, der sich zwischen unsern weit ausgedehnten Kenntnissen und den gar zu eingeschränkten Begriffen dieses Volkes befindet, und wir wissen gleichsam nicht, wo wir die Glieder zu der Kette hernehmen sollen, die ihre Einsichten mit den unsrigen vereinigen könnte. 17

Selbst wenn „die Glieder zu der Kette“ des Kulturtransfers noch nicht gefunden waren, ergaben sich für Forster zwei unausweichliche Konsequenzen. Die Stereotype hie Zivilisierte, dort Wilde wurde nach seiner Überzeugung der menschlichen Gesellschaft der Südsee und dem ihr innewohnenden Entwicklungspotential nicht gerecht. 18 Nicht allein die Matrosen hatten durch ihr mitunter ungestümes Betragen diese plakative Gegenüberstellung, wie Forster nicht müde wurde, mit steter Empörung zu Papier zu bringen, ad absurdum geführt. In seiner zentralen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Kannibalismus in Neuseeland, ein Musterbeispiel für das, was Wolfdietrich Schmied-Kowarzik Forsters „ethnologisches Verstehen“ genannt hat, 19 stellte er diese Dichotomie rundheraus in Frage: Wir selbst sind zwar nicht mehr Cannibalen, gleichwohl finden wir es weder grausam noch unnatürlich zu Felde zu gehen und uns bey Tausenden die Hälse zu brechen, blos um den Ehrgeiz eines Fürsten, oder die Grillen seiner Maitresse zu befriedigen. […] Allein, es giebt ja leyder Beyspiele genug, daß Leute von civilisirten Nationen, die, gleich verschiednen unsrer Matrosen, den bloßen Gedanken von Menschenfleisch-Essen nicht ertragen und gleichwohl Barbareyen begehen können, die selbst unter Cannibalen nicht erhört sind! Was ist der NeuSeeländer, der seinen Feind im Kriege umbringt und frißt, gegen den Europäer, der, zum Zeitvertreib, einer Mutter ihren Säugling, mit kaltem Blut, von der Brust reißen und seinen Hunden vorwerfen kann? 20

16 Vgl. zu Forsters Gedanken der Perfektibilität, Ludwig Uhlig, Georg Forster. Einheit und Mannigfaltigkeit in seiner geistigen Welt, Tübingen 1965, 64–70; Ulrich Kronauer, Georg Forsters Einleitung zu Cook der Entdecker. Forsters Auseinandersetzung mit Rousseau über Fortschritt und Naturzustand, in: Jörn Garber (Hg.), Wahrnehmung – Konstruktion – Text. Bilder des Wirklichen im Werk Georg Forsters, Tübingen 2000, 31–42. 17 AA, II, 196–197. 18 So auch Jörn Garber, Reise nach Arkadien. Bougainville und Georg Forster auf Tahiti, in: Georg-Forster-Studien I/1997, 49. 19 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Vom Verstehen fremder Kulturen. Philosophische Reflexionen zur Ethnologie als Kulturwissenschaft, in: Georg-Forster-Studien II/1998, 15. 20 AA, II, 407. Bei letzterem Beispiel bezog sich Forster auf Bartolomeo de Las Casas.

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Jenseits dieser Problematik – dem Kannibalismus war man auf den übrigen besuchten Südsee-Inseln nicht direkt begegnet – erschien die eurozentrische Einteilung der Menschheit in Zivilisierte und Wilde mitunter noch unpassender. So irritierten Forster zwar jene „sonderbaren Zeichen von sclavischer Verehrung“, die die Bewohner von Tongatabu ihrem König entgegenbrachten. Doch schien dieser „nichts von ihnen zu fordern, das sie ihrer eigenen Bedürfnisse berauben und arm oder elend machen könnte“, so dass er ungeachtet dieser Vorbehalte „ihre politische Verfassung der Freyheit“ rühmend erwähnen konnte. 21 Mit diesen letzten Zitaten aus der Reise um die Welt wird deutlich – und damit kommen wir zu der zweiten Konsequenz –, in wie hohem Maß diese Reise das eurozentrische Weltbild, das bei Reiseantritt im Juli 1772 noch so unumstößlich erschien, ins Wanken gebracht hatte. 22 Neben dem neuen Blick auf die Bewohner der Südsee war ein neuer Blick auf Europa getreten. Auf den Marquesas-Inseln war es im April 1774 zu einem Zwischenfall gekommen. Ein Eingeborener hatte auf dem Schiff ein Eisenrohr entwendet und war dabei, mit der Trophäe in seinem Kanu an Land zu rudern. Bevor Cook ihm mit einem Boot nachsetzen konnte, ließ er zwei Warnschüsse abfeuern, die jedoch den Täter unbeeindruckt ließen. Noch bevor Cook ihn erreichte, war ein Offizier, durch die Schüsse aufgeschreckt, an Deck gestürmt und hatte ohne nähere Kenntnis des Vorfalls den Dieb erschossen. Maheine konnte sich der Thränen nicht erwehren, da er sahe, daß ein Mensch den andern wegen einer so geringen Veranlassung ums Leben brachte. Seine Empfindlichkeit ist für gesittete Europäer, die so viel Menschenliebe im Munde und so wenig im Herzen haben, warlich, eine demüthigende Beschämung. 23

Mit Nachdruck widersprach Forster „andern Reisenden“, er dachte offensichtlich an Bougainville, die die Südseebewohner als „ganz in Sinnlichkeit versunken“ geschildert hatten und unterstrich dagegen, „die edelsten und schätzbarsten Gesinnungen bey ihnen angetroffen [zu] haben, welche der Menschheit Ehre machen“, während man „einem Bösewichte“ in der Südsee in England „oder andern civilisirten Ländern“ leicht „funfzig entgegen stellen“ könne. 24 Tugend und Zivilisation waren, mit anderen Worten, nicht rassisch determiniert und kein Alleinstellungsmerkmal Europas. Es war nicht allein ein exemplarischer individueller Charakter unter den Südseebewohnern, der das Kartenhaus der angeblichen moralischen Überlegenheit Europas in den Augen Forsters einstürzen ließ, vielmehr war es die Hohlheit dieses Anspruches selbst, die sich hier offenbarte. Es ist würklich im Ernst zu wünschen, daß der Umgang der Europäer mit den Einwohnern der Süd-See-Inseln in Zeiten abgebrochen werden möge, ehe die verderbten Sitten der civilisirten 21 AA, II, 378. 22 Vgl. May, Georg Forsters literarische Weltreise, 61–77, der den „eurozentrischen Blick“ anspricht, sich aber damit nicht weiter auseinandersetzt. Ebenso ders., ‚Was mußten die Wilden von uns denken?‘ – Georg Forster, der Entdecker als Kritiker, in: Georg-Forster-Studien X/2005, 1–20. 23 AA, III, 16–17. 24 AA, II, 313.

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Völker diese unschuldigen Leute anstecken können, die hier in ihrer Unwissenheit und Einfalt so glücklich leben. Aber es ist eine traurige Wahrheit, daß Menschenliebe und die politischen Systeme von Europa nicht mit einander harmoniren! 25

Es war dieses anscheinend so sorglos glückliche Leben auf den meisten der tropischen Südseeinseln, das den jungen Forster nicht nur faszinierte, so dass er darüber vorübergehend sogar bereit war, seinen aufklärerischen Impetus hintanzustellen, sondern das auch immer wieder den Blick zurück auf Europa mit der Frage provozierte, was dort jenseits des Klimas diesem Glück entgegenstand, obgleich sein Vater doch dort die Krone menschlicher Entwicklung erreicht sah. In seiner Antwort hat Georg Forster, der spätere Revolutionär, geschärft durch den Blick auf die Verhältnisse in der Südsee immer wieder negativ konnotierte Anmerkungen über die politisch-sozialen Zustände in Europa in seine Reisebeschreibung einfließen lassen. Ich möchte hier nur eine herausgreifen, deren Anlass die in der Literatur oft zitierte Begegnung mit jenem Tahitier darbot, der untätig im Schatten lag und sich von einer Frau füttern ließ, da er, was Forster unentdeckt blieb, mit dem Tabu belegt war, Essen mit der Hand anrühren zu dürfen. Folglich echauffierte sich Forster über den Anblick dieses trägen Wollüstlings, der sein Leben in der üppigsten Unthätigkeit ohne allen Nutzen für die menschliche Gesellschaft, eben so schlecht hinbrachte, als jene privilegirten Schmarotzer in gesitteten Ländern, die sich mit dem Fette und Überflusse des Landes mästen, indeß der fleißigere Bürger desselben im Schweiß seines Angesichts darben muß. 26

Forsters Zurückweisung eines eurozentrischen Weltbildes mit dem ihm innewohnenden Konzept der Ungleichheit der Rassen fiel ihm umso leichter, als es ihn zu dem Aufklärungsideal der Brüderlichkeit aller Menschen führte, wie er es dann in den Idealen der Französischen Revolution wieder finden sollte. In der Südsee war es ihm erstmals bewusst geworden. Hier hielt er den einstigen spanischen Eroberern Amerikas vor, dass sie „die unglücklichen Völker dieses Welttheils nicht als ihre Brüder, sondern als unvernünftige Thiere behandelten“. 27 Es erschien in dieser Perspektive nur konsequent, wenn er zukünftige Europäer aufforderte, „die einheimischen Bewohner der Südsee als ihre Brüder an[zu]sehen“. 28 Wenn Forster dennoch in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre von dem Gedanken der Brüderlichkeit der Menschen wieder abrückte, dann allein aufgrund seiner wachsenden Zweifel, ob der biblische Gedanke der Monogenese wissenschaftlich aufrecht erhalten werden könne. Das änderte jedoch nichts an seinen Vorstellungen der Gleichheit und Gleichberechtigung der Menschenrassen, wie er 1791 grundsätzlich feststellte:

25 AA, II, 254. 26 AA, II, 249. Vgl. dazu Ludwig Uhlig, Georg Forster. Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers (1754–1794), Göttingen 2004, 92–93. Zum Tabu auch ders., Georg Forster, Captain Cook und das Tabu, in: Georg-Forster-Studien IX/2004, 39–53. 27 AA, III, 16. 28 AA, II, 411.

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„Menschen sind, und Menschenrechte fordern von uns, alle vernünftige Wesen, in Kraft dieses Vorzuges, und nicht durch einen unerweislichen Stammbaum“. 29 Noch war diese Überzeugung bei ihm nicht in den Alltag der Beziehungen und des Miteinanders eingedrungen, doch in krisenhaften Zuspitzungen klang das Unbehagen über den tatsächlichen Umgang mit den Bewohnern der Südsee an. 30 Selbst wenn Forster ungeachtet des oben erwähnten Damoklesschwertes der von Europa eingeschleppten Geschlechtskrankheiten noch weit davon entfernt war, die katastrophalen demographischen, sozialen und kulturellen Auswirkungen des europäischen Eindringens in die Welt der Südsee – die sich darin kaum von dem in andere Weltteile unterschied – auch nur zu erahnen, so schwante ihm doch, dass die Einheimischen letztlich aufgrund der „gekränkten Rechte der Menschheit“ einen so hohen Preis dafür werden bezahlen müssen, dass „die Wissenschaft und Gelehrsamkeit einzelner Menschen auf Kosten der Glückseligkeit ganzer Nationen erkauft“ werde, dass dies die gesamte europäische Expansion in Frage stelle. 31 Im August 1774 war man auf Tanna angekommen, wo man für vierzehn Tag Station machte und ungeachtet der Schwierigkeiten, sich mit den Einheimischen zu verständigen – schließlich hatte man den polynesischen Sprachraum verlassen –, zu einem vergleichsweise friedlichen Miteinander gefunden hatte. Erst am letzten Tag kam es zu einer Rempelei zwischen einem die Situation nicht erfassenden Einheimischen, der sich ungerecht behandelt und in seiner Würde verletzt fühlte und einem englischen Soldaten. Als in diesem Zusammenhang der Einheimische seinen Pfeil auf den Soldaten anlegte, erschoss ihn dieser kurzerhand. Wie plötzlich, und durch was für eine ruchlose That waren die angenehmen Hoffnungen, womit ich mir, noch wenige Augenblicke zuvor, geschmeichelt hatte, nun nicht auf einmal vereitelt! Was mußten die Wilden von uns denken? Waren wir jetzt noch besser, als andere Fremdlinge? oder verdienten wir nicht weit mehr Abscheu, weil wir uns, unter dem Schein der Freundschaft eingeschlichen hatten, um sie hernach als Meuchelmörder zu tödten? […] Und hier in Tanna, wo wir uns, bis auf den Augenblick unserer Abreise, gesitteter und vernünftiger, denn irgendwo, betragen hatten, auch hier mußte dieser Ruhm, durch die offenbahreste Grausamkeit, wieder vernichtet werden! 32

Scheiterten die Verwirklichung einer besseren Welt und das friedliche Zusammenleben von „Brüdern“ allein an individueller menschlicher Unzulänglichkeit? Oder bestimmten nicht vielmehr strukturelle Probleme eine Realität, die der jugendliche Forster, erfüllt von den Idealen der Aufklärung, einfach nicht sehen wollte? Hat der 29 AA, V, 569. Dazu grundlegend, Ludwig Uhlig, Die Südseevölker und Georg Forsters Rassenbegriff, in: Georg-Forster-Studien XV/2010, 137–172. Dort auch das hier gebrachte Zitat (Seite 169). 30 Zu dem Problem der Gewalt ausführlich May, Georg Forsters literarische Weltreise, 239–256. 31 Vgl. AA, II, 300–301. 32 AA, III, 273. Forster hatte sich damit im Prinzip der Sichtweise Cooks angeschlossen. Vgl. zu dem Ereignis auch Christian Ritter, Darstellungen der Gewalt in Georg Forsters Reise um die Welt, in: Georg-Forster-Studien VIII/2003, 27–40; Jan Philipp Reemtsma, Mord am Strand. Allianzen von Zivilisation und Barbarei, Aufsätze und Reden, Hamburg 1998, bes. 21–83; Frank Vorpahl, Forster auf Tanna. Der Menschenforscher in Melanesien, in: Georg-ForsterStudien XV/2010, 43–54.

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rassistische Meiners am Ende doch Recht gehabt? 33 Eine rasche Antwort lassen diese Fragen nicht zu. Die Admiralität hatte in ihren geheimen Instruktionen Cook angewiesen, die Reise friedlich durchzuführen („endeavour by all proper means to cultivate a Friendship and Alliance with them“) und auf jede unnötige Gewalt zu verzichten. Es sollten keine Gebiete oder Inseln gegen den Willen der Eingeborenen im Namen des Königs in Besitz genommen werden. 34 Das war zwar durchaus Politik, unterschied sich aber darin, dass zwar Cook wie auch der Astronom Wales von der Admiralität Instruktionen erhalten hatten, Johann Reinhold Forster jedoch nicht, so dass Georg Forster ungehindert den wissenschaftlichen Charakter der Reise als ihr eigentliches Ziel herausstreichen konnte, obwohl es während der Reise gerade aus diesem Anlass mehrfach zu Konflikten zwischen Cook und Johann Reinhold Forster gekommen war. 35 Als man nach zweimonatiger beschwerlicher und gefahrvoller Kreuzfahrt in den südlichen Breiten des Pazifiks auf der vergeblichen Suche nach einem festen Land, der vermeintlichen terra australis incognita, im August 1773 auf der kleinen Halbinsel von Tahiti angekommen war und dort auf Probleme stieß, sich zu verproviantieren, ward den Capitains von einigen Leuten an Bord der Vorschlag gemacht, mit Gewalt eine hinlängliche Anzahl Schweine zu unserm Gebrauche wegzunehmen, und hernachmals den Einwohnern so viel an europäischen Waaren zu geben, als das geraubte Vieh, dem Gutdünken nach, werth seyn mögte. Da aber ein solches Verfahren ganz und gar tyrannisch, ja auf die niederträchtigste Weise eigennützig gewesen wäre; so ward der Antrag mit aller gebührenden Verachtung und Unwillen verworfen. 36

Selbst wenn in manchen Situationen, bedingt durch Missverständnisse und mangelnde Sprachkenntnisse, Gewalt als „ein unvermeidliches Übel“ hingestellt wurde, 37 so änderte das nichts daran, dass dieser clash of civilizations in der Südsee in der Regel durch die eindeutige waffentechnische Überlegenheit der weißen Eindringlinge gekennzeichnet war. Damit waren von Anbeginn die Rollen ungleich verteilt. Diese inhärente Ungleichheit stellte letztlich das größte Hindernis auf dem Weg zu jener Brüderlichkeit dar, die Forster so gern verwirklicht gesehen hätte. Zwar mochte Forster die Eingeborenen als Menschen und Seinesgleichen betrachten, was die Stellung der weißen Rasse relativierte. Aber die aktuelle Überlegenheit der Europäer bestimmte von Anbeginn bei noch so großem Bemühen, auf die Anwendung physischer Gewalt, konkret den Einsatz von Feuerwaffen zu verzichten, wer in dieser Begegnung die Gewinner und wer die Verlierer waren. Auch Forster 33 Vgl. dazu Friedrich Lotter, Christoph Meiners und die Lehre von der unterschiedlichen Wertigkeit der Menschenrassen, in: Hartmut Boockmann/Hermann Wellenreuther (Hg.), Geschichtswissenschaft in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, Göttingen 1987, 30–75. 34 Die Instruktionen finden sich in John C. Beaglehole, The Voyage of the Resolution and Adventure 1772–1775. The Journals of Captain James Cook on His Voyages of Discovery, Vol. II, Cambridge 1961, Zitat hier Seite CLXVIII. 35 Vgl. dazu Helmut Peitsch, Zum Verhältnis von Text und Instruktionen in Georg Forsters Reise um die Welt, in: Georg-Forster-Studien X/2005, 77–123. 36 AA, II, 239. 37 AA, III, 201.

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konnte sich dieser Logik nicht verschließen, „daß unsre Bekanntschaft den Einwohnern der Süd-See durchaus nachtheilig gewesen ist“. 38 Damit war zugleich der Expansion Europas in die Welt, so unvermeidlich sie angesichts des europäischen Forscherdrangs und des militärisch grundierten Herrschaftsanspruchs Europas auch erscheinen mochte, moralisch der Boden entzogen. Hätte Forster aus diesen Erkenntnissen die sich aufdrängenden logischen Schlussfolgerungen gezogen, hätte er sich in Widerspruch mit seinem eigenen aufklärerischen Ideal der Vervollkommnung des Menschengeschlechts gebracht. Doch gerade dieses war er nicht bereit aufzugeben. Im Gegenteil sollte es Anstoß und Grundlage für eine neue Form europäischer Kolonien sein. Diese sollten nicht durch Ausbeutung und Bereicherung gekennzeichnet sein, sondern dem Wohlergehen des kolonisierten Landes und seiner Bewohner, also ihrer Heranführung an den europäischen Entwicklungsstand dienen. Vielleicht werden die Europäer, wenn sie dereinst ihre americanischen Colonien verloren haben, auf neue Niederlassungen in entferntern Ländern bedacht seyn; mögte nur alsdenn der Geist der ehemaligen Entdecker nicht mehr auf ihnen ruhen! mögten sie die einheimischen Bewohner der Südsee als ihre Brüder ansehen, und ihren Zeitgenossen zeigen, daß man Colonien anlegen könne, ohne sie mit dem Blut unschuldiger Nationen beflecken zu dürfen! 39

Der Sinn eines derartigen Unternehmens wäre, den Fortschritt der Zivilisation in diese entlegenen Gegenden der Südsee zu bringen – und damit würde man vielleicht doch noch zu jener oben zitierten afrikanischen Entwicklungsbeschleunigung kommen –, so dass Forster geradezu euphorisch während der Fahrt durch die Gewässer des heutigen Vanuatu schreiben konnte, „wenn sich jemalen bei Kolonisten menschenfreundliche Gesinnungen vermuthen ließen, so könnten sie hier mit geringer Mühe wahrhafte Wohltäter der Einwohner werden“. 40 Noch gut zehn Jahre später sollte Forster in seinem Aufsatz „Neuholland oder die brittische Colonie in BotanyBay“ von dem möglichen „glücklichen Einfluß“ schwärmen, den das Beispiel europäischer Ansiedler auf die australischen Aborigines haben könne. 41 Man mag das als jugendliche Schwärmerei abtun – oder es mit Yomb May als „Forsters Sicht der Globalisierung“ bezeichnen 42 –, aber es entspricht genau einer inzwischen Jahrhunderte alten Forderung, zunächst außerhalb Europas erhoben, die inzwischen auch in Europa selbst vernommen wird, nach Teilhabe und Gleichberechtigung, anstelle von Ausbeutung und Unterdrückung, womit sich Forster zwar

38 AA, II, 187. 39 AA, II, 411. Angesichts der größeren Präzision ist zumindest an dieser Stelle geboten, das englische Original anzuführen: „Perhaps in future ages, when the maritime powers of Europe lose their American colonies, they may think of making new establishments in more distant regions; and if it were ever possible for Europeans to have humanity enough to acknowledge the indigenous tribes of the South Sea as their brethren, we might have settlements which would not be defiled with the blood of innocent nations.“ AA, I, 301. 40 AA, III, 191. 41 AA, V, 178. 42 May, Georg Forsters literarische Weltreise, 295.

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bis zu einem gewissen Grad im Einklang mit dem antikolonialen Diskurs der Aufklärung befindet. 43 Andererseits sind die Konsequenzen, die er aus dieser Einstellung zieht, andere, indem er im Sinne des Fortgangs des Zivilisationsprozesses nicht generell für Abbruch plädiert, so sehr er mitunter auch dazu zu neigen scheint, sondern für einen humaneren, auf Gleichberechtigung beruhenden Umgang miteinander eintritt. 44 Das entspricht dem, was Dietmar Rothermund als Neubeginn gefordert hat im Sinne des „Verständnis[ses] kultureller Heterogenität“. 45 Forster hat die Forderung nach diesem Wandel und die Notwendigkeit eines entsprechenden Handelns in der Südsee durchaus erkannt, aber auch die Realitäten der damaligen europäischen Welt im Blick gehabt, und sicherlich hat diese konträre Gemengelage dazu beigetragen, ihn offen für die Französische Revolution und ihre Ideale zu machen, 46 da allein der Umsturz des Bestehenden die Welt von Morgen schaffen konnte. 47

43 Forster hat diesen Diskurs wohl nur partiell wahrgenommen. Raynals Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes hat er seinen Verleger Spener zwar im März 1786 gebeten, ihm nach Wilna zu schicken (AA, XIV, 447) und in der Folge finden sich in seinen Werken minimale verstreute Hinweise, dass er Raynal gelesen hatte – in seinem Essay Über Leckereyen von 1788 könnten Formulierungen wie „hingegen treiben wir den Negerhandel, um ein paar Leckereyen, wie Zucker und Kaffee, genießen zu können“ (AA, VIII, 174) auf diese Lektüre hinweisen –, jedoch hat er Diderots während seiner Weltumseglung erschienene Supplement au Voyage de Bougainville offensichtlich nicht zu Gesicht bekommen. 44 Vgl. dazu Hans Jürgen Lüsebrink, Zivilisatorische Gewalt. Zur Wahrnehmung kolonialer Entdeckung und Akkulturation in Georg Forsters Reiseberichten und Rezensionen, in: GeorgForster-Studien VIII/2003, 123–138. 45 Dietmar Rothermund, Kultur des Wissens. Die europäische Expansion als Kenntnisgewinn [2003], in: ders. (Hg.), Historische Horizonte. Indien, Europa und die Welt. Gesammelte Aufsätze, Baden-Baden 2015, 65. 46 Die Weltreise blieb auch in dieser Zeit sehr präsent in Forsters Denken und Planen, vgl. dazu insbes. seine Briefe aus den Jahren 1792/93. Den Brief von 12./13. Juli 1793 aus Paris an Therese beendete er mit den Worten: „Heute vor 21 Jahren gieng ich zu Schiffe mit Cook.“ AA, XVII, 390. 47 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Forsters Bestimmung der Revolution als Aufbruch in die neue Welt, in: Georg-Forster-Studien XI/2, 2006, 561–576.

DIE RELACIÓN DE MÉRITOS DES FRANCISCO DE ORELLANA Oder: Die mittelalterlichen Wurzeln der spanischen Conquista Nikolaus Böttcher „… nachdem ich besagtes Gebiet erobert und unter das Joch und den Gehorsam Seiner Majestät gestellt hatte, setzte ich meine Dienste fort und gründete im Namen Seiner Majestät eine Stadt, der ich den Namen Santiago gab, und durch die Besiedlung und Gründung [der Herrschaft] habe ich Seiner Majestät große Dienste erwiesen zumal in einer Gegend von so fruchtbarem und reichem Boden …“ 1

Diese kurze Beschreibung eines Soldaten, der dem König in einem Bericht an die Krone von der Eroberung eines Gebietes, dessen Einverleibung in den Herrschaftsbereich Kastiliens, der Gründung einer Stadt namens Santiago und der Besiedlung deren Umlandes berichtet, enthält die wichtigsten Charakteristika der Reconquista, der christlichen „Rückeroberung“ des islamischen Teils der Iberischen Halbinsel. Während der Reconquista wurden Territorien militärisch eingenommen, neu besiedelt, ihre Siedler mit Privilegien ausgestattet und Handelskontakte aufgebaut. Neben der militärischen Sicherung war dabei der Zugang zu Frischwasser essentiell. Es entstanden vor allem entlang der Flussläufe Duero, Tajo und Guadalquivir neue Städte und Märkte, die von der Krone mit Hilfe von staatlichen Institutionen und Monopolvergaben kontrolliert werden sollten. So stellt sich auch der eingangs zitierte Soldat als erfolgreicher Eroberer, Stadtgründer und Siedler dar, der auf Eigeninitiative handelt und nun die Belohnung für seine Taten einfordert. Bei dem Schreiben handelt es sich um einen Bericht seiner Verdienste, eine relación de méritos. Die kastilische Krone hatte in Rückgriff auf die mittelalterliche Ordnung der Zuteilung von Gnadenerweisen 2 ein System des Gebens und Nehmens konstruiert, indem sich der König verpflichtete, Anreize zu schaffen, um seine Untertanen gemäß Herkunft und geleisteten Diensten zu entlohnen. Die Vergabe von Benefizien der Krone als Entlohnung für irgendwann und 1

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„…después de los haber conquistado é puesto la dicha provincia debajo del yugo é obediencia de Su Majestad, continuando en mis servicios, poblé e fundé en nombre de Su Majestad una cibdad, la cual puse por nombre cibdad de Santiago, en la poblazón y fundamento de la cual yo hice é hecho gran servicio a Su Majestad por poblarla en parte tan fértil é abundosa“. Quellennachweis s. Anm. 6. Vgl. das aus dem 13. Jahrhundert stammende kastilische Gesetzbuch Siete Partidas, das auch in Hispanoamerika Anwendung fand und bereits zwischen Herkunft und Verdiensten unterschied („a cada vno en su lugar qual le conuiene por su linaie o por su bondad o por su seruiçio” Siete Partidas, Part. II, Tit. X, Ley 2, 88).

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irgendwo geleistete Dienste stand in der Tradition der Reconquista, die sich durch ihre besondere Vielfalt an Privilegien auszeichnet. 3 Durch das Eintreten für die königliche Sache konnte also der soziale Aufstieg erreicht werden. So wird in dem wenige Textzeilen umfassenden Zitat gleich dreimal der König angesprochen, in dessen Diensten außerordentliche Leistungen vollbracht worden seien. Auch die Stadtgründung weist deutliche Hinweise auf die Reconquista auf. Die Stadt ist nach Sankt Jakob genannt. Santiago, der Jünger Jakobus, brachte das Christentum auf die Iberische Halbinsel und wurde zum Nationalheiligen Spaniens. In der Reconquista wurde er wohl seit dem 13. Jahrhundert als Schutzpatron um Hilfe im Kampf gegen die Mauren angefleht, 4 nachdem er in der Schlacht von Clavijo Mitte des 9. Jahrhunderts auf einem Schimmel reitend den Christen zum Sieg verholfen hätte. „Santiago“ wurde zum Kampfschrei der Reconquista, und der Santiago „Matamoros“, der Maurentöter, erschien nun regelmäßig auf den christlichen Kriegsfahnen. Santiago wurde immer weniger als Apostel oder Pilger, sondern als Ritter mit Pferd und Schwert dargestellt. 5 Überhaupt charakterisierte sich der Rückgriff auf die religiöse Emblematik des Mittelalters, besonders bei der Verwendung von Heiligenlegenden und deren Abbildungen, durch eine militarisierende Umdeutung. Doch der eingangs zitierte Bericht entstammt nicht der Reconquista, sondern wurde 1541 in Peru verfasst. Er entstand also gut ein halbes Jahrhundert nach der Einnahme Granadas, und die darin erwähnten eroberten Gebiete liegen rund 8.700 Kilometer entfernt. Der Autor ist Francisco de Orellana, 6 der an der Eroberung Perus beteiligt war, später den Amazonas erkundete und dabei als erster Europäer

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Ferdinand Gschwendtner, „Reconquista und Conquista: Kastilien und der Ausgriff nach Amerika“, in: Peter Feldbauer/Gottfried Liedl/John Morrissey (Hgg.), Vom Mittelmeer zum Atlantik: die mittelalterlichen Anfänge der europäischen Expansion, München 2001, 189–210, hier 149ff. Diese Frage diskutiert Klaus Herbers, „Santiago Matamoros ¿Mito o realidad de la Reconquista?“, in: Ríos Saloma, Martín (Hg.), El mundo de los conquistadores, Madrid 2015, 307–320. Brading führt dazu aus: „… in his History of the Conquest of Mexico (1522) Francisco López de Gómara equally insisted that the apostle Santiago had intervened to assist the Spaniards in battle. So also, he related that Cortés placed an image of the Virgin Mary on the altar of the great pyramid temple in Mexico-Tenochtitlan and that when the Indians tried to remove it they were unable to do so. In the subsequent fighting, so he related, the Indians were stunned to see ‚fighting for the Spaniards St Mary and Santiago on a white horse, and the Indians said that the horse wounded and killed as many with its mouth and hoofs as did the horseman with the sword, and that the woman of the altar cast dust in their faces and blinded them‘. In effect, just as Santiago and the Virgin had appeared in the sky to help the Spaniards defeat the Moors during the great battles of the Reconquista, so in Mexico the apparition of the same heavenly powers had disheartened the Indians and brought victory to Hernán Cortés and his band of conquerors.“ David Brading, Mexican Phoenix. Our Lady of Guadalupe: Image and Tradition across five centuries, Cambridge 2001, S. 41. Méritos de Francisco de Orellana, Archivo General de Indias, Patronato 185, R. 23. Digitale Version (Medina Toribio) s. Descubrimiento del Río de las Amazonas : con otros documentos referentes á Francisco de Orellana y sus compañeros Valencia : EDYM, Estudios Ed. y Medios, 1992.

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Südamerika vom Pazifik zum Atlantik durchquerte. Dass Orellana den Namen Santiago für die gegründete Stadt wählt, hat gute Gründe. Auch in Peru wurde Santiago bei der Belagerung Cuzcos 1536 wie einst in Clavijo gegen die Mauren zum Siegbringer gegen die Inka erklärt, und ebenso stießen die Spanier den Schlachtruf „Santiago“ bei der Eroberung Tenochtitlans aus. Die Konquistadoren funktionierten den Jakobus um, und aus dem Maurentöter wurde so zuerst bei Poma de Ayala der „Yllapa Mataindios.“ 7 Das Bild des Kriegshelden wurde hier ebenso aus der Reconquista nach Amerika übertragen wie schon der Maurentöter Santiago als ihr Schutzpatron. Auch bei ihrer Wahrnehmung der neu entdeckten Welt suchten die Akteure in den Indias nach Referenzen aus dem ihnen vertrauten Mikrokosmos zu suchen. Die Tempel der Azteken beschreibt Bernal Díaz del Castillo, Hauptmann von Cortés und Chronist der Eroberung Tenochtitlans, als „mezquitas“ (Moscheen) und ihre Hauptstadt als „Gran Cairo“. 8 Cortés fühlt sich an den maurischen Stil erinnert, wenn er die Häuser in Cozumel „amoriscados“ nennt. 9 Diese orientalischen Elemente waren wiederum eine Mischung aus der Reconquista und exotischen Vorstellungen von einer unbekannten Welt, die sich aus den Reiseberichten eines Marco Polo und den Gerüchten um ein legendäres Goldreich des Priesterkönigs Johannes im Südatlantik speisten. 10 Ebenfalls vermengen sich hier Weltvorstellungen aus astrologischen Schriften wie der Imago Mundi von Pierre D’Ailly (1410) und der Navigatio-Tradition der von Kolumbus geschätzten Brendan-Fahrt, worin die Inselwelt des unbekannten und daher geheimnisvollen Atlantik als romantisierender Schauplatz im Sinne einer mythologischen Geographie gewählt wurde. 11 Weitere literarische Genres wie die romances fronterizos, novelas caballerescas und libros de caballería trafen vor allem deshalb den Geschmack der kastilischen Leserschaft, weil der Referenzrahmen um Kreuzzug und Suche nach Ehre dem Geist der ReconquistaKämpfer entsprach. Besonders hervorzuheben ist Amadís de Gaula, der wandernde Ritter, der erst durch seine Heldentaten zu Ruhm gelangte. 12 Bei Orellana wie bei Díaz del Castillo werden Kontinuitäten zwischen iberischer Reconquista und amerikanischer Conquista sichtbar, indem die (be-)schreibenden Akteure Bezüge zu beiden Eroberungsszenarien nahmen, indem sie die Erfahrungen und Wahrnehmungen auf sich bezogen und ähnliche Sichtweisen und 7

Javier Domínguez García, De apóstol matamoros a yllapa mataindios: dogmas e ideologías medievales en el (des)cubrimiento de América, Salamanca 2008. 8 Ibid., S. 65. 9 William Mejías López, „Hernán Cortés y su intolerancia hacia la religión azteca en el contexto de la situación de los conversos y moriscos“, in: Morada de la palabra, San Juan 2002, Bd. 2, 1097–1123, hier S. 1106. 10 Der Bischof Hugo von Dschabla in Antiochien hatte im Jahr 1145 Papst Eugen III. von einem christlichen König Johannes berichtet, der Ekbatana eingenommen habe. In der kurz danach erschienenen Weltchronik Chronica sive Historia de duabus civitatibus von Bischof Otto von Freising wird die Johannes-Legende erstmalig urkundlich erwähnt. 11 Eberhard Schmitt, Die mittelalterlichen Ursprünge der europäischen Expansion. Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. I, München 1986, 1–18. 12 Vgl. Eduardo Crespo, Continuidades medievales en la conquista de América, Pamplona 2010, 35–51.

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Verhaltensmuster zeigten. Personen mit militärischen Berufen machten sich wie bei der Stilisierung des Santiago unter Nutzung der Pferd- und Schwertsymbolik die Tradition der (Wieder-)Eroberung zu Eigen und stilisierten ein Heldentum, das ihr Anrecht auf Entlohnung und einen seigneurialen Lebensstil legitimieren sollte. Über eine konstruierte Kriegerideologie wurde die Aufrechterhaltung bzw. Übertragung des Wertesystems der alten Welt im neuen Kontext konstruiert. Die Worte von Orellana und Díaz del Castillo zeigen also, wie mit der Entdeckung eines Mundus Novus Konzepte des Spätmittelalters nach Amerika exportiert wurden. Orellana stand in der Tradition Kastiliens, den Atlantikraum zu erweitern. Technische Neuerungen und Verbesserungen in Kartographie und Navigation (Globus, Kompass, Astrolab, Quadrant, Karavelle) hatten die Expansion im Atlantik erleichtert. Ebenso entscheidend aber war die Veränderung der Machtverhältnisse auf der Iberischen Halbinsel, wodurch das von der Reconquista geprägte Kastilien, das bislang noch wenig Interesse am Atlantik gezeigt und noch wenig Tradition als Seefahrernation hatte, 13 in direkte Konkurrenz zu Portugal trat. Bis zum 13. Jahrhundert hatten die drei großen Königreiche der Iberischen Halbinsel Portugal, Kastilien-León und Aragon die Rückeroberung gemeinsam betrieben. Kastilien war das größte und bevölkerungsreichste Königreich und am stärksten vom Erbe der Westgoten und der Reconquista geprägt. Ein Verbund aller christlichen Heere kämpfte das letzte Mal gemeinsam in der Schlacht von Las Navas de Tolosa (1212). Portugal und Aragon gaben nach den Eroberungen von Sevilla und Faro (1248/ 1250) die Reconquista für die nächsten zweihundert Jahre an Kastilien ab, das seine Südgrenze mit tributpflichtigen Herrschaften, zuletzt mit dem Reich der Nasriden, in Süd-Andalusien abschloss. Der Fall Orellana illustriert, wie sich Kastilien dabei an der Tradition feudaler Machtstrukturen und Miteinbeziehung privaten Unternehmergeistes sowie der Strategie aus der Reconquista, neue Territorien herrschaftlich abzusichern, orientierte. Das Jahr 1492 fügt sich für die Iberische und Alantische Geschichte in den historischen Prozess der Konsolidierung des frühabsolutistischen Staates unter den Vorzeichen der territorialen Expansion, religiösen Vereinheitlichung und Machtsicherung gegenüber Adel und Städten. Orellana ist ein repräsentativer Vertreter des spanischen (i.e. kastilischen) Konquistadoren, der der hidalguía entstammte und durch die Reconquista geprägt war. Dieser Kleinadel suchte sich im Kampf gegen die infideles zu profilieren und strebte nach Ruhm und Reichtum. Die Soldatengeneration der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts hatte das Ende der Reconquista als Kämpfer in einer Gefolgschaft (hueste) etwa bei den Eroberungen von Málaga und Granada miterlebt. Ihre Zukunft war nach der Einnahme Granadas ungewiss, und so wandten sie sich einer neuen Beschäftigung in Übersee zu. Zentrum und Ausgangspunkt der spanischen Expeditionen war Hispaniola, wo sich Alonso de Ojeda, Vasco Núñez de Balboa, Hernán Cortés, Pedro de Alvarado, Hernando de Soto und Francisco Pizarro kennenlernten und ihre Erfahrungen und Informationen austauschten. Ihre Beschäftigung in Amerika war zunächst ausschließlich militärisch 13 „Though Iberia is surrounded by water, central Castile is landlocked, and mariners had no place in its society“ Stuart B. Schwartz; James Lockhart, Early Latin America, Cambridge 1983, 6.

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geprägt. Sie betätigten sich in Expeditions- und Eroberungszügen sowie Kämpfen mit der indigenen Bevölkerung sowie deren Unterwerfung und Bestrafung; immer wieder schlossen sie Bündnisse untereinander für künftige Unternehmungen; ihre späteren wirtschaftlichen Aktivitäten als Landbesitzer, Minenbetreiber und Sklavenhändler wurden aus der Not und in der Befürchtung geboren, erneut ohne Aufgabe und Einkommen zu sein. Viele waren schließlich Abenteurer, die nicht zu Erfolg kamen und nun zum weißen Pöbel gehörten. Vielleicht hat man sich die Verhältnisse auf Hispaniola im 16. Jahrhundert vorzustellen, wie sie Stefan Zweig, wenngleich überspitzt, in seiner Erzählung „Flucht in die Unsterblichkeit“ (Sternstunden der Menschheit) beschreibt: „Die Kunde von dem neuentdeckten Ophir, wo das Gold mit bloßer Hand aufgehoben werden kann, macht ganz Spanien toll: zu Hunderten, zu Tausenden strömen die Leute heran, um nach dem El Dorado, dem Goldland, zu reisen. Aber welch eine trübe Flut ist es, welche die Gier jetzt aus allen Städten und Dörfern und Weilern heranwirft. Nicht nur ehrliche Edelleute melden sich, die ihr Wappenschild gründlich vergolden wollen, nicht nur verwegene Abenteurer und tapfere Soldaten, sondern aller Schmutz und Abschaum Spaniens schwemmt nach Palos und Cadiz. Gebrandmarkte Diebe, Wegelagerer und Strauchdiebe, die im Goldland einträglicheres Handwerk suchen, Schuldner, die ihren Gläubigern, Gatten, die ihren zänkischen Frauen entfliehen wollen, all die Desperados und gescheiterten Existenzen, die Gebrandmarkten und von den Alguacils Gesuchten melden sich zur Flotte, eine toll zusammengewürfelte Bande gescheiterter Existenzen, die entschlossen sind, endlich mit einem Ruck reich zu werden, und dafür zu jeder Gewalttat und jedem Verbrechen entschlossen sind. So toll haben sie einer dem andern die Phantasterei des Kolumbus suggeriert, dass man in jenen Ländern nur den Spaten in die Erde zu stoßen brauche, und schon glänzten einem die goldenen Klumpen entgegen, dass sich die Wohlhabenden unter den Auswanderern Diener mitnehmen und Maultiere, um gleich in großen Massen das kostbare Metall wegschleppen zu können. Wem es nicht gelingt, in die Expedition aufgenommen zu werden, der erzwingt sich anderen Weg; ohne viel nach königlicher Erlaubnis zu fragen, rüsten auf eigene Faust wüste Abenteurer Schiffe aus, um nur rasch hinüberzugelangen und Gold, Gold, Gold zu raffen; mit einem Schlage ist Spanien von unruhigen Existenzen und gefährlichstem Gesindel befreit. Der Gouverneur von Española (dem späteren San Domingo oder Haiti) sieht mit Schrecken diese ungebetenen Gäste die ihm anvertraute Insel überschwemmen. Von Jahr zu Jahr bringen die Schiffe neue Fracht und immer ungebärdigere Gesellen. Aber ebenso bitter enttäuscht sind die Ankömmlinge, denn keineswegs liegt das Gold hier locker auf der Straße, und den unglücklichen Eingeborenen, über welche die Bestien herfallen, ist kein Körnchen mehr abzupressen. So streifen und lungern diese Horden räuberisch herum, ein Schrecken der unseligen Indios, ein Schrecken des Gouverneurs. Vergebens sucht er sie zu Kolonisatoren zu machen, indem er ihnen Land anweist, ihnen Vieh zuteilt und reichlich sogar auch menschliches Vieh, nämlich sechzig bis siebzig Eingeborene jedem einzelnen als Sklaven. Aber sowohl die hochgeborenen Hidalgos als die einstigen Wegelagerer haben wenig Sinn für Farmertum. Nicht dazu sind sie herübergekommen, Weizen zu bauen und Vieh zu hüten; statt sich um Saat und Ernte zu kümmern, peinigen sie die unseligen Indios – in wenigen Jahren werden sie die ganze Bevölkerung ausgerottet haben – oder sitzen in den Spelunken. In kurzer Zeit sind die meisten derart verschuldet, dass sie nach ihren Gütern noch Mantel und Hut und das letzte Hemd verkaufen müssen und bis zum Halse den Kaufleuten und Wucherern verhaftet sind.“

Die meisten Konquistadoren kamen aus ähnlichen sozialen Verhältnissen, viele sogar aus derselben Region. Die „Rekonquistadoren“ und künftigen Konquistadoren entstammten zumeist kleinadligen Familien aus Kastilien, der Extremadura oder

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Andalusien als klassischen Zwischengebieten der letzten Rekonquistaphase, seltener aber auch aus Cuenca, Valencia, den baskischen Provinzen oder Navarra. Diese Familien waren im Hochmittelalter durch die Vergabe von Privilegien angelockt worden und waren mit dem Leben im Grenzgebiet zwischen christlicher und islamischer Herrschaft, der Nähe zum muslimischen Süden vertraut oder sogar im Kampf gegen die Mauren erprobt. Die Gemeinsamkeit der Herkunft, die sogenannte „patria chica“ (kleines Vaterland), spielte im mittelalterlichen und gleichermaßen im neuzeitlichen Kastilien eine besondere Rolle. Die „patria chica“ ist nicht als Dorfgemeinschaft zu verstehen, sondern umfasst Verbundenheit in Sprache, Sitten und Traditionen sowie Familien-, Clan- und Klientelverhältnisse, die den Zusammenhalt und die Solidarität weiter stärkten. In Amerika organisierten sich Spanier später entsprechend in landsmannschaftlichen Verbänden von zum Beispiel andaluces, vizcaínos, cántabros und extremeños. Dabei spielte das Kollektiv, das die Identität des Einzelnen formte, eine besondere Rolle. Die Erfahrung des Krieges und von Eroberungs- oder Beutezügen als Extremsituationen erzeugten einen Korpsgeist, wie er den mittelalterlichen Ritterorden zueigen war. Es überrascht nicht, wenn bei der Ausformung einer kollektiven Identität mittelalterliche Strategien als Vermengung von militärischen Vorstößen und Kreuzzug übernommen wurden, die auch die Conquista charakterisieren sollten. Die Beschäftigung der Konquistadoren in Amerika war sowohl militärisch geprägt als auch wirtschaftlich motiviert. Wenn für die Jahrhunderte andauernde Reconquista eine Gleichzeitigkeit der Motivationen von Glaubenskampf, Wiedereroberung, Wiederherstellung und Expansion in wechselnder Intensität festgestellt werden kann, 14 so lässt sich für die Eroberungszüge der Spanier zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein deutliches Primat sozioökonomischer Motive konstatieren. Von Beginn an seit Kolumbus’ erster Reise war der Traum vom Goldreich entstanden, wie es Zweig anschaulich beschreibt: „Bei seiner ersten Rückkehr aus dem entdeckten Amerika hatte Kolumbus auf seinem Triumphzug durch die gedrängten Straßen Sevillas und Barcelonas eine Unzahl Kostbarkeiten und Kuriositäten gezeigt, rotfarbene Menschen einer bisher unbekannten Rasse, nie gesehene Tiere, die bunten, schreienden Papageien, die schwerfälligen Tapire, dann merkwürdige Pflanzen und Früchte, die bald in Europa ihre Heimat finden werden, das indische Korn, den Tabak und die Kokosnuß. All das wird von der jubelnden Menge neugierig bestaunt, aber was das Königspaar und seine Ratgeber am meisten erregt, sind die paar Kästchen und Körbchen mit Gold.“ War der Traum vom Gold zerplatzt, so blieben Beutefang, Unterwerfung und Ausbeutung der Vasallen. Es wurde im Übrigen kein riesiger Landbesitz angestrebt,

14 „Die Gleichzeitigkeit der vier angeführten Motivationen – Glaubenskampf, Wiedereroberung, Wiederherstellung und Expansion – macht die Gewichtung der Beweggründe so schwierig, diese Gleichzeitigkeit ist aber im Kern auch der Grund für die anhaltende Diskussion um die Deutung der ‚Reconquista‘, denn alle vier Momente sind in wechselnder Intensität im iberischen Mittelalter feststellbar.“ Jaspert, Reconquista, Interdependenzen und Tragfähigkeit eines wertekategorialen Deutungsmusters, Frankfurth am Main 2011, 463.

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da dies zur verachtungswürdigen Hand- und Landarbeit verpflichten würde, sondern die Herrschaft über tributpflichtige Vasallen. 15 Doch um dies zu erreichen, musste der Eroberer die Krone für sich gewinnen. Deshalb stellt auch Bernal Díaz del Castillo in seinen umfassenden Beschreibungen immer wieder die heroischen Taten („heroicos hechos e hazañas“) und das Trachten nach Ehre und Verdiensten („honra y méritos“) der tapferen Soldaten in den Vordergrund. 16 Der Konquistador ging aber auch nach Amerika um mehr zu gelten, „a valer más“ oder mit den Worten von Bernal Díaz del Castillo, „servir a nuestro Rey y señor, y procurar de ganar honra, como los nobles varones deben buscar la vida“ 17, dem König zu dienen und Ehre zu erringen wie es sich für das Leben eines Edelmannes gehört. Aus diesem Grund wandte sich Orellana wie viele andere vor und nach ihm an den König, damit ihm Anerkennung und Entlohnung in Form eines Gnadenerweises zu Teil werden würden. Seine ereignisreiche Biographie bildete die beste Voraussetzung dafür. Francisco de Orellana wurde um das Jahr 1511 in Trujillo (Extremadura) geboren und war ein entfernter Verwandter der dort ansässigen Familie Pizarro. Bereits mit 16 Jahren kam er das erste Mal nach Amerika, und seit 1533 war er im Gefolge von Francisco de Pizarro, dem er auch während der internen Konflikte nach der Eroberung Perus treu ergeben blieb. Als Gouverneur der Küstenregion Culata (Ecuador) besiedelte er die Stadt Santiago de Guayaquil. 1541 unternahmen Orellana und Gonzalo Pizarro, Franciscos jüngerer Bruder, mit ungefähr 350 Spanier und 4.000 Indios eine Expedition ins Landesinnere über die Andenkordillere Ecuadors, hinter der sie das sagenumwobene El Dorado vermuteten. Nach beschwerlichen sechs Monaten erreichte Orellana das Amazonas-Tiefland und schließlich am 26. August 1542 das Amazonasdelta. Über die Insel Trinidad kehrte er nach Spanien zurück und rüstete eine zweite Expedition aus, von der er nicht zurückkehrte. Die Relación von Orellana ist aber kein Tatsachenbericht. Der hier ausgewählte Text eignet sich vielmehr, um die Mentalität der Konquistadoren als den wichtigsten Akteuren der Frühphase der Eroberung zu veranschaulichen und in ihrem Verhältnis zur Krone zu zeigen. Der Transfer über den Atlantik wurde von ihnen getragen. Doch aus Sicht der Krone waren die neuen Königreiche in Übersee schwer 15 „Those Spaniards who commanded the services of tribute-paying Indians could look forward to enjoying a seigneurial income and life-style without the trouble of developing large estates, for which in any event there were few markets until the immigrant population became large enough to create new wants. Consequently, the subjugation of those regions densely settled by the indigenous people was the immediate priority for the conquistadores and first settlers from Spain, since there were the regions that offered the best hope of lordships over vassals, and hence the easy routes to riches.“ Elliott, Empires of the Atlantic World, New Heaven 2006, 37– 38. 16 „Mi intento desde que comencé a hacer mi relación no fue sino para escribir nuestros heroicos hechos e hazañas de los que pasamos con Cortés, para que agora se vean y se descubran muy claramente quiénes fueron los valerosos capitanes y fuertes soldados que ganamos esta parte del Nuevo Mundo y no se refiera la honra de todos a un solo capitán…“ Bernal Díaz del Castillo, Historia verdadera de la conquista de la Nueva España, Madrid 1999, 56. 17 Historia verdadera de la Conquista de la Nueva Espana, 57.

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zu kontrollieren, so dass sie auch dort Behörden wie Appellationsgerichte (audiencias) nach dem Vorbild der Cámara de Castilla einrichtete, die Anträge bearbeiteten und archivierten sowie Empfehlungen an die Krone (consultas) aussprachen. Ebenso konnte diese neue institutionelle Infrastruktur genutzt werden, um über das Treiben der Untertanen, zumal in der Ferne in Übersee, unterrichtet zu sein. Dadurch war es möglich, diese per Entlohnung an sich zu binden und damit zu kontrollieren. Dieses System der administrativen Leitung und Überwachung sollte anfangs die Eroberer von Amtsmissbrauch und -anmaßung abhalten, denn nur der König sollte Gnaden vergeben dürfen. Das Idiom des tener entera noticia entsprach dabei der Vorstellung vom „Ideal herrschaftlicher [pastoraler] Aufmerksamkeit als Grundbedingung gesellschaftlicher Gerechtigkeit“. 18 Mit der Vergrößerung des Machtbereiches waren König und Verwaltung überfordert, so dass sich „‚Korridore der Macht’ [bildeten], die den Herrscher informationell entmündig[t]en“. 19 Diese Art einer vertraglichen Bindung beider Parteien im Interesse des Absolutismus fördert nicht nur die Eigeninitiative, sondern auch die Eigenwahrnehmung und damit die Identitätsbildung der Untertanen. Entsprechend wichtig sind historische Quellen, die aus der Feder dieser Akteure stammen. Die Prozedur der Antragsstellung (peticiones) um die königlichen Gnadenerweise verlangte autobiographische Selbstbeschreibungen. Dies initiierte einen Prozess einer „Seiner-Selbst-Bewusstwerdung“, d.h. es ließ das Bewusstsein des Ich wachsen durch die Notwendigkeit, dieses Ich auszuformulieren und auszuformen, um im sozialen und bürokratischen Wettbewerb um Anerkennung, Ämter und Zuwendungen erfolgreich zu sein. Damit wiederum stieg auch die die fiktive Komponente, da die Aushandlung des sozialen Aufstiegs durch Argumente legitimiert werden musste. In den Meritenberichten werden die Strategien der militärischen Eroberer in ihrer Beziehung zur Krone deutlich. Bei einer solchen nur scheinbar objektiven Schilderung bemüht sich der Autor, seine Verdienste und Leistungen in den Vordergrund zu stellen. So erwähnt Orellana verschiedene Eroberungs- und Beutezüge, Gefechte und Explorationsreisen, bei denen er sich nicht nur als Befehlshaber und Soldat, der auf dem Schlachtfeld ein Auge verliert, sondern auch als Investor, Unternehmer und Organisator darstellt. Nicht zuletzt aufgrund des Erfolgs in Peru betont er die Hilfe, die er Pizarro bei der Eroberung von Cuzco leistete. Wie in einem solchen Verdienstbericht üblich wird im letzten Abschnitt des Dokumentes, der eigentlichen Petition, der König höflich aber bestimmt an dessen Pflicht zur Entlohnung erinnert. Der Bericht wird schließlich bei der Verwaltung in der Stadt, die den Bittsteller als Bewohner registriert hat (Im Falle Orellanas ist das Puerto Viejo), eingereicht und von Justizbeamten geprüft. Dabei ist es besonders wichtig, dass der gesellschaftliche Stand und die militärischen Leistung des Antragstellers bestätigt werden. Im Fall Orellanas betonten die Beamten 20 nicht nur seine ehrenvolle Herkunft und besonderen Verdienste, sondern auch seine karitative 18 Arndt Brendecke, Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft, Köln 2009, 54 u. 336. 19 Brendecke, 337. 20 „é ser caballero hijodalgo de solar conoscido […], servidor é celoso de su real servicio“.

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Seite, die er bei der Aufnahme von Kriegsversehrten in seinem Wohnhaus bewies. 21 Auch die Beamten erinnern den König an dessen Verpflichtungen angesichts der Vorteile des Systems, das anderen Eroberern als Anreiz dienen sollte. 22 Wie so viele andere starb Orellana, noch bevor er entlohnt werden konnte. Andere Konquistadoren wurden durch den Anspruch auf indigene Arbeitskraft in Form von sogenannten encomiendas abgespeist. So gelang es der Krone, sie langfristig politisch zu entmachten. Es erstaunt deshalb nicht, dass das System der Gnadenerweise bis zur Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Nationalstaaten Bestand hatte. Nach der Entmachtung der Konquistadoren erreichte die Krone Spaniens ihren Zenit als Großmacht. Es schien den Zeitgenossen des 16. Jahrhunderts, dass das Land wirtschaftlich und außenpolitisch unangefochten an der Spitze Europas stand. Doch mit der Zunahme der europäischen Hegemonialrivalitäten wurde Spaniens Vormacht schnell in Frage gestellt. Der Atlantik wurde zum territorialen Streitobjekt und Austragungsort der Feindseligkeiten unter den westeuropäischen Kolonialmächten. Im März des Jahres 1649 sandte Don Francisco Pasquier, Ritter des Santiago-Ordens, seine relación de méritos an die Krone. Er hatte als Soldat eine typische Karriere in der Karibik durchlaufen und zehn Jahre (ca. 1625–35) in der Armada de Galeones de la Carrera de Indias sowie Presidio de La Habana gedient. Besondere Verdienste hatte er sich im Kampf gegen niederländische Piraten in der Karibik gemacht. 1646 kehrte Francisco nach Spanien zurück und erbat für seine Dienste das hohe Verwaltungsamt des corregidor für Logroño oder Ronda. Wie Orellana wandte er sich an den König und pries seine Leistungen im Dienste der Krone an. Doch im 17. Jahrhundert stand nicht mehr die Vergrößerung des Territoriums im Kampf gegen die Indios an, sondern dessen Verteidigung gegen englische, französische und holländische Freibeuter, die er tapfer bekämpfte, „wie es von seinem Mut und seiner Fähigkeit zu erwarten war“. 23

21 „…haber hecho gran servicio á Dios Nuestro Señor y á Su Majestad, porque en el tiempo quel dicho Capitán residía en la dicha Villa fue cuando acudió el golpe de la gente á estas partes, las cuales venían muy fatigadas e necesitadas de sus viajes, y hallaban en casa del dicho capitán Francisco de Orellana regrigerios, é los daba de comer é sustentaba en sus enfermedades é necesidades, é creen que, si no fuera por él, perescieran muchos, porque eran muchas las necesidades que padescían, en lo cual el dicho capitán gastó mucha cantidad de pesos de oro, porque las comidas estaban á muy excesivos é grandes precios, é las compraba á su costa é misión.“ 22 „…como á Rey é Señor que en todo agradece los servicios que sus súbditos é vasallos le hacen, tenga por bien hacer al dicho capitán las mercedes que le pidiere é suplicaré, porque todo lo merece por su persona, porque el dicho Capitán é otros se esfuercen de aquí adelante á le hacer otros semejantes é más grandes servicios.“ 23 Archivo Histórico Nacional (Madrid), Consejos 13.384, exp. 26: „… en 1636 con Horden de su General Don Carlos de Ybarra se embarco en una Nao en el puerto de la abana conquatro Cientos Mill pesos que embiava de Socorro a la Ysla de San Juan de Puerto Rico y a vista del le dieron Caza tres varcos de Olandeses y habiendosele señalado el Castillo de la proa y por cavo de veynte y cinco Ynfantes peleo mas de tres horas tan balientemente como se esperava de su valor y calidad y mediante esto y su ynteligencia se destrozo la una de las Naos enemigas y se puso en salvo el Socorro“.

„ANIMAL AGENCY“ ALS NEBENWIRKUNG DER KOLONIALGESCHICHTE? Ökologische Netzwerke und Transfers zwischen Australien, Indien und Afrika, 1850–1920 Ulrike Kirchberger Es ist weithin bekannt, dass mit dem europäischen Kolonialismus gewaltige Transformationen der natürlichen Umwelt einhergingen. Die Europäer führten neue Tierund Pflanzenarten in die Kolonien ein, die die dortigen Ökosysteme für immer veränderten. Gleichzeitig brachten sie außereuropäische Tier- und Pflanzenarten nach Europa zurück, was dort Wandlungen in den Lebens- und Ernährungsgewohnheiten bewirkte. Diese Transfers von Pflanzen und Tieren in globalen und kolonialen Zusammenhängen sind mittlerweile recht gut erforscht. Eine wachsende Zahl von Untersuchungen befasst sich mit der globalen Verbreitung einzelner Tier- und Pflanzenarten in verschiedenen Jahrhunderten, auch in Überblicksdarstellungen zur Umweltgeschichte wird das Thema des globalen und kolonialen Artentransfers angesprochen. 1 Ferner setzt sich eine große Zahl von Arbeiten in der Tradition von Alfred Crosbys „ecological imperialism“ mit der Frage auseinander, inwieweit mit der kolonialen Erschließung ein Beherrschen und Ordnen der natürlichen Umwelt einherging. Die meisten dieser Untersuchungen sind, insofern der Transfer von Pflanzen und Tieren im Zeitalter des Hochimperialismus angesprochen wird, sehr auf die Beziehungen zwischen europäischen Zentren und kolonialer Peripherie konzentriert. 2 Der folgende Beitrag will sich einem von der historischen Forschung bislang vernachlässigten Aspekt widmen und den interkolonialen Artentransfer über den Indischen Ozean untersuchen. Tiere und Pflanzen wurden seit Tausenden von Jahren zwischen den Kontinenten um den Indischen Ozean hin und her befördert. In dieser Tradition importierten denn auch die ersten europäischen Siedler, die sich in Australien niederließen, nicht nur Tiere und Pflanzen aus Europa, sondern auch aus 1

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Als Klassiker wäre zu nennen Charles Elton, The Ecology of Invasions by Animals and Plants, London 1958; an neueren Sammelbänden liegen mittlerweile vor Jodi Frawley, Iain McCalman (Hg.), Rethinking Invasion Ecologies from the Environmental Humanities, London/New York 2014; James Beattie et al. (Hg.), Eco-Cultural Networks and the British Empire. New Views on Environmental History, London 2014. Alfred W. Crosby, Ecological Imperialism. The Biological Expansion of Europe, 900–1900, New York 1986; William Beinart/Lotte Hughes, Environment and Empire, Oxford 2007; John M. McKenzie, The Empire of Nature. Hunting, Conservation and British Imperialism, Manchester 1988.

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Afrika und Asien nach dem Fünften Kontinent. Das Interesse galt zunächst vor allem Schafen, Rindern und Pferden. Aus Südafrika und Asien eingeführte hitzeresistente Arten bildeten von Anfang an eine wichtige Grundlage für die Züchtung und den Aufbau einer Landwirtschaft im europäischen Stil. 3 Neben solchen wirtschaftlich bedeutenden Transfers, die im kolonialen Zeitalter in großer Zahl und kontinuierlich stattfanden, lassen sich eine Vielzahl weiterer Tier- und Pflanzentransfers feststellen, die weniger permanent waren und in verschiedenen Richtungen zwischen den Kontinenten um den Indischen Ozean verliefen. Beispielsweise wurden für Expeditionen ins Innere Australiens in der Jahrhundertmitte Kamele aus Südasien und Afrika importiert. 4 In den botanischen Gärten in Melbourne wurde mit verschiedenen Vogelarten aus Asien, mit Lamas und Angoraziegen aus Südafrika und Indien und vielen anderen Tier- und Pflanzenarten aus der südlichen Hemisphäre experimentiert. 5 Ferner wurden im großen Stil australische Baumarten, vor allem Eukalypten und Akazien, in die afrikanischen Kolonien und nach Britisch-Indien verbracht. 6 Ein Beispiel für den kolonialen Artentransfer zwischen Indien und Afrika wären die Initiativen des Indian Forest Service, indische Bambusarten zu Versuchszwecken in den afrikanischen Kolonien anzupflanzen. 7 Neben diesen gezielt von den kolonialen Eliten herbeigeführten und kontrollierten Transfers stand die unbeabsichtigte, eher zufällige Verbreitung von Tieren und Pflanzen. Ein Beispiel hierfür wären die sogenannten „prickly pears“, eine Kakteenart, die europäische Reisende von Südafrika nach Australien und Südasien mitbrachten, wo sie sich rasant vermehrten. 8 Da diese Transfers über den Indischen Ozean in ihrer Gesamtheit von den Historikern bislang kaum beachtet wurden, soll der folgende Beitrag untersuchen, wer aus welchen Gründen an ihnen beteiligt war, wie die Netzwerke aufgebaut waren, die die Beteiligten zwischen den drei Kontinenten miteinander verbanden und wie sie in weiterreichende Transfers zwischen Europa und den Kolonien eingeordnet werden müssen. Methodisch wird zum einen an wissenschaftsgeschichtliche Ansätze angeschlossen werden, die die klassischen zentrum-peripherie-orientierten Modelle zur Analyse kolonialer Wissenschaftsstrukturen relativieren und Modelle 3 4 5 6 7

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Ian Parsonson, The Australian Ark. A history of domesticated animals in Australia, Collingwood, Victoria 1998. Tom L. McKnight, The Camel in Australia, Melbourne 1969. Siehe beispielsweise The Third Annual Report of the Acclimatisation Society of Victoria, Melbourne 1864. Brett M. Bennett, A Global History of Australian Trees, in: Journal of the History of Biology 44/2011, 125–145. Siehe dazu Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R 1001/7707, Bambus, Separat-Abdruck aus den Sitzungsberichten der Niederrhein. Gesellsch. f. Natur- und Heilkunde zu Bonn, 1897, Sitzung vom 1. Februar 1897, Prof. Dr. Brandis spricht über die geographische Verbreitung der Bambusen in Ostindien; Dietrich Brandis an die Kolonialabtheilung des Auswärtigen Amtes, Bonn, 15. 9. 1901; Berthold Ribbentrop an das Deutsche Generalkonsulat in Kalkutta, Simla, 25. 4. 1899. William Beinart/Luvuyo Wotshela, Prickly Pear. The Social History of a Plant in the Eastern Cape, Johannesburg 2011.

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der Wissenszirkulation und -diffusion in den Vordergrund rücken. 9 Zum anderen soll an Forschungsfelder angeknüpft werden, die für eine bessere Einbeziehung der natürlichen Umweltgegebenheiten in geisteswissenschaftliche Forschungsperspektiven plädieren. In verschiedenen postkolonialen Theorien, der akteurszentrierten Netzwerkanalyse (ANT) und den animal studies wird derzeit die Überwindung des anthropozentrischen Zugangs gefordert. Tiere und Pflanzen werden in ihrer Bedeutung aufgewertet und als eigenständige Akteure begriffen, die mit einer eigenen Wirkmacht oder „agency“ ausgestattet waren. 10 Für den kolonialen Kontext diskutieren Vertreter der animal studies beispielsweise, inwieweit Tiere als Kolonisten betrachtet und menschlichen Kolonisten gleichgesetzt werden können. 11 Was den transkontinentalen Artentransfer angeht, so wird überlegt, inwieweit sich Begriffe aus der menschlichen Migrationsforschung auf den Transfer von Tieren übertragen lassen, also von tierlichen „Migranten“, von „Assimilation“ und „Integration“ gesprochen werden muss. 12 Interessant sind ferner Untersuchungen, die sich mit der Wahrnehmung eingeführter Tier- und Pflanzenarten beschäftigen und analysieren, wie eingeführte Arten vor bestimmten gesellschaftlichen Hintergründen und Entwicklungen als „fremd“ und „invasiv“ oder aber als „einheimisch“ und „indigen“ perzipiert wurden. 13

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Siehe beispielsweise Kapil Raj, Beyond Postcolonialism … and Postpositivism: Circulation and the Global History of Science, in: Isis 104, 2/2013, 337–347; Emily S. Rosenberg, Transnational Currents in a Shrinking World, in: dies. (Hg.), A World Connecting, 1870-1945, Cambridge (MA)/London 2012, 815–819 und vor allem das Kapitel „Circuits of Expertise“, 919– 959. Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt/Main 2003; Bruno Latour, Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford 2007; Chris Philo/Chris Wilbert (Hg.), Animal Spaces, Beastly Places. New Geographies of Human-Animal Relations, London 2000. Aus einer Fülle an neuer Literatur zu den animal studies siehe beispielsweise Forschungsschwerpunkt Tier Mensch Gesellschaft (Hg.), Den Fährten folgen. Methoden interdisziplinärer Tierforschung, Bielefeld 2016; dies. (Hg.), Vielfältig verflochten. Interdisziplinäre Beiträge zur Tier-Mensch-Relationalität, Bielefeld 2017; für einen Überblick über den Forschungsstand siehe Mieke Roscher, Darf’s ein bisschen mehr sein? Ein Forschungsbericht zu den historischen Human-Animal Studies, in: H-Soz-Kult, 16.12.2016, [letzter Zugriff 05.07.2017]. Die derzeitigen Diskussionen um das Konzept der „animal agency“ werden zusammengefasst in Sven Wirth et al. (Hg.), Das Handeln der Tiere. Tierliche Agency im Fokus der HumanAnimal Studies, Bielefeld 2015. Gordon Sayre, The Beaver as Native and as Colonist, in: Canadian Review of Comparative Literature 22, 3–4 (1995/6), 659–682; Philip Armstrong, Farming Images. Animal Rights and Agribusiness in the Field of Vision, in: Laurence Simmons/Philip Armstrong (Hg.), Knowing Animals, Leiden/Boston 2007, 105–130. Harriet Ritvo, Back Story. Migration, assimilation and invasion in the nineteenth century, in: Frawley/McCalman (Hg.), Rethinking Invasion Ecologies, 17–30. Ian D. Rotherham/Robert A. Lambert (Hg.), Invasive and Introduced Plants and Animals. Human Perceptions, Attitudes, and Approaches to Management, London/Washington 2011; Brett Bennett, A Contested Past and Present. Australian Trees in South Africa, in: [letzter Zugriff am 02.09.15].

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Solche Ansätze aus der ANT und den animal studies liefern ein methodisches Instrumentarium, über das sich der wissenschaftsgeschichtliche, anthropozentrische Zugang auf den transkontinentalen Artentransfer wesentlich erweitern lässt. Tiere und Pflanzen sollen im Folgenden als Akteure definiert werden, die eine sich dem menschlichen Einfluss entziehende Wirkmacht entfalten konnten. Darauf aufbauend soll der Frage nachgegangen werden wie sich im Zusammenhang mit den Transfers die Beziehungen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren veränderten. Es wird aufgezeigt werden, an welchen Punkten sich die Grenzen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteursverbänden auflösten und wie sich die Hierarchien zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen im Zuge der Transfers verschoben. Schließlich will sich der Beitrag damit beschäftigen, inwiefern aufgrund dieser Grenz- und Hierarchieverschiebungen bei den an den Transfers beteiligten Menschen ein neues Bewusstsein für ökologischen Wandel und die Zerstörung ökologischer Systeme entstand. 1. MENSCHLICHE AKTEURE Anknüpfend an die Ergebnisse der akteurszentrierten Netzwerkanalyse sollen die an den Transfers Beteiligten in drei Akteursgruppen aufgeteilt werden, nämlich in europäische Naturwissenschaftler, nicht-europäische Expertinnen und Experten und nicht-menschliche Akteure. Was die europäischen Naturwissenschaftler anbelangt, so waren sie im 19. Jahrhundert in großer Zahl in den Kolonien um den Indischen Ozean präsent. Sie bauten Verbindungen über den Indischen Ozean auf, unternahmen Reisen zwischen den drei Kontinenten und initiierten die Transfers von Tier- und Pflanzenarten. Institutionell getragen wurden ihre Initiativen von den botanischen und zoologischen Gärten, den kolonialen Forstverwaltungen und den eigens für den Tier- und Pflanzentransfer gegründeten Akklimatisierungsgesellschaften. Diese Einrichtungen stellten die organisatorischen Infrastrukturen und finanziellen Ressourcen bereit, die die Artentransfers zwischen den drei Kontinenten möglich machten. Die botanischen Gärten, deren Zahl in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stetig anstieg, standen in engem interkolonialen Kontakt miteinander. Die in den Gärten beschäftigten Botaniker tauschten nicht nur Tier- und Pflanzenarten, sondern auch wissenschaftliche Publikationen und Korrespondenzen. In traditionsreichen und bedeutenden Gärten, wie beispielsweise im niederländischen Buitenzorg auf Java, liefen viele Fäden der den Indischen Ozean überspannenden ökologischen Netzwerke zusammen. 14 Auch die Forstverwaltungen in den Kolonien waren eng miteinander vernetzt. Die Forstdienste in Britisch-Indien, den Kolonien in Afrika und Australien arbeiteten auf vielen Ebenen zusammen. Wie die botanischen Gärten waren sie zwar jeweils für sich an das imperiale Zentrum gebunden, wurden jedoch im Laufe der Zeit 14 Donal P. McCracken, Gardens of Empire. Botanical Institutions of the Victorian British Empire, London 1997; Suzanne Moon, Technology and Ethical Idealism. A History of Development in the Netherlands East Indies, Leiden 2007.

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zunehmend eigenständiger und waren am interkolonialen Austausch genauso interessiert wie an der Rückbindung nach Europa. Die Forstbeamten reisten zwischen Afrika, Australien und Indien, sie tauschten sich über Fachzeitschriften wie den „Indian Forester“ aus, und es fanden regelmäßig „Empire Forestry Conferences“ in den Kolonien statt, auf denen sich die Mitglieder der kolonialen Forstdienste trafen und ihre Zusammenarbeit koordinierten. Das Personal wurde zunehmend vor Ort rekrutiert und ausgebildet, die ursprünglich konzipierte kontinentaleuropäische Ausbildung für den Indian Forest Service verlor an Bedeutung. Die lokalen Bedingungen, das Arbeiten mit tropischen Wäldern in heißen Klimata rückte in den Mittelpunkt, die Förster vor Ort entwickelten neue Forstmethoden unter den spezifischen Bedingungen der jeweiligen Umgebung und tauschten sich innerhalb der südlichen Hemisphäre über ihre Arbeit aus. Vor diesem institutionellen Hintergrund konnten die Forstbeamten den Transfer von Tieren und Pflanzen um den Indischen Ozean koordinieren. 15 Die Akklimatisierungsgesellschaften, die vor allem in den australischen Hauptstädten in großer Zahl gegründet wurden, trugen zusätzlich zur Finanzierung und Koordinierung der Artentransfers bei. 16 Die Netzwerke der Naturwissenschaftler verliefen somit in vieler Hinsicht kreislaufartig um den Indischen Ozean, und es lassen sich enge Kontakte und Eigendynamiken ausmachen. Sie waren jedoch nicht in sich geschlossen, sondern überlagerten sich mit geographisch anders verlaufenden Kommunikationsnetzen und –strukturen. Die Naturwissenschaftler in den Kolonien in Australien, Indien und Afrika waren eng mit den imperialen Metropolen in Europa verbunden. Sie waren verpflichtet, Arbeitsaufträge anzunehmen, über Forschungsergebnisse Bericht zu erstatten und Herbarien zur Klassifizierung und Publikation an die Wissenschaftszentren in Europa abzugeben, wobei die botanischen Gärten in Kew bei London in diesen imperialen Wissenschaftshierarchien eine zentrale Rolle spielten. Neben dieser Einbindung in die Wissenschaftsstrukturen des europäischen Imperialismus wurden die Netzwerke über den Indischen Ozean nach Osten hin mit Netzwerken in die USA überlagert, die im Laufe des 19. Jahrhunderts an Bedeutung gewannen. Die Motive und Ziele, die sich mit den Artentransfers zwischen Australien, Südasien und Afrika verbanden, waren vielfältig. Wirtschaftliche Interessen an der Züchtung gut verwertbarer, ertragreicher Arten waren eng mit wissenschaftlichen Ambitionen verbunden. In einer Zeit, in der viel über Evolutions- und Abstammungstheorien diskutiert wurde, waren die Naturwissenschaftler in den Kolonien gefragte Experten, was die Anpassungsfähigkeit von Tieren und Pflanzen in fremden Ökosystemen anging. Über die Akklimatisierungsinitiativen versicherten die akademischen und administrativen Eliten in Australien, Indien und Afrika sich 15 Gregory Barton, Empire Forestry and the Origins of Environmentalism, Cambridge 2002; Ravi Rajan, Modernizing Nature. Forestry and Imperial Eco-Development 1800–1950, Oxford 2006; Brett M. Bennett, Plantations and Protected Areas. A Global History of Forest Management, Cambridge (MA)/London 2015. 16 Christopher Lever, They Dined on Eland. The Story of the Acclimatisation Societies, London 1992.

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selbst und den Wissenschaftlern in den europäischen Metropolen ihrer Bedeutung für den wissenschaftlichen Fortschritt. Darüber hinaus war die Einführung neuer Tier- und Pflanzenarten in die Kolonien eng mit dem Anspruch der „Verbesserung“ und „Kultivierung“ der außereuropäischen Natur verbunden. Hinzu kamen ästhetische Interessen. Die Kolonisten wünschten sich schöne Blumengärten, Schwäne auf Seen, Pfauen und andere exotische Vogelarten in Parks, in Volieren und für die Jagd. Auch eine nostalgische Verklärung heimatlicher Landschaften und das Bestreben, sie in den Kolonien wiederherzustellen, „to establish in the New World the most desirable animal colonists from the old“ 17, waren wichtige Ziele der Akklimatisierer. Das glatte Bild von den „neo-Europas“, die in der außereuropäischen Welt erschaffen werden sollten, hatte jedoch zahlreiche Risse. Zunächst stand die Vision von der Rekonstruktion europäischer Landschaften durch die Übertragung von Tieren und Pflanzen aus der alten in die neue Welt im Widerspruch zu der Tatsache, dass die von den Akklimatisierungsgesellschaften nach Australien eingeführten Arten zu einem großen Teil nicht aus Europa, sondern aus der südlichen Hemisphäre kamen. Den Jahresberichten der Akklimatisierungsgesellschaft von Melbourne lässt sich entnehmen, dass viele der eingeführten Arten aus Java, China, Indien, Ceylon, dem südafrikanischen Kap, Manila, Formosa, Peru, Bolivien, Brasilien und anderen Gegenden des globalen Südens stammten. 18 Des Weiteren wurde das Selbstverständnis der europäischen Wissenschaftler als „souveränen Experten“ dadurch in Frage gestellt, dass sie bei den Artentransfers in vieler Hinsicht auf die Kooperation mit nicht-europäischen Akteuren angewiesen waren. Die europäischen Naturwissenschaftler bauten auf vorkolonialen Artentransfers auf, die von asiatischen und afrikanischen Reisenden durchgeführt wurden und sich bis in die vorchristliche Zeit zurückverfolgen lassen. 19 Ferner waren afrikanische, asiatische und australische Männer und Frauen in verschiedenen Funktionen an den von den europäischen Naturwissenschaftlern initiierten Transfers beteiligt. In den botanischen und zoologischen Gärten war indigenes Personal beschäftigt und an den Forschungsexpeditionen waren üblicherweise Einheimische beteiligt, die über die nötige Ortskenntnis verfügten. Chinesische Gärtner waren immer wieder in den Personallisten der botanischen Gärten in der Indian Ocean World aufgeführt, sie wechselten auch die Gärten und wurden zum Beispiel von

17 Arthur Nicols, The acclimatisation of the Salmonidae at the Antipodes. Its History and Results, London 1882, 2. 18 The Third Annual Report of the Acclimatisation Society of Victoria, Melbourne 1864, 9–35. 19 Siehe beispielsweise Haripriya Rangan/Judith Carney/Tim Denham, Environmental History of Botanical Exchanges in the Indian Ocean World, in: Environment and History 18, 3/2012, 311– 342; Harypriya Rangan/Karen L. Bell, Elusive Traces: Baobabs and the African Diaspora in South Asia, in: Environment and History 21, 2015, 103–133.

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Buitenzorg nach Dar es Salam geholt. 20 Oftmals wurden Tiertransporte über den Indischen Ozean von indigenen Pflegern begleitet. 21 Diese „indigenous experts“ trugen einerseits zum Zustandekommen der Artentransfers bei, andererseits konnten sie den europäischen Naturwissenschaftlern aber auch Schwierigkeiten machen und Transfers behindern. So kam es im Bereich der Klassifizierung und Benennung der transferierten Arten immer wieder zu Problemen. Der Forstbeamte David Hutchins in Südafrika und auch seine Kollegen in Indien beklagten sich zum Beispiel immer wieder darüber, dass die Samenpäckchen, die sie von Ferdinand von Mueller, dem Direktor des botanischen Gartens in Melbourne, erhielten, falsch beschriftet seien, was man oft erst nach der Keimung bemerkte. Mueller rechtfertigte dies mit der vermeintlichen Inkompetenz der Sammler vor Ort, die die Samen falsch klassifizieren und falschen Herkunftsregionen zuordnen würden. 22 Man könnte jedoch auch darüber spekulieren, ob hinter solchen Problemlagen Formen indigenen Widerstands gegen europäische Benennungs- und Sammelpraktiken standen. Jedenfalls zeigt sich an solchen Episoden, dass die europäischen Wissenschaftler von der Kooperation indigener Experten abhängig waren, deren Interessen und Handlungsweisen sie oft nicht abschätzen konnten. 2. NICHT-MENSCHLICHE AKTEURE Auch die Wirkmacht nicht-menschlicher Akteure war für die europäischen Wissenschaftler oft schwer absehbar. Wie sich die Beziehungen zwischen Tieren und Menschen veränderten, lässt sich beispielsweise am Transfer von Kamelen aus Südasien nach Australien aufzeigen. Kamele waren in den heißen und trockenen Zonen Nordafrikas und Asiens wichtige Transport- und Reittiere. In der Mitte des 19. Jahrhunderts, als in Australien große Expeditionen zur Erforschung der Wüstenregionen im Inneren des Kontinents unternommen wurden, führte die Kolonialverwaltung von Victoria sie in größerer Zahl und in Begleitung arabischer Kamelpfleger aus der Gegend des heutigen Pakistan nach Australien ein. Man glaubte, dass Kamele Hitze und Trockenheit besser ertrügen als die europäisch-stämmigen Pferde, die üblicherweise bei den Expeditionen zum Einsatz kamen. Die an den Expeditionen beteiligten Wissenschaftler sahen die Kamele zunächst als tierliche Erfüllungsgehilfen bei der Erschließung des australischen Kontinents. Diese Hierarchien veränderten sich jedoch im Verlauf der Expeditionen. 20 Ulrike Kirchberger, Wie entsteht eine imperiale Infrastruktur? Zum Aufbau der Naturschutzbürokratie in Deutsch-Ostafrika, in: Historische Zeitschrift 291, 1/2010, 58. 21 Siehe beispielsweise Philip Jones/Anna Kenny, Australia’s Muslim Cameleers. Pioneers of the Inland, 1860s–1930s, Adelaide (SA) 2007. 22 Siehe beispielsweise Royal Botanic Gardens Kew, Archives, DC/153/118, Dietrich Brandis an Joseph Hooker, Simla, 22. 7. 1877; dazu auch Jodi Fawley, Joseph Maiden and the National and Transnational Circulation of Wattle Acacia spp., in: Historical Records of Australian Science 21, 1/2010, 35–54.

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Die menschlichen Expeditionsteilnehmer waren auf die Kamele existentiell und unmittelbar angewiesen. Sie mussten darauf achten, dass sie genügend tranken und fraßen, sich nicht verletzten und vor allem, dass sie nicht wegliefen, was immer wieder geschah. Während die ausgerissenen Kamele unter Wüstenbedingungen verhältnismäßig gut zurecht kamen, verwilderten und sich im Inneren Australiens auszubreiten begannen, kam für die Menschen der Verlust einzelner Tiere einer lebensbedrohlichen Katastrophe gleich. Auf Expeditionen konnten so neue Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Menschen und Tieren entstehen, in denen die Menschen in der ungünstigeren Position waren. 23 Weitere Situationen, in denen sich die Hierarchien zwischen Menschen und Tieren verschoben und die europäischen Naturwissenschaftler die Kontrolle über die von ihnen initiierten Transfers verloren, entstanden im Zuge der Verbreitung australischer Baumarten in den frostfreien Klimaregionen Asiens, Afrikas und auch Nordamerikas. Bei der Erforschung des Fünften Kontinents endeckten die europäischen Naturwissenschaftler zahlreiche Baumarten, die ihnen bislang unbekannt waren, insbesondere eine große Zahl von Eukalyptus- und Akazienarten. In ihren transkontinentalen Korrespondenznetzwerken priesen sie deren schnelles Wachstum, die Härte ihrer Hölzer und ihre Hitzebeständigkeit. Die australischen Akazien und Eukalypten seien ideal für die Wiederaufforstung in Gegenden, in denen der Siedlerimperialismus die Wälder dezimiert hatte. Mit dem Anbau von Eukalyptusbäumen könne darüber hinaus Malaria bekämpft werden. Das destillierte Öl hätte arzneiliche Wirkung und die Eukalyptuspflanzungen würden helfen, die Sümpfe trockenzulegen, die als Brutstätten für krankheitsübertragende Insekten galten. In den afrikanischen Wüstengegenden angepflanzt, könnten die Bäume Schatten spenden, Hitze und Trockenheit besiegen und die Voraussetzungen für eine Landwirtschaft im europäischen Stil schaffen, wie beispielsweise Ferdinand von Mueller 1865 an den Kartographen August Petermann in Gotha schrieb: durch die Ausstreuung der Samen unserer unvergleichlich schnell wachsenden Acacien wird sich die ganze nordafrikanische Wüstenlandschaft u. ihr Klima ändern, u ehe es lange dauert sollten wir doch unbedingt alle tropischen Producte in Abyssinien u. anderen Theilen Nordafrikas cultivirn, die näher als Indien liegen. 24

Überzeugt von ihrer Zivilisierungsmission verbreiteten die Naturwissenschaftler mit großem Enthusiasmus australische Baumarten in Afrika, Indien und Kalifornien. Es wurden dort große Eukalyptus- und Akazienplantagen angelegt, die fürs erste tatsächlich gut und schnell gediehen, und dazu beitrugen, diejenigen Waldbestände zu ersetzen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerodet worden waren. Ferdinand von Mueller, der sich sehr für die Verbreitung australischer

23 Für einen Bericht über eine Expedition, die mit Kamelen durchgeführt wurde, siehe P. Egerton Warburton, Journey across the Western Interior of Australia, in: Proceedings of the Royal Geographical Society of London 19, 1 (1874/1875), 41–51. 24 Ferdinand von Mueller an August Petermann, 26.11.1865, in: Johannes H. Voigt (Hg.), Die Erforschung Australiens. Der Briefwechsel zwischen August Petermann und Ferdinand von Mueller 1861–1878, Gotha 1996, 75.

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Baumarten einsetzte, warb darüber hinaus auf den Kolonialausstellungen im britischen Empire für die australischen Hölzer. Auf der Colonial Exhibition in Kolkata präsentierte er Holzproben und anderes Anschauungsmaterial, das über den wirtschaftlichen Wert australischer Baumarten informierte. 25 Der feste Glaube an die Segnungen dieses „ecological engineering“ wurde allerdings immer wieder ins Wanken gebracht. 1887 monierte ein Insektenkundler am us-amerikanischen Landwirtschaftsministerium in Washington gegenüber Ferdinand von Mueller, dass über die australischen Akazienarten, die nach Kalifornien eingeführt wurden, ein Insekt, „Icerya Purchasi“, eingeschleppt worden sei, das in den kalifornischen Orangenplantagen schweren Schaden anrichte. Um sich gegen diese Kritik zur Wehr zu setzen, räumte Ferdinand von Mueller zunächst ein, dass sich das Insekt auch in Australien an einzelnen Akazienarten nachweisen ließe, es aber in Australien nie die Orangenbäume befallen hätte. Er gestand zu, dass es im Zusammenhang mit der Einführung von Eukalypten nach Ceylon und Brasilien ähnliche Schwierigkeiten gegeben hätte als dort bereits bestehende Insektenplagen durch ein Insekt, das am Eukalyptus lebte, verstärkt wurden. Dann aber verteidigte er sich dahingehend, dass die Akazienarten, die nach Kalifornien ausgeführt worden waren, allesamt als Samen verschickt worden seien, nicht als lebende Pflanzen. Deshalb sei es nicht möglich, dass das Insekt über seine Akaziensendungen eingeführt worden sei. Darüber hinaus gab er zu bedenken, dass das Insekt ursprünglich wahrscheinlich gar nicht aus Australien stamme, sondern „eingewandert“ sei: „Whether the Icerya was originally an inhabitant of Victoria or merely immigrated, I will endeavour to ascertain …“ 26. Mueller unterschied zwischen genuin australischen Insekten und eingewanderten Arten, für die er sich weniger verantwortlich fühlte. Mit der Tatsache konfrontiert, dass die australischen Baumarten nicht die Zivilisationsbringer waren als die er sie feierte, reagierte er einerseits sehr professionell und arbeitete das Problem nach wissenschaftlichem Ermessen korrekt ab. Andererseits war er deutlich verunsichert und persönlich gekränkt, weil der von ihm initiierte Transfer unbeabsichtigte Folgen hatte, die sich seiner Kontrolle entzogen. So erlebten die Naturwissenschaftler immer wieder Momente, in denen das Experimentieren mit in neue Ökosysteme eingeführten Tieren und Pflanzen zu nicht kontrollierbaren Entwicklungen führte. Tierliche und pflanzliche Wirkungsmacht wurde als ein Faktor empfunden, der nicht steuerbar war und auf den man immer wieder neu reagieren musste.

25 Ferdinand von Mueller an Alfred Deakin, 11.5.1883, in: R. W. Home et al. (Hg.), Regardfully Yours. Selected Correspondence of Ferdinand von Mueller, Bd. 3, Bern 2006, 315–317. 26 Ferdinand von Mueller an Charles Riley, 21.5.1887, in: Home et al. (Hg.), Regardfully Yours, Bd. 3, 469, 470; allgemein zum Transfer von australischen Baumarten nach Kalifornien siehe Ian Tyrrell, True Gardens of the Gods. Californian-Australian Environmental Reform, 1860– 1930, Berkley (CA) 1999.

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3. IDEENTRANSFER Über die transozeanischen Netzwerke fand nicht nur ein Transfer von Arten, sondern auch von ökologischem Wissen statt. Die Frage, wie sich eingeführte Arten in neuen Ökosystemen entwickelten, war für die Wissenschaftler von großem Interesse. Sie tauschten sich über den Indischen Ozean darüber aus. In diesem Zusammenhang beschäftigten sie sich immer wieder mit der Fragilität von Ökosystemen und der Zerstörung von Natur. Auch Forderungen nach einem staatlichen Eingreifen zum Schutz der Natur wurden laut. Noch vollkommen ungeklärt ist die Frage, wie dieser Transfer von ökologischem Wissen in den Forschungsstand über die Entstehung eines „modernen“ Umweltbewusstseins eingeordnet werden kann. Ein disparates Forschungsfeld wird zum einen durch die Auseinandersetzung mit Richards Groves These geprägt, europäisches Umweltbewusstsein sei in den Kolonien entstanden. Schon in der Frühen Neuzeit hätte sich in den Kolonien eine Sensibilisierung für die Gefährdung von Ökosystemen feststellen lassen, und es hätte sich ein Bedürfnis für den Schutz von als zerstört perzipierter Natur entwickelt. 27 Daneben steht eine eher auf Europa bezogene Forschung, die die Entstehung des heutigen Umweltbewusstseins als Folge von Urbanisierung und Industrialisierung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts wertet. Wie muss man demzufolge die im Zusammenhang der ökologischen Netzwerke zwischen Australien, Südasien und Afrika kolportierten Naturbilder verorten? Lassen sie sich aus Europa herleiten oder entstanden sie in der Folge von Beobachtungen vor Ort, vielleicht gar als Reaktionen auf die Unwägbarkeiten tierlicher und pflanzlicher Wirkungsmacht? Viele der europäischen Naturwissenschaftler, die sich an den Artentransfers über den Indischen Ozean maßgeblich beteiligten, setzten sich als Beamte des kolonialen Forstdiensts oder als Direktoren der botanischen Gärten von Berufs wegen mit als zerstört wahrgenommener Natur auseinander. Sie entwickelten zwar in vieler Hinsicht eine gewisse Distanz zum Mutterland und arbeiteten immer enger interkolonial zusammen, 28 standen aber, was ihre Naturwahrnehmung und Naturschutzkonzepte anbetraf, immer noch in der europäischen Tradition. Dem kontinentaleuropäischen Vorbild folgend hing die Pflege der Wälder eng mit der staatlichen Kontrolle von Naturräumen gegenüber privaten Interessen zusammen. Der Schutz der Natur durch eine staatliche Forstverwaltung hatte wirtschaftliche und wissenschaftliche Dimensionen, die die Naturwahrnehmung der Forstbeamten in den Kolonien prägte. Ferner spielten Klimatheorien eine Rolle, die den Wäldern eine zentrale Funktion für die Bewahrung eines moderaten Klimas zusprachen. Au-

27 Richard Grove, Green Imperialism. Colonial Expansion, Tropical Island Edens and the Origins of Environmentalism, 1600–1860, Cambridge 1995. 28 Siehe dazu Brett Bennett, Locality and Empire. Networks of Forestry in Australia, India, and South Africa, 1843–1948, unveröffentlichte Diss. phil., University of Texas at Austin 2010, [letzter Zugriff am 12.07.17].

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ßerdem wurde auf romantische Naturkonzepte zurückgegriffen, die Wälder und insbesondere Tropenwälder als sogenannte „Urwälder“ bezeichneten und religiös verklärten. Ferdinand von Mueller überhöhte die Tropenwälder zu göttlichen Erfahrungsräumen („the silent grandeur of a dense forest, before the destructive had of man defaced it conveys to our mind a feeling as if we were brought more closely before Divine Power“). 29 David Hutchins verglich die tropischen Wälder mit gotischen Kathedralen („Under the vault or roof of branches the eye can penetrate far and wide among the massive trunks, which have hence been compared to the pillars of some gothic cathedral.“) 30 Es wurde ihnen ein Ewigkeitscharakter zugeschrieben, der es verbot, dass sie von Menschen angetastet wurden. Darauf bezogen sich die Forstbeamten, wenn sie gegenüber Politik und Öffentlichkeit für einen staatlichen Schutz der Tropenwälder warben. Die Forstleute wurden einerseits von solchen europäischen Naturbildern beeinflusst, andererseits sammelten sie auf der lokalen Ebene persönliche Eindrücke über die Zerstörung von Wäldern, die Dezimierung von Tierarten und andere Formen der Umweltzerstörung. Der Transfer australischer Baumarten nach Südafrika und Südasien sollte der vor Ort beobachteten Entwaldung und Bodenerosion durch Wiederaufforstung mit schnellwachsenden, schattenspendenden Arten entgegenwirken. Im Kontext des Artentransfers entwickelte sich ein Diskurs über Umweltzerstörung zwischen den Naturwissenschaftlern in Australien, Afrika und Südasien, der eine transozeanische Eigendynamik entwickelte. Aus der eigenen, direkten Anschauung im jeweiligen Einsatzgebiet resultierten in diesem Zusammenhang auch frühe Forderungen zum Schutz der Natur durch staatliches Eingreifen, insbesondere durch den Auf- und Ausbau der kolonialen Forstverwaltungen. 31 Neben europäischen Naturkonzepten und der eigenen Anschauung ökologischer Zerstörung standen noch andere Einflüsse, die die Naturwahrnehmung der Botaniker und Forstbeamten in Australien, Südasien und Afrika prägten. So bezogen sie sich immer wieder auf die Texte George P. Marshs, einem amerikanischen Wissenschaftler und Politiker, der von seinem Biographen als Pionier des modernen Umweltschutzgedankens bezeichnet wird. 32 Den Wissenschaftlern in Australien war Marsh zunächst aufgrund seiner Publikationen über Kamele bekannt geworden. 33 Noch wichtiger war dann aber sein 1865 publiziertes Buch „Man and

29 Ferdinand von Mueller, Forest Culture in its Relation to Industrial Pursuits, in: Journal of Applied Science 27/1872, 234. 30 David Hutchins, Waipoua Kauri Forest, its Demarcation and Management, Wellington 1918; zitiert nach Gregory Barton, Empire Forestry, 121. 31 Ferdinand von Mueller über seinen Beitrag zur Einrichtung einer Forstgesetzgebung in South Australia und seine Forderungen zum Aufbau einer staatlichen Forstverwaltung in Victoria: Ferdinand von Mueller an Graham Berry, 7.8.1877, Mueller an Joseph Hooker, 16.8.1879, in: Home et al. (Hg.), Regardfully Yours, Bd. 3, 100–106, 155, 156. 32 David Lowenthal, Nature and Morality from George Perkins Marsh to the Millenium, in: Journal of Historical Geography 26, 1/2000, 3. 33 George P. Marsh, The Camel. His Organization, Habits and Uses. Considered with Reference to his Introduction into the United States, Boston 1856.

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Nature“, in dem er publikumswirksam vor den Folgen des menschlichen Raubbaus an der Natur und insbesondere vor der Abholzung der Wälder warnte: With the disappearance of the forest all is changed. At one season, the earth parts with its warmth by radiation to an open sky – receives, at another, an immoderate heat from the unobstructed rays of the sun. […] The earth […] becomes altogether barren. The washing of the soil from the mountains leaves bare ridges of sterile rock, and the rich organic mould which covered them, now swept down into the dank low grounds, promotes a luxuriance of aquatic vegetation that breeds fever, and more insidious forms of mortal disease, by its decay, and thus the earth is rendered no longer fit for the habitation of man. 34

Marshs mit viel Pathos vorgetragene apokalyptische Vision hatte beträchtlichen Einfluss auf die Wissenschaftler, die an den Artentransfers über den indischen Ozean beteiligt waren. Ferdinand von Mueller berief sich spätestens seit 1876 in seinen Korrespondenzen und Publikationen auf Marsh. Da Mueller selbst vor Ort die Folgen der Entwaldung beobachtete, persönliche Erfahrungen mit Regen- und Trockenzeiten sammelte und erlebte wie Ökosysteme im Zuge der Akklimatisierung ins Wanken geraten konnten, sprach ihn Marshs Text persönlich an, und er setzte ihn ein, um seinen eigenen Forderungen nach staatlichen Natur- und Forstschutzprogrammen vor einem anglophonen Publikum Nachdruck zu verleihen. 35 Auch Muellers Korrespondenten im Indian Forest Service waren von „Man and Nature“ begeistert, unter ihnen der leitende Beamte des Indian Forest Service Dietrich Brandis, der nicht nur mit Ferdinand von Mueller, sondern auch mit George P. Marsh im Briefkontakt stand. 36 Die im Zusammenhang mit dem Artentransfer zwischen Australien, Südasien und Afrika entstandenen Sensibilitäten für die Gefährdung ökologischer Systeme wurden auch nach Europa kolportiert. Bei der Beantwortung von Anfragen aus europäischen Wissenschaftseinrichtungen nach Tier- und Pflanzenpräparaten aus Australien wies Ferdinand von Mueller auf die Ausrottung von Tierarten und die Zerstörung der Umwelt durch den Siedlerimperialismus hin: Es ist aber nicht mehr so leicht wie früher, zoologische Gegenstände zu erwerben… Man gönnt den armen Thieren das wenige Gras, Kraut u Gebüsch nicht, was sie zur Nahrung bedürfen, denn die Weideländereien sind mit Heerden nun fast überall erschöpfend besetzt, und so werden die Känguruhs u auch Emus erbarmungslos vernichtet. In nicht gar langer Zeit wird manche australische Art grosserer Thiere durch Menschenhand aus der Schöpfung gestoßen sein! 37

Naturwissenschaftliche Interessen am Artentransfer überlagerten sich mit dem Diskurs über Umweltzerstörung in der Folge kolonialer Expansion. Ferdinand von Mueller kolportierte eine Naturwahrnehmung nach Europa zurück, die nicht nur 34 George Marsh, Man and Nature, zitiert nach Ravi Rajan, Modernizing Nature, 31. 35 Ferdinand von Mueller an William Branwhite Clarke, 25.12.1876, in: Home et al. (Hg.), Regardfully Yours, Bd. 3, 84. 36 Ramachandra Guha, Environmentalism. A Global History, New York 2000, 25–33; David Lowenthal, Nature and Morality, 4. 37 Ferdinand von Mueller an Ferdinand von Krauss, Naturkundemuseum Stuttgart, 11.6.1887, in: Home et al (Hg.), Regardfully Yours, Bd. 3, 471.

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durch europäische Denkmuster und den Glauben an einen christlichen Schöpfungsakt, sondern auch durch die direkte Beobachtung vor Ort sowie durch emotional aufrüttelnde Publikationen aus den USA geprägt war. Dieses spezifische Naturbild wurde zu einer Zeit nach Deutschland zurückvermittelt, zu der dort ein Interesse am Schutz der Tier- und Pflanzenwelt in den deutschen Kolonien noch kaum vorhanden war. 4. SCHLUSS Die Beziehungen und Austauschprozesse, die europäische Wissenschaftler, indigene Experten, Tiere und Pflanzen in Australien, Afrika und Südasien miteinander verbanden, waren enger als es bisher von Historikern zugestanden worden wäre. Es lassen sich Netzwerke und Transfers über den Indischen Ozean nachweisen, die im Verhältnis zu imperialen Zentrum-Peripherie-Modellen eher kreislaufartig verliefen und gewisse Eigendynamiken entwickelten. Diese circumozeanische Dynamik hing mit der wachsenden Eigenständigkeit der Wissenschaftler in den Kolonien zusammen, die interkolonial kooperierten, sich in ähnlichen Klimazonen wähnten und sich auf gleicher Augenhöhe miteinander austauschten. Man war an Arten interessiert, die in warmen Klimata gediehen, so dass der auf Europa bezogene Wissenskanon zunehmend an Bedeutung verlor, während gleichzeitig der Austausch zwischen den Kolonien über vor Ort gemachte Erfahrungswerte wichtiger wurde. Innerhalb dieser Netzwerke und Transferprozesse lassen sich immer wieder Hierarchieverschiebungen zwischen Menschen einerseits und Tieren und Pflanzen andererseits ausmachen. Transfers gerieten den Wissenschaftlern außer Kontrolle, wenn sich Pflanzen und Tiere gar nicht oder ungehemmt verbreiteten oder unerwartete wenn nicht gar unerwünschte Akteure mit sich brachten. Die von den Wissenschaftlern initiierten Transfers waren unvorhersehbaren Nebenwirkungen und Zufälligkeiten unterworfen. Hierarchien veränderten sich, wenn Menschen in unmittelbare Abhängigkeit von Tieren und Pflanzen gerieten, und die Wirkungsmacht tierlicher und pflanzlicher Akteure zum entscheidenden Faktor für menschliches Überleben wurde. In solchen Situationen hatten die Wissenschaftler nicht mehr das Gefühl, dass ihnen die Erde Untertan sei und sie koloniale Ökosysteme nach ihren eigenen Vorstellungen formen und gestalten könnten. Vielmehr fühlten sie sich pflanzlichen und tierlichen Akteuren hilflos ausgesetzt. Alte Gewissheiten von der Überlegenheit des Europäers gerieten ins Wanken. Es entstand eine neue Art von Umweltwissen und ein spezifisches Umweltbewusstsein, das dann nicht zuletzt nach Europa zurückkolportiert wurde.

HEILIGER KONFUZIUS, BITTE FÜR UNS! Kulturaustausch durch Mission und die Chinamode des 18. Jahrhunderts Wolfgang Reinhard Wo es um Europa und das Meer gehen soll, stößt man fast überall auf Kulturaustausch. Höchstens die maritimen Ressourcen und die Meeresforschung bleiben davon unberührt. Nicht nur Mythenbildung, sondern bereits Seefahrt und Krieg spielen sich häufig zwischen verschiedenen Kulturen ab. Entdeckungen und Güterverkehr, freiwillige oder unfreiwillige Wanderungen der Menschen und selbstverständlich interkulturelle Paare sind gar nicht anders möglich. Denn für die Wissenschaft des globalen Zeitalters ist Kultur in umfassendem Sinn zum Schlüsselbegriff geworden. In diesem Sinn besteht Kultur von unten gesehen in den ausdrücklichen oder stillschweigend befolgten Regeln, die unser Verhalten bestimmen, oder von oben betrachtet aus einem Geflecht von Symbolen, die unsere Welt ordnen. Anders als früher werden Kulturen aber nicht mehr als statische und gleichförmige Systeme mit klaren Grenzen betrachtet, die sich gegenseitig ausschließen, sondern als dynamisch und mit offenen Grenzen in ständigem Wandel begriffen. Dass dabei etwas Neues wie so genannte Hybride im dritten Raum zwischen zwei Kulturen entsteht ist ebenso normal wie ein transkulturelles Amalgam aus mehr als zwei Kulturen. Besonders eindrucksvoll sind hybride Religionen wie der kongolesische Kimbanguismus oder religiöse Amalgame wie Kao Dai in Vietnam und Umbanda in Brasilien. Wichtigste Triebkraft des Wandels ist die Attraktivität, die soft power, die für die Angehörigen einer Kultur von einer anderen ausgeht und nicht zuletzt im Gefolge überlegener politischer Macht, von hard power, entsteht. Umgekehrt pflegt stabile hard power einer indigenen Kultur kulturelle Übernahmen aus einer anderen zu erschweren. Auch individuelle wie kollektive Bekehrung zum Christentum fand statt, wenn die traditionelle Welterklärung einer Kultur nicht mehr ausreichte und sich stattdessen eine andere, überzeugendere abzeichnete. 1 Herrschaft, besonders Kolonialherrschaft und Hegemonie sind insofern wichtige Rahmenbedingungen von Kulturwandel. Lassen sich unter derartigen Bedingungen aber überhaupt noch kulturelle Zuschreibungen wie deutsch oder englisch, afrikanisch oder chinesisch, buddhistisch oder christlich vornehmen? Empirisch gesehen treten bestimmte kulturelle Phäno-

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Bernd Hausberger, Im Zeichen des Kreuzes. Mission, Macht und Kulturtransfer seit dem Mittelalter, Wien 2004, 17.

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mene in bestimmten Räumen oder zu bestimmten Zeiten, wo sie meistens auch entstanden sind, statistisch gehäuft auf und dünnen mit der Entfernung von diesen Zentren allmählich aus. Die Vorstellung kultureller Geschlossenheit entsteht nämlich vor allem dann, wenn wir Gegenstände der so genannten hohen Kultur wie Bauoder Kunstwerke, Literatur oder Musik betrachten, die im Zentrum ein für alle Mal festgeschrieben vorhanden sind. McDonalds hingegen tritt überall auf, aber in den USA regelmäßig, in Burkina Faso eher ausnahmsweise. Zusätzlich führt das Identitäts- und Authentizitätsbedürfnis einer Trägergruppe zur Betonung bestimmter kultureller Phänomene oder gar zur Erfindung von neuen, die als authentisch ausgegeben werden wie das 1966 erfundene afrikanisch-amerikanische Ersatzweihnachtsfest Kwanzaa. Kontakte zwischen Kulturen können verschiedene Formen annehmen: (1) Kulturberührung als begrenztes Zusammentreffen von Europäern mit Vertretern einer Überseekultur. Daraus kann sich Kulturkonflikt als (2) Verweigerung der gegenseitigen Wahrnehmung ergeben, oder als (3) Kulturzusammenstoß mit gewaltsamer Bedrohung oder Vernichtung der kulturellen Existenz des Schwächeren, aber auch eine (4) Kulturbeziehung mit dauerhaften wechselseitigen Kontakten oder sogar eine (5) Kulturverflechtung mit langanhaltendem Transfer von Kulturelementen, die allerdings je nach Machtverhältnissen als gleichgewichtige Transkulturation oder als einseitige Akkulturation ausfallen können. 2 Man darf aber nicht übersehen, dass dabei eine Auswahl getroffen wird, denn der Preis für eine Übernahme kann auch ein Verlust sein. Außerdem gibt es mehr und weniger kontaktfreudige Kulturen und die Kontaktfreudigkeit kann sich auch nach historischen Phasen mit unterschiedlichen Konstellationen unterscheiden. 3 Denn die Kontaktsituation ist dabei von großer Bedeutung. Die maritime Geschichte Europas lief ja die längste Zeit auf Anwesenheit größerer oder kleinerer Gruppen von Europäern in überseeischen Kulturräumen hinaus, während Angehörige jener Kulturen in Europa eher Seltenheitswert hatten. Erst die Wanderungen nach dem Zweiten Weltkrieg haben das massiv geändert. Europäische Siedler allerdings haben von Anfang an andere Völker und ihre Kulturen entweder bedrängt wie in Lateinamerika, Südafrika, Algerien und Kenia, wo sie in der Minderheit blieben, oder aber verdrängt oder sogar vernichtet wie in den USA und Australien, wo sie die überwältigende Mehrheit darstellten. In Süd- und Ostasien sowie im größten Teil Afrikas waren demgegenüber kleinere europäische Kontaktgruppen die Regel. Dabei waren die Kulturbeziehungen von Kaufleuten eher unverbindlich und höchstens indirekt wirksam, auch wenn sie rein individuell bei längerer Anwesenheit höchst intensiv ausfallen konnten, zum Beispiel in der niederländischen Handelsmetropole Batavia (heute Djakarta) auf Java. Die Eroberer und Verwalter so genannter Herrschaftskolonien ohne europäische Siedler in Asien und Afrika waren hingegen aus eigenem Interesse durchaus an Kulturaustausch interessiert, freilich

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Erweitert nach: Urs Bitterli, Alte Welt – Neue Welt: Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontakts vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, München 1986. Peter Burke, Kultureller Austausch, Frankfurt 2000, 26, 38.

Heiliger Konfuzius, bitte für uns!

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hauptsächlich an einseitigem. Dasselbe gilt aus anderen Gründen und mit anderen Zielen auch für die weltweit anzutreffenden christlichen Missionare. Von den vielen möglichen Kontaktmedien bis hin zur Sexualität ist die Sprache das bei weitem wichtigste, ja unentbehrliche. Da die Europäer infolge ihrer kulturellen Bindung an die griechische und lateinische Antike gute Philologen geworden waren, konnten sie sich die Sprachen und damit etwas vom Wesen anderer Kulturen besser als andere aneignen, wobei sich Missionare wie die Jesuiten besonders hervortaten. 4 Europäische Sprachen wurden vor allem in Siedlungs- und Herrschaftskolonien übernommen. Allerdings entstanden dort und in Gebieten mit bloßen Handelskontakten auch vereinfachte Mischsprachen für den Alltagskontakt, so genannte Pidgins. Wenn sie nicht nur als zusätzliche Verständigungsmöglichkeit dienten, sondern zur Muttersprache wurden, nennt man sie Kreolsprachen. Die einfachste Form sprachlichen Kulturaustauschs besteht freilich in der Übernahme von Lehn- und Fremdwörtern, z. B. von Wörtern indianischer Herkunft ins brasilianische Portugiesisch oder von indischen Wörtern ins britische Englisch. Kulturelles Authentizitätsbedürfnis führt nach der Dekolonisation umgekehrt zu deren Ersetzung durch einheimische Begriffe, notfalls neu geschaffene. So hat man im Hindi englische Fremdwörter gegen Anleihen beim altindischen Sanskrit ausgetauscht. Gerne wurden auch Länder- und Ortsnamen ausgetauscht, aus Gold Coast wurde Ghana, aus Leopoldville wurde Kinshasa. Bei den kulturellen Inhalten stand bis ins 18. Jahrhundert unbestritten die Religion im Mittelpunkt. Danach übernahmen allmählich säkulare Ideologien wie Nationalismus, Sozialismus und Glaube an den Fortschritt der wissenschaftlich fundierten Zivilisation deren Schlüsselrolle. Religion als die Art und Weise, wie eine Kultur mit dem Unbedingten umgeht, war ursprünglich sogar der Inbegriff von Kultur. Sie verband grundlegende Orientierung in der Welt durch ihr Symbolsystem und ihre Rituale mit der Hervorbringung stabiler Erscheinungsformen von Kultur wie Bauten, Texte und andere Kunstwerke sowie nicht zuletzt mit Regeln für das Alltagsleben ihrer Anhänger. Demgemäß weist sie auch die längste Lebensdauer aller kulturellen Inhalte auf. 5 Im Gegensatz zur Gegenwart war religiöser Kulturaustausch für Europa bis ins 20. Jahrhundert eine ziemlich einseitige Angelegenheit. Es handelte sich um die christliche Überseemission, die vor allem in Amerika und Afrika hunderte von Millionen Christen verschiedener Konfessionen hinterlassen hat. Nur ausnahmsweise kam es dabei zu Rückwirkungen auf Europa, die dafür aber historisch umso lehrreicher sind. Insofern war das Christentum seit seinen Anfängen ein Vorläufer der

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Reinhard Wendt, Mission in vielen Zungen. Der Beitrag der Jesuiten zur Erfassung und Klassifizierung der Sprachen der Welt, in: Johannes Meier (Hg.), „…usque ad ultimum terrae“. Die Jesuiten und die transkontinentale Ausbreitung des Christentums 1540-1773, Göttingen 2000, 53-67. Stamatios Gerogiorgakis/Roland Scheel/Dittmar Schorkowitz (Hgg.), Kulturtransfer vergleichend betrachtet, in: Michael Borgolte u. a. (Hgg.), Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter, Berlin 2011, 385-466, hier 411.

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Globalisierung. Was seine Anwesenheit in verschiedenen Kulturen angeht, lässt es sich höchstens mit dem Buddhismus und dem Islam vergleichen. Allerdings hat es dabei aber wie jene Religionen gewisse Abwandlungen erlebt. Denn jedes transferierte Kulturgut erscheint in der Zielkultur nie exakt in derselben Gestalt wie in der Ausgangskultur, sondern wird dort herausgelöst (dekontextualisiert) und hier eingefügt (rekontextualisiert). 6 Der Missionsbefehl der Evangelien, nach Matthäus 28,18–20 macht alle Menschen zu meinen Jüngern, nach Markus 16,15–16 verkündigt das Evangelium allen Geschöpfen, ist an der zuletzt genannten Stelle mit der Drohung verbunden Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verdammt. Das Konzil von Florenz hatte 1441 noch einmal erklärt, dass alle Nicht-Katholiken automatisch in die Hölle wandern. Es galt daher, unzählige Menschen durch die Taufe vor dem ewigen Feuer zu retten. Denn der Heidenapostel Paulus hatte in Galater 3,28 verkündet, dass vor Christus alle Menschen gleich sind, ob Juden oder Heiden, Freie oder Sklaven, Männer oder Frauen. Und Papst Paul III. erklärte 1537 ausdrücklich, dass die Bewohner Amerikas zur Annahme des Glaubens fähige Menschen seien und keine Halbtiere, wie es manche Eroberer haben wollten. Aus theologischen, vor allem aber aus praktischen Gründen war die erste Welle der europäischen Mission in der Neuzeit bis ins 18. Jahrhundert nämlich fast ausschließlich eine katholische Angelegenheit. Infolge ihres Glaubens an die Vorherbestimmung des Menschen zu Himmel oder Hölle neigten Evangelische dazu, Götzendiener als bereits verworfen aufzugeben. Außerdem war eine Bekehrung zum reformierten Bekenntnis sehr viel anspruchsvoller als eine zur alten Kirche. Vor allem aber fühlten sich die katholischen Monarchen Spaniens, Portugals und Frankreichs im Gegensatz zu vielen evangelischen für die Förderung und Finanzierung der Mission verantwortlich. Sie beanspruchten allerdings auch ihre Kontrolle, denn sie diente ihnen in Amerika zur Absicherung ihrer Herrschaft, in Ostasien zumindest ihres Einflusses. Und mit den Orden der Franziskaner, Dominikaner, Jesuiten und anderen verfügte die katholische Kirche über mächtige Organisationen, die zum Teil Mission sowieso als ihre traditionelle Aufgabe betrachteten. Das dezentrale evangelische Gemeindechristentum konnte damit nicht konkurrieren. Das Missionsmonopol der katholischen Mächte hatte zur Folge, dass alle Missionare außer den Franzosen, auch die deutschen, sich in Lissabon nach Asien und Brasilien, in Sevilla und später Cádiz nach Spanisch-Amerika einschiffen mussten. Dabei kamen sie mit dem Meer in Berührung, zwar nur vorübergehend, dafür aber umso intensiver. Viele überlebten diese Reise nicht. Beichtvätern wurde sogar empfohlen, aufbrechende Seefahrer wie Sterbende zu behandeln. Denn die Reise nach Amerika dauerte im Durchschnitt 80 Tage, nach Indien viereinhalb bis siebeneinhalb Monate, konnte sich aber anderthalb Jahre hinziehen. Und das zusammengepfercht unter bedenklichen hygienischen Bedingungen und bei schlechter Verpflegung. Zu Mangelkrankheiten, Infektionen und Seuchen kamen die Gefahren des

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Meeres und die Bedrohung durch Feinde. Es brauchte großen Seeleneifer, um diese riskante Strapaze auf sich zu nehmen. Nach der Bekehrung Lateinamerikas und der Philippinen sowie Achtungserfolgen in Süd- und Ostasien geriet die katholische Mission infolge der erzwungenen Aufhebung des Jesuitenordens und des Zusammenbruchs des Ancien Régime in eine schwere Krise. 1820 soll es weltweit nur noch 270 katholische Missionare gegeben haben. Gleichzeitig begann die große Zeit der evangelischen Missionen. Theologisch und sozial wurden sie vor allem von den verschiedenen Erweckungsbewegungen getragen. Das praktische Organisationsdefizit wurde durch die Gründung halbprivater Missionsgesellschaften überwunden. Die Society for the Propagation of the Gospel wurde schon 1701 gegründet, die London Missionary Society folgte 1795, die Church Missionary Society 1799. Trotz britischer Führung waren viele Gesellschaften international und vereinten Angehörige verschiedener evangelischer Bekenntnisse wie zum Beispiel die Missionsgesellschaft des reformierten Basel, die von lutherischen Pietisten aus Württemberg betrieben wird. Im Jahr 1800 gab es fünf Missionsgesellschaften, hundert Jahre später 563. Insgesamt waren um 1900 weltweit über 18.000 evangelische Missionare mit 4.000 einheimischen Helfern tätig, die 4,5 Millionen Gläubige betreuten. 7 Jetzt war Afrika das wichtigste Missionsfeld, aber im Gefolge der imperialistischen Kolonialexpansion kamen auch Missionen in Asien, Australien und dem Pazifik hinzu. Inzwischen hatte auch die katholische Mission wieder aufgeholt, nach Wegfallen der politischen Patrone jetzt unter der Kontrolle des Papsttums, das zu diesem Zweck schon 1622 die so genannte Propagandakongregation gegründet hatte. Betrieben und finanziert wurde die Mission neben den alten von zahlreichen neuen Missionsorden und von etlichen Hundert Missionsvereinen. 8 Um 1900 unterhielten Katholiken und Protestanten in Afrika jeweils ca. 500 Missionsstationen. Neu gegenüber der ersten Welle war bei beiden Konfessionen die Beteiligung von Frauen, von Nonnen hier, Missionarinnen und Missionarsfrauen dort. Es fehlte zwar auch jetzt nicht an kolonialkritischen Missionaren, aber insgesamt fand die Mission der zweiten Welle in Symbiose mit dem westlichen Imperialismus statt. Das tonangebende britische Empire wurde wegen der Strenge seiner Missionare beim Erzwingen der Sonntagsheiligung sogar geradezu als Sabbath Empire bezeichnet. Weil Christentum, Handel und westliche Zivilisation für die Missionare ganz selbstverständlich zusammengehörten, verbreiteten sie mit dem Glauben viele Inhalte der europäischen Kultur: Kleidung und Sprache, Zeitrechnung und Zeitdisziplin, Schrift und Bildung, die Einehe mit einer neuen Rolle der Frau und eine Aufwertung des autonomen Individuums. Auch wenn die Missionierten dieses Angebot attraktiv fanden, ist ihre Bekehrung dennoch nicht auf ein opportunistisches Kalkül zu reduzieren. Zwar betrachten wir heute Bekehrungen als interaktiven Prozess unter Mitwirkung der Bekehrten, aber gerade deswegen wissen wir

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Gerold Faschingeder in Hausberger (Anm. 1), 157, 170. Ebd. 158, 163.

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auch, dass der neue Glaube und die neue Kultur für sie als neuer Lebenssinn untrennbar zusammengehören. Das braucht aber die Unterwanderung des neuen Glaubens durch religiöse Hybride nicht auszuschließen, die sogar an die Botschaft der Missionare anknüpfen konnten. So wurde der Apostel Thomas aufgrund von Legenden mit dem mexikanischen Quetzalcoatl identifiziert und damit wie dieser zum Morgenstern. In Brasilien ist die afroamerikanische Meeresgöttin Jemanja manchmal nicht mehr von der Jungfrau Maria, dem Stern des Meeres, zu unterscheiden. Und Simon Kimbangu, der Urheber einer ursprünglich protestantischen afrikanischen Kirche, wurde durch afrikanische Interpretation von Johannes 14,16–26 posthum zur Inkarnation des Heiligen Geistes. Die Bedrohung durch heterodoxe Hybride führte bei Missionaren und ihren Kirchen immer wieder zu Vorbehalten gegen die so genannte Akkommodationsmethode, die Bekehrungen durch Anpassung an die einheimische Kultur erleichtern wollte. Nicht zuletzt an europäischer Gegnerschaft dieser Art ist die Chinamission der Jesuiten im 17. und 18. Jahrhundert gescheitert. Die überaus kompetente publizistische Selbstverteidigung der Jesuiten hatte aber in Europa ein lebhaftes Interesse an China ausgelöst. Das war der einzige Fall, in dem Mission nicht auf einseitigen Transfer von Kultur hinauslief, sondern zu einem echten Austausch führte, der deswegen besondere Beachtung verdient. In Zusammenspiel mit der portugiesischen Expansion, aber außerhalb des portugiesischen Machtbereichs missionierten die Jesuiten in Japan, China, Indien und Vietnam. Sie folgten dabei einer vom Visitator Alessandro Valignano (1539–1606) in den 1580er Jahren entwickelten Strategie, mit der zunächst die jeweiligen kulturellen und politischen Eliten gewonnen werden sollte, und zwar mittels möglichst weitgehender Anpassung (Akkommodation) an deren Kultur. In Japan waren das die buddhistischen Mönche und der Samurai-Adel, in China die konfuzianischen Gelehrten, die auch die Machtelite stellten, in Südindien Angehörige der obersten Kaste der Brahmanen. In Japan und Indien musste es dabei beim Eingehen auf Kleidung und Lebensweise bleiben, weil die einheimische Götterwelt und die religiöse Sprache sich als unvereinbar mit dem Christentum erwiesen. In China hingegen konnten die Jesuiten nach den Vorstellungen von Matteo Ricci (1552–1610), chinesisch Li Madou, sich zwar ebenfalls nicht auf den Buddhismus oder den Daoismus einlassen, wohl aber auf die herrschende Weltanschauung des Konfuzianismus. Denn in den klassischen, dem Konfuzius zugeschriebenen Texten meinte Ricci einen philosophischen Ur-Monotheismus zu entdecken, an den sich anknüpfen ließe. Könnte Konfuzius vielleicht für das Christentum in China eine ähnliche Rolle übernehmen wie sie Aristoteles seit dem Mittelalter im abendländischen Christentum spielte? Demgemäß stilisierten sich die Jesuiten in Kleidung und Verhalten nach dem Muster der konfuzianischen Literaten als Gelehrte aus dem Westen, lernten Chinesisch und verbreiteten in Wort und Schrift ihre Botschaft, wobei sie zunächst an konfuzianische Vernunft- und Moralvorstellungen anknüpften. Der christliche Gott wurde als Shangdi (Kaiser des Universums), Tian (Himmel) oder Tianzhu (Himmelsherr) bezeichnet, wobei die ersten beiden Be-

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griffe aus den Klassikern stammten, der dritte analog gebildet wurde. Die pflichtgemäße Verehrung der Ahnen und des Konfuzius konnte mit Hilfe einer Erklärung des Kaisers Kangxi (1662–1722) zu rein weltlichen Bürgerritualen umdefiniert werden. Papst Paul V. erlaubte 1615 die Liturgie in chinesischer Sprache, die Übersetzung der Bibel ins Chinesische und die Weihe chinesischer Priester ohne Lateinkenntnisse – für den damaligen Katholizismus unglaubliche und höchst zukunftsweisende Zugeständnisse. Allerdings wurde kein Gebrauch davon gemacht, weil das kühne Projekt schon früh heftig bekämpft wurde und im 18. Jahrhundert endgültig scheiterte. In China war die Ausgangslage im 17. Jahrhundert ursprünglich ebenso günstig wie in Japan im 16. Jahrhundert. In beiden Fällen führte die Desintegration des politischen Systems, das Verschwinden der einheimischen hard power, zu weltanschaulichen Krisen und der Suche nach Alternativen. Die neue politische Stabilisierung in Japan im frühen, in China im späten 17. Jahrhundert hingegen musste die Lage der Missionare dann erwartungsgemäß erschweren. In Japan wurden sie als verdächtige Ausländer ausgerottet, in China immer wieder verfolgt. Nichtsdestoweniger gelang es ihnen, prominente konfuzianische Literaten wie Paul Xu Guanqi (1562–1633) zu gewinnen, die ihnen bei der Arbeit mit chinesischen Texten zur Hand gehen, sie protegieren und bei Verfolgungen bisweilen auch schützen konnten. Jesuiten bekamen damals in Rom eine hervorragende naturwissenschaftliche, nicht zuletzt astronomische Ausbildung. Die überfällige Reform des abendländischen Kalenders 1582 ist bekanntlich ihnen und nicht etwa Galilei zu verdanken. Während der Wirren des Niedergangs der Ming-Dynastie, die 1644 von der Mandschu-Dynastie Qing abgelöst wurde, erhielten sie 1629 in China dieselbe Aufgabe, die sie trotz Anfeindungen mit Bravour lösen konnten. Daraufhin wurde Johann Adam Schall von Bell (1592–1666) 1644–1665 Leiter des mathematisch-astronomischen Staatsamtes. Von 1669 bis 1774 bekleidete stets ein Jesuit diese Stellung. Streng genommen war das ebenfalls ein Zugeständnis an die chinesische Kultur, denn der Glaube an günstige Tage, der im Westen allmählich als Aberglaube betrachtet wurde, regelte dort nach wie vor die politischen Entscheidungen und das Leben der einzelnen Menschen bis ins Detail. Deswegen war der Kalender ein bedeutsames Politikum. Schall von Bell bekleidete den höchsten chinesischen Beamtenrang und war ein väterlicher Freund des ersten Qing-Kaisers. Sein Nachfolger Ferdinand Verbiest (1623–1688) wurde hingegen ganz wörtlich zum Factotum des Kaisers Kangxi, denn er machte oder besorgte alles, was gewünscht wurde. Zum Beispiel goss er 500 Kanonen westlicher Art, die den damaligen chinesischen überlegen waren. Die Hofjesuiten in Beijing, deren Reihe 1688 und 1698 auf Betreiben König Ludwigs XIV. durch besonders hoch qualifizierte Franzosen verstärkt wurde, dienten nämlich als Vermittler für alle möglichen Errungenschaften des Westens, die in China unbekannt oder vergessen waren, aber am Kaiserhof besonders geschätzt wurden. Deswegen konnten sie sich auf Dauer behaupten und indirekt die Mission ihrer Mitbrüder im Lande halbwegs absichern. Sie unterrichteten Geographie, Astronomie, Mathematik, Chemie, Pharmazie, Medizin und anderes mehr, bauten Uhren und

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alle Arten von Maschinen, darunter Feuerspritzen und sogar ein dampfgetriebenes Automobil, errichteten die erste Glashütte Chinas und führten mehrmals eine Landesvermessung mit dem europäischen Triangulationsverfahren durch. Über alle diese Dinge veröffentlichten sie zusätzlich chinesische Schriften. Unter Kaiser Qianlong (1736–1796) scheint es zumindest am Hof eine regelrechte Europamode gegeben zu haben. Nicht nur dass Hofdamen sich französisch kleideten, der Kaiser Jesuitenmaler wie Giuseppe Castiglione (1688–1766) oder Jean-Denis Attiret (1702–1768) beschäftigte und eine Serie westlicher Kupferstiche zur Verherrlichung seiner Feldzüge anfertigen ließ. Er ließ sich von Jesuitenarchitekten 1747–1751 sogar einen Palast im westlichen Barockstil erbauen (Xiyang Lou), der allerdings von europäischen Truppen 1860 niedergebrannt und 1900 endgültig zerstört wurde. Da seine Wände im Gegensatz zur chinesischen Holzbauweise aus Stein bestanden, kann man aber noch Reste davon besichtigen. Unterdessen tobte bereits der so genannte chinesiche Ritenstreit. Die Voraussetzungen von Riccis Entwurf wurden nämlich schon früh ordensintern, dann von konkurrierenden Missionsorden und anderen kirchlichen Instanzen, schließlich auch von Jansenisten und Protestanten in Frage gestellt und den Jesuiten verwerfliche Nachgiebigkeit gegenüber götzendienerischen Bräuchen vorgeworfen. Tatsächlich ist der angebliche Monotheismus des Konfuzius alles andere als eindeutig und der Ahnen- und Konfuziuskult hatte zumindest im Verständnis des Volkes durchaus religiösen Charakter. Außerdem war der Neu-Konfuzianismus Zhu Xis (1130–1200), nach dem sich die konfuzianische Elite richten musste, buddhistisch beeinflusst und monistisch, das heißt nach westlichen Begriffen atheistisch. Die römischen Behörden, die seit 1645 mit dem Problem befasst wurden, und die Päpste machten sich die Entscheidung nicht leicht, gelangten aber 1704, endgültig 1742 zu einer Verwerfung. Mit der Aufhebung des Jesuitenordens 1773 war dann alles zu Ende. Freilich ist das transkulturelle Experiment nicht nur an abendländischer Borniertheit gescheitert. Auch die Chinesen waren bei allem Interesse für westliche Errungenschaften ebenfalls von der eigenen Überlegenheit überzeugt. Die Jesuiten hatten die grundsätzliche Unvereinbarkeit der kulturellen Wertvorstellungen unterschätzt. Da die von den Missionaren bekämpfte Polygamie eng mit den chinesischen Pietätsvorstellungen verknüpft war, ließ sich unterstellen, die Missionare beabsichtigten, die fünf Pietätsbeziehungen Fürst-Untertan, Vater-Sohn, älterer Bruder-jüngerer Bruder, Mann-Frau, Freund-Freund und damit die Grundlagen der Gesellschaft zu untergraben. Wie den Japanern erschien den Chinesen die Vorstellung eines persönlichen Gottes, die Möglichkeit des Bösen als Bedingung menschlicher Freiheit sowie die Erlösung durch Menschwerdung und Opfertod Gottes absurd und primitiv. Durch die hier zugrundeliegende Trennung von Gott, Welt und Mensch würde außerdem die Einheit des Universums zerstört. Chinesischem Denken war ja die abendländische Unterscheidung von Geist und Materie ebenso fremd wie diejenige zwischen Transzendenz und Immanenz, ja bis zu einem gewissen Grad sogar der Gegensatz zwischen Qualität und Quantität. Angesichts solcher fundamentaler

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Widersprüche war jede Anpassungsstrategie von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Nur soziopolitische Desintegration erlaubte vorübergehend einer fremden Kultur und Religion das Eindringen. Allerdings gaben die Jesuiten nicht kampflos auf. Ihr Propagandaapparat überschwemmte Europa mit Information, die China und ihre eigene Tätigkeit durchaus zutreffend, aber deutlich positiv getönt darstellte. Bereits anlässlich einer ersten Werbereise erschienen die Aufzeichnungen Riccis über China und die Mission (De Christiana Expeditione apud Sinas suscepta, Augsburg 1615), ein Bestseller, der zahlreiche Auflagen erlebte und in fünf Sprachen übersetzt wurde. Eine Schlüsselrolle spielten Übersetzungen des Konfuzius und anderer klassischer Texte. Confucius Sinarum Philosophus, Paris 1687, verstärkte den abendländischen Konfuziuskult, der schon 1642 in der exaltierten Anrufung Heiliger Konfuzius, bitte für uns! zum Ausdruck gekommen war. Verschiedene Darstellungen der chinesischen Geschichte, China-Atlanten und landeskundliche Handbücher wurden veröffentlicht, die zum Teil noch der Chinaforschung des 19. Jahrhunderts von Nutzen waren. Die vierbändige, ebenfalls mehrfach übersetzte Description de la Chine, Paris 1735 war wohl am wichtigsten. Ihr Herausgeber war auch Redakteur der Lettres édifiantes et curieuses écrites des missions étangères gewesen, mit denen man sich 1702–1776 in der Tradition der jesuitischen Litterae annuae über die Missionen, das hieß nicht zuletzt über China, informieren konnte. Das Ergebnis war die europaweite Chinabegeisterung des 18. Jahrhunderts. China war in einem Umfang bekannt und populär, wie es für Japan und Indien erst im 19. Jahrhundert erreicht wurde, wenn überhaupt. Längst bekannte Produkte Chinas wie Seide, Porzellan und Tee wurden beliebter als je zuvor. Weitere chinesische Errungenschaften wie der Sonnenschirm und die Sänfte, das Toilettenpapier und die Papiertapete setzten sich durch. Noch heute finden sich in Europas Schlössern Räume mit solchen Tapeten oder wenigstens nach deren Vorbild gestalteten Wänden, oft zugleich Sammlungen von Porzellan und anderen chinoiseries. Vom unregelmäßigen chinesischen Garten gingen Anregungen für die Ablösung des geometrischen Barockgartens französischen Stils durch den naturnäheren englischen aus. Ein chinesisches Teehaus oder eine chinesische Pagode finden sich in vielen Parks des Jahrhunderts, manchmal sogar ganze chinesische Dörfer. Der englische Garten ist aber nur eine oberflächliche Nachahmung des chinesischen. Galt es dort, durch perfekte Verbindung männlicher Elemente wie Berge und Felsen mit dem weiblichen Element Wasser die Harmonie von Yang und Yin zu repräsentieren, ging es hier wie bei allen Chinoiseries des Rokoko darum, eine perfekte anti-klassische Konzeption von Kunst zu verwirklichen, ein Kunstwerk, das der Symmetrie und Perspektive entbehrt, das verspielt, bizarr, sogar phantastisch ist und dennoch vollkommene Harmonie verkörpert. Dieser anti-klassischen Tendenz kamen die chinesischen Anregungen wie gerufen. Das gebildete Europa verwendete das neue Wissen über China für Zwecke, von denen die geistlichen Vermittler nichts ahnen konnten. Die Jesuiten hatten die Chinesen nicht ganz zutreffend als Volk von Rationalisten, Spiritualisten und Deisten präsentiert. Die Libertins des 17. und die Aufklärer des 18. Jahrhunderts zogen daraus Schlüsse, die bis zu den Vorstellungen von der Ewigkeit der Welt, von einem

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Ur-Atheismus und der Unabhängigkeit der Moral von der Religion reichten. Wenn die chinesischen Geschichtswerke weiter zurückreichen als die biblische Chronologie, wenn die Sintflut dort nicht vorkommt – war dann nicht die Bibel falsifiziert? Französische Jesuiten, die so genannten Figuristen, entdeckten stattdessen durch allegorische Interpretation in den chinesischen Klassikern eine vorchristliche Uroffenbarung, die aber die christliche Lehre bereits einschloss. Der führende Aufklärer Christian Wolff pries 1721 Konfuzius als den Inbegriff natürlicher Sittlichkeit. Voltaires Chinabild im Essai sur les moeurs von 1756, dem Höhepunkt der europäischen Chinabegeisterung, pries Chinas Gottesverehrung ohne Aberglauben und Pfaffenherrschaft sowie sein humanes Staatswesen, beide getragen von aufgeklärten Literaten – ein Land, wie er sich Frankreich wünschte. Der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz hatte schon 1697 einen gleichberechtigten geistigen Austausch zwischen China und Europa proklamiert und damit den üblichen Ethnozentrismus theoretisch überwunden. Das hinderte ihn aber nicht daran, bei Zhu Xi seine eigene Philosophie wiederzufinden und die Hexagramme des Orakelbuches Yi Jing mit seiner eigenen binären Arithmetik zu identifizieren, weil diese Symbole nur aus verschiedenen Kombinationen von durchgezogenen und unterbrochenen Linien bestehen, die er als 1 oder 0 deutete – Leibniz setzte sich selbst als Maßstab. Politische Denker bewunderten das System der chinesischen Beamtenprüfungen mit seiner angeblichen Offenheit für Leistungsaufstieg und die physiokratischen Theoretiker des Ackerbaus und des aufgeklärten Absolutismus sahen dort ihr Ideal verwirklicht. 1769 fühlten sich daher sowohl der Dauphin als auch der österreichische Mitregent Joseph II. veranlasst, die chinesische Zeremonie des kengji, das zeremonielle Ziehen der ersten Furche durch den Kaiser, nachzuahmen. Möglicherweise hat das daoistische Prinzip des Nicht-Handelns (wuwei) sogar als Vorbild für das wirtschaftsliberale laissez-faire gedient. Europa bewunderte dennoch weniger China als sich selbst und seine eigenen Ideale. Weder die Aufklärung noch das Rokoko lässt sich auf chinesische Impulse zurückführen, sondern die Europäer haben entsprechende Anregungen rezipiert, weil sie wichtigen Tendenzen ihrer eigenen Entwicklung entsprachen. Daher war es leicht möglich, von der Chinabegeisterung zur Verachtung überzugehen, als dieser Bedarf gesättigt war! Als Vermittler wie als Missionare waren die China-Jesuiten Ende des 18. Jahrhunderts gescheitert. Die Mission hat ihre Erfolge anderswo erzielt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts bestand ein Drittel der Menschheit aus Christen; die Muslime kamen auf ein Sechstel. Aber die Zeit der christlichen Mission und des von ihr geprägten Kulturaustauschs ist inzwischen vorüber. Einerseits kann ihre soft power heute nicht mehr im Gefolge westlicher hard power daherkommen, andererseits glauben nur noch Fundamentalisten an die automatische Bestimmung aller Nichtchristen zur Hölle. Auch die katholische Kirche ist davon abgerückt. Stattdessen missionieren heute asiatische und andere Religionen im Westen, während Weltanschauungen und Kulturen nach neuen Wegen suchen, um miteinander umzugehen.

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LITERATURAUSWAHL Roger A. Blondeau, Mandarijn en astronoom. Ferdinand Verbiest S. J., Brügge 1970. Peter Burke, Kultureller Austausch, Frankfurt 2000. Stamatios Gerogiorgakis/Roland Scheel/Dittmar Schorkowitz (Hgg.), Kulturtransfer vergleichend betrachtet, in: Michael Borgolte u. a. (Hgg.), Integration und Desintegration von Kulturen im europäischen Mittelalter, Berlin 2011, 385–466. Bernd Hausberger (Hg.), Im Zeichen des Kreuzes. Mission, Macht und Kulturtransfer seit dem Mittelalter, Wien 2004. Ronnie Po-chia Hsia, A Jesuit in the Forbidden City: Matteo Ricci 1552–1610, Oxford 2010. Wolfgang Reinhard, Gelenkter Kulturwandel im 17. Jahrhundert. Akkulturation in den Jesuitenmissionen als universalhistorisches Problem, in: Historische Zeitschrift 223/1976, 529–590, und in: Wolfgang Reinhard, Ausgewählte Abhandlungen, Berlin 1997, 347–399. Wolfgang Reinhard, Globalisierung des Christentums? Heidelberg 2007. Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, München 2016. Nicolas Standaert (Hg.), Handbook of Christianity in China, Bd. 1, Leiden 2001. Alfons Väth, Johann Adam Schall von Bell S. J., 2. Aufl., Nettetal 1991. Reinhard Wendt, Mission in vielen Zungen. Der Beitrag der Jesuiten zu Erfassung und Klassifizierung der Sprachen der Welt, in: Johannes Meier (Hg.), „…usque ad ultimum terrae“. Die Jesuiten und die transkontinentale Ausbreitung des Christentums 1540–1773, Göttingen 2000, 53–67.

DAS JESUITISCHE ‚TROJANISCHE PFERD‘ Sektorale Kooperation und Wettbewerb im transandinen Vizekönigreich Peru Javier Francisco Vallejo Bis heute beschäftigt der europäische Überseeimperialismus, der im 15. Jahrhundert mit dem Aufbruch der iberischen Staaten seinen Lauf nahm, Historiker und Laien gleichermaßen. Dieses Interesse rührt zum einen daher, dass das imperiale Erbe noch Jahrhunderte nach der europäischen Herrschaft sichtbar ist: europäische Sprachen wurden zu Weltsprachen, das Christentum zur Weltreligion und europäische Institutionen, politische Strukturen und wirtschaftliche Denk- und Arbeitsweisen zu Leitmodellen. Zum anderen stellte sich vor allem im Hinblick auf die erste Welle des europäischen Imperialismus (1415–1824) 1 die Frage, wie kleine, sich erst noch konstituierende Staaten, Überseeterritorien kontrollieren konnten, die tausende von Kilometern von der Metropole 2 entfernt lagen. Die Imperien wurden durch maritime Vernetzungen zusammengehalten, die sowohl durch die Kronen als auch durch private profitorientierte Unternehmen sowie religiöse Gruppen aufgebaut und gepflegt wurden. Im Zusammenspiel dieser drei Sektoren, die durch den hohen Grad an Autonomie und der gesellschaftlichen Anerkennung, die sie genossen, selbstständig in Übersee agieren konnten, liegt ein Schlüssel zum Verständnis des imperialen Erfolgs. 3 In jedem Sektor hatten Akteure ihre eigenen Gründe, um Überseeaktivitäten durchzuführen, wodurch ein großer Teil der Gesellschaft angesprochen wurde – so konnte der eine nach einer politischen Karriere streben, ein anderer erhoffte sich großzügige Gewinnmargen durch die Plantagenwirtschaft und der andere wiederum hatte den Wunsch, den „wahren“ Glauben zu verbreiten. Außerdem konnten die gesellschaftlichen Sektoren durch ihre spezifischen Vorgehensweisen Ressourcen unterschiedlich mobilisieren, sodass es insgesamt zur Stär-

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Als flankierende Ereignisse dienen Portugals Einnahme Ceutas und die Schlacht von Ayacucho in Peru. Selbstverständlich sind andere Daten vorstellbar und eine Frage der interpretativen Akzentuierung. Der Begriff der „Metropole“ bezieht sich auf die Geschichtsforschung europäischer Imperien und entstammt der englischsprachigen Literatur. Er entspricht der im Deutschen früher gebräuchlichen Bezeichnung des „Mutterlandes“ und soll im Folgenden explizit keine ZentrumPeripherie Beziehung zum Ausdruck bringen. Eine ausführliche Darstellung zum Konzept der sectoral alliances liefert Abernethy, David B., The Dynamics of Global Dominance. European Overseas Empires, 1415–1980, New Haven 2000.

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kung der europäischen Herrschaft in Übersee kam. Die Akteure und sozialen Gruppen der unterschiedlichen Sektoren bewegten sich dabei in einem Spannungsfeld zwischen enger Kooperation und erbittertem Wettbewerb. Sie verfolgten ihre eigenen Ziele, indem sie Einfluss auf alle sektoralen Bereiche auszuüben versuchten. An wenigen Akteuren kann sektorale Kooperation und Wettbewerb derart veranschaulicht werden, wie am Jesuitenorden in Südamerika. Denn trotz des patronato reals (d.h. Patronatsrecht) in Amerika, durch welches die spanische Krone die katholische Kirche weitgehend kontrollierte, konnten sich die religiösen Orden einen hohen Grad an Autonomie bewahren. 4 Insbesondere der Jesuitenorden wies als long-distance cooperation 5 für frühneuzeitliche Verhältnisse eine effiziente und globale Schlagkraft auf. Die Aktivitäten des Ordens beschränkten sich in SpanischAmerika nicht auf den religiösen Bereich, sondern waren darüber hinaus in weiteren gesellschaftlichen Bereichen zu spüren. 6 Als Fallstudie soll im Folgenden der transandine Süden des Vizekönigreichs Peru herangezogen werden. 7 Die administrative Aufteilung dieses Gebietes war komplex und kann an dieser Stelle nur angeschnitten werden: 8 Die Region war letztinstanzlich der spanischen Krone und dem Indienrat bei Madrid unterstellt. Sie wurde politisch-administrativ von Lima aus, dem Sitz des Vizekönigreichs, und rechtlich-administrativ von der real audiencia von Charcas verwaltet. Die real audiencia überwachte mit Justizbeamten die Generalkapitäne, die für militärische Belange verantwortlich waren, und die Gouverneure, die überwiegend für zivile Angelegenheiten zuständig waren. Es gab drei Gouvernements, Tucumán, Río de la Plata und Paraguay, die wiederum nach corregimientos und alcaldías aufgeschlüsselt waren. Hinzu reihten sich Verwaltungseinheiten der Säkularkirche, wie das Erzbistum mit Sitz in Lima und drei Bistümer, und die religiösen Orden ein. 9 Diese 4 5 6

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Siehe Cárdenas, Eduardo, „Das königliche Patronat und Vikariat in den überseeischen Besitzungen Spaniens“, in: Sievernich, Michael; Camps, Arnulf et al. (Hg.), Conquista und Evangelisation, 500 Jahre Orden in Lateinamerika, Mainz 1992. (147–166). Harris, Steven J. „Long-Distance Corporations, Big Sciences, and the Geography of Knowledge“, in: Configurations, 1998, Bd.6/2 (269–304), 271, 276. Zum globalen Charakter des Ordens siehe Meier, Johannes, „‚Ob er uns zu den Türken senden möge oder zum neuen Erdkreis.‘ Zum Wirken der Jesuiten in Asien und Amerika in der Frühen Neuzeit“, in: Heid, Hans (Hg.), Die Jesuiten in der Markgrafschaft Baden (1571–1773), Ubstadt-Weiher 2014. Bd. 1 (289–315). Mostaccio, Silvia, Early Modern Jesuits between Obedience and Conscience during the Generalate of Claudio Acquaviva (1581–1615), UK 2014. Siehe Müller, Michael, „Das soziale, wirtschaftliche und politische Profil der Jesuitenmissionen. Versuch einer umfassenden Annäherung am Beispiel der Provinzen Chile und Paraguay“, in: Meier, Johannes (Hg.), Sendung, Eroberung, Begegnung. Franz Xaver, die Gesellschaft Jesu und die katholische Weltkirche im Zeitalter des Barock, Wiesbaden 2005 (179–222). Siehe Kamen, Kamen, Henry, Spain’s Road to Empire: The Making of a World Power, 1492– 1763, New York 2002 und Lynch, John, Spain Under the Habsburgs. Spain and America, 1598–1700, New York 1969, Bd. 2. Das Erzbistum Lima war Teil von insgesamt fünf Erzbistümern in Spanisch-Amerika (Santo Domingo, Mexiko-Stadt, Guatemala, Santa Fé de Bogotá und Lima). Die drei Bistümer der transandinen Region hatten ihre Sitze in Asunción, Buenos Aires und Córdoba (bis Ende des 17. Jahrhunderts noch in Tucumán).

Das jesuitische ‚Trojanische Pferd‘

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komplexen Strukturen wurden durch eine Vielzahl an Akteuren ausgefüllt, die danach strebten, ihre Partikularinteressen durchzusetzen. Sie waren hierbei durch die Krone mit Rechten und Privilegien ausgestattet, die sie gegenüber den jeweils anderen verteidigten und damit eine kritische Funktion der checks and balances ausübten. Der Jesuitenorden muss folglich als Teil dieser Strukturen und Verhandlungsprozesse gesehen werden. 10 Ihre geografische Relevanz erhielt die Region durch mehrere Faktoren: Zum einen erstreckte sich das Territorium rund 2.100 km von Norden nach Süden und 1.400 km von Osten nach Westen. Zum anderen erhielt sie ihre wirtschaftliche Bedeutung als Transitregion, die den Atlantikhandel mit dem pazifischen Teil des Vizekönigreichs verband. Darüber hinaus war sie missionarisch-politisch bedeutend, da sie mehrere große Missionsgebiete aufwies, darunter Gebiete der Chiquitos, der Guarani und die Tucumán Region. 11 Aus militärischer Perspektive wiederum war die Gegend durch den Grenzverlauf zu Portugiesisch-Amerika einerseits und den indigen-paganen Gesellschaften andererseits strategisch relevant. Im Bereich der globalen Wissenszirkulation und Gelehrsamkeit schließlich spielte die Universität von Córdoba de Tucumán eine herausragende Rolle in dieser weitläufigen Region und deutlich darüber hinaus. Im Folgenden soll an Hand dreier Bereiche dargelegt werden, wie Akteure und soziale Gruppen mit den Jesuiten zwar kooperierten, damit aber auch diesen Konkurrenten stärkten. Bei der territorialen Erschließung durch das spanische Imperium läutete die Krone unter König Phillip II. einen Strategiewechsel ein. Die intensive Eroberungsphase sollte formell abgeschlossen und fortan diplomatische und missionarische Initiativen bevorzugt werden. Flankiert wurden die Maßnahmen freilich durch das Androhen und die Durchführung militärischer Kampagnen, falls dies für nötig erachtet wurde, um indigene Gesellschaften in die Sicherheitsarchitektur zu zwingen. 12 Im transandinen Amerika sah sich die imperiale Herrschaft durch ihren Grenzcharakter auf zahlreiche Weisen herausgefordert: 13 Durch portugiesische Übergriffe wurden regelmäßig Indigene, die unter dem Schutz der spanischen Krone standen, nach São Paulo verschleppt, um dort auf dem Sklavenmarkt gehandelt zu werden; Portugiesische und englische (später britische) Vorstöße versuchten militärisch Fuß zu fassen und pagane indigene Gesellschaften forderten die spanische Präsenz heraus. Eine zentrale Maßnahme zur Absicherung des Gebiets bildete die Errichtung von Missionsgebieten, allen voran der Guarani. Hierbei wurde das

10 Damit schließt sich dieser Beitrag dem aktuellen Forschungsstand an, wonach es unzulässig ist von einem „Jesuitenstaat“ in Paraguay zu sprechen. 11 Die Bezeichnungen der Missionsgebiete beziehen sich auf die rekonstruierte ethnische Zugehörigkeit der dort lebenden indigenen Menschen. Siehe Wilde, Guillermo, Religión y poder en las misiones de Guaraníes, Buenos Aires 2009. 12 Für das Vizekönigreich Neu Spanien siehe Hausberger, Bernd, Für Gott und König. Die Missionen der Jesuiten im kolonialen Mexiko, München 2000. 13 Siehe Hennessy, Alistair, The Frontier in Latin American History, London 1978. Jackson, Robert H., Missions and the frontiers of Spanish-America, Scottsdale 2005.

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Missionsgebiet durch Reduktionen 14 erschlossen, durch Infrastruktur vernetzt und an den Markt angeschlossen. Die Etablierung des Guarani Missionsgebietes wurde nach anfänglichen Bemühungen durch den Franziskanerorden an den Jesuitenorden übertragen und durch eine sektorale Kooperation getragen. So agierten die jesuitischen Provinziale Diego de Torres Bollo (1608–1614) und Pedro de Oñate (1615– 1624) beispielsweise zusammen mit dem visitador (d.h. Abgesandten) der real audiencia von Charcas, Francisco de Alfaro, dem Bischof von Paraguay, Ignacio de Loyola, sowie dem Gouverneur des Río de la Plata y del Paraguay, Hernando Arias de Saavedra. 15 Der Verwaltungssektor erhoffte sich durch die Zusammenarbeit eine territoriale Erschließung, die Säkularkirche strebte eine Vergrößerung ihrer kirchlich-juristischen Macht sowie einer Zunahme der Kirchensteuern an und der kommerzielle Sektor, zu dem insbesondere Unternehmer, Händler und Gruppen von Siedlern zählten, zielte auf eine Erschließung von Ressourcen, einen höheren Marktanteil, Siedlungsland und vor allem auf die indigene Arbeitskraft. Anfangs konnten Jesuiten mit Hilfe der übrigen Akteure und sozialen Gruppen beachtliche „Fortschritte“ vorweisen, indem die indigenen Gesellschaften grundlegend umgestaltet wurden: 16 ihr politisches System sowie die Verwaltungsstrukturen wurden transformiert, die Wirtschaftsform verändert und der europäischen Denkweise angepasst (z.B. Viehzucht, Plantagenwirtschaft, Rodung der Wälder), die indigenen Glaubenssysteme in ein christlich-katholisches überführt, die Rechtsprechung angepasst und kodifiziert und das Bildungssystem reformiert. Außerdem erhielten die Jesuiten die königliche Erlaubnis eine eigene indigene Armee aufzustellen – ein in Spanisch-Amerika einmaliger Vorgang. 17 Dieses spanisch-indigene Heer unter jesuitischer Führung war mit Pferden und modernen Schussfeuerwaffen ausgestattet und verteidigte nicht nur das Missionsgebiet gegenüber portugiesischen Übergriffen, sondern auch spanisch-amerikanische Städte wie Buenos Aires, welches allein in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sieben Mal verteidigt wurde. Diese gesellschaftlichen Transformationsprozesse wurden von den involvierten Akteuren und sozialen Gruppen anfangs begrüßt, da sie sich eine Durchsetzung ihrer Interessen erhofften. Auch die neue Armee wurde wegen ihrer Kosten-Nutzen-Effektivität von den Stadtbewohnern und Gouverneuren gutgeheißen, denn anders als die regulären Truppen mussten sie für diese keinen Unterhalt zahlen. Diese Durchsetzung jesuitischer Macht führte im Sinne der Krone und regionaler Akteure und sozialer Gruppen zu einer Herrschaftsabsicherung in deren Sinne. 14 Es handelte sich hierbei um Siedlungen, die überwiegend durch Indigene bewohnt wurden und eine spezifische Verwaltung aufwiesen. 15 Siehe Schallenberger, Erneldo, „Missões jesuítico-guaranis nas fronteiras coloniais do prata: do aldeamento às reduções“, in: Jesuitas, 400 años en Córdoba, Córdoba (Arg.) 1999, Bd. 1, 309–321. Als rechtliche Grundlage dienten die königlichen Anweisungen zur Gründung von Reduktionen u.a. in 1591, 1605 und 1608. 16 Siehe Ganson, Barbara, The Guaraní Under Spanish Rule in the Río de la Plata, Stanford 2003. 17 Siehe Avellaneda, Mercedes, „La alianza militar jesuita-guaraní en la segunda mitad del siglo XVII y los conflictos suscitados con las autoridades locales“, in: Jesuitas, 400 años en Córdoba, Córdoba (Arg.) 1999, Bd. 1, 67–86.

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Gleichzeitig jedoch verstärkten diese Entwicklungen die sozialen Spannungen zwischen den Beteiligten, da sie sich in ihren jeweiligen Rechten und Interessen beschnitten sahen. So beklagten im wirtschaftlichen Sektor die großen Landbesitzer, dass sie keinen Zugriff auf die indigene Arbeitskraft hätten. Händler beschwerten sich über die starke Konkurrenz aus dem Missionsgebiet und über einen mangelnden Zugriff auf Ressourcen, wie Rinderherden, Hölzer und landwirtschaftlich profitable Erzeugnisse wie Mate-Tee. Vertreter der säkularen Kirche ihrerseits lehnten die Beschneidung ihrer Rechte ab, allen voran, dass Priester aus dem Missionsgebiet ferngehalten wurden und dass es zu einem Ausfall der Steuereinnahmen kam. So stand dem Bischof von Asunción der Kirchenzehnt zu, der jedoch durch die geringe Anzahl an mitados (d.h. Tributpflichtige) und durch die zum Teil offene Wiegerung der jesuitisch verwalteten Reduktionen kaum ergiebig war. Die Auseinandersetzungen gipfelten im Gouvernement Paraguay in den 1640er Jahren. Durch Streitigkeiten zwischen dem Bischof von Asunción, Bernardino de Cárdenas, und dem Gouverneur von Paraguay, Gregorio de Hinestrosa, brach ab 1641 ein jahrelanger Konflikt aus. Es kam zum Machtkampf zwischen zwei Lagern, die jeweils von den Jesuiten der Jesuitenprovinz Paraguay und de Cárdenas angeführt wurden. 18 Dabei bedienten sich beide Lager wirtschaftlicher, diplomatischer, propagandistischer und gar militärischer Mittel und stritten im Kern darum, wie die Ressourcenzugriffe und die Kompetenzverteilung ausgestaltet werden sollten. Als de Hinestrosas Nachfolger unerwartet verstarb – womöglich wurde er vergiftet – ließ sich der Bischof vom cabildo (d.h. Stadtrat) von Asunción und Teilen der Eliten zum Interimsgouverneur ausrufen, setzte die Armee ein und wies die Jesuiten gewaltsam aus dem Gouvernement aus. Die Jesuiten ihrerseits holten zum Gegenschlag aus und mobilisierten ihre spanisch-indigene Armee – sie sollte zum ersten Mal gegen eigene Truppen eingesetzt werden. Die spanischen Milizen hatten dieser wenig entgegenzusetzen, sodass die Jesuiten die Schlacht gewannen, in Asunción einmarschierten und den Interimsgouverneur vertrieben. Nach einem langwierigen Prozedere mit der Krone, dem Vizekönig und der real audiencia wurde der Status quo wiederhergestellt und die Situation friedlich gelöst. Damit erwies sich die Kooperation mit den Jesuiten als ‚trojanisches‘ Pferd, denn obwohl die erhoffte imperiale Ausdehnung erreicht wurde, kam es auch zur Stärkung jesuitischer Macht auf Kosten regionaler Akteure und sozialer Gruppen. Der zweite Bereich umfasst die wirtschaftlichen Aktivitäten der transandinen Region, die innerhalb des Vizekönigreichs nicht stark ausgeprägt waren. Allerdings nahm die Region durch ihre geostrategische Lage eine vitale Funktion als Brückenkopf zwischen der atlantischen und der pazifischen Welt ein. Dies lag daran, dass das Silber aus dem andinen Hochland zum Teil über den atlantischen Hafen am Rio de la Plata gehandelt wurde. Dabei lieferten die Silberminen von Potosí derart viel Silber, dass der Peso, die spanische Währung, zum ersten weltweit anerkannten Zahlungsmittel wurde. Zum ersten Mal besaß Europa eine Ware, um die passive 18 Ausführliche Berichte zu dieser Auseinandersetzung finden sich im Bestand der antica compagnia, fondo gesuitico, Paraguay 845 I-III (paraguay) sowie den Dokumenten im Archivo General de Indias.

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Handelsbilanz mit Osteuropa und vor allem mit dem indischen Subkontinent und dem chinesischen Kaiserreich ausgleichen zu können. In dieser Region stiegen die Jesuiten zu einem Schlüsselakteur auf. Im Unterschied zu ihren europäischen Ordenskollegen übernahmen die Jesuiten im Vizekönigreich Peru selbst die alltäglichen Geschäfte anstatt sich auf das Eintreiben von Gütern oder das Verwalten von Stiftungen, Spenden und Zinserträgen zu beschränken. Um dabei das nötige Kapital zu erhalten, bedienten sie sich des censo-Systems, welches eine der wenigen zur Verfügung stehenden Kreditmöglichkeiten in Spanisch-Amerika darstellte. Der Zins betrug durchschnittlich 5%, wobei im transandinen Gebiet bis zu 7,5% bekannt sind. 19 In der Landwirtschaft produzierten die Jesuiten Mais, Süßkartoffeln, Zuckerrohr, Tabak sowie Getreide und Wein für den eigenen Konsum. Den Markt des Mate-Tees, welcher sich im Vizekönigreich großer Beliebtheit erfreute, kontrollierten sie monopolartig. In der Viehwirtschaft waren insbesondere die großen Rinderherden und der Maultierhandel mit dem andinen Hochland einträgliche Geschäfte. Die Produktionsstätten griffen auf drei unterschiedliche Arbeitskräfte zurück: die indigene Arbeitskraft, die vor allem in den Missionsgebieten zur Verfügung stand, die Lohnarbeit, die jedoch aus Gründen, die auf das kanonische Recht fußten, problematisch war, und die Sklavenarbeit. Erstere wies bei den Jesuiten bessere Arbeitsbedingungen auf als auf dem freien Arbeitsmarkt üblich war. So ergab sich auf Grund der zahlreichen kirchlichen Feiertage de facto eine Fünftagewoche. Es wurde der Sechs- bis Achtstundentag eingeführt und man bediente sich der Musik, um die Arbeiter in den Pausen zu unterhalten. Insgesamt scheinen die Maßnahmen gefruchtet zu haben, da das Missionsgebiet der Guarani zu einem der produktivsten Gewerbegebiete des Kontinents zählte. Die Sklaverei jedoch bildete die wichtigste Säule der Arbeitskraft und wurde in der transandinen Region bereits 1608 auf Bitten der Provinzialkongregation eingeführt. 20 Dabei lässt sich im spanischen Herrschaftsgebiet Amerikas eine gegenläufige Entwicklung beobachten. Während nämlich die Sklaverei im 18. Jahrhundert zusehends durch bezahlte Lohnarbeit verdrängt wurde, hielten die Jesuiten an ihr fest, sodass sie sich zum größten Sklavenhalter Südamerikas entwickelten. Obwohl man sich der moralischen Problematik bewusst war und durch die Vergabe besonderer Rechte diese aus dem Weg zu räumen versuchte, hielten die Jesuiten aus pragmatischen Gründen an ihr bis zur Ordensaufhebung fest. Die jesuitischen Produktionsstätten bildeten ein regionales Handelsnetzwerk, das aufs Engste miteinander verflochten war und auch entsprechend so wahrgenommen wurde. 21 Folglich genossen die Niederlassungen erhebli-

19 Zum Wirtschaften der Jesuiten im transandinen Amerika siehe Cushner, Nicholas P., Jesuit Ranches and the Agrarian Development of Colonial Argentina, 1650–1767, Albany 1983. 20 Siehe Bauer, Arnold, „Jesuit Enterprise in Colonial Latin America: A Review Essay“, in: Agricultural History 1983, Bd. 57/1, 90–104. 21 Dass die Jesuitenniederlassungen nicht isoliert, sondern als Teil einer größeren Organisation betrachtet wurden, lässt sich am spektakulären Fall des Jesuiten Lavalette erkennen. Dieser hatte sich in der Karibik am lukrativen Zuckergeschäft beteiligt und hierfür beachtliche Kredit-

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che Wettbewerbsvorteile gegenüber ihren wirtschaftlichen Konkurrenten. Sie hatten leichter Zugang zu Krediten und erhielten bessere Zinskonditionen. Die Produktionsstätten konnten sich auf wenige Produkte spezialisieren, die komplementär zu niedrigen Preisen untereinander gehandelt werden konnten und auf dem freien Markt durch eine künstliche Verknappung hohe Preise erzielten; Durch die globale Personalrekrutierung konnte ein großer Pool an ausgebildeten Arbeitskräften optimal und gezielt zwischen den Niederlassungen transferiert und eingesetzt werden; 22 ein dichtes Netzwerk an Niederlassungen bildete sichere Anlaufstellen und erleichterte die Handelsaktivitäten. Vom Prinzip war die spanisch-amerikanische Gesellschaft an der Prosperität der Jesuitenniederlassungen interessiert, da ohne diese das breite Spektrum der Aktivitäten des Ordens (z.B. Seelsorge, Missionierung, unentgeltlicher Bildungszugang, medizinische Versorgung) nicht möglich gewesen wäre. 23 Gleichwohl rief ihr wirtschaftlicher Erfolg Kritiker, die sich durch die wirtschaftlichen Aktivitäten benachteiligt sahen, auf den Plan. Der letzte Bereich thematisiert den höheren Bildungssektor, der vom Jesuitenorden dominiert wurde, da er über die einzige regionale Universität verfügte. Die Etablierung von Universitäten stellte im spanischen Imperium, wo bereits in den 1530er Jahren eine Universität im karibischen Santo Domingo gegründet wurde, einen normalen Vorgang dar. Da die spanische Krone auf eine mittelalterliche Tradition akademisch Gebildeter (sogenannte letrados) zurückblickte und auf diese für die Verwaltung der Überseeterritorien angewiesen war, förderte sie die Gründung zahlreicher Universitäten. Auf diese Weise trug in der Frühen Neuzeit kein anderer Staat als Spanien derart zur weltweiten Ausbreitung der Universitäten bei – zum Zeitpunkt der Ordensaufhebung in Spanisch-Amerika (1767) gab es rund 22 spanisch-amerikanische Universitäten. Da rund 40% dieser Universitäten jesuitisch geführt waren, war der Jesuitenorden neben der Krone der wichtigste Akteur in der universitären Bildungslandschaft. 24 Die transandine Universität in Córdoba de Tucumán wurde auf Wunsch der Eliten und einflussreicher Akteure, wie dem cabildo und dem Bischof von Tucumán errichtet. Die real audiencia, die Krone, der Ordensgeneral und der Heilige Stuhl genehmigten das Vorhaben, wobei private Spenden die kritische Anfangsphase überbrückten. Studenten erfuhren durch das Studium nicht nur eine Humankapitalaufwertung, sondern generierten durch ihre akademische Zugehörigkeit und der damit verbundenen öffentlichen Präsenz Prestige für sich selbst und ihre Familien. Nach dem Studium konnten sie eine angesehene Position als Beamter, Notar, Händler, Stadtrat, Priester etc. anstreben und damit den sozialen Status der Familie summen aufgenommen. Da er die Kredite nicht zurückzahlen konnte, entbrannte eine juristische Auseinandersetzung, die der Jesuitenorden verlor, sodass der Orden für Schulden einzelner Mitglieder und Niederlassungen in Haftung genommen werden konnte. 22 Siehe Francisco, Javier, ‚Para convertir a los infieles‘. Asymmetries in the Global Circulation of Jesuit Personnel, Stuttgart geplant 2018. 23 Davon zeugen die zahlreichen Spenden, die sich durch das 17. und 18. Jahrhundert durchziehen und die vor allem während der Aufbauphase einer Niederlassung entscheidend waren. 24 Siehe Rodríguez Cruz, Águeda María, La universidad en la América hispánica, Madrid 1992.

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erhalten oder sozial aufsteigen. Angesichts dieser Erkenntnis verwundert der Kampf zwischen Akteuren und sozialen Gruppen um den Universitätszugang daher nicht. 25 Zwei Faktoren spielten hierbei eine essentielle Rolle: die finanzielle Ausstattung und die ethnische Zugehörigkeit der Studenten. Insbesondere die Frage der Ethnie war im spanischen Imperium wichtiger als in den nordamerikanischen englischen/britischen Kolonien. Denn im Gegensatz zu diesen waren die spanischen Gebiete im Sinne Fieldhouse’ gemischte Kolonien (sogenannte mixed colonies), in denen Indigene einen großen Anteil an der Bevölkerung ausmachten und die allein schon aus Sicherheitsgründen in die imperiale Architektur integriert werden mussten. 26 Der durch die Besiedlung eingeläutete Prozess der Mestizierung führte zur gesellschaftlichen Neuordnung, bei der die sozialen Gruppen um Rechte und Anerkennung rangen. Dieser Vorgang veränderte beim Transfer des mittelalterlichen Konzeptes der limpieza de sangre nach Spanisch-Amerika dessen Ausprägung, sodass es nicht mehr um eine Ausgrenzung konvertierter ehemaliger Juden und Muslime ging, sondern um eine gesellschaftliche Verdrängung der castas (d.h. „ethnische Gruppen) wie beispielsweise Mestizen und Mulatten. 27 Dabei handelte es sich freilich nicht um objektive Kategorien, sondern um soziale Konstruktionen, die aus Aushandlungsprozessen der Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung resultierten. Im transandinen Gebiet konnten Mestizen- und Mulatten-Spanier im 17. Jahrhundert gehobene Berufe ergreifen und gesellschaftlich partizipieren. Mit zunehmendem demografischem Gewicht änderte sich dies im 18. Jahrhundert. So sahen amerikanische und iberische Spanier ihre gesellschaftliche Stellung gefährdet und versuchten ihre Konkurrenten zu marginalisieren, indem sie ihnen den universitären Zugang verweigerten. Da die Jesuiten die Universität im 17. Jahrhundert sozial offen leiteten (sowohl in ethnischer als auch in finanzieller Hinsicht), konnten die Söhne wohlhabender amerikanischer und iberischer Spanier im öffentlichen Raum keine soziale Distinktion herstellen. So kam es im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen der Universitätsleitung und den Eliten. 28 Der cabildo, der Bischof von Tucumán sowie weitere Teile der Eliten versuchten durch die Gründung einer zweiten dominikanisch geführten

25 Diese Auseinandersetzungen sind Gegenstand verschiedener Untersuchungen, siehe Vera de Flachs, Maria Cristina, „La universidad como factor de ascenso a la élite de poder en la América hispana: el caso de Córdoba, 1767–1808“, in: Peset, Mariano; Albiñana, Salvador (Hg.), Claustros y Estudiantes. Congreso internacional de historia de las universidades americanas y españolas en la edad moderna, Valencia 1989. Bd. 2, 399–426. 26 Siehe Fieldhouse, D. K., The Colonial Empires: a Comparative Survey fom the Eighteenth Century, London 1982. Stern, Steve J., Peru’s Indian Peoples and the Challenge of Spanish Conquest: Huamanga to 1640, Madison 1982. 27 Mestizen und Mulatten sind Bezeichnungen für die Nachkommen zwischen einem/r weißen Spanier/in und einem/r Indigene/n bzw. einem/einer Schwarzen aus Sub-Sahara Afrika. Es gab zahlreiche Kategorisierungen, die auf den Grad der jeweiligen „Vermischung“ eingingen. Im Folgenden werden Untertanen der spanischen Krone, die zu jenen Gruppen gehörten als Mestizen- und Mulatten-Spanier definiert. 28 Siehe Endrek, Emiliano, El mestizaje en Córdoba. Siglos XVII y principios del XIX, Córdoba (Arg.) 1966.

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Universität den Jesuiten das universitäre Bildungsmonopol abzuringen. Obwohl ihre Initiative auf massiven Druck der Jesuiten und ihrer Verbündeten hin scheiterte und die neue Universität nach wenigen Jahren wieder schließen musste, war es gelungen, von der Universität Zugeständnisse zu erhalten. So wurde ein Internat errichtet, das an die Universität angegliedert war und im Gegensatz zu dieser eine restriktive Aufnahme von Studenten vornahm. Das Internat speiste sich aus den wohlhabenden, weißen Eliten und obwohl seine Studenten weiterhin Seite an Seite mit den übrigen Studenten studierten, konnten sie nun im öffentlichen Raum soziale Distinktion durch eine unterschiedliche Kleiderordnung herstellen. Wieder einmal hatten Akteure und soziale Gruppen den Orden gefördert, um dessen Dienste in Anspruch zu nehmen und wieder einmal entstand eine Konkurrenzsituation, die Spannungen nach sich zog. So kam es im Bildungswesen nach zähen Verhandlungen zu einem Kompromiss, bei dem alle Beteiligten ihre Interessen wahren und niemand Maximalforderungen durchsetzen konnte. Die dargestellten Ereignisse unterstreichen die Bedeutung sektoraler Kooperation bei der imperialen Erschließung und Verwaltung. Dabei fiel den Geistlichen in der transandinen Region wegen ihres frontier-Charakters eine besondere Rolle zu. Akteure und soziale Gruppen arbeiteten in allen drei Sektoren mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, wodurch es zu der von Amitai Etzionis geschilderten „three forms of power“ 29 kam. Gleichwohl überschnitten sich die Aktivitäten der sektoralen Akteure. Dies galt insbesondere im wirtschaftlichen Bereich, denn der Jesuitenorden war in Spanisch-Amerika, anders als in Europa, auf eine eigenständige wirtschaftliche Absicherung angewiesen, sodass er durch die unternehmerischen Verstrickungen in einem Wettbewerb mit dem privaten-kommerziellen Sektor geriet. Doch auch die Grenzen zum öffentlichen Sektor verschwammen durch die militärischen Unternehmungen, die diplomatischen Einflussnahmen im Vizekönigreich, Spanien und Rom sowie die juristischen Auslegungen königlicher Gesetze. Schließlich kam es auch zu Spannungen innerhalb des religiösen Sektors, da sowohl die Jesuiten als auch weitere religiöse Akteure um Ressourcen, juristische Einflussbereiche, gesellschaftliche Akzentuierungen und um die Gunst sozialer Gruppen und angesehener Persönlichkeiten buhlten. Die angeführten Beispiele verdeutlichen, wie Akteure und soziale Gruppen miteinander kooperierten und die Jesuiten aktiv in gesellschaftliche Prozesse einbinden wollten, um gemeinsame Ziele zu verfolgen. In der Folge fuhren die Jesuiten vor Ort allerdings einen eigenständigen Kurs, der im Widerspruch zu den Intentionen der übrigen Akteure stehen konnte, sodass sie ein jesuitisches ‚trojanisches‘ Pferd durch die Pforten gelassen hatten. Letztlich konnten weder eine jesuitische Dominanz im Missionsgebiet noch die Öffnung der Universität für Mittellose und Menschen aus der städtischen Bourgeoisie sowie für die ethnischen Gruppen der Mestizen- und Mulatten-Spanier verhindert werden – damit kam es eben doch anders als geplant!

29 Siehe Etzioni, Amitai, A Comparative Analysis of Complex Organizations, New York 1961.

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AUSWAHLBIBLIOGRAFIE Abernethy, David B., The Dynamics of Global Dominance. European Overseas Empires, 1415– 1980, New Haven: 2000. Avellaneda, Mercedes, „La alianza militar jesuita-guaraní en la segunda mitad del siglo XVII y los conflictos suscitados con las autoridades locales“, in: Jesuitas, 400 años en Córdoba, Córdoba (Arg.) 1999. Bd. 1, 67–86. Bauer, Arnold, „Jesuit Enterprise in Colonial Latin America: A Review Essay“, in: Agricultural History 1983, Bd. 57/1 90–104. Cárdenas, Eduardo, „Das königliche Patronat und Vikariat in den überseeischen Besitzungen Spaniens“, in: Sievernich, Michael; Camps, Arnulf et al. (Hg.), Conquista und Evangelisation, 500 Jahre Orden in Lateinamerika, Mainz 1992, 147–166. Cushner, Nicholas P., Jesuit Ranches and the Agrarian Development of Colonial Argentina, 1650– 1767, Albany 1983. Endrek, Emiliano, El mestizaje en Córdoba. Siglos XVII y principios del XIX, Córdoba (Arg.) 1966. Etzioni, Amitai, A Comparative Analysis of Complex Organizations, New York 1961. Fieldhouse, D. K., The Colonial Empires: a Comparative Survey fom the Eighteenth Century, London 1982. Ganson, Barbara, The Guaraní Under Spanish Rule in the Río de la Plata, Stanford 2003. Harris, Steven J., „Long-Distance Corporations, Big Sciences, and the Geography of Knowledge“, in: Configurations 1998, Bd. 6/2, 269–304. Hausberger, Bernd, Für Gott und König. Die Missionen der Jesuiten im kolonialen Mexiko, München 2000. Hennessy, Alistair, The Frontier in Latin American History, London 1978. Jackson, Robert H., Missions and the frontiers of Spanish-America, Scottsdale 2005. Kamen, Henry, Spain’s Road to Empire: The Making of a World Power, 1492–1763, New York 2002. Lynch, John, Bourbon Spain. 1700–1808, Cambridge (Mass.) 1989. Lynch, John, Spain Under the Habsburgs. Spain and America, 1598–1700, New York 1969, Bd. 2. Meier, Johannes, „‚Ob er uns zu den Türken senden möge oder zum neuen Erdkreis.‘ Zum Wirken der Jesuiten in Asien und Amerika in der Frühen Neuzeit“, in: Heid, Hans (Hg.), Die Jesuiten in der Markgrafschaft Baden (1571–1773), Ubstadt-Weiher 2014, Bd. 1, 289–315. Mostaccio, Silvia, Early Modern Jesuits between Obedience and Conscience during the Generalate of Claudio Acquaviva (1581–1615), UK 2014. Müller, Michael, „Das soziale, wirtschaftliche und politische Profil der Jesuitenmissionen. Versuch einer umfassenden Annäherung am Beispiel der Provinzen Chile und Paraguay“, in: Meier, Johannes (Hg.), Sendung, Eroberung, Begegnung. Fraz Xaver, die Gesellschaft Jesu und die katholische Weltkirche im Zeitalter des Barock, Wiesbaden 2005, 179–222. Rodríguez Cruz, Águeda María, La universidad en la América hispánica, Madrid 1992. Schallenberger, Erneldo. „Missões jesuítico-guaranis nas fronteiras coloniais do prata: do aldeamento às reduções“, in: Jesuitas, 400 años en Córdoba, Córdoba (Arg.) 1999. Bd. 1, 309– 321. Stern, Steve J., Peru’s Indian Peoples and the Challenge of Spanish Conquest: Huamanga to 1640, Madison 1982. Vera de Flachs, Maria Cristina. „La universidad como factor de ascenso a la élite de poder en la América hispana: el caso de Córdoba, 1767–1808“, in: Peset, Mariano; Albiñana, Salvador (Hg.), Claustros y Estudiantes. Congreso internacional de historia de las universidades americanas y españolas en la edad moderna, Valencia 1989, Bd. 2, 399–426. Wilde, Guillermo, Religión y poder en las misiones de Guaraníes, Buenos Aires 2009.

JUSSUPHS GESCHICHTE Agency, Kontingenz und Autorität in der Epoche der Türkenkriege Andreas Flurschütz da Cruz/Mark Häberlein 1. EUROPÄISCHE EXPANSION UND „DRITTER RAUM“ Das europäische Ausgreifen nach Übersee seit dem 15. Jahrhundert führte nicht nur zur Veränderung weiter Teile der außereuropäischen Welt, sondern durch zahlreiche Rückkopplungseffekte, die von den außereuropäischen Gebieten ausgingen, auch zu signifikanten Wandlungsprozessen innerhalb Europas selbst. Abendländische Gesellschaften wandelten sich unter dem Einfluss der Kontakte mit Nichteuropäern wirtschaftlich und kulturell; die europäische Expansion erscheint somit als ein offenes System, in dem interkulturelle Kontakte gleichermaßen nach außen und nach innen wirkten. Im Rahmen dieses „Prozess[es] von wechselseitigen Transfers und Transformationen“ 1 erfolgte ein Austausch von Ideen, Gütern und Personen. Konzepte und Formen von Herrschaft wurden exportiert, Wirtschafts- und Kulturgüter transferiert, und sogar die Träger fremder Kultur selbst wurden importiert, wenngleich dies in der Frühen Neuzeit mit ganz anderer Motivation (und in wesentlich geringerer Zahl) als heute geschah. 2 Die von Homi Bhabha entwickelte Kulturtheorie spricht dort, wo verschiedene Kulturen bzw. ihre Träger aufeinandertreffen, von einem „Dritten Raum“. 3 Kulturelle Kontaktsituationen im Prozess der europäischen Expansion gestalteten sich jedoch in Abhängigkeit von den Motiven der Europäer, den Herrschaftsstrukturen, auf die sie trafen, und den jeweiligen Kräfteverhältnissen vor Ort höchst

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Peter Burschel/Sünne Juterczenka, Begegnen, Aneignen, Vermessen. Europäische Expansion als globale Interaktion, in: dies. (Hg.), Die europäische Expansion, Stuttgart 2016, 7–34, 10. Eine umfassende neue Darstellung bietet Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, München 2016. Vgl. exemplarisch T.F. Earle/Kate J.P. Lowe (Hg.), Black Africans in Renaissance Europe, Cambridge u. a. 2005; Alden T. Vaughan, Transatlantic Encounters: American Indians in Britain, 1500–1776, New York u. a. 2006; Kate Fullagar, The Savage Visit: New World People and Popular Imperial Culture in Britain, 1710–1795, Berkeley u. a. 2013. Siehe Homi K. Bhabha, The Location of Culture, London/New York 1994.

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unterschiedlich. 4 Der Mittelmeerraum und Europas „Steppengrenze“ 5 auf dem Balkan stellen insofern eine Besonderheit dar, als die christlichen europäischen Mächte hier mit einer expandierenden Macht – dem Osmanischen Reich – konfrontiert waren, die ihre Gegenspieler immer wieder in die Defensive drängte. Doch ungeachtet der militärischen, religiösen und ideologischen Frontstellung kam es auch hier zu vielfältigen kulturellen Austauschprozessen, die in der neueren Forschung zunehmend Beachtung finden. 6 Einige Aspekte des Kulturtransfers von Europas südöstlicher Grenze nach Mitteleuropa sowie seine Motivationen und Ziele sollen hier anhand der Person Jussuphs, eines muslimischen Jungen, der 1688 als „Türke“ ins Heilige Römische Reich Deutscher Nation verschleppt wurde, betrachtet werden. Welche Handlungsspielräume hatte ein Ende des 17. Jahrhunderts auf das Gebiet des heutigen Deutschland zwangsmigrierter Muslim? Welche individuellen Schritte unternahm er in konkreten Lebenssituationen – und auf welcher Grundlage? Was lässt sich über den Dritten Raum aussagen, der sich überall dort auftat, wo Jussuph in Mitteleuropa in Kontakt mit seiner neuen, christlich geprägten Umgebung trat? Seine Biographie erschien bereits Zeitgenossen als derart singulär, dass er bald nach seinem Tod im Jahr 1735 Eingang in mehrere Lexika und biographische Sammlungen fand, die seinen Lebensweg für eine breitere Öffentlichkeit resümierten. Sein Fall sei, wie zwei Zeitgenossen bemerkten, „für gar waß sonderliches [zu] erkennen“ 7, weshalb er „eine besondere Attention verdienet“ habe. 8 Der folgende Beitrag geht dabei insbesondere dem Spannungsverhältnis nach zwischen der Idee der Vorsehung 9 im Leben des Protagonisten, wie sie uns in den Quellen begegnet, auf der einen Seite und der agency, also Jussuphs Handlungsund Verhandlungsspielräumen auf der anderen Seite. Wie und wo handelte der im

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Vgl. die Systematisierung derartiger Kontaktsituationen bei Jürgen Osterhammel, Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas, in: Saeculum 46/1995, 101–138; wieder abgedruckt in Burschel/Juterczenka (Hg.), Die europäische Expansion, 35–68. Vgl. William H. McNeill, Europe’s Steppe Frontier, 1500–1800, Chicago/London 1964. Siehe exemplarisch Molly Greene, A Shared World. Christians and Muslims in the Early Modern Mediterranean, Princeton 2002; Marlene Kurz et al. (Hg.), Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie. Akten des internationalen Kongresses zum 150-jährigen Bestehen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Wien. 22.–25. September 2004, Wien 2005; Daniel Jütte, Interfaith Encounters Between Jews and Christians in the Early Modern Period and Beyond: Toward a Framework, in: American Historical Review 118/2013, 378–400. Archiv der Franckeschen Stiftungen Halle/Saale, Hauptarchiv (im Folgenden abgekürzt AFSt/H) C 70: 7. Johann Heinrich Hassel an August Hermann Francke, vgl. Anm. 47. Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Akten der Superintendentur Neustadt an der Aisch, Nr. 17: Circulare des Dekans und Superintendenten Johann Christian Lerche, 23.8.1735, vgl. Anm. 82. Zum Begriff der Vorsehung siehe K. Hofmann, Art. „Vorsehung“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 10, Freiburg 1985, Sp. 885–891, sowie J. Konrad, Art. „Vorsehung“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 6, Tübingen 1962, Sp. 1495–1499. Siehe auch die Artikel zu „Heilsgeschichte“ in den genannten Lexika.

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Krieg verschleppte „Türke“ eigenständig in seinem Leben, das weitgehend abhängig vom Willen und Wohlwollen anderer war und das er sogar selbst als von einer höheren Macht vorherbestimmt empfand? Oder, um mit Homi Bhabha zu fragen: „Wie funktioniert man als Handelnder, wenn die eigene Möglichkeit zu handeln eingeschränkt ist, etwa weil man ausgeschlossen ist und unterdrückt wird?“ Bhabha zufolge bestehen selbst in solchen Situationen „Möglichkeiten, die auferlegten kulturellen Autoritäten umzudrehen, einiges davon anzunehmen, anderes abzulehnen.“ 10 Dieser These soll anhand der Person Jussuphs, der bestimmte sich bietende Möglichkeiten nicht nur annahm, sondern sie konsequent und mit erheblichen Folgen für sich selbst und seine Umwelt weiterführte, nachgegangen werden. 2. HANDLUNGS- UND VERHANDLUNGSKOMPETENZ EINES „TÜRKEN“ IM FRÜHNEUZEITLICHEN EUROPA 2.1 Historischer Kontext: Die frühneuzeitlichen Türkenkriege Die Einnahme Konstantinopels, des heutigen Istanbul, durch die Osmanen im Jahr 1453 bedeutete gleichzeitig das Ende des Byzantinischen Reiches und den Auftakt der osmanischen Expansion im Mittelmeerraum und auf dem Balkan. Nachdem der Konflikt zwischen dem Osmanischen Reich und christlichen europäischen Mächten über mehr als eineinhalb Jahrhunderte hinweg immer wieder aufgeflammt war, 11 brach 1683 unter Sultan Mehmed IV. erneut ein 150.000 Mann starkes Heer nach Belgrad auf und rückte bis vor die Tore Wiens vor. In einer Gegenoffensive konnte eine Allianz um Kaiser Leopold I. das osmanische Vordringen aber aufhalten und mit der Eroberung der ungarischen Hauptstadt Buda bzw. Ofen (1684–86) sowie der wichtigen Festung Belgrad (1688) unter der Führung des bayerischen Kurfürsten Max Emanuel verloren gegangene Gebiete zurückgewinnen. 12 Die Einnahme Belgrads war ein großer Prestigeerfolg für Kaiser und Reich: Er bildete eine weitere Etappe im (Wieder-)Aufstieg Österreichs zur europäischen Großmacht und wurde in zeitgenössischen Medien als Triumph über die Ungläubigen gefeiert. 13 Über 10 „Migration führt zu ‚hybrider‘ Gesellschaft“. Homi K. Bhabha in einem Interview mit Lukas Wieselberg, ORF-Science, [letzter Zugriff am 21.09.2016]. Vgl. Anna Babka/Gerald Posselt, Einleitung, in: dies. (Hg.), Homi K. Bhabha. Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung, Wien/Berlin 2012, 7–16, 13. 11 Vgl. als Überblicksdarstellung Klaus Peter Matschke, Das Kreuz und der Halbmond. Die Geschichte der Türkenkriege, Düsseldorf/Zürich 2004. 12 Siehe Ludwig Hüttl, Die Beziehungen zwischen Wien, München und Versailles während des Großen Türkenkrieges 1684 bis 1688, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 38/1985, 81–122. 13 Siehe Thomas Weißbrich, Die Belagerung und Eroberung Belgrads im Jahre 1688. Überlegungen zu drei zeitgenössischen illustrierten Flugblättern aus der Sammlung Stopp, in: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 28/2003, 77–110.

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7.000 Osmanen sollen bei der Einnahme der Stadt getötet oder anschließend massakriert worden sein; 1.300 gerieten in Gefangenschaft. 14 2.2 Jussuphs Leben in den „Acta Historico-Ecclesiastica“ Leser der „Acta Historico-Ecclesiastica“, eines in Weimar verlegten kirchengeschichtlichen Sammelwerks aus der Mitte des 18. Jahrhunderts über „Leben, Schiksalen und Veränderungen merkwürdiger Männer“, wurden mit diesem militärischen Großereignis aus einer Warte konfrontiert, die nichts mit kaiserlicher Macht und siegreichen Feldherren zu tun hatte. In einem Beitrag über das „Leben Herrn Christian Joseph Burgks, Pfarrers zu Rüdisbronn, im Ba[y]reutischen, eines gebohrnen Türken“ konnten sie die Einnahme Belgrads aus der Sicht eines etwa sechsjährigen Jungen namens Jussuph nacherleben. 15 Jussuph war demnach „ohngefehr im Jahr 1682 in Scavkapalanka 16 bey Griechischweissenburg von türkischen Eltern gebohren“. Sein Vater hatte in der belagerten Festung als Offizier gedient. Bei deren Einnahme wurde „der Vater unsers kleinen Jussuphs seines Lebens beraubet, die Mutter aber, nebst diesem und einem noch kleinen säugenden Kinde gefangen und zu Sclaven der Ueberwinder gemachet“. Weiter berichten die „Acta Historico-Ecclesiastica“, dass ein kaiserlicher Kavallerieoffizier unsern Jussuph der gefangenen Mutter nicht ohne die empfindlichsten Schmerzen von der Seite wegnahm, sie selbst aber einem andern teutschen Officier zur Beute wurde, von welcher betrübten Scheidung an, Mutter und Kind einander nie mehr zu sehen bekommen haben.

Der türkische Junge reagierte auf diese traumatischen Erfahrungen offenbar höchst emotional, machte […] des Weinens und Schreyens nach seiner Mutter so viel, daß er in einen Graben hingeworfen, und bereits der Hahn gespannet wurde, ihn todt zu schiesen, wann nicht ein anderer aus Erbarmen dazwischen gekommen wäre, und sein Leben erhalten hätte.

Die Herausgeber der „Acta Historico-Ecclesiastica“ begnügten sich indessen nicht mit der Wiedergabe von Jussuphs Schicksal, sondern interpretierten dieses aus einer protestantischen heilsgeschichtlichen Perspektive. Gleich zu Beginn des Lebenslaufs ist von der „göttlichen Vorsehung“ die Rede, die Jussuph als Sohn muslimischer Eltern habe zur Welt kommen lassen. Die Türkenkriege erfüllten in dieser geschichtstheologischen Sicht eine besondere, geradezu auf die Person Jussuphs zugeschnittene Funktion im göttlichen Heilsplan: Sie

14 Vgl. Hans Eggert Willibald von der Lühe (Hg.), Conversations-Lexicon, Bd. 1, Leipzig 1833, 485. 15 Beyträge zu den Actis Historico-Ecclesiasticis, 4. Teil, Weimar 1746, 627–632, hier 627f. 16 Бачка Паланка bzw. Bačka Palanka (serbisch/kroatisch); deutsch: Plankenburg (Serbien).

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musten durch besondere Direction Gottes eine Gelegenheit seyn, daß dieser junge Türke […] aus der blinden Barbarey errettet, und an solche Orte gebracht wurde, wo er nicht nur zur seligen Erkentnis des theuren Evangelii kam, sondern auch selbst zu einem Knecht des lebendigen GOttes konte zubereitet werden.

Diese Darstellung erweckt den Anschein, als wäre Belgrad 1688 gleichsam nur um der „Errettung“ Jussuphs aus der „Barbarey“ willen gefallen. Schließlich sei es „der ewige HErr der Welt“ gewesen, „der sich seinen Diener von Ewigkeit bereits ausgesehen“ hatte, das Schicksal des Jungen lenkte, ihn gewaltsam von seiner Familie trennte, aber durch die christliche Barmherzigkeit eines kaiserlichen Offiziers am Leben ließ, „welches merkwürdigen Umstandes er sich gar eigentlich zu erinnern, und GOtt für seine wunderbare Erhaltung zu danken wuste.“ Für den Herausgeber dieser Lebensbeschreibung, den Weimarer Hofprediger und Assessor am herzoglich sachsen-weimarischen Oberkonsistorium Wilhelm Ernst Bartholomäi, war evident, dass das Schicksal Jussuphs – wie das jedes Menschen – allein in Gottes Hand lag. Es dürfte diese aus zeitgenössischer protestantischer Perspektive außerordentliche Manifestation der göttlichen Vorsehung gewesen sein, die seiner Geschichte zu einer gewissen Popularität verhalf. In leicht gekürzter Form fand sie unter anderem in einen Ergänzungsband zu Zedlers Universal-Lexicon 17 und in ein weit verbreitetes universalhistorisches Werk des 18. Jahrhunderts, den „Neu-Eröffnete[n] Historien-Saal“, Eingang. 18 Im Lichte neuerer Ansätze der Frühneuzeitforschung – insbesondere zu Selbstzeugnissen, Konversionen und Interkulturalität – ist sein Lebenslauf aus anderen Gründen von besonderem Interesse. Erstens sagt der Herausgeber der Acta explizit, dass ihm eine von seinem Protagonisten selbst verfasste „kleine […] Nachricht von seinem Leben“ vorlag; wir haben es hier also sozusagen mit einem indirekten Selbstzeugnis zu tun. Darüber hinaus lässt sich seine Spur in einer Reihe weiterer Quellen – Universitäts- und Kirchenmatrikeln, kirchlichen Verwaltungsakten, den Tagebüchern August Hermann Franckes (1663–1727) – verfolgen, und mit einem im Mai 1717 verfassten Brief an den Begründer des Halleschen Pietismus liegt uns sogar ein unmittelbares Selbstzeugnis vor. Zweitens handelt es sich bei den sogenannten Beutetürken, die im Zuge der Kriege christlicher Mächte gegen das Osmanische Reich in Gefangenschaft gerieten und nach Mitteleuropa gebracht wurden, durchaus um ein signifikantes Phänomen. Türkische Kriegsgefangene sind im Heiligen Römischen Reich seit dem 16. Jahrhundert belegt, und ihre Zahl stieg im späten 17. Jahrhundert, als den Truppen des Kaisers und seiner Verbündeten eine Reihe von Siegen über ihre osmanischen Gegner gelang, stark an. 19 Für die Region Franken hat Hartmut Heller in einer ak-

17 Johann Heinrich Zedler, Universal-Lexicon, Supplementband 4, Leipzig 1754, Sp. 1053–1055. 18 Neu-Eröffneter Historien-Saal, Bd. 8, Basel 1765, 664f. 19 Siehe Markus Friedrich, ‚Türken’ im Alten Reich. Zur Aufnahme und Konversion von Muslimen im deutschen Sprachraum (16.–18. Jahrhundert), in: HZ 294/2012, 329–360.

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ribischen Spurensuche Hunderte von Nachweisen für die Präsenz von Türken ermittelt.20 Der Journalist Markus Krischer hat vor kurzem am Beispiel eines Janitscharen, der 1683 vor Wien gefangen genommen und nach München gebracht wurde, die Möglichkeiten der Rekonstruktion der Biographie eines solchen „Beutetürken“ erprobt. 21 Drittens weist Jussuphs Lebensweg zwar einige Gemeinsamkeiten mit demjenigen anderer „Beutetürken“ auf: So lebte er längere Zeit an einem deutschen Fürstenhof, dem er durch seine Präsenz exotischen Glanz verlieh, und wurde nach wenigen Jahren getauft. Aber seine Hinwendung zum Pietismus und seine Entscheidung, evangelischer Pfarrer zu werden, sind wiederum so exzeptionell, dass sie nur über eine detaillierte mikrohistorische Rekonstruktion fassbar werden. In Edoardo Grendis bekannter Formulierung sind wir bei Jussuphs Geschichte mit einem markanten Fall des „außergewöhnlichen Normalen“ konfrontiert. 22 Dietmar Rothermunds Begriff der „organisierten Handlungskompetenz“ eignet sich insofern für die Erfassung dieser Biographie, als er das „Spannungsverhältnis zwischen Offenheit und Beschränkung, zwischen Zufälligkeit und Zielstrebigkeit“ berücksichtigt. 23 Jussuphs Handlungsoptionen waren nach der frühen, gewaltsamen Trennung von seiner Familie und seiner vertrauten Lebenswelt zweifellos beschränkt. Die ständisch und konfessionell strukturierte Gesellschaft des Heiligen Römischen Reiches und die Organisationen, mit denen Jussuph dort konfrontiert war – Fürstenhof, höhere Bildungseinrichtungen, evangelisches Kirchenwesen – setzten einen institutionellen und normativen Rahmen, der seine Handlungsrepertoires begrenzte. Innerhalb dieses Rahmens demonstrierte er jedoch bemerkenswerte Handlungs- und Entscheidungskompetenz. Dies soll im Folgenden in drei Schritten aufgezeigt werden, die sich einerseits an der Chronologie von Jussuphs Leben orientieren, diese andererseits aber mit spezifischen sozialen Orten und Milieus verbinden: dem markgräflichen Hof in Bayreuth, den vom Pietismus August Hermann Franckes geprägten Bildungseinrichtungen in Halle an der Saale und den mittelfränkischen Dörfern Hagenbüchach und Rüdisbronn, wo Jussuph nach Taufe und Studium als Pfarrer wirkte.

20 Exemplarisch Hartmut Heller, Türkentaufen um 1700 – ein vergessenes Kapitel der fränkischen Bevölkerungsgeschichte, in: ders./Gerhard Schröttel (Hg.), Glaubensflüchtlinge und Glaubensfremde in Franken, Würzburg 1987, 255–272; ders., Beutetürken. Deportation und Assimilation im Zuge der Türkenkriege des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Gerhard Höpp (Hg.), Fremde Erfahrungen. Asiaten und Afrikaner in Deutschland, Österreich und in der Schweiz bis 1945, Berlin 1996, 159–167. 21 Markus Krischer, Der Mann aus Babadag. Wie ein türkischer Janitschar 1683 nach München verschleppt und dort fürstlicher Sänftenträger wurde, Darmstadt 2014. 22 Zitiert nach Hans Medick, Mikro-Historie, in: Winfried Schulze (Hg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion, Göttingen 1994, 40–53, hier 46f. 23 Dietmar Rothermund, Organisierte Handlungskompetenz: Europas Entwicklung und die außereuropäische Welt, in: Harald Fischer-Tiné (Hg.), Handeln und Verhandeln. Kolonialismus, transkulturelle Prozesse und Handlungskompetenz, Münster 2002, 1–10, 1f.

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2.3 Der Hof der Bayreuther Markgrafen als Dritter Raum Seiner posthum publizierten Lebensbeschreibung zufolge gelangte Jussuph zunächst mit der kaiserlichen Armee nach Ofen, dem heutigen Budapest, wo diese ihr Winterquartier nahm. Dort hielt sich auch Markgraf Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth (1644–1712), der wiederholt Truppenverbände gegen die Feinde von Kaiser und Reich kommandierte, mit Vertretern seines Hofstaats auf. Ein Kammerjunker des Markgrafen, ein gewisser Herr von Borgk 24, kaufte den Jungen für zwölf Dukaten und brachte ihn nach Bayreuth, wo er ihn nach einigen Jahren der zweiten Frau des Fürsten, Markgräfin Sophia Louise, schenkte. 25 Der Bayreuther Hof war Jussuphs erster längerfristiger, wenngleich zunächst unfreiwilliger Aufenthaltsort im Heiligen Römischen Reich. An ihm fand der Junge seine primäre christlich-mitteleuropäische Prägung, und ihm blieb er Zeit seines Lebens verbunden. Auch wenn er später Bayreuth verließ, saßen dort immer noch seine Paten und Gönner, und selbst in Halle, Gotha oder den Landgemeinden des Markgraftums Brandenburg-Bayreuth, in denen er später sein Pfarramt ausüben sollte, stand er noch im Bannkreis des Bayreuther Hofes. An den deutschen Fürstenhöfen des Barockzeitalters erfreuten sich Kinder und Jugendliche dunkler Hautfarbe, die in oft phantasievoller Kleidung in den Hofstaat integriert wurden und dort als „Hofmohren“ oder „Kammertürken“ dienten, großer Beliebtheit. Generell wurden an europäischen Fürstenhöfen seit dem 17. Jahrhundert verschiedene Arten von Fremdheitserfahrungen bewusst herbeigeführt: Sie gehörten zur „Grundausstattung höfischer Repräsentation“. 26 Adlige verließen ihre heimischen Gefilde und suchten einerseits das Fremde selbst auf – zum Beispiel auf

24 Seit den späten 1670er Jahren tritt gelegentlich ein Hof- bzw. Kammerjunker Borck/Borcke im Umfeld des Markgrafen in Erscheinung (1678/1681/1691/1692/1696). Vornamen werden dabei nie genannt. Erst 1699 wird ein Georg Friedrich von Borcke als Kammerjunker bei Markgraf Christian Ernst greifbar, um den es sich hier handeln könnte. Siehe auch Staatsarchiv Bamberg (im Folgenden StABa), Markgrafentum Brandenburg-Bayreuth, Geheime Landesregierung Nr. 1939, Das Rittergut Laineck derer von Bork in der Amtshauptmannschaft Bayreuth, 1699. Freundliche Auskunft von Iris von Dorn, Bayreuth, vom 7.7.2016. 25 Beyträge zu den Actis Historico-Ecclesiasticis 4, 628f. Zu Christian Ernst vgl. zuletzt Rainald Becker/Iris von Dorn (Hg.), Politik – Repräsentation – Kultur. Markgraf Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth 1644–1712. Referate der Tagung am 9. und 10. November 2012 in Bayreuth, Bayreuth 2014. Zu seinen drei Ehefrauen vgl. den Beitrag von Britta Kägler, Heiraten mit Absicht. Europäische Netzwerke süd- und mitteldeutscher Fürstenhäuser im 17. und 18. Jahrhundert, in: Becker/von Dorn (Hg.), Politik, 17–34, bes. 28f. Lebenslauf und Handlungsspielräume von Christian Ernsts zweiter Frau, der württembergischen Prinzessin Sophia Louise, werden erstmals eingehend in einer von Andrea Herold-Sievert 2016 an der Universität Bamberg vorgelegten Masterarbeit untersucht. 26 Anne Kuhlmann-Smirnov, Schwarze Europäer im Alten Reich. Handel, Migration, Hof, Göttingen 2013, 191.

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der Grand Tour 27 –, andererseits bildeten „Exoten“ und Exotica an den Höfen besondere Attraktionen. 28 Freilich handelte es sich dabei nur um einzelne Fremde, die innerhalb des Hofstaats eine kleine Minderheit bildeten. Dadurch entstand für die anderen Hofangehörigen kein Gefühl der Bedrohung, sondern – im Gegenteil – eines der Dominanz über das Fremde bzw. die Fremden. 29 Diese Begegnungen waren indessen keine Einbahnstraße, sondern öffneten kulturelle Zwischenräume. Die Konfrontation mit dem Fremden schuf auch in Bayreuth einen Dialograum und gab Impulse, die zu Veränderungen der beteiligten Akteure führen konnten. 30 Die Präsenz des „Exoten“ am Hof, an dem die interkulturelle Kontaktaufnahme stattfand, wirkte nicht nur auf den Fremden, sondern strahlte auch auf die Hofgesellschaft aus. Sie ließ durch Jussuph (aber nicht nur durch ihn) am Hof einen Dritten Raum entstehen. Am Bayreuther Hof scheint das Interesse an Menschen exotischer Herkunft während der Regierungszeit von Markgraf Christian Ernst besonders ausgeprägt gewesen zu sein. Dies hatte zum einen mit seinen reichsfürstlichen Ambitionen und militärischen Engagements zu tun. Die Präsenz mehrerer „Mohren“ und „Türken“ an seinem Hof unterstrich nicht nur seine weiträumigen Beziehungen 31, sondern 27 Antje Stannek, Telemachs Brüder. Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts, Frankfurt/New York 2001; Mathis Leibetseder, Die Kavalierstour. Adelige Erziehungsreisen im 17. und 18. Jahrhundert, Köln u. a. 2004. 28 Vgl. neben Kuhlmann-Smirnov, Schwarze Europäer, Mark Häberlein, „Mohren“, ständische Gesellschaft und atlantische Welt. Minderheiten und Kulturkontakte in der frühen Neuzeit, in: Claudia Schnurmann/Hartmut Lehmann (Hg.), Atlantic Understandings: Essays on European and American History in Honor of Hermann Wellenreuther, Hamburg/Münster 2006, 77–102; Dominik Collet, Die Welt in der Stube. Begegnungen mit Außereuropa in Kunstkammern der Frühen Neuzeit, Göttingen 2007. 29 Vgl. Friedrich, ‚Türken‘ im Alten Reich, 345, 351. 30 Babka/Posselt, Einleitung, 11f. 31 Eine Schwester von Markgraf Christian Ernsts zweiter Frau Sophia Louise von Württemberg, Christiane Charlotte, war mit dem regierenden Grafen von Ostfriesland verheiratet, und über Aurich wurden wiederholt junge „Mohren“ an den markgräflichen Hof vermittelt. Im Jahre 1668 wurde hier ein etwa 14-jähriges Mädchen „aus Afrika“ getauft, das über Kopenhagen und Dresden nach Franken gekommen war. Der Bayreuther Hofprediger und Generalsuperintendent Caspar von Lilien hielt bei diesem Anlass eine Taufpredigt, die auch im Druck erschien. Im Zuge der Vermählung Christian Ernsts mit Sophia Louise oder kurz danach kam der schwarze Pauker Eberhard Christoph von Stuttgart nach Bayreuth. Dort wirkte mit dem 1668 getauften Christian Ferdinand Mohr zeitweilig ein zweiter schwarzer Hofpauker. 1682 wurde eine „Mohrin“ aus Aurich nach Bayreuth geschickt, die dort vermutlich jung starb, vgl. Kuhlmann-Smirnov, Schwarze Europäer im Alten Reich, 151f., 158–161. – In der Tafel- und Tischordnung des markgräflichen Hofs von 1708 sind ein „kl[einer] Mohr bey Ihro Hoheiten“ und ein „Cammer Türck“ aufgeführt: StABa, Markgraftum Brandenburg-Kulmbach-Bayreuth, Geheimes Archiv Bayreuth (GAB) Nr. 4552 (nicht foliiert). Eine Tafel- und Tischordnung vom 1. Januar 1712 nennt den „Cammerdiener Cassimir“, den „Cammer Mohr Malabar“, zwei „Cammer Türcken“ und den „Kleine[n] Mohr Christian“; StABa, Markgraftum BrandenburgKulmbach-Bayreuth, Geheimes Hausarchiv Plassenburg Nr. 4252 (nicht foliiert). Als der Hofstaat nach dem Tod Christian Ernsts im selben Jahr reorganisiert wurde, wurde Malabar – dessen Name auf eine Herkunft von der indischen Westküste hindeutet – übernommen,

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verkörperte auch ganz konkret seine Erfolge gegen die Osmanen, die zusätzlich durch das Reiterstandbild des sogenannten Markgrafenbrunnens glorifiziert wurden. Die Anwesenheit der „Mohren“ und „Türken“ wurde zum Medium der Selbstvergewisserung der eigenen Kultur und des Sieges über die Fremden, die man ihrem heimischen Kulturbereich entrissen, nach Mitteleuropa deportiert, verkauft bzw. verschenkt und durch die Bekehrung zum Christentum ‚befreit’ hatte. Zum anderen lechzte der frühneuzeitliche Hof nach Spannung und Zerstreuung; er erzeugte sie absichtlich durch den Import von Fremdem, um der potentiellen Langeweile in Form von Divertissements zu begegnen. 32 Umgekehrt bot der Hof auch dem Fremden die Möglichkeit, sich im Rahmen der bestehenden Ordnung, die selbstverständlich anzuerkennen war, zu entfalten und sich innerhalb des höfischen Netzwerks, dem er angehörte, zu entwickeln. In einer Formulierung Dietmar Rothermunds war Jussuphs Schlüssel zu eigener Handlungskompetenz die „Einsicht, dass die Machtmittel, die man hatte, einem nur dann zur Verfügung standen, wenn man in der Organisation, der man angehörte, verblieb“. 33 Der rechtliche Status von „Mohren“ und „Türken“ am Hof war ebenso ambivalent wie ihre soziale Stellung. Obwohl die Quellen keinen Zweifel daran lassen, dass sie zumeist als Gefangene bzw. durch Kauf oder Schenkung an die betreffenden Höfe kamen, was einen unfreien Status impliziert, wurden einige in „freien Künsten“ wie dem Trompeten- und Paukenspiel unterrichtet oder erfreuten sich der besonderen Zuneigung ihrer fürstlichen Herrinnen und Herren. Während manche von ihnen aus dem Hofstaat ausgemustert wurden, nachdem sie das Erwachsenenalter erreicht hatten und ihr exotischer Reiz sich abgenutzt hatte, erwarben andere im Laufe langjähriger Dienste eine besondere Vertrauensstellung. 34

während der „kleine Mohr“ Christian ausschied. Dem gestrafften Hofstaat seines Nachfolgers Georg Wilhelm gehörte ein „Kammermohr“ namens Max Emanuel an, der seinen Posten behielt, während der „Cammer-Mohr Friederich“, der zum Hofstaat von Georg Wilhelms Gattin zählte, „durch Erlernung einer Profession versorget werden“ sollte; StABa, Markgraftum Brandenburg-Kulmbach-Bayreuth, GAB Nr. 5686 (nicht foliiert). Zur Bedeutung der „Kammertürken“ im Kontext des höfischen Gabentauschsystems siehe Friedrich, ‚Türken‘ im Alten Reich, 343. 32 Das Konzept des Dritten sieht in ihm „eine soziale Figur, die zugleich stört und stabilisiert“: Thomas Bedorf, Stabilisierung und/oder Irritation. Voraussetzungen und Konsequenzen einer triadischen Sozialphilosophie, in: ders. et al. (Hg.), Theorien des Dritten. Innovationen in Soziologie und Sozialphilosophie, München 2010, 13–32, 26. 33 Rothermund, Organisierte Handlungskompetenz, 4. 34 Uta Küppers-Braun, Frauen des hohen Adels im kaiserlich-freiweltlichen Damenstift Essen (1605–1803). Eine verfassungs- und sozialgeschichtliche Studie, Münster 1997, 233f.; Monika Firla (Bearb.), Exotisch – höfisch – bürgerlich. Afrikaner in Württemberg vom 15. bis 19. Jahrhundert. Katalog zur Ausstellung des Hauptstaatsarchivs Stuttgart, Stuttgart 2001; Häberlein, „Mohren“; Kuhlmann-Smirnov, Schwarze Europäer.

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Markgrafenbrunnen Bayreuth (Quelle: Wikimedia Commons)

Wir verfügen zwar über keine genaueren Informationen, wie sich das Verhältnis zwischen Jussuph und der Markgräfin Sophia Louise gestaltete, doch ein Fall aus dem Jahre 1695, in dessen Mittelpunkt eine andere „Türkin“ am Bayreuther Hof stand, erlaubt zumindest vorsichtige Analogieschlüsse. Die Markgräfin beklagte sich in einem Schreiben an die Beamten ihres abwesenden Gatten, dass „eine vor einigen Jahren uns zugeeignete Türckin“, welche auf den christlichen Namen Christiane Sophie getauft worden und von ihr unterhalten worden sei, sich unerlaubt vom Hof entfernt habe. Dem Vernehmen nach sei sie vom Lakaien des Geheimratspräsidenten entführt worden und wolle diesen heiraten. Die Markgräfin ließ keinen Zweifel daran, dass sie sich durch das Verhalten ihres Schützlings nicht nur persönlich gekränkt fühlte, sondern die „Türkin“ auch als ihren Besitz betrachtete. Sie bezeichnete Christiane Sophie explizit als „Unsere Leibeigene“ und sogar

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als „Unsere Sclavin“ und setzte zahlreiche Hebel zur Ergreifung des flüchtigen Paares in Bewegung. 35 Dieser Fall zeigt, dass die christliche Taufe ein wichtiges Instrument der Integration in die höfische Gesellschaft war; er demonstriert aber auch, dass damit keineswegs zwangsläufig die persönliche Freiheit verbunden sein musste. 3. HANDLUNGSFREIHEIT DURCH UNTERWERFUNG? JUSSUPH ZWISCHEN GÖTTLICHER VORSEHUNG UND AGENCY 3.1 Die Taufe als Voraussetzung für eigenständiges Handeln Wie im Falle anderer „Mohren“ und „Türken“ am Bayreuther Hof wurde auch der Integration Jussuphs in die christliche Heilsgemeinschaft großer Wert beigemessen. Seine Lebensbeschreibung berichtet, dass er „einige Zeit lang in der christlichen Religion unterwiesen worden“ und Anfang April 1694 vom Hofprediger Johann Paul Astmann „in Gegenwart sämtlicher hohen Herrschaft“ in der Schlosskapelle getauft worden sei. 36 Mancherorts wurde anlässlich solcher Türkentaufen vom Täufling verlangt, dass er sich vor der Gemeinde rigoros von dem „verdamblichen greuel der Mahometischen Gotteslästerung“ lossagte und damit gleichsam einen Teil seiner bisherigen Persönlichkeit öffentlich verfluchte. 37 Diesen Identitätswechsel unterstrich der neue Name, der mit der Taufe verbunden war: Jussuph erhielt vom regierenden Markgrafen den ersten Vornamen Christian 38, der zu seinem Rufnamen wurde, behielt als zweiten Vornamen die christianisierte Form seines muslimischen Namens Jussuph, also Joseph, und bekam „von seinem ersten Herrn, der an Vatersstelle mit zugegen war, den Zunahmen Borgk/Burgk“. 39 Christian Joseph Burgk hielt sich in den folgenden Jahren am markgräflichen Hof auf „und wurde von der hochfürstl[ichen] Herrschaft mit vieler Gnade angesehn, auch dem leiblichen nach sehr wohl gehalten“. 40 Handlungen sind Rothermund zufolge dann am besten erklärbar, wenn sie sich aus ‚Sachzwängen‘ ableiten lassen, die die Handlungsspielräume der Akteure so

35 StABa, Markgraftum Brandenburg-Kulmbach-Bayreuth, Geheime Landesregierung Nr. 521 (unfoliiert). 36 Beyträge zu den Actis Historico-Ecclesiasticis 4, 629. 37 Hartmut Heller, Um 1700: Seltsame Dorfgenossen aus der Türkei. Minderheitenbeobachtungen in Franken, Kurbayern und Schwaben, in: Hermann Heidrich et al. (Hg.), Fremde auf dem Land, Bad Windsheim 2000, 13–44, 20. 38 Bei Türken- und Judentaufen begegnet überdurchschnittlich oft der Name Christian. Er sollte „das neue Treueverhältnis des Getauften zum Christengott“ augenfällig darstellen; Heller, Seltsame Dorfgenossen, 20; vgl. auch Friedrich, ‚Türken‘ im Alten Reich, 352–357, speziell 356f. 39 Heller sieht darin ein Adoptionsverhältnis; Heller, Seltsame Dorfgenossen, 20. 40 Beyträge zu den Actis Historico-Ecclesiasticis 4, 629.

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eingrenzen, dass ihnen letztlich nur eine Option bleibt. Wenngleich man damit Gefahr läuft, wieder bei dem Determinismus anzulangen, dem man durch die Zuschreibung von Handlungskompetenz entrinnen will, begegnet uns in Jussuphs Taufe zweifellos ein solcher Zwang: Sie stellte praktisch die einzige Option für ihn dar. 41 Hartmut Heller bezeichnet die Taufe von Beutetürken als „Lebenswende, deren Tragweite man kaum überschätzen kann“. 42 Sie war nahezu obligatorisch und bildete den üblichen Abschluss der forcierten oder zumindest erwarteten Integration in die Gesellschaft durch Annahme des vorherrschenden Glaubens. Sie war der öffentliche Schritt in die ‚Mündigkeit‘ des Individuums durch Abstreifen seiner religiösen Vergangenheit. Auf den ersten Blick erscheint die obligatorische Taufe von Nichtchristen in Bezug auf deren Freiheit, speziell die Gewissensfreiheit des Individuums, somit eher als Einschränkung denn als Mittel zum Ausbau des eigenen Handlungsspielraums. Sie eröffnete ihrem Protagonisten jedoch in einem zweiten Schritt ganz neue Möglichkeiten. 43 Diese offenbaren sich bereits in der materiellen wie immateriellen Ausstattung des Taufkandidaten: Prominente Taufpaten, in Jussuphs Fall der Markgraf selbst, gewährleisteten eine solide ökonomische Basis in der Ankunftsgesellschaft. Die Taufe war somit nicht nur Zwang, sondern gleichzeitig Befreiung: Sie eröffnete dem Täufling durch materielle Zuwendungen, den Zugang zu Bildung und soziale Kontakte Möglichkeiten, die sogar über diejenigen der meisten Menschen in seiner neuen Umgebung hinausgingen. Dass eine Taufe grundsätzlich attraktiv für „Beutetürken“ war, zeigt die Tatsache, dass diesbezüglich etliche Betrugsfälle belegt sind: Findige Zeitgenossen nutzten das hohe Prestige und die materielle Unterstützung, ließen sich an unterschiedlichen Orten gleich mehrfach taufen und genossen auf diese Weise monatelang kostenlose Unterkunft sowie die Sach- und Geldgeschenke, mit denen Paten und Gemeinden einen solchen Täufling zu bedenken pflegten. 44 Die Taufe durch den Hofprediger Johann Paul Astmann (1660–1699) markierte nicht nur Jussuphs Aufnahme in die christliche Gemeinschaft als Christian Joseph Burgk, sie brachte ihn auch mit einem bekannten Vertreter des Pietismus in Kontakt. Nach seinem Wechsel von Bayreuth nach Berlin im Jahre 1695 wirkte Astmann dort in seiner Funktion als Archidiakon von St. Nikolai „im Geist seiner beiden Amtsbrüder“ Philipp Jakob Spener und Johann Kaspar Schade. 45 Möglicherweise war es Astmann, der das Markgrafenpaar bewog, Christian Joseph Burgk zur weiteren Erziehung in die (säkularisierte) Klosterschule Heilsbronn zu schicken „und ihn zum Dienst Gottes und des Nebenmenschen zu präpariren“. Diese Bemühungen zeitigten jedoch zunächst nicht den gewünschten Erfolg: 41 42 43 44 45

Vgl. Rothermund, Organisierte Handlungskompetenz, 1. Heller, Seltsame Dorfgenossen, 21. Vgl. Rothermund, Organisierte Handlungskompetenz, 2. Vgl. Heller, Seltsame Dorfgenossen, 21. Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (im Folgenden BBKL), Bd. 1, 2Hamm 1990, Sp. 257f.

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Weil es aber schiene, als wenn er in Studiis nicht genug zunähme, so wurde er hierauf etliche Jahre zur Schreiberey angehalten, befand sich aber in solchen äuserlichen Umständen, daß er, seinem eigenen Bekenntnis nach, keine Ruhe in seinem Gewissen hatte, bis es endlich GOtt fügte, daß man ihn, mit einer Recommendation und jährlich zu seinem Unterhalt destinirten Stipendio, an die Herren Professores nach Halle schikte. 46

Dass Christian Joseph Burgk damals bereits vom Pietismus beeinflusst war und sich bewusst für Halle als Studienort entschied, geht aus einem Empfehlungsschreiben an August Hermann Francke hervor, das Johann Heinrich Hassel (1640–1706) 47 im Oktober 1704 für ihn verfasste. Hassel, der zeitweilig in Bayreuth gewirkt hatte, war als Hofprediger in Coburg aufgrund seiner pietistischen Bestrebungen mit dem regierenden Herzog in Konflikt geraten und befand sich zum Zeitpunkt der Abfassung des Empfehlungsschreibens in Haft. Wie Hassels Brief an Francke zeigt, hatte ihn Burgk, dem er „eine grosse Begierde (…), sich nach Halle zubegeben“ bescheinigte, offenbar trotz anfänglich abschlägiger Antwort vehement zur Abfassung des Briefes gedrängt. In seinem Schreiben manifestieren sich zudem die anhaltend engen Bindungen an den Bayreuther Hof, von dem der getaufte Orientale mehrfach finanzielle Zuwendungen erhielt. 48

46 Beyträge zu den Actis Historico-Ecclesiasticis 4, 629f. 47 Zu ihm Volker Wappmann, Pietismus und Politik. Zur Biographie von Johann Heinrich Hassel (1640–1706), in: Zeitschrift für Bayerische Kirchengeschichte 67/1998, 27–59. 48 AFSt/H C 70: 7: „Fürzeiger dieses [Schreibens], Christian Joseph Borck, ein gebohrner Türck, welcher in dem letzten Türckenkrieg, als ein Kind gefangen, nach Bayreuth geführet, und daselbst von der verstorbenen Frauen MarckGräfin, nach Ihrer art erzogen worden, hat eine grosse begierde bekommen, sich nach Halle zubegeben, umb daselbst nicht nur zu guten Wissenschaften, sondern fürnehmlich zum lebendigen erkentnüß Gottes sich anführen zulassen, auch zu dem ende unabläßlich anhallten wollen, meinem außerwehlt[en] Brudern ihn zu recommendiren, ungeachtet ihm gnugsam remonstriret worden, wie solches, w[e]ill er mir unbekannt, zuthun unmöglich sey. Gott wird bald zeigen, waß bey ihm zuthun. Nachrichtlich eröffne nur dieses, das er jährlich 50 fl: Fränckisch von dem Herrn MarckGrafen zugeniessen hat, und verhoffet er daneben noch von einigen wohlgesinneten Persohnen zu Beyreuth eine beyhülffe zubekommen. Gott gebe daß des Menschens sein fürsatz nicht etwas flüchtiges, sondern beständiges sein oder werden möge. Wie es denn für gar waß sonderliches erkennen würde, wenn die Gnade ihn ergreiffen sollte.“

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3.2 Im Banne des Halleschen Pietismus Als Christian Joseph Burgk nach Halle ging, entfaltete August Hermann Francke (1663–1727) dort als Theologe, Pädagoge und Organisator große Ausstrahlung. Das 1698 von ihm gegründete Waisenhaus entwickelte sich binnen kurzer Zeit zum Zentrum einer regelrechten Schulstadt, an die sich mehrere höhere Bildungseinrichtungen, eine Druckerei, eine Buchhandlung, eine Apotheke und weitere Wirtschaftsbetriebe anlagerten. 49

August Hermann Francke, Kupferstich um 1800. Porträtsammlung der Frankeschen Stiftungen Halle, P 430.

In Burgks Lebensbeschreibung heißt es, dass er „auf Einrathen des sel[igen] Professor Frankens, seine Studia in dem Waysenhause ganz von forn wieder anfieng, und darinne nach und nach so zunahm, daß er 1707 den 1 Nov. unter Hrn. D. Breithaupt, als damaligen Decano, in numerum studiosorum aufgenommen wurde“. 50 49 Vgl. die Beiträge in Holger Zaunstöck et al. (Hg.), Die Welt verändern. August Hermann Francke – ein Lebenswerk um 1700, Halle/Saale 2013. Speziell zu Franckes Erziehungskonzept siehe Marcel Nieden, Pastorale Pädagogik. August Hermann Francke erzieht die Kinder, in: Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hg.), Denkwelten um 1700. Zehn intellektuelle Profile. Köln/Weimar/Wien 2002, 103–122. 50 Beyträge zu den Actis Historico-Ecclesiasticis 4, 630.

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Tatsächlich aber wurde er – wie das entsprechende Schüleralbum zeigt – nicht in das Waisenhaus, sondern in die Lateinschule aufgenommen. Als Eintrittsdatum wurde der 11. November 1704, als Alter 19 Jahre angegeben; wahrscheinlich war er wohl schon etwas älter. Es wurde auch nicht versäumt, darauf hinzuweisen, dass er „ein Türck“ war. Außerdem vermerkt das Schüleralbum: „Discessit sine venia non quidem ex malitia sed ob iter valetudinis ergo susceptu[m], factus vero e[t] alumnus Gymnasii Gothani. 1706 mense iun. ad frugem redibat.“ 51 Bei den insgesamt 71 Schülern, die 1704 in die Lateinschule aufgenommen wurden, handelte es sich zumeist um Söhne von Kaufleuten, Handwerkern, Pastoren und Beamten; es finden sich aber auch Tagelöhnersöhne, ein Scharfrichter-, ein Totengräber- und ein Bauernsohn. Burgks Mitschüler waren bei ihrer Aufnahme zwischen sieben und 18 Jahren alt; 52 er unterschied sich von ihnen nicht nur durch sein relativ hohes Alter, sondern auch durch seine „exotische“ Herkunft. Die meisten Schüler stammten aus dem mitteldeutschen Raum. Isaac Adami aus „Moscovia“, der im Mai 1702 als Sechzehnjähriger aufgenommen worden war, hatte die Schule bereits im April 1704 wieder verlassen. 53 Die Matrikel der Universität Halle verzeichnet die Einschreibung von Christian Joseph „Borck“ aus „Schafkapalanka nativitate Turca“ als Student der Theologie zum 4. November 1707 und seine Exmatrikulation zum 23. Juli 1710.54 Während seiner Studienzeit hörte er der Lebensbeschreibung zufolge bei Herrn Abt Breithaupt die Glaubenslehren 3mal durch, bey Hrn. D. Anton ein Collegium exegeticum in Nov[um] Testamentum, bey Hrn. Prof. Franken eine allgemeine Einleitung in die Propheten, und bey Hrn. D. Langen ein Exegeticum über die Briefe Pauli nebst noch andern Collegiis mehr, die der Selige aus Bescheidenheit in seiner Nachricht verschwiegen. 55

Umso bemerkenswerter ist, dass es sich bei den theologischen Lehrern, die Burgk respektive sein Biograph für erwähnenswert hielten, allesamt um prominente Pietisten handelte. 56 Joachim Justus Breithaupt (1658–1732), der vor seiner Berufung nach Halle in Kiel, Meiningen und Erfurt gewirkt hatte, zählt neben Francke zu den Gründergestalten des Halleschen Pietismus. 57 Der 1695 nach Halle berufene Paul Anton (1661–1730) war ein enger Freund Franckes, dessen moralische und religiöse Ansichten er weitgehend teilte, und hielt wie dieser „den Bußkampf für eine notwendige Vorbedingung der Bekehrung“. In seinen Schriften bezog er gegen den 51 52 53 54

AFSt/Schularchiv L 1, 149, Nr. 201. Ebd., 133–149, Nr. 138–208. Ebd., 127, Nr. 67. Matrikel der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1 (1690–1730), bearb. von Fritz Juntke, Halle 1960, 44. 55 Beyträge zu den Actis Historico-Ecclesiasticis 4, 630. 56 Zur Universität Halle als pietistischem Zentrum siehe Martin Brecht, Pfarrer und Theologen, in: Hartmut Lehmann (Hg.), Handbuch der Geschichte des Pietismus 4: Glaubenswelt und Lebenswelten, Göttingen 2004, 211–226, v.a. 217–219. 57 Wilhelm Schrader, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle. Erster Theil, Berlin 1894, 47f., 132; Kurt Aland, Breithaupt, Joachim Justus, in: Neue Deutsche Biographie 2/1955, 576; BBKL, Bd. 1, 739f.

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theologischen Rationalismus Position.58 Joachim Lange, seit 1709 ordentlicher Professor an der Theologischen Fakultät der Universität Halle und Verfasser eines weit verbreiteten lateinischen Lehrbuchs für angehende Theologiestudenten, gehörte zu den entschiedensten und streitbarsten Parteigängern August Hermann Franckes. Sein zweibändiges Hauptwerk „Antibarbarus orthodoxiae sive Systema dogmaticum evangelicorum et controversarium“ von 1709 beinhaltete eine scharfe Polemik gegen die lutherische Orthodoxie.59 Halle war aber nicht nur der Studienort Christian Joseph Burgks, sondern auch der Ort, an dem er das Bekehrungserlebnis erfuhr, das in keinem pietistischen Lebenslauf fehlen durfte. Diesem Bekehrungserlebnis ging ein Bußkampf voraus, in dem sich der Gläubige seiner eigenen Sündhaftigkeit schmerzhaft bewusst wurde und sich ganz in die Gnade Gottes begab, um schließlich aus allen Anfechtungen seines Herzens als neuer Mensch hervorzugehen. In Burgks Lebensbeschreibung wird dieses Schlüsselerlebnis folgendermaßen geschildert: Und dies war der Ort und die Gelegenheit, dadurch der HErr/ wie der Selige oft gegen seine Freunde mit demüthigem Dank gegen den lieben GOtt bekant, seine Seele aus der Gewalt des Satans zu GOtt, und aus der Finsternis zum Licht bekehrte, und von der blasen äuserlichen Bekentnis der christlichen Religion zur seligen Erkentnis und Gefühl der göttlichen Warheiten brachte. Hier war aber auch der erste Kampfplaz, wo sein in die Seele gelegter lebendiger Glaube gegen manche auf ihn zudringende in- und äuserlichen Leiden und Anfechtungen sich rechtschaffen und tapfer erweisen sollte, inmassen er daselbst in solche Beängstigungen hineingeführet zu seyn erzehlte, daß er sich fast nicht zu lassen gewußt. Daher er auch einsmals in Betrachtung der hohen Wichtigkeit des Lehr- und Predigtamts, von dem Studio Theologico absetzen / und der Arneykunst sich ergeben wollen: aus welchen Kümmernissen er aber nächst GOtt durch das eifrige Gebet, und den väterlichen Rath Hrn. Professor Frankens, dem er sich hierinnen vornemlich vertraute, ist herausgerissen worden. 60

Der Charakter dieser Bekehrung als innere und äußere Prüfung wird hier ebenso betont wie die Mentorenrolle, die August Hermann Francke für ihn übernahm. An Burgks siebenjährige Schul- und Studienzeit in Halle schloss sich noch ein Jahr in Gotha an, wo er „bey dem Hrn. Vockerodt 61 sich im lateinischen Stylo fester zu setzen“ bemühte. Nach seiner Rückkehr nach Bayreuth „muste er in der Schloßcapelle, wo er ehemals getauft worden, eine Predigt ablegen“. Die folgenden fünf Jahre in der markgräflichen Residenzstadt brachte er „mit Information 62 und Erziehung einiger Kinder, nicht ohne Segen, auch an erwachsenen Personen, zu“. In dieser Zeit wurde er, wie es in der Lebensbeschreibung heißt, „gewönlicher masen von einem hochfürstlichen Consistorio examinirt, und endlich 1717 den 24 Febr[uar] zum Pastor nach Hagenbüchach vociret und ordiniret“. 63 58 Schrader, Geschichte, 50f. Vgl. Friedrich Wilhelm Hopf, Anton, Paul, in: Neue Deutsche Biographie 1/1953, 319f.; BBKL, Bd. 1, 590. 59 Schrader, Geschichte, 110, 132–134; BBKL, Bd. 4, Herzberg 1992, 1097–1104. 60 Beyträge zu den Actis Historico-Ecclesiasticis 4, 630f. 61 Der Pädagoge Gottfried Vockerodt (1665–1727). 62 Unterricht. 63 Beyträge zu den Actis Historico-Ecclesiasticis 4, 631.

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Erwähnungen Christian Joseph Burgks in den Tagebüchern August Hermann Franckes 31. Januar 1714 8. Juli 1716 23. Juli 1716 17. August 1716 1. Juni 1717 28. Juni 1717 11. August 1717 selber Tag 27. Oktober 1724

Geschrieben an Herrn Burgk, nach Bareüth 64 Herr Johann Conrad Revelman […] hat von Gotha aus geschrieben, wie auch Herr Burgk von Bareuth, nebst Einlagen mit Geld an Herrn Schobern u. Herrn Thilo. 65 An Herr Burgken ist geschrieben […] 66 It[em] an Herrn Burgk von Bareuth wegen des st[udiosi] Schubert von Münchberg 67 [Brief Franckes an] Herr Burgk von Beyreuth 68 It[em] einen Brief von Herrn Burgk zu Bareuth durch einen novitium Herrn Rudolf. 69 Einen Brief empfangen von Herrn Burgk mit 20 fl für den St[udiosus] Schlötzer, deßen qvitung hiebey lieget. 70 Durch Herrn Milden Herrn Burgk geantwortet. 71 Brief von Christ J. Burgk, Rüdißbronn. 72

Aus den Tagebuchnotizen August Hermann Franckes wissen wir, dass er zwischen 1714 und 1724 mit Burgk korrespondierte (vgl. Tabelle). Leider hat sich nur ein Brief Christian Joseph Burgks an Francke aus dieser Zeit erhalten, doch dieses Schreiben vom Mai 1717 zeigt deutlich, dass dieser seine lange Wartezeit auf eine eigene Pfarrstelle als Zeit neuerlicher Prüfungen und Anfechtungen empfand. Francke wisse, schrieb Burgk, „wie man mit denen geistlichen Diensten gantz unverantwortl[ich] jetzo umgehet, und zumahl hier, wann sie merken, daß man in Halle hat studieret.“ Nachdem er einige Jahre von seinem Stipendium gelebt habe, 64 [letzter Zugriff am…]. Das Tagebuch des Jahres 1714 ist auch im Druck erschienen: Veronika Albrecht Birkner, Udo Sträter (Hgg.), August Hermann Francke. Tagebuch 1714, Halle 2014, hier S. 41. 65 [letzter Zugriff am 18.08.2017]. 66 [letzter Zugriff am 18.08.2017]. 67 [letzter Zugriff am 18.08.2017]. 68 [letzter Zugriff am 18.08.2017]. 69 [letzter Zugriff am 18.08.2017]. 70 [letzter Zugriff am 18.08.2017]. 71 [letzter Zugriff am 18.08.2017]. 72 [letzter Zugriff am 18.08.2017].

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habe die Markgräfin mit ihrem Gatten über seine weitere Verwendung gesprochen, der ihm die Stelle des Subdiakons in Neustadt an der Aisch zugewiesen habe. Dafür sei der Geheimsekretär verantwortlich, der dem Markgrafen eingeredet habe, wann Er mich nicht an einen orth hinsetzte, daß man mir immer auf den dach wäre, so könte viele Erneuerungen in der Kirch zum grösten Unheil anstellen, wie es auch hier schon gethan hätte, da viele zu mir von denen gemeinen Leuten wären kommen, und wunderl[iche] principia beygebracht. Dieses letzte hat er damit verknüpfft, als wann das hochlöbl[iche] Consistorium in eben der großen Besorgung wäre, solcher gestalt könte der Kirchen Rath H[err] Räthel in der Neustadt mir gewachsen seyn. 73

Offenbar galt Christian Joseph Burgk in Bayreuth also als verdächtiger Pietist und sollte deswegen sein geistliches Amt unter Aufsicht antreten. Burgks Bitte um eine Adjunktenstelle wurde hingegen vom Markgrafen ausgeschlagen. Bei dem hier erwähnten Markgrafenpaar handelte es sich bereits um den Nachfolger seines Patrons und Taufpaten und dessen Gattin, denn Christian Ernst war 1712 und seine Frau Sophia Louise bereits 1702 gestorben. Der Neuem gegenüber grundsätzlich aufgeschlossene Dritte Raum, den der Bayreuther Hof unter ihnen verkörpert hatte, war unter dem Nachfolger, Markgraf Georg Wilhelm, der grundlegend andere Interessen als sein Vater pflegte, offenbar weitgehend verschwunden. 74 Beim Tod eines Herrschers änderte sich die personelle Zusammensetzung des Hofes bzw. des Hofstaats, der auf seine Person konzentriert war, unter Umständen erheblich; im Extremfall kam es zum völligen personellen Austausch. 75 Diese Wandelbarkeit des Hofes durch den Zuschnitt auf ein Zentrum war Burgk zum Verhängnis geworden, als sich der Hof nach dem Tod Christian Ernsts veränderte und sich der Dritte Raum, „die produktive Kontaktsphäre zwischen den Kulturen“ 76, auflöste. Wie Burgk an Francke schrieb, bereitete ihm die Aussicht auf eine neue Aufgabe in einem dem Pietismus gegenüber feindlich eingestellten Umfeld beträchtliches Unbehagen: Ach mein Liebster HErr Professor, was habe ich schon vor Angst ausgestanden, vor achten tagen, wie dieses erfahren, bin in solchen Kampff gerathen, daß biß um 8 Uhr auf den Abend nichts eßen konte, denn es war mir nichts anderst in meinen Gewißen, o wann du doch deine Noth nicht geklaget hättest, es war ja noch nicht die höchste extremitaet! Auf diese Stunde kommen allerley Versuchungen über mich, erschreckl[iche] Angst des Beichtstuhls und Abendmahl, denn keinen so gottes vergeßenen Mann und Feind aller rechtschaffenen Seelen hat der H[err] Marggraf in seinen gantzen Land, als wie diesen Räthel, den Gott doch so hefftig wegen Verfolgung der Frommen gezüchtiget, daß aber so bald derselbe genoß, er Gott gleich

73 AFSt/H C 548: 1, Christian Joseph Burgk an August Hermann Francke, Bayreuth, 29. Mai 1717. 74 Bernd Mayer, Kleine Bayreuther Stadtgeschichte, Regensburg 2010, S. 48. 75 Dies betraf auch die am Hof lebenden „Kammermohren“ und „Kammertürken“. Vgl. Anm. 31 oben. 76 Doris Bachmann-Medick, Dritter Raum. Annäherungen an ein Medium kultureller Übersetzung und Kartierung, in: Claudia Breger/Tobias Döring (Hg.), Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume, Amsterdam/Atlanta 1998, 19–36, 20.

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vergaß. Den seel[igen] H[errn] Haßeldt hat er in Bayreuth aufs hefftigste mit verfolgen helfen, die Gemeine in Neustadt ist so verderbt, daß keine Salbe fast mehr ist, die Sie und ihren Kirchen Rath den Räthel heilen könte. Mein allerliebster HErr Professor Sie wißen meine Profectus, meinen Zustandt innerl[ich] und äußerl[ich], darum rathen Sie mir nach Gottes Willen und Gefälligkeit des Allerhöchsten, was ich machen soll, […]. Ob dem allen hilfft keine demonstration bey dem H[errn] Marggrafen, mit nächsten wollen sie mich ad examen vociren. Mein allerliebster HErr Professor, Sie tragen mein Elend, Angst und Seelen-Noth Gott vor, und antworten mir auß Liebe bald darauf, Gottes Barmhertzigkeit ergreife uns um Christi Blut willen amen! 77

3.3 Christian Joseph Burgk als Pfarrer in Hagenbüchach und Rüdisbronn Mit den beiden Pfarreien, die man Burgk letztlich zuwies, hatte man ihn in die Provinz und damit weitgehend in die (kirchen)politische Bedeutungslosigkeit verbannt. Dennoch resignierte er nicht, sondern versuchte sein Amt auch unter diesen erschwerten Bedingungen auszufüllen und seinen Handlungsspielraum bestmöglich zu nutzen. In den zwei Dorfgemeinden, in denen Christian Joseph Burgk wirkte, war er bekannt als strenger Pfarrer, der seine Gemeindeglieder dazu anhielt, ihre Söhne und Töchter öfter in die Christenlehre zu schicken, selbst regelmäßiger den Gottesdienst zu besuchen als bisher, inbrünstiger zu beten und häufiger zum Abendmahl zu gehen. 78 Seine über die dörflichen Grenzen hinaus reichenden Handlungsmöglichkeiten waren freilich beschränkt: Man schien den zum Christentum konvertierten Muslim, der sich im Zuge seiner theologischen Studien und in persönlichem Kontakt mit August Hermann Francke zum eifrigen Pietisten entwickelt hatte – und somit eine wesentlich intensivere Religiosität pflegte als die meisten seiner Mitchristen und viele seiner Amtsbrüder – in die Provinz abgeschoben zu haben, um seine steten Mahnungen an das eigene Gewissen und seine Appelle zur Stärkung des Glaubens von sich fern zu halten. Die Auseinandersetzungen mit Vertretern der lutherischen Orthodoxie waren aber auch in der mittelfränkischen Provinz noch nicht zu Ende und verfolgten Burgk bis in sein Privatleben. Nach den früh verstorbenen Töchtern Maria Magdalena (1722), Margaretha Christiana (1723) und Susanna Epha (1725) erwartete seine Ehefrau 1726 eine weitere Tochter, die allerdings als Totgeburt zur Welt kam. Anlässlich dieses Trauerfalles notierte Burgk in die Sterbematrikel seiner Pfarrei folgende aufschlussreiche Zeilen:

77 AFSt/H C 548: 1, Christian Joseph Burgk an August Hermann Francke, Bayreuth, 29. Mai 1717. 78 Vgl. Heller, Seltsame Dorfgenossen, 22.

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Andreas Flurschütz da Cruz/Mark Häberlein [B]ey diesen lieben Hauß-Creutz haben meine Feinde gelästert; was doch mein beten helfe, ich müste dem Creutz u. fle[he]n unterworffen seyn, wie andere sündige Menschen. Ich aber antworte solchen fleischl[ichen] Leuten, was Hiob in glauben gesagt hat cap. 2. 10. 79 ob ich mich zwar diesen Creutz-träger nicht in geringsten gleich schätze. 80

Die Angriffe seiner Kontrahenten und deren Kritik an seiner intensiven Frömmigkeit machten also sogar vor solchen familiären Schicksalsschlägen nicht Halt. Aus seinem letzten Lebensjahrzehnt sind keine Nachrichten mehr von Burgks Wirken überliefert, was auch mit einer langwierigen Krankheit zusammenhängen mag. Als er 1735 im Alter von circa 53 Jahren starb, lobten seine Amtskollegen und -vorgesetzten ihren exzeptionellen Glaubensbruder jedenfalls in den höchsten Tönen, verschwiegen aber auch den Gegenwind nicht, dem er zeit seines Lebens ausgesetzt gewesen war. So endet der Sterbeeintrag im Kirchenbuch mit der Bemerkung, er habe „sein H[eiliges] amt mit sonderbaren Eiffer, bey vielen Widerstand in die 15. Jahre gefuhret“, und mit dem frommen Wunsch, Gott wolle Christian Joseph Burgk „die Angst seiner Seelen, und de[n] Kummer über sein Volck“ lindern, „der Verwaisten Gemeinde aber wieder einen Hirten nach seinem Herzen schenken, und d[as] Wort des Evangelii so dieser bekehrte Türke gepredigt in den Herzen aller seiner Zuhörer bleiben und reiche Frucht schaffen laßen auf der Ewigkeit“. 81 Sein Vorgesetzter, Dekan Johann Christian Lerche, würdigte den Amtsbruder in einem Zirkularschreiben an die Kollegen abschließend mit folgenden Worten, wobei sowohl das göttliche Wirken im Leben Christian Joseph Burgks als auch sein engagierter Einsatz für die von ihm vertretene Sache zum Ausdruck kommen: Wir verliehren an Ihn einen Mann, der nicht allein wegen seiner leiblichen Geburt, Herkunft u. übrigen wunderbaren Führung, die Gott mit Ihm vorgenommen, eine besondere Attention verdienet hat, sondern der auch mit Lehr und Leben vor die Ehre Gottes, u. vor das Heil der Ihm anvertraut gewesenen Seelen geeiffert, Eiffer und Kummer zum Theil auch aufgerieben und gefreßen hat. 82

4. FAZIT OSMANE, LUTHERISCHER GEISTLICHER, PIETIST JUSSUPH ALIAS CHRISTIAN JOSEPH BURGK ZWISCHEN WECHSELNDEN FRONTEN Wer war nun dieser Jussuph alias Christian Joseph Burgk? Am Bayreuther Hof und in Halle stand stets seine türkische Herkunft, wegen der er ja auch ins Reich geholt worden war, im Zentrum der Wahrnehmung. Später dominiert seine pietistische

79 Hiob 2, 10: Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen? 80 Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (im Folgenden LKA Bayern), Pfarrei Rüdisbronn, K 4, Bestattungen 1726/7, fol. 69v. 81 LKA Bayern, Pfarrei Rüdisbronn, K 4, Bestattungen 1735/2, fol. 99v–100r. 82 LKA Bayern, Akten der Superintendentur Neustadt an der Aisch, Nr. 17: Circulare des Dekans und Superintendenten Johann Christian Lerche, 23.8.1735.

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Orientierung die Nachrichten über ihn; seine Herkunft rückte hingegen in den Hintergrund. Sie wurde interessanterweise auch nie gegen ihn ins Feld geführt, nicht einmal von seinen ärgsten Feinden: Mit der Taufe scheint seine muslimische Vergangenheit für seine Anhänger wie für seine Gegner ein- für allemal abgewaschen worden zu sein. Die Quellen vermitteln jedenfalls den Eindruck, dass Burgk seine neue Identität nicht nur zum Schein annahm, sondern sie überzeugt und überzeugend lebte – teilweise überzeugender als seine einheimischen Glaubensgenossen. 83 Mit seinem Glaubenswechsel und abermals mit seiner Hinwendung zur Frömmigkeitsbewegung des Pietismus änderten sich seine Handlungsoptionen im Laufe seines Lebens gleich mehrmals. Während sich nach der Deportations- und Konversionsphase mit dem Höhepunkt der Taufe eine enorme Ausweitung seines Handlungsradius verband, schränkte die Abkehr vom orthodoxen Mainstream zugunsten eines verinnerlichten Pietismus bei gleichzeitigem Wegfall seiner Patrone und Mäzene in Bayreuth, die am dortigen Hof ein weltläufiges Klima pflegten und gleichsam einen Dritten Raum für ihn und weitere „Exoten“ aufgespannt hatten, seine agency erneut ein. Die Integration und Assimilation in die christliche Gesellschaft in Form seiner Taufe erkannte Jussuph als notwendig und faktisch alternativlos an. Sein junges Alter zum Zeitpunkt seiner Zwangsmigration und die kontinuierliche, intensive Indoktrination mit der neuen Glaubenslehre, die später exzeptionelle Früchte trug, scheinen ihr Übriges dazu beigetragen zu haben. Sein Handlungspotential als „Exot“ scheint er durchaus erkannt zu haben und wusste es zur Mobilisierung finanzieller und ideeller Förderung zu nutzen. Durch Spracherwerb, Taufe und Namenswechsel, Berufswahl, soziale Kontakte, Heirat und Familiengründung war aus einem „Beutetürken“ ein gleichwertiger Mitchrist geworden, dem schließlich sogar die Leitung zweier lutherischer Gemeinden aufgetragen wurde. Selbstverständlich war auch Christian Joseph Burgks agency abhängig von Patronen, Mäzenen und Gleichgesinnten. Als sich dieses Netzwerk auflöste, fielen auch die erworbenen Handlungsspielräume weitgehend weg. Dadurch, dass er gleichzeitig mit dem Wegbrechen seiner einstigen Förderer die internalisierten religiösen Grundsätze mit seiner Hinwendung zum Pietismus ins Extreme trieb, bildeten sich letztlich neue Fronten heraus. Die Abhängigkeit vom bzw. die Unterordnung unter den Willen Gottes, von der die in den Acta Ecclesiastica entworfene Biographie Jussuphs alias Christian Joseph Burgks ausgeht und dominiert wird, widerspricht seiner selbstbestimmten Aktivität letztlich nur auf den ersten Blick: Der im Großen und Ganzen erfolgreiche kulturelle Grenzgänger 84 war ein geschickter Spieler auf der Klaviatur, welche sein 83 Vgl. Friedrich, ‚Türken‘ im Alten Reich, 348. 84 Aus der mittlerweile recht umfangreichen Literatur zu diesem Phänomen vgl. exemplarisch Natalie Zemon Davis, Leo Africanus. Ein Reisender zwischen Orient und Okzident, Berlin 2008; Jon Sensbach, Rebecca’s Revival. Creating Black Christianity in the Atlantic World, Cambridge (Mass.) 2006; Sanjay Subrahmanyam, Three Ways to be Alien: Travails and Encounters in the Early Modern World, Boston 2011.

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Umfeld ihm als „Exoten“ bot, und wusste das „Spannungsverhältnis zwischen Offenheit und Beschränkung“ in sich zu versöhnen. 85 So gelang es ihm, sich aus seiner vermeintlichen Abhängigkeit zu lösen und sich mittels Bildung, Netzwerken und Ämtern ungewöhnliche Handlungskompetenz zu erschließen, diese auszureizen und eine außergewöhnliche, selbstbestimmte Karriere zu verwirklichen, die den meisten seiner christlichen wie seiner ursprünglichen muslimischen Zeit- und Glaubensgenossen verwehrt blieb.

85 Rothermund, Organisierte Handlungskompetenz, 1f.

MISSION UND KULTURELLER AUSTAUSCH IN AFRIKA Christoph Marx Eine nennenswerte katholische Mission kam in Afrika während der frühen Neuzeit nur im Königreich Kongo, das im Norden des heutigen Angola lag, durch seine intensiven Kontakte zu den Portugiesen in Gang. Die Missionierung war deswegen erfolgreich, weil das Oberhaupt des Reiches, der Manikongo, sich in einem Konflikt mit der traditionellen religiösen und politischen Elite des Landes befand. Die Übernahme des Christentums verhalf Nzinga a Nkuwu zu einer Stärkung seiner eigenen Machtstellung, während der Einfluss der neuen Religion unter seinem Nachfolger Afonso I. (reg. 1509–1543) intensiviert wurde. Dieser betrachtete das Christentum weniger als Mittel zur Herrschaftslegitimation, sondern war von der neuen Religion so ergriffen, dass er die alten Kulte aktiv bekämpfte. Es ist bis heute nicht geklärt, ob das Kongokönigreich in den folgenden Jahrhunderten wirklich als christianisiert anzusehen war oder ob es sich um eine produktive Einpassung von christlichen Elementen in traditionelle Glaubenssysteme handelte. Nach dieser Episode brach die Missionstätigkeit ab, denn das afrikanische Hinterland erwies sich als unzugänglich, weshalb sich die europäischen Kenntnisse über den Nachbarkontinent für viele Jahrhunderte auf die Küsten beschränkten. Erst mit dem Ende des transatlantischen Sklavenhandels 1808 erwachte ein neues Interesse an Afrika, das missionarischer Eifer begleitete. Er kam diesmal von protestantischer Seite, christliche Werte der Gleichheit sowie die aufklärerischen Vorstellungen von der naturgegebenen Freiheit aller Menschen inspirierten die Kampagnen gegen die Sklaverei. Nach ihrem Sieg wandte sich die Aufmerksamkeit evangelischer Christen dem afrikanischen Kontinent zu, da das Ende des Sklavenhandels dort für Turbulenzen sorgte. Man wollte den afrikanischen Sklavenhändlern einen Anreiz bieten, auf andere Waren umzusteigen, den sogenannten „legitimen“ Handel. Doch reichten ökonomische Reformen nicht aus, sondern den Afrikanern sollten gänzlich neue Wege gewiesen werden, weshalb sich Missionsgesellschaften für die Region zu interessieren begannen. Die christliche Mission setzte wie die Erkundung des afrikanischen Kontinents jenseits seiner Küstengebiete erst mit dem 19. Jahrhundert wirklich ein, wobei es personelle Überschneidungen gab, etwa David Livingstone, der vom Missionar zum Afrikaforscher mutierte. In Westafrika war die Mission von Anbeginn mit der Antisklaverei-Bewegung verbunden, handelte es sich doch um die Region, aus der die Mehrzahl der Sklaven über den Atlantik verschleppt worden war. Tatsächlich sollten von Anbeginn ehemalige oder zurückgekehrte Sklaven eine prominente Rolle in der Missionstätigkeit spielen. So war es wenig erstaunlich, dass die ersten Missionare in Sierra Leone aktiv wurden, wo ehemalige Sklaven siedelten. Die Mission war mit christlicher

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Bildungsarbeit verbunden, da mit dem Fourah Bay College eine erste weiterführende Bildungseinrichtung etabliert wurde, die lange Zeit ein Anlaufpunkt für bildungsbeflissene Afrikaner aus dem ganzen anglophonen Westafrika wurde. Dadurch konnten sich über das College Netzwerke afrikanischer Christen entwickeln, die die kleinen Christengemeinden und westlichen Bildungseliten der verschiedenen kolonialen Enklaven an der Westküste in einen engeren Kommunikationszusammenhang brachten. Das Zentrum der Missionstätigkeit verschob sich später in den Raum des heutigen Nigeria. Seit Jahrhunderten hatten Kaufleute verschiedener europäischer Länder an der Küste feste Stützpunkte in den Hafenstädten aufgebaut. In diesen Enklaven ließen sich afrikanische Rückkehrer nieder, die bereits christianisiert waren und aus Amerika oder von aufgebrachten Sklavenschiffen befreit worden waren. In den frühen Jahren fand deren Kommunikation meist über das Meer statt, denn an der Oberguineaküste konnte man auf eine von Afrikanern betriebene Seefischerei und damit auf eine indigene Tradition der küstennahen Seefahrt zurückgreifen. Im Yorubagebiet im heutigen Nigeria war die Mission besonders erfolgreich, weil die Yoruba in Städten siedeln und sich das Christentum schneller ausbreitete. Wie vier Jahrhunderte zuvor im Kongo kam der Mission auch hier ein politischer Strukturwandel zugute, so dass ein neues Wertesystem eine Alternative zur Tradition bot. Das Yorubagebiet war im Großreich Oyo vereint gewesen, das sich Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend aufgelöst hatte, so dass neue, aufsteigende Schichten nach einer Legitimationsbasis suchten. Sie gründeten die Stadt Abeokuta als christliches Zentrum, von wo aus sie Handelsbeziehungen zu Mitchristen an der Küste knüpften. Die Siedlung war so erfolgreich, dass sie schon nach wenig mehr als einem Jahrzehnt an die 30.000 meist christliche Einwohner zählte. Der langjährige Sekretär der anglikanischen Church Missionary Society, Henry Venn, vertrat die Auffassung, dass die Mission in eine reguläre Kirchengründung übergehen müsste, sobald die Grundlagen des Christentums tragfähig genug waren. Darum wurde die Hierarchie der anglikanischen Bischofskirche 1864 in Westafrika eingerichtet, als ein ehemaliger Sklave, Samuel Crowther (1809–91), zum ersten afrikanischen Bischof ernannt wurde. Crowther war als Verbreiter der christlichen Heilsbotschaft erfolgreich, weil er den Bildungshunger der afrikanischen Eliten durch die Gründung christlicher Schulen befriedigte. Doch war seinem Wirken keine Dauer beschieden, wofür zwei Gründe geltend gemacht werden können. In der Church Missionary Society setzte sich eine jüngere Generation weißer Missionare durch, die afrikanischen Pastoren generell, aber Crowther ganz besonders mit Misstrauen begegneten. Ihre Haltung war von europäischem Überlegenheitsdünkel gespeist, in einigen Fällen sogar offen rassistisch. Als europäische Handelsgesellschaften unter Umgehung afrikanischer Mittelsmänner den direkten Kontakt zu den Produzenten ihrer Handelswaren suchten, wurde die Kirchenorganisation, die bis dahin als kultureller Brückenschlag zwischen europäischen und afrikanischen Kaufleuten eine wichtige Funktion erfüllt hatte, eher hinderlich. Der Schulterschluss der weißen Missionare mit den europäischen Kaufleuten hatte eine Marginalisierung der afrikanischen Kirchenorganisation zur Folge, was im erzwungenen Rücktritt Crowthers 1891 gipfelte. Die Afrikaner waren jedoch nicht bereit, sich

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eine solche Behandlung auf Dauer gefallen zu lassen und begannen kurz darauf, unabhängige Kirchen zu gründen, die unter ihrer eigenen Kontrolle standen. In der Literatur wurden die weißen Missionare lange Zeit in den Vordergrund gerückt, obwohl ihre afrikanischen Helfer in untergeordneten Positionen wegen der kulturellen Nähe oft viel erfolgreicher waren. Das galt auch für die afroamerikanischen Missionare aus den USA oder der Karibik, obwohl sie kultureller Überheblichkeit nicht immer abhold waren. Der von der Goldküste stammende afrikanische Pfarrer David Asante reiste zur Ausbildung nach Basel. Das südliche Afrika bot sich für die Missionare an, weil in der Kapkolonie eine europäisch geprägte Kolonialgesellschaft existierte und diejenigen, die missioniert werden sollten, bereits unterworfen und darum leichter für die christliche Missionsarbeit zugänglich waren; doch strebten die meisten Missionsgesellschaften darüber hinaus. Der erste weiße Missionar in der Kapkolonie war Georg Schmidt, der der Herrnhuter Brüdergemeine angehörte und 1737 seine Arbeit östlich von Kapstadt aufnahm. Diese evangelische Gruppierung verstand sich früher als alle anderen protestantischen Konfessionen als Missionskirche und entsandte ihre Glaubensboten über die Weltmeere in verschiedene Regionen. Georg Schmidts Missionsstation zog viele Afrikaner an, denen sich dort eine verlockende Alternative zur oft brutalen Ausbeutung auf den Farmen der Weißen bot. Genau deswegen wurde Schmidts Tätigkeit 1744 abrupt vom Gouverneur beendet und der Missionar musste nach nur sieben Jahren wieder nach Europa zurückkehren. Erst fünfzig Jahre später erhielten die Herrnhuter wieder die Erlaubnis zur Missionsarbeit. Alle Missionare reisten in diesen Jahren über Kapstadt ein, weil es der einzige Hafen des Landes war, eine Küstenschifffahrt kam erst im Lauf der folgenden Jahrzehnte allmählich in Gang, als die Segelschiffe durch die manövrierfähigeren Dampfschiffe abgelöst wurden. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden weitere Missionsgesellschaften gegründet, die erste und eine der einflussreichsten war die London Missionary Society, in der verschiedene nonkonformistische Glaubensrichtungen zusammenfanden. Sie war bereits in den ersten Jahren mit einem zentralen Problem konfrontiert, dass grundsätzlich alle Missionsgesellschaften betraf: Worin genau bestand die christliche Heilsbotschaft? Auf der einen Seite konnte die christliche Botschaft, wie es sich für bibelorientierte Protestanten gehörte, auf das Wort Gottes beschränkt bleiben. Die andere Position verband die christliche Heilsbotschaft mit den Normen und Werten der bürgerlichen europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Diesem Verständnis des Christentums zufolge waren europäische Kleidung, Schuhe und Hüte, monogame Ehen, europäische Geschlechterrollen, ja sogar rechteckige Häuser sowie Mäßigung im Alkoholkonsum integrale Bestandteile des Christentums. An ihrem Lebenswandel sollt ihr sie erkennen! Dieses umfassende Verständnis von Christentum, eine Art kulturelles „Paket“, setzte sich unter den Missionaren des 19. Jahrhunderts durch und erhob viel höhere, weitergehende und das Alltagsleben generell betreffende Ansprüche an die Konvertiten. Theodor van der Kemp war eine außergewöhnliche Gestalt inmitten der übrigen, eher aus dem kleinbürgerlichen Milieu stammenden Missionare. Ein tödlicher

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Bootsunfall, der ihm Frau und Tochter raubte, hatte ihn dazu bewogen, sein bisheriges Leben aufzugeben und sich der Verbreitung des Wortes Gottes zu widmen. Als ehemaliger Offizier der niederländischen Armee, als Autor eines philosophischen Buches und Angehöriger der Oberschicht war ihm ein breites Interesse sicher, zumal seine Tätigkeit bald als Ärgernis empfunden wurde. Der Afrikaforscher Hinrich Lichtenstein war entsetzt, als er van der Kemp auf seiner Missionsstation im Osten der Kapkolonie besuchte. Der Edelmann lief barfuß ohne Hut herum und passte sich auch sonst den Gepflogenheiten der Khoikhoi („Hottentotten“) an, die auf seiner Missionsstation lebten. Van der Kemps Erfolge als Missionar, die wegen seiner praktizierten Egalität und seiner kulturellen Assimilationsbereitschaft groß waren, wogen für Lichtenstein weniger als der Skandal, dass der Missionar sich als Angehöriger der Zivilisierten auf eine Stufe mit „Barbaren“ stellte. Nach van der Kemps Tod im Jahr 1811 setzten sich die konservativeren Vertreter der Mission durch, für die christliche Heilsbotschaft und europäische Lebensweise eine untrennbare Einheit bildeten. Ihr Ansinnen, afrikanische Männer müssten fortan in monogamen Ehen leben, fand wenig Gefallen gerade bei den Chiefs, für die Heiratsallianzen eine wichtige politische Ressource waren. Die Chiefs waren aber die erste Adresse der Missionare, die hofften, durch die beispielgebende Bekehrung der Machthaber einen Diffusionseffekt zu erzielen. David Livingstone, den seine Erfolglosigkeit als Missionar in die Afrikaforschung trieb, konnte nur einen einzigen Afrikaner taufen, den Kwena-Chief Sechele. Als Voraussetzung für die Taufe hatte Livingstone verlangt, dass Sechele sich für eine seiner vielen Ehefrauen entschied und die anderen zu ihren Familien zurückschickte. Als eine dieser Verstoßenen bald darauf von Sechele schwanger wurde, bewertete der strenge Missionar dies als einen Rückfall ins Heidentum. Sechele war jedoch anderer Auffassung und verstand sich weiterhin als Christ, ja er wurde sogar selbst missionarisch tätig. 1859 tauchte er am Hof des mächtigen Ndebele-Königs Mzilikazi im heutigen Simbabwe auf, wo er predigte. Mzilikazi hatte sich bis dahin besonders hartnäckig allen Missionsversuchen seines Freundes Robert Moffat verweigert und es seiner Bevölkerung explizit verboten, zum Christentum zu konvertieren. Doch als Sechele, als traditionelles Oberhaupt immerhin ein Kollege, sich aufs Predigen verlegte, reagierte Mzilikazi mit unerwartetem Interesse. Er befahl seinem Berater Monyebe, der durch mehrere Besuche die Weißen am besten kannte, in Zukunft christliche Gebete, die er als Rituale verstand, nachzuahmen. Dabei bewog den Ndebele-Herrscher sicher kein plötzlich erwachtes Interesse am Christentum zu diesem Schritt, sondern die Tatsache, dass ein anderer Chief sich möglicherweise überlegenes spirituelles Wissen angeeignet hatte. Wie in Westafrika tummelten sich binnen weniger Jahre zahlreiche evangelische Missionsgesellschaften aus verschiedenen europäischen Ländern und mit unterschiedlichen theologischen Ausrichtungen im südlichen Afrika: britische Methodisten, amerikanische Baptisten und Congregationalisten, deutsche und norwegische Lutheraner, französische Calvinisten und mit einiger Verspätung auch die Reformierte Kirche der Buren sowie, ebenfalls als Nachzügler, die Katholiken.

Mission und kultureller Austausch in Afrika

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Wegen der wachsenden Koordinationsprobleme entsandte die London Missionary Society im Jahr 1822 Dr. John Philip als Superintendenten für alle protestantischen Missionsgesellschaften. Im Gegensatz zu manchem Missionar setzte Philip sich in den folgenden Jahren für die Rechte der Afrikaner ein, die wegen der Expansion der weißen Siedler immer stärker unter Druck kamen. Philip übernahm die Regie, um alle protestantischen Missionen zu organisieren und ihnen Tätigkeitsgebiete zuzuweisen. Eine Kette von Missionsstationen unter den Tswana nahe der heutigen Ostgrenze von Botswana wurde bald als „Missionary Road“ bezeichnet. Nach der kolonialen Expansion in die Regionen nördlich des Limpopo, die nach ihrem Gründer, dem Unternehmer und Imperialisten Cecil Rhodes als Nord- und Südrhodesien (heute Sambia und Simbabwe) bezeichnet wurden, kamen die Missionare auch hierhin und verstärkten eine einzelne, schon in den 1850er Jahren angelegte Station der London Missionary Society, die Robert Moffats Sohn John leitete. In Nyasaland, wo David Livingstone sich während seiner ersten Reise aufgehalten hatte, wirkte sein Vorbild nach und die Church Missionary Society wurde hier aktiv, geführt von Missionsbischof Charles Mackenzie. Er war, wie manch andere hochrangige Vertreter der Anglikanischen Kirche, von dem imperialistischen Konzept der „Muscular Christianity“ geprägt. Es wurde an den in Großbritannien „public schools“ genannten Privatschulen praktiziert und kombinierte christliche Gesinnung mit sportlichem Leistungsdenken, womit ein offensiver christlicher Pioniergeist in die vielversprechenden jungen Kirchenvertreter eingegossen wurde. Neben der Berliner Mission wurde später die von Ludwig Harms 1849 in Hermannsburg bei Celle gegründete Missionsgesellschaft in der südafrikanischen Kolonie Natal aktiv. Harms wollte unter den mehrheitlich muslimischen Oromo in Äthiopien tätig werden und entsandte 1854 mehrere Missionare nach Ostafrika. Es war der Unberechenbarkeit des Meeres zu verdanken, dass die Missionare dort nicht ankamen und stattdessen in Durban an der Ostküste Südafrikas landeten. Dort blieben sie denn auch, gründeten ein neues Hermannsburg und wurden als „Bauernmissionare“ aus der Lüneburger Heide ein Teil der Missionarsgemeinschaft im südlichen Afrika. In dieser Zeit erkannte die Katholische Kirche, dass sie ins Hintertreffen zu geraten drohte und holte rasch auf. Als zentralistisch organisierte Kirche vergab sie die Missionsgebiete an verschiedene Orden, wodurch Reibungsverluste reduziert wurden. Im Bergkönigreich Lesotho gelang es ihr binnen kurzem, die große Mehrheit der Bevölkerung zu ihrer Konfession herüberzuziehen, während die schon länger aktiven Protestanten nur eine Minderheit von Intellektuellen auf ihrer Seite halten konnten. Auch in Buganda am Viktoriasee war die katholische Kirche unter der Bauernbevölkerung höchst erfolgreich, während die Oberschicht sich zum Protestantismus bekannte. In Ostafrika traten Missionare deutlich später, meist erst nach der kolonialen Inbesitznahme in den 1880er Jahren auf, sie begannen im Binnenland in Uganda, weil die Küste muslimisches Einflussgebiet war und blieb. Im belgischen Kongo wurde die katholische Mission von staatlicher Seite gefördert, doch auch hier passten Afrikaner das Christentum in die eigenen Glaubensvorstellungen ein. Nicht immer lässt sich eindeutig feststellen, ob christliche Elemente in afrikanische traditionelle Religionen integriert oder das Christentum mit

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afrikanischer Religiosität angereichert wurde. Im Kongo entwickelte sich aus der Tätigkeit des Predigers Simon Kimbangu, der von den Behörden flugs für den Rest seines Lebens eingesperrt wurde, eine eigenständige, die vermutlich größte unabhängige Religionsgemeinschaft auf dem Kontinent, die kimbanguistische Kirche mit zwölf Millionen Mitgliedern, die 1969 in den Ökumenischen Rat der Kirchen aufgenommen wurde. Auch wenn sich Missionare im Allgemeinen von Handelstätigkeiten fern hielten, schuf ihre Kombination aus christlicher Heilsbotschaft und europäischer Lebensweise als normativer Anspruch an ihre Konvertiten Anreize für den Warenhandel. Die afrikanischen Christen kauften europäische Kleider, Möbel, Bücher und viele andere Gegenstände, wodurch neue Märkte entstanden, deren Attraktivität keineswegs auf die christlichen Gemeinschaften beschränkt blieb. Ende des 19. Jahrhunderts begannen sich vielerorts die afrikanischen Christen von den Missionskirchen zu lösen, was in einer stärkeren Vermischung afrikanischer traditioneller Religion mit dem Christentum resultierte. So entstand eine Vielzahl neuer, dezidiert afrikanischer Kirchen, die zwar in die afrikanische Diaspora des 20. Jahrhunderts in Europa ausstrahlten, aber kaum Einfluss auf europäische Formen des Christentums nahmen. Gerade evangelikale Pfingstkirchen sollten im späten 20. Jahrhundert einen wahren Siegeszug durch Afrika antreten, weil ihre Erweckungsgottesdienste mit afrikanischen Vorstellungen von Geistbesessenheit kompatibel waren. LITERATUR Sonia Abun-Nasr, Afrikaner und Missionar. Die Lebensgeschichte von David Asante, Basel 2003. J.F.A. Ajayi, Christian Missions in Nigeria 1841–1891. The Making of a New Élite, Evanston 1969. Jean and John Comaroff, Of Revelation and Revolution, 2 Bde., Chicago 1991 u. 1997. Richard Elphick/Rodney Davenport (Hgg.), Christianity in South Africa. A Political, Social, and Cultural History, Berkeley – Los Angeles 1997. Katja Füllberg-Stolberg, Amerika in Afrika. Die Rolle der Afroamerikaner in den Beziehungen zwischen den USA und Afrika, 1880–1910, Berlin 2002. Paul Jenkins (Hg.), The Recovery of the West African Past. African Pastors and African History in the Nineteenth Century, Basel 2000. Hanns Lessing/Julia Besten/Tilman Dedering/Christian Hohmann/Lize Kriel (Hgg.), Deutsche Evangelische Kirche im kolonialen südlichen Afrika. Die Rolle der Auslandsarbeit von den Anfängen bis in die 1920er Jahre, Wiesbaden 2011. Tristan Oestermann, Gott, die Macht und die Portugiesen. Die Bedeutung der Konversion des Königreichs Kongo zum Christentum im Jahre 1491, in: Saeculum, 63/2013, 227–248. Bengt Sundkler/Christopher Steed, A History of the Church in Africa, Cambridge 2000.

MISSIONARE UND ESOTERIKER Kulturelle Aneignungsprozesse am Beispiel der Religion der yucatekischen Maya Ute Schüren Wenn Maya-Bauern in Yucatán, im äußersten Südosten Mexikos heute ihr ch’a’ chaak ( „Regen bringen“) genanntes Agrarritual durchführen, dann richten sie ihre Gebete sowohl an die christliche Dreifaltigkeit und katholische Heilige als auch an die Schutzgeister der Maisfelder, des Waldes und des Dorfes (balamo’ob und yuntzilo’ob) und die Wind- und Regengötter (chaako’ob). Das Ritual ist ebenso Zeugnis eines transozeanischen Kulturtransfers wie das Rekurrieren auf den präkolumbischen Maya-Kalender durch Esoteriker in aller Welt, die dem darin angeblich für 2012 vorhergesagten Weltuntergang entgegenfieberten. In beiden Beispielen wurden jeweils fremde Kulturelemente aufgenommen, umgeformt und an die eigenen Bedürfnisse und kulturellen Eigenarten angepasst. Ch’a’ chaak ist ein typisches Beispiel für religiösen Synkretismus. Für die Bauern, die sich wie selbstverständlich als „Katholiken“ („católicos“) bezeichnen, erscheint die Verbindung von Maya-Göttern, Schutzgeistern und Heiligen im Ritual keineswegs als Widerspruch. Tatsächlich haben sich viele indigene und christliche Glaubensvorstellungen (insbesondere des Volkskatholizismus) ohnehin problemlos ergänzt oder zusammengefügt. So übernehmen sowohl die katholischen Dorfheiligen (santos) wie auch die balamo’ob und yuntzilo’ob wichtige Schutzfunktionen. Die Opfergaben sollen sie für die Anliegen der Bauern empfänglich machen. Als launische, aber einflussreiche Übermittler der Bitten an Gott und die chaako’ob und als machtvolle Kräfte tragen sie vereint dazu bei, für Regen zu sorgen und so die Ernteaussichten zu verbessern. 1 Die katholischen Priester dulden das ch’a’ chaak und andere Agrarrituale zumeist, denn sie kennen ihre Bedeutung für die Bauern. Um diese auch angesichts der wachsenden Konkurrenz durch andere religiöse Angebote zu erreichen, müssen sie sich notgedrungen mit den teilweise recht unorthodoxen Interpretationen des Katholizismus arrangieren, etwa wenn die Niederschläge nicht nur durch Gebete und Opfergaben, sondern auch durch die Nachahmung von Donnergetöse und Froschlauten angelockt werden. Im Fall der eingangs erwähnten Esoteriker wären die Maya-Priester der klassischen Zeit (250–900 n. Chr.) wohl empörter gewesen, wenn sie von der Zweckentfremdung ihres Kalenders rund um das Jahr 2012 ge-

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Für eine klassische Beschreibung siehe Robert Redfield / Alfonso Villa Rojas, Chan Kom: A Maya Village, Washington, D.C. 1990 [19341], 138–143.

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wusst hätten. Denn der Maya-Kalender war vor der spanischen Eroberung alles andere als ein Teil der Populärkultur. Er repräsentierte das sakrale Wissen einer kleinen Gruppe religiöser Spezialisten. 2 DER MAYA-KALENDER IN ALTER UND NEUER ZEIT Die komplexen Schriftsysteme und Kalender Mesoamerikas suchten, wichtige Ereignisse chronologisch einzubetten. Die Lange Zählung des Maya-Kalenders kennt u.a. einen auf die letzte Schöpfung bezogenen Großzyklus von 13 B’ak’tun (also 13 mal 144.000 Tage), dessen berechnetes Ende am 21.12.2012 moderne New AgeAnhänger in aller Welt in Katastrophenstimmung versetzte. 3 Ursprünglich sollte die Lange Zählung jedoch vor allem den Genealogien der klassischen Maya-Herrscher eine hinreichende zeitliche Tiefe und Bedeutung verschaffen, indem sie deren Vorfahren mit Gottheiten der Schöpfungsphase assoziierte. Die astronomischen Berechnungen, das Interesse an Sternenkonstellationen und die große Bedeutung von Kalenderdaten waren zudem eng mit kosmologischen Vorstellungen, der Religion und dem Schicksalsglauben der Menschen verbunden. Man meinte, dass viele Gestirne Götter seien, die das Leben der Menschen, die Erntezyklen, Naturereignisse und das politische Geschehen unmittelbar beeinflussen konnten. Ihr Zusammenspiel präzise zu deuten, aus der Summe der Wertigkeiten gute oder schlechte Konstellationen für wichtige Ereignisse zu bestimmen und vorherzusagen, war als hoch komplexe Wissenschaft Aufgabe der Kalenderpriester, die damit über ein wichtiges Macht- und Legitimationsinstrument verfügten. Die korrekte Vorhersage etwa einer Sonnenfinsternis machte sicherlich großen Eindruck bei den Astronomie-, schreib- und leseunkundigen Unterschichten. Auch wirtschaftliche Angelegenheiten, wie die Aussaat und Ernteperioden, konnten mit dem Kalender besser reguliert werden. Bekanntermaßen ist die Welt am 21. Dezember 2012 nicht untergegangen. Dennoch war die weltweite Diskussion um dieses Datum für die zeitgenössische Maya-Bevölkerung ein besonderes Ereignis. Obwohl die Aufmerksamkeit durch

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Die vorkoloniale Maya-Kultur erstreckte über die heutigen mexikanischen Bundesstaaten Chiapas, Campeche, Yucatán und Quinana Roo, die Staatsgebiete von Guatemala und Belize sowie über Teile von Honduras und El Salvador, also über ein Gebiet, in dem auch heute noch zahlreiche Sprecher verschiedener Maya-Sprachen leben Siehe Antje Gunsenheimer / Ute Schüren (Hgg.), Amerika vor der europäischen Eroberung (Neue Fischer Weltgeschichte, Band 16), Frankfurt/M. 2016, 44, 282–315. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit diesen Tendenzen siehe Anthony Aveni / Apocalypse Soon?, Archaeology 62 (6), 2009, (http://www.archaeology.org/0911/2012/); Erik Boot, The ‚End‘ of the Maya Long Count? 2012 and the Classic Maya, Altre modernità/ Otras modernidades/ Autres modernités/ Other Modernities 7, 2013, 57–73; Matthew Restall / Amari Solari, 2012 and the End of the World: The Western Roots of the Maya Apocalypse, Lanham u.a. 2011; David Stuart, The Order of Days: The Maya World and the Truth about 2012, New York 2011.

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zahlreiche Bücher, einen Hollywood Block Buster, Informationen und Diskussionen im Internet und anderen Medien gepaart mit reichlich Kommerz durch NichtMaya verstärkt wurde, steht das Datum für einen Wissenstransfer, bei dem mit dem Kalender einer Errungenschaft ihrer Kulturgeschichte scheinbar eine dominante Rolle zukam. Allerdings war die Sicht auf die Maya-Kultur im Jahre 2012 äußerst selektiv. Sie konzentrierte sich nur auf wenige, sensationsheischend umgedeutete Elemente, die religiös-esoterisch verbrämt wurden. Der historische und gesellschaftliche Kontext des Kalenders wurde weitgehend unterschlagen. Die in pseudowissenschaftlichen Abhandlungen prognostizierte Apokalypse bediente vorhandene Katastrophenängste. Dabei schrieb man den Maya eine besondere Autorität in Bezug auf das Wissen über die Schöpfung (und ihre Zerstörung) zu. Schließlich gilt eine besondere Naturverbundenheit seit langem als Markenzeichen indigener Gesellschaften. Im Industrie- und Atomzeitalter werden sie oft als Gegenmodell zum zerstörerischen „westlichen“ Umgang mit der Natur betrachtet. 4 Die Kontrolle über diese Prozesse und das resultierende (neue) Kulturbild durch die Maya-Bevölkerung selbst blieb jedoch verschwindend gering. Lediglich einzelnen Indigenen gelang es, sich als „authentische“ Kenner des Kalenders oder als religiöse Spezialisten zu vermarkten, in dem sie vorhandene Stereotype bedienten. DIE VERBREITUNG DES CHRISTENTUMS IN YUCATÁN Das Beispiel des ch’a’ chaak-Rituals zeigt, dass auch die Aneignung des Christentums nach der Eroberung Yucatáns recht selektiv erfolgte, obwohl sich die Missionare und Gemeindepriester bei ihrer Arbeit lange Zeit auf koloniale Herrschaftsstrukturen stützen konnten und die Bereitschaft innerhalb der indigenen Bevölkerung, sich taufen zu lassen, zunächst groß war. Dennoch taten sich sehr bald nicht nur religiöse Berührungspunkte, sondern auch unübersehbare Diskrepanzen auf. Die Eroberung Yucatáns, weitab vom kolonialen Zentrum Mexiko gelegen, begann erst sechs Jahre nach dem Zusammenbruch des aztekischen Reiches und dauerte etwa zwei Jahrzehnte (1527–1547). Die Franziskaner, die ihre Mission Anfang der 1540er Jahre begonnen hatten und bis zum Ende des 16. Jahrhunderts die spirituelle Unterweisung der indigenen Bevölkerung monopolisierten, ließen unter den frisch Bekehrten (Neophythen) zunächst eine gewisse Toleranz und Milde walten. Ihnen war bewusst, dass es unmöglich sein würde, die Ahnenverehrung und andere geringfügige „Götzendienste“ („Idolatrie“) rasch zu unterbinden. Seit Anfang der

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Diese Vorstellung reicht zurück bis zu zivilisationskritischen Schriften vom edlen Wilden in der frühen Neuzeit. Auch in späterer Zeit hat es spirituelle Einflüsse der Kulturen Amerikas in Europa gegeben. Dazu zählt insbesondere der Pachamama- oder „Mutter-Erde“-Diskurs, der von indigenen Reisenden, in idealisierenden Filmen und Schriften vor allem ab den 1960er Jahren verbreitet wurde. Er stieß u.a. in der Ökologiebewegung auf großes Interesse, und es entwickelten sich, ähnlich wie beim 2012-Phänomen, quasi-religiöse Spielarten, die mitunter Besuche indianischer Schwitzhütten, den Konsum von Halluzinogenen und monotone Tanzrhythmen und Gesänge einschlossen.

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1560er Jahre verfolgte insbesondere der Provinzial Diego de Landa jedoch eine äußerst rigide Disziplinierung der Maya-Bevölkerung, die selbst Folter und drakonische Strafen einschloss, um die Indianer von ihren überkommenen Vorstellungen und Praktiken abzubringen. Mit großem Erfolg hatte Landa zunächst die yucatekische Maya-Sprache gelernt und zahlreiche Kinder, insbesondere jene der indigenen Elite, in Missionsschulen zu Multiplikatoren der christlichen Lehre in den MayaGemeinden ausgebildet. Viele von ihnen hatten zudem auf lokaler Ebene wichtige Aufgaben im System der indirekten Herrschaft für die Kolonialverwaltung übernommen. Doch musste Landa überaus enttäuscht und wohl auch wütend feststellen, dass selbst einige seiner engeren indigenen Mitarbeiter und Vertrauten sich dem Christentum nicht vollständig hingaben. So erfuhr er bei seinen rigiden Untersuchungen von der Beibehaltung vorspanischer religiöser Praktiken und Formen des Synkretismus, die sogar Menschenopfer (etwa die Kreuzigung von Kindern) im Verborgenen, aber auch in katholischen Kirchen und auf Friedhöfen oder die Positionierung von „Götzen“ hinter christlichen Altären einschlossen. Sein größter Kritiker, Bischof Toral, warf Landa hingegen vor, Zeugenaussagen zu den extremsten Formen der „Idolatrie“ erzwungen zu haben, um davon abzulenken, dass er bei der Verfolgung der überkommenen Maya-Religion jegliches Maß verloren hatte. Schließlich musste Landa die Anwendung von Gewalt bei den Untersuchungen rechtfertigen, infolge der zahlreiche Menschen gestorben und verstümmelt worden waren. 5 Unter den Opfern befanden sich viele adelige indigene Führer, die Landa als Hauptverantwortliche für die blasphemischen Handlungen identifiziert hatte. 6 Es ist heute kaum möglich, zu entscheiden, was wirklich in den indigenen Gemeinden vorgefallen war. Tatsache ist jedoch, dass das Menschenopfer in Yucatán eine lange Geschichte hatte. Seine Durchführung war ein Monopol der Maya-Elite und Teil ihrer Rolle als zentrale Mittler zu übernatürlichen Mächten, die ihre herausgehobene Position legitimierte. Die Mission hatte die Fundamente der Macht der erblichen Maya-Autoritäten (Kaziken) besonders stark tangiert. Diese politischen und religiösen Führer suchten deshalb ihre Position als kulturelle Mittler und religiöse Experten zu behaupten, indem sie einerseits heimlich überkommene Praktiken fortsetzten und andererseits katholische Elemente und sogar Sakramente wie Taufe, Ehe oder Priesterweihe und die christliche Kreuzsymbolik in ihr Repertoire

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Allein während dreier Monate im Jahre 1562 waren über 4.500 Indios gefoltert worden. Davon waren 158 Personen gestorben, einige von ihnen durch Selbstmord, um sich der Folter zu entziehen (Inga Clendinnen, Ambivalent Conquest: Mayas and Spaniards in Yucatán, 1517–1570, Cambridge 1987, 76). Allgemein zum Konflikt Landas mit Bischof Toral und zu Landas äußerst umstrittenem Wirken in Yucatán siehe France V. Scholes / Eleanor B. Adams, Don Diego Quijada : Alcalde mayor de Yucatán, 1561–1565 (2 Bde.), Mexiko 1938; Inga Clendinnen, Disciplining the Indians: Franciscan Ideology and Missionary Violence in Sixteenth-Century Yucatán, Past and Present 94, 1982, 27–48; Dies., Ambivalent Conquests (Anm. 5); John F. Chuchiak IV, In Servitio Dei: Fray Diego de Landa, the Franciscan Order and the Return of the Extirpation of Idolatry in the Colonial District of Yucatán, 1573–1579, The Americas 61 (4), 2007, 611–646. In Scholes und Adams und in Auszügen in Clendinnen wurden die Zeugenaussagen publiziert.

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aufnahmen und so ihre Kompetenzen auch in der neuen Religion demonstrierten. 7 Die Nutzung von Kirchen und Friedhöfen stellte wohl ebenfalls einen solchen Kulturtransfer dar. Allerdings bezogen auch die Missionare heilige Orte der Maya in ihr Ritual ein, indem sie zahlreiche christliche Bauten auf den Ruinen und aus dem Mauerwerk vorspanischer religiöser Stätten errichten ließen. Letztlich hingen die koloniale Durchdringung und der Grad der Christianisierung erheblich von der Präsenz und den Qualitäten der Missionare ab. Nur dort, wo Geistliche dauerhaft oder zumindest regelmäßig präsent waren, gelang es mit der Zeit, die indigene Lebensweise bis in die intimsten Bereiche wie etwa Geschlechterbeziehungen, Erziehungsformen, Kleidung, Körperschmuck und Glaubensvorstellungen zu verändern. In anderen Orten, insbesondere jenseits der kolonialen Grenze im Süden und Osten der Region taten sich hingegen Freiräume auf, in denen der unkontrollierten Verbindung christlicher und nicht-christlicher Elemente wenig entgegengesetzt werden konnte. Wann genau das Menschenopfer aus Yucatán vollständig verschwand muss daher offen bleiben. FAZIT Religiöse Sinnsysteme und Praktiken sind zunächst an bestimmte regionale Kontexte gebunden. Bei ihrer Ausbreitung unterliegen sie immer Anpassungsprozessen, und das ist ein wichtiger Schlüssel ihres Erfolges. Inwieweit religiöse Vorstellungen und Praktiken in Situationen des Kulturkontaktes aufgenommen werden, hängt u.a. davon ab, es inhaltliche Berührungspunkte oder Parallelen gibt, welche die Adaption vereinfachen und ob die neuen religiösen Angebote Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigen. Dies gilt auch für Missionsanstrengungen in kolonialen Zwangsregimes, da selbst unter diesen Bedingungen eine vollständige Kontrolle der religiösen Praktiken und Glaubensvorstellungen nicht möglich ist. Darüber hinaus spielen die Vermittler eine zentrale Rolle. Gelingt es ihnen nicht, ihren Einfluss ausbauen, sei es aufgrund seltener Anwesenheit, mangelnder Autorität, Vermittlungsunfähigkeit, etwa aufgrund fehlender Sprachkompetenz, kann es zwar sein, dass das neue Wissen oder der Kult von der Lokalbevölkerung angeeignet, dabei jedoch entsprechend der eigenen Bedürfnisse und Vorstellungen wesentlich umgedeutet wird. Institutionalisierte religiöse Kulte, wie sie beispielsweise die Franziskaner in Yucatán oder die Maya-Priester in vorspanischer Zeit repräsentierten, beruhen in der Regel auf Spezialwissen, das nur auserwählte, eingeweihte Personen interpretieren und vermitteln dürfen. Im kolonialen Yucatán betrachteten sich zunächst nicht nur die Missionare, sondern auch die Kaziken als wichtige Vermittler des 7

In den Hieroglyphen der Maya und als vorspanisches Bildelement trat das Kreuzsymbol häufiger in Erscheinung, etwa für die Sonne und den Tag (k’in), die mit dem Süden assoziierte Farbe Gelb (k’an), als stilisierter Baum oder als Markierung für wertvolle Dinge oder Eigenarten. Im Zusammenhang mit dem Menschenopfer kannte man zwar das Festbinden von Personen an hölzernen Gerüsten, Kreuzigungen waren aber bis zur spanischen Eroberung unüblich.

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Christentums. Ohne enge missionarische Aufsicht griffen sie jedoch häufiger auch auf alte Formen der Herrschaftslegitimation, wie rituelle Trinkgelage und nichtchristliche Rituale, zurück. Den Missionaren galten sie deshalb als wenig verlässlich, und sie trieben ihre Entmachtung gezielt voran. Für das Verständnis des kulturellen Austausches zwischen den Kontinenten am Beispiel der Religionen in Yucatán ist die Unterscheidung zwischen einer privaten und öffentlichen Sphäre hilfreich. Dabei war der öffentliche Bereich besonders umkämpft, da die Missionare hier, gestützt auf die Kolonialherrschaft, die alleinige religiöse Deutungshoheit beanspruchten. Synkretistische religiöse Vorstellungen und Riten im häuslichen Bereich (z.B. zu Krankheit, Geburt, Tod oder Agrarrituale) waren demgegenüber zumeist kaum zu kontrollieren. Sie wurden häufig als bloße Magie oder Aberglauben abgetan und von den katholischen Priestern eher geduldet. 8 So erstaunt es nicht, dass, wie das Beispiel ch’a’ chaak zeigt, in Yucatán bis heute in diesen Sphären zahlreiche solcher Glaubensvorstellungen und Riten existieren. Zudem hat hier eine besonders starke gegenseitige Beeinflussung zwischen indigener und nicht-indigener Bevölkerung stattgefunden, was beispielweise Liebeszauber, Hexereivorstellungen oder rituelle Heilungszeremonien betrifft. Ähnliche Prozesse lassen sich auch im Falle der Weltuntergangsszenarien um das Jahr 2012 beobachten. Mit dem Niedergang der indigenen Eliten nach der spanischen Eroberung verblasste das alte Wissen über den Maya-Kalender. Seit dem 19. Jahrhundert wurde er Gegenstand wissenschaftlicher Erkundungen. Lange Zeit bleib es nur einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorbehalten, den Kalender zu deuten. Die Aneignung und esoterische Umformung dieses Wissens durch New Age-Anhänger war dann jedoch genauso wenig zu verhindern, wie die synkretistischen Rituale der Maya-Bauern durch die katholischen Missionare und Priester. Im Unterschied zur regionalen Verbreitung religiöser Vorstellungen und Praktiken während der Kolonialzeit konnten sich die apokalyptischen Interpretationen des Maya-Kalenders jedoch dank der Massenmedien und insbesondere des Internet rasant und wenig kontrolliert über die ganze Welt verbreiten. Ob dies einen Fortschritt im Sinne der Demokratisierung von Wissensbeständen darstellt, kann bezweifelt werden. LITERATURAUSWAHL Anthony Aveni, Skywatchers of Ancient Mexico, Austin 2001. John F. Chuchiak IV, The Indian Inquisition and the Extirpation of Idolatry : The Process of Punishment in the Provisorato de Indios of the Diocese of Yucatán, 1563–1812 (Ph.D. Dissertation, New Orleans, Tulane University, The Graduate School of Tulane University), Ann Arbor 2000. William F. Hanks, Converting Words: Maya in the Age of the Cross, Berkeley, Los Angeles, London 2010. 8

Siehe zu dieser Unterscheidung insbesondere das Konversionsmodell von Nancy M. Farriss, Maya Society under Colonial Rule: The Collective Enterprise of Survival, Princeton 1984, 286– 319.

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Diego de Landa, Bericht aus Yucatán, (deutsche Übersetzung von Carlos Rincón), Leipzig 1990 [um 1566]. Prudence Rice, Maya Calendar Origins, Austin 2007.

CHRISTLICHE MISSION UND KULTURAUSTAUSCH IN OZEANIEN Hermann Mückler Europäische Entdeckung und ökonomische Expansion, Kolonialismus, Mission und Dekolonisierung prägten die pazifischen Inseln und deren Bewohner entscheidend. Insbesondere die Missionierung Ozeaniens spielt eine zentrale Rolle bei indigenem Kulturwandel, der in verschiedenen Formen von Akkulturation und Transkulturation ablief. Die christliche Mission ist auch deshalb bedeutsam, weil hier eine ununterbrochene Kontinuität von den Tagen der europäisch-überseeischen Kontaktsituation und der Kolonisierung, über die Phase der Entkolonisierung bis zum heutigen Tag gegeben ist. Die meisten der Missionsgesellschaften, deren Vertreter ab dem 16. Jahrhundert und, deutlich intensiviert, ab dem 19. und frühen 20. Jahrhundert im Pazifik ihre pastorale Arbeit aufgenommen hatten, sind auch heute noch vor Ort präsent. Ozeanien ist im globalen Vergleich bis heute eines der dynamischsten Missionsgebiete, wobei sich das kompetitive Element zwischen den vor Ort agierenden Missionsgesellschaften auf dem Weg in die Gegenwart unverändert erhalten hat. Die Marianen-Inseln waren die ersten durch die Weltumsegelung von Ferdinand Magellan 1522 bekannt gewordenen pazifischen Inseln, die bald danach von den Spaniern in Besitz genommen wurden, wobei der Kolonialverwaltung unmittelbar die katholische Mission auf den Fuß folgte und letztere neben der Verkündung der christlichen Heilsbotschaft auch Verwaltungsaufgaben vor Ort gegenüber der lokalen Bevölkerung der Chamorro übernahm. Der spanische Jesuit Diego Luis de Sanvitores war 1662 nach Guam gelangt und hatte die erste offizielle Mission gegründet. Die jedoch bald darauf einsetzenden Konflikte zwischen den Chamorros und den Spaniern resultierten aus kulturellem Unverständnis und Rücksichtslosigkeit seitens der Spanier gegenüber lokalen Traditionen. Im Zuge der Konfrontationen wurden Sanvitores sowie drei weitere Mitstreiter 1669 von zwei indigenen Häuptlingen auf Guam getötet. Es folgten die sogenannten Chamorro-Kriege, welche 25 Jahre dauerten, und denen das Volk der Chamorro fast gänzlich zum Opfer fiel. Von den ursprünglich vermuteten 100.000 Einwohnern waren nach den Kriegen und den sie begleitenden Epidemien nur noch gut 5.000 Menschen am Leben. Mit den Gefallenen der Eroberungskriege sowie der bewussten Zerstörung der materiellen Basis und der Sozialstrukturen starben auch die vorchristlichen Traditionen auf Guam. Die Überlebenden vermischten sich mit den neuen Siedlern, Filipinos und Spaniern, und nahmen den neuen christlichen Glauben an. Ein einseitiger

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Missionar, der einen Baumstamm vermisst. Ein sogenannter Handwerksmissionar in seiner Tätigkeit als Zimmermann in Neuguinea. (Quelle: Französ. Missionspostkarte, ca. 1910)

„Kulturaustausch“ war hier „mit dem Schwert“ vorgetragen worden und die katholische Kirche hatte mit den kolonialen Zielen der spanischen Herrschaft so eng kollaboriert, dass es ihr nicht nur unmöglich war, die Interessen „ihrer“ neuen Gläubigen wahrzunehmen, sondern sie sich offen an deren Vernichtung beteiligt und damit eine Zeit lang jede Legitimation bei den Einheimischen verloren hatte. 1 Es waren ebenfalls Spanier, welche die ersten, wenngleich anfangs kurzlebigen katholischen Missionierungsversuche auf der zu den Gesellschaftsinseln gehörenden Hauptinsel Tahiti im Jahr 1774 initiierten. Der enthaltsame und Lust ablehnende Lebensstil der Franziskanerbrüder, die vom peruanischen Lima gekommen waren, stieß jedoch auf Unverständnis bei den Einheimischen. Das Problem für die Missionare hatte darin bestanden, Enthaltsamkeit, Zölibat und ein von Gebeten und Liturgie bestimmtes Leben von Geistlichen, die unter eng ausgelegten Gelübden standen, zum Vorbild für Menschen zu stilisieren, die Geselligkeit, Gemeinschaftsaktivitäten wie Tanz, Gesang und Spiele genossen, Reisen unternahmen sowie einen unbefangenen Umgang der Geschlechter untereinander kannten. Das Angebot der Missionare war zu unattraktiv, als dass es bereitwillig angenommen worden wäre. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stieg mit den Berichten der Fahrten von Samuel Wallis, Louis-Antoine de Bougainville, James Cook, La Pérouse und 1

Vgl. dazu Paul Carano / Pedro Sanchez, A Complete History of Guam. Vermont/Tokyo 1964; Robert Rogers, Destiny’s Landfall, A History of Guam, Honolulu 1995.

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anderen in Europa die Kenntnis über die Vielzahl der Inseln und die Vielgestaltigkeit der lokal sich sehr unterschiedlich darstellenden Kulturen. Aus dem Verständnis der Aufklärung heraus war bei den europäischen seefahrenden Nationen der Wunsch nach einer systematischen Erkundung gewachsen, dem nun Folge geleistet wurde, indem man in immer kürzeren Abständen Schiffe entsandte, um eine vollständige Kenntnis und Erschließung der Großregion Ozeanien umzusetzen. Auch für christliche Missionierungsbestrebungen bedeutete dies neuen Aufwind. Die Offiziere an Bord der britischen Schiffe waren meist Mitglieder der Church of England und einer Bekehrung der entdeckten Inselbewohner zum Christentum gegenüber überwiegend aufgeschlossen. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte es darüber hinaus in England eine „evangelical revival“ gegeben. Um 1750 hatte diese Erneuerungsbewegung auch die südenglischen Hafenstädte erreicht und war damit mit den Dynamiken der aufstrebenden Seemacht England und deren von ihr beanspruchten neuen globalen Handlungsräumen in Berührung gekommen. In den Häfen Südenglands gerieten viele Seeleute, aber vor allem auch Offiziere und Kapitäne in Kontakt mit Predigern verschiedener Konfessionen. Dabei kristallisierte sich immer mehr der Missionsgedanke heraus, nämlich die Erkenntnis, dass man das Wort Gottes auch jenen Entdeckten bringen sollte, von denen in den Hafenkneipen von den Matrosen die abenteuerlichsten, aber auch – aus christlicher Sicht – abschreckendsten Geschichten, z.B. über kannibalische Praktiken, rituelle Kindestötungen und Götzenverehrung erzählt wurden. Die im Jahr 1795 als protestantische Organisation in England gegründete London Missionary Society (LMS) griff das auf und hatte das Ziel, eine systematische christliche Missionierung Polynesiens einzuleiten. Sie war die ältere der beiden großen protestantischen Missionsgesellschaften; 1813 folgte ihr die Wesleyan Methodist Missionary Society (WMMS) nach. Unter ihrem ersten Direktor Thomas Haweis entsandte die LMS in den Jahren 1796/1797 eine erste Gruppe von 36 Missionaren mit ihren Familien mit dem Missionsschiff Duff unter dem Kommando von Kapitän James Wilson nach Zentralpolynesien. Die Ziele dieser ersten Reise waren Tahiti, sowie Tongatapu (die Hauptinsel von Tonga) und die Marquesas-Inseln in Zentralpolynesien. 2 Grundsätzlich engagierten sich die Pioniermissionare der LMS im Aufbau eines Schul- und Ausbildungswesens, transkribierten zahlreiche indigene Sprachen, übersetzten und publizierten die Bibel in vielen einheimischen Sprachen und forcierten die Ausbildung indigener Katecheten, die den Glauben weiter verbreiten sollten. Von letzterem profitierten vor allem die späteren Missionsbestrebungen in Melanesien, die vielfach von indigenen Predigern aus Polynesien ausgeführt wurden. Missionare der LMS galten teilweise als rücksichtslose Vertreter ihres Glaubens, den sie meist sehr eng auslegten. U.a. hatten sie sich vehement gegen jede synkretistische Inkorporation indigener rituell-religiöser Vorstellungen gewandt. 2

James Wilson, Beschreibung einer englischen Missions-Reise nach dem südlichen stillen Ocean in den Jahren 1796, 1797 und 1798 im Schiffe Duff, unter Commando des Capitains James Wilson. Bibliothek der neuesten und wichtigsten Reisebeschreibungen zur Erweiterung der Erdkunde. Hg. von M. C. Sprengel, Weimar 1800.

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Ähnlich agierte die von George Whitefield und John Wesley gegründete Wesleyan Methodist Missionary Society (WMMS), die ihre Missionsarbeit 1822 auf den Tonga-Inseln und ab 1835 auf Fidschi aufnahm. Beide, die WMMS wie auch die LMS, waren sogenannte „non-denominational“-Missionsgesellschaften, unter deren Dach sich verschiedene protestantische Konfessionen bzw. Denominationen organisieren konnten. Das US-amerikanische Äquivalent dazu war das sogenannte American Board of Commissioners for Foreign Missions (ABCFM), das ab 1820 seine Tätigkeit nicht nur auf den Hawaii-Inseln entfaltete, sondern von dort aus schrittweise die mikronesischen Inseln missionarisch erschloss. 3 Australien spielte insofern eine Schlüsselrolle bei der missionarischen Erschließung Ozeaniens, als mehrere der protestantischen Missionsgesellschaften, so z.B. das Australasian Methodist Board of Missions (AMBM) und die Australian Wesleyan Methodist Missionary Society (AWMMS), von dort aus die Inselwelt erschlossen und als Rückfallposition, zur Versorgung und zur Regeneration Stützpunkte auf dem australischen Kontinent nutzten. Auf der zu Australien gehörenden Norfolk Island hatte die Melanesian Mission ihre Zentrale, wo diejenigen Geistlichen ausgebildet wurden, die man dann ins Feld nach Melanesien entsandte. Der Erfolg der Missionsgesellschaften beruhte letztlich darauf, dass sie ein „Gesamtpaket“ anbieten konnten: neben der Vermittlung der Heilsbotschaft waren es handfeste Verbesserungen der lokalen Lebensbedingungen im medizinisch/hygienischen Bereich sowie der Zugang zu lukrativen „modernen“ Konsumgütern wie Metallgegenständen, Werkzeugen, Tabak, Textilien und Waffen. Auch Schulbildung bildete von Anfang an einen zentralen Punkt der Angebotspalette der Missionare; war sie doch Voraussetzung für ein späteres nahtloses Einklinken der Inselbewohner in das koloniale Herrschafts- und Wirtschaftssystem nach westlichem Vorbild. Es war kein Zufall, dass die LMS und die WMMS bei all ihren ins Feld gehenden Missionaren darauf achteten, dass sie ein Handwerk ausüben konnten. Schreiner, Schmiede, Gerber, Baumeister u.a. waren hochbegehrt und bildeten neben denjenigen mit medizinischen Kenntnissen die wichtigsten Heilsbotschaftsträger, die als sogenannte „Handwerkermissionare“ solcherart gut „als Türöffner“ agieren konnten. Kulturaustausch fand hier aber in beide Richtungen statt: viele Missionare fertigten im Zuge des Praxistests ihrer lokal erworbenen Sprachkenntnisse umfangreiche Aufzeichnungen ihrer Tätigkeit und ihres Kontaktes mit den Einheimischen an, und dokumentierten dabei detailreich und akribisch die indigenen Kulturen mit deren Ritualpraktiken und ihrer materiellen Kultur. Sie hinterließen in ihren Berichten dabei wertvolle ethnographische Details, die heute nicht nur für Historiker und Ethnologen von entscheidender Bedeutung für die Rekonstruktion der traditionellen Gesellschaften sind, sondern auch für die indigen ethnischen Gruppen selbst, die in der Vor-Kontakt-Zeit auf Oraltraditionen basierten und erst durch die Mission ein 3

Harald Werber, Die Anfänge der Christianisierung Ozeaniens. Ein Überblick über protestantische und römisch-katholische Missionierung auf verschiedenen Inselgruppen Ozeaniens, in: H. Mückler, N. / Ortmayr und H. Werber (Hgg.), Ozeanien 18. bis 20. Jahrhundert. Geschichte und Gesellschaft, Wien 2009, 88–112.

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verschriftetes Festhalten ihrer jeweiligen kulturellen Spezifika erfuhren. Heute greifen die pazifischen Inselbewohner gerne auf diese Materialien zurück, die hilfreich sein können, Lücken in der Weitergabe traditioneller Praktiken im Kontext eines „revival of tradition“ zu rekonstruieren. Die katholischen Missionare, die in Polynesien sowie Mikronesien und Melanesien der protestantischen Mission zeitverzögert gefolgt waren, wurden vor Ort mit denselben herausfordernden Problemen konfrontiert wie die protestantischen Pioniermissionare. Ein Unterschied zwischen protestantischen und katholischen Missionaren war der, dass erstere häufig mit ihren Frauen und Familien im Feld waren. Dort waren sie zwar meistens auf sich allein gestellt, da von den Missionsgesellschaften auf jeder Insel nur ein Missionar stationiert wurde, aber sie hatten den familiären Rückhalt, der eine psychologisch stabilisierende Wirkung für die Missionare entfaltete. Bei den zölibatär lebenden Katholiken war dies nicht möglich. Ihre Strategie lief darauf hinaus, in größeren Gruppen ins Feld zu gehen und sich auf Stationen in Gemeinschaften zu organisieren, von wo aus man dann sternförmig neue Gebiete mittels der Errichtung von Sub-Stationen zu erschließen trachtete. So geschah es beispielsweise in Deutsch-Neuguinea, wo u.a. von den Missionaren der katholischen Herz-Jesu-Mission von den Küstenregionen aus das Hinterland sukzessive erschlossen wurde. Das Bild von Missionaren, die hölzerne Götzenbilder in die Flammen werfen, ist weit verbreitet, aber einseitig. Tatsächlich verloren im Zuge der christlichen Mission viele traditionelle religiöse Praktiken an Bedeutung oder verschwanden gänzlich. Andererseits wurden von den Missionaren die weggeworfenen Zeugnisse anlassorientiert hergestellter animistischer, totemistischer Kultobjekte auch gesammelt und so vor dem Verrotten im tropisch-feuchten Urwald nach Abschluß der jeweiligen Rituale bewahrt. Die Dokumentation traditioneller religiöser Praktiken gehörte schon deshalb zu den Aufgaben der Missionare, damit sie einschätzen konnten, mit welchen Strategien den Einheimischen der neue Glaube schmackhaft zu machen war. Viele Kulte und Rituale bestanden im Geheimen weiter und haben bis in die Gegenwart eine ungebrochene Tradition der Ausübung. Die fast flächendeckende Missionierung hat erstaunlicherweise in vielen Fällen nicht zu einem völligen Verschwinden von lokalen spirituellen Praktiken beigetragen. Es kam zu Überlagerungen, teilweisen Adaptionen und Inkorporationen oder schlicht Parallelentwicklungen. Besonders sichtbar wird dies am Weiterbestehen von sogenannter Schadensmagie („schwarzer Magie“) und dem Geisterglauben, beides Aspekte, die in Gesellschaften, die auf Ahnenverehrung aufbauen, wie das in Melanesien häufig der Fall ist, von zentraler Bedeutung sind. Positive und negative Auswirkungen der Mission stehen unmittelbar nebeneinander. Der Entwurzelung, dem Identitätsraub und der dadurch ausgelösten Desorientierung der Indigenen stand oft die durch die Mission ausgelöste Befriedung lang andauernder tribaler Konflikte gegenüber, die zu einer Beruhigung und einem friedlichen Zusammenleben führten.

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Die Mission stand in kolonialer Zeit in enger Wechselbeziehung zur Kolonialverwaltung und Forschern, insbesondere Ethnologen, die ebenfalls, aus anderen Gründen Interesse an den Inselbewohnern Ozeaniens zeigten. Missionarische, politische und wirtschaftliche und schließlich wissenschaftliche Erwägungen mischten sich bei diesen drei Interessensgruppen, die manchmal kooperierten, häufig es aber auch nicht taten. Ein Beispiel: Manche der von den Missionaren den Einheimischen aufgezwungenen Maßnahmen genügten zwar den sittlichen Ansprüchen der Missionare, waren jedoch aus hygienisch-medizinischem Blickwinkel kontraproduktiv. Üblicherweise hatten die nur spärlich bekleideten Menschen in den südlichen Küstengebieten Neuguineas oft mehrmals am Tag ein Bad im Meer oder im Fluss genommen, was sie auch weiterhin taten, als sie die von den Missionaren geforderte den ganzen Körper bedeckende Kleidung trugen. Diese legten sie aber beim Bad nicht ab, weil das zu umständlich war. Gerade in tropischen Gebieten, wo es oft mehrmals am Tag regnete, blieben sie nun stundenlang in den nassen Kleidern, während sie davor, halb nackt, innerhalb von Minuten trocken gewesen

Der Missionar umringt von jungen Papuas: Französischer katholischer Herz-Jesu-Missionar in Papua, umringt von Einheimischen. (Quelle: Französ. Missionspostkarte, ca. 1910)

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Missionar schreibend in einer Hütte: Missionare verfassten zahllose Berichte für ihre Vorgesetzten und vermittelten dabei wichtige Kenntnisse über die von ihnen missionierten indigenen Gesellschaften. (Quelle: Französ. Missionspostkarte, ca. 1910)

waren. Durch das Tragen von westlicher Kleidung wurde somit die Widerstandsfähigkeit der Indigenen geschwächt, verstärkt verbreiteten sich Haut- und Lungenkrankheiten. Dies nahm solche Ausmaße an, dass in der australischen Kolonie, dem Territory of Papua, der zuständige Gouverneur Sir Hubert Murray in den 1930erJahren anordnete, dass die Einheimischen im Interesse der Gesundheit auch weiterhin ihren Oberkörper nicht bekleiden mussten; er hatte sich mit dieser Maßnahme bewusst gegen die Vorgaben der Missionare gestellt. 4 Neidvoll blickten häufig Ethnologen auf die Missionare, die gewöhnlich viel länger vor Ort waren, die Lokalsprache besser beherrschten und ein Vertrauensverhältnis zu den Einheimischen aufgebaut hatten, welches einen deutlich günstigeren Informationszugang ermöglichte. Es ist umgekehrt verständlich, dass viele Missionare aufgrund ihres gewachsenen Interesses an den von ihnen kontaktierten Ethnien zu „missionary anthropologists“ oder „priest-ethnographers“ wurden. Zwischen Missionaren und Ethnologen gab es aber auch frappante Unterschiede. So wurden Ethnologen bzw. Anthropologen als „conservers“, Missionare als „converters“ bezeichnet. Erstere als „doubters“, Letztere als „knowers“, Ethnologen als „listeners“,

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Gert von Paczensky, Teurer Segen. Christliche Mission und Kolonialismus. Was im Namen Christi verbrochen wurde, München 1994.

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Missionare als „preachers“. 5 In diesen pointierten Begriffspaaren spiegeln sich sowohl gegenseitig formulierte Vorurteile als auch berechtigte Zuschreibungen wider. Viele Ethnologen kritisierten die Missionare dafür, dass diese eine „Doppelrolle“ im Feld spielten, dass sie ihr ethnographisches Wissen dazu benutzten, den „Code einer fremden Kultur zu knacken“. 6 Von ethnologischer Seite wurde auch immer wieder der Sendungsaspekt der Mission hinterfragt, da er mit einer Gewissheit und einem Selbstbewusstsein der Missionare verbunden war, die wiederum Ethnologen systemimmanent nicht zu Eigen waren. Die unbedingte Überzeugung war es, die den Missionaren die Kraft gab, in einem für sie anfangs völlig fremden Umfeld zu bestehen und die körperlichen und seelischen Strapazen der Missionstätigkeit zu ertragen. Sie war Kraft und Hindernis zugleich. Dieselbe Überzeugung blockierte häufig eine unvoreingenommene Annäherung an die Menschen, die es zu bekehren galt, und verhinderte so oft eine tiefergehende Auseinandersetzung, die auch für die Missionierenden selbst neue und befruchtende Perspektiven außerhalb des Korsetts dogmatischer Glaubenssätze hätte bedeuten können. LITERATURAUSWAHL Klaus J. Bade, Imperialismus und Kolonialmission. Kaiserliches Deutschland und koloniales Imperium. Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte Bd 2, Wiesbaden 1982. W. F. Besser, John Williams, der Missionar der Südsee und die Londoner Südseemission. Berlin 1896. Ad Borsboom / Jean Kommers (Hgg.), Anthropologists and the Missionary Endeavour: Experiences and Reflections. Nijmegen Studies in Development and Cultural Change, No. 33, Saarbrücken 2000. Uwe Christian Dech, Mission und Kultur im alten Neuguinea. Der Missionar und Völkerkundler Stephan Lehner, Bielefeld 2005. Norman Etherington (Hg.), Missions and Empire, Oxford 2005. Horst Gründer, Christliche Heilsbotschaft und weltliche Macht. Studien zum Verhältnis von Mission und Kolonialismus. Gesammelte Aufsätze, Münster 2004. Raeburn Lange, Island Ministers. Indigenous Leadership in Nineteenth Century Pacific Islands Christianity, Christchurch/Canberra 2005. Hermann Mückler, Mission in Ozeanien. Kulturgeschichte Ozeaniens Bd. 2, Wien 2010. Hermann Mückler, Missionare in der Südsee; Pioniere, Forscher, Märtyrer. Ein biographisches Nachschlagewerk. Reihe B: Forschungen zur Südsee, Wiesbaden 2014. Heinz Schütte, Koloniale Kontrolle und Mission: Überlegungen zu gesellschaftlicher Transition in Neu Guinea. Wiener Ethnohistorische Blätter, Beiheft 9, Wien 1986. Paul Steffen, Missionsbeginn in Neuguinea. Die Anfänge der Rheinischen, Neuendettelsauer und Steyler Missionsarbeit in Neuguinea. Studia Instituti Missiologici Societatis Verbi Divini Sankt Augustin, Nr. 61, Nettetal 1995. Darrell Whiteman, Melanesians and Missionaries; An Ethnohistorical Study of Social and Religious Change in the Southwest Pacific, Pasadena 1983. 5 6

Sjaak van der Geest, Anthropologists and Missionaries: Brothers under the Skin, in: Man (N.S.) 25/1990, 588–601. Judith Shapiro, Ideologies of Catholic missionary practice in a postcolonial era., in: Comparative Studies in Society and History 23/1981, 130–149.

GLOBALGESCHICHTE DER SKLAVEREI Michael Zeuske Im Laufe der Geschichte aller Gesellschaften der Welt hat es überall verschiedene Dimensionen der Sklaverei gegeben, deren früheste Phasen vor der Entstehung von Staaten einsetzten – am deutlichsten wohl im jeweiligen mittleren Neolithikum oder in der jeweiligen ersten Metallzeit (in so genannten „Haus-Gesellschaften“ 1 oder in der „Bronzezeit“ 2 bzw. in den Amerikas meist „Kupfer-Gold“-Zeit). Ich nenne diese Sklaverei-Dimensionen „Plateaus der Sklaverei“. 3 In der Weltund Globalgeschichte hat es insgesamt sechs Plateaus gegeben. Nur das dritte Plateau der Sklaverei und des Menschenhandels von Afrika nach Amerika war im Wesentlichen 1470–1820 auf die atlantische Hemisphäre und die europäische Expansion eingrenzt (mit Ausnahme des portugiesischen Imperiums und der niederländischen, britischen und französischen Expansion in die östliche Hemisphäre seit ca. 1630). Seit etwa 1840 ging das dritte Plateau der Atlantic Slavery in globale Formen der Sklaverei und des Coolie-Handels über (viertes Plateau oder so genannte liberale „Weltwirtschaft“). Zur Sklaverei gehörte seit dem zweiten Plateau der Kin- und Haussklaverei immer auch Menschenhandel, in der Globalgeschichte wahrscheinlich mehrheitlich auf lokalen Märkten, seit dem 7. Jahrhundert (3. Plateau) bis Ende des 19. Jahrhunderts und zum Teil im 20. Jahrhundert auch auf überregionalen Märkten die, wie in der Atlantic Slavery, auch globale und kosmopolitische Märkte sein konnten. Die Kontinuität der Plateaus bis heute und der Wegfall oder die Nichtexistenz einer (relativ) klaren legalen Scharfzeichnung (wie im so genannten „römischen“ Recht 4) relativieren die Exzeptionalität des dritten Plateaus der Atlantic Slavery. 5

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Alfredo González-Ruibal /Marisa Ruiz‐Gálvez, House Societies in the Ancient Mediterranean (2000–500 BC), in: Journal of World Prehistory 29(4)/2016), 383–437. Kristian Kristiansen, Bronze Age Dialectics: Ritual Economies and the Consolidation of Social Divisions, in: Tobias L. Kienlin /Zimmermann, Andreas (Hgg.), Beyond Elites. Alternatives to Hierarchical Systems in Modelling Social Formations, Teil 1, Bonn 2012, 381–392; siehe auch: Kristiansen Kristian /Larsson Thomas B., The Rise of Bronze Age Society: Travels, Transmissions and Transformations, Oxford 2005. Micheal Zeuske, Globalhistorische Sklaverei-Plateaus, in: Zeuske Michael (Hg.), Sklaverei. Eine Menschheitsgeschichte von der Steinzeit bis heute, Stuttgart 2018, 41–140. Michael Zeuske, Sklaverei in der Neuen Welt – auch eine transrechtliche Sklaverei auf der Linie Afrika-Atlantik-Amerika? forthcoming 2018. Michael Zeuske, Atlantic Slavery und Wirtschaftskultur in welt- und globalhistorischer Perspektive, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 66/2015, 280–301.

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Die weltgeschichtliche Kontinuität von Sklaverei zeigt, dass auch unter kulturell anders konnotierten Formen, Rechtsentwicklungen und Plateaus Massen von Menschen als Versklavte existieren können. Das Problem für eine Globalgeschichte der Sklavereien ist, dass die Plateaus nur methodisch und textlich klar getrennt werden können. Im Grunde liegen sie, wie Bodenschichten, die sich von unten her auf diffusorische Weise durchdringen, aber auch durch geologische Ereignisse völlig vermischt werden können, übereinander. Die früheren fangen an, hören aber nicht auf, wenn ein neues Plateau entsteht (mit Ausnahme der formalen Aufhebung der großen Massensklavereien im „Westen“ in Form staatlich proklamierter Abolitionen 6 seit 1794/1808–1888, d.h., im dritten Plateau der Atlantic Slavery). Die Plateaus sind: Erstes Sklaverei-Plateau ohne Menschenhandel (Beginn ca. 20 000 7/8 000 v.u.Z 8) – meist mit opportunistischen und nichtinstitutionalisierten Sklavereien von Frauen und Kindern; Zweites Sklaverei-Plateau (Beginn ca. 6.–3. Jahrtausend vor) – Beginn der Institutionalisierung als Kin- und Haussklaverei (Kriege, Verschuldung, Handel, Kindersklaverei, Opfersklaverei); Razzien-Sklavereien und Menschenhandel; Drittes Sklaverei-Plateau (Beginn ca. 1400–1888) – Atlantic Slavery auf und an dem eher afrikanisch-iberischem Atlantik sowie in der Karibik (unter Einschluss des Hidden Atlantic 1808–1870); Viertes Sklaverei-Plateau – globale Second Slaveries, Abolitionsdiskurse und Kombinationen von lokalen Sklavereien/Zwangsarbeiten sowie „new slaveries“ (bond-slavery, coolitude) des 19. und 20. Jahrhunderts (Beginn um 1790/1800); Fünftes Sklaverei-Plateau – kollektive Staatssklavereien (Beginn um 1915); Sechstes Sklaverei-Plateau – „moderne Sklaverei“ (Beginn um 1970). 9 Ich will mich im Zusammenhang des Themas „Europa und das Meer“ vor allem mit den dritten und vierten Plateaus der Sklaverei beschäftigen (1450–1945). Im 15. Jahrhundert gab es im gesamten atlantischen Raum, an seinen Küsten und beyond, Gesellschaften mit Sklavereien, die meisten auch mit massivem Sklavenhandel sowie allen anderen Formen von Sklaverei (Razziensklaverei, Schuldsklaverei, Kin- und Haussklaverei, Kindersklaverei, oft auch Opfersklaverei). Gesamter atlantischer Raum und beyond bedeutet, dass es in Nordamerika, in Mittelamerika sowie in der Karibik und in den großen Imperien Altamerikas, aber auch 6 7 8

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Seymour Drescher, Abolition. A History of Slavery and Antislavery, Cambridge 2009. Joseph C. Miller, Defining Slaving as a Historical Strategy, in: Joseph C. Miller, The Problem of Slavery as History. A Global Approach, New Haven 2012, 18–24. Detlef Gronenborn, Zum (möglichen) Nachweis von Sklaven/Unfreien in prähistorischen Gesellschaften Mitteleuropas, in: Ethnologisch-Archäologische Zeitschrift 42/2001, 1–42; Detlef Gronenborn /Sylviane Scharl, Das Neolithikum als globales Phänomen, in: Thomas Otten et al. (Hgg.), Revolution Jungsteinzeit (Schriften zur Bodendenkmalpflege in Nordrhein-Westfalen 11,1), Darmstadt 2015, 58–71. Michael Zeuske, Handbuch Geschichte der Sklaverei. Eine Globalgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin/Boston 2015; Micheael Zeuske, Globale Sklavereien. Geschichte und Gegenwart, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 65/2015, 7–17; Michael Zeuske, Sklaverei. Eine Geschichte der Menschheit von den der Steinzeit bis heute, Stuttgart 2018.

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in allen anderen Gesellschaften des Kontinents „ohne den Namen Amerika“, in ganz Afrika, in Nordafrika und in allen Gesellschaften des Mittelmeerraumes, inklusive der italischen Staaten, Südfrankreichs und der iberischen Königreiche Sklaverei sowie Sklavenhandel unterschiedlicher Ausprägung und Dynamik gab. In den christlichen Reichen Südeuropas war Sklavenhandel erlaubt sowie ubiquitär, obwohl dieser, vor allem in Bezug auf kriegsgefangene Männer meist nicht das Ausmaß wie in anderen Gesellschaften (wie etwa bei Osmanen, Berbern, Mongolen, Tataren, Russen, Moghulen, Chinesen und Mameluken) hatte. Es handelte sich in den iberischen Reichen und auf den christlichen Mittelmeerinseln (wie Balearen, Sizilien, Kreta, Zypern) meist um Sklavenhandel und Sklaverei von Frauen und Kindern (Haussklaverei). Eine Ausnahme bildete einerseits der Korsaren/PiraterieKomplex im Mittelmeerraum (mit dem Verkauf von schwarzen Versklavten aus dem Kanem-Bornu-Gebiet in christliche Gebiete, vor allem Sizilien, Neapel und iberischen Gebiete 10) sowie die Kriegsgrenzen der osmanischen Expansion. 11 Ähnliches galt für die ganze südliche Mittelmeerfassade der christlichen Welt bis hin zum Balkan. 12 Andererseits gab es in Nordfrankreich, ganz Mitteleuropa und England formal weder Sklaverei noch Sklavenhandel. Einige Staaten (wie Frankreich im 16. Jahrhundert) erklärten ihr Staatsgebiet zu free soil (von Sklaven freies Gebiet). Das führte schon damals zu einem Phänomen, das der heutigen „modernen“ Sklavereien gleicht. Wenn Sklaverei als nichtexistent im legalen Sinne proklamiert wird, florieren informelle Sklavereien sowie Abhängigkeiten, die sehr nah an der Sklaverei anliegen (wie indentured servants/engagées; „harte“ Leibeigenschaft, zweite Leibeigenschaft, Versklavte als Diener oder Konkubinen). 13 Fest steht, dass Sklaverei in Europa existierte am Beginn der so genannten Neuzeit (eine sehr europäische Periodisierung). Aber fast alle anderen Makroregionen 10 Detlev Gronenborn, Kanem-Bornu: a brief summary of the history and archaeology of an empire in the central bilad al-sudan, in: Christopher DeCorse, West Africa During the Atlantic Slave Trade. Archaeological Perspectives, London and New York 2001, 101–130; Detlev Gronenborn, Gold, Sklaven und Elfenbein /Gold, Slaves and Ivory. Mittelalterliche Reiche im Norden Nigerias /Medieval Empires in Northern Nigeria. Begleitbuch zur Ausstellung im Römisch-Germanischen Zentralmuseum (22. September 2011 bis 1. Januar 2012), Mainz 2011. 11 Salvatore Bono, Piraten und Korsaren im Mittelmeer. Seekrieg, Handel und Sklaverei vom 16. bis 19. Jahrhundert, Stuttgart 2009; Nicole Priesching, Sklaverei und europäische Identität – eine verdrängte Geschichte, in: dies. (Hrsg.), Sklaverei in der Neuzeit, 8–14; Priesching, Europäische Sklavenmärkte, in: ebd., 33–35. 12 Robert C. Davis, How Many Slaves? in: Robert C. Davis, Christian Slaves, Muslim Masters. White Slavery in the Mediterranean, the Barbary Coast, and Italy, 1500–1800, London 2003, 2–26; Salvatore Bono, Piraten und Korsaren im Mittelmeer. Seekrieg, Handel und Sklaverei vom 16. bis 19. Jahrhundert, Stuttgart 2009. 13 Nicole Priesching, Sklaverei und europäische Identität – eine verdrängte Geschichte, in: Nicole Priesching, Sklaverei in der Neuzeit, 8–14; Priesching, Europäische Sklavenmärkte, in: Ebd., 33–35; Rebekka von Mallinckrodt, There Are No Slaves in Prussia?, in: Brahm /Eva Rosenhaft (Hgg.), Slavery Hinterland. Transatlantic Slavery and Continental Europe 1680–1850, Woodbridge 2016, 109–131. Rebekka von Mallinckroth, Verhandelte (Un-)Freiheit Sklaverei, Leibeigenschaft und innereuropäischer Wissenstransfer am Ausgang des 18. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 3/2017, 347–380.

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des atlantischen Raumes (und beyond) waren in Bezug auf massive Sklaverei, Kriegsgefangenen- und Menschenhandel sowie menschliche Körper als Kapital, commodities, Arbeitskraft, Reproduktion/Sex (Konkubinat), Militärmacht (Sklavensoldaten), Dienstleistungen wichtiger als Europa. Etwas überspitzt ausgedrückt, mussten Europäer, zunächst vor allem Iberer, angesichts ubiquitärer Sklavereien seit um 1450 „große“ Sklaverei mit massivem Menschenhandel von Männern erst wieder lernen, ebenso wie sie die Tropen lernen mussten („aprender os trópicos“ 14). Europa war, wie auf fast allen Gebieten, auch im Sklavenhandel und in Bezug auf „große“ Sklavereien, eher peripher. Das änderte sich mit dem Vorstoß der Europäer in den atlantischen Raum, d.h., am Beginn vor allem iberische Schiffe mit Krediten aus Florenz sowie Genua und Lissabon, Burgos und Sevilla. Zunächst ging es um die Eroberung nordafrikanischer Städte (Endpunkte von Gold-, Handels- sowie Sklavenrouten) und allgemein Versuche, die Reconquista auf der iberischen Halbinsel in einer Conquista islamischer Gebiete in Nordafrika fortzusetzen. Das hatte anfangs einigen Erfolg (die Reste sind heute noch in Ceuta und Melilla zu bewundern), brachte aber keine wirkliche Kontrolle über die Goldhandelsrouten aus dem Malireich (dessen Herrscher Mansa Musa im 14. Jahrhundert noch heute unter die reichsten Menschen der Weltgeschichte gezählt wird 15). Die iberischen Kapitäne gingen zur pragmatischen Finanzierung ihrer Seeexpeditionen durch Kinderraub (Übersetzer – lenguas), Sklavenrazzien und Menschenhandel über. Auf den kanarischen Inseln und Madeira sowie den Azoren verband sich das mit kolonialer Conquista und Landnahme; auf den Kanaren bekanntlich mit massiven Versklavungen von Guanchen. Je weiter die iberischen Kapitäne nach Süden entlang der westafrikanischen Küste kamen – erst später als Gesamtprojekt eines „Seeweges nach Indien“ definiert –, vor allem in Guiné (Senegalgebiet und Regionen südlich davon – heute subsaharisches Afrika), funktionierten vor allem die massiven Menschenrazzien nicht mehr. Ich verallgemeinere mit der Bezeichnung „Afrikaner“ und „afrikanisch“ ebenso stark wie mit „Europäern“ und „Iberern“ – afrikanische Marineinfanterie (schnelle Kriegskanus), Tropen, Krankheiten und die komplizierten Küsten Westafrikas verhinderten sowohl Razzien wie auch jegliche Eroberung westafrikanischer Gebiete auf dem Kontinent (Ausnahme: Luanda/Ndongo-Angola seit etwa 1575). Die Iberer mussten sich mit der Rolle als Juniorpartner afrikanischer Eliten zufriedengeben. Diese Eliten nutzten die Europäer, ihre Schiffe und Waffen, zeitweise und partiell auch die Religion und katholische Priester für ihre Zwecke (Transport, auch von Versklavten, Militär, Religion zur Machtsicherung vor allem im Kongoreich). Brecher der königlichen Handelsmonopole, auf Portugiesisch

14 Arlindo Manuel Caldeira, Aprender os Trópicos: Plantações e trabalho escravo na ilha de São Tomé, in: Margarida Vaz do Rego Machado /Rute Dias Gregorio /Susana Serpa Silva (Hgg.), Para a história da escravatura insular nos séculos XV a XIX, Lisboa 2013, 25–54. 15 Rudolf Fischer, Gold, Salz und Sklaven. Die Geschichte der großen Sudanreiche Gana, Mali und Songhai, Feldbrunnen 2013; François-Xavier Fauvelle, Das Land, in dem Gold wie Karotten wächst. Sahelzone, 10. bis 14. Jahrhundert, in: François-Xavier Fauvelle, Das Goldene Rhinozeros. Afrika im Mittelalter. Aus dem Französischen übersetzt von Schultz, Thomas, München 2017, 139–144.

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lançados (Vorreiter) genannt, durften Töchter der afrikanischen Elitefamilien heiraten. Ihre Nachkommen hießen tangomãos. Sie wurden zu Geschäfts- und Kulturbrokern zwischen Afrikanern und Europäern; oft sahen sie wie Afrikaner aus und kleideten sich auch so, waren aber Christen. Sehr verallgemeinert gesagt, gaben die afrikanischen Eliten den Europäern für ihre Dienste Menschen, vor allem Kriegsgefangene, Schuldsklaven und überhaupt Versklavte. Noch allgemeiner gesagt: die Iberer/Europäer lernten den enormen Wert menschlicher Körper als Kapital in tropischen Räumen erst so richtig in Afrika. Ihr normales Grundkapital (Land/Immobilien und Großvieh) funktionierten in Afrika nicht (Pferde nur regional). Europäer waren auf afrikanische Tiere angewiesen. In der frühen atlantischen Expansion, sowohl der von Portugiesen (eher Nord-Süd und zurück) wie auch der von Kastiliern/Spaniern (eher Ost-West und zurück), konnten Europäer nur Inseln und Inselgruppen erobern und besiedeln (Madeira, Azoren, Kanaren, Kapverden, São Tomé und Príncipe, große Antillen, aber auch viele kleinere Inseln wie z.B. die Ilha de Luanda/Ilha do Cabo). Bis 1521, dem Jahr der Eroberung Tenochtitláns (Mexiko) kontrollierten Europäer im Atlantik ein „Imperium der Inseln“ unter Einschluss der großen Antillen in der Karibik (La Hispaniola, Kuba, Puerto Rico und Jamaika). Nur diese konnten sie mit ihren hochseegängigen Schiffen sichern und kontrollieren. Hier beginnt die eigentliche Geschichte der Atlantic Slavery und dessen, was wir meist aus der angloamerikanischen Literatur als middle passage (Sklavenhandel über den Atlantik als Teil der Atlantic Slavery) kennen. Und auf den westafrikanischen Inseln entstanden auch die ersten Zuckerplantagen, vor allem auf São Tomé sowie Príncipe und auch auf den Kanaren. Die Menschen, die die Iberer von den afrikanischen Eliten erhalten hatten, sammelten sich auf den westafrikanischen Inseln. Guter, freier Boden für Zucker und Plantagen fand sich vor allem auf São Tomé und Príncipe. Seit Karl V. (1519–1556) wurde Spanien wurde zum mächtigsten Imperium der atlantischen Welt und versuchte ein Handelsmonopol des Amerikahandels, wie überhaupt des Zugangs zu den Silber-Reichen im kontinentalen Amerika durchzusetzen (oft durchlöchert, vor allem durch europäische Piraten und Korsaren im 17. Jahrhundert). Zunächst wurden in den Amerikas vor allem die so genannten yndios (eine Verwaltungskategorie) versklavt. Die starben in der Karibik aber aus oder zogen sich zurück. Die kastilische/spanische Krone verbot formal Indiosklaverei (real waren viele Indios versklavt, auch später bei anderen Kolonialmächten). 16 Portugal nahm, auch aus Angst, dass afrikanische Eliten ihren Einfluss auch auf die westafrikanischen Inseln unter portugiesischer Kontrolle ausdehnen würden, immer engere Beziehungen zu den Indias de Castilla (Las Indias – spanische Kolonien in den Amerikas) auf und begann, die spanische Karibik, massiv ab 1518, sowie die neuen kontinentalen Vizekönigreiche mit Versklavten aus Afrika zu beliefern, die sich, wie oben gesagt, auf ihren westafrikanischen Inseln sammelten –

16 Andrés Reséndez, The Other Slavery. The Uncovered Story of Indian Enslavement in America, Boston 2016.

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direkt, ohne Umweg über die iberische Halbinsel. 17 Bis um 1560 wurde vor allem eine frühe Zuckerproduktion mit Sklaven auf Santo Domingo auf La Hispaniola, Puerto Rico sowie Santiago und Havanna auf Kuba beliefert; ab 1540 vor allem Cartagena de Indias und Veracruz (Eingangshäfen zum kontinentalen SpanischAmerika). Afrikanerinnen und Afrikaner waren Luxussklaven und wurden auf dem Kontinent zunächst vor allem in Städten eingesetzt. Sie wurden auch zu versklavten Siedlern. Frauen wurden relativ häufig freigelassen; sie wohnten in den Unterschichten-Vierteln der entstehenden Städte. Viele schwarze Männer waren Bauern; sie siedelten in den ruralen Zonen im Umfeld der Städte oder Handwerker, die vor allem die Hafenstädte besiedelten. 18 Erst mit der oben genannten direkten transatlantischen Verbindung in OstWest-Richtung, konkret von den westafrikanischen Inseln in die Karibik unter den Spaniern (Las Indias – bis 1521 vor allem Santo Domingo, Kuba und Puerto Rico) war es den Iberern möglich, die westafrikanischen Inseln in ihr System der entstehenden esclavitud atlántica (Atlantic Slavery) einzubinden und die Kontrolle afrikanischer Eliten, die in der Zulieferung von Versklavten aus dem Innern (Interior) der afrikanischen Küsten immer erhalten blieb, abzuschwächen. Ich wiederhole: Das Monopol der Iberer auf den Sklavenhandel über den Atlantik galt aus afrikanischer Perspektive nur für die hohe See – und dort war es massiven Angriffen europäischer Konkurrenten ausgesetzt. 19

17 Rafael M. Pérez García /Manuel F. Fernández Chaves, Sevilla y la trata negrera atlántica: envíos de esclavos desde Cabo Verde a la América española, 1569–1579, in: Luis C. Álvarez Santaló (Hg.), Estudios de Historia Moderna en Homenaje al profesor Antonio GarcíaBaquero, Sevilla 2009, 597–622; Manuel F. Fernández Chaves /Rafael M. Pérez García, La redes de la trata negrera: mercaderes portugueses y tráfico de esclavos en Sevilla (c. 1560– 1580), in: Martín Casares /García Barranco (Hgg.), La esclavitud negroafricana en la historia de España, Granada 2010, 5–34; Manuel F. Fernández Chaves; Rafael M. Pérez García, La élite mercantil judeoconversa andaluza y la articulación de la trata negrera hacia las Indias de Castilla, ca. 1518–1560, in: Hispania Vol. LXXVI, 253/2016, 385–414; Rafael M. Pérez García, Metodología para el análisis y cuantificación de la trata de esclavos hacia la América Española en el siglo XVI“, in: Ofelia Rey Castelao /Fernando Suárez Golán (Hg.), Los vestidos de Clío. Métodos y tendencias recientes de la historiografía modernista española (1973–2013). VII Coloquio de Metodología Histórica Aplicada, Santiago de Compostela 2015, 823–840; David Wheat, The Early Iberian Slave Trade to the Spanish Caribbean, 1500–1580, in: Eltis Borucki/David Wheat (Hg.), From the Galleons to the Highlands: Slave Trade Routes in the Spanish Americas, Albuquerque (forthcoming 2018). 18 David Wheat, Atlantic Africa and the Spanish Caribbean, 1570–1640, Chapel Hill 2016; siehe besonders die Kapitel über Frauen aus Afrika in der Karibik (vorwiegend in Städten): „Nharas and Morenas Horras“, 142–180; schwarze Bauern (vorwiegend rural und im Umfeld der Städte): „Black Peasants“, 181–215; sowie schwarze männliche Bevölkerung (vorwiegend der Hafenstädte): „Becoming ‚Latin‘“, 216–252. 19 Michael Zeuske, Europäischer Sklavenhandel global – Plantagen und Sklavereimoderne weltweit, in: Michael Zeuske, Sklavenhändler, Negreros und Atlantikkreolen. Eine Weltgeschichte des Sklavenhandels im atlantischen Raum, Berlin/Boston 2015, 270–295.

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Um diese Einführung kurz zu halten – die Iberer dominierten diesen „ersten“ Atlantik im Verständnis von hohe See bis um 1640. Alle anderen europäischen Kolonial- und Sklavenhandelsmächte folgten dem Beispiel der Iberer (vor allem Portugals); Portugiesen (und Brasilianer) waren immer die wichtigsten Fachleute des Meeres-Menschenhandels mit „Sklavenproduktion“ in Afrika. 20 Die kriegerischen Vermittler für die so genannten nordwesteuropäischen Mächte, die 1650–1800 den mittleren Atlantik und (oft ehemals portugiesische Handelsplätze) in Westafrika dominierten, waren Kaufleute, Kompanien, Schiffe und Kapitäne aus den Niederlanden (vor allem 1640–1670). Dann kam es bis um 1800 zu einer Dominanz nordwesteuropäischer Mächte (vor allem England/Großbritannien und Frankreich) auf dem mittleren und nördlichen Atlantik, während die Iberer, vor allem Portugiesen und Brasilianer, die Kontrolle über den Atlântico Sul (Südatlantik vor allem zwischen Afrika und Brasilien und spanischer Karibik) behielten. 21 Seit 1794 (Sklavenrevolution auf Saint-Domingue/Haiti) und 1808 (Beginn der Abolition des europäischen Sklavenhandels durch GB und USA) dominierten vor allem Portugiesen/Brasilianer und Spaniern/Kubaner mit Unterstützung von US-Amerikanern 22 bis um 1870 das Geschäft auf dem hidden Atlantic („verborgener Atlantik“ weil sich mehr und mehr abolitionistische Diskurse sowie Rechtspraktiken durchsetzen 23). Alle anderen Gebiete Europas waren Slavery hinterlands (aber keinesfalls als solche unwichtig – siehe den Beitrag von Klaus Weber). 24 Aus afrikanischer Sicht waren diese Sklavenhändler immer noch Menschen, die über den Atlantik kamen, also in gewisser Weise Atlantiker. Aber es waren in der Mehrzahl im 19. Jahrhundert Amerikaner aller Couleur und nicht mehr im Wesentlichen Europäer aus England, Schottland, den Niederlanden oder dem atlantischen Frankreich, die den atlantischen Handel bis um 1800 dominiert hatten. Vor allem die Zeit der Dominanz der Nordwesteuropäer 1650– um 1800 prägt die Mehrheit der Geschichten des Sklavenhandels auf den Atlantik. 25 Ich habe hier 20 Michael Zeuske, Versklavte, Sklavereien und Menschenhandel auf dem afrikanisch-iberischen Atlantik, in: Ebd., 296–364. 21 Luiz Felipe de Alencastro, O Trato dos Viventes. Formacão do Brasil no Atlântico Sul, seculos 16. e 17., São Paulo 2000. 22 Dale T. Graden, U.S. Involvement in the Transatlantic Slave Trade to Cuba and Brazil, in: Dale T. Graden, Disease, Resistance, and Lies. The Demise of the Transatlantic Slave Trade to Brazil and Cuba, Baton Rouge 2014, 12–39; Leonardo Marques, The United States and the Transatlantic Slave Trade to the Americas, 1776–1867, New Haven 2016; Delgado Ribas, Josep M., Los catalanes, el comercio de esclavos y el comercio libre a fines del siglo XVIII (1789–1796), in: Martín Rodrigo y Alharilla /Lizbeth Chaviano Pérez (Hgg.) Negreros y esclavos. Barcelona y la esclavitud atlántica (siglos XVI-XIX), Barcelona 2017, 47–61. 23 Michael Zeuske, Out of the Americas: Slave traders and the Hidden Atlantic in the nineteenth century, in: Atlantic Studies 15/2018, 103–135 (DOI: 10.1080/14788810.2017.1411705). 24 Felix Brahm /Eva Rosenhaft (Hgg.), Slavery Hinterland. Transatlantic Slavery and Continental Europe, 1680–1850, Woodbridge 2016 (leider nur für die nordwesteuropäische Sklavenhandels-Chronologie). 25 Ich erwähne hier nur einige Beispiele: James A. Rawley, The Transatlantic Slave Trade: A History, New York/London 1981; David Walvin, Britain’s Slave Empire, Gloucestershire

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im Gegensatz zu diesen gängigen Darstellungen den Schwerpunkt einerseits auf die erste Phase des „iberischen“ Atlantiks gelegt, andererseits auf die gesamte Periode 1500–1888 (Abolition der Sklaverei in Brasilien). 26 Vor allem um erstens zu zeigen, dass Afrika eine fundamentale Rolle in diesem System hatte – übrigens in allen drei „Atlantiken“ bis um 1880, dann setzte einerseits die imperialistische Durchdringung und Kolonisierung Afrikas, andererseits der Ausgriff der liberalen Weltwirtschaft in die östliche Hemisphäre massiv ein. Und zweitens, weil, wie gesagt, alle anderen „Seemächte“ von den Iberern und vor allem von den Portugiesen in Bezug auf Sklaverei- und Versklavungspraktiken lernten – auch in Bezug auf fundamentale Rechtsregeln (so unterschiedlich auch die legalen Ausgangspunkte im englischen und amerikanischen Recht sowie die religiös-kulturellen Codes gewesen sein mögen). Portugiesen/Brasilianer und Spanier/Kubaner haben für die gesamte Zeit 1500–1870 gesehen, immer die meisten Versklavten aus Afrika in die Amerika verschleppt. Bei ca. 10–11 Millionen lebend in die Amerika Verschleppten handelt es sich für die Iberer um ca. 7–8 Millionen Menschen 1500–1870. 27 Wir sollten also insgesamt von einem afrikanisch-iberischen Atlantik sprechen – auch und gerade, weil, wie oben gesagt, die iberischen Mächte Versklavte aus Afrika in ihren Kolonien als unfreie Siedler funktionalisierten und alle anderen Kolonialmächte bis um 1830 diesem Muster folgten. 28 Zwischen 1800–1880 ging das atlantische dritte Plateau mit seinen modernen Sklavereien (Second Slavery) und seinen Abolitionspolitiken sowie -diskursen in das wirklich weltweite vierte Plateau über, wo sich 2000; Johannes Menne Postma, The Dutch in the Atlantic Slave Trade 1600-1815, Cambridge 1990; Johannes Menne Postma, The Atlantic Slave Trade, Westport 2003; James A. Rawley, London, Metropolis of the Slave Trade. Foreword by David Eltis, Columbia 2003; Kenneth Morgan et al. (Hg.), The British Transatlantic Slave Trade, 4 Bde., London 2003; Hugh Thomas, The Slave Trade. The History of the Atlantic Slave Trade: 1440–1870, London and Basingstoke 1997; David Eltis /David Richardson (Hgg.), Extending the Frontiers: Essays on the New Transatlantic Slave Trade Database, New Haven 2008; zur Bibliografie bis 2015 siehe: Michael Zeuske, Sklavenhändler, Negreros und Atlantikkreolen …, passim; Tom M. Devine (Hg.), Recovering Scotland’s Slavery Past: The Caribbean Connection, Edinburgh 2015. 26 Michael Zeuske, Versklavte, Sklavereien und Menschenhandel auf dem afrikanisch-iberischen Atlantik, in: Michael Zeuske, Sklavenhändler, Negreros und Atlantikkreolen ..., 296–364. 27 Alex Borucki /David Eltis /David Wheat, Atlantic History and the Slave Trade to Spanish America, in: The American Historical Review Vol. 120/2015, 433–461. 28 John K. Thornton, Africa and the Africans in the Making of the Atlantic World, New York 1992; John K. Thornton, The Role of Africans in the Atlantic Economy: Modern Africanist Historiography and the World System Paradigm, in: Colonial Latin American Historical Review 3/1994, 125–140; Tobias Green, The Rise of the Trans-Atlantic Slave Trade in Western Africa, 1300–1589, Cambridge 2011; José da Silva Horta, Being both Free and Unfree. The case of selected Luso-Africans in sixteenth and seventeenth-century Western Africa: Sephardim in a Luso-African context, in: Anais de História de Além-Mar Vol. 14/2013, 225–247; Michael Zeuske, Sklavenhändler, Negreros und Atlantikkreolen …, passim; Borucki; Eltis; Wheat, Atlantic History and the Slave Trade to Spanish America, 433–461; Wheat, Atlantic Africa and the Spanish Caribbean, 1570–1640, Omohundro Institute of Early American History and Culture, Chapel Hill 2016.

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neue globale Formen der Massenmigration (coolies) mit lokalen Sklavereiformen und Mischformen zwischen Sklavereien und anderen Arbeitsformen verbanden. 29 Eine der großen Debatten dieser Chronologie des Sklavenhandels-Atlantiks besteht im Nachweis ihres Zusammenhangs zur Entwicklung des „westlichen“ Kapitalismus. Ich kann die Debatte und ihre Historiografie nur erwähnen, da sie sehr umfangreich ist. 30 Zusammenfassend kann gesagt werden, die die Debatte vor allem in den USA und in Brasilien geführt wird; in den Niederlanden ist sie überdeckt von Diskursen zum „Goldenen Zeitalter“, in Frankreich von den Debatten um die „Große französische Revolution“ und in Mitteleuropa sowie Deutschland ist sie, von Ausnahmen abgesehen, unbekannt. Am dichtesten unter dem long black veil von Abolitions-, Zivilisations- und Freiheits-Fortschritts-Dispositiven verborgen war der Zusammenhang Atlantic Slavery-Kapitalismus in Great Britain, vor allem wegen der Diskurse über die rein europäische „industrielle Revolution“ sowie die Diskurse über Abolition und Zivilisation seit der abrupten staatlichen Abschaffung (Abolition) des atlantischen Sklavenhandels auf britischen Schiffen (1808) und der Abolition der britischen Sklaverei im atlantischen Raum (1838). Mittlerweile ist aber gerade für Großbritannien die Rolle von Sklavenhalter und Sklavenhändlern nach Abolition der Sklaverei für die Entwicklung der liberal-kapitalistischen Gesellschaft in und mit der globalen Supermacht des 19. Jahrhunderts sehr schön nachgewiesen. 31 Von Sklaverei und Sklavenhandel sowie Kombinationen zwischen freier und versklavter Arbeit profitierten ganze Gesellschaften, Staaten, Ländern, Provinzen, Kronen, Klassen/Gruppen und Institutionen (vor allem Firmen, Banken, Kirchen) sowie einzelne Akteure (die in der heutigen Erinnerung meist als Spender, Gründer oder Wohltäter gewürdigt werden). Konzentriert finden sich die Profiteure in Städten, vor allem Hafenstädten des atlantischen Raumes. Ich will deshalb, sozusagen als knappe Zusammenfassung dieses kurzen Beitrages, quantitativ-spatial argumentieren, indem ich die Liste der Top 20-Profiteursstädte aufstelle („wichtigste Sklavenhäfen des atlantischen Raumes“ – Ausrüster-Städte der Sklavenhandelsschiffe), wohin die meisten Profite des atlantischen Sklavenhandels auch zurückflossen.32

29 Michael Zeuske, Viertes Sklavereiplateau – Abolitionsdiskurse, Bond-Sklaverei und Second Slaveries (Beginn um 1840), in: Michael Zeuske, Sklaverei. Eine Menschheitsgeschichte …, 96–119. 30 Für die USA, Brasilien und die Karibik siehe: Rockman Beckert, Seth (Hgg.), Slavery’s Capitalism: A New History of American Economic Development, Philadelphia 2016; José Antonio Piqueras, (coord.), Esclavitud y capitalismo histórico en el siglo XIX. Brasil, Cuba y Estados Unidos, Santiago de Cuba 2016. 31 Catherine Hall /Nicholas Draper /Keith McClelland, Introduction, in: Catherine Hall; Nicholas Draper; Keith McClelland et al. (Hgg.), Legacies of British Slave-ownership. Colonial Slavery and the Formation of Victorian Britain, Cambridge 2014 (Paperback 2016), 1–32. 32 Die Liste stammt aus: David Eltis; David Richardson, Atlas of the Transatlantic Slave Trade. Foreword by David Brion Davis; Afterword by David W. Blight, New Haven and London 2010, 39 (Table 3 „African Captives Carried on Vessels Leaving the Largest Twenty Ports Where Slave Trading Voyages Were Organized, 1501–1867“); siehe auch: Jacob Price, Eco-

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Die Liste der afrikanischen Entsendehäfen von Versklavten, die mittels der Schiffe aus den Ausrüsterstädten vor allem in die Amerikas transportiert wurden, nenne ich nur mit dem Verweis darauf, dass auch einige Profite (in uns unbekannter Höhe) an die oben genannten Profiteure in afrikanischen Gesellschaften flossen. Vor allem aber wurden afrikanische Opfer des Sklavenhandels von afrikanischen oder arabischen Transporteuren an europäische oder amerikanische Faktoren sowie Sklavenschiffskapitäne verkauft oder vertauscht. 33 An der Liste wird vor allem die Rolle des heutigen Angola als „Produktions-“ und Entsendegebiete und Luandas sowie der Rolle der Gold- und Sklavenküste (mit Onim/Lagos als städtisches Zentrum) deutlich. 34 Aus der Liste der Ausrüsterstädte kann relativ leicht die wirkliche globalhistorische Bedeutung der Sklavenhändlerstädte als Portale und Hubs sowie Hot-Spots der kapitalistischen Akkumulation im Plateau der Atlantic Slavery extrahiert werden. Hafenstadt Rio de Janeiro Salvador de Bahia Liverpool London Bristol Nantes Recife Lissabon Havanna 35 La Rochelle

Zahl der Captives (Versklavte) 1 507 000 1 362 000 1 338 000 829 000 565 000 542 000 437 000 333 000 250 000 166 000

nomic function and the growth of American port towns in the eighteenth century, in: Perspectives in American History VIII/1974, 123-186; Franklin W. Knight /Peggy K. Liss (Hgg.), Atlantic Port Cities. Economy, culture and society in the Atlantic world, 1650–1850, Knoxville 1991; Allan J. Kuethe, Havana in the eighteenth century, in: Liss Knight (Hg.), Atlantic Port Cities, 13-39; Price, Summation: the American panorama of Atlantic port cities, in: Liss Knight (Hg.), Atlantic Port Cities …, 262–276; Eltis; Lovejoy; Richardson, Slave-Trading Ports: Toward an Atlantic-Wide Perspective, in: Robin Law; Silke Strickrodt (Hg.), Ports of the Slave Trade (Bights of Benin and Biafra), Stirling 1999, 12–34. 33 Michael Zeuske, Menschenhandel und Castings an den Küsten Afrikas und der Beginn der atlantischen Überfahrt, in: Michael Zeuske, Sklavenhändler, Negreros und Atlantikkreolen …, 116–146. 34 „Estimated Number of Slaves Carried on Vessels Leaving the Largest Twenty Ports of Embarkation in Africa, 1501–1867“, in: Richardson, Eltis Atlas of the Transatlantic Slave Trade …, 90. 35 Um die Probleme des Hidden Atlantic in Bezug auf eine solche Schätzung anzudeuten: die meisten Versklavten wurden nach 1835 außerhalb Havannas an der kubanischen Nordküste angelandet; siehe: Michael Zeuske, Out of the Americas: Slave traders and the Hidden Atlantic in the nineteenth century, 103–135.

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Texel 165 000 Le Havre 142 000 Bordeaux 134 000 Vlissingen 123 000 Rhode Island 36 111 000 Middelburg 94 000 Sevilla und Sanlúcar de Barrameda 74 000 St.-Malo 73 000 Bridgetown, Barbados 58 000 Cádiz 53 000 Total 8 356 000 Alle bekannten Sklavenschiffs-Ausrüs- 9 024 000 terstädte zusammen Top-20 in % aller bekannten Sklaven- 93% schiffsausrüster-Städte

Brasilien steht wirklich mit Rio, Bahia und Recife (mit über 3 Mio. in die Amerikas Verschleppten) an der Spitze; die „Metropole“ Lissabon (bis 1822/25) ist der „Kolonie“ (bis 1822, dann unabhängiges Kaiserreich bis 1889) nachgeordnet. 37 Dann folgen die englischen Sklavenhandels-Zentren Liverpool 38, London und Bristol 39 (rund 2,5 Mio. Verschleppte); mit der Insel Barbados und rund 60.000 Verschleppten liegt eine Sklaverei-Kolonie, wenn auch eine par excellence, im hinteren Feld. Kingston auf Jamaika mit knapp einer Million Verschleppter 1692–1808, die nach Ankunft in der Stadt auf Jamaika zu amerikanischen Versklavten wurden, kommt in dieser Liste gar nicht vor, es ist unter Liverpool, London und Bristol verborgen – Kingston müsste auf Platz 4 rangieren. 40 Frankreich ist insofern ein Sonderfall, dass die Häfen der französischen Atlantikküste erst seit Ende des 17. Jahrhunderts, massiv erst mit der Herausbildung des „bourbonischen Atlantiks“ nach 1715 (französische und spanische Bourbonen) in 36 Mit Newport, Providence, Bristol und Warren. 37 Fonseca, Escravos e senhores na Lisboa quinhentista, Lisboa 2010. 38 Drescher, The Slaving Capital of the World: Liverpool and National Opinion in the Age of Abolition, in: Manning (Hg.), Slave Trades, 1500–1800. Globalisation of Forced Labour, Aldershot 1996, 334–349. 39 Richardson, The Bristol slave traders: A collective portrait, Bristol: Bristol Branch of the Historical Association, 1985; Richardson (Hg.), Bristol, Africa, and the Eighteenth-Century Slave Trade to America, 4 Bde., Bristol: Bristol Record Society, 1986–1996. 40 Table 3 „African Captives Carried on Vessels Leaving the Largest Twenty Ports Where Slave Trading Voyages Were Organized, 1501–1867“, in: Eltis; Richardson, Atlas of the Transatlantic Slave Trade, S. 39; zu Kingston siehe: Trevor Burnard /Morgan Kenneth, The Dynamics of the Slave Market and Slave Purchasing Patterns in Jamaica, 1655–1788“, in: William and Mary Quarterly LVIII/2001, 205–228; zur atlantischen Sklaverei auf Jamaika siehe: Diptee, From Africa to Jamaica: The Making of an Atlantic Slave Society, 1776–1807, Gainesville 2010.

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Sklavenhandel und Kolonialsklaverei einstiegen und vor allem nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges die dynamischsten und am schnellsten wachsenden Ressourcen- und Sklavereikolonien in der Karibik hatten; die relativ kleinen französischen Les Amériques waren (ebenso relativ) die amerikanischen Kolonien mit den dichtesten Versklavten-Populationen. 41 Diese dichte Sklaven-Population (9:1 auf Saint-Domingue/heute Haiti) führte quasi zwangsläufig zur größten und globalhistorisch einzig erfolgreichen Revolution gegen Sklaverei, Sklavenhandel und Kolonialismus. 42 Häfen der französischen Atlantikküste belegen, vor allem wegen des massiven Sklavenhandels im 18. Jahrhundert, den dritten Rang (Nantes, La Rochelle, Le Havre, Bordeaux, St.-Malo, rund 1,1 Mio. Verschleppte 43). Havanna ist nach Zahlen die Sklaven-Metropole des spanischen Kolonialreiches (obwohl viele geschmuggelte Verschleppte in der Zahl gar nicht erfasst sind), gefolgt von Sevilla und seinem Hafen sowie Cádiz (rund 380.000 Verschleppte); Mexiko-Stadt mit der größten Sklavenpopulation des spanischen Imperiums im 17. Jahrhundert (größer als Sevilla) ist nicht mal erwähnt. 44 41 Buti Gilbert, Marseille, port négrier au XVIIIe siècle, in: Cahiers des Anneaux de la Mémoire 11/2007, 163–180 (=Les ports et la traite négrière en France). 42 David P. Geggus /Norman Fiering (Hg.), The World of the Haitian Revolution, Bloomington and Indianapolis 2009; David P. Geggus, The Caribbean in the Age of Revolution, in: David Armitage /Sanjay Subramanyam (Hgg.), The Age of Revolutions in Global Context, c. 1760– 1840, New York 2010, 83–100; David P. Geggus (ed., transl., with introd.), The Haitian Revolution. A Documentary History, Indianapolis/Cambridge 2014; Jeremy D. Popkin (Hg.), Facing Racial Revolution: Eyewitness accounts of the Haitian Insurrection, Chicago 2007; Popkin, You Are All Free. The Haitian Revolution and the Abolition of Slavery, New York 2010; Ada Ferrer, Freedom’s Mirror. Cuba and Haiti in the Age of Revolution, New York 2014. 43 Jean Mettas, Répertoire des expéditions négrières françaises au XVIIIe siècle, 2 Bde., Paris: SFHOM, 1975/84 (Tome I : Nantes, ed. Daget, Serge ; Tome II : ports autres que Nantes, ed. Daget; Daget, Michèle); Daget, Serge (Hg.), De la traite à l’esclavage, Ve au XIXème siècle: Actes du Colloque International sur la Traite des Noirs (Nantes 1985), Société Française d’Histoire d’Outre-mer and Centre de Recherche sur l’Histoire du Monde Atlantique Bd 2., Nantes 1988; Daget, Répertoire des Expéditions Négrières Françaises à la Traite Illégale (1814–1850), Nantes: Centre de recherche sur l’histoire du monde atlantique: Comite nantais d’études en sciences humaines, 1988; Jean-M. Deveau, La traite rochelaise, Paris 1990; Gaston Martin, L’ère des négriers: Nantes au XVIIIe siècle, 1714–1774, Paris 1993; Joseph Mosneron-Dupin, Pétré-Grenouilleau, Moi, Joseph Mosneron, armateur négrier nantais, 1748–1833: portrait culturel d’une bourgeoisie négociante au siècle des Lumières, Rennes 1995; Pétré-Grenouilleau, Nantes au temps de la traite des Noirs, Paris 1998; Alain Roman, Saint-Malo au temps des négriers, Paris 2001; Éric Saugera, Bordeaux, port négrier: chronologie, économie, idéologie XVIIe – XIXe siècles, Paris 2002; Éric Saunier, Le Havre, port négrier : de la défense de l’esclavage à l’oubli , in: Cahiers des Anneaux de la Mémoire, 11/2007, 23–41. Die beste und kürzeste Zusammenfassung ist: Frédéric Régent, Les négociants, les colons, le roi et la traite négrière, in: Régent, La France et ses esclaves: de la colonisation aux abolitions (1620–1848), Paris 2007, 37–57. 44 Alfonso Franco Silva, La esclavitud en Andalucía al término de la edad Media, in: Cuadernos de Investigación Medieval 3/1985, 1–56; Santos Cabota, María del Rosario, El mercado de esclavos en la Sevilla de la primera mitad del siglo XVIII, in: Isidoro Moreno (Hg.), La antigua

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Niederländische Häfen belegen Rang 5: Texel, Vlissingen und Middelburg (rund 370.000 Verschleppte). Ein nordamerikanischer Sklavenhandels- und Hafenkomplex, der von Rhode Island, belegt den letzten Platz im Ranking der 20 Städte (111 000 Verschleppte). Der wichtigste Sklavenhandelshafen der Südostküste der Vereinigten Staaten, Charlestown, erscheint unter den 20 Städten gar nicht. Die USA haben mit knapp 400.000 Verschleppten (bis 1808) eher eine periphere Rolle im atlantischen Sklavenhandel gespielt; die große Zeit der Sklaverei des South und der SklavenhandelsProfiteurs-Städte (wie New York und New Orleans) beruhte auf internem Sklavenhandel und möglicherweise Menschenschmuggel des Hidden Atlantic. 45 Die globalhistorischen fundamentalen Unterschiede zwischen europäischen Städten und amerikanischen Städten wird in dieser quantitativen Liste kaum deutlich. Die Städte Europas fungierten in Bezug auf die Masse der Verschleppten als Vermittler- Kredit- und Profitzentren in einem mehrheitlichen Süd-Süd-Geschäft (auch wenn es eine ganze Reihe von Afrikanern und Afrikanerinnen in ihnen gab bzw. Seeleute und Atlantikkreolen). Die amerikanischen Städte fungierten ebenfalls als Vermittler (etwa in Bezug auf Plantagen- und Bergbau-Gebiete), waren aber zugleich Zentren massiver kolonialer Sklavereien und Wohnorte von Versklavten und Versklavern. 46 Auf eine Karte der Atlantikküste Europas umgelegt, unter die wir alle hier aufgeführten europäische Häfen zusammenfassen können, reicht die Landschaft der Portale der Sklavenhandelsatlantiks von Lissabon, Lagos, Cádiz/Sevilla sowie Valencia über die französische Atlantikküste auf der einen, bis Vlissingen/Middelburg

hermandad de los negros de Sevilla. Etnicidad, poder y sociedad en 600 años, Sevilla 1997, 501–509; Carmen Fracchia, The Urban Slave in Spain and New Spain, in: Elizabeth McGrath, Jean Michel Massing, (Hgg.), The Slave in European Art: From Renaissance Trophy to Abolitionist Emblem, London and Turin 2012 (The Warburg Colloquia Series, Vol. 20), 195– 216; Arturo Morgado García, Guerra y esclavitud en el Cádiz de la modernidad, in: Martín Casares; García Barranco, Margarita (Hgg.), La esclavitud negroafricana en la historia de España, Alborote 2011, 55–74; Morgado García, Una metropolí esclavista: el Cádiz de la modernidad, Granada 2013; Pablo Miguel Sierra Silva, Portuguese Encomenderos de Negros and the Slave Trade within Mexico, 1600–1675, in: Journal of Global Slavery Vol. 2;3/2017, 221 –247; Magdalena Díaz Hernández, Esclavos/as, cimarrones, monarquía, poder local y negociación en Nueva España, in: Mexican Studies/Estudios Mexicanos 33/2017, 296–319. 45 Walter Johnson, Making a World out of Slaves, in: Walte Johnson, Soul by Soul. Life inside the Antebellum Slave Market, Cambridge u. London 2000, 78–116; Steven Deyle, The Domestic Slave Trade in America. The Lifeblood of the Southern Slave System, in: Walter Johnson (Hg.), The Chattel Principle: Internal Slave Trades in the Americas, 1808–1888, New Haven 2004, 91–116; Michael Zeuske, La Habana and Nueva Orleans/New Orleans – Two Metropolis of Slave Trade, in: Ottmar Ette /Gesine Müller (Hgg.), New Orleans and the Global South. Caribbean, Creolization, Carnival, Hildesheim/Zürich/New York 2017, 337–375. 46 Jeremy Adelman, Capitalism and Slavery on Imperial Hinterlands, in: Jeremy Adelman, Sovereignty and Revolution in the Iberian Atlantic, Princeton and Oxford 2006, 56–100.

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Michael Zeuske

(Vlissingen ist der Hafen von Middelburg) und Texel (die westfriesische Sklaveninsel im Norden Amsterdams) sowie London-Bristol-Liverpool auf der anderen Seite. Die frühen Empfängerstädte und späten Ausrüsterstädte des kolonialen Amerika (vor allem Spanisch-Amerika bis um 1640), wie Santo Domingo, CartagenaPortobelo/Panamá (eines der ganz großen frühen Atlantik- und AkkumulationsHubs), Quito, Guayaquil, Lima und Mexiko, erscheinen in der Liste gar nicht; auch Grenzregionen mit Razziensklavereien (natürlich) nicht. 47 Die Menschenexporte aus den Afrikas im 18. Jahrhundert, dem „Jahrhundert der Aufklärung“ und der Merkantil- sowie Supermachtkriege, waren schlichtweg enorm: Anfang des 18. Jahrhunderts wurden ca. 20.000 Menschen im Jahr aus Afrika exportiert, Ende des Jahrhunderts waren es rund 80.000 Menschen im Jahr – insgesamt rund 6.495.500. Das bedeutet: etwa sechseinhalb Millionen Menschen in nur einem Jahrhundert. Multipliziert man diese Zahl mit den rund 300 Pesos, die ein Sklaven im spanischen Bereich kostete (in den anderen Sklaverei-Gesellschaften oft etwas weniger), kommt man auf die enorme Summe von 1.948.650.000 (fast 2 Milliarden Silberpesos, die man, je nach Umrechnungsschätzung mal 20–30 nehmen muss, um sie in heutigen Werten auszudrücken). 48 Diese fast zwei Milliarden Silberpesos sind zweifelsfrei ein potentieller Wert, denn niemand hat das wirklich für all die Verschleppten bezahlt (der Wertbegriff „Milliarde“ für irgendwelche annähernd realen Berechnungen von Geldsummen kam wohl erst im späten 19. Jahrhundert auf). Auch müssen die Investitionen abgezogen werden, die vor einer individuellen Sklavenfahrt anstanden. Oft waren das aber Schulden oder Kredite bzw. Verrechnungen. Viele menschliche Körper wurden geschmuggelt, eingetauscht, zur Bezahlung von Krediten oder Schulden verrechnet oder in anderen Werten bzw. Geldarten bezahlt. Aber das gilt ja auch für andere Fundamentalwerte (wie Edelmetalle oder den Gesamtwert von Waren im transkontinentalen Austausch). Der Wert des Kapitals menschlicher Körper, der in diesem potenziellen Wert in etwa repräsentiert ist, zeigt aber die Zentralität des atlantischen Raumes und die Bedeutung der von Europäern und Amerikanern dominierten Akkumulationsmaschine des Atlantic slavery. Nach den Schätzungen von Robin Blackburn hatte die Sklaverei, sozusagen an Land und mit internem Sklavenhandel – außer für Kuba, dessen Sklavereieliten bis um 1870 massiven atlantischen Menschenschmuggel betrieben – als modernste Second Slavery für die großen und mächtigen Staaten Amerikas, vor allem für die USA eine besondere Bedeutung: „By 1860, there are six million 47 Jaime Valenzuela Márquez (Hg.), América en Diásporas. Esclavitudes y migraciones forzadas en Chile y otras regiones americanas (siglos XVI–XIX), Santiago de Chile 2017. 48 Siehe: Tabelle „Numbers of Slaves Taken from Africa …“, in: Eltis /Richardson, Atlas of the Transatlantic Slave Trade …; 23. Nur nach der Krise von 2008 kommen uns diese Milliarden „niedrig“ vor; siehe auch: Carlos Marichal, The Spanish-American Silver Peso: Export Commodity and Global Money of the Ancien Regime, 1500–1800“, in: Steven Topik /Carlos Marichal /Frank Zephyr (Hgg..), From Silver to Cocaine: Latin American Commodity Chains and the Building of the World Economy, 1500–2000 (American Encounters/Global Interactions Series), Durham 2006, 25–52.

Globalgeschichte der Sklaverei

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slaves in the Americas, and the crops they produce comprise over two-thirds of the hemisphere’s total exports. There were at least 40,000 slaveholding planters in the United States, ten thousand in Brazil, and over two thousand in Cuba“. 49 Die oben genannten Zahlen der Menschenexporte aus Afrika, besonders im 18. Jahrhundert, dem „Jahrhundert der Aufklärung“, des Übergangs zum Industriekapitalismus und der Merkantil- sowie Supermachtkriege, machen die Bedeutung der atlantischen Sklaverei in ihrer Dopplung als Land-Sklavereien (Plantagen, Bergbau, Haus, Infrastruktur, Handwerk) und als See-Sklaverei (Sklavenhandel, Schiffstransporte, Häfen, Schmuggel, Piraterie/Korsarentum) deutlich. Alle Geschichten der Sklaverei sind im Wesentlichen Geschichten der Institution, der Profite und der Wirtschaftsform. Sklaverei oder, wenn man eben die globalhistorische Brille aufsetzt, Sklavereien auch außerhalb des „Westens“ mit seinen Rekonstruktionen und Scharfzeichnungen des „römischen“ Rechts – wie etwa die Voraussetzungen dieser „westlichen“ Sklaverei in der „Sklaven-Produktion in Afrika“ (beyond the Atlantic) – haben aber neben den oben genannten Räumen und Profiteuren noch weitere Beteiligte. Direkt mit Sklaverei verbunden waren die sozialen Gruppen der Sklavenhalter (mit Verwaltern, Ärzten, Wachen, Notaren und Priestern), der Sklavenhändler, im zeitgenössischen Spanisch auch capitalistas genannt. 50 Die ganz großen Sklavenhändler, vor allem die in Europa, waren eher Schreibtischtäter und hatten oftmals keinen direkten Kontakt (face to face) zu Versklavten. Direkten Kontakt zu Versklavten hatten Kapitäne, Offiziere und Bootsleute der Sklavenschiffsschiffe, auch Schiffsärzte, Sklavenschiffsmatrosen und -handwerker, sowie Faktoren. Faktoren waren Chefs der Faktoreien 51 an den Küsten Afrika, wo Versklavte meist in barraccons/barracones oder quimbangas (eine Art Dienstleistungs-Lodge aus schweren Holzstämmen, unten Versklavte, oben Faktoren, Kapitäne und Personal), auf ihre Verladung warten mussten. Viele Männer, vor allem junge Männer aus der oben genannten Gruppe der tangomãos, dienten auf den Sklavenschiffen oder in den Faktoreien als Köche, Kabinendiener, Ruderer, Wachen,

49 „The rise and fall of New World slavery Robin Blackburn interviewed by Anthony Arnove“ (Interviews), in: International Socialist Review, Issue 79/2011 (unter: http://isreview. org/issue/79/rise-and-fall-new-world-slavery (24. Juli 2014)); zur Second Slavery siehe: Dale W. Tomich, Through the Prism of Slavery. Labor, Capital, and World Economy, Boulder 2004; Tomich & Zeuske (eds.), The Second Slavery: Mass Slavery, World-Economy, and Comparative Microhistories, 2 Bde., Binghamton 2009 (= special issue; Review: A Journal of the Fernand Braudel Center, Binghamton University XXXI, 2,3/2008); Laviña, Javier; Zeuske (eds.), The Second Slavery. Mass Slaveries and Modernity in the Americas and in the Atlantic Basin, Berlin; Muenster; New York 2014 (Sklaverei und Postemanzipation/Slavery and Postemancipation/Esclavitud y postemancipación; Vol. 6). 50 Ortega, José Guadalupe, „Cuban Merchants, Slave Trade Knowledge, and the Atlantic World, 1790s–1820s“, in: Colonial Latin American Historical Review Vol. 15:3 (2006), 225–251, hier 229. 51 Gustau Nerín, La Factoria, in: Nerín Gustau, Traficants d’ànimes. Els negrers espanyols a l’Àfrica, Barcelona 2015, 38–47.

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Übersetzer, Heiler, Lotsen und Essensverteiler. Als Schiffspersonal lebten sie faktisch auf dem Atlantik – deshalb ist ihre allgemeine Bezeichnung Atlantikkreolen. In Afrika sorgten Razzienkrieger, Chefs von Razzien-Mannschaften und Karawanen, Kaufleute und Schiffsführer mit ihren Mannschaften für die „Produktion“ von Versklavten und für ihren Transport aus Gebieten fern der Küsten zur Küsten für den ständigen Nachschub an versklavten Menschen. 52 Diese versklavten Menschen erscheinen dann auf den Ladelisten der Sklavenschiffe nur in ihrer Wertfunktion als Kapital menschlicher Körper mit einer Warenmarkierung (Brandzeichen/calimbo: z.B.: „Mann, Alter 20 Jahre, ohne Krankheiten oder Verletzungen“ oder „Frau, 18 Jahre, gebrochener Finger“). 53 Alle die bis jetzt genannten Gruppen haben in den Mainstream-Geschichten der Sklaverei (Institution, Wirtschaftsform, Rechtssystem) eine Darstellung mit von ihnen produzierten Quellen und Repräsentationen gefunden – Sklavenhalter und Sklavenhändler mehr, Atlantikkreolen, Matrosen und Dienstpersonal eher weniger. Die einzigen, die keine Darstellung auf Basis eigener Quellen und Repräsentationen erfahren haben, auch weil sie selten schrieben und Quellen anderer Art nutzten, sind Versklavte in der Sklaverei (nicht danach, wie die meisten slave narratives). Hier habe ich diese „Nichtgeschichte der Versklavten vorwiegend für das dritte Plateau der Atlantic Slavery dargestellt. Die „Nichtgeschichte von Versklavten“ gilt auch für andere der oben genannten Sklavereidimensionen (mit relativer Ausnahme literater Elite-Sklaven in islamischen Gesellschaften). Versklavte haben bislang keine Geschichte in Afrika, wie auch auf dem Atlantik nicht und auch nicht in den Amerikas. 54

52 Siehe (speziell für Angola): Beatrix Heintze /Adam Jones (Hgg.), European Sources for SubSaharan Africa before 1900: Use and Abuse, Stuttgart 1987 (= Paideuma 33); Beatrix Heintze, Afrikanische Pioniere. Trägerkarawanen im westlichen Zentralafrika (ca. 1850–1890), Frankfurt am Main 2002. 53 Michael Zeuske, Die Nicht-Geschichte von Versklavten als Archiv-Geschichte von „Stimmen“ und Körpern, in: Jahrbuch für Europäische Überseegeschichte 16/2016, 65–114. 54 Michael Zeuske, Die Nicht-Geschichte von Versklavten als Archiv-Geschichte von „Stimmen“ und Körpern, 65–114; Vicent Sanz /Michael Zeuske, Microhistoria de esclavos y esclavas, in: Sanz; Zeuske (Hgg.), Millars. Espai i Història Vol. XLII 1/2017 (=número monográfico dedicado a ‚Microhistoria de esclavas y esclavos‘), 9–21 (http://repositori.uji.es/xmlui/bitstream/ handle/10234/168225/Sanz_Zeuske.pdf?sequence=1 (16. Juli 2017)).

EUROPÄISCHE, ASIATISCHE UND AFRIKANISCHE WAREN IM TRANSATLANTISCHEN SKLAVENHANDEL Klaus Weber Unter den vielen Klischees, die zum transatlantischen Sklavenhandel kursierten, gehörte die Auffassung, dass afrikanische Händler den Europäern ihre eigenen Landsleute für eine Handvoll Glasperlen und Kaurimuscheln oder für ein paar Spiegel und ähnlichen Tand verkauften. Diese Waren gehörten tatsächlich zu den breit aufgefächerten Sortimenten, die europäische Sklavenschiffe auf dem Weg nach Afrika an Bord hatten, und tatsächlich wurden Sklaven in Afrika fast ausschließlich im Tauschhandel und nicht gegen Geld erworben. Hinter dem Klischee steckt allerdings ein rassistisches Vorurteil: Afrikaner waren demnach dumm genug, solchen Plunder zu akzeptieren, und barbarisch genug, um dafür Menschen zu verkaufen. Ein wesentlicher Grund für die Praxis des Tauschs war, dass man sich an der gesamten Küste von Senegal bis Angola weniger für Geld interessierte als die Europäer, und zwar deshalb, weil dort mehr Geld bzw. Gold kursierte. Vom Hinterland der Goldküste – dem heutigen Ghana – bis zum Gebiet des heutigen Mali reichten die Fundstätten, an denen das Metall seit dem Altertum gefördert wurde. Der Bergbau und die Besteuerung des Goldhandels trugen zum Aufstieg von Großreichen bei, wie z.B. dem mittelalterlichen Songhay, das von der Gambiamündung bis zum Nigerbecken reichte. Von dort floss Gold seit den vorchristlichen Jahrtausenden über den Karawanenhandel stetig dahin ab, wo es knapper war: nach Europa und v.a. nach Asien. Der phönizische und im Mittelalter der genuesische Seehandel beruhten u.a. anderem auf dieser Edelmetallnachfrage. Im Gegenzug lieferten z.B. die Phönizier und dann die Genuesen Textilien, Gewürze, Eisen- und Kupferwaren nach Nordafrika, und vieles davon ging über den Karawanenhandel bis in den Subsahara-Raum. Auch der europäische Asienhandel, der ebenfalls weit ins Altertum zurückreicht, steht in diesem Zusammenhang: Weil Edelmetalle bei ihnen noch knapper waren als in Europa, ließen Araber, Syrer und Inder sich ihre begehrten Waren – Baumwoll- und Seidenstoffe, Indigo, Gewürze etc. – genau damit bezahlen. Europäische Klagen über stetig negative Bilanzen im Asienhandel ziehen sich durch die Epochen. So schätzte der römische Gelehrte Plinius zum Abfluss römischer Goldmünzen im 1. Jahrhundert, dass „Indien, die Serer und die Halbinsel Arabien […] unserem Staate alle Jahre 100 Millionen Sesterzen“ entziehen. 1

1

Hermann Kulke / Dietmar Rothermund, Geschichte Indiens. Von der Induskultur bis heute, München 2006, 137–138.

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Mit der Entwicklung der portugiesischen Seefahrt im Westen und der arabischen Seefahrt im Indik wurde Afrika enger mit Asien und Europa verflochten. Um 1470, als die Portugiesen bei der Suche nach einem direkten Weg nach Indien die Goldküste und die östlich anschließende Sklavenküste erreichten, war Westafrika längst über innerafrikanische Handelswege mit Mombasa und weiteren arabischen Häfen am Indik verbunden. Von dort bezog es indische Baumwollstoffe und andere hochwertige Erzeugnisse. Auch auf diesen Handelwegen floss Gold über Arabien nach Asien ab. Kaufleute und Verbraucher an der gesamten Guineaküste waren also gut informiert über Herkunft und Wert aller möglichen Güter, die in der gesamten „Alten Welt“, d.h. in Afrika, Europa und Asien verfügbar waren. Bereits 1471, also gleich nach ihrer Ankunft an der Goldküste, errichteten die Portugiesen dort die Festung El Mina, einen Handelsposten für den Erwerb von Gold und Malaguetta-Pfeffer. Dafür zahlten sie mit europäischen Kupfer- und Messingwaren sowie mit Hieb- und Stichwaffen bester Güte – also mit Degen und Säbeln aus Solingen, die schon seit langem über Brügge und Lissabon nach Afrika gelangten und sich dort größer Beliebtheit erfreuten. Nicht von ungefähr zieren zwei gekreuzte Klingen und ein Anker das Solinger Stadtwappen – man war sich der Bedeutung überseeischer Märkte bewusst. Für das Gold zahlten die Portugiesen außerdem mit Sklaven, die sie nur wenige hundert Kilometer weiter östlich an der Sklavenküste erwarben, ebenfalls über Tauschgeschäfte. Den etablierten afrikanischen Sklavenhändlern, die den Weg zur Goldküste in Ruderkanus oder mit Strandmärschen bewältigen mussten, waren die Portugiesen mit ihren Karavellen überlegen. Die so verschifften Sklaven wurden u.a. in den Goldminen eingesetzt. Die genuin portugiesische Nachfrage blieb bis zum Aufbau einer eigenen Plantagenökonomie relativ gering. Von etwa 800 Sklaven pro Jahr in den 1460er Jahren stieg der portugiesische Handel auf 2.000 pro Jahr um 1500, und auf 2.600 um 1530. Etwa ein Drittel all dieser Verschleppten wurde an der Goldküste gegen Edelmetall getauscht. Um 1520 konnten die Portugiesen so jährlich etwa 400 kg Gold einhandeln, schätzungweise ein Viertel der gesamten westafrikanischen Fördermenge. Die übrigen zwei Drittel der Sklaven wurden auf die Zuckerplantagen der portugiesisch besetzten Inseln São Tomé und Madeira sowie der spanischen Kanaren verschleppt, sowie nach Portugal, wo die Frauen v.a. in städtischen Haushalten und die Männer vor allem im dünn besiedelten agrarischen Hinterland arbeiten mussten. 2 So sammelten die Portugiesen bereits vor Kolumbus’ Reisen wertvolle Erfahrungen im maritimen Sklavenhandel. Erst mit den spanischen und portugiesischen Eroberungen in Amerika wurde der portugiesische Sklavenhandel transatlantisch. Ab 1600 wurde Brasilien mit seinen Zuckerplantagen der größte Markt. In den 1610er Jahren absorbierte er rund 6.000 Sklaven pro Jahr, gefolgt von SpanischAmerika mit etwa 3.700 jährlich. Die versklavten Menschen wurden mittlerweile in den verschiedensten Sektoren eingesetzt, aber die Zuckerproduktion blieb immer der wichtigste.

2

Ivana Elbl, The Volume of the Early Atlantic Slave Trade, 1450–1521, in: Journal of African History, 38/1997 1, 31–75.

Europäische, asiatische und afrikanische Waren im transatlantischen Sklavenhandel

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Allerdings wird der damalige Handel mit Afrika häufig auf das Geschäft mit Sklaven reduziert, was das Bild stark verzerrt. Erst nach 1700, nachdem auch Briten und Franzosen eine „sugar revolution“ ausgelöst und auf Jamaika und Saint-Domingue riesige Flächen in Zuckerplantagen verwandelt hatten, übertraf der Export von Sklaven dem Wert nach alle anderen Exporte Westafrikas. Neben Gold gingen v.a. Gewürze, Straußenfedern, Farbstoffe, Gummi Arabicum (unabdingbare für das Färben von Kattunstoffen), hochwertige Textilien (teils aus Palmfasern und teils aus afrikanischer Baumwolle gewebt) nach Europa. 3 Die Ausfuhr von Sklaven erreichte ihr Hoch erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als im Schnitt 76.000 Menschen pro Jahr über den Atlantik verschleppt wurden, wobei die Zahl in einigen Phasen über 100.000 stieg. Neben dem Zuckersektor, in dem die allermeisten Sklaven eingesetzt wurden, sind vor allem der Tabak-, Baumwoll- und Kaffeeanbau bedeutend geworden. Das Angebot an Sklaven war also recht elastisch und konnte die bis etwa 1800 stetig steigende Nachfrage decken, wobei die Anbieter immer höhere Preise fordern konnten. 4 Es handelte sich also um einen freien Markt im Sinne Adam Smiths. Mindesten ebenso elastisch blieb das Angebot an Tauschwaren, die in Europa und Asien und in geringerem Umfang in Brasilien und Nordamerika speziell dafür produziert wurden. Entgegen den oben angeführten Klischees waren das ganz überwiegend hochwertige Gewerbeerzeugnisse, die in Afrika nicht oder nicht zu vergleichbaren Preisen hergestellt werden konnten. Die Internationalität dieses Handels trug zur Breite des Angebots bei. Sobald um 1600 die Niederländer und Briten und um 1700 auch die Franzosen in die Riege der Kolonialmächte und Plantagenbetreiber eingedrungen waren, profilierten sie sich auch als Sklavenhandelsnationen. Die Portugiesen blieben allerdings bis ins 19. Jahrhundert die bedeutendsten Akteure auf diesem Feld. Daneben tummelten sich auch Dänen und Schweden, und von 1681 bis 1711 sogar Preußen, mit der Brandenburgisch-Afrikanischen Compagnie. Alle diese Nationen konkurrierten in dem Geschäft und suchten mit einem guten Warenangebot die besten Handelsabschlüsse zu erzielen. In Kenntnis der breiten Palette europäischer und asiatischer Erzeugnisse erwarteten die afrikanischen Anbieter von Sklaven von jedem Handelspartner auch ein attraktives Sortiment. Deshalb konnte kein Sklavenschiff seine Tauschwaren allein aus Erzeugnissen des eigenen Landes zusammenstellen. Jedes dieser Schiffe glich einem „schwimmenden Supermarkt“ mit Waren aus verschiedensten Weltregionen, inklusive Asien und Amerika, und manchmal auch Afrika. 5 Über die gesamten vier Jahrhunderte des transatlantischen Sklavenhandels stellten Textilien mit einem Wertanteil von rund 50 % immer die wichtigste Ware. 3 4 5

David Eltis, The Relative Importance of Slaves and Commodities in the Atlantic Slave Trade of Seventeenth-Century Africa, in: Journal of African History, 35/1994 2, 237–249. Paul Lovejoy, Transformations in Slavery: A History of Slavery in Africa, Cambridge 1983, 45. David Eltis / Frank D. Lewis / David Richardson, Slave prices, the African slave trade, and productivity in the Caribbean, 1674–1807, in: Economic History Review, 58/2005 4, 673–700. Stanley B. Alpern, What Africans Got for Their Slaves: A Master List of European Trade Goods, in: History in Africa, 22/1995, 5–43, 6.

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Dazu gehörten als Arbeitskleidung geeignete robuste Leinenstoffe aus Nordfrankreich und verschiedenen deutschen Regionen, feinere gebleichte Leinensorten, iberische, flämische und britische Wolltuche, Seidenstoffe aus Südeuropa und Asien und alle möglichen Mischgewebe. Die Portugiesen plagiierten auf São Tomé, den Kapverden und Madeira zeitweise afrikanische Stoffe, wozu sie auch afrikanische Sklaven einsetzen. Bereits im frühesten 16. Jahrhundert, kaum dass sie im indischen Goa Fuß gefasst hatten, erweiterten die Portugiesen ihre Sortimente um indische Kattungewebe und bald auch um Seiden aus Persien und China. Die wachsende afrikanische Nachfrage nach diesen Tauschwaren trug wesentlich zur Ausweitung des Handels der europäischen Ostindienkompanien bei. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts gelang es den Europäern, die indischen Baumwollstoffe in einer Güte zu kopieren, die in Afrika akzeptiert wurde. Manufakturen dafür entstanden in Seestädten wie Leiden, Haarlem, Manchester, Rouen, La Rochelle, Nantes und Hamburg, aber auch in scheinbar entlegenen Orten wie Augsburg, Neuchâtel und Winterthur. Kopien asiatischer Seidenstoffe kamen aus Holland, Südfrankreich und Italien. 6 An zweiter Stelle standen Metallwaren: schwedisches, russisches, bergisches, baskisches oder englisches Stangeneisen, Kupfer und Messing in Platten und Blechen aus Skandinavien, Aachen und Stolberg, dem Südharz und Ungarn. All diese Halbfertigwaren wurden von afrikanischen Schmieden und Kunsthandwerkern zu Gebrauchsgegenständen und Schmuckwerk aller Art weiterverarbeitet. Unter den Fertigwaren rangierten unübersehbare Mengen von Küchen- und Kochgeschirr aus Kupfer und Messing. Sehr gefragt waren auch kupferne Armreifen, sogenannte Manilhas, die nicht nur als Schmuck dienten, sondern auch für andere Verwendungen eingeschmolzen wurden oder als eine Währung dienten. Das Augsburger Handelshaus der Fugger, das im 16. Jahrhundet die großen Kupferbergwerke und -hütten im damals ungarischen Neusohl gepachtet hatte, schloss 1548 mit der portugiesischen Krone einen Vertrag über die Lieferung von 1,4 Millionen „manilhas“ (etwa 430 Tonnen Material), zehntausenden von Töpfen und Kesseln, 1800 breitrandigen Näpfen und 4.500 Barbierbecken – alles explizit für den Sklavenhandel. 7 Unter die Metallwaren fallen auch Blankwaffen und Feuerwaffen. Säbel und Degen aus Solingen wurden bereits erwähnt. Sie spielten in den Sortimenten der Portugiesen auch deshalb eine große Rolle, weil diese Nation ihren Sklavenhändlern den Export von Feuerwaffen nach Afrika untersagte. Erst im Verlauf des 17. Jahrhunderts, mit dem Eindringen von Niederländern und Briten in das Ge-

6

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Joseph E. Inikori, Africans and the Industrial Revolution in England. A Study in International Trade and Economic Development, Cambridge 2002, 427–451. Alpern, What Africans Got, 9– 10. Peter Haenger / Robert Labhardt / Niklaus Stettler, Baumwolle, Sklaven und Kredite. Die Basler Welthandelsfirma Christoph Burckhardt & Cie. in revolutionärer Zeit (1789–1815), Basel 2004. Mark Häberlein, Die Fugger. Geschichte einer Augsburger Familie (1367–1650), Stuttgart 2006, 80. Alpern, What Africans Got, 12–14.

Europäische, asiatische und afrikanische Waren im transatlantischen Sklavenhandel

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schäft, wurden auch Gewehre zu einer gefragten Tauschware. Sie kamen aus Manufakturen in Sheffield und Birmingham, im dänischen Seeland oder dem thüringischen Suhl, wo man sogenannte Seeflinten speziell für den afrikanischen Markt fertigte. Schätzungen zur Menge der jährlich nach Westafrika gelieferten Gewehre rangieren für das Ende des 18. Jahrhunderts von knapp 200.000 bis zu 400.000 – also viele Millionen für den gesamten Verlauf dieses Handels. Hinzu kommen unübersehbare Mengen an Pulver und Blei. 8 Eine besondere tiefblaue Baumwolle aus dem indischen Pondichery (ein Hafen der französischen Compagnie des Indes), bestimmte Eisenstangen und die erwähnten Manilhas waren in vielen Regionen Westafrikas als Ware sowie als Währung akzeptiert. Ein reines Zahlungsmittel waren dagegen die Kaurimuscheln. Der Handel von Kauris gegen Sklaven war also kein Tauschgeschäft, sondern monetarisierter Handel. Wieso aber waren diese Muscheln dort offenbar begehrter als Gold? Kauris konnten nur an einer einzigen Stelle dieser Welt produziert werden: auf den Malediven im Indischen Ozean, und zwar von einer nur dort vorkommenden Schneckenart – d. h. in einer begrenzten Menge, die man absolut nicht steigern konnte. Kauris sind einfach zu identifizieren, unbegrenzt haltbar, absolut fälschungssicher und genau deshalb als Währung bestens geeignet. Diese Wahl zeugt also von nüchternem ökonomischem Verstand. Kauris waren seit langem ein Zahlungsmittel in Südasien, China und Ostafrika – wo Gold und Silber besonders knapp sind – und gelangten erst ab 1515 durch den portugiesischen Asien- und Afrikahandel in größeren Mengen nach Westafrika; bis Ende des 19. Jahrhunderts könnten es insgesamt 50 Milliarden Stück gewesen sein. Im 17. und 18. Jahrhundert gingen die Muscheln zunächst nach Amsterdam und London, von wo sie – sortiert und gereinigt und zu bestimmten Mengen auf Schnüre gezogen – in den Afrikahandel gelangten. Eine ähnliche Funktion kam auch roten Korallen aus dem Mittelmeer und bunten venezianischen oder böhmischen Glasperlen zu, die allerdings nicht in so großen Mengen nach Afrika gingen und – anders als die weißlichen Kaurimuscheln – auch als Schmuck dienten. 9 Der Gesamtanteil der Genussmittel, also Tabak und v.a. Alkohol, im Tauschhandel lag bei weit unter 10 %. Für den eigenen Konsum der afrikanischen Handelseliten brachten die Europäer Weine von Madeira und Teneriffa, aus Spanien und Portugal sowie von der Loire, häufig als Gabe zur Eröffnung der Verhandlungen. Der größte Teil der Alkoholika bestand aus Branntwein, v.a. aus Frankreich, gefolgt von Zuckerrohrschnaps aus Brasilien, Neuengland und Orten wie Emden oder Flensburg, sowie englischem und holländischem Gin. Bier wurde erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts nach Afrika verschifft, aber erlangte damals keine große Bedeutung. Nur wenige Dekaden nach der Ankunft der amerikanischen Kulturpflanze Tabak in Europa verbreitete sie sich auch in Westafrika. Allerdings bevorzugten viele 8 9

Joseph E. Inikori, The Import of Firearms into West Africa 1750–1807: a Quantitative Analysis, in: The Journal of African History 18/1977 3, 339–368. Alpern, What Africans Got, 16–22. Jan S. Hogendorn / Marion Johnson, The Shell Money of the Slave Trade, Cambridge 1986. Alpern, What Africans Got, 22–24.

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Klaus Weber

Konsumenten die dort nicht angebauten brasilianischen Sorten, die so zu einer Tauschware wurden. Erst später gelang es, auch einen Markt für Virginia-Tabak zu schaffen. Wie in Europa kamen mit neuen Genussmitteln auch die zugehörigen Utensilien auf den Markt, in diesem Fall Pfeifen in verschiedenster Güte und Ausführung. 10 Neben diesen wichtigsten Warengruppen gab es eine unübersehbare Menge weiterer Tauschgüter: Spiegel und Trinkgläser, Brillen, Uhren, Schreibpapier, Keramik aus verschiedensten europäischen Ländern, Möbel aus Holland, Hängematten aus Brasilien, Sonnenschirme, Salz, Zucker, medizinische Kräuter, eingelegte Delikatessen etc. Besonders kostbare Objekte, wie vorgefertigte Holzhäuser mit zwei Etagen, besonders luxuriöse Roben, oder Pferde und Kutschen, dienten in der Regel als Geschenke an die politischen und wirtschaftlichen Eliten Westafrikas. 11 Dass diese Eliten unterworfene Menschen aus Nachbarregionen, aber teils auch eigene Landsleute gegen Konsumgüter verkauften, mag barbarisch erscheinen. Wegen des hohen Preises für afrikanische Sklaven brachten die europäischen Kolonisten aber bis weit ins 17. Jahrhundert hinein mehr europäische als afrikanische Arbeiter nach Amerika. Und auch die meisten dieser Europäer gingen nicht freiwillig dorthin: Es waren ganz überwiegend Sträflinge, Kriegsgefangene, Angehörige religiöser Minderheiten (irische Katholiken, französische Protestanten, iberische Juden …) und sozialer Randgruppen (Waisen, Vaganten, Prostituierte …), die man ansonsten gehenkt oder in Arbeits- bzw. Armenhäuser gesteckt hätte. In den neuen Kolonien ergab sich nun eine profitablere Verwendung, und so wurden sie von der Obrigkeit für eine Dienstzeit von meist vier bis sechs Jahren an Pflanzer verkauft, die sie i.d.R. nicht besser behandelten als Sklaven aus Afrika. Diese Sklaven hatten allerdings eine deutlich höhere Lebenserwartung, denn Menschen aus dem Subsahara-Raum sind von der Natur mit besseren Abwehrkräften gegen Malaria, Gelbfieber und andere Tropenkrankheiten ausgestattet worden als Europäer und die indigenen Bewohner der „Neuen Welt“. Das war der Grund, weshalb Sklaven aus Afrika in den Amerikas besonders gefragt und deshalb auch sehr viel teurer als indigene Sklaven waren. Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts, als Europa sich von langen Religions- und Bürgerkriegen erholte und die Nachfrage nach Arbeit sowie ihr Preis hier stiegen, wurden auch die Vertragsarbeiter immer teurer. Zugleich machte die Befriedung Europas auch Investitionen in den Kolonien sicherer, was einen Boom im Aufbau von Zuckerplantagen und damit eine kaum stillbare Nachfrage nach Arbeit auslöste. 12 Erst in dieser Phase, als europäische Arbeitskraft teurer geworden war als afrikanische, schwoll der bislang relativ schwache Strom von Sklaven über den Atlantik mächtig an – und damit der hier beschriebene Tauschhandel. Dass die europäischen Sklavenhändler und Plantagenbesitzer trotz kontinuierlich steigender 10 Alpern, What Africans Got, 24–27. 11 Alpern, What Africans Got, 27–32. 12 Piet C. Emmer (Hg.), Colonialism and Migration. Indentured Labour Before and After Slavery, Dordrecht 1986.

Europäische, asiatische und afrikanische Waren im transatlantischen Sklavenhandel

265

Preise weiterhin afrikanische Sklaven kauften, lässt sich unter anderem daraus erklären, dass die Rendite auf das pro Arbeitskraft eingesetzte Kapital in der Plantagenökonomie deutlich höher war als in den übrigen Sektoren der frühmodernen Wirtschaft. 13 Die Folgen der massenhaften Einfuhr von Fertigwaren nach Westafrika sind umstritten. Walter Rodney, Joseph Inikori und Paul Lovejoy sehen darin eine wesentliche Ursachen für schwere und langfristige soziale Verwerfungen sowie für das Ausbleiben einer Industrialisierung der Region. Vor allem der vormals gut entwickelte Textilsektor sei zerstört worden. 14 John Thornton hingegen verweist auf interne Faktoren, die auch ohne europäischen Einfluss zur Versklavung vieler Afrikaner im Lande geführt hätten, und sogar auf positive Effekte des Sklavenhandels auf Westafrika, etwa in Infrastruktur und Landwirtschaft. 15 Unumstritten ist hingegen, dass bestimmte Wirtschaftsregionen bis ins tiefe Binnenland Europas (und auch die indischen Textilregionen) von der massenhaften Produktion von Tauschwaren profitierten. Deutlich wird dies unter anderem an dem dort erkennbaren Bevölkerungswachstum, insbesondere im Verlauf des 18. Jahrhunderts. 16 Zugleich litten die westafrikanischen Küstenregionen und das tiefere Hinterland unter dem Verlust von 13 Millionen über See verschleppten Menschen – hinzu kamen weitere Millionen, die der mit der Versklavung einhergehenden Gewalt zum Opfer fielen. Wie auch immer: Nur durch den europäischen Seehandel wurde es möglich, Afrikaner und Afrikanerinnen massenhaft zu verschleppen und in den Amerikas einzusetzen – in einer europäisch dominierten Agroindustrie, aber auch im Bergbau, im Handwerk und in den frühen Industrien sowie in zahllosen Haushalten.

13 Eltis / Lewis / Richardson, Slave prices, 698. 14 Walter Rodney, Afrika – Die Geschichte einer Unterentwicklung, Berlin 1974. Lovejoy, Transformations. Inikori, Africans and the Industrial Revolution. 15 John Thornton, Africa and Africans in the Making of the Atlantic World, Cambridge 1998. 16 Klaus Weber, Mitteleuropa und der transatlantische Sklavenhandel: eine lange Geschichte, in: WerkstattGeschichte, 66–67/2015, 7–30.

DER TRANSATLANTISCHE SKLAVENHANDEL Claus Füllberg-Stolberg

Der transatlantische Sklavenhandel war eine der größten Zwangsmigrationen in der Weltgeschichte. Es war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit von extrem langer Dauer, das vom Anfang des 16. Jahrhunderts bis zum Ende des 19. Jahrhunderts reichte, also ein Prozess von nahezu 400 Jahren. Sklavenhandel und Sklaverei zeichneten sich durch ein permanentes physisches Gewaltverhältnis aus, obwohl der Sklave beziehungsweise die Sklavin ein wertvolles bewegliches Eigentum darstellte, das es eigentlich zu erhalten galt. Die Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels und der Plantagen-Sklaverei in Amerika ist eng verknüpft mit dem Anbau von Zucker und anderen Kolonialwaren. 1 Die Eroberung der Länder in Übersee war zunächst einmal nur interessant in Verbindung mit den dort lebenden Menschen, die als Arbeitskräfte gezwungen wurden, Güter für Konsumenten zu produzieren, die jenseits des Atlantiks lebten. Die einheimische Bevölkerung wurde in unvorstellbar kurzer Zeit nahezu ausgerottet – dabei war vorsätzliche Grausamkeit ein Merkmal europäischen Sozialverhaltens, das sicher nicht erst gegen die „Edlen Wilden“ in Westindien eingesetzt wurde. Die grausame Verfolgung Andersgläubiger wurde bereits in Europa während der Zeit der Inquisition und Reconquista trainiert und internalisiert; Grausamkeit war aber nicht der einzige Grund für das rapide und massenhafte Sterben der indigenen Bevölkerung. Zwangsarbeit, die Vernachlässigung und Beschädigung des traditionellen Öko-Systems, Nahrungsmittelknappheit und in deren Folge Hunger und Seuchen rafften innerhalb der ersten 100 Jahre bereits einen großen Teil der indigenen Bevölkerung hin. Land ohne Menschen aber hatte keine profitträchtige Bedeutung, Arbeitskräfte mussten also importiert werden. Woher? Am besten aus einer reichlich bevölkerten Gegend möglichst nah am Einsatzgebiet, und, was besonders wichtig war, sie mussten aus einer Region stammen, die noch außerhalb der entstehenden Weltwirtschaft lag, sodass Europa nicht von den Folgen dieses Menschenraubes betroffen wurde. Afrika eignete sich daher am besten als Rekrutierungsgebiet für diese Arbeitskräfteersatzbeschaffung. 1

Verene Shepherd / Hilary Beckles (Hgg.), Caribbean Freedom. Economy and Society from Emancipation to the Present, A Student Reader. Kingston/London 1993. Michael Zeuske, Sklaven und Sklaverei in den Welten des Atlantiks 1400–1940. Umrisse, Anfänge, Akteure, Vergleichsfelder und Bibliographie, Münster 2006. Jochen Meissner / Ulrich Mücke / Klaus Weber (Hgg.), Schwarzes Amerika, München 2008.

268

Claus Füllberg-Stolberg

SKLAVEREI IN AFRIKA Als sich portugiesische Seefahrer seit der Mitte des 15. Jahrhunderts auf der Suche nach Gold an der Westküste Afrikas vortasteten, gehörte auch der Erwerb von Sklaven zu den ersten wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Afrika und Europa. Die Versklavung eigener und fremder Landsleute war in beiden Gesellschaften kein Novum, aber auch kein Charakteristikum. Der Sklavenhandel mit der alten Welt bewegte sich im Rahmen des Luxushandels mit exotischen Gütern. Der schwarze Haussklave war mehr Vorzeigeobjekt an europäischen Herrscherhäusern als gewerblich genutzter Arbeitssklave. Es gab vielfältige Formen sozialer Subordination im vorkolonialen Afrika, die sich aber deutlich von der in der neuen Welt etablierten Plantagensklaverei unterschieden. 2 Festzuhalten bleibt, dass durch den von außen kommenden Impuls, durch die immense Nachfrage nach Arbeitskräften für die Plantagen Amerikas, ein fremdes Entwicklungselement in die innerafrikanischen Gesellschaften hineingetragen wurde, das zu einer anhaltenden Verunsicherung und Friedlosigkeit führte. Die Sklavenjagden betrafen schon bald keineswegs mehr nur das unmittelbare Hinterland der Küsten, sondern wirkten bis weit ins Innere Afrikas hinein, um dem ständig steigenden Bedarf an „menschlicher Ware“ für den transatlantischen Sklavenhandel nachkommen zu können. Die Auswirkungen des fast 400-jährigen Menschenraubs betreffen nicht nur die direkt in den Sklavenhandel verwickelten Gebiete Afrikas. Er hatte nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung des gesamten Kontinents. Die Beherrschung des internationalen Handels durch europäische Nationen degradierte Afrikas Rolle in diesem Dreiecksgeschäft zum Sklavenreservoir und zum Absatzgebiet für europäische Gebrauchsgüter, auch wenn diese, neueren Forschungsergebnissen zufolge, nicht nur aus billigem Tand, Alkohol und Waffen bestanden. 3 Eine solch einseitige Einbeziehung in den Weltmarkt brachte Afrika keinen Fortschritt, sondern behinderte die Weiterführung einer eigenständigen lokalen Wirtschaftsweise und ordnete sie den Interessen der Europäer unter. Dieses Argument behält seine Gültigkeit auch, wenn die Sklavenbeschaffung von mächtigen afrikanischen Mittelsmännern durch kriegerische Unterwerfung fremder Ethnien, massenhaftes Kidnapping und die Versklavung sozial Deklassierter des eigenen Volkes (Schuldner und „Kriminelle“) besorgt wurde. 4

2 3 4

Patrick Manning, Slavery and African Life: Occidental, Oriental, and African Slave Trades, Cambridge 1990. Helmut Bley (Hg.), Sklaverei in Afrika, Pfaffenhofen 1991. Herbert Klein, The Atlantic Slave Trade: Recent Research & Findings, in: Horst Pietschmann (Hg.), Atlantic History. History of the Atlantic System 1580–1830, Göttingen 2002. John Iliffe, Geschichte Afrikas, München 2000, 172–213.

Der transatlantische Sklavenhandel

269

DIE ZUCKERREVOLUTION IN DER KARIBIK Die Zuckerrevolution trägt ihren Namen zu Recht, weil sie die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse auf den kleinen Antillen innerhalb kurzer Zeit grundlegend veränderte. Eigentlich müsste man von mehreren oder einer sukzessiven Abfolge von revolutionären Prozessen sprechen, die sich in verschiedenen Phasen über den ganzen karibischen Raum verbreiteten. 5 Zu unterscheiden sind vor allem zwei weiter auseinanderliegende Fälle explosionsartiger Verbreitung von Zuckermonokulturen. Als Modellfall der ersten gilt Barbados, von wo aus die Zuckerproduktion ihren Siegeszug über die ganze britische und französische Karibik antrat und im 18. Jahrhundert auf den beiden größten Inseln Jamaika und St. Domingue kulminierte. Als Prototyp der zweiten fungiert Kuba, nach dessen Modell die zurückgebliebenen spanischen Inseln im 19. Jahrhundert ihre nachholende Entwicklung mit einer industrialisierten Form der Zuckerrevolution begannen. Barbados gilt als Modellfall für die sogenannte Zuckerrevolution in der Karibik, weil sich dort die Transformation zur Plantagenmonokultur innerhalb kürzester Zeit vollzogen hat. Noch 1637 produzierte Barbados überhaupt keinen Zucker. 1645 waren schon 40 % der Insel mit Zucker bepflanzt, und 1670 produzierte Barbados alleine über 65 % des in England konsumierten Zuckers. Im selben Zeitraum war die Anzahl der weißen Einwohner von 30.000 auf 20.000 gefallen und dafür waren bis 1680 50.000 Sklaven aus Afrika importiert worden. 6 Damit war die Gesamtbevölkerung größer als in den Festlandkolonien Massachussetts oder Virginia und die Bevölkerungsdichte viermal so hoch wie die Englands. Diesen Vorgang bezeichnete man als Zuckerrevolution, weil sich die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in überaus kurzer Zeit komplett gewandelt hatten und die Insel vollständig von einer Monokultur des Zuckers überzogen wurde. Von ausschlaggebender Bedeutung hierfür war die Versorgung mit Arbeitskräften, die den für seine Zeit äußerst fortschrittlichen agro-industriellen Komplex („factory in the field“) in Betrieb hielten. Besonders für die Erntezeit, die über ein halbes Jahr ausgedehnt werden konnte, musste der Verarbeitungsprozess des Zuckerrohrs in quasi industrieller Arbeitsdisziplin und Zeitökonomie organisiert werden. 7 Das heißt, es bedurfte einer großen Anzahl von Arbeitskräften, die zur „crop-time“ bis an die Grenzen ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit ausgebeutet werden konnten, um den Produktionsprozess des Zuckers möglichst profitabel zu gestalten. Die erste Phase dieses Transformationsprozesses von der kleinbäuerlichen Landwirtschaft zur monokulturellen Plantagenökonomie wurde noch mehrheitlich 5 6 7

Barry Higman, The Sugar Revolution, in: Economic History Review LIII/ 2/2000, 231–236. Philipp D. Curtin, The Rise and Fall of the Plantation Complex, Cambridge 1990. Hilary Mc. D. Beckles, The Economic Origins of Black Slavery in the British West Indies, in: Journal of Caribbean History 16/1982, 36–56. Curtin, The Rise and Fall of the Plantation Complex, 83. Sydney Mintz, Sydney, Die süße Macht. Kulturgeschichte des Zuckers, New York/Frankfurt am Main 1987, 77ff.

270

Claus Füllberg-Stolberg

von „indentured servants“ geleistet. Es handelt sich dabei um Knechte bzw. landwirtschaftliche Arbeiter, die sich mehr oder weniger freiwillig für einen bestimmten Zeitraum verpflichtet hatten, in den Kolonien der Neuen Welt zu arbeiten. Normalerweise wurden die Kosten der Überfahrt auf diese Zeit der Arbeitsverpflichtung angerechnet, so dass für drei bis sieben Jahre Zwangsarbeit kein Lohn gezahlt wurde, sondern nur die Versorgung mit Lebensmitteln und die Verheißung von eigenem Land blieb. Das Land wurde während der Zuckerrevolution schnell knapp, sodass die Attraktivität dieser Lebensperspektive in den Inselkolonien schnell nachließ. Die Kontraktzeit wurde kürzer und die Arbeitskräfte damit teurer. In dieser kritischen Phase konnten die aus den brasilianischen Zuckerproduktionsgebieten verdrängten Holländer versklavte Afrikaner in großer Anzahl und zu Preisen anbieten, die es den britischen Pflanzern angesichts des versiegenden Nachschubs mit indentured servants und einer weiter ansteigenden Zuckerkonjunktur erleichterten, diese fremden Arbeitskräfte einzukaufen. Versklavte Afrikaner wurden auch schon vorher zum Verkauf angeboten, doch erst als die Kostenkalkulation eindeutig zugunsten des schwarzen Arbeiters auf Lebenszeit ausschlug und der Zufluss an gewohnter englischer Arbeitskraft deutlich nachließ, akzeptierten die englischen Pflanzer die neuen Arbeitskräfte mit schwarzer Hautfarbe und ungewohnter Physiognomie, mit denen sie sich nicht verständigen konnten und deren ganze Lebensweise ihnen fremd vorkam.

DER UMFANG DES TRANSATLANTISCHEN SKLAVENHANDELS Der enorme Verschleiß menschlicher Arbeitskraft wurde durch den ständig steigenden Nachschub aus dem profitträchtigen transatlantischen Sklavenhandel und die ungebrochene Zuckerkonjunktur weiter angeheizt. Im überwiegenden Teil der Karibik herrschte das ökonomische Prinzip der externen Versorgung vor, das die Kosten der Aufzucht den afrikanischen Gesellschaften aufbürdete und zu einem enormen Anstieg des transatlantischen Sklavenhandels führte, der mindestens 15 Millionen Afrikaner erfasste, von denen 12,5 Millionen auf Sklavenschiffe verbracht wurden, von denen ca. 11 Millionen die transatlantische Überfahrt („middle passage“) überlebten und in den Amerikas ankamen. 8 Relativ leicht zu merken ist die Gesamtzahl der fast 11 Millionen lebend in Amerika angekommenen afrikanischen Sklaven. Bei den Sklavenjagden in Afrika sind mindestens zwei Millionen Menschen umgekommen, bevor sie an die Sklavendepots der europäischen Händler an der afrikanischen Küste gelangten. Das sind etwa genauso viele, wie dem Transport auf der sogenannten middle passage zwischen Afrika und Amerika zum Opfer gefallen sind.

8

David Eltis / David Richardson, A New Assessment of the Transatlantic Slave Trade, in: David Eltis / David Richardson, (Hgg.), Extending the Frontiers. Essays on the New Transatlantic Slave Trade Database, New Haven 2008, 1–62.

271

Der transatlantische Sklavenhandel

Die betroffenen Gebiete Afrikas verteilen sich zu etwa gleichen Teilen auf Westafrika und Zentralafrika bis Angola, „nur“ etwas mehr als eine halbe Million Sklaven wurden in Südostafrika geraubt, hauptsächlich nach dem englischen Verbot des Sklavenhandels nach 1807. Die neuesten Forschungsergebnisse über die quantitativen und regionalen Verteilungen des transatlantischen Sklavenhandels werden in der folgenden Tabelle zusammengefasst. DER TRANSATLANTISCHE SKLAVENHANDEL 9 Spanien

Portugal/ Brasilien

England

Niederlande

U.S.A.

Frankreich

Dänemark/ Baltikum

Total

1501-1525

6.363

7.000

0

0

0

0

0

13.363

1526-1550

25.375

25.387

0

0

0

0

0

50.762

1551-1575

28.167

31.089

1.685

0

0

66

0

61.007

1576-1600

60.056

90.715

237

1.365

0

0

0

152.373

1601-1625

83.496

267.519

0

1.829

0

0

0

352.844

1626-1650

44.313

201.609

33.695

31.729

824

1.827

1.053

315.050

1651-1675

12.601

244.793

122.367

100.526

0

7.125

653

488.065

1676-1700

5.860

297.272

272.200

85.847

3.327

29.484

25.685

719.675

1701-1725

0

474.447

410.597

73.816

3.277

120.939

5.833

1.088.909

1726-1750

0

536.696

554.042

83.095

34.004

259.095

4.793

1.471.725

1751-1775

4.239

528.693

832.047

132.330

84.580

325.918

17.508

1.925.315

1776-1800

6.415

673.167

748.612

40.773

67.443

433.061

39.199

2.008.670

1801-1825

168.087

1.160.601

283.959

2.669

109.545

135.815

16.316

1.876.992

1826-1850

400.728

1.299.969

0

357

1.850

68.074

0

1.770.978

1851-1875

215.824

9.309

0

0

476

0

0

225.609

1.061.524

5.848.266

3.259.441

554.336

305.326

1.381.404

111.040

12.521.337

Total

Portugal-Brasilien war mit fast 50% die bei weitem größte Sklavenhandelsnation aufgrund der langen Dauer ihrer Aktivitäten und auch der bei weitem größte Abnehmer von afrikanischen Sklaven. England ist der größte Lieferant und Abnehmer 9

http://www.slavevoyages.org/assessment/estimates.

272

Claus Füllberg-Stolberg

während der intensivsten Periode des Sklavenhandels im 18. Jahrhundert. Überschätzt wurde von der älteren Literatur offensichtlich die Rolle der Holländer, sowohl als Sklavenhändler als auch als Sklavenhalter. Recht genau erforscht ist nun auch der Beitrag der kleinen nordeuropäischen Regionen, wie etwa der norddeutschen Sklavenhändler mit jeweils 66 Sklavenfahrten und 25.000 Sklavenexporten. 10 Hervorzuheben sind auch die relativ geringen Importe nach Nordamerika (weniger als 4%) und die vergleichsweise hohen natürlichen Reproduktionsraten, die bis zum Beginn des Bürgerkriegs mit 4 Millionen eine der größten Sklavenbevölkerungen Amerikas hervorgebracht haben. Das bedarf einer kurzen Erklärung: Zum einen waren die nordamerikanischen Pflanzer die armen Brüder der karibischen Zuckerpflanzer und konnten sich weder einen vergleichbaren zahlenmäßigen Import leisten, noch konnten sie, wie diese, regelmäßigen Ersatz für die in kurzer Zeit zu Tode geschundenen Arbeitskräfte schaffen. Deshalb sorgten die nordamerikanischen Pflanzer auf ihren kleineren Plantagen für Verhältnisse, die eine natürliche Reproduktion der Bevölkerung erlaubten. 11 Neuere demographische Forschungen haben nachgewiesen, dass die unterschiedlichen Reproduktionsraten stark vom jeweiligen Anbauprodukt abhängig waren. Der Anbau von Zucker auf den Großplantagen der Karibik und im Übrigen auch in den wenigen Anbaugebieten in den USA (Louisiana) war offensichtlich so brutal organisiert, dass sich auch nach Abschaffung des transatlantischen Sklavenhandels keine natürliche Bevölkerungsvermehrung einstellen wollte, also ein schleichender Genozid stattfand. 12 Die Sklavenhändler und ihre Schiffe waren in der Regel auf diesen Handel spezialisiert und kannten sich auf beiden Seiten des Atlantiks und den Schiffsrouten der sogenannten „middle Passage“ gut aus. Es versuchten aber auch Seiteneinsteiger in das lukrative Geschäft mit der menschlichen Ware zu gelangen. Manche von ihnen gelang ein schneller Aufstieg, andere wie die Brüder Billie, von denen Robert Harms in seinem faszinierenden Buch „Das Sklavenschiff“ berichtet, gaben nach der ersten Sklavenfahrt wieder auf, weil sie offensichtlich zu unerfahren waren und nicht über das nötige Kapital verfügten, um auch mal einen Rückschlag zu verkraften. 13 In diesem Geschäft tummelten sich viele außergewöhnliche Menschen unterschiedlicher Herkunft. Das konnten Getreideschiffer aus der Nähe von Nantes sein, 10 Andrea Weindl, The Slave Trade of Northern Germany from the Seventeenth to the Nineteenth Century, in: David Eltis / David Richardson, (Hgg.), Extending the Frontiers. Essays on the New Transatlantic Slave Trade Database, New Haven 2008, 265. 11 Richard Fogel / Stanley Engerman, Time on the Cross: the Economics of American Negro Slavery, Boston 1974. 12 Stanley Engerman / Barry W. Higman, The Demographic Structure of the Caribbean Slave Societies in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, in: Franklin W. Knight (Hg.), General History of the Caribbean, Vol. III, The Slave Societies of the Caribbean, London 1997, 47–57. Michael Tadman, The Demographic Costs of Sugar, in: American Historical Review 105/2000, 1534–1575. 13 Richard Harms, Das Sklavenschiff, München 2004.

Der transatlantische Sklavenhandel

273

wie die schon erwähnten Brüder Billie, oder auch der hannoversche Chirurg Daniel Botefeur, der als Schiffsarzt auf Sklavenschiffen begonnen hatte und schließlich zu einem der reichsten und angesehensten Kaufleute Havannas aufstieg. Er führte gleichzeitig ein Doppelleben an der westafrikanischen Küste, wo seine zweite Familie zu Sklavenhandelselite der Atlantikkreolen zählte. 14 Bemerkenswert ist auch der Lebenslauf von John Newton, der vom Sklavenhändler zur christlichen Ikone der Abolitionsbewegung mutierte, bekannt bis heute durch seine Emanzipationshymne „Amazing Grace“. 15 Sklavenhandel war rein geschäftlich betrachtet ein riskantes Spekulationsunternehmen, gekennzeichnet durch enorme Gewinnspannen bei geglückten Fahrten, die ein Vermögen einbringen konnten, aber auch durch Bankrott und totales Desaster, das im Schuldturm enden konnte. Auf die Dauer gesehen erwiesen sich Großunternehmen und Aktiengesellschaften, die mit einer genügend großen Kapitaldecke ausgestattet waren, um Gewinn und Verlust über einen längeren Zeitraum ausbalancieren zu können, am gewinnträchtigsten. Die wissenschaftliche Diskussion hat sich auch der weitergehenden Frage angenommen, inwieweit das mit Sklavenhandel und Sklavenarbeit auf den Plantagen Amerikas erwirtschaftete Kapital zur ökonomischen Entwicklung Europas beigetragen hat. Auch hier haben sich die weit auseinander liegenden Schätzungen, die die ältere Literatur kennzeichneten, auf niedrigem Niveau eingependelt. Der ökonomische Beitrag der Peripherie zur Entfaltung der europäischen Wirtschaft gilt zwar quantitativ gesehen als gering, strukturelle Wachstumsimpulse werden allerdings in einzelnen Branchen zu entscheidenden Zeiten nicht ausgeschlossen. 16 Dänemark hat als erste europäische Nation bereits 1802 den Sklavenhandel abgeschafft. Von weitaus größerer Bedeutung war jedoch die Abolition des Sklavenhandels (1807) und schließlich auch der Sklaverei (1834/38) durch Großbritannien. So radikal, wie sich die Briten an diesem profitträchtigen Gewerbe beteiligt hatten, versuchten sie nun, den Sklavenhandel zu unterbinden. Aus den Archiven der britischen Marine weiß man auch, dass die meisten aufgebrachten Schiffe portugiesischer, brasilianischer und spanischer Nationalität waren. Trotz dieser Gegenmaßnahmen wurden zwischen 1807 und 1867, als auch diese Nationen dem Sklavenhandel ein Ende machten, mehr als drei Millionen Afrikaner verschleppt. 17

14 Michael Zeuske, Sklavenhändler, Negreros und Atlantikkreolen. Eine Weltgeschichte des Sklavenhandels im atlantischen Raum, Berlin/Boston 2015, 234–239. 15 Adam Hochschildt, Sprengt die Ketten. Der entscheidende Kampf um die Abschaffung der Sklaverei, Stuttgart 2005, 23–45. 16 Barbara Solow / Stanley Engerman, British Capitalism and Caribbean Slavery: The Legacy of Eric Williams, Cambridge 1987. Ronald Findley / Kevin H. O’Rourke, Power and Plenty. Trade, War, and the World Economy in the Second Millennium, Princeton 2007. 17 http://www.slavevoyages.org/assessment/estimates.

FÜNF KLEINE NEGERLEIN 550 Jahre Missachtung und Selbstbehauptung der Afrikaner Wolfgang Reinhard Die Kinderverse im Titel sind natürlich politisch unkorrekt. Denn auch herablassende Freundlichkeit kann rassistisch sein. Sie bringen aber einen Sachverhalt zum Ausdruck, auf den es mir heute ankommt. Wie diese Fünf hatten Afrikaner überhaupt viel zu leiden, sind sogar untergegangen, aber zum Schluss waren sie wieder da; irgendwie hatten sie sich behauptet. Deshalb soll es heute nicht um die Taten und Untaten der Europäer gehen, die zwischen 1870 und 1936 im so genannten „Zeitalter des Imperialismus“ Afrika als letzten Erdteil unterworfen und kolonisiert haben. Stattdessen sollen Erfahrungen der Afrikaner im Mittelpunkt stehen, ihre Leiden und Niederlagen, aber auch ihre letztendliche Selbstbehauptung. Im Sinne der jüngeren historischen Forschung soll der Afrikaner nicht als hilfloses Opfer imperialistischer Gewalt betrachtet werden. Denn diese Perspektive der bisher üblichen Kolonialkritik ist auf subtile Weise ebenfalls rassistisch, weil sie mit Hilflosigkeit eine Art von Minderwertigkeit des Afrikaners unterstellt. Von Extremsituationen abgesehen, die auch andere Völker über sich ergehen lassen mussten und müssen, wussten sich die Afrikaner nämlich durchaus zu helfen. Mit Klugheit und Geschick haben sich viele von ihnen unter der Kolonialherrschaft behauptet oder sie sogar für ihre Zwecke genutzt, vielleicht ohne dass es die Kolonialherren gemerkt haben. Manchmal freilich brauchte es Generationen, bis sich der Erfolg einstellte. Allerdings kam bei dieser Sicht der Dinge auch heraus, dass Afrikaner ihrerseits in das kolonialistische System verstrickt waren. Der Abschied von der Opferperspektive schließt nämlich den Verzicht auf historische Schwarz-WeißMalerei und voreilige moralische Verurteilung mit ein. Warum soll der Afrikaner nicht denselben Regeln menschlicher Schäbigkeit unterliegen wie der Europäer? Sowenig wie Europäer sind Afrikaner bessere Menschen, denn es gibt keine besseren Menschen! Aus dieser Sicht, die der Widersprüchlichkeit der Vergangenheit und Gegenwart gerecht zu werden versucht, möchte ich vier Geschichten erzählen, an denen die Verschränkung afrikanischer Misserfolge und Erfolge paradigmatisch deutlich wird. Sie sind alle vier authentisch und haben ihre Ausläufer bis in die Gegenwart. Ihre Auswahl war freilich nicht völlig beliebig, weil es aus der älteren Geschichte Afrikas kaum von Afrikanern verfasste schriftliche Quellen gibt, auf die wir Historiker nun einmal angewiesen sind.

276

Wolfgang Reinhard

1. Im ersten Fall waren es die ziemlich zweideutigen Beziehungen zu englischen Kaufleuten, denen die Betroffenen die Kenntnis der englischen Sprache, das Lesen und Schreiben sowie letztlich auch die Fähigkeit, in kritischer Lage oben zu bleiben, verdankten. Sie gehört in den Zusammenhang des europäischen Sklavenhandels, der vom 17. bis 19. Jahrhundert eine Geißel Afrikas war. Im Gegensatz zu Indien, Ostasien und Lateinamerika hatte Afrika den Europäern ursprünglich wenig zu bieten. Bequeme Häfen und schiffbare Flüsse fehlten; mancherlei Krankheiten bedrohten Invasoren mit einem vorzeitigen Ende. Doch vor allem sorgten die Afrikaner selbst dafür, dass Europäer nur selten ins Innere vordringen konnten, denn sie wollten sich das Monopol der Sklavenlieferung nicht nehmen lassen. Sklaven waren nämlich fast die einzige gewinnbringende Ware, mit der Afrika ursprünglich den Weltmarkt beliefern konnte. Aber nur wenige der über 12 Millionen afrikanischer Sklaven, die Europäer vom 15. bis 19. Jahrhundert nach Amerika eingeschifft haben, wurden von diesen weißen Sklavenhändlern selbst gejagt und gefangen. Fast alle wurden von afrikanischen Machthabern und Geschäftsleuten verkauft, die regelmäßige, wenn auch krisenanfällige Handelsbeziehungen zu den Europäern unterhielten. Unsere Geschichte 1 beginnt 1767 in der Bucht von Biafra. Diese Gegend war eine der drei wichtigsten Herkunftsregionen der Sklaven; insgesamt 1,6 Millionen stammten von dort. Afrikanische Händlerdynastien und -netzwerke aus der Gruppe der Efik in den drei Städten Old Calabar oder Old Town, New Town und Creek Town beherrschten das Geschäft. In großen Kriegsbooten mit bis zu 120 schwerbewaffneten Gefolgsleuten pro Boot, zum Teil selbst Sklaven, pflegten sie das dortige Flusssystem aufwärts zu fahren, bei Tag Sklaven einzukaufen, bei Nacht Dörfer zu überfallen, um welche zu erbeuten. Die Ibo und Ibibo des Landesinnern hatten keine Bedenken, Ihresgleichen zu verkaufen, die nicht zu ihrer Familie oder ihrem Dorf gehörten. Britische Schiffe lieferten auf Kredit Textil-, Metall- und andere Waren und warteten oft monatelang, bis sie im Gegenzug allmählich mit Sklaven aufgefüllt waren. Denn Engländer, vor allem aus Bristol und aus Liverpool, waren damals führend im Sklavengeschäft. Die Efik leisteten sich einen quasi-europäischen Lebensstandard, was zum Beispiel auch im Gebrauch von Nachttöpfen zum Ausdruck kam. Allerdings war das Kreditsystem infolge berechtigten gegenseitigen Misstrauens ziemlich krisenanfällig. Da der Chef von Old Town von den Briten zusätzliche Abgaben verlangt und dabei Gewalt angewandt hatte, waren diese verärgert und arrangierten sich mit dessen Konkurrenten aus New Town und Creek Town, die ihn schon lange verdrängen wollten. Auf verschiedenen der sieben vor Anker liegenden englischen Schiffe sollten Ausgleichsverhandlungen der Rivalen stattfinden, gewissermaßen auf neutralem Boden. In aller Pracht, aber kaum bewaffnet traf die gesamte Elite von Old Town mit Gefolge auf ihren Booten am Vorabend zu einer festlichen Einladung

1

Randy J. Sparks, Die Prinzen von Calabar. Eine atlantische Odyssee, Berlin 2004.

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ein. Doch auf ein Signal der Briten brausten die schwer bewaffneten Kriegsboote aus New Town und Creek Town aus dem Hinterhalt heran. Ein Gemetzel begann, das 400 Männer aus Old Town das Leben kostete. Damit waren die Geschäfte seiner führenden Häuser auf lange Zeit beeinträchtigt. Der Chef sprang ins Wasser und entkam mit knapper Not. Sein Bruder wurde von den Engländern auf Verlangen der Konkurrenz zum Abschlachten ausgeliefert. Einen weiteren Bruder Ephraim und einen Neffen Ancona Robin-John erwartete dasselbe Schicksal, aber der betreffende Kapitän brach das dem feindlichen Chef gegebene Versprechen und behandelte die beiden als Teil der Sklavenladung, die er von diesem geliefert bekam – für den Kapitän ein zusätzlicher Profit, für die beiden Gefangenen ein Glück, den sie retteten wenigstens das Leben. Aber nun begann der Transport über den Atlantik, die so genannte Middle Passage, eine höllische Erfahrung, möglicherweise die schlimmste überhaupt im Sklavenleben. Auf niedrigen zusätzlichen Zwischendecks wurden die Sklaven wie Sardinen in der Büchse verpackt, mit anderthalb Quadratmetern Liegeplatz pro Person, Männer und Frauen getrennt und die Männer zum Teil noch aneinander gekettet. Man stelle sich die Konsequenzen vor, etwa bloß was das Verrichten der Notdurft angeht! Trotz Belüftungsluken fehlte es an Atemluft und die Hitze war unerträglich, zumal die Luken bei Nacht und bei Sturm geschlossen wurden. Zwar wurde im Interesse des Geschäfts für halbwegs ausreichende Verpflegung gesorgt und die zum Stillliegen gezwungenen Gefangenen hatten einmal pro Tag zu Trommelklang auf dem Deck herum zu hopsen. Aber ein einziger Infektionsträger konnte genügen, um eine Katastrophe auszulösen. Unter Umständen wurde dann die ganze Menschenfracht kurzerhand über Bord geworfen. Unser Kapitän hatte 336 Gefangene an Bord; 272 überlebten die 45tägige Überfahrt. Diese Todesrate von 19 %, lag deutlich über dem damaligen Durchschnitt von 14,9 %. Denn nur knapp elf Millionen Sklaven kamen in Amerika an. Die 45 Mann Besatzung, die ohnehin oft genug zu dieser Tätigkeit gepresst worden waren, hatten Alles am Funktionieren zu halten, waren ständig von den gar nicht seltenen Aufständen bedroht und wurden kaum besser behandelt als die Sklaven – sie waren ja keine Ware, die man in gutem Zustand verkaufen wollte! Ihre Sterberaten lagen sich zwischen 28 % und 68 %. Für die Rückreise benötigte man ohnehin nur noch einen Teil von ihnen, so dass die Zielhäfen von verelendeten Ex-Matrosen wimmelten. Angesichts der Matrosen fühlt sich sogar der Neger als Mensch bemerkte ein zeitgenössischer Beobachter. Ephraim und Ancona hatte allerdings Englischkenntnisse als Vorteil und wussten im Gegensatz zu den meisten Sklaven, wohin die Reise ging. Denn viele Gefangene aus dem inneren Afrika reagierten panisch, als sie zum ersten Mal im Leben diese abscheulichen hellhäutigen Lebewesen sahen. Oft genug erwarteten sie nämlich, von denen aufgefressen zu werden. Möglicherweise konnten die beiden sich als Dolmetscher und eine Art Obleute der Sklaven betätigen, was durchaus üblich war, und sich auf diese Weise beliebt machen. Wir wissen es nicht, aber sie wurden auf der westindischen Insel Dominica zusammen, was selten war, an einen französischen Arzt verkauft, der sie verhältnismäßig gut behandelte. Denn überwiegend wurden die Sklaven in der Karibik, wohin damals neben Brasilien die meisten

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Transporte gingen, unter harten Bedingungen auf Zuckerplantagen eingesetzt. Mit dem britischen Jamaica und Barbados sowie dem französischen Saint Domingue war die Karibik damals der führende Zuckerproduzent und die künstliche Landschaft des ersten Agrobusiness der Welt. Dominica war erst 1763 von Frankreich an England abgetreten worden und entwickelte sich zu einem führenden Handels – und vor allem auch Schmuggelhafen der Karibik. An diesem blühenden Geschäft waren nicht zuletzt auch die Bewohner der späteren USA beteiligt. So konnten die beiden mit einem erfahrenen Schmugglerkapitän Kontakt aufnehmen, der versprach, sie nach Afrika mitzunehmen. Bei Nacht flohen sie an Bord seines Schiffes – aber er fuhr nicht etwa nach Afrika, sondern nach Virginia, wo er die Beiden erneut als Sklaven an einen Geschäftsmann verkaufte, der sie als Matrosen einsetzte und nicht selten brutal misshandelte. Nach dessen Tod trafen sie zufällig zwei Seeleute, die in Old Calabar angeheuert hatten und sie und ihre Familie kannten. Diese überredeten ihren Kapitän – vielleicht mit der Aussicht auf geschäftliche Vorteile in Afrika – Ephraim und Ancona nach Bristol mitzunehmen. Ein angeblich von dort nach Afrika bestimmtes Schiff erwies sich jedoch abermals als Falle; sie wurden zum neuen Verkauf in Virginia in Ketten gelegt. Aber Bristol war damals der führende Umschlagplatz des britischen Sklavenhandels, dessen führender Mann ein Geschäftspartner ihrer Familie war. Irgendwie gelang es ihnen, diesem Mann Briefe zukommen zu lassen – vielleicht durch Freunde unter der Mannschaft. Beim dritten Mal reagierte dieser, aber eher behutsam, denn einer seiner Kollegen wollte verhindern, dass Einzelheiten über die Schlächterei von 1767 ans Licht kämen. Allerdings hatte Englands oberster Richter Lord Mansfield 1772 in dem berühmten Fall Somerset entschieden, dass es auf dem Boden Großbritanniens rechtlich keine Sklaverei geben könne – vorsichtig und verklausuliert, aber immerhin so deutlich, dass ihr Geschäftspartner ihre Befreiung erreichen konnte. Aber sie wurden sofort wieder verhaftet, weil sie angeblich dem Kapitän, der sie nach Bristol mitgenommen hatte, das Reisegeld schuldig geblieben waren. Nun schrieben sie einen Brief an Lord Mansfield, der allerdings eine klare Entscheidung vermeiden wollte, welche die gesamte Sklaverei ins Wanken gebracht hätte. Schließlich wurde der Kapitän, der sie aus Calabar entführt hatte, auf unbekannte Weise veranlasst, 120 Pfund zur Abgeltung aller Ansprüche zu zahlen – leider wissen wir nicht, was er auf Dominica für sie erlöst hatte. Die beiden waren endlich freie Männer. In Bristol kamen die beiden in Kontakt mit Charles und John Wesley und bekehrten sich daraufhin zum Christentum der Methodisten, von denen sie mit offenen Armen aufgenommen wurden. Wenig später veröffentlichte John Wesley eine von den Quäkern inspirierte Kritik der Sklaverei, mit der er vor Jahren in Nordamerika selbst einschlägige Erfahrungen gemacht hatte. Die Beliebtheit der Beiden in den besten methodistischen Kreisen mag damit zu tun haben, dass damals der in die Sklaverei verkaufte und erlöste „Prinz“ ein beliebtes literarisches Thema war. 1774 konnte sie endlich auf einem Sklavenschiff die Heimreise nach Afrika antreten – nur um bei den Kapverdischen Inseln zu scheitern und mit Müh und Not auf einem anderen Schiff wieder nach Bristol zu gelangen. Ihr Geschäftspartner hatte zwar

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genug von ihnen, ließ sich aber dann doch zur Organisation der endgültigen Heimfahrt Ende 1774 bewegen. Zuhause bemühten sie sich vergebens um die Verbreitung des Christentums – und stiegen selbst wieder in den Sklavenhandel ein, zumindest Ephraim. Allerdings wurde der Sklavenhandel 1806 von Großbritannien verboten, wobei die Schlächterei von 1767 seinen Gegnern als ein Argument diente. Aber der europäische Sklavenhandel hat die gewaltige Erbschaft eines „afrikanischen Atlantik“ hinterlassen. Der größte Teil der Karibik ist heute von Afro-Amerikanern bewohnt und Länder wie Brasilien und die USA haben einen beträchtlichen Bevölkerungsanteil afrikanischer Herkunft. Vom kulturellen Erbe des afrikanischen Atlantik ist heute der Jazz jedermann so vertraut, dass er gar nicht mehr als afrikanisch markiert ist. Man sollte aber auch die zwischen Amerika und Afrika entwickelte Yoruba-Theologie erwähnen, nach einem Volk im südwestlichen Nigeria benannt, deren Göttersystem mit seinen Orishas zahlreiche neue afro-amerikanische Religionen beeinflusst hat. Manche davon haben heute auch einen beträchtlichen Zulauf von Weißen. 1970 gründete die New World Yoruba-Initiative in South Carolina das Oyotunji African Village, das im Internet zu besichtigen ist, zur Pflege authentischer afrikanischer Kultur und Religion. 2. Die zweite Geschichte 2 führt uns nach Südostafrika, in das Hochland zwischen dem Caledon River und dem Oranje. Der europäische Sklavenhandel hatte auch die Ostküste Afrikas erfasst und Auswirkungen auf die Völker im Innern des Kontinents gehabt. Der Mfecane genannte, allgemeine Aufruhr in Südostafrika in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ist aber nicht ausschließlich darauf zurückzuführen und ebenso wenig allein auf die aggressive Expansionspolitik des blutdürstigen Zulukönigs Shaka, einer Gruppe der Nguni. Es gab parallele politische Zentralisierung auch bei anderen Gruppen. Vor allem aber spielten Dürreperioden eine Rolle, die Viehzucht und Ackerbau so stark beeinträchtigten, dass Hungerkatastrophen die Folge waren. Angeblich sind damals manche entwurzelte Banden aus schierer Not zum Kannibalismus übergegangen. In diesem Chaos wandernder und kämpfender Gruppen beginnt die Erfolgsgeschichte des Basotho Moshoeshoe. Als Sohn eines kleinen Dorfhäuptlings hatte er die Möglichkeit, sich mit Freunden aus seiner Altersklasse, die durch die aufwändige gemeinsame Initiation lebenslang verbunden blieben, und anderen Anhängern eine eigene kleine Herrschaft zu bilden. Denn wie einst in der so genannten europäischen Völkerwanderung handelte es sich nicht um geschlossene Völker oder Stämme, die unterwegs waren und sich bekämpften, sondern um Teile von solchen und oft genug um Verbände von Leuten verschiedener ethnischer Herkunft. Als die Kämpfe der Mfecane 1820 auch ihn erreichten, zog sich Moshoeshoe mit seinen

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Leonard Thompson, Survival in Two Worlds: Moshoeshoe of Lesotho, 1786–1870, Oxford 1975; Christoph Marx, Südafrika. Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 2012.

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Leuten auf eine Mesa zurück, einen Berg mit ebener Oberfläche, der wegen seiner Felswände schwer zugänglich ist. Das war eine strategische Innovation, denn dort oben lebten bisher allenfalls die als Buschmänner verachteten San, die Jäger und Sammler waren. Nachdem er mit knapper Not eine Belagerung überstanden hatte, beschloss er, seine Leute 1824 weiter nach Süden zu führen, wo das Land weniger verwüstet war und eine noch schwerer zu erklimmende Mesa zur Verfügung stand, auf der es nicht nur Acker- und Weideland, sondern auch mehrere Quellen gab. Er nannte diese seine Festung Thaba Bosiu, „Berg bei Nacht“, was immer das heißen soll. Nun schüttelte er die Oberherrschaft eines Ngunifürsten ab, der sich nördlich von ihm etabliert hatte, indem er Shaka zum Angriff ermunterte. Prompt wurde dieser 1827 von den Zulu schwer geschlagen und beim Versuch, Thaba Bosiu anzugreifen, auch von Moshoeshoe besiegt. 1828 war jener am Ende. Im selben Jahr wurde Shaka von seinem Bruder ermordet. Jetzt konnte Moshoeshoe seine eigene Herrschaft aufbauen. Er ging dabei nach innen wie außen gelegentlich zwar auch mit Gewalt vor, bevorzugte aber friedliche Mittel, deren Überlegenheit er von einem weisen älteren Basotho-Chef gelernt haben wollte. Er betätigte sich lieber als freundlicher und geduldiger Schlichter. Wenn Strafen sein mussten, verzichtete er auf die Dauer fast völlig auf die Todesstrafe. Gegen die Überlassung von „Leihrindern“ aus seinen mit dem Erfolg und durchaus auch mit den üblichen Raubzügen bei den reichen südlichen Nguni anwachsenden Herden gewann er andere Chefs als „Klienten“, ließ sie aber ihre Abhängigkeit wenig spüren. Nur mit der Ausrottung des Kannibalismus war er unerbittlich. Selbst eine äußerst disziplinierte Persönlichkeit, brachte er neben der wirtschaftlichen Erholung auch eine Art moralische Erneuerung seines von der Krise gebeutelten Volkes zustande. 1833 war diese überwunden und Moshoeshoe ein König mit ca. 25.000 Gefolgsleuten geworden, die ihm vertrauten und ihn bewunderten, während ihn seine Gegner respektieren gelernt hatten. 1833 kamen die ersten protestantischen Missionare aus Frankreich ins Land, die er mit offenen Armen aufnahm. Mit einem von ihnen entwickelte sich sogar eine Art Freundschaft. Nach und nach errichteten die Missionare neun Stationen in seinem Einflussbereich, die zugleich Stützpunkte seiner Herrschaft waren. Auch wenn er selbst nicht Christ wurde, so führte er 1839–43 unter ihrem Einfluss doch vier wichtige Neuerungen ein. Erstens wurden die traditionellen Bestattungssitten durch die christlichen ersetzt, um das Volk von Geisterfurcht zu befreien. Zweitens schaffte er die traditionellen Initiationsriten ab, die teilweise christlichen Moralvorstellungen widersprachen. Eine Reihe seiner jüngeren Söhne wurde nicht mehr initiiert. Drittens bewilligte er die Scheidung von getauften Frauen, in Polygynie lebten, und versuchte deren Versorgung zu organisieren. Das war weltweit immer ein kritischer Punkt für christliche Missionare. Zur Freude seiner calvinistischen Freunde trank Moshoeshoe zwar selbst keinen Alkohol und rauchte weder Tabak noch Haschisch. Aber er soll hunderte von Frauen gehabt haben, allerdings nicht nur zur Befriedigung seiner eigenen beachtlichen Bedürfnisse, sondern auch aus politischen Gründen. Denn die Verbindung mit einer neuen Frau konnte im Gegenzug zu einer „Rinderleihe“ ein Klientelverhältnis etablieren. Außerdem stellte er seine

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Frauen großzügig Gästen und unverheirateten Anhängern zur Verfügung. Viertens bekämpfte er energisch den Hexenwahn, der noch heute eine Geißel Afrikas ist. Er machte Zauberer lächerlich und gab einer verfolgten Hexe zum Entsetzen seiner Familie Asyl auf Thaba Bosiu. Allerdings stieß vieles im Volk und in seiner Familie auf heftigen Widerstand. Bis 1848 waren die Erfolge der Missionare bescheiden geblieben und Moshoeshoe selbst erkannte, dass er nicht weiter gehen konnte, ohne seine Herrschaft zu gefährden, die damals erneut von außen bedroht war. In anderer Hinsicht hatte die Europäisierung aber rasche Fortschritte gemacht. Nicht nur, dass Moshoeshoe tadellos europäisch gekleidet auftrat. Vor allem lernten die Basotho unter ihm zum ersten Mal Ochsenwagen, Reitpferde und Feuerwaffen kennen und gebrauchen. Das war nötig, denn inzwischen waren sie in den Einzugsbereich des von Südwesten vordringenden europäischen Kolonialismus geraten. Schon seit Mitte der 1820er Jahre hatten berittene und mit Gewehren bewaffnete Banden aus der unruhigen Grenzzone westlich von Lesotho Rinder gestohlen und Kinder geraubt. Jetzt hatten sich Trekburen aus dem Kapland in „Trans-Orangia“ niedergelassen, Mischlinge eigene Gemeinwesen gegründet und die britische Kolonialregierung in Kapstadt gedachte unter diesen Untertanen, die sich ihrer Kontrolle entzogen hatten, in ihrem Sinn Ordnung zu schaffen. Ursprünglich hatten diese Buren ihr Land von Moshoeshoe erhalten und waren damit ebenfalls seine Klienten geworden, ein Verhältnis zur beiderseitigen Zufriedenheit. Allerdings war er für deren Führer das einzige Hindernis für den Plan, alle Afrikaner auf der Hochebene zu beseitigen. Deshalb setzte Moshoeshoe auf die britische Kolonialmacht und schloss 1843 einen Grenzvertrag mit ihr. Nichtsdestoweniger begann britische Bodenspekulation auf das Land der Buren und damit auf Lesotho überzugreifen; 1848 wurde das Land zwischen Oranje und Vaal von der Kapkolonie annektiert. Moshoeshoe versuchte diese Entwicklung zu verhindern, wurde jedoch mehrfach zu Gebietsabtretungen genötigt. Aber 1851 konnte er einen Angriff des britischen Residenten siegreich abwehren und 1852 einen zweiten unentschieden und mit politischem Einlenken beenden, so dass er sogar die Möglichkeit hatte, 1853 seinen letzten Rivalen unter den Basotho zu unterwerfen. Aber 1854 gaben die Briten das Gebiet zwischen Oranje und Vaal wieder auf und erklärten die Verträge mit Moshoeshoe für erloschen. Die Buren aber gründeten dort den Oranje-Freistaat. Zunächst hatte dieser nur 12.859 weiße Einwohner gegenüber rund 100 000 Untertanen Moshoeshoes und der erste Präsident war dessen Freund. Aber 1855 wurde dieser deshalb und wegen seiner britischen Neigungen gestürzt. Ständige Konflikte im Gebiet gemischter Siedlung führten 1858 zum Angriff des Freistaats. Nach dessen Niederlage vermittelte der britische Gouverneur einen neuen Grenzvertrag. Seit 1861 erstrebte Moshoeshoe britischen Schutz für sein Königreich, ein Verhältnis, das man später indirect rule genannt hat. In einem neuen Krieg seit 1865 war der Freistaat infolge waffentechnischer Überlegenheit siegreich; vorübergehend verloren die Basotho zwei Drittel ihres Ackerlandes. Aber 1868 wurde „Basutoland“ mit deutlich größerem Umfang von Großbritannien als Kolonie annektiert. Moshoeshoe trat 1870 zurück und starb im selben Jahr – ungetauft nach einem hässlichen Wettrennen um seine Seele zwischen den protestantischen und den seit 1862 ebenfalls dort tätigen katholischen Missionaren.

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Aber er hatte die Existenz seines Reiches gerettet. Zwar überließ Großbritannien 1871 der Regierung der Kapkolonie auch das Protektorat Basutoland, die prompt dessen Autonomie beseitigen wollte, um die Basotho wie andere unterworfene Völker auf disponible Arbeitskräfte zu reduzieren. Aber auf die Anweisung, erst einmal ihre Waffen abzugeben, reagierten die Basotho 1880 mit einem erfolgreichen Aufstand. Die Kapregierung resignierte und bat Großbritannien um Wiederherstellung seiner unmittelbaren Kontrolle. Auf diese Weise blieb Lesotho als High Commission Territory außerhalb der 1910 gegründeten Südafrikanischen Union und auch außerhalb des rassistischen Apartheidstaates, in den diese sich allmählich verwandelte, obwohl es 1966 in die Unabhängigkeit entlassen wurde. Ein später Triumph Moshoehoes. 3. Die dritte Geschichte 3 weist allerhand Gemeinsamkeiten mit der zweiten auf, endete aber weniger erfreulich. Das lag weniger daran, dass sie 1884–1905 spielte, also ins sogenannte „Zeitalter des Imperialismus“ fiel, als die Europäer das bislang nur marginal besetzte Afrika nahezu restlos unter sich aufteilten. Die Berliner Afrika-Konferenz 1884/85 stellte einen entscheidenden Schritt dazu dar. Auch dass ihr Held Hendrik Witbooi es mit den Deutschen als besonders ehrgeizigen Imperialisten zu tun bekam, war nicht ausschlaggebend. Vielmehr hatte er ganz einfach ständig mit höchst ungünstigen Rahmenbedingungen zu kämpfen. Denn die Geschichte spielt im ziemlich unwirtlichen Südwesten Afrikas, im Süden des heutigen Namibia, einem kargen und wasserarmen Land, das im Westen in eine der trockensten Wüsten der Welt übergeht. Es kam keinesfalls für Ackerbau, sondern allenfalls für extensive Viehzucht in Frage. Feste Niederlassungen waren nur an wenigen Wasserstellen möglich. Erst weiter nördlich um das heutige Windhuk waren die Umweltbedingungen siedlungsfreundlicher. Demgemäß war das Land ursprünglich extrem dünn von Jägern und Sammlern bevölkert, den San oder „Buschleuten“. Erst im 18. Jahrhundert wanderten die Bantu sprechenden Herero im Norden, die Khoisan sprechenden Nama von Süden ein. Das Wanderungsgeschehen war im 19. Jahrhundert noch in vollem Gange. Die Herero waren angeblich die einzigen ausschließlichen Viehzüchter unter den Bantu, Besitzer von riesigen Rinderherden. Die Khoisan unterscheiden sich wie die San – daher Khoi-San – deutlich von den so genannten „Schwarzafrikanern“, nicht zuletzt durch eine braunrote Hautfarbe. Deswegen wird auch in unserer Quelle, dem Briefregister des Häuptlings Hendrik Witbooi, ausdrücklich zwischen schwarzen und roten Menschen unterschieden und ein gegnerischer Hererochef beschimpfte ihn gut rassistisch als „Buschmann“. Diese Aufzeichnungen aus den Jahren 1884–

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Hendrik Witbooi, Afrika den Afrikanern! Aufzeichnungen eines Nama-Häuptlings aus der Zeit der deutschen Eroberung Südwestafrikas 1884 bis 1894, hg. v. Wolfgang Reinhard, Bonn 1982.

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93 sind übrigens einzigartig, weil sie unmittelbar die Perspektive von Afrikanern zum Ausdruck bringen. Hendriks Gruppe, die Khowese, was „Bettler“ heißt, denn sie kamen fast ohne Besitz, oder auch Witboois, die „weißen Jungen“, die stolz ihre weißen oder wenigstens weiß umwundenen Hüte trugen, gehörte aber zu einer zweiten Namawelle, den Orlam, die erst im 19. Jahrhundert aus Süden einsickerten. Im Gegensatz zu den ersten Nama waren sie kulturell von den Buren beeinflusst, trugen europäische Kleider und Hüte, besaßen Reitpferde und Ochsenwagen, waren mit Schusswaffen ausgerüstet, hatten europäische Konsumgewohnheiten wie das Kaffeetrinken und das Rauchen, sprachen Kap-Holländisch und waren zum Teil getaufte Christen. Die Größe der verschiedenen Nama- und Orlamgruppen bewegten sich zwischen einigen hundert und ein paar tausend Menschen, zusammen mögen es 19.000 in 16 Gruppen gewesen sein. Ihnen sollen 80.000 Herrero gegenübergestanden haben. Diese drängten nach Süden, um zusätzliche Weidegründe für ihre Rinderherden zugewinnen, während die ständig von Hunger bedrohten Orlam besseres Land im Norden wollten. Zur Ergänzung ihrer Versorgung blieben sie auf Viehraub bei den Nama und vor allem bei den Herero angewiesen. Mitte des 19. Jahrhunderts errichtete eine Orlamgruppe dank ihrer überlegenen Feuerwaffen von Windhuk aus eine Oberherrschaft auch über die Herero, konnten diese aber nicht auf Dauer behaupten. Der allgemeine Kriegszustand zwischen den verschiedenen Gruppen – auch den Nama und Orlam unter sich – wurde 1867 und 1870 durch Friedensschlüsse beendet. Dabei spielten bereits im Lande anwesende Europäer eine Rolle, vor allem die Rheinische Mission, die seit 1844 bei den Herero wirkte und versuchte, in jeder Nama- und Orlamsiedlung einen Missionar zu unterhalten. Die Beeinträchtigung durch die Kriege hatte sie schon damals veranlasst, um englischen oder preußischen Schutz zu bitten – einstweilen vergebens. Die Khowese hatten sich 1863 auf Betreiben der Mission in Gibeon niedergelassen. Der Häuptling Kido wurde noch auf den Namen David getauft, bevor ihm 1875 sein Sohn Moses nachfolgte. Das ziemlich unumschränkte Häuptlingstum war in dieser Familie erblich. Davids Enkel Hendrik verfügte über eine gute Bildung und entwickelte sich zum Meister in den Künsten der Jagd und des Krieges, aber auch in Viehzucht und Handwerk. Er stand unter dem Einfluss des Missionars Johannes Olpp, der 1867–79 in Gibeon wirkte und eine Theologie der sichtbaren Manifestation des göttlichen Wirkens vertrat. Hendrik wurde Kirchenältester und einer seiner Söhne Schullehrer. Er hatte sieben Söhne und fünf Töchter. 1880 kam es wieder zu einem Gefecht zwischen den nach Süden drängenden Herero und den Nama bzw. Orlam, das die Herero 30 Menschen und 1.000 Rinder kostete. Daraufhin ließ der Hererochef gegen 200 im Lande befindliche Nama umbringen; damals ging Windhuk an die Herero verloren. Hendrik entkam mit knapper Not. Bald danach hatte er eine Offenbarung, die er als göttlichen Auftrag auffasste, das Werk seines Großvaters zu vollenden und die Khowese ganz alttestamentarisch stilisiert zu einem gelobten Land im Norden zu führen. Der neue Missionar Rust in Gibeon versuchte vergebens, Hendrik seine Offenbarung und seine Pläne auszureden. Er stieß auf die ruhige und selbstbewusste, um nicht zu sagen selbstgerechte Hartnäckigkeit, die einen von Hendriks Wesenszügen ausmachte. Dieser Mystiker

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war zugleich ein kaltblütiger Realist – eine gar nicht so seltene Verbindung. Freilich waren die Herero buchstäblich im Wege und Moses Witbooi hatte angesichts der wachsenden Anhängerschaft seines Sohnes den Verdacht, dieser wolle ihn aus der Häuptlingswürde verdrängen. Moses wurde stattdessen 1887 von seinem Schwager verdrängt und 1888 ermordet. Hendrik rächte ihn umgehend und übernahm anschließend die Häuptlingschaft. Hendrik war schon 1884 mit seinen Anhängern nach Norden gezogen. Die Herero widersetzten sich seinem Verlangen, ihm Durchzug zu gewähren. Das war der Anfang wechselnder, aber mehr oder weniger erfolgreicher Kämpfe mit den Herero und mit den anderen Namagruppen, in denen sich Hendrik aber immer im Recht wusste, wie er dem „geliebten Missionar Olpp“ auf dessen Ermahnungen schriftlich darlegte. Er betrachtete sich geradezu als Zuchtrute Gottes für die verruchten Herero. Aber ab 1888 geriet er in Schwierigkeiten, weil ihm die Briten und die Deutschen einvernehmlich die Lieferung von Waffen und Munition sperrten. Das betrachtete er als Beeinträchtigung seiner naturrechtlichen Unabhängigkeit. Nachdem der Tabak- und Waffenhändler Adolf Lüderitz und seine Nachfolger, die Deutsche Kolonialgesellschaft für Südwestafrika, für ihre zum Teil dubiosen Landerwerbungen und Schutzverträge den Schutz des Deutschen Reiches erhalten hatten und das Reich schließlich sogar die Verantwortung für die Kolonie hatte übernehmen müssen, wurden deren Grenzen durch Verträge mit Portugal 1886 und Großbritannien 1890 im Umfang des heutigen Namibia festgelegt. 1885 tauchte ein Reichskommissar Dr. Heinrich Göring, der Vater des NS-„Reichsmarschalls“, auf und versuchte nicht besonders erfolgreich, das Land zu befrieden. Anscheinend erkannte nur Hendrik, was die Stunde geschlagen hatte, während die übrigen Häuptlinge ziemlich kurzsichtig, aber typisch für die Anfänge jeder Kolonialherrschaft, die Deutschen für ihre eigenen Zwecke einzuspannen versuchten. 1890 schrieb Hendrik an den obersten Hererochef: „ewige Reue werdet Ihr empfinden, dass Ihr Euer Land und die Regierungsrechte an die weißen Menschen abgetreten habt.“4 Göring und dessen beiden Nachfolgern hingegen machte er mündlich wie schriftlich unmissverständlich klar, dass sie ihm nichts zu sagen hätten, weil er unabhängiger Herrscher seines Volkes und Landes sei und gar nicht daran denke, einen Schutzvertrag mit ihnen abzuschließen. Er brauche diesen Schutz nicht, der ohnehin nur ein Vorwand sei. Er gestattete aber durchaus die Ansiedlung von Farmern, solange diese seine Genehmigung einholten und Abgaben leisteten. Alles vergebens: als letzter erlag er 1892 der Gewalt. Dass Macht vor Recht geht, hat dabei nicht nur er geschrieben, auch sein Gegner Theodor Leutwein drückte sich durch die Blume ganz ähnlich aus: es gehe nicht um Recht oder Unrecht, sondern um den Bestand des deutschen Schutzgebiets. Witbooi war zwar der überlegene Guerillataktiker, aber dem Einsatz von Artillerie nicht gewachsen. Er hatte allerdings Glück, weil Leutwein nicht seine Vernichtung, sondern ein quasimittelalterliches Vasallenverhältnis der Häuptlinge zum Gouverneur anstrebte. Die Konflikte mit den zunehmenden deutschen Siedlern und Kaufleuten konzentrierten

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Witbooi S. 90.

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sich ohnehin eher auf das Gebiet der Herero, deren sozio-kulturelles System außerdem 1897 von einer Rinderpest aufs Schwerste getroffen wurde. 1904 erhoben sie sich gegen die Deutschen. Hendrik blieb zunächst loyal, schloss sich aber dann doch der Erhebung an, angeblich, weil die racheschnaubenden deutschen Siedler verkündeten, nach Erledigung der Herero werde er an die Reihe kommen. 1905 starb er an einer Verwundung. Die brutale deutsche Vergeltungspolitik mit massivem Militäreinsatz gilt heute als Völkermord und als Fingerübung für den deutschen Massenmord an den Juden. Hendriks Volk hat allerdings ebenso wie Teile der Herero knapp überlebt. Aber die völlig willkürliche Grenzziehung der Kolonialmächte hat dazu geführt, dass Namibia heute von einer Bevölkerungsmehrheit aus dem Norden, den Ambo, dominiert wird. Doch Hendrik gilt dennoch als Nationalheld und sein gleichnamiger Urenkel wurde zu einer Führungsfigur der unabhängigen African Methodist Episcopal Church und der radikalen Unabhängigkeitsbewegung. 4. Die vierte und letzte Geschichte 5 spielt im 20. Jahrhundert. Sie führt ins Zentrum des Kolonialismus, mit Joseph Conrad gesprochen ins Heart of Darkness, das heißt in den belgischen Kongo, später Zaïre, heute Demokratische Republik Kongo (im Unterschied zur früher französischen Republik Kongo (Brazzaville), bis 1991 Volksrepublik Kongo). Staat und katholische Kirche haben dort während der Kolonialzeit die Afrikaner zwar teilweise durchaus mit paternalistischem Wohlwollen behandelt, aber auf ihre Entwicklung oder gar die Vorbereitung der Unabhängigkeit wenig Mühe verwendet. Am 6. April 1921 wurde bei den Bakongo in dem Dorf Nkamba unweit des unteren Kongo eine todgeweihte Frau von dem Prediger Simon Kimbangu wunderbar geheilt. Kimbangu ist 1887 im selben Dorf geboren; seine Eltern betrieben traditionelle Heilkunde. Er wurde Christ und arbeitete als Katechet für die Baptistenmission. Allerdings wusste er sich spätestens seit 1918 zum Prediger berufen, wurde aber als solcher trotz mehrerer Anläufe nicht akzeptiert. Da entschloss er sich, seiner Berufung auf eigene Faust zu folgen, mit atemberaubendem Erfolg. Denn auf die erste Krankenheilung folgten weitere und angeblich auch die Wiedererweckung von Verstorbenen. Angesichts der epidemischen Spanischen Grippe hatte Kimbangu einen ungeheuren Zulauf von Kranken und von begeisterten Anhängern seiner Botschaft, die er durchaus als christlich verstand und die geradezu puritanische sittliche Anforderungen stellte. Er fühlte sich als spezieller Prophet Jesu Christi für das benachteiligte Afrika und scheint sein Wirken als Prediger und

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www.kimbagnuisme.net; Susan Asch, L’église du prophète Kimbangu. De ses origines à son rôle actuel au Zaïre (1921–1981), Paris 1983; Heinrich Balz, Weggenossen am Fluss und am Berg. Von Kimbanguisten und Lutheranern in Afrika, Neuendettelsau 2005.

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Heiler nach dem Muster Jesu Christi stilisiert zu haben, unter anderem durch die Bestellung von zwölf Aposteln. Allerdings fühlte sich die katholische Mission bedroht und der Kolonialstaat witterte Aufruhr, soll Kimbangu doch verkündet haben, dass die Schwarzen weiß und die Weißen schwarz werden würden. Einem massiven Aufgebot von Sicherheitskräften gelang es nicht, seiner habhaft zu werden, aber am 12. September 1921 lieferte er sich mit seinen engsten Anhängern selbst aus. Ein Militärgericht verurteilte ihn umgehend wegen Aufruhr zum Tode, doch auf Betreiben des Staatsanwalts und der protestantischen Mission begnadigte ihn König Albert zu 120 Peitschenhieben und lebenslanger Haft. Diese verbrachte er ohne jeden Kontakt mit den Seinigen bis zu seinem Tode 1951 in Elisabethville, heute Lubumbaschi am anderen Ende des Landes im Süden Katangas / Shabas, dem Vernehmen nach als hilfsbereiter und vorbildlicher Gefangener. Außerdem wurden angeblich 37.000 Familien seiner Anhänger mit 150.000 Menschen in Konzentrationslager im Nordosten und Südosten des Kongo deportiert, von denen nur 2.000 Familien überlebt haben sollen. Nach belgischen Akten hingegen waren es nur 3.300 Verbannte, von denen 20 % umkamen. Auch als das Unrecht offenkundig geworden war, verweigerte die Kolonialregierung Kimbangus Entlassung, um kein Gesicht zu verlieren. Doch nach christlicher Überzeugung ist das Blut der Martyrer der Same neuer Christen. So überlebte auch diese Bewegung unter der geistlichen Führung von Kimbangus 1959 verstorbener Frau, „der Seele des Kimbanguismus“, und seiner drei Söhne trotz aller Verfolgungen. Im Zeichen der Dekolonisation wurde der Kimbanguismus schließlich öffentlich als Kirche anerkannt, 1958 im Französischen, 1959 im Belgischen Kongo, 1974 auch in Angola – Nkambas zentrale Lage zu allen drei Ländern erwies sich als nützlich. 1959–1992 leitete Kimbangus jünster Sohn Son Eminence Papa Diangenda Kuntima, ursprünglich Sa Sainteté le Pape Joseph Diagenda, die Eglise de JésusChrist sur la terre par son envoyé spécial Simon Kimbangu als Chef Spirituel. Nach seinem und des ältesten Bruders Tod 1992 übernahm der mittlere Sohn Paul Salomon Dialungana Kiangani diese Aufgabe. 2001 folgte auf ihn sein Sohn Son Eminence Papa Simon Kimbangu Kiangani als Leiter der Kirche, freilich für manche nur als Repräsentant der Enkelgeneration, deren 26 Mitglieder alle beanspruchen können, gleichberechtigte Chefs spirituels zu sein. Neben Gotteshäusern errichtete die Kirche zahlreiche Schulen und medizinische Ambulanzen. Nkamba wurde als heilige Stadt zum Neuen Jerusalem ausgebaut, mit einem Gotteshaus mit 37.000 Plätzen und den Mausoleen des Gründers und seiner Familie. In der Hauptstadt Kinshasa, früher Leopoldville, betreibt die Kirche ihr Verwaltungszentrum, einen weiteren Riesentempel und die – laut homepage – „Exzellenz-Universität Simon Kimbangu“ mit diversen Fakultäten. Die seit 1970 mit Schweizer und deutschem Geld und Personal aufgebaute und von der Basler Mission 21 finanzierte theologische Fakultät hat einen eigenen Campus nahe Kinshasa in Lutendele. Nach eigenen Angaben gehören der Kirche 10 % der Kongolesen an, insgesamt 17 Millionen Mitglieder in allen schwarzafrikanischen und den meisten europäischen Ländern sowie in Brasilien, Kanada und den USA. Sie betreibt die verschiedensten Organisationen, z. B. eigene Pfadfinder, verfügt über

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ihren eigenen Fernsehsender, von massiver Internet-Präsenz ganz abgesehen. 1969 wurde sie auf Betreiben der Schweizer Herrnhuter in den Ökumenischen Rat der Kirchen aufgenommen. Marie-Luise Martin, Gründerin und erste Leiterin ihrer theologischen Fakultät, gehörte jener Kirche an. Die Theologie des Kimbanguismus ist kreationistisch und auch sonst ziemlich konservativ. Sie bekennt sich zur Trinität, zur Erlösung durch Jesus Christus und zur Bibel. Das Heil beruht auf der Verbindung von Gnade, Glaube und guten Werken. Als Sakramente kennt sie Taufe, Kommunion, Beichte, Ordination (übrigens auch von Frauen) und Ehe. Für das Abendmahl wird statt Wein flüssiger Honig verwendet, statt Brot ein Gebäck aus Kartoffeln, Mais, Eiern und Bananen. Die Kirche bekennt sich zur Gewaltlosigkeit. Ihre Sittenlehre folgt den Zehn Geboten und dem Befehl zur Nächstenliebe. Sie verbietet Polygamie, Homosexualität und Unzucht, Nacktschlafen, baggy jeans für Männer und Miniröcke für Frauen, Alkohol, Tabak, Drogen, Schweine- und Affenfleisch, Zauberei und Amulette sowie die Mitgliedschaft in Geheimgesellschaften. In Kultstätten sind die Schuhe auszuziehen und die Frauen haben ihre Haare zu bedecken. Allerdings haben die theologischen Konsequenzen des erblichen Familienregiments vor allem für nicht-afrikanische Christen Probleme aufgeworfen. Ursprünglich bezog sich die Kirche par le prophète Simon Kimbangu auf Jesus Christus, dann aber wurde Kimbangu zum envoyé spécial. Das bezieht sich auf Johannes 14, 16, wo Jesus seinen Jüngern einen anderen Beistand verspricht, der für immer bei ihnen bleiben wird. Nach 14,17 und 14, 26 ist damit aber ausdrücklich der Heilige Geist gemeint. Konsequenterweise wurde Kimbangu spätestens seit den 1970er Jahren als Inkarnation des Heiligen Geistes betrachtet, auch wenn man damals diese Botschaft noch für sich behielt. Ebenso sein jüngster Sohn, denn seine drei Söhne galten als Verkörperung der Dreifaltigkeit. Der zweite, Kirchenchef von 1992 bis 2001, erklärte sich im Jahr 2000 ausdrücklich zu einer Inkarnation von Jesus Christus. Konsequenterweise wurde Weihnachten vom 25. Dezember auf seinen Geburtstag am 25. Mai verlegt. Als diese Lehren 2002 offen verkündet und die Mitchristen im Ökumenischen Rat zu deren Übernahme aufgefordert wurden, hatten diese ein Problem. 5. Im Sinne unserer Fragestellung ergeben sich aus den vier Geschichten verschiedene Folgerungen. Wir können den Sklavenhandel zwar als „Menschheitsverbrechen“ betrachten – übrigens auch in dem weiteren Sinn, dass kaum ein Volk der Menschheit keine Sklaven gekannt hat –, müssen aber auch feststellen, dass er eine völlig neue historische Konfiguration, „den afrikanischen Atlantik“ hervorgebracht hat. Dieser bot nicht nur eine Minderheit von Betroffenen ganz neue Chancen, sondern brachte auch wichtige Innovationen hervor. Außerdem bereitete er Afrikaner auf die Moderne vor. Keineswegs zufällig waren Ghana und Nigeria, einst Schwerpunkte des Sklavenhandels, auch Vorreiter der Dekolonisation.

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In den binnenafrikanischen Völkerwanderungen des 19. Jahrhunderts mit ihren Konflikten konnten hochkarätige politische Naturtalente wie Moshoeshoe und Witbooi ohne weiteres zukunftsträchtige Herrschaftsbildung zustande bringen, vor allem wenn es ihnen rechtzeitig gelungen war, strategische europäische Errungenschaften wie die Feuerwaffen zu übernehmen. Allerdings hing das Überleben ihrer Herrschaften nicht nur von deren Menschenzahl ab, sondern inzwischen auch von der kolonialpolitischen Mächtekonstellation und der Möglichkeit diese auszunutzen. Moshoeshoe hatte solchen Chancen, Witbooi blieben sie versagt, obwohl er sie durchaus witterte. In beiden Fällen spielte die christliche Mission eine wichtige Rolle, freilich nicht Sinne erfolgreicher Bekehrung und Führung, sondern dadurch, dass sich die Afrikaner diejenigen Teile ihrer Botschaft und der von ihr vermittelten europäischen Kultur zu eigen machten, die ihren Vorstellungen entgegenkamen und ihnen Vorteile versprachen: Moshoeshoe als erfolgreicher Modernisierer, Witbooi als neuer Moses seines Volkes. Simon Kimbangu selbst war einer der mehr oder weniger christlichen Heiler und Propheten, die Afrika immer wieder hervorbringt. Die Kirche seiner Anhänger, oder besser: seiner Familie, hingegen stellt eine wohl gelungene Synthese aus ziemlich unafrikanischem puritanischem Christentum und afrikanischer Spiritualität nebst afrikanischem Familismus dar – ob es dem Ökumenischen Rat nun passt oder nicht. Mit diesen Feststellungen erhalten wir auch Hinweise zu den historischen Wurzeln der heutigen afrikanischen Verhältnisse. Ich zögere, von „Misere“ zu sprechen, denn erstens setzt Afrika endlich wie andere so genannte Entwicklungsländer angeblich zu einem wirtschaftlichen Wachstumsschub an. Allerdings dürfte sich an der extrem ungleichen Verteilung der Gewinne bis auf weiteres wenig ändern. Das hängt zweitens mit dem Grundproblem der Schwäche des Staats in Afrika zusammen. Ansätze zur eigenständigen Staatsbildung wurden kupiert und den Afrikanern koloniale Staatlichkeit mit willkürlichen Grenzziehungen und im Gegensatz zu Europa ausgesprochen vormodernem Herrschaftssystem aufgezwungen und hinterlassen. Deshalb konnten afrikanische Politiker nach der Dekolonisation keine qualifizierte Bürokratie „erben“, sondern allenfalls eine Art von Militär. Ansonsten mussten sie an traditionelle Familien- und Klientelsystem anknüpfen. Die Folgen sind bekannt. Doch warum sollten die Afrikaner, deren Tüchtigkeit wir kennengelernt haben, auf die Dauer nicht auch damit fertig werden, wenn sie nur wollen?

MIGRATION ÜBER SEE Jochen Oltmer Wege über das Meer nutzten Migrantinnen und Migranten in der Vergangenheit vornehmlich dann, wenn sie größere Distanzen zurücklegen wollten oder mussten. Der Begriff und das historische Phänomen der ‚europäischen Übersee-Migration‘ bietet einen zentralen Überschneidungsbereich der Themenkomplexe ‚Europa‘, ‚Welt‘, ‚Meer‘ und ‚Migration‘. Allein im ‚langen‘ 19. Jahrhundert – beginnend in den 1820er/1830er Jahren und auslaufend in den 1920er/1930er Jahren – verließen wahrscheinlich weit mehr als 50 Millionen Menschen Europa über das Meer, weil sie sich andernorts bessere Chancen versprachen. Zwei Drittel von ihnen kamen nach Nordamerika, darunter sechsmal mehr in die USA als nach Kanada. Rund ein Fünftel wanderte nach Südamerika ab, ca. 7 Prozent erreichten Australien und Neuseeland. 1 Die europäische Übersee-Migration des ‚langen‘ 19. Jahrhunderts trug zu einer intensiven globalen Vernetzung und Verflechtung Europas bei und führte in den Zielgebieten zu einem weitreichenden ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Wandel: Sie veränderte die Zusammensetzung der Bevölkerung in einigen Teilen der außereuropäischen Welt grundlegend und ließ „Neo-Europas“ insbesondere in den Amerikas und in Ozeanien (Australien, Neuseeland) entstehen. Die dortigen einheimischen Bevölkerungen wurden dezimiert und überwiegend in periphere Räume verdrängt, ökonomische und soziale Systeme, Herrschaftsgefüge und kulturelle Muster europäisch überformt. 2

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Datenquelle hier und im Folgenden: Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000, 121—168; Walter Nugent, Crossings. The Great Transatlantic Migrations 1870–1914, Bloomington 1992, 27—107; Dudley Baines, Emigration from Europe 1815–1930, Cambridge 1995. Jochen Oltmer, Globale Migration. Geschichte und Gegenwart, München 2016, 30—63.

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EUROPÄISCHE ÜBERSEE-MIGRATION IM ‚LANGEN‘ 19. JAHRHUNDERT Doch auch in den historischen Epochen davor und danach – bis zum Beginn des Zeitalters der Passagierflugzeuge – wurden Migrationsbewegungen durch die relativ guten und günstigen Verkehrsmöglichkeiten, die küstennahe oder Hochseeschifffahrt boten, ermöglicht und erleichtert. Die europäische überseeische Migration war eng mit der globalen Expansion Europas seit dem 15. Jahrhundert verbunden. In den ersten drei Jahrhunderten des europäischen Kolonialismus, das heißt von ca. 1500 bis ca. 1800, verließen insgesamt nur rund 8 bis 9 Millionen Menschen Europa. 3 Vielfach handelte es sich um maritime und militärische Arbeitsmigranten, die häufig nach Europa zurückkehrten oder das Ende ihres Dienstes als Matrosen oder Soldaten in Übersee aufgrund von Krankheiten oder Verwundungen nicht erlebten. 4 Für die europäischen Migrantinnen und Migranten, die sich dauerhaft andernorts ansiedelten, bildeten die Amerikas das Hauptziel. Die spanischen und portugiesischen Besitzungen im Süden des Doppelkontinents wurden als Beherrschungsund Ausbeutungskolonien ausgelegt und zogen bis in das 19. Jahrhundert nur wenige europäische Siedler an, waren vielmehr vornehmlich Ziel der Bewegung von Millionen afrikanischer Sklaven. Die britischen Kolonien im Norden des amerikanischen Doppelkontinents hingegen wurden von Beginn an als Besiedlungskolonien verstanden. 1790, im Jahr der ersten Volkszählung in den nunmehr unabhängigen Vereinigten Staaten von Amerika, betrug die Bevölkerung europäischer Herkunft 3,9 Millionen Menschen. Beigetragen hatte zum Anstieg der Bevölkerungszahl nicht nur die – moderate – Einwanderung, sondern vor allem das im Vergleich zu den europäischen Herkunftsländern hohe natürliche Bevölkerungswachstum aufgrund relativ günstiger Ernährungsbedingungen und des Ausbleibens von Seuchen. 5 Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts stieg der Umfang der transatlantischen Migrationen an. Durchschnittlich 50.000 Menschen verließen in den 1820er und 1830er Jahren jährlich Europa über das Meer. Die 1840er Jahre bildeten eine Zäsur: 1846 bis 1850 gab es im Durchschnitt Jahr um Jahr bereits über 250.000 Transatlantikwanderer, davon gingen rund 80 Prozent in die USA und 16 Prozent nach Kanada. Zwischen 1851 und 1855 stieg diese Zahl auf 340.000 und damit auf das 3

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Jan Lucassen / Leo Lucassen, The Mobility Transition Revisited, 1500–1900: What the Case of Europe can offer to Global History?, in: Journal of Global History, 4/2009, 355–356; im Detail für die Abwanderung aus den wichtigsten europäischen Herkunftsländern s. die Beiträge in: Nicholas Canny (Hg.), Europeans on the Move. Studies on European Migration, 1500– 1800, Oxford 1994. Hierzu s. z.B.: Martin Bossenbroek, West- und mitteleuropäische Soldaten in der niederländischen Kolonialarmee 1815–1909, in: Klaus J. Bade / Pieter C. Emmer / Leo Lucassen / Jochen Oltmer (Hgg.), Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2010, 1103–1105. Hans-Jürgen Grabbe, Vor der großen Flut: Die europäische Migration in die Vereinigten Staaten von Amerika 1783–1820, Stuttgart 2001.

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Siebenfache des Jahresdurchschnitts der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Weiterhin dominierte die USA als wichtigstes Ziel. Mit der Weltwirtschaftskrise der späten 1850er Jahre und dem Amerikanischen Bürgerkrieg 1861–1865 ging zwar die europäische Zuwanderung in die USA deutlich zurück, sie überstieg mit dem Ende des Sezessionskrieges aber sogleich wieder das Niveau der frühen 1850er Jahre, um in der Weltwirtschaftskrise der 1870er Jahre erneut abzusinken. Im Zeitraum von den 1840er bis zu den 1880er Jahren kamen insgesamt ca. 15 Millionen Europäer in die USA, die hauptsächlich aus dem Westen, dem Norden und der Mitte des Kontinents stammten: Über vier Millionen Deutsche, drei Millionen Iren, drei Millionen Briten und eine Million Skandinavier erreichten die Vereinigten Staaten, deren Bevölkerung in diesem halben Jahrhundert von ca. 17 Millionen auf 63 Millionen anwuchs. In der zweiten Hälfte der 1880er Jahre umfasste die europäische Überseemigration durchschnittlich fast 800.000 Menschen pro Jahr, immer noch ging der Großteil in die USA. Spitzenwerte erzielte sie in den anderthalb Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als durchschnittlich jährlich mehr als 1,3 Millionen Europäer die ‚Alte Welt‘ verließen. Nur noch ein Drittel der Abwanderer kam jetzt aus West-, Nord- und Mitteleuropa, wo Agrarmodernisierung und Industrialisierung immer mehr Arbeitskräfte banden und das Lohnniveau angestiegen war. Dagegen stammten zwei Drittel aus dem wirtschaftlich schwächeren Süden sowie dem Osten des Kontinents. Während die US-Einwanderungsbehörden bis 1880 beispielsweise nur 150.000 Zuwanderer aus Russland und Österreich-Ungarn insgesamt gezählt hatten, registrierten sie zwischen 1900 und 1910 nicht weniger als 2,1 Millionen Zuwanderer aus der Habsburgermonarchie sowie 1,6 Millionen aus dem Zarenreich. 6 Vor allem seit der Wende zum 20. Jahrhundert gewannen andere Migrationsziele gegenüber Nordamerika an Gewicht, darunter vor allem Australien, Brasilien und Argentinien, aber auch Neuseeland, Uruguay oder Chile. Vor 1850 hatten die USA ca. vier Fünftel aller Europäer aufgenommen, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren es ca. drei Viertel, seit der Jahrhundertwende noch rund die Hälfte. Der Bedeutungsgewinn der Ziele außerhalb Nordamerikas war vornehmlich ein Ergebnis der Öffnung großer neuer Siedlungszonen für europäische Landwirte und der Entdeckung von Rohstoffvorkommen, deren Erschließung viele Arbeitskräfte erforderte. Argentinien als zweitwichtigstes Ziel der europäischen ÜberseeMigration nach den USA ragte dabei heraus: 1870 zählte es 1,8 Millionen Bewohner. Bis zum Ersten Weltkrieg wanderten 5,5 Millionen Europäer zu, von denen sich rund 3 Millionen dauerhaft ansiedelten. Argentinien zählte 1900 rund 4,7 Millionen und 1914 insgesamt 7,5 Millionen Einwohner. Italiener, Spanier und Portugiesen dominierten mit ca. drei Vierteln aller Zuwanderer. 7 6 7

Annemarie Steidl, Ein ewiges Hin und Her. Kontinentale, transatlantische und lokale Migrationsrouten in der Spätphase der Habsburgermonarchie, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 19/2008, 15–42. Zu Lateinamerika im Überblick: Nugent, Crossings, 111–135; Eduardo José Miguez, Foreign Mass Migration to Latin America in the Nineteenth and Twentieth Centuries – An Overview,

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HAFENSTÄDTE ALS MIGRATORISCHE KNOTENPUNKTE In Europa kamen die meisten der (zukünftigen) Migrantinnen und Migranten nach Übersee aus dem Binnenland, trafen häufig zum ersten Mal in ihrem Leben auf das Meer, auf eine maritime Lebenswelt und auf Schiffe als größte bewegliche Objekte, die der Mensch jemals geschaffen hat. Häfen und Hafenstädte bildeten Knotenpunkte im langen Prozess der zunehmenden Vernetzung verschiedener Teile der Welt. Europäische Hafenstädte waren Orte der Abfahrt und des Abschieds für jene, die eine Migration über See wagten. Sie bildeten zugleich Orte der Ankunft, weil ein nicht geringer Teil der Transatlantik-Migranten wieder nach Europa zurückkehrte oder zwischen den Kontinenten pendelte. Je stärker im 19. Jahrhundert die lange dominierende Familienmigration zwecks landwirtschaftlicher Ansiedlung an Gewicht verlor und die individuelle Arbeitsmigration in Beschäftigungsverhältnisse in Industrie und Dienstleistungsbereich anstieg, desto höher lag die Rückwanderung. Zwischen 1880 und 1930 kamen beispielsweise 4 Millionen Menschen aus den USA nach Europa zurück – mit enormen Unterschieden zwischen den einzelnen Gruppen: Nur 5 Prozent der jüdischen Transatlantikmigranten, aber 89 Prozent der Bulgaren und Serben kehrten zurück. Vor allem die Abwanderung über das Meer aus Ost-, Ostmittel- und Südeuropa, die seit der Wende zum 20. Jahrhundert dominierte, bedeutete immer seltener definitive Auswanderung und immer häufiger Rückkehr und zirkuläre Migration. Die Hälfte der Italiener beispielsweise, die zwischen 1905 und 1915 Nord- und Südamerika erreichten, kehrte nach Italien zurück. 8 Europäische Hafenstädte bildeten nicht nur Abfahrts- und Ankunftsorte, sondern auch Relaisstationen des transkontinentalen Wissens: Hier kamen die über 1 Milliarde privaten Auswandererbriefe an, die im 19. Jahrhundert von Ausgewanderten aus den USA nach Europa geschickt worden sein sollen; eine möglicherweise nicht kleinere Zahl bewegte sich in umgekehrter Richtung. Die Briefe hielten die Netzwerke von Migrantinnen und Migranten sowie ihrer (noch) in Europa gebliebenen Verwandten und Bekannten aufrecht, die eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Ziele, für die Wege und für den Umfang der Migration hatten. Pioniermigranten lieferten Informationen über Möglichkeiten, Pfade und Risiken der Abwanderung nach Übersee. Verwandte und Bekannte folgten dann den etablierten Wegen, nicht selten finanziert durch ‚prepaid tickets‘, die bereits in Nordamerika lebende Familienmitglieder oder ehemalige Nachbarn bezahlt hatten. Kettenwanderungen etablierten sich. 9

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in: Samuel L. Baily / Eduardo José Miguez (Hgg.), Mass Migration to Modern Latin America, Wilmington 2003, XIII–XXV. Vgl. J.D. Gould, European Inter-Continental Emigration. The Road Home: Return Migration from the U.S.A, in: Journal of European Economic History, 9/1980, 41–112; Mark Wyman, Round-trip to America. The Immigrants Return to Europe, 1880–1930, Ithaca 1993; zum deutschen Fall: Karen Schniedewind, Begrenzter Aufenthalt im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Bremer Rückwanderer aus Amerika 1850–1914, Bremen 1991. Bruce S. Elliott / David A. Gerber / Susan M. Sinke (Hgg.), Letters across Borders. The Epistolary Practices of International Migrants, New York 2006; Wolfgang Helbich / Walter D.

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Je umfangreicher das Netzwerk verwandtschaftlich-bekanntschaftlicher Beziehungen war und je intensiver soziale Beziehungen innerhalb des Netzwerkes gepflegt wurden, desto mehr ökonomische und soziale Chancen bot es – gerade an der Intensität und Größe des Netzwerkes bemaß sich immer auch die Attraktivität eines Migrationszieles. Vor diesem Hintergrund erhöhte ein Migrantennetzwerk nicht nur die Wahrscheinlichkeit, dass weitere Migration stattfand. Vielmehr konstituierte es auch Wanderungstraditionen und beeinflusste damit die Dauerhaftigkeit einer Migrationsbewegung zwischen Herkunftsraum und Zielgebiet, die zum Teil über Generationen existierten. 94 Prozent aller Europäer, die um 1900 in Nordamerika eintrafen, suchten zum Beispiel zuerst Verwandte und Bekannte auf, verringerten damit ihre soziale Verwundbarkeit. 10 Am Zielort garantierten Migrantennetzwerke Sicherheit und Orientierung im fremden Raum, vermittelten Arbeits- und Unterkunftsmöglichkeiten, halfen bei Kontakten mit Obrigkeiten, staatlichen und kommunalen Institutionen. Die Migrantennetzwerke wurden nicht nur durch Kommunikation und durch den Austausch von Leistungen auf Gegenseitigkeit aufrechterhalten, sondern reproduzierten sich durch (nicht selten translokal und transkontinental ausgehandelte) Eheschließungen, die Etablierung von Vereinen und Verbänden, eine spezifische Geselligkeitsoder Festkultur, aber auch gemeinsame ökonomische Aktivitäten. Ein steter und breiter Fluss überseeischer Kommunikation als Folge der und als Voraussetzung für die Übersee-Migration leistete einen zentralen Beitrag, einen überseeischen, einen transatlantischen Raum herzustellen, in dem die Häfen Knoten bildeten – einen aus der Migration hervorgehenden Raum der Transformation, der nicht nur die ‚Neo-Europas‘ als Zielregionen umfasste, sondern auch die Herkunftsräume der Migranten in Europa. Migrantinnen und Migranten transferierten persönlich oder per Brief Wissensbestände, die sie in ihrer neuen Heimat erworben hatten, sandten Unsummen Geldes (‚Rücküberweisungen‘), vermittelten Praktiken, brachten Artefakte sowie andere Güter und Gegenstände mit oder schickten sie aus der weiten Welt nach Europa. Vor allem für die Hafenstädte bildete die Migration über See einen ökonomischen Faktor – für dort angesiedelte Schifffahrtsgesellschaften, Hotels, Gaststätten oder Gasthäuser, die wartende Auswanderer unterbrachten und versorgten, für Kaufleute, die Lebensmittel oder Güter für den Weg, für die Ankunft oder für die Ansiedlung verkauften. Außerdem bot vor allem in der Anfangszeit der Transport von Menschen nach Übersee den Reedern die Möglichkeit, ihre Frachtschiffe, die überseeische Handelsgüter nach Europa transportierten und mit geringer Ladung oder Ballast nach Amerika oder Australien zurückfuhren, mit dem profitablen Transportgut Auswanderer zu füllen. Deshalb richtete sich zunächst die Auswanderung aus einzelnen Hafenstädten auch auf solche Gegenden in Übersee aus, in denen die Kaufleute jeweils Handelsinteressen hatten. Das änderte sich faktisch erst Kamphoefner / Ulrike Sommer (Hgg.), Briefe aus Amerika. Deutsche Auswanderer schreiben aus der Neuen Welt 1830–1930, München 1998. 10 Dirk Hoerder / Jan Lucassen / Leo Lucassen, Terminologien und Konzepte in der Migrationsforschung, in: Bade / Emmer / Lucassen / Oltmer (Hgg.), Enzyklopädie Migration, 35.

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seit Mitte des 19. Jahrhunderts, als die europäische Übersee-Migration und die Reiseaktivitäten zwischen den Amerikas und Europa so viele Menschen umfassten, dass sich eine originäre Passagierschifffahrt entwickelte. Vor allem die Einführung von Dampfschiffen und des regelmäßigen Linienverkehrs auf zentralen Strecken revolutionierte den Überseeverkehr: 1867 benötigte ein Segelschiff für die Überfahrt von Europa in die Vereinigten Staaten im Durchschnitt 44 Tage, ein Dampfschiff nur noch 14. 11 Den transozeanischen Verkehr mit Dampfschiffen betrieben die Reedereien zunehmend als eng vernetzten Liniendienst, die kontinentalen Eisenbahnen verzeichneten spektakuläre Anstiege der Personen- und Tonnenkilometerzahlen bei immer kürzeren Fahrtzeiten. Kommunikationsverbindungen wurden rasch ausgebaut (regelmäßiger Postverkehr; Telegrafie, Telefon ab 1878). Zeitungen entwickelten sich zur billigen Nachrichtenquelle für jedermann aufgrund der rasanten Zunahme von Zahl und Auflage. Damit verbesserten sich auch die Möglichkeiten der Information über Chancen der Ansiedlung oder Arbeitnahme jenseits der Meere. Der beschleunigte Ausbau von Verkehrs- und Kommunikationsverbindungen erleichterte zudem die Marktbildung im Migrationsbereich: Die global agierenden und untereinander konkurrierenden Schifffahrtsgesellschaften Europas und Nordamerikas erschlossen mit Hilfe modernster Werbemethoden und eines weit ausgebauten Systems von Agenten immer neue Abwanderungsregionen, um ihre Dampfschiffe mit Migrantinnen und Migranten zu füllen. Viel stärker als andere Orte bildeten Hafenstädte Zentren einer steten politischen, medialen und öffentlichen Debatte über Migration sowie deren Bedingungen und Folgen. Hier trafen die Nachrichten über Schiffskatastrophen ein, die für die Hafenstädte wirtschaftlich auch deshalb bedeutsam waren, weil die Auswanderer nach möglichst geringen Risiken strebten. Hier diskutierte die städtische Gesellschaft über die prekäre Lage lange wartender Auswanderer in unzureichenden Quartieren und über die miserablen Lebensverhältnisse an Bord. Hier wurde Auseinandersetzungen über die Sicherheit von Auswanderern geführt, die in Schutzvorschriften mündeten – spezielle Unterkünfte für Auswanderer, gesundheitliche Überwachung, Standards auf Schiffen (Versorgung mit Nahrungsmitteln, zur Verfügung stehender Raum, Rettungseinrichtungen), Regelungen für die Tätigkeit der Agenten der Schifffahrtsgesellschaften oder statistische Erfassung der Bewegungen. Hier kamen die Gefahren zur Sprache, die von den vielen Migrantinnen und Migranten in der Stadt auszugehen schienen: Seuchen und andere Gesundheitsgefahren, Kriminalität, steigende Preise, Gefährdung von Sittlichkeit und öffentlicher Ordnung. 12

11 Zu den Überfahrtsbedingungen: Markus Günther, Auf dem Weg in die Neue Welt. Die Atlantiküberquerung im Zeitalter der Massenauswanderung 1818–1914, Augsburg 2005; Torsten Feys, The Battle for the Migrants. The Introduction of Steamshipping on the North Atlantic and its Impact on the European Exodus, St. John’s 2013. 12 Uwe Plaß, Überseeische Massenmigration zwischen politischem Desinteresse und Staatsintervention, in: Jochen Oltmer (Hg.), Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, Berlin/Boston 2016, 291–315.

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Seit dem späten 19. Jahrhundert entwickelten sich die Hafenstädte immer stärker zu Orten der Migrationskontrolle. Mit dem Einwanderungsgesetz von 1882 erhöhte sich die Regelungsdichte der US-amerikanischen Einwanderungsbehörden, die seit 1892 mit der Einrichtung der Einwanderungsstation auf der New York vorgelagerten Ellis Island ihr zentrales Instrument gewann. Sie bildete eine Reaktion auf den Bedeutungsgewinn der ost-, ostmittel-, südost- und südeuropäischen Migration, die in den europäischen Transitländern und in den Zielländern im Kontext nativistischer und rassistischer Vorstellungen zunehmend problematisiert wurde. In den Hafenstädten beiderseits des Atlantiks wurden der Umgang mit Kontrollelementen wie Separation, Pässen, gesundheitliche Überprüfungen, später Visa zum Alltag. Armut, spezifische Krankheiten, aber auch die Herkunft aus bestimmten Weltgegenden bildeten in Ellis Island Argumente, potenzielle Einwanderer abzuweisen und sie auf Kosten der Reedereien zurückzuschicken. Darauf reagierten die Schifffahrtsgesellschaften mit einer Vorverlagerung der Kontrollen in die europäischen Abfahrtshäfen und an die Grenzen der Transitländer. 13 Diese ersten Einwanderungskontrollen mündeten nach dem Ersten Weltkrieg in die Kontingentierung des Zugangs in die USA: Mit dem ‚Quota Act‘ von 1921 führten die USA erstmals Quoten für die einzelnen Herkunftsländer ein, die sich vor allem gegen die seit Ende des 19. Jahrhunderts dominierende ‚New Immigration‘ aus Ost-, Ostmittel-, Südost- und Südeuropa richteten. 1924 und 1927 wurden diese Quoten weiter verschärft. 14 Vor diesem Hintergrund strebte das Jahrhundert der umfangreichen europäischen Übersee-Migration dem Ende zu. Nach jährlich 1,4 Millionen europäischen Überseewanderern im Zeitraum 1906–1910 wurden im nächsten, vom Weltkrieg noch nicht schwerwiegend tangierten Jahrfünft von 1911 bis 1915 mit 1,3 Millionen pro Jahr kaum weniger Abwanderer registriert als in den Jahren zuvor. Zwischen 1916 und 1920 ging dann die Zahl sehr deutlich auf ein Drittel zurück und erreichte durchschnittlich jährlich nur mehr 431.000. In der Zwischenkriegszeit stieg die Zahl der Überseemigranten zwar erneut an; denn in den 1920er Jahren lag der Durchschnitt pro Jahr mit knapp unter 700.000 erheblich höher als im Jahrfünft zuvor. Sie erreichte aber dennoch nicht mehr als die Hälfte der durchschnittlichen Jahresraten des Vorkriegsjahrzehnts. In den 1930er Jahren wiederum sanken die Ziffern angesichts der Weltwirtschaftskrise erneut sehr deutlich ab: Zwischen 1931 und 1940 waren europaweit nur mehr 1,2 Millionen Überseemigranten registriert worden, ein Fünftel der Zahlen der 1920er Jahre. Mit einer Durchschnittsziffer von jährlich 120.000 Menschen wurden die niedrigsten Werte der gesamten einhundert vorangegangenen Jahre erreicht. Europäische Überseemigration war damit kein Faktor mehr, der die globale Bevölkerungsentwicklung entscheidend beeinflusste. Das gilt auch, obgleich mit der

13 Hierzu s. auch den Beitrag von Tobias Brinkmann in diesem Band. 14 Vgl. Edward P. Hutchinson, Legislative History of American Immigration Policy 1798–1965, Philadelphia 1981; John Higham, Strangers in the Land. Patterns of American Nativism, 1860– 1925, New York 1988; Aristide R. Zolberg, A Nation by Design. Immigration Policy in the Fashioning of America, New York 2006.

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Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland ein neuer, für die Migrationssituation relevanter Faktor hinzutrat: Politische Gegnerinnen und Gegner des Regimes mussten das Land verlassen, vor allem aber all jene, die aufgrund der rassistischen Weltanschauung des Nationalsozialismus als ‚Fremde‘ geächtet wurden. Die weitaus größte Gruppe stellten Jüdinnen und Juden, von denen wohl etwa 280.000 bis 330.000 zwischen 1933 und 1940 andernorts Schutz suchten. Etwa 195.000 deutsche Juden, die nicht (mehr) fliehen konnten, wurden bis Kriegsende ermordet, nur rund 15.000 bis 20.000 überlebten die Lager oder versteckt im Reichsgebiet. Aufnahme für die Fliehenden gewährten weltweit mehr als 80 Staaten, nicht selten – und im Laufe der 1930er Jahre zunehmend – widerwillig und zögerlich. In der Hoffnung auf den baldigen Zusammenbruch der Diktatur waren viele jüdische Deutsche zunächst in die Nachbarländer ausgewichen. Die Hälfte der jüdischen Emigranten aber wanderte weiter, zunehmend in die USA. Die Zahl der Schutzsuchenden wurde 1941 hier auf insgesamt 100.000 geschätzt, Argentinien folgte mit 55.000 vor Großbritannien mit 40.000. Während des Zweiten Weltkriegs verschob sich das Gewicht noch weiter zugunsten der USA, die letztlich etwa die Hälfte aller jüdischen Verfolgten aufnahmen. 15 Die letzte Phase der europäischen Auswanderung nach Nordamerika lässt sich in den ersten anderthalb Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beobachten. Sie lief zunächst sehr langsam an und unterschied sich wesentlich von jener des 19. und frühen 20. Jahrhunderts: Von den Migranten selbst organisierte Reisen gab es kaum noch; einen wesentlichen Anteil hatte die von internationalen Hilfsorganisationen durchgeführte Abwanderung der ‚Displaced Persons‘ (DPs), also Überlebenden der nationalsozialistischen Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslager aus Europa. Mit Hilfe der ‚International Refugee Organization‘ und über ein international abgestimmtes Aufnahmeprogramm konnten zwischen 1947 und 1951 mehr als 700.000 DPs Westdeutschland verlassen. Überseeische Ziele waren am wichtigsten: die USA (273.000) sowie Australien (136.000) und Kanada (83.000). 16 Zwar kam es in den 1950er und Anfang der 1960er Jahren noch zu einem erneuten Anstieg der Einwanderung von Europäerinnen und Europäern in diese Staaten. Allerdings war die grundlegende Veränderung der globalen Migrationstopographie bereits sichtbar: In den USA trat an die Stelle der transatlantischen die hemisphärische Migration, also auf Herkunftsräume in den Amerikas beschränkte Bewegungen, später gewann die Zuwanderung aus dem pazifischen Raum an Bedeutung. 17 Staaten wie Großbritannien oder Deutschland, die über lange Zeit hinweg wichtige Herkunftsländer der Überseemigration gewesen waren, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund hoher wirtschaftlicher Wachstumsraten zu Zielen der 15 Claus-Dieter Krohn u.a. (Hgg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945, Darmstadt 1998; s. hierzu auch den Beitrag von Joachim Schlör in diesem Band. 16 Henriette von Holleuffer, Zwischen Fremde und Fremde. Displaced Persons in Australien, den USA und Kanada 1946–1952, Osnabrück 2001; Gerard Daniel Cohen, In War’s Wake. Europe’s Displaced Persons in the Postwar Order, Oxford 2011. 17 Detaillierte Informationen: Mary C. Waters / Reed Ueda (Hgg.), The New Americans. A Guide to Immigration since 1965, Cambridge 2007.

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vornehmlich interkontinentalen (Großbritannien) oder kontinentalen (Deutschland) Zuwanderung. Die Migration anderer ehemals wichtiger Herkunftsländer der Übersee-Migration wie Italien, Spanien, Portugal oder Griechenland richtete sich verstärkt auf nord-, west- und mitteleuropäische Staaten aus. Und der gesamte ost-, ostmittel- und südosteuropäische Raum, der im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die Abwanderung aus Europa zu großen Teilen gespeist hatte, wurde mit dem ‚Kalten Krieg’ und der hermetischen Teilung Europas von den Wanderungszielen in Übersee, aber auch in West-, Nord- und Mitteleuropa abgeschnitten. EUROPA WIRD ZUM EINWANDERUNGSKONTINENT Europa als Hauptakteur kolonialer Expansion und als Hauptexporteur von Menschen in die Amerikas und in den Raum des südlichen Pazifik war lange nur selten Ziel interkontinentaler Zuwanderungen gewesen. In Großbritannien, dem Zentrum des weltweit größten Imperiums, stieg zwar bereits im Zuge der Expansion des 17. bis 19. Jahrhunderts die Zahl der Menschen afrikanischer oder asiatischer Herkunft an. Sie blieb aber relativ klein. Für 1770 sind beispielsweise 10.000 Menschen in Großbritannien ermittelt worden, die aus dem subsaharischen Raum stammten, London beherbergte die Hälfte von ihnen. Andernorts in Europa lebten wesentlich weniger außereuropäische Zuwanderer. Dies änderte sich langsam in den letzten zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg: Neben der Zuwanderung zum Zwecke des Erwerbs akademischer Qualifikationen aus den Kolonialgebieten bildete die Schifffahrt einen weiteren frühen Pfad der Migration nach Europa, denn die im Zuge der Globalisierung rasch wachsenden europäischen Handelsmarinen rekrutierten seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend häufiger asiatische und afrikanische Männer für die körperlich anstrengenden und gesundheitlich belastenden Tätigkeiten unter Deck. Sie erreichten die europäischen Hafenstädte, wo vor und nach dem Ersten Weltkrieg erste kleine Siedlungskerne von Menschen aus Afrika und Asien entstanden. Aus Westafrika stammende Seeleute aus der Gruppe der Kru wurden beispielsweise seit dem späten 19. Jahrhundert Teil der Bevölkerung Liverpools, Londons oder Cardiffs und blieben bis in die 1970er Jahre mit der Schifffahrt verbunden.18 In Britisch-Indien warb die Handelsmarine seit den 1880er Jahren Heizer an, einige Hundert arbeiteten bald in den britischen Häfen oder verdienten ihr Geld in den Niedriglohnbereichen der Textilindustrie. Chinesische Seeleute kamen nach London, Hamburg oder Rotterdam, arbeiteten dort weiter im Transportgewerbe oder gründeten die ersten chinesischen Lokale und Restaurants. 19 Eine weitere Gruppe von Asiaten, Afrikanern oder Westindern, aus der Pioniermigranten in Europa hervorgingen, bildeten die von den Kolonialmächten rekrutierten Soldaten auf den europäischen Kriegsschauplätzen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs, von denen 18 Diane Frost, Work and Community among West African Migrant Workers, Liverpool 1999. 19 Lars Amenda, Globale Grenzgänger. Chinesische Seeleute und Migranten und ihre Wahrnehmung in Westeuropa 1880–1930, in: WerkstattGeschichte 53/2009, 7–27.

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einige Tausend nach dem Ende der Kampfhandlungen in Europa verblieben. Die eigentliche Massenzuwanderung auf den europäischen Kontinent begann aber erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, gefördert vor allem vom Prozess der Dekolonisation. 20 Die europäische Kolonialherrschaft lief zwar in vielen Gebieten Asiens, Afrikas und des pazifischen Raumes zwischen den späten 1940er und den frühen 1970er relativ friedlich aus. In einigen Fällen aber mündete die Verweigerung der Unabhängigkeit in einen langen und blutigen Konflikt. Vor allem das Ende der globalen Imperien der Niederlande (in den späten 1940er Jahren), Frankreichs (in den 1950er und frühen 1960er Jahren) sowie Portugals (Anfang der 1970er Jahre) brachte umfangreiche Fluchtbewegungen und Vertreibungen mit sich. Während der Kämpfe selbst flüchteten zahlreiche Bewohner der Kolonien in nicht betroffene Gebiete oder wurden evakuiert und kehrten meist nach dem Ende der Konflikte wieder in ihre Heimatorte zurück. Europäische Siedler allerdings sowie koloniale Eliten oder Kolonisierte, die als Verwaltungsbeamte, Soldaten oder Polizisten die koloniale Herrschaft mitgetragen hatten oder den Einheimischen als Symbole extremer Ungleichheit in der kolonialen Gesellschaft galten, mussten nicht selten auf Dauer die ehemaligen Kolonien verlassen. So kann davon ausgegangen werden, dass zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 1980 insgesamt 5 bis 7 Millionen ‚Europäer‘ im Kontext der Dekolonisation aus den (ehemaligen) Kolonialgebieten auf den europäischen Kontinent zurückkehrten, darunter viele, die weder in Europa geboren waren noch je in Europa gelebt hatten. 21 Daraus ergab sich ein Paradoxon der Geschichte der europäischen Expansion: Wegen der migratorischen Folgen der Auflösung des Kolonialbesitzes waren die europäischen Kolonialreiche in den europäischen Metropolen nie präsenter als mit und nach der Dekolonisation. In West-, Nord- und Mitteleuropa wuchs die Zahl der überseeischen Zuwanderer seit den späten 1940er Jahren rasch an. Anders als in der Bundesrepublik Deutschland, wo vornehmlich Arbeitskräfte aus Südeuropa und der Türkei beschäftigt wurden, kamen die Zuwanderer in Frankreich und Großbritannien, aber auch in den Niederlanden und Belgien aufgrund von kolonialen oder post-kolonialen Bindungen häufig über See: Frankreich ließ mit dem ‚Algerienstatut‘ von 1947 die freie Bewegung zwischen Algerien und Kontinentalfrankreich zu. Großbritannien bot seit dem ‚British Nationality Act‘ von 1948 allen Bewohnern der Kolonien eine einheitliche Staatsangehörigkeit und freie Einreise auf die britischen Inseln. 22 Diese offenen Regelungen wurden erst seit den 1960er Jahren schrittweise zurückgenommen. Großbritannien beschnitt mit dem ‚Immigration Act‘ von 1962 die Zuwanderung aus dem Commonwealth. Den Status französischer Staatsbürger verloren die Bewohner Algeriens im selben Jahr mit dem Vertrag von Évian, der den Algerien-

20 Hierzu s. auch den Beitrag von Dirk Hoerder in diesem Band. 21 Andrea L. Smith, Europe’s Invisible Migrants, in: dies. (Hg.), Europe’s Invisible Migrants. Consequences of the Colonists’ Return, Amsterdam 2002, S. 9–32. 22 Imke Sturm-Martin, Zuwanderungspolitik in Großbritannien und Frankreich. Ein historischer Vergleich 1945–1962, Frankfurt a.M. 2001.

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krieg beendete. Nach Großbritannien dürfen seit 1971 nur noch diejenigen frei einreisen, die nachweisen können, dass ihre Eltern oder Großeltern in Großbritannien geboren worden sind. Zunächst war vor allem die Zuwanderung aus der Karibik gewachsen – bis 1960 stieg die Zahl der Westinder auf 200.000 an –, seit den späten 1950er Jahren dominierte dann die Zuwanderung vom indischen Subkontinent. 1971 hielten sich 480.000 Menschen in Großbritannien auf, die in Indien oder Pakistan geboren worden waren, bis 2001 stieg ihre Zahl weiter auf rund eine Million an. In Frankreich dominierten bis Mitte der 1970er Jahre zwar weiterhin Zuwanderungen aus Südeuropa. Seit den frühen 1960er Jahren aber stiegen die Anteile der Zuwanderer aus den ehemaligen nordafrikanischen Kolonien. 1968 bildeten Algerier nach Italienern und Spaniern die drittgrößte Zuwanderergruppe, seit den späten 1960er Jahren wuchs die Zuwanderung aus Marokko und Tunesien sowie aus den ehemaligen französischen Kolonien in Indochina, im subsaharischen Afrika und in der Karibik. 23 Die frühen 1970er Jahre brachten mit dem Auslaufen der Rekonstruktionsphase nach dem Zweiten Weltkrieg ein Ende der Hochkonjunktur. Der Niedergang alter Industrien (Eisen- und Stahlindustrie, Textilindustrie, Bergbau), aber auch Rationalisierung und Automatisierung der Produktion ließen die Erwerbslosigkeit ansteigen. Parallel kam es zu einem Niedergang der Passierschifffahrt, Liniendienste wurden eingestellt, das Verkehrsflugzeug übernahm die Funktion des Passagierschiffes, Häfen veränderten ihre Gestalt zugleich durch die Containerisierung. Maßnahmen zu einer verschärften Kontrolle und Beschränkung der Zuwanderung kennzeichneten die migrationspolitischen Maßnahmen in Europa Anfang der 1970er Jahre allenthalben. Damit aber ließ sich die Zuwanderung nicht grundsätzlich aufhalten, denn die Bewegungen nach Europa in den vorangegangenen Jahrzehnte liefen insbesondere über den Familiennachzug weiter – allerdings nicht mehr über See, sondern per Flugzeug. Bewegungen von Migrantinnen und Migranten über das Meer lassen sich seither im Wesentlichen nur noch dann beobachten, wenn andere Wege der Migration nicht (mehr) zur Verfügung stehen, weil sie durch Kontrollen oder zu hohe Kosten blockiert sind. Das schließt die südostasiatischen (vornehmlich vietnamesischen) ‚boat people’ der 1970er und frühen 1980er Jahre ein, ebenso die ‚Balseros‘, die seit den 1960er Jahren und bis in die jüngste Vergangenheit Kuba in Richtung auf die USA verließen, genauso wie die Menschen, die vom Nahen Osten oder Nordafrika aus seit den 1990er Jahren, insbesondere aber seit Beginn der 2010er Jahren Europa zu erreichen suchen. 24

23 In europäischer Perspektive: Jochen Oltmer / Axel Kreienbrink / Carlos Sanz Diaz (Hgg.), Das ‚Gastarbeiter‘-System. Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa, München 2011. 24 Jochen Oltmer, Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart, Darmstadt 2017, 164–179, 223–238.

VON EYDTKUHNEN NACH ELLIS ISLAND Die Massenmigration aus Osteuropa über deutsche Hafenstädte 1880–1914 1 Tobias Brinkmann Zwischen 1880 und 1914 migrierten Millionen von Osteuropäern über Bahnhöfe und Häfen im deutschen Kaiserreich in die Neue Welt. Die meisten reisten über Hamburg oder Bremen auf Schiffen der HAPAG (Hamburg-Amerikanische Packetschiffahrtsgesellschaft) und des Bremer Norddeutschen Lloyd. Die wichtigsten Auswanderungsregionen waren die westlichen Provinzen des Russländischen Reiches, große Teile von Österreich-Ungarn und Südosteuropa. Die meisten Migranten waren Polen, Ruthenen, Juden, Litauer, Slowaken, Tschechen, Ungarn und Kroaten. Dazu kamen zahlreiche kleinere Gruppen, wie etwa deutschsprachige Protestanten aus dem Russländischen Reich. Es ist schwierig, präzise Zahlen zu ermitteln. Zwar wurden Passagiere von den Schifffahrtsgesellschaften registriert, aber die Migranten verteilten sich auf mehrere europäische Häfen und verschiedene Schifffahrtsgesellschaften. Nach 1900 reisten jährlich jeweils weit über 100.000 Personen über den Hamburger Hafen und über Bremen, die meisten waren Osteuropäer. Im Jahr 1905 etwa schifften sich in Bremen 186.000 Personen ein. Davon waren 49.719 russische Untertanen, und 67.885 kamen aus Österreich-Ungarn. In Hamburg waren es im gleichen Jahr fast 120.000 Personen (55.702 aus dem Russländischen Reich und 27.363 aus Österreich-Ungarn). 2 Dazu kamen Durchwanderer aus kleineren Staaten wie Rumänien, tausende Migranten, die durch Deutschland zu westeuropäischen Häfen reisten und eine nach 1900 deutlich steigende Zahl von Rückwanderern. Das Ziel der meisten Osteuropäer war der industrialisierte Nordosten der Vereinigten Staaten, der sogenannte „Manufacturing Belt“, der sich vom Mittleren Westen bis an die Ostküste erstreckte. Während Juden überwiegend in New York, Philadelphia und Chicago siedelten, fanden viele Polen und Slowaken Beschäftigungen in der Stahlindustrie in rasch wachsenden Zentren wie Cleveland oder Pittsburgh oder im Bergbau in Pennsylvania. Die meisten Osteuropäer schifften sich in 1 2

Für Belege siehe: Tobias Brinkmann, „Why Paul Nathan Attacked Albert Ballin: The Transatlantic Mass Migration and the Privatization of Prussia’s Eastern Border Inspection, 1886– 1914“, Central European History 43/2010, 47–83. Bericht der Reichskommissare für das Auswanderungswesen während des Jahres 1905, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 11. Legislaturperiode, II. Session, erster Sessionsabschnitt 1905/06, Vierter Anlageband, Berlin 1906, 3473–4, 3480.

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Bremen oder Hamburg ein, manche auch in Rotterdam, Antwerpen oder britischen Häfen. Die osteuropäische Massenmigration war nur eine Facette des globalen Migrationsgeschehens nach 1850. Die starke Nachfrage nach billigen Arbeitskräften in verschiedenen Teilen der Welt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildete teilweise eine Folge der Abschaffung der Sklaverei im British Empire sowie in Nord- und Südamerika. Ein weiterer Faktor war aber im Rückblick sehr viel wichtiger für die Herausbildung von globalen Märkten für Arbeit, Dienstleistungen und Güter. Die Industrialisierung der Transporttechnologie auf dem Land und der See ermöglichte nach 1850 immer mehr Menschen die Reise in kürzerer Zeit über immer größere Distanzen. Die ersten Dampfschiffe, die in den späten 1840er Jahren in Dienst gestellt wurden, verkürzten die transatlantische Passage nach Westen von bis zu zwei Monaten auf weniger als drei Wochen und boten auch den Passagieren in der billigsten Klasse mehr Komfort als auf Segelschiffen. Die Kosten für die Reise vor allem für eine transatlantische Passage waren zwar für Männer und Frauen der ländlichen Unterschicht um 1900 immer noch hoch, aber finanzierbar. Die großen „Ocean Liner“ mit Doppelschraubenantrieb, die nach 1890 in Dienst gestellt wurden, schafften die Atlantiküberquerung um die Jahrhundertwende in weniger als einer Woche. Der starke Antrieb, ein massiver aus Stahlplatten gefertigte Schiffsrumpf und die Möglichkeit, über Funkverbindungen Notrufe abzusetzen, erklären, warum Schiffsunglücke selten wurden. Hand in Hand mit dem Aufstieg des modernen Dampfschiffes verlief die rasche Expansion der Eisenbahn und moderner Informationstechnologien. Bald nach 1850 waren die wichtigsten Nordseehäfen an das europäische Eisenbahnnetz angeschlossen, genau zu dem Zeitpunkt als die Schifffahrtslinien die ersten Dampfschiffe in Dienst stellten. Dauerte die Reise von einem Dorf in Mitteleuropa nach auf eine Farm im amerikanischen Mittleren Westen in den 1840er Jahren ohne längere Zwischenaufenthalte je nach der gewählten Route mehrere Monate, verkürzten die Eisenbahn und Dampfschiffe die Fahrt um 1900 auf einige Wochen. Der absehbare Rückgang der deutschen Auswanderung, wachsende Konkurrenz mit westeuropäischen Schifffahrtslinien und die hohen Investitionen in immer größere Dampfschiffe zwangen die Manager der führenden deutschen Schifffahrtslinien in den 1880er Jahren, neue Märkte zu erschließen. Der osteuropäische Markt erschien aus einer Reihe von Gründen speziell für deutsche Schifffahrtslinien lukrativ. In den 1870er Jahren expandierte die Eisenbahn in die westlichen Provinzen des Russländischen Reiches und im unterwickelten Osten von Österreich-Ungarn. In diesen Regionen herrschte teilweise große soziale Not. Hohes Bevölkerungswachstum und wirtschaftlicher Strukturwandel entzogen vielen Menschen die Lebensgrundlage. Jüdische Hilfsorganisationen berichteten nach 1860 regelmäßig von Hungerkrisen, Seuchenepidemien und zunehmender antijüdischer Gewalt. Die österreichische Provinz Galizien war berüchtigt für Armut unter der Landbevölkerung. Die Eisenbahn öffnete für Millionen von Menschen buchstäblich ein Tor zu einer besseren Zukunft jenseits von Osteuropa.

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Bis heute sind Geschichten über ahnungslose Osteuropäer, die von Agenten der Schifffahrtslinien übers Ohr gehauen wurden, nur um in Amerika von brutalen Unternehmern ausgebeutet zu werden, weit verbreitet. Es ist richtig, dass die Arbeitsund Lebensbedingungen in amerikanischen Industriezentren vielfach schlecht waren. Doch für Migranten mit geringer Bildung und wenig Kapital waren die sozialen Aufstiegschancen aufgrund eines vergleichsweise guten Schulsystems und der boomenden Wirtschaft in den USA deutlich besser. Viele Migranten hatten dank guter Postverbindungen Informationen über Reiserouten und die wirtschaftliche Lage in Amerika. Entlang der Haupttransitwege, nicht zuletzt in Deutschland, boten jüdische Hilfsorganisationen und der katholische St. Raphaels-Verein Durchwanderern Unterstützung an. Die meisten Osteuropäer migrierten in sozialen Netzwerken, denen Verwandte und Bekannte aus dem gleichen Ort angehörten. Die Mitglieder der Netzwerke halfen sich bei der Finanzierung der Reise, bei der Jobsuche und gewährten bei Unglücksfällen Unterstützung. Warum entwickelte sich Deutschland zum mit Abstand wichtigsten Transitland für osteuropäische Migranten? Die Furcht vor einer „Invasion“ aus Osteuropa beeinflusste eine zunehmend restriktive preußische Migrationspolitik. Deutschland kam als Ziel für die große Mehrheit der osteuropäischen Migranten nicht in Frage – mit Ausnahme von saisonalen Landarbeitskräften. Preußen sah auch in der wachsenden Durchwanderung eine Bedrohung, konnte diese aber nicht wirksam eindämmen, denn gleichzeitig gab es eine stark wachsende Nachfrage nach Arbeitskräften in den Vereinigten Staaten. Osteuropäische Häfen wie Odessa am Schwarzen Meer, Libau (im heutigen Lettland) oder die zu Österreich-Ungarn gehörenden adriatischen Häfen Triest und Fiume (Rijeka) waren keine realistische Option, weil es nur gelegentlich Direktverbindungen nach Amerika gab und die Fahrt länger dauerte. Wichtiger noch waren Auswanderungsbeschränkungen. In Österreich-Ungarn wurden Versuche, der Wehrpflicht zu entgehen, streng bestraft. Im Russländischen Reich mussten alle Untertanen einen Pass zur Auswanderung beantragen. Dieser war teuer und die Antragsprozedur umständlich. Im Gegensatz zu osteuropäischen Häfen waren die Kontrollen an den langen Landgrenzen oberflächlich und konnten relativ einfach umgangen werden. Diese Ausgangslage erklärt, warum die HAPAG und der Bremer Norddeutsche Lloyd bereits in den frühen 1880er Jahren ihren Service mit Hilfe von Auswandereragenten in Osteuropa vermarkteten. Die Kooperation zwischen HAPAG und Lloyd war nicht reibungslos, und es kam zu Spannungen mit den Auswandereragenturen über die Gewinnspannen. Doch es gab keine Alternative, zumal hohe Profite nur dann zu erzielen waren, wenn eine skeptische preußische Regierung als Partner gewonnen werden konnte. Der preußische Staat musste häufig die Kosten für den Rücktransport für mittellos aus Amerika zurückkehrende Migranten tragen. Dazu kam das Risiko der illegalen Einwanderung. Als preußische Beamte hunderte von Durchwanderern 1886/87 zusammen mit tausenden von „illegalen“ Osteuropäern auswiesen, intervenierten HAPAG und Lloyd bei der Berliner Regierung. Sie versprachen, künftig alle Kosten für ihre Passagiere zu übernehmen. Schon vor 1890 reisten Gruppen von Durchwanderern von der Grenze in geschlossenen Transporten nach Hamburg oder Bremen.

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Anfang der 1890er Jahre nahm die Auswanderung insbesondere aus dem Russländischen Reich stark zu. Die wachsende Zahl von Durchwanderern führte zu chaotischen Verhältnissen auf den großen Berliner Bahnhöfen. Die preußische Eisenbahnverwaltung eröffnete im westlichen Vorort Ruhleben einen „Auswandererbahnhof“, um Durchwanderer vom allgemeinen Passagierverkehr zu isolieren. 1891 verschärfte der amerikanische Kongress die Einwanderungsgesetze mit dem Ziel „unerwünschte“ Personen auszuschließen, vor allem Personen, die an ansteckenden Krankheiten litten, schwerbehindert waren, als geisteskrank galten, vorbestraft waren, der Prostitution nachgingen oder nicht in der Lage waren ihren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Im Jahr 1892 öffnete die amerikanische Einwanderungsbehörde mehrere Kontrollstationen in größeren Häfen. Die größte war Ellis Island im Hafen von New York. Staatliche Migrationsbeschränkungen waren nicht die einzige Herausforderung für die deutschen Schifffahrtslinien. Westeuropäische Konkurrenten, allen voran die britische Cunard, versuchten osteuropäische Durchwanderer mit günstigeren Tickets über ihre Häfen zu leiten. Im Sommer 1892 wurde Hamburg von einer Cholera-Epidemie heimgesucht, die über 8.000 Opfer forderte. Der Passagierverkehr im Hamburger Hafen brach mitten in der Hochsaison ein, hunderte von Durchwanderern wurden in Quarantänelagern interniert. Obwohl der Hamburger Senat die furchtbaren Wohnverhältnisse in den Arbeitervierteln der Stadt – die eigentliche Ursache für die rasche Ausbreitung der Cholera – lange ignoriert hatte, stempelte die Öffentlichkeit und staatliche Vertreter russische Durchwanderer, speziell Juden, als Verantwortliche ab. Die preußische Regierung verhängte eine Grenzsperre für russische Migranten. Der amerikanische Einwanderungskommissar stellte alle Passagierschiffe aus Europa unter eine mehrwöchige Quarantäne, was einer faktischen Unterbrechung des transatlantischen Passagierverkehrs gleichkam. Erst im Januar 1893 normalisierte sich die Lage langsam. Die amerikanischen Einwanderungsbehörden öffneten die Häfen wieder, bestanden aber nun auf einer dreiwöchigen Quarantäne für alle russischen Migranten. Die preußische Regierung dagegen weigerte sich, die nicht besonders effektive Grenzsperre aufzuheben. 3 In dieser Krise gelang es Albert Ballin, dem Leiter der HAPAG-Passagierabteilung, die Stellung der deutschen Schifffahrtslinien gegen staatliche Intervention und Konkurrenzlinien erfolgreich abzusichern. Ballin, Sohn eines einfachen jüdischen Auswandereragenten, war einer der erfolgreichsten Geschäftsleute des Kaiserreichs. Noch vor der Cholera-Epidemie hatte Ballin 1892 ein Preis-Kartell mit dem Lloyd organisiert, den „Nordatlantischen Dampferlinienverband“. Für einen geringen Anteil am osteuropäischen Geschäft konnten die Holland-America Line (Rotterdam) und die Red Star Line (Antwerpen) als Mitglieder gewonnen werden. Zusammen mit Heinrich Wiegand, dem Generaldirektor des Lloyd, überzeugte Ballin die preußische Regierung 1893, einer Privatisierung der Kontrollen an der russischen und österreichischen Grenze zuzustimmen.

3

Richard Evans, Death in Hamburg: Society and Politics in the Cholera Years 1830–1910, Oxford 1987.

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Die Schifffahrtslinien verpflichteten sich, sämtliche Kosten für die Kontrollen und mittellose Durchwanderer zu schultern, was eine Entlastung des preußischen Haushalts bedeutete, aber angesichts der Profite für HAPAG und Lloyd zu verschmerzen war. An sogenannten Kontrollstationen entlang der russischen Grenze, etwa im ostpreußischen Grenzort Eydtkuhnen, untersuchten und desinfizierten Angestellten der Schifffahrtslinien alle Durchwanderer nach den amerikanischen Einwanderungsbestimmungen. Entlang der österreichischen Grenze und in Leipzig entstanden sogenannte Registrierstationen, wo die Kontrollen etwas oberflächlicher waren. Alle Personen, die den amerikanischen Einwanderungsbestimmungen nicht entsprachen, wurden bereits an der Grenze oder während des Transits abgewiesen. Die meisten Durchwanderer mussten sich in Ruhleben, Hamburg und Bremen erneut einer Desinfektion unterziehen. Nach 1893 reisten immer mehr Durchwanderer in versiegelten Zügen von der Ostgrenze, teilweise über Ruhleben, nach Hamburg, Bremen und in westeuropäische Häfen wie Rotterdam. 4 Der amerikanische Einwanderungskommissar Herman Stump war 1894 voll des Lobes für das neue System. Deutschland „schützt sich gegen unerwünschte Einwanderer … und schützt gleichzeitig uns.“ 5 1894 traten die großen britischen Schifffahrtslinien Cunard (Liverpool) und White Star (Liverpool/Southampton) dem „Nordatlantischen Dampferlinienverband“ bei, vor allem weil HAPAG und Lloyd die lange deutsche Ostgrenze unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Damit konnten sie Passagiere mit vorausbezahlten Tickets anderer Schifffahrtslinien als „unerwünscht“ abweisen. HAPAG und Lloyd leugneten derartige Praktiken, aber diplomatische Beschwerden deuten darauf hin, dass die beiden deutschen Linien ihre Monopolstellung mit allen Mitteln verteidigten. Der „Nordatlantische Dampferlinienverband“ musste mehrfach neu verhandelt werden, auch weil die Zahl der Migranten nach 1900 stark zunahm. Wiederholt kam es zu erbitterten Preiskämpfen zwischen den Schifffahrtsgesellschaften, insbesondere 1904, als die Cunard ihre Mitgliedschaft im Verband kündigte und in Absprache mit der ungarischen Regierung einen Service von Fiume nach New York einrichtete. In der Folge ließen HAPAG und Lloyd Passagiere mit Cunard-Tickets an der preußisch-russischen Grenze zurückweisen, darunter waren jüdische Pogromflüchtlinge und Deserteure, denen in Russland die Todesstrafe drohte. Die preußische Regierung schritt nicht ein, da sie kein Interesse daran hatte, die Durchwanderung selbst zu koordinieren. Öffentlicher Druck der Sozialdemokratie, der liberalen Presse und von jüdischen Hilfsorganisationen, aber auch rationale Erwägungen erklären, warum Ballin Ende 1904 einlenkte. Die Cunard durfte Fiume weiter bedienen und kehrte in den „Nordatlantischen Dampferlinienverband“ zurück. Der Preiskampf war zu kostspielig, und Fiume konnte nur relativ wenige Migranten abfertigen. Trotz weiterer Konflikte blieb der osteuropäische Passagiermarkt bis 1914 weitgehend unter der Kontrolle von HAPAG und Lloyd. 4 5

Für eine eindrucksvolle zeitgenössische Beschreibung der Transitreise über Eydtkuhnen aus Sicht eines jüdischen Mädchens siehe: Mary Antin, From Plotzk to Boston, Boston, 1899. Immigration Service, Annual Report of the Superintendent of Immigration to the Secretary of the Treasury for the fiscal year ended June 30th, 1894, Washington, D.C. 1894, 16.

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Oberflächlich betrachtet bereicherten sich die deutschen Schifffahrtsgesellschaften an den Durchwanderern aus Osteuropa, die überwiegend zur verarmten Unterschicht gehörten und nicht selten vor gewaltsamer Verfolgung flohen. Detaillierte Analysen haben indes gezeigt, dass für die Masse der Migranten der PassagePreis nicht ausschlaggebend war. Selbst als viele Südosteuropäer nach 1904 die Option hatten, für weniger Geld mit der Cunard über Fiume nach Nordamerika zu fahren, optierten viele für den Norddeutschen Lloyd und die längere Fahrt nach Bremen. Die deutschen Schifffahrtslinien genossen aufgrund eines hohen Hygienestandards bei den amerikanischen Einwanderungsbehörden einen exzellenten Ruf. Eine Zurückweisung ihrer Passagiere in Ellis Island war daher unwahrscheinlich. Für einen höheren Ticketpreis boten die deutschen Schifffahrtslinien ihren Passagieren mehr Komfort. Das demonstrieren etwa die HAPAG-Auswandererhallen im Hamburger Hafen, die 1901 ihre Tore öffneten und für einfache Migranten einen völlig neuen Standard bedeuteten, der sich deutlich von den heruntergekommenen Pensionen in vielen Häfen abhob. Es kann nicht bestritten werden, dass die Passage von Migranten aus Osteuropa deutschen Schifffahrtslinien große Profite einbrachte. Und Ballin war trotz oder vielleicht auch wegen seiner einfachen Herkunft ein erbitterter Gegner der Arbeiterbewegung, aber er war kein Ausbeuter einfacher Migranten. Die von ihm betriebene Privatisierung der Durchwanderung durch Deutschland ermöglichte Millionen von Osteuropäern die reibungslose Reise nach Nordamerika. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die preußische Regierung die Durchwanderung sehr viel restriktiver gehandhabt hätte als HAPAG und Lloyd, die ein genuines Interesse daran hatten, so viele Passagiere wie möglich zu transportieren.

DIE SCHIFFSREISE ALS DENKRAUM Quellen zur deutsch-jüdischen Emigration zwischen dem Abschied von Europa und der Ankunft in Palästina Joachim Schlör In der kulturwissenschaftlichen Forschung, gerade im Bereich der Jüdischen Studien, hat in den letzten Jahren die maritime Geschichte und Kultur verstärkte Aufmerksamkeit gefunden. Von der südenglischen Hafenstadt Southampton aus blickt man etwas anders auf die Welt und auf Europa als in den kontinentalen Hauptstädten. Zur Zeit der großen Auswanderungen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gehörte Southampton zu den wichtigen Knotenpunkten in einem transnationalen und sogar transkontinentalen Verkehr, in dem das Schiff eine tragende Rolle der Vernetzung und der Zusammenführung spielte. Selbst die RMS Titanic, die als Passagierschiff der hier ansässigen britischen Reederei White Star Line 1912 ihre Unglücksfahrt Richtung Amerika antrat, transportierte europäische Migranten, die sich ein besseres Leben jenseits von Europa erhofften – ein „Sea City Museum“ erinnert daran (und auch daran, dass die meisten Opfer der Katatstrophe, Mitglieder der Crew, von hier stammten). Southampton war einer jener „Points of Passage“ auf dem langen Weg der Auswanderer, der von Odessa über Brody, über Wien oder Berlin, über Hamburg oder Bremerhaven: nach draußen führte. Auch nach 1933 und dem Beginn der nationalsozialistischen Verfolgung von Juden und anderen als „nichtdeutsch“ angesehenen Gruppen und Individuen liefen von hier Schiffe nach Orten der Zuflucht aus, nach New York und San Francisco, nach Buenos Aires, nach Cape Town oder nach Sydney. So ist es vielleicht kein Zufall, dass an der University of Southampton und ihrem Parkes Institute for the Study of Jewish/non-Jewish Relations zwei Forschungsprojekte entstanden, die Einsicht in die Bedeutung des Meeres, der Hafenstädte und der maritimen Kultur für das europäische Judentum boten. Initiiert von David Cesarani und basierend auf den Forschungen von Lois Dubin und David Sorkin galt das Interesse des Projekts „Port Jews“ den sephardischen (nach der Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal entstandenen) Gemeinden und den in ihnen wirkenden Händlern und Reedern in Amsterdam, Hamburg, London, Bordeaux, Triest, Saloniki und Istanbul. Sie bildeten, nicht zuletzt dank des internationalen Charakters ihrer Ansiedlungen und ihrer Geschäftstätigkeit, eine alternative Form der Aufklärung und der Partizipation heraus, die sich von dem „Berliner Modell“ der Haskalah und der Emanzipation nach preußischem Gesetz deutlich unterschied. Ein zweites Projekt, das der Verfasser dieses Beitrags anstoßen konnte, fragte nach dem

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Erkenntnispotential von „Jewish Maritime Studies“ im weiteren Sinne: Was können wir aus dem Studium von auf das Meer bezogenen Quellen und Aktivitäten über eine europäisch-jüdische Kultur jenseits nationaler Beschränkungen lernen? Das Spektrum ist dabei weit offen und reicht von einer Analyse der hebräischen und jiddischen Übersetzungen des Romans Robinson Crusoe von Daniel Defoe (Rebecca Wolpe) bis hin zu einer Diskussion über die Rolle der mediterranen Lebensweise für den Dialog zwischen Israel und seinen Nachbarn (Alexandra Nocke). Ein Aspekt in diesem weiten „Feld“ ist dabei in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Für eine große Mehrheit der jüdischen Emigrantinnen und Emigranten, sowohl im Osteuropa der Jahre nach 1880 wie im Deutschland der NS-Zeit (worauf sich dieser Beitrag konzentriert), stellte die Schiffsreise aus einem der europäischen Häfen in die erhoffte Freiheit der Zielländer eine ganz zentrale Etappe in diesem sehr komplexen Vorhaben dar. Niemand ist „einfach so“ ausgewandert. Vielmehr hat er (oder sie oder eine ganze Familie), sich zunächst mit der Hilfe von Globen und Landkarten über mögliche Auswege kundig gemacht, hat dank der Unterstützung von Organisationen wie der Hauptstelle für jüdische Wanderfürsorge Informationen über Möglichkeiten der Ansiedlung und der Beschäftigung gesammelt, hat Verwandte kontaktiert, Konsulate besucht, Visen beantragt, „Fluchtsteuer“ bezahlt, ein Verzeichnis der mitzunehmenden Habseligkeiten angefertigt, Koffer gepackt, Grenzen überschritten, eine Zeit des Übergangs in Warteräumen – wie etwa dem Postamt in Lissabon, das Alfred Döblin so eindrücklich schilderte – verbracht, und erst dann: ein Schiff bestiegen. 1 Die anschließende Reise auf dem Schiff soll hier als „Denkraum“ betrachtet werden. Michel Foucault hat das Schiff als „Heterotopie par excellence“ bezeichnet, als einen anderen Ort, der konkret und abstrakt zugleich ist, fest und doch in Bewegung. 2 Arnold van Gennep hat in seiner Analyse der „Rites de Passage“ drei Phasen voneinander unterschieden: die der Trennung, in der ein Individuum sich aus einer bislang geltenden Ordnung löst; eine Schwellenphase, in der eine Form der Verwandlung stattfindet und ein Akteur sich in einem schwer zu definierenden Zwischenraum und -status befindet; schließlich die der Ankunft, in der eine Angliederung an eine neue Ordnung erfahren werden kann. Im Anschluss daran hat sich Victor Turner vor allem mit der mittleren Schwellenphase befasst und sie als Liminalität weiter analysiert. Es ist ganz offensichtlich, dass diese dreigliedrige Matrix auch für die Erforschung von Migrationserfahrungen von großem Nutzen ist. 3 Nach dem Abschied von der gewohnten Umgebung und vor der Ankunft im neuen Land befinden sich die Emigranten in einem Zwischenstadium. Während dieser Schwel-

1 2 3

Vgl. Joachim Schlör, „Solange wir auf dem Schiff waren, hatten wir ein Zuhause.“ Reisen als kulturelle Praxis im Migrationsprozess jüdischer Auswanderer. In: Voyage. Jahrbuch für Reiseund Tourismusforschung 10/2014, 226–246. Michel Foucault, Andere Räume, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1993. Arnold van Gennep, Les rites de passage. 1909. Frankfurt/M. 2005. Victor W. Turner, ‚Liminalität und Communitas‘, in: Andrea Belliger / David Krieger (Hgg.), Ritualtheorien: ein einführendes Handbuch, 1998, 251–264.

Die Schiffsreise als Denkraum

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lenphase – auf dem Schiff – tritt ein Moment der Ruhe ein. Zwischen der oft hektischen, unter Gefahr und Druck zu erledigenden Vorbereitung und der nicht minder von Unsicherheit und Zukunftsangst geprägten Zeit der Ankunft in einer noch unübersichtlichen neuen Ordnung bietet die Schiffsreise: verordnete Untätigkeit, eine Zeit des Wartens. Und in diesem Zwischenraum, in dieser Zwischenzeit bietet sich den Auswandernden die Gelegenheit, über Vergangenheit und Zukunft – und über sich selbst – nachzudenken. Das hat David Jünger in einem Beitrag für die erste Ausgabe des Journals Mobile Culture Studies zum Thema der Schiffsreise sehr überzeugend gezeigt: „In der Konstellation der Überfahrt vom nationalsozialistischen Deutschland ins britische Mandatsgebiet Palästina (und ins künftige Israel) verschränkten sich derart viele Übergangsprozesse, dass sich die Reisenden einer tieferen Reflexion über deren Bedeutung kaum entziehen konnten. Die Schiffsreise schien in einem Zwischenraum und einer Zwischenzeit zu liegen: zwischen individueller sowie jüdisch-kollektiver Vergangenheit und Zukunft, zwischen Europa und Asien, zwischen Okzident und Orient, zwischen Liberalismus und Nationalismus, zwischen gestern und morgen. Die Schiffspassage als solche war dabei die Übergangserfahrung in Reinform, die die Reisenden in den Bann der Reflexion schlug.“ 4

Was Todd Presner als „mobility studies“ im Rahmen Jüdischer Studien einforderte – „an attention to moving bodies, an emplotment of the places traversed, and a visualization of narratives of dislocation, encounter, and dispersal“ 5 –, kann am besten aufgrund von Quellen zu individuellen Lebensgeschichten, aus Briefen, Tagebüchern, Memoiren, Interviews beispielsweise, erhoben und interpretiert werden. Dazu zählen etwa die von Albert Lichtblau in New York gesammelten Interviews mit österreichisch-jüdischen Immigranten (New Yorker Fragebogen, question 2.8: „Route of Immigration“), die Beiträge zur Memoir Collection des Leo Baeck Instituts in New York oder die Nachlässe im Museum des deutschsprachigen Judentums in Tefen, Israel. Aus dem sogenannten „Israel-Korpus“, auf Tonband festgehaltenen und für die linguistische Forschung transkribierten Interviews mit Israelis deutscher Herkunft aus den 1990er Jahren, zitierte Anne Betten Beispiele, in denen „die Schiffsreise zur Information über das Emigrationsland“ diente, wie sie „als Markierung des Wendepunkts der Lebensverhältnisse“ genannt wird (Friedel Loewenson) oder wie das Schiff den Raum gab, sich mental und imaginativ auf das neue Land einzustellen: „Und dann kamen wir auf das Schiff, das war natürlich alles neu für uns, von Triest, d[ie] Atmosphäre, die man schwer beschreiben kann, so zwisch[e]n Himmel und Erde“. 6

4

5 6

David Jünger, An Bord des Lebens. Die Schiffspassage deutscher Juden nach Palästina zwischen 1933 und 1933 als Übergangserfahrung zwischen Raum und Zeit, in: Mobile Culture Studies. The Journal, 1/2015. Joachim Schlör, Die Schiffsreise / The Sea Voyage, 148. Vgl. auch Kristine von Soden, „Und draußen weht ein fremder Wind...“. Über die Meere ins Exil, Berlin 2016. Todd Presner, Remapping German-Jewish History: Benjamin, Cartography, Modernity, in: German Quarterly 82. 2009/2, 298. Anne Betten, Die Flucht über das Mittelmeer in den Erzählungen deutschsprachiger jüdischer Migranten der Nazizeit. Vortrag bei der Tagung der Associazione Italiana Germanistica, Das

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Joachim Schlör

Die Informationsreise, die noch nicht mit einer Einwanderung verbunden ist, sondern diese erst erwägt, ist dabei von besonderem Interesse. So machte sich etwa Sammy Gronemann, der schon Anfang des 20. Jahrhunderts zum Zionismus gefunden hatte und als unermüdlicher „Wanderprediger“ für den Aufbau eines jüdischen Staates in ganz Europa unterwegs gewesen war, selbst erst 1929 zu einer ersten Reise auf, um das Land kennenzulernen.

Sammy und Sonja Gronemann mit Selma und Georg Kareski auf dem Schiff (1929)

Vom Status und von der Kleidung her noch ganz im deutschen Habitus, will der Autor und Anwalt nunmehr zum „Möglichkeitssucher“ im Land Israel werden. Liselotte Müller, Arthur Stern, Mally Dienemann, Cora Berliner, Ruth Abraham, Hugo Hermann natürlich, der über jede seiner Reisen ein Buch geschrieben hat, Oskar Neumann, Leopold Goldschmied, Alexander Adler, Erich Gottgetreu, Alfred Kupferberg, Werner Cahnmann, C.Z. Klötzel, auch Robert Weltsch und Emil Bernhard Cohn, Eva Reichmann, Martha Wertheimer und viele andere Persönlichkeiten fahren auf eigene Faust oder im Auftrag der zionistischen Vereinigung oder selbst Mittelmeer im deutschsprachigen Kulturraum: Grenzen und Brücken, Neapel, 9.–11. Juni 2016, Manuskript, 3–4.

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des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens nach Palästina, um sich dieses Projekt einmal anzuschauen. Der Lloyd Triestino und andere Reiseveranstalter haben das Potential, das hier lag, für sich bereits Mitte der 1920er Jahre entdeckt und in Broschüren für solche Reisen geworben: „Die bekannte Reise- und Transport-Gesellschaft ‚Schweiz-Italien‘, welche in der Organisation komfortabler Reisen nach Palästina sich bereits einen vorzüglichen Ruf erworben hat, stellte uns von einer Palästina-Fahrt ReiseEindrücke zur Verfügung“, schreibt die Jüdische Pressezentrale Zürich im Januar 1927 ins Vorwort einer Entwicklungsgeschichte der jüdischen Gemeinschaft in Palästina. Auch die neue Palästina-Linie Triest – Haifa der Palestine Shipping Co., Ltd. wirbt mit den folgenden Worten: „Anfang März 1935 wird die neugegründete Palestine Shipping Co. ihren regelmäßigen 14-Tage-Palästina-Dienst mit dem modernen 10 000-t-Dampfer ‚TelAviv‘ auf der Linie Triest-Haifa aufnehmen. Triest wurde als Ausgangspunkt genommen, weil dieser Hafen in verkehrstechnischer Hinsicht am günstigsten zu den für Palästina wichtigen Wirtschaftszentren und großen Städten Europas liegt. Die Palestine Shipping Co., Ltd. betrachtet es ihre vornehmste Aufgabe, den PalästinaReisenden bei mäßigen Fahrpreisen mit dem gleichen vorbildlichen Reisekomfort zu umgeben, wie ihn der Atlantik-Reisende schon immer gewohnt ist. Die 4 ½ Tage dauernde Überfahrt von Triest nach Haifa soll dem Passagier zugleich köstliche Erholung sein.“ Für die Schifffahrtsgesellschaften ist die Reise von Triest nach Jaffa oder Haifa längst Routine – für die Reisenden wird sie zu einer Übung des Lebens im Zwischenraum. Auch literarische Zeugnisse gehören zu dieser (noch) imaginären Anthologie der Schiffsreisen, in deren Zusammenstellung die ganze Bandbreite der maritimen Erfahrung der Passage sichtbar werden kann: „Mir ist, als wäre ich wieder Mensch geworden! Seit vier-fünf Jahren hatte ich das völlig vergessen! Dachte mir immer, du bist unwichtiger als das kleinste der kleinsten Ungeziefer. Ich kam an Bord dieses Schiffs. Und genieße seitdem den Wind der Freiheit. Am Anfang glaubte ich das alles nicht. Hier erkennt dich jeder, jeder grüßt dich, unterhält sich mit dir, lacht und spielt mit dir, Du lobst mich, kümmerst dich um mich! Siehst du, jetzt bin ich Mensch – ein lebendiger Mensch bin ich geworden!“ [...] „Bob, dies ist der Suez-Kanal – das Tor zum Osten. Deutschland liegt weit zurück. Europa auch. Die auf Folter, Haß, Rache gegründete Zivilisation, die immer triumphieren wollte, habe ich hinter mir. Nun betrete ich einen neuen Erdteil. Das ist der Osten. Hier wird die Sonne unseres Glücks erneut aufgehen!“ 7

Herbert Friedenthals Erzählung Ein Schiff unterwegs. Geschichte einer Überfahrt (Berlin 1938) spielt ausschließlich auf dem Schiff und enthält folgende Passage: „Lene hatte das Land ihrer Geburt, ihrer Sprache und ihrer Eltern hinter sich gelassen. Mit dem Land, das vor ihr lag, verband sie eine zweitausendjährige Geschichte. Sie war erst dreiundzwanzig Jahre alt, ihre Beziehung zu dem Lande somit neunzehnhundertsiebenundsiebzig Jahre älter als sie. Jetzt, da das Meer um sie brüllte und Europa mit jeder Stunde ferner wurde, fühlte sie, daß sie im Innersten nichts wußte von ihrer neuen Heimat, daß Geschichte und Landeskunde ihr das Land zwar zu einem vertrauten Begriff gemacht hatten – sie kannte den Begriff, 7

Vishram Bedekar, Das Schlachtfeld. (Rananagan). Übersetzt von Rajendra Dengle. New Delhi 2002, 76–77.

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Joachim Schlör aber nicht seine Sonne, seinen Staub, seine Steine, seine Wirklichkeit. Sie war dreiundzwanzig Jahre, in Europa aufgewachsen, und wenn es keine Gebete gegeben hätte und keine Bücher und keine Politik, hätte sie niemals etwas von diesem Lande erfahren.“ 8

Das Schiff, auf dem diese Hoffnungen formuliert werden, ist die Übergangs-Station von einem Leben in das andere. Hier trifft man „Schiffsbrüder und Schiffsschwestern“, die zeitweilig die eigene Familie ersetzen. Hier bildet sich eine Gemeinschaft heraus, der man sich noch lange zugehörig fühlt, auch wenn die Lebenswege nach der Ankunft im Zielhafen auseinanderstreben. Alex Bein, der Biograph Theodor Herzls und ehemalige Potsdamer Archivar, schreibt: „In der Kabine, die uns zugewiesen wurde, natürlich 3. Klasse, einem engen, stickigen Raum, durch den Heizrohre für die Küche gingen, fanden wir unser kleines Gepäck, aber ein Koffer fehlte, der Koffer mit den Abschriften aus dem Herzl-Archiv. Fünf Tage dauerte die Reise. Es waren Herbstchamsine. Man konnte es in unserer Kabine kaum aushalten. In einer anderen Kabine, in der ich eine Nacht verbrachte, war mein Genosse ein Schwäblein aus der deutschen Kolonie in Jerusalem.“ 9

Zu den beeindruckendsten Zeugnissen zählt ein Text, der als Mischform von berichtetem Erleben und literarischer Verarbeitung gelten kann. Der Berliner Schriftsteller Arthur Eloesser fährt nicht nach Palästina, um selbst dort zu siedeln – er besucht seinen Sohn. Noch mehr als andere Mitreisende befindet er sich im Zwischenraum, ja er wird sogar im Jahr 1937 nach Europa zurückkehren und im Jahr darauf in Berlin sterben. „Die Frühlingsstürme, vor denen man uns Angst machen wollte, hat Vater Aeolus in seine Schläuche zurückgenommen; von dem sanftesten, blauesten Meer kaum geschaukelt fahren wir zwischen Korsika und Elba, zwischen Italien und Sizilien, fahren wir auf dem tonnenschwersten der königlich britischen Schiffe, in dem auch der Touristenklasse, wenn man von der unvorstellbaren Talentlosigkeit der englischen Küche absieht, ein hohes Maß von modernem Komfort verliehen ist. Die Touristen teilen sich schon der Sprache nach wieder in zwei Klassen, in die der amerikanischen Juden, die nach der Besichtigung von Erez Israel wieder nach New York, der größten Judenstadt der Welt, zurückkehren werden, und in die der deutschen Juden, kleiner Kapitalisten, die in Palästina bleiben wollen, leicht erkennbar und schon an den verschiedenen deutschen Dialekten unterscheidbar; Väter und Mütter aus Berlin und Breslau, aus Hamburg, Frankfurt, Mannheim, die ihre Söhne besuchen, die hoffend, zweifelnd, im voraus leicht gerührt, sich endlich überzeugen wollen, ob es ihnen wirklich so gut geht, wie sie besorgte Elterngemüter beschwichtigt haben.“ 10

Während die „eigentlichen Auswanderer“, die Jungen, die Pioniere, nach vorne schauen und sich eine neue Gemeinschaft unter ihnen herausbildet – „Besorgtheit, Ängstlichkeit oder auch nur Gespanntheit merkt man ihnen kaum an, seelischen Ballast scheinen sie nicht mit verstaut zu haben; [...] Die Jungen sind schon nach 8

Herbert Friedenthal (Freeden), Ein Schiff unterwegs. Geschichte einer Überfahrt, Berlin 1938, 51. 9 Alex Bein, „Hier kannst Du nicht jeden grüßen“. Erinnerungen und Betrachtungen, Julius H. Schoeps / Jörg H. Fehrs / Hiltrud Wallenborn / Esther Steinbrink (Hgg.), Hildesheim 1996, 251. 10 Arthur Eloesser, Palästina-Reise. In: Jüdische Rundschau, 3.9.1937. Daraus auch die folgenden Zitate.

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einem Tage Seefahrt alte Kameraden und Schicksalsgenossen geworden“ –, denkt Eloesser zurück an die Geschichte, denkt beim Ankern vor Athen an Themistokles, der „aufbrach, um die persische Flotte zu vernichten, um Europa vor Asien zu retten; das war 480 vor Christus, man wird diese Zahlen nicht los“, denkt an seine klassische Bildung, die den Nachweis unterließ, „daß es die Mosaische Gesetzgebung war, die nach dem schönen Wort von Heine den Menschen die Menschenrechte zuerst verliehen hat“, setzt sich dadurch selbst in eine Kontinuität, die lange vergessen war und jetzt, an Bord, wieder aufscheint. Er wird, so schreibt er, ankommen in „der zerstörtesten, verwüstetsten, ausgesogensten, von Leiden und Krankheiten heimgesuchtesten Länder der Erde, das seinen alten Besitzern wieder als Zufluchtsort versprochen wurde, weil Milch und Honig da durchaus nicht mehr floß weil es wieder zur Wüste und fast zum Niemandsland geworden war“. Für ihn ist „Palästina [...] das Abendland im Morgenland, [...] die Brücke zwischen zwei Weltteilen, über die der Gedanke von dem einen Gott und von dem einen sittlichen Gebot ging. Für unsereinen, der seinen Liegestuhl nicht umsonst gemietet haben will, schickt sich Denken und Träumen, und alle Gedanken gehen zugleich vorwärts und rückwärts.“ 11

Und er fügt hinzu: „Solche Erinnerungen, solche Hoffnungen trägt gewiß recht unbewußt und unbekümmert unser Schiff, das für alle Pilgerfahrt sehr ungeeignet scheint, ausgerüstet mit allem nötigen und unnötigen Reisekomfort, noch beladen mit allen Klassenunterschieden und Vorurteilen westlicher Zivilisation, nach seinem Range auch verpflichtet zu einer Bildungsfahrt, die die Passagiere in Athen, Konstantinopel, Rhodos an Land setzt und den Belehrungen der deutsch, englisch, französisch plappernden Führer aussetzt. Bis wir mit einem ungewissen Bildungsgewinn und mit einem gewissen Zeitverlust von fast drei Tagen die palästinensische Küste und Haifa erreichen. Es ist das eigentliche Erlebnis, auf das wir uns seelisch vorbereitet haben, von dem wir auf unsere Erwartung eine Antwort, auf unsere Spannung eine Lösung erwarten.“ 12

Dieses letzte Zitat macht deutlich, dass die Idee der Schiffsreise als „Denkraum“ nicht auf das Thema der deutsch-jüdischen Emigration nach 1933 beschränkt bleiben muss. Der durch die klassischen Zitat-Anspielungen bei Eloesser erschaffene Raum des Nachdenkens über das Meer, die Schifffahrt, die Hafenstädte – und über die Vielzahl von Geschichten, die dort und daraus entstehen – bildet eine Art von Resonanzboden, auf dem das Verhältnis Europas zum Meer insgesamt, vom Schiff aus, erkundet werden kann. Ganz bewusst begibt sich Eloesser, und begeben sich mit ihm viele andere Reisende, in einen Denkraum, der mit der Lektüre der klassischen, der mittelalterlichen und der modernen (und freilich auch der zeitgenössischen) Berichte eine Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit Europa – allerdings oft auch mit dem Abschied von Europa – anbietet.

11 Ebd. 12 Ebd.

KOLONIALE UND POSTKOLONIALE MIGRATION NACH EUROPA Dirk Hoerder „Kolonien“ suggeriert Afrika und Atlantik im 19. Jahrhundert, „postkolonial“ das späte 20. Jahrhundert. Europa hat jedoch, seit jeher von Meeren umgeben, eine lange Kolonialgeschichte. Seit dem 9. Jahrhundert gründeten italienische Stadtstaaten, besonders Venedig und Genua, in Mittelmeer und Schwarzem Meer Niederlassungen, die sie „Kolonien“ nannten, und annektierten Inseln wie Chios und Kreta und große Landgebiete, die sie kolonialistisch – auch durch Sklavenfang – ausbeuteten. Kaufleute oder -familien, Schiffseigner und Seeleute bewegten sich entlang der Küsten, kehrten zurück, fuhren erneut aus. Sie importierten versklavte Menschen aus Zentralasien und Nordafrika nach Europa. Um die Mitte des 14. Jahrhunderts lebten in Konstantinopel etwa 7.000 Migranten aus Genua und Ligurien, in Kaffa auf der Krim bis zu 20.000. Skandinavier verkehrten über die Ostsee nach Russland, über die Norwegische See nach Island, über die Nordsee zu den britischen Inseln und der französischen Küste. Auch sie betrieben regen Austausch, segelten vor und zurück, gründeten Niederlassungen. Normannen segelten entlang der atlantischen und mittelmeerischen Küsten nach Sizilien und Süditalien und errichteten seit Mitte des 11. Jahrhundert ihre Herrschaft über die Einheimischen. Sie erreichten Konstantinopel und trafen dort ihre Vettern, die nach Ostseequerung auf Flussschiffe umgestellt und entlang des Dnepr die Handelsdrehscheibe erreicht hatten. Da angesichts von Winden und Seegang in den nördlichen und südlichen Meeren unterschiedliche Schiffstypen verwendet wurden, lernten diese Migranten ihre Schiffe anzupassen. Das dreieckige Segel arabischer Dhows wurde, in „Lateinersegel“ umbenannt, Teil europäischer Schiffe. Die mittelmeerischen Seefahrer – verbunden mit denen des Indischen Ozeans – zeichneten sich „Portolankarten“ von Küsten und Ankerplätzen. Die Geschichte europäischer Migrationen lässt sich von den Meeren aus schreiben: Küstenschifffahrt im Dreiviertelkreis von Konstantinopel durch Gibraltar und den Kanal bis Bergen und, letztes Viertel, eine Verbindungsroute über Ostsee, LadogaSee und Dnepr-Fluss nach Konstantinopel. In italienischen Galeeren zielten um 1100 „bewaffnete Pilger“ in das ihnen und anderen „heilige“ Land. 1096 transportierten venezianischen Schiffseigner 33.500 Mann mit 4.500 Pferden und Lebensmitteln für ein Jahr. Die Militär-Migranten errichteten Kolonien, sog. Kreuzfahrerstaaten, mussten aber weniger als zwei Jahrhunderte später nach Europa zurückkehren. Die zerstörerischen Rückwanderungen von Ordensrittern, als Seeräuber im Mittelmeer, dann gewalttätig transkontinental

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wurden berüchtigt. Konstruktiv denkende Rückkehrer brachten muslimische Baustile und Wissen um muslimisch-arabische Kultur auf den Kontinent. Ohne Schiffsraum weder Expansion noch Rückzug noch Kulturaustausch. Von Genua aus westwärts eroberten kapitalkräftige Seekaufleute-Militärs Sardinien und die Balearen als Kolonien und etablierten an der afrikanischen Atlantikküste Stützpunkte, Salé (1162) und Safi (1253). Mit guten nautischen Kenntnissen und Finanzierungsmodellen sowie, im 15. Jahrhundert, mit Auftrag der katalanischen und portugiesischen Herrscher, erschlossen sie erst die atlantischen Inseln, dann die Inseln der Karibik – Columbus war Genuese. Seit den 1440er Jahren hatten, entlang der afrikanischen Küste vordringende, bewaffnete Kauffahrer Sklaven und Sklavinnen in Iberien angelandet. Nach rund fünf Jahrhunderten über-seeischer Kolonialmigrationen um Europa herum, begannen die ebenfalls etwa 500 Jahre andauernden kolonialen Migrationen über die Weltmeere. Ab etwa 1500 etablierten Herrschaftsmigranten, unter denen anfangs nur wenige Frauen waren, von den europäisch-atlantischen Häfen aus territoriale Herrschaft in Karibik sowie Zentral- und Südamerika (spanische und, für Brasilien, portugiesische Krone), von den Ansässigen (meist „Einheimische“ genannt) kamen 9095 Prozent um. Andere begannen küstennahe Besiedlung in Nordamerika von Florida bis zum St. Lorenz-Strom (spanische, englische, französische Kronen). Wieder andere errichteten Handelsforts entlang der westafrikanischen sowie der süd-, südost- und ostasiatischen Küsten (portugiesische Krone, niederländische Stadteliten): kanonengestützte Wanderungen. Transozeanische Investoren aus Europa erzwangen transozeanischen Menschenhandel: insgesamt zwangsmigrierten sie etwa 12 Millionen versklavter Afrikanerinnen und Afrikaner für das Export-orientierte Plantagenregime von Virginia bis Brasilien. Bis in die 1820er Jahre kamen mehr afrikanische versklavte Migranten als europäische selbstentschiedene in die Amerikas. Die brasilianische Gesellschaft entstand westafrikanisch, die der USA europäisch geprägt. Englische und französische Großgrundbesitzer von Neu-Amsterdam/New York bis ins Tal des St. Lorenz-Flusses verkauften Land an vielfach religiös motivierte Siedlerfamilien. Fast zwei Drittel der Zuwander bis in die 1820er Jahre waren jedoch Verarmte und mussten als Schuldknechte und -mägde (indentured servants) die Kosten ihrer Atlantikquerung meist über sieben Jahre abarbeiten. Die Siedlerfamilien vertrieben die Alteingesessenen; um die von ihnen etablierten Kolonien führten englische und französische Kronen Seekriege, bis sich ab 1776 die USA ihre Unabhängigkeit erkämpften. Über Labrador-See und Hudson Bay gründeten Seefahrer im hohen Norden Stützpunkte für Pelzhandel. Die schottischen und Quebec-französisch zuwandernden Männer und einheimische Frauen lebten zusammen, ihre Kinder bildeten die zweisprachigen Métis-Bevölkerungen. Asien erreichten portugiesische, niederländische und britische bewaffnete Kaufleute nach Umschiffung der Südspitze Afrikas und Querung des Indischen Ozeans mit Hilfe arabischer Lotsen. Sie beschränkten sich anfangs auf Handelskolonien an den indischen Küsten, in Macao (China) und Dejima (Japan). Niederländische Eindringlinge vernichteten seit Beginn des 17. Jahrhunderts ganze Bevölkerungen einzelner „Gewürzinseln“ und importierten andere für Zwangsarbeit, um

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den europäischen Markt zu versorgen. Im gesamten Europa führten Eliten Debatten über Rassen und Rassenhierarchien. Sie grenzten First Peoples („Indianer“) und Menschen afrikanischer und asiatischer Kulturen und Hautfarben als minderwertig aus. Die Kaufmannseliten schlossen sich zu machtvollen, staatlicherseits mit Monopol ausgestatteten Handelsgesellschaften zusammen. Sie entsandten Personal, das – so die Annahme – nach Europa zurückkehren würde, jedoch oft „in den Tropen“ verstarb, zum Teil dauerhaft in den Kolonien blieb. Männern im Kolonialdienst, die mit einheimischen Frauen eine Familie gegründet hatten, verboten europäische Heimateliten die Familienrückkehr, damit nicht „farbige“ Frauen und „Mischlingskinder“ die weiß-farbigen Gesellschaften erreichen würden. Seeverbindungen bedeuteten auch Abgrenzungen. Weniger bekannt als die von-Europa-überMeere Wanderungen sind die „Pendelwanderungen“ afrikanischer Kauf- und Seeleute im Atlantik („Black Atlantic“) und die chinesischer in Südostasien („chinesische Diaspora“). Sie wurden von den sprachfaulen Europäern als Mittelsleute zu Einheimischen genutzt – und nutzten ihrerseits die kulturell Anderes ablehnenden Europäer. Dass sie sich Kenntnisse der Routen zwischen den Kolonien und von dort in die Zentren der Kolonisten erwarben, erkannten die, nach Selbsteinschätzung überlegenen, Europäer nicht. Im „verschobenen“ 19. Jahrhundert, 1815–1914, änderten viele, oft unverbundene Entwicklungen die Bedeutung der Seewege und die Ziele von Migranten. 1815 war das Ende der napoleonischen und anti-französischen transeuropäischen Kriege und Seeblockaden und das Jahr des Tambora-Vulkanausbruchs (Indonesien). 1816 wurde auch in Europa ein „Jahr ohne Sommer“. Das transatlantische Schuldknechtssystem endete, Sklavenhandel dauerte trotz Verbots bis in die 1870er Jahre an. Die russische Regierung beendete die Anwerbung südwestdeutscher Siedlerfamilien: diese änderten ihre Richtung von donauabwärts zum Schwarzen Meer in rheinabwärts zu den niederländischen Häfen mit Atlantikverbindungen zu den jetzt unabhängigen Staaten der Amerikas und den britischen Kolonien, die Kanada werden würden. Ab Mitte des Jahrhunderts unterwarfen die europäischen Kolonialmächte sich den Großteil der afrikanischen Gesellschaften militärisch; das Hohenzollern-Deutsche Reich beteiligte sich ab Mitte der 1880er Jahre, das Habsburger Reich über seinen Mittelmeerhafen Triest. Die britische Krone übernahm Indien als Territorium, französische Flotten besetzten Indochina, britische und amerikanische Flotten zwangen das Chinesische Imperium und Japan durch Kriege und seeseitige Bedrohung zur Öffnung für Handel, Drogen und Kapital. Die transozeanisch-kolonialen Handelsgesellschaften, die manchmal mit modernen Multinationals verglichen werden, aber Teil dynastischer Regimes waren, übernahmen europäische Staatsapparate. Damit wuchs, erstens, das einst nur punktuell entsendete Verwaltungs- und Militärpersonal zu Herrschaftsdiasporen. „Diasporisch“ leben Migranten, die in Beziehung zu einem Zentrum stehen und untereinander vernetzt sind. Ethnische, besser Migranten-communities unterhalten direkte Beziehungen nur zur Ausgangskultur. Besonders britische, auf den Inseln sozialisierte Administratoren entwickelten, oft skurrile, Eigenartigkeiten in einem Ausmaß, dass in Großbritannien ein Literaturzweig über sie entstand.

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Zweitens benötigten alle Kolonialmächte Schiffsmannschaften. Oft zu Niedriglöhnen in kolonialen Häfen angeworben, lernten diese europäische Häfen auf der Durchreise kennen oder wurden dort entlassen. In London, Hamburg, Marseille und anderen Häfen entstanden Enklaven „abgelegter“ Arbeitskräfte, die über Eigeninitiative auf einem anderen Schiff anheuerten oder entschieden, sich niederzulassen und sich mittels Kleinhandels und Dienstleistungen „über Wasser zu halten“, wie Seemanns- und, abgeleitet, allgemeine Sprache es ausdrücken. Zudem waren Menschen afrikanischer Herkunft als begehrenswerte „Exoten“ schon früh als geschätzte Pagen an Adelshöfen präsent; mit hessischen Truppen aus dem verlorenen britischen Krieg in Amerika, kamen etwa 300 afro-amerikanische Soldaten nach Kassel. „Afrikaner in Europa“ wurden ein vielbeachtetes Thema; für China blieb es eher bei dem Bild von blauem Porzellan. Dies wurde in einem Ausmaß nachgefragt, dass geschäftstüchtige Handwerker in Delft es nachahmten und ihre „Delfter Kacheln“ europaweit verkauften. Ohne überseeische Handelsmigrationen würde es große Teile „europäischer“ Kultur nicht geben. Drittens nahm „Amerikawanderung“ aus den vielen ökonomischen DesasterRegionen Europas zu – etwa 50 Millionen, 1815–1914. Die in Nationalstaatsdenken verwendeten Begriffe „Aus-“ bzw. „Einwanderung“ suggerieren einmalige Wanderung. Jedoch kamen in der Segelschiffzeit vor den 1870er Jahren etwa ein Fünftel nach Europa zurück, danach etwa ein Drittel: Sie waren Arbeitsmigrantinnen auf Zeit. Ähnlich falsch ist der Topos „Besiedlung“ des Kontinents: schon in den 1840er Jahren zielten zwei Drittel aller Zuwanderer auf Städte, seit den 1880er Jahren war es „proletarische Massenwanderung“, wie Migrationsstatistiker es um 1929/30 benannten. Die Migranten waren gut informiert, denn Post- und Paketschifffahrt transportierte jährlich Millionen Briefe Vorausgewanderter nach Europa. Dieses atlantische Migrationssystem, unterbrochen 1914, lebte 1919–1929 wieder auf, wurde unterbrochen durch Weltwirtschaftskrise und 2. Weltkrieg, begann nach 1945 aus den zerstörten Europa erneut und endete um 1955, als Arbeitsplätze in Europa wieder vorhanden waren. Von den „Massen“ traf jeder und jede Einzelne eine lebensperspektivische Entscheidung für Wanderung, Zeit und Ziel. Trotz intensiver staatlicher Werbung entschied sich nur etwa eine Million für afrikanische und anderen Kolonien. Für Deutschland betraf dies ohnehin nur die wenigen Jahrzehnte vor 1914/18. Das Mittelmeer war mit der französischen Besetzung Nordafrikas in den 1830er Jahren und in den 1930er Jahren mit der italienisch-faschistischen Besetzung Abessiniens und Somalias noch einmal kolonialistisch wichtig. Potentielle Migranten wussten um die Bedingungen der Kolonialherrschaft ebenso wie um die Chancen in den unabhängigen Amerikas und, nach teurerer Passage, in Australien und Neuseeland. Nur solche, die es bewusst auf die Ausbeutung von Arbeitskraft der Alteingesessenen abgesehen hatten, wie britische Pflanzer in Kenia und französische Siedler in Algerien, nutzte die Chance, durch Migration Zwangsarbeiter zu akquirieren. Nach Kriegsbeginn 1914 verschiffte die französische Regierung fast eine ¾ Million Soldaten und Arbeiter von West- und Nordafrika sowie Indochina nach Europa. Von den 1,45 Millionen in Britisch-Indien (zwangs-)rekrutierten Militärmigranten wurde nur ein kleiner Teil nach Europa verschifft. Nach 1918 ließen sich etwa

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50.000 der französisch-kolonialen Soldaten und Arbeiter nicht zurückschicken, sondern blieben in Frankreich. Seit den 1880er, aber besonders in den 1920er und 1930er Jahren, setzten die Kolonialmächte eine – quantitativ sehr geringe – Migration in Gang, die unerwartete Konsequenzen haben würde. Um in einer Art „sub-contracting“ koloniale Herrschaft billig durch einheimische Eliten ausführen zu lassen, entschieden sie, deren Söhne an Universitäten wie Oxford und Sorbonne studieren zu lassen. Sie sollten nationale Werte aufnehmen, britische Fairness oder französische Kultur, und nach Rückkehr Führungspositionen übernehmen. Die über die weltumspannenden imperialen Seewege anreisenden jungen Männer – an Frauen wurde nicht gedacht – erfuhren, angesichts ihrer Hautfarbe, Diskriminierung statt Bildung. Auch Seeleute ließen sich nieder und bildeten sich selbst fort, gelegentlich mit Hilfe sozialistischer Parteien oder Gewerkschaften. Wieder andere entschieden sich selbst für Migration ins Zentrum. Die Mehrheit der rassistisch ausgegrenzten Studierenden begann die Unabhängigkeit ihrer – noch kolonisierten – Nationen zu fordern, sie wurden Nationalisten und/oder Revolutionäre. Weder bei der Friedens- oder Neuverteilungskonferenz von Versailles, 1918/19, noch nach dem 2. Weltkrieg waren die imperialen und globalen See-Mächte bereit Unabhängigkeit zuzugestehen. Der kluge aber mittellose Nguyen Sinh Cung (vermutlicher Geburtsname) hatte sich auf dem Schiff die Überfahrt erarbeitet, demonstrierte nach 1918 erfolglos für die Unabhängigkeit Vietnams und wurde später unter den Namen Ho Chi Minh bekannt. Léopold Sédar Senghor kam als Student 1928 nach Paris und wurde der erste Präsident des unabhängigen Senegal. Mit Aimé Césaire aus Martinique entwarf er das zweitweise einflussreiche Konzept der négritude. Außerdem warben französische Unternehmen in der Zwischenkriegszeit Zehntausende nordafrikanischer Arbeiterinnen und Arbeiter an. Die überseeischen Kolonie-ins-Zentrum-Migranten – und einige Migrantinnen – wurden die intellektuelle und revolutionäre Elite der Dekolonisation. In dem Moment „gewährter“ Unabhängigkeiten, wie der Indiens, und der erkämpften, wie denen Indonesiens, Algeriens, Angolas, wurde Seewege Transportrouten für fliehende Nachkommen von Kolonisten, die das Mutter- oder Vaterland nicht kannten, und, gegen massive rassistische Widerstände, für demobilisierte Hilfstruppen aus Algerien und Indonesien. Nach England kehrten nach dem 2. Weltkrieg repatriierte jamaikanische Radiosprecherinnen und Air Force Piloten mit dem berühmt gewordenen Dampfer „Windrush“ zurück und wurden die Avantgarde karibischer Migrationen nach Europa. Sie würden die Anlaufzentren für postkoloniale Migranten werden, für die noch bis in die 1970er Jahre Seewege kostengünstiger waren als die neuen Flugverbindungen. Aus Abwanderungs- wurden Zuwanderungsrouten, die angesichts vertrauter kolonialer Sprachen und Institutionen überwiegend nach Frankreich, Großbritannien und in die Niederlande führten. Die ehemaligen Kolonialmächte, die einst lauthals open access verkündet hatten, begannen durch neu eingeführten Pass- und Visazwang Zuwanderung zu verhindern.

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Dirk Hoerder

LITERATUR Juila A. Clancy-Smith, Mediterraneans. North Africa and Europe in the Age of Migration, c. 1800– 1900, Berkeley 2010. Dirk Hoerder, The Worlds of the Atlantic Ocean, in: Donna R. Gabaccia / Dirk Hoerder (Hgg.), Connecting Seas and Connected Ocean Rims. Indian, Atlantic, and Pacific Oceans and China Seas Migrations from the 1830s to the 1930s, Leiden 2011, 249—386. Peregrine Horden / Nicholas Purcell, The Corrupting Sea. A Study of Mediterranean History, New York 2000. David Kirby / Merja-Liisa Hinkkanen, The Baltic and North Seas, London 2000.

MIGRATION ALS ERGEBNIS INDIVIDUELLEN HANDELNS UND KOLLEKTIVEN AUSHANDELNS Eine geschichtswissenschaftliche Verortung Jochen Oltmer ‚Arbeitswanderung‘, ‚Flucht‘, ‚Vertreibung‘, ‚Umweltmigration‘, ‚Landflucht‘, ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘, ‚Illegale‘, ‚Geflüchtete‘. Auf räumliche Bewegungen bezogene Begriffe sind politisch, medial und wissenschaftlich hart umkämpft. Eine Vielzahl von Subbegriffen und Subkategorien kennzeichnet das Sprechen und das Schreiben über Migration und die in solchen Kontexten je spezifisch bezeichneten und kategorisierten Menschen. Sie bieten Identitätsformate und Hierarchisierungen, die an Nützlichkeitserwägungen und -erwartungen der ‚Aufnahmegesellschaft‘ orientiert sind oder tradierte, als ‚kulturell‘ markierte Zuschreibungen bedienen. Die Wahrnehmung dessen, was mit welchen Begriffen vor dem Hintergrund welcher Begründungen als ‚Migration‘ gesellschaftlich verstanden und ausgehandelt wird, verschiebt sich folglich ständig. Permanent produzieren politische, soziale, administrative, kulturelle oder pädagogische Praktiken gesteuert oder ungesteuert, routiniert oder habitualisiert, institutionalisiert oder spontan neue migratorische Realitäten, ordnen sie Vorstellungen über Homogenität oder Heterogenität, Differenz oder Gleichheit, Nähe oder Distanz zu. Zum Teil verfestigen sich solche Praktiken als Normen und Strukturen: rechtliche Regelungen, Gesetze, den Auf-, Ab- oder Umbau von Organisationen. Mit dem Hinweis auf Prozesse des Aushandelns ist die Geschichtswissenschaft als auf Gegenwart orientierte Zeitwissenschaft aufgerufen. Migrationsverhältnisse sind geworden, sie lassen sich nur unter Berücksichtigung des Wandels von Bewegungen und ihrer Aushandlung zureichend beschreiben. Die Historische Migrationsforschung hat insbesondere seit den späten 1980er Jahren eine Vielzahl von Migrationsformen, Wanderungsvorgängen und Diskursen über räumliche Bewegungen erschlossen. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts ist diese Forschungsrichtung beschleunigt gewachsen. 1 Weiterhin dominiert zwar der Blick auf das 19. und vor

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Perspektiven der Forschungsentwicklung: Jochen Oltmer, Migration vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Berlin/Boston 2016, Teil II.

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allem auf das 20. Jahrhundert, seit Jahren aber haben sich im Feld auch jene Forschungsaktivitäten verstärkt, die auf die Frühe Neuzeit 2 und das Mittelalter 3 gerichtet sind. Mithin wäre eine Voraussetzung geschaffen, ein epochenübergreifendes Bild der historischen Wanderungsverhältnisse zu entwickeln und einen Beitrag zu leisten, die migratorischen Prozesse, Strukturen und Diskurse der Gegenwart zu verstehen. Allerdings ordnen viele der Forschungsbeiträge der vergangenen Jahren die untersuchten Migrationsphänomene als mehr oder minder solitäres Ergebnis je spezifischer sozio-ökonomischer, politischer oder kultureller Ereignisse (die nicht selten als ‚Krisen‘ verstanden werden) ein. Ausmachen lässt sich eine Tendenz geschichtswissenschaftlichen Arbeitens, isolierte Einzelperspektiven herauszuarbeiten, die wenig Wert darauf legen, Relationen, Hierarchien und Wechselverhältnisse offenzulegen, also das Handeln Einzelner oder die Mikrostrukturen in Meso- und Makrokontexte bzw. -strukturen zu fügen, um nicht im kleinen Untersuchungsfeld bei einer Tiefenbohrung mit vergrößertem Beobachtungsmaßstab den Bezug auf übergeordnete Perspektiven zu verlieren. Als eine Reaktion darauf kann das Bemühen verstanden werden, neue Perspektiven durch die Auseinandersetzung mit dem Konzept der ‚Migrationsregime‘ und des ‚Aushandelns von Migration‘ zu bieten. In diesen Kontext siedelt sich der vorliegende Beitrag an. Er erläutert zunächst einführend im knappen Zugriff Beobachtungsperspektiven der Historischen Migrationsforschung und skizziert in der Folge ein Konzept von Migrationsregimen sowie einen Ansatz über die Analyse von Aushandlungsprozessen, die Migration form(t)en und herstell(t)en. 1. BEOBACHTUNGSPERSPEKTIVEN DER HISTORISCHEN MIGRATIONSFORSCHUNG Historische Migrationsforschung untersucht räumliche Bevölkerungsbewegungen unterschiedlichster Größenordnung auf den verschiedensten sozialen Ebenen. 4 Das 2 3 4

Ulrich Niggemann, Migration in der Frühen Neuzeit. Ein Literaturbericht, in: Zeitschrift für Historische Forschung 43, 2016, 293–321. Zusammenführend: Michael Borgolte (Hg.), Migrationen im Mittelalter. Ein Handbuch, Berlin/Boston 2014. Begriffe und Ansätze: William H. McNeill/Ruth S. Adams (Hg.), Human Migration. Patterns and Policies, Bloomington 1978; Dirk Hoerder/Leslie Page Moch (Hg.), European Migrants. Global and Local Perspectives, Boston 1996; Virginia Yans-McLaughlin (Hg.), Immigration Reconsidered. History, Sociology and Politics, New York 1990; Klaus J. Bade, Sozialhistorische Migrationsforschung, Göttingen 2004; Jan Lucassen/Leo Lucassen (Hg.), Migration, Migration History, History. Old Paradigms and New Perspectives, 3. Aufl. Bern 2005; Dirk Hoerder/Jan Lucassen/Leo Lucassen, Terminologien und Konzepte in der Migrationsforschung, in: Klaus J. Bade/Pieter C. Emmer/Leo Lucassen/Jochen Oltmer (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 3. Aufl. Paderborn 2010, 28–53; Jochen Oltmer, Globale Migration. Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl. München 2016, Kap. 1.

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gilt beispielsweise für die vor allem mit Hilfe von prozess-produzierten Massendaten und quantitativen Methoden in ihren Dimensionen, Formen und Strukturen erschlossenen, sehr umfangreichen europäischen Abwanderungen nach Übersee im ‚langen‘ 19. Jahrhundert 5 oder für die zwischen Land und Stadt bzw. den verschiedenen Städtetypen und -größen fluktuierenden intra- und interregionalen Arbeitswanderungen im Prozess von Industrialisierung und Urbanisierung. 6 Es gilt aber auch für die Frage nach den Motiven sowie nach den Migrations- bzw. Integrationsstrategien einzelner Kollektive, Familien oder Individuen, wie sie sich beispielsweise für die zunehmende Beschäftigung aus anderen Staaten zugewanderter Arbeitsmigrantinnen und -arbeitsmigranten in den west-, mittel- und nordeuropäischen Industriestaaten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sowie mit deutlich größeren Dimensionen seit den 1950er Jahren beobachten lassen. 7 Hintergrund eines Großteils der Migrationen in Vergangenheit und Gegenwart bildet das Bemühen um die Wahrnehmung von Chancen andernorts: Migrantinnen und Migranten streben danach, durch den temporären oder dauerhaften Aufenthalt andernorts Erwerbs- oder Siedlungsmöglichkeiten, Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Ausbildungs- oder Heiratschancen zu verbessern bzw. sich neue Chancen durch eigene Initiative zu erschließen. 8 Die räumliche Bewegung soll ihnen zu vermehrter Handlungsmacht verhelfen. Systematisch anders müssen die Hintergründe von Gewaltmigrationen gefasst werden 9: Von Gewaltmigration lässt sich dann sprechen, wenn staatliche oder quasi-staatliche, zum Teil auch nicht-staatliche Akteure (Über-)Lebensmöglichkeiten und körperliche Unversehrtheit, Rechte, Freiheit und politische Partizipationschancen von Einzelnen oder Kollektiven so weitreichend beschränken, dass diese sich zum Verlassen ihres Lebensmittelpunkts gezwungen sehen. 5

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Überblickende Perspektiven zur europäischen überseeischen Migration: Walter Nugent, Crossings. The Great Transatlantic Migrations 1870–1914, Bloomington 1992; Dudley Baines, Emigration from Europe 1815–1930, Cambridge 1995; Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000, 121–168. Art van der Woude/Akira Hayami/Jan de Vries (Hg.), Urbanization in History. A Process of Dynamic Interactions, Oxford 1990; Paul M. Hohenberg/Lynn Hollen Lees, The Making of Urban Europe 1000–1994, 2. Aufl. Cambridge 1995; Friedrich Lenger, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, 2. Aufl. München 2014, Kap. II und III; zum deutschen Beispiel: Dieter Langewiesche, Wanderungsbewegungen in der Hochindustrialisierungsperiode. Regionale, interstädtische und innerstädtische Mobilität in Deutschland 1880–1914, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 64, 1977, 1–40; Steve Hochstadt, Mobility and Modernity. Migration in Germany, 1820–1989, Ann Arbor 1999. In europäischer Perspektive: Jochen Oltmer/Axel Kreienbrink/Carlos Sanz Diaz (Hg.), Das ‚Gastarbeiter‘-System. Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa, München 2011. Charles Tilly, Migration in Modern European History, in: McNeill/Adams (Hg.), Human Migration, 48–72, hier 72. Zum Begriff und Konzept von ‚Gewaltmigration‘ s. Jochen Oltmer, Das ›lange‹ 20. Jahrhundert der Gewaltmigration, in: Martin Sabrow/Peter Ulrich Weiß (Hg.), Das 20. Jahrhundert vermessen. Signaturen eines vergangenen Zeitalters, Göttingen 2017, 96–114; ders., Gewaltmigration und Aufnahme von Schutzsuchenden im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 14, 2016, H. 4, 455–482.

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Gewaltmigration kann dann als eine Nötigung zur räumlichen Bewegung verstanden werden, die keine realistische Handlungsalternative zuzulassen scheint. Der Begriff der Flucht verweist auf das Ausweichen vor Makrogewalt 10, die zumeist aus politischen, ethno-nationalen, rassistischen, genderspezifischen oder religiösen Gründen ausgeübt oder angedroht wird. Im Falle von Vertreibungen, Umsiedlungen oder Deportationen organisieren und legitimieren (staatliche, halb-, quasi-, zum Teil auch nicht-staatliche) Institutionen unter Androhung und Anwendung von Gewalt räumliche Bewegungen. Ziel ist es zumeist, (Teile von) Bevölkerungen zur Durchsetzung von Homogenitätsvorstellungen bzw. zur Sicherung oder Stabilisierung von Herrschaft zu entfernen, nicht selten aus eroberten oder durch organisierte Gewalt erworbenen Territorien. Räumliche Bewegungen von Menschen, die durch Androhung oder Anwendung von offener Gewalt bedingt waren, sind kein Spezifikum des 20. und frühen 21. Jahrhunderts – ebenso wenig wie Krieg, Staatszerfall und Bürgerkrieg als wesentliche Hintergründe von Gewaltmigration. Fluchtbewegungen, Vertreibungen und Deportationen finden sich vielmehr in allen Epochen. Dennoch lässt sich Gewaltmigration allein aufgrund des Umfangs der Bewegungen als Signatur des 20. Jahrhunderts in Europa beschreiben: Der europäische Kontinent bildete den zentralen Schauplatz der Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Allein die Zahl der Flüchtlinge, Vertriebenen und Deportierten im Europa des Zweiten Weltkriegs wird auf 60 Millionen geschätzt und damit auf mehr als 10 Prozent der Bevölkerung des Kontinents. 11 Die Nachkriegszeit beider Weltkriege war zudem durch millionenfache Folgewanderungen gekennzeichnet. Dazu zählten zum einen Rückwanderungen von Flüchtlingen, Evakuierten, Vertriebenen, Deportierten oder Kriegsgefangenen sowie zum andern Ausweisungen, Vertreibungen oder Fluchtbewegungen von Minderheiten aufgrund der Bestrebungen von Siegerstaaten, die Bevölkerung ihres (zum Teil neu gewonnenen) Territoriums zu homogenisieren. Auch der ‚Kalte Krieg’ als auf den Zweiten Weltkrieg folgender globaler Systemkonflikt, der Europa und Deutschland teilte, hinterließ tiefe Spuren im europäischen Gewaltmigrationsgeschehen des 20. Jahrhunderts. Neben Krieg und Bürgerkrieg tritt das Handeln autoritärer Systeme als Hintergrund von Gewaltmigration. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts prägten nationalistische, faschistische und kommunistische Systeme, die ihre Herrschaft zu sichern suchten durch die Homogenisierung ihrer Bevölkerungen: um politische Homogenität durch die Marginalisierung oder Austreibung politischer Gegner zu erreichen (sowohl im Kontext nationalistischer, als auch faschistischer und kommunistischer Herrschaft); um soziale Homogenität durch gewaltsame Nivellierung von Lebensverhältnissen und Lebensentwürfen durchzusetzen (etwa als Ausgrenzung und Druck zur Anpassung von ‚Klassenfeinden‘ in kommunistischen Herrschaften); um

10 Ekkart Zimmermann, Makrogewalt: Rebellion, Revolution, Krieg, Genozid, in: Günter Albrecht/Axel Groenemeyer (Hg.), Handbuch soziale Probleme, Wiesbaden 2012, 861–885. 11 Eugene M. Kulischer, Europe on the Move. War and Population Changes, 1917–47, New York 1948, 264.

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‚ethnische‘ oder ‚rassische‘ Homogenität zu erzwingen (wie insbesondere im nationalsozialistischen Machtbereich). Als Gefahr für Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur verstandene und als distinkt konstruierte politische, nationale, soziale, ethnische oder ‚rassische‘ Kollektive innerhalb der eigenen Grenzen (‚Minderheiten‘) wurden zum Teil derart ihrer politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Handlungsmacht beraubt, dass ein Ausweichen alternativlos zu sein schien oder Vertreibungen und Umsiedlungen möglich wurden. Migration zur Wahrnehmung von Chancen andernorts verbindet sich oft mit (erwerbs-)biographischen Wendepunkten und Grundsatzentscheidungen wie Wahl von Arbeits-, Ausbildungs- oder Studienplatz, Eintritt in einen Beruf oder Partnerwahl und Familiengründung; der überwiegende Teil der Migranten sind folglich Jugendliche und junge Erwachsene. Die migratorische Chancenwahrnehmung wird bedingt durch spezifische sozial relevante Merkmale, Attribute und Ressourcen, darunter vor allem Geschlecht, Alter und Position im Familienzyklus, Habitus, Qualifikationen und Kompetenzen, soziale (Stände, Schichten) und berufliche Stellung sowie die Zugehörigkeit und Zuweisung zu ‚Ethnien‘, ‚Kasten‘, ‚Rassen‘ oder ‚Nationalitäten‘, die sich nicht selten mit Privilegien und (Geburts-)Rechten verbinden. Angesichts einer je unterschiedlichen Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem, sozialem, juridischem und symbolischem Kapital erweisen sich damit die Grade der Autonomie von Migranten als Individuen und in Netzwerken oder Kollektiven als unterschiedlich groß. Ein Migrationsprojekt umzusetzen, bildete in den vergangenen Jahrhunderten häufig das Ergebnis eines durch Konflikt oder Kooperation geprägten Aushandlungsprozesses in Familien, in Familienwirtschaften bzw. Haushalten oder in Netzwerken. Die Handlungsmacht derjenigen, die die Migration vollzogen, konnte dabei durchaus gering sein, denn räumliche Bewegungen zur Erschließung oder Ausnutzung von Chancen zielten keineswegs immer auf eine Stabilisierung oder Verbesserung der Lebenssituation der Migranten selbst. Familien oder andere Herkunftskollektive sandten vielmehr häufig Angehörige aus, um mit den aus der Ferne eintreffenden ‚Rücküberweisungen‘ oder anderen Formen des Transfers von Geld die ökonomische und soziale Situation des zurückbleibenden Kollektivs zu konsolidieren oder zu verbessern. Ob und inwieweit eine temporäre, zirkuläre oder auf einen längerfristigen Aufenthalt andernorts ausgerichtete Migration als individuelle oder kollektive Chance verstanden wurde, hing entscheidend ab vom Wissen über Migrationsziele, -pfade und -möglichkeiten. Damit Arbeits-, Ausbildungs- oder Siedlungswanderungen einen gewissen Umfang und eine gewisse Dauer erreichten, bedurfte es kontinuierlicher und verlässlicher Informationen über das Zielgebiet. Solcherlei Wissen vermittelten mündliche und schriftliche Auskünfte staatlicher, religiöser oder privater Organisationen oder Beratungsstellen. Die verschiedensten Medien verbreiteten zudem Informationen, die für den Wanderungsprozess von Belang sein könnten – von der ‚Auswandererliteratur‘ des 19. Jahrhunderts über Artikel in Zeitungen und in Zeitschriften bis hin zu Berichten im Rundfunk, im Fernsehen oder im Internet. Auch die staatliche oder private Anwerbung von Arbeits- oder Siedlungswanderern

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– zum Beispiel mit Hilfe von Agenten bzw. Werbern – kann als eine Form des Transfers von Wissen über Chancen der Migration verstanden werden. Wesentlich bedeutsamer für die Vermittlung von mündlichen oder schriftlichen Informationen über Chancen und Gefahren der Abwanderung bzw. Zuwanderung, über räumliche Ziele, Verkehrswege sowie psychische, physische und finanzielle Belastungen waren und sind allerdings vorausgewanderte (Pionier-)Migranten, deren Nachrichten aufgrund von verwandtschaftlichen oder bekanntschaftlichen Verbindungen ein hoher Informationswert beigemessen wird. Sie etablieren Kettenwanderungen, bei denen Migrantinnen und Migranten bereits abgewanderten Verwandten und Bekannten folgen. Netzwerkforschung ist mithin eine wichtige Methode Historischer Migrationsforschung; denn Herkunftsräume und Zielgebiete sind in der Regel über Netzwerke, also über durch Verwandtschaft, Bekanntschaft und Herkunftskollektive zusammengehaltene Kommunikationssysteme miteinander verbunden. 12 Loyalität und Vertrauen bilden zentrale Bindungskräfte solcher Netzwerke. Vertrauenswürdige, zur Genese und Umsetzung des Wanderungsentschlusses zureichende Informationen stehen potenziellen Migranten häufig nur für einen Zielort bzw. für einzelne, lokal begrenzte Siedlungsmöglichkeiten oder spezifische Erwerbsbereiche zur Verfügung, sodass realistische Wahlmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Zielen nicht bestehen. Die migratorische Handlungsmacht des Einzelnen bleibt damit zwar einerseits beschränkt, andererseits aber beherbergt das Zielgebiet ein umfangreiches Netzwerk verwandtschaftlich-bekanntschaftlicher Beziehungen. Je umfangreicher dieses Netzwerk ist und je intensiver soziale Beziehungen innerhalb des Netzwerkes gepflegt werden, desto mehr ökonomische und soziale Chancen bietet es – gerade an der Intensität und Größe des Netzwerkes bemisst sich immer auch die Attraktivität eines Migrationszieles. Vor diesem Hintergrund erhöht ein Migrantennetzwerk nicht nur die Wahrscheinlichkeit, dass weitere Migration stattfindet. Vielmehr konstituiert es auch Wanderungstraditionen und beeinflusst damit die Dauerhaftigkeit einer Migrationsbewegung zwischen Herkunftsraum und Zielgebiet, die über lange Zeiträume und zum Teil über Generationen existieren. Für die Untersuchung solcher Kontexte kann eine große Zahl unterschiedlicher Materialien herangezogen werden, die sich mit verschiedenen Methoden untersuchen lassen: Hermeneutische Methoden erschließen Motive und Ziele der Migrantinnen und Migranten, aber auch jener Akteure, die Migration beobachten. Entschlüsseln lassen sich Handlungswissen, Handlungsstrategien, Selbstkonstruktionen und identitäre Verortungen auf der Grundlage insbesondere von Ego-Dokumenten (beispielsweise Briefe, Tagebücher, Lebensbeschreibungen, Zeitungsan12 Michael Bommes, Migrantennetzwerke in der funktional differenzierten Gesellschaft, in: ders./Veronika Tacke (Hg.), Netzwerke in der funktional differenzierten Gesellschaft, Wiesbaden 2011, 241–259; Perspektiven der vielgestaltigen Netzwerkforschung: Marten Düring/Ulrich Eumann, Historische Netzwerkforschung. Ein neuer Ansatz in den Geschichtswissenschaften, in: Geschichte und Gesellschaft 39, 2013, 286–305; Johannes Weyer, Soziale Netzwerke. Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung, 3. Aufl. München 2014; Jan A. Fuhse, Soziale Netzwerke. Konzepte und Forschungsmethoden, Konstanz 2016.

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zeigen) oder auch, wenngleich in deutlich geringerem Umfang, von visuellem Material (vor allem Gemälde, Zeichnungen, Fotos, Filme). Für den Kontext zeithistorischer Forschungen treten lebensgeschichtliche Interviews hinzu. Von der Mehrzahl der (potentiellen) Migrantinnen und Migranten der vergangenen Jahrhunderte und Jahrzehnte sind keine Ego-Dokumente überliefert oder nur mehr in Spuren verfügbar. Deshalb entstammt ein Großteil des Materials, das unter Nutzung inhaltsanalytischer Methoden von der Historischen Migrationsforschung mit dem Ziel erschlossen wird, Handlungen von Migrantinnen und Migranten sowie deren Einstellungen, Erfahrungen, Erwartungen, Motive und lebensgeschichtliche Verortungen zu untersuchen, Beständen, Beobachtungen und Bewertungen anderer, insbesondere institutioneller Akteure, also den Produzentinnen und Produzenten von Kategorisierungen, von Daten, von Entscheidungen. Solche liegen schriftlich vor (zum Beispiel: Protokolle von Verhören und aus Gerichtsverfahren, Pässe, Einbürgerungsurkunden, Fallakten zu Einbürgerungen, Ausweisungen, Einreisen und Aufenthaltstiteln, amtliche, ärztliche oder wissenschaftliche Berichte etc.) oder bestehen – deutlich seltener – aus mündlichen Informationen (Experten- bzw. richtiger: Akteursinterviews). In aller Regel entstammen diese Überlieferungen den Diskursen und Praktiken von Herrschenden und von Eliten, erfordern also spezifische hermeneutische Herangehensweisen, um beispielsweise die Aspirationen sowie die Welt- und Situationsdeutungen, die das Handeln von Migrantinnen und Migranten beeinflussten bzw. prägten, erschließen zu können. Weniger aufwendig ist vor diesem Hintergrund demgegenüber das Herausarbeiten der Wahrnehmungen, der Praktiken und Handlungen der Beobachter von Migration. Historische Migrationsforschung untersucht sowohl Wanderungsprozesse, die auf dauerhafte Niederlassung in einem Zielgebiet ausgerichtet waren (und entsprechender Vorbereitungen in den Herkunftsgebieten bedurften), als auch die zahlreichen Formen zeitlich befristeter Aufenthalte – von den saisonalen oder zirkulären Bewegungen über die mehrjährigen Arbeitsaufenthalte in der Ferne bis hin zu dem in der Regel über einen begrenzten Zeitraum aufrecht erhaltenen Umherziehen als ortloser Wanderarbeiter. Damit überwindet sie eine lange in der historischen Forschung dominierende Sicht, die Migration vorwiegend als einen linearen Prozess verstand, der von der Wanderungsentscheidung im Ausgangsraum über die Reise in das Zielgebiet bis zur dort vollzogenen dauerhaften Niederlassung reichte. 13 Vielmehr bleibt der Prozess der Migration grundsätzlich ergebnisoffen, denn das Wanderungsergebnis entspricht bei weitem nicht immer der Wanderungsintention: Eine geplante Rückkehr wird aufgeschoben, räumliche Bewegungen werden abgebrochen, weil bereits ein zunächst nur als Zwischenstation gedachter Ort unverhofft neue Chancen bietet. Umgekehrt kann sich das geplante Ziel als ungeeignet oder wenig attraktiv erweisen, woraus eine Weiterwanderung resultiert. Zudem vermag der (individuell oder kollektiv wie auch immer definierte) Erfolg im Zielgebiet eine Rückkehr möglich oder der Misserfolg sie nötig machen. 13 Klaus J. Bade, Sozialhistorische Migrationsforschung, in: Ernst Hinrichs/Henk van Zon (Hg.), Bevölkerungsgeschichte im Vergleich: Studien zu den Niederlanden und Nordwestdeutschland, Aurich 1988, 63–74.

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Auch die Herausbildung, der Wandel und das Auslaufen von Wanderungssystemen 14 gehören zum Gegenstandsbereich moderner Historischer Migrationsforschung. Ein Wanderungssystem wird als eine relativ stabile und lang währende migratorische Beziehung zwischen einer Herkunfts- und einer Zielregion verstanden. Die Historische Migrationsforschung fragt danach, warum und auf welche Weise sich solche zum Teil über Jahrzehnte oder Jahrhunderte existierenden interund transregionalen Migrationsbeziehungen etablierten und stabilisierten – und verweist in der Regel auf bereits bestehende wirtschaftliche, politische oder kulturelle Verbindungen und Beziehungen, die einen engen interregionalen Güter-, Dienstleistungs-, Informations- und Personenaustausch ermöglichten und strukturierten. Untersuchungen zu Migrantennetzwerken und zur Etablierung von Wanderungstraditionen, insbesondere im Kontext von Arbeits- und Siedlungswanderungen zeigen, mit welcher Dynamik Migration die bestehenden Austauschbeziehungen transformierte. Beiträge aus der Historischen Migrationsforschung vermögen darüber hinaus Momentaufnahmen der gesamten Migrationssituation in einem Raum zu bieten, bei der Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Wanderungsformen in einer spezifischen sozialen, ökonomischen, demographischen und politischen Konstellation ausgeleuchtet werden. Der Erschließung dienen in diesem Kontext veröffentlichte und unveröffentlichte Unterlagen der amtlichen Statistik auf den verschiedenen Ebenen, die die Forschung vor allem im Blick auf die kritische Einschätzung der je spezifischen Produktionsinteressen und Produktionsbedingungen vor erhebliche Herausforderungen stellen. Den großen räumlichen Bevölkerungsbewegungen wurde in der Regel unmittelbare statistische Aufmerksamkeit zuteil, denn sie galten als sozial, ökonomisch, demographisch und politisch relevante Phänomene und Probleme – mit der Folge der Ausarbeitung besonderer Kategorisierungslogiken, die in der Historischen Migrationsforschung nicht selten unhinterfragt zum Maßstab eigener Einschätzungen werden. Kern des Aufstiegs der modernen amtlichen Statistik seit dem 17. Jahrhundert bildete die Bevölkerungsstatistik, die insbesondere wegen der Erfassung von Steuer- und Militärpflicht für die Planung und Durchführung staatlicher Aktivitäten ein hohes Gewicht hatte. In diesem Kontext bildete von Beginn an auch die Registrierung von Umfang, Dynamik, Zielrichtung und sozialer Zusammensetzung von Migrationsbewegungen ein wichtiges Element. Das gilt für Volkszählungen, die zunächst sporadisch, fallweise und wenig differenziert, seit dem 19. Jahrhundert dann regelmäßig und mit hohem Aufwand die Bevölkerung vermaßen. 15 Für die Historische Migrationsforschung nutzbare Daten bieten darüber hinaus meldestatistische Angaben (Bevölkerungs-, Melderegister) auf der Ebene von Staaten oder Kommunen sowie Informationen über den Umfang von Grenzübertritten, 14 Jan Lucassen, Naar de Kusten van de Noordzee. Trekarbeid in Europees perspektief 1600– 1900, Gouda 1984. 15 Hierzu siehe beispielsweise: Michael C. Schneider, Wissensproduktion im Staat. Das königlich preußische statistische Bureau 1860–1914, Frankfurt a.M. 2013; Kerstin Brückweh, Menschen zählen. Wissensproduktion durch britische Volkszählungen und Umfragen vom 19. Jahrhundert bis ins digitale Zeitalter, Berlin 2015.

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Ausweisungen, Vertreibungen und die Ausgabe von Dokumenten (Pässe, Visa). Seit dem späten 19. Jahrhundert gewannen darüber hinaus arbeitsmarktstatistische Angaben an Gewicht. Prozess-produzierte Daten zu den verschiedensten migratorischen Phänomenen liegen für die Neuzeit in unterschiedlichster Güte und Reichweite vor. Die Bandbreite – und die Herausforderungen des kritischen Umgangs mit dem Material – kann dabei als enorm bezeichnet werden. Die Angaben verweisen auf relativ schlichte Einschätzungen über den Umfang einzelner Bewegungen, markieren aber mit dem beschleunigten Verwaltungsausbau, mit dem Aufstieg interventionsstaatlicher Maßnahmen und mit dem gesellschaftlichen Bedeutungsgewinn des Redens und Sprechens über Migration seit dem (späten) 19. Jahrhundert auch hochdifferenzierte Daten, die eine detaillierte quantitative Analyse ermöglichen – von der Arbeitsmarktbeteiligung von Migrantinnen und Migranten über die soziale Zusammensetzung, demographische Kennziffern bis hin zu Heiratsverhalten, Medienkonsum und Ernährungsgewohnheiten. Verfahren der deskriptiven Statistik dominieren dabei methodisch gegenüber solchen der explorativen Statistik. Historische Migrationsforschung fragt vornehmlich nach 1. Migrationsaspirationen, den Hintergründen von Migrationsentscheidungen, der Entwicklung von (genderspezifischen) Migrationsstrategien im Kontext individueller und kollektiver Migrationsprojekte unter je verschiedenen wirtschaftlichen, sozialen, politischen, ökologischen sowie kulturellen und sprachlichen Bedingungen; 2. den vielgestaltigen Mustern räumlicher Bewegungen zwischen Herkunfts- und Zielgebieten im Kontext der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wechselbeziehungen zwischen beiden Räumen; 3. der Konstitution und der Funktionsweise von migrantischen Netzwerken und von migrantischen Organisationen, 4. den Erwartungen und Erfahrungen von Migrantinnen und Migranten, 5. den Dimensionen, Formen und Folgen der Zuwanderung im Zielgebiet, die temporären Charakter haben, aber auch in einen Generationen übergreifenden Prozess dauerhafter Niederlassung münden konnte, 6. den Lebensverhältnissen und Lebensläufen von Migrantinnen und Migranten, 7. den Selbstkonstruktionen, Praktiken und Herausforderungen der Identitätsbildung im Prozess von Migration, 8. den Bemühungen von Obrigkeiten, Staaten und nicht-staatlichen Organisationen um Einflussnahme auf Migration bis hin zur Forcierung von Bewegungen durch Gewalt, 9. der (wissenschaftlichen) Wissensproduktion über Migration, 10. der Genese von Migration als Medienereignis sowie 11. den Rückwirkungen der Abwanderung auf zurückbleibende Angehörige von Familien und Kollektiven sowie auf die wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Strukturen und Dynamiken in den Ausgangsräumen. 16 2. MIGRATIONSREGIME Aus welchem Grund wird zwischen Migrationsregimen als Kapitel 2 des Aufsatzes sowie Aushandlungen über Migration als Kapitel 3 unterschieden? Warum wird 16 Beispielhaft auf Deutschland bezogen: Oltmer: Migration vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Kap. 1.

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also eine Perspektive eingenommen, die von einer Verwendung des Begriffs ‚Regime‘ Abstand nimmt, die alle an der Hervorbringung, Beobachtung und Gestaltung von Migration beteiligten Interessen und Akteure (also insbesondere Migrantinnen und Migranten selbst) als Teil des Regimes versteht? Der in diversen Wissenschaften verwendete Regimebegriff bezieht sich auf Systeme von Ordnung und Regelung. ‚Regime‘ leitet sich aus dem Lateinischen ab und verweist auf die ‚Regierung‘, die ‚Leitung‘, das Verb ‚regere‘ auf ‚lenken‘, ‚herrschen‘ und ‚beherrschen‘. Ein Regimebegriff, der nicht ausschließlich auf institutionalisierte, formalisierte und relativ stabile Formen von Macht und Machtbeziehungen verweist, also auf Herrschaft, bleibt zu weit und zu unspezifisch. Untersuchungen von Aushandlungen wiederum können die unterschiedlichsten sozialen Beziehungen erfassen, die in Konflikt oder Kooperation auf das Erwerben von (mindestens sporadischer) Macht ausgerichtet sind, nicht aber in jedem Fall Herrschaftsbeziehungen meinen. Im Blick auf die Begriffe ‚Macht‘ und ‚Herrschaft‘ sei auf Max Webers grundsätzliche Begriffsbestimmung verwiesen: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ 17 ‚Macht‘ verweist hierbei nicht auf eine im Alltagsgebrauch anzutreffende Perspektive des Gegenständlichen, der Vorstellung des Besitzes, des Habens von Macht, sondern auf eine Relation: ‚Macht‘ als soziales Verhältnis, ‚Macht‘ als Asymmetrie in sozialen Beziehungen, die sehr unterschiedliche Formen annehmen kann – mal auf längere Dauer ausgerichtet, mal ad hoc auftretend, mal umfassend, mal auf einzelne Situationen und Konstellationen bezogen. ‚Macht‘ wird andauernd neu ausgehandelt. Weber definiert demgegenüber Herrschaft als „die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ 18, dabei gehöre „zu jedem echten Herrschaftsverhältnis […] ein bestimmtes Minimum an Gehorchenwollen, also: Interesse (äußerem und innerem) am Gehorchen“ 19. In diesem Sinne ist Herrschaft verfestigte, verstetigte Macht, die insbesondere als institutionalisierte und formalisierte, auf Dauerhaftigkeit ausgerichtete Machtausübung eines Individuums oder eines Kollektivs über andere Kollektive verstanden werden kann, die auf Gehorsam, auf Legitimität ausgelegt ist, um mehr als nur sporadisch wirken zu können. Vor allem Organisationen sorgen für Herrschaft als „Sonderfall von Macht“ 20, für die verdauerte Durchsetzung der Asymmetrien, für deren Anerkennung, Aufrechterhaltung und für deren Sichtbarkeit. 21 Regime sind durch institutionalisierte Macht gekennzeichnet, sie sind Arenen relativ stabiler Apparate der Produktion von Normen, Strukturen und Organisationen zur Beeinflussung von Migration. 17 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl. Tübingen 1976, 28f. 18 Ebd., 28. 19 Ebd., 122. 20 Ebd., 541. 21 Armin Nassehi, Gesellschaft der Gegenwarten. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft II, Berlin 2011, 254f.

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Die Ergebnisse der Historischen Migrationsforschung lassen deutlich werden, dass individuelles und kollektives Handeln von (potentiellen) Migrantinnen und Migranten stets Kontroll-, Steuerungs- und Regulierungsanstrengungen unterschiedlicher institutioneller Akteure unterlag. Ausgemacht also werden kann, dass institutionelle Akteure die Handlungsmacht (die Agency) von Individuen oder Kollektiven beschränkten oder erweiterten, mithilfe von Bewegungen zwischen geographischen und sozialen Räumen Arbeits-, Erwerbs- oder Siedlungsmöglichkeiten, Bildungs- oder Ausbildungschancen zu verbessern bzw. sich neue Chancen zu erschließen. Die Versuche der Einflussnahme reagierten auch auf beobachtete Handlungsweisen von Migrantinnen und Migranten, auf konkurrierende Kontroll-, Steuerungs- und Regulierungsanstrengungen anderer institutioneller Akteure sowie auf durch Migrationsprozesse induzierten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandel. Was folgt daraus für die Beobachtung historischer Wanderungsvorgänge? Migrationsbewegungen wurden und werden durch ein (je spezifisches) Geflecht von Normen, Regeln, Konstruktionen, Wissensbeständen und Handlungen institutioneller Akteure mitgeprägt. Es kann als Migrationsregime gefasst werden. Der Begriff des Regimes verweist auf sehr unterschiedliche Verwendungszusammenhänge. Allgemein, auch in wissenschaftlichen Kontexten, wird von Regimen im Sinne von autoritären politischen Systemen gesprochen, ohne dass sich allerdings eine systematische, an einer klaren wissenschaftlichen Definition orientierte Begriffsverwendung erkennen ließe. Eine reflektierte Verwendung des Begriffes Regime und die Fundierung in einem wissenschaftlichen Konzept lässt sich für die Forschung zu internationalen Beziehungen seit den 1970er Jahren ausmachen und verweist auf Prinzipien, Normen, Regeln und Prozeduren, die für spezifische Politikfelder auf Dauer die Kooperation zwischen den beteiligten Staaten ordnen. 22 In die Migrationsforschung sind Regimebegriffe über die politikwissenschaftliche Untersuchungen zu Governance bzw. zum Management von Migration eingegangen. 23 Eine kritische Position gegenüber den dort häufig gepflegten Vorstellungen von den Erfordernissen (und Möglichkeiten) einer weitreichenden Kontrolle und Steuerung grenzüberschreitender Migrationen hat den Begriff aufgenommen und hervorgehoben, dass die gängigen Überlegungen zum Management von Migration, Migrantinnen und Migranten ausschließlich als Objekte des Kategorisierens, Verwaltens und Steuerns sehen. 24 Demgegenüber betont die Grenzregimeforschung in sozialkon-

22 Stephen D. Krasner, Structural Causes and Regime Consequences: Regimes as Intervening Variables, in: International Organization 36, 1982, 185–205; Andreas Hasenclever/Peter Mayer/Volker Rittberger, Theories of International Regimes, Cambridge 1997. 23 Z.B.: Bimal Gosh, Managing Migration. Time for a New International Regime?, Oxford 2000; Kristof Tamas/Joakim Palme (Hg.), Globalising Migration Regimes. New Challenges to Transnational Cooperation, Aldershot 2004. 24 Unter vielen Beiträgen: Richard King/Ronald Skeldon, ‚Mind the Gap!‘ Integrating Approaches to Internal and International Migration, in: New Community 36, 2010, 1619–1647, hier 1621f.; Martin Geiger (Hg.), Disciplining the Transnational Mobility of People, Basingstoke 2013.

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struktivistischer Perspektive die Agency von Migrantinnen und Migranten gegenüber staatlichen Institutionen, hat die Forschung im Anschluss an Perspektiven der Border Studies auch methodisch deutlich vorangebracht, neigt aber vor dem Hintergrund einer meist hervorgehobenen aktivistischen Positionierung zu einer grundsätzlichen Perhorreszierung staatlicher Akteure und zu einer Romantisierung von Migrantinnen und Migranten. 25 Migrationsregime sollen hier verstanden werden als integrierte Gestaltungsund Handlungsfelder institutioneller Akteure, die einen bestimmten Ausschnitt des Migrationsgeschehens fokussieren, Migrationsbewegungen kanalisieren und die (potentiellen) Migrantinnen und Migranten kategorisieren. Jedes Migrationsregime hat eigene institutionelle Akteure und spezifische migratorische Objekte, problematisiert, plant und handelt anders als andere Migrationsregime, umfasst mithin spezifische Regeln und Verfahren, Bedingungen und Formen des Sammelns von Informationen über einen migratorischen Sachverhalt, bewertet diese Informationen anders und vermittelt die Ergebnisse je verschieden in und zwischen institutionellen Akteuren, gegenüber den (potentiellen) Migranten und der Öffentlichkeit. 26 Institutionelle Akteure können staatliche (legislative, exekutive, judikative), suprastaatliche sowie internationale Instanzen sein oder kommunale Apparate, aber auch private Träger (Unternehmen, Vereine, Verbände). Ihre Interessen, Beobachtungsweisen, Normen und Praktiken bringen sehr unterschiedliche Kategorisierungen von Migrantinnen und Migranten hervor, die die gesellschaftliche, ökonomische, politische oder kulturelle Teilhabe am Zielort beeinflussen. Migrationsregime wandeln sich permanent – schleichend vor dem Hintergrund lang währender Veränderungen politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, umweltbedingter oder mentaler Strukturen oder sprunghaft in Reaktion auf Ereignisse oder als Wechsel von Paradigmen. Sie können Räume unterschiedlichen Umfangs umschließen, nur innerhalb politisch-territorialer Grenzen wirken, diese aber auch überschreiten. Migrationsregime unterscheiden sich in den Möglichkeiten, Maßnahmen durchzusetzen, weil sie unterschiedlich ausgestattet und machtvoll sind, ihr Wissen verschieden erwerben und vermitteln sowie je spezifisch nutzen, um Migration zu modellieren und zu prognostizieren. Jedes Regime also produziert, kategorisiert und bearbeitet ‚seine‘ Migrationen jeweils unterschiedlich. Regimezuschnitte und Handlungen institutioneller Akteure müssen dabei keineswegs un-

25 Unter zahlreichen Beiträgen siehe etwa: Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld 2007. 26 Hierzu und zum Folgenden: Jochen Oltmer, Einführung: Europäische Migrationsverhältnisse und Migrationsregime in der Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 35, 2009, 5–27; ders., Einführung: Migrationsverhältnisse und Migrationsregime nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Oltmer/Kreienbrink/Sanz Diaz (Hg.), Das ›Gastarbeiter‹-System, 9–21; ders., Einführung: Migrationsregime und ‚Volksgemeinschaft‘ im nationalsozialistischen Deutschland, in: ders. (Hg.), Nationalsozialistisches Migrationsregime und ›Volksgemeinschaft‹, Paderborn 2012, 9– 25; ders., Das europäische Arbeitsmigrationsregime seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Christian Kleinschmidt/Jan-Otmar Hesse/Alfred Reckendrees/Ray Stockes (Hg.), Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Baden-Baden 2014, 127–157.

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tereinander harmonisieren; denn Regime und verschiedene Regimetypen ragen ineinander, überlappen sich, wandeln sich zueinander, unterhalten konflikthafte oder kooperative Austauschbeziehungen. Migrationsregime verfügen immer über zwei elementare und miteinander verflochtene Felder: Erstens ‚Mobilitätsregime‘, die auf die Einflussnahme auf den Zugang zu bzw. die Abwanderung aus einem Raum bzw. von einem Territorium verweisen, sowie zweitens ‚Präsenzregime‘, die die Normen und Praktiken der Einbeziehung bzw. des Ausschlusses von Zuwanderern in gesellschaftlichen Funktionsbereichen wie beispielsweise Politik, Recht, Wirtschaft oder Erziehung umfassen. Präsenzregime rahmen mithin Integration, die als das permanente Aushandeln von Chancen der ökonomischen, politischen, religiösen oder rechtlichen Teilhabe verstanden werden kann. Die Analyse von Migrationsregimen leistet einen Beitrag zur Autopsie von Bedingungen, Formen und Folgen von Migration, in dem sie Antworten gibt auf die grundlegende Frage, welche institutionellen Akteure aus welchen Gründen, in welcher Weise und mit welchen Konsequenzen Migration beobachten und beeinflussen. Sie zielt darauf, der Vielzahl der beteiligten Akteure Konturen zu geben und ein möglichst differenziertes Bild einerseits der beteiligten Akteure und Akteursgruppen zu bieten sowie andererseits die je spezifischen Akteurskonstellationen herauszuarbeiten. Als zentral erweist sich dabei die Untersuchung von Relationen und damit von Machthierarchien: Migrationsregime bilden Arenen von Konflikt und Kooperation institutioneller Akteure, deren Handlungsinteresse und Handlungsmacht stets im Wandel begriffen ist. Zu berücksichtigen gilt dabei, dass institutionelle Akteure, die häufig pauschalisiert werden (‚der Staat‘, ‚die Unternehmer‘, ‚die Administration‘, ‚die Kommune‘, ‚die Presse‘), in sich wiederum als sehr heterogen zu beschreiben sind und aus zahlreichen Einzel- und Kollektivakteuren bestehen, deren Interessen, Normen und Handlungen aufeinandertreffen, zusammenwirken und ausgehandelt werden. Ein solches offenes Konzept bietet nicht nur weitreichende Perspektiven für die Makroebene und damit beispielsweise für die Untersuchung lang währender und Kontinente übergreifender Migrationsregime oder für die Untersuchung der Verflechtung verschiedener regionaler, grenzüberschreitender und globaler Zuständigkeitsräume (etwa im Kontext der Einflussnahme auf Wanderungsbewegungen in den Imperien der Neuzeit wie beispielsweise in den spanischen, portugiesischen, britischen und niederländischen Kolonialreichen oder dem Osmanischen und dem Russischen Reich). Es lässt sich gleichermaßen auf die Mikroebene anwenden, die beispielsweise einen Blick auf einen Aspekt des Alltags des Regimebetriebs umfassen kann (etwa im Kontext des Versuchs, die Routinen der Selektion von Migranten im Rahmen der Tätigkeit einer Grenzpolizeibehörde als Teil eines Mobilitätsregimes zu entschlüsseln) oder auf die Fundamente eines Regimes als Wissensapparat (dort, wo beispielsweise nach medizinischen Kriterien für die Anwerbungen von Arbeitskräften gesucht wurde oder Statistiken zusammengestellt worden sind, um die Zusammensetzung von Migrantenbevölkerungen zu ermitteln und zu beeinflussen). Solche Blicke auf den Alltag des institutionellen Umgangs mit Mig-

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ration und solche Mikroperspektiven auf Wissensapparate und Herrschaftsverhältnisse helfen, Potentiale und Perspektiven institutioneller Einflussnahme auf Migration einzuordnen und die Reichweite von Sinn- und Steuerungskonzepten in neuzeitlichen Gesellschaften zu erfassen. Sie ermöglichen es, die je spezifischen, von Akteur zu Akteur unterschiedlichen, stets im Wandel befindlichen Paradigmen, Konzepte und Kategorien zu verstehen, die genutzt worden sind und genutzt werden, um Migration vor dem Hintergrund der jeweiligen Interessen zu benennen, zu beschreiben und daraus Wirklichkeitskonstruktionen und Handlungen zu formen. Einen zentralen Untersuchungsbereich stellt darüber hinaus die Erforschung der Bedingungen, Formen und Folgen des Regimewechsels dar. 3. MIGRATION IM AUSHANDLUNGSPROZESS In welchem Verhältnis stehen Migrationsregime zu Migrantinnen und Migranten? Für Migrationsregime sind Migrantinnen und Migranten Objekte von Aufgaben sowie Anlässe für Problematisierungen und Maßnahmen, bilden aber auch Konkurrenten in Konflikten oder Umworbene: (Potentielle) Migranten reagieren auf restriktive Interventionen (zum Beispiel Ab- oder Zuwanderungsverbote), auf Gewalt (zum Beispiel durch Flucht) oder auf attrahierende Angebote (zum Beispiel Anwerbung durch Unternehmen, Zuwanderungspolitik zur Gewerbeförderung, Gewinnung von Hochqualifizierten). Migrantinnen und Migranten fordern mithin das Migrationsregime individuell oder kollektiv heraus. Sie entwickeln Strategien, um in einem durch Herrschaftspraktiken und Identitätszuschreibungen strukturierten Feld eigene räumliche Bewegungen durchzusetzen und aufrechtzuerhalten, Aspirationen geltend zu machen, Gründe vorzubringen sowie Lebensläufe zu präsentieren und anzupassen. Migrantinnen und Migranten agieren als Individuen bzw. in Netzwerken oder Kollektiven (unter anderem Familien) mit unterschiedlichen Autonomiegraden vor dem Hintergrund verschiedener Erfahrungshorizonte im Gefüge von gesellschaftlichen Erwartungen und Präferenzen, Selbst- und Fremdbildern, Normen, Regeln und Gesetzen. Sie verfolgen dabei ihre eigenen Interessen und Ziele, verfügen über eine jeweils unterschiedliche Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem, sozialem, juridischem und symbolischem Kapital mit der Folge je verschieden ausgeformter Handlungsspielräume gegenüber dem Migrationsregime. Migrantische Infrastrukturen und Interessenmanager entwickeln unter anderem Selbstbilder, die Vergemeinschaftungsprozesse von Migrantinnen und Migranten identitätspolitisch steuern. Beobachten lassen sich unterschiedliche Reichweiten und Wirkungsgrade im Wechselverhältnis von einerseits Normen, Strategien und Maßnahmen institutioneller Akteure des Migrationsregimes und andererseits Taktiken, Aktivitäten und Handlungen (potentieller) Migranten. Auf diese Weise prägen, formen, (ko-)produzieren institutionelle und individuelle Akteure in Konflikt und Kooperation Migration. Nimmt man eine solche Perspektive ernst, kann es gelingen, Relationen, Hierarchien und Wechselverhältnisse offenzulegen, also das Handeln Einzelner

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oder Mikrostrukturen in Meso- und Makrokontexte bzw. -strukturen zu fügen 27 mit dem Ziel, der erwähnten Tendenz geschichtswissenschaftlichen Arbeitens entgegenzuwirken, isolierte Einzelperspektiven nebeneinanderzufügen ohne Bezüge herzustellen. Die Fokussierung auf einen bestimmten Ausschnitt des Migrationsgeschehens als integriertes Handlungsfeld von Akteuren mit ihren je spezifischen Freiheitsgraden und Relationen reduziert auf eine bestimmte Weise Komplexität, bietet damit einen komplexitätserschließenden Ansatz und hat von daher auch eine erkenntnistheoretische Funktion: Migrationsregime und Aushandlungsprozesse bezeichnen Forschungsobjekte, sie bilden Ergebnisse der Beobachtung und Beschreibung durch Migrationsforscherinnen und Migrationsforscher – auch solchen, die historisch arbeiten. Diese wissen, dass die beteiligten Akteure im Kontext der Herstellung und Aushandlung von Migration aufgrund von „routinierten alltäglichen Handlungsvollzügen das allermeiste der sie umgebenden Umwelt als fraglos gegeben“ annahmen und annehmen 28, also auf der Basis von Handlungsdispositionen und aufgrund von durch internalisierte Erfahrungen formierten standardisiert-spontanen Situationsdeutungen agierten. 29 Die Grenzen des Migrationsregimes und der Arena der Aushandlung mit, gegen oder über Migrantinnen und Migranten definiert die Historikerin bzw. der Historiker vor dem Hintergrund einer problemorientierten Fragestellung. Diese legt offen, auf welche Weise, mit welchem Ziel und mit welchen Instrumenten Komplexität reduziert wird, Vorgänge erklärt und auf diese Weise Muster, Modelle und Ansätze entwickelt werden. Die problemorientierte Fokussierung auf die Erschließung von Interessen, Zielen und Handlungen als KoProduktion von Migration konstituiert den Forschungsgegenstand. Das vergangene Migrationsregime und die vielfältigen Aushandlungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen sind allerdings eben nicht bloße Konstruktionen der historisch arbeitenden Migrationsforschung. Sie bilden vielmehr eine fokussierende Rekonstruktion historischer Strukturen; denn nur diese Strukturen haben Überreste und Spuren hinterlassen. Informationen über das Handeln von Einzelnen, Kollektiven und Institutionen sowie über deren Motive und Praktiken sind in unterschiedlicher Form (s. oben) dokumentiert worden, weil sie den jeweiligen Zeitgenossen als berichtenswert galten und deshalb Gegenstand von zeitgenössischer Wissensproduktion wurden, auf die die Historische Migrationsforschung heute zurückgreifen kann (und muss). Die Überlieferungssituation des Materials ist dabei höchst selektiv, nicht nur weil die Lagerung immer mit Risiken behaftet war, sondern vor allem auch deshalb, weil vornehmlich das Material aufbewahrt wurde, das 27 Dirk Hoerder, Segmented Macro Systems and Networking Individuals: The Balancing Functions of Migration Processes, in: Lucassen/Lucassen (Hg.), Migration, Migration History, 73– 84. 28 Ludger Pries, Soziologie, Weinheim 2014, 109; siehe auch: Thomas Welskopp, Die Dualität von Struktur und Handeln. Anthony Giddens’ Strukturierungstheorie als ‚praxeologischer‘ Ansatz in der Geschichtswissenschaft, in: ders., Unternehmen Praxisgeschichte. Historische Perspektiven auf Kapitalismus, Arbeit und Klassengesellschaft, Tübingen 2014, 55–78, hier 64. 29 Clemens Kroneberg, Die Erklärung sozialen Handelns. Grundlagen und Anwendung einer integrativen Theorie, Wiesbaden 2011, 119–164.

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vor dem Hintergrund der Reproduktion von Herrschafts- und Machtstrukturen erhaltenswert schien. Daraus ergab sich eine dreifache Reduktion von Komplexität: 1. Zeitgenössische Wissensproduzenten waren weder motiviert noch in der Lage, ihre Gegenwart vollständig abzubilden. 2. Die Produzenten entstammten häufig höheren gesellschaftlichen Segmenten und nahmen vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen oder beruflichen Position (nicht selten als Machthaber und Herrschaftsträger) eine spezifische und damit eingeschränkte Sicht ein. 3. Überliefert wurde zumeist das Material, das rechtlich, politisch oder geschäftlich relevant war und aus der Sicht von Obrigkeiten oder staatlichen Institutionen als überlieferungswürdig galt. Eine erkenntniskritische historiographische Position hat auf die Bedingungen, Formen und Folgen dieser Reduktion von vergangener Komplexität zu reagieren. 30 Erforderlich sind dafür einerseits die Rekonstruktion der Erzeugungs- und Überlieferungsbedingungen der verwendeten Quellen und andererseits die möglichst weitreichende Heranziehung unterschiedlichen historischen Materials verschiedenster Herkunft und Reichweite. Dieser Kontext verweist noch einmal auf die Perspektive, mithilfe von akteurszentrierten und handlungsorientierten Ansätzen zu arbeiten, die die Positionierungen und Handlungen der einzelnen Akteure im Kontext des Aushandelns von Migration auch deshalb zu erschließen sucht, um die Formen der je spezifischen Wissensproduktion zu verstehen, die fundamentale Folgen für Erzeugung und Überlieferung des Materials hatte, auf dem die Untersuchung der Aushandlung von Migration in der Vergangenheit aufruhen kann. Historische Migrationsforschung kann sich folglich nicht allein darauf beschränken, Migration als Bewegung und als Ergebnis von Bewegung zu untersuchen. Weiter ausgreifende Perspektiven bietet eine Auseinandersetzung mit Begriff und Konzept der Migrationsgesellschaft. Als Migrationsgesellschaften können Gesellschaften verstanden werden, in denen zum einen die verschiedensten Wanderungsphänomene weitreichenden sozialen Wandel mit sich bringen und zum andern breite politische und gesellschaftliche Debatten stets mit hoher Aufmerksamkeit neue Perspektiven auf das soziale Phänomen Migration und neue Ordnungen der Identifizierung, der Zugehörigkeit, der Unterscheidung von Normalität und Ausnahme, von Eigenem und Anderem produzieren. Migrationsgesellschaften handeln permanent aus, auf welche Weise der migratorische Transfer von Genderentwürfen und Ideensystemen, von Sprachen, Religionen und Einstellungen verstanden, kategorisiert und bearbeitet wird, auf welche Weise ‚Fremde‘ und ‚Fremdheit‘ konstruiert sowie Menschen und Kollektive, die mit Migrationsphänomenen in Verbindung gebracht werden, als ‚Ethnie‘, als ‚Nationalität‘, als ‚Migrantengruppe‘ oder als ‚Parallelgesellschaft‘ zugeordnet werden. Auf ‚Migration‘ bezogene Erwartungen und Erfahrungen prägen in Migrationsgesellschaften Vorstellungen über Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Kollektivs. Diskurse über Migration berühren in Migrationsgesellschaften in ihrem Kern

30 Ludolf Herbst, Komplexität und Chaos. Grundzüge einer Theorie der Geschichte, München 2004.

Migration: Individuelles Handeln und kollektives Aushandeln

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Debatten über Gesellschafts- und Selbstkonzepte sowie über Legitimität politischen, ökonomischen und administrativen oder auch wissenschaftlichen, pädagogischen und künstlerischen Handelns – ganz gleich, ob Migration als Motor von Innovation und gesellschaftlicher Öffnung verstanden, gar heroisiert wird oder ob Migration als Gefahr und Risiko abgelehnt und als Bedrohung für gesellschaftlichen Zusammenhalt, als Ursache oder Anlass für Konflikte und Gewalt gesehen und vermittelt wird. Forschung über Migrationsgesellschaften befasst sich in diesem Sinne mit den Voraussetzungen, Bedingungen, Formen, Folgen und Effekten der räumlichen Bewegung von Menschen, aber auch mit den Handlungen, Praktiken und Ordnungen zur Ermöglichung und Verhinderung solcher Bewegungen sowie der damit verbundenen (Re-)Produktion von Heterogenitäts-, Differenz- und Ungleichheitsordnungen. Sie strebt darüber hinaus nach einer Analyse der Modi der Thematisierung – also das (Un)sichtbarmachen oder (Ir)relevantsetzen – von Bewegungen und sich Bewegenden, einschließlich der Praktiken, Wissensbestände und Artefakte in fiktionalen und nicht-fiktionalen Medien (Narrative, Visualisierungen). Ihr geht es folglich auch um die Produktion, den Transfer und die Aneignung von Wissen über Migration in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und Kontexten, die immer auch die Frage nach den dabei und damit legitimierten, kritisierten, bekämpften oder gefährdenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen umfassen.

IMPORTE UND IMPULSE AUS DER ÜBERSEEISCHEN WELT: FREMDES WIRD EIGENES Reinhard Wendt Das Meer verbindet die Regionen Europas untereinander und mit der überseeischen Welt. Es öffnet den Kontinent für Regionen jenseits seiner Grenzen und vermittelt von dort Importe und Impulse unterschiedlichster Art. Sie lösten einen Prozess aus, der den Kontinent allmählich transformierte. Neues wurde adaptiert und verändert. Was einst unbekannt war, entwickelte sich zu etwas Alltäglichem, Fremdes wurde Eigenes. Dieser Weg der Anverwandlung wird in dieser Sequenz beschrieben. Das geschieht in drei Beiträgen. Der erste, der hier folgt, ist übergreifend und veranschaulicht die Transformation des Fremden zum Eigenen in fünf Stationen. Am Beginn steht exemplarisch eine Hafenstadt als Einfallstor für externe Einflüsse, nämlich Hamburg. In der zweiten Station wird ein Stadienmodell vorgestellt, das idealtypisch skizziert, wie Einfuhrgüter sowie Nachrichten und Wahrnehmungen aus der überseeischen Welt Konsumgewohnheiten und Weltsichten veränderten. Diese Integrationsprozesse wurden von Akteuren getragen, und ein in Funktion und Person bemerkenswerter steht im Mittelpunkt von Station drei: der Hamburger Kaufmann Johan Cesar Godeffroy VI., der „König der Südsee“. Station vier erhellt seinen Beinamen. Hier geht es um Kopra, das „weiße Gold“ der Südsee, das getrocknete Fleisch der Kokosnuss. Sie liefert Grundbestandteile für pflanzliches Speisefett, ein wichtiges Lebensmittel der Industriegesellschaft. Ihr Weg von der Palme zum Konsumgut veranschaulicht zudem exemplarisch das Stadienmodell aus Station zwei. An der Basis des Godeffroyschen Unternehmens standen die so genannten Handelsagenten, die die Produktion der Kopra kontrollierten. Ihre Arbeit war nicht nur für europäische Ernährungsgewohnheiten von Bedeutung. Aus der Perspektive von Globalgeschichte und Transkulturation betrachtet trugen sie, wie Station fünf abschließend und ausblickend zeigt, entscheidend dazu bei, die Südsee zu verändern und das Bild zu prägen, das sich der Norden von ihr machte. Dieser Beitrag wird durch zwei weitere ergänzt und vertieft. Jürgen Nagel zeigt mit einem Blick auf den frühneuzeitlichen Handel Hamburgs, wie sehr die Rolle als Handelsdrehscheibe seit jeher zu den Charakteristika der Stadt gehörte. Eine der Besonderheiten von Johan Cesar VI. Godeffroy war seine Rolle als Mäzen. Er sandte Forscher in die Südsee, die dort wissenschaftlich tätig waren, naturkundliche und ethnografische Objekte sammelten und nach Hamburg schickten, wo sie in einem firmeneigenen Museum präsentiert wurden. Davon handelt der Beitrag von Astrid Windus und Andrea Nicklisch.

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Reinhard Wendt

HAMBURG: TOR NACH UND VON ÜBERSEE 1 Seit Jahrhunderten ist Hamburg Drehscheibe des Fernhandels. Das verdankt die Stadt zunächst ihrer günstigen Lage. Das Stromsystem der Elbe und die nahe Ostsee erschließen ein großes deutsches Hinterland, Polen, Österreich, Nordeuropa, das Baltikum und Russland. Flussabwärts öffnen sich Nordsee und atlantischer Raum. Förderlich für diese Stellung als Transferzentrum waren aber auch die politische Neutralität der Stadt und ihre prinzipielle Bereitschaft, fremden Händlern Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten und Glaubensflüchtlinge mit ihren Beziehungen und Erfahrungen aufzunehmen. Diese Rolle baute die Stadt in der Frühen Neuzeit aus. Hamburger Schiffe erweiterten ihren Aktionsraum und liefen nun auch Häfen in Frankreich, Spanien und Portugal und gelegentlich in der Karibik sowie in Nord- und Südamerika an. Kaufleute aus der Stadt ließen sich in Bordeaux oder Cádiz nieder, um die merkantilistischen Restriktionen Frankreichs und Spaniens zu unterlaufen. Zu Beginn des langen 19. Jahrhunderts war Hamburg Deutschlands wichtigste Hafenstadt und einer der bedeutendsten Warenumschlagplätze Europas. Die Stadt hatte jetzt 130.000 Einwohner, von denen 40.000 bis 45.000 direkt oder als Familienangehörige indirekt vom Handel mit Übersee, vom Hafen und seinen Einrichtungen sowie von der Verarbeitung und vom Weitervertrieb der Importe lebten. Zu den Einfuhren zählten Gewürze, außerdem Zucker, dann die Grundstoffe der Heißgetränke Kaffee, Kakao, Tee, schließlich Genussmittel wie Tabak oder Nahrungsmittel wie Reis. Auch Farbstoffe, Indigo beispielsweise, Koschenille oder Farbhölzer wurden entladen, aber auch Öl, ein Gut, das die Firma Godeffroy später in Form von Kopra importieren sollte. Asiatisches Porzellan traf ebenso ein wie 1

Die Ausführungen zu Hamburg stützen sich auf: Klaus Weber, Deutsche Kaufleute im Atlantikhandel 1680-1830. Unternehmen und Familien in Hamburg, Cádiz und Bordeaux, München 2004, 3–4, 14–16, 21, 36, 82, 85, 162, 225–229, 233–234, 238, 240; Astrid Petersson, Zuckersiedergewerbe und Zuckerhandel in Hamburg im Zeitraum von 1814 bis 1834, Stuttgart 1998, 12, 14–15, 42–43, 45, 51, 53, 78–79, 93, 274; Frauke Röhlk, Schifffahrt und Handel zwischen Hamburg und den Niederlanden in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1973, 3–11, 21–23, 81–82, 89–104, 126, 156–157, 160, 185; Hans-Dieter Loose, Das Zeitalter der Bürgerunruhen und der großen europäischen Kriege 1618-1712, in: Werner Jochmann / Hans-Dieter Loose (Hgg.), Hamburg. Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner, Hamburg 1982, Bd. 1, 328–334; Gerhard Ahrens, Von der Franzosenzeit bis zur Verabschiedung der neuen Verfassung in: Werner Jochmann / Hans-Dieter Loose (Hgg.), Hamburg. Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner, Hamburg 1982, Bd. 1, 444–446, 449; Ekkehard Böhm, Der Weg ins Deutsche Reich, in: Werner Jochmann / Hans-Dieter Loose (Hgg.), Hamburg. Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner, Hamburg 1982, Bd. 1, 506–510, 517– 527, 530; Werner Jochmann, Handelsmetropole des Deutschen Reiches, in: Werner Jochmann / Hans-Dieter Loose (Hgg.), Hamburg. Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner, Hamburg 1982, Bd. 1, 18, 24, 27, 31–32; Franz B. Döpper, Hamburg und seine alten Firmen, Hamburg 1989, Bd. 2, 10–11, 17, 20, 22; Erich Keyser (Hg.), Deutsches Städtebuch, Stuttgart / Berlin 1939, Bd. 1, 390, 393–394; Olaf Klose, (Hg.): Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, Stuttgart 1976, Bd. 1, 83–91; Gerhard Köbler, Historisches Lexikon der deutschen Länder, München 2007, 249.

Fremdes wird Eigenes

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Silber aus der Neuen Welt, das Hamburger Kaufleute an Münzstätten im Reichsgebiet lieferten. Städtische Handwerker verarbeiteten Tabak, bedruckten Kattun und verfeinerten Zucker. Die Zuckersiederei wurde zu einem der wichtigsten Gewerbezweige der Stadt. Bei seiner Entwicklung spielten protestantische und jüdische Glaubensflüchtlinge aus den Spanischen Niederlanden und von der Iberischen Halbinsel eine wichtige Rolle. Sie hatten Kontakte zu den Anbaugebieten des Zuckerrohrs und wussten, wie Rohzucker zu raffinieren und zu verarbeiten war. Das lange 19. Jahrhundert zog Hamburg hinein in seine politischen Turbulenzen. Die weltpolitischen Krisen vor und nach 1800 schadeten einerseits der Stadt und seiner Wirtschaft, andererseits eröffneten sich neue Chancen. Was die französische Besetzung zwischen 1806 und 1814 und die Kontinentalsperre an Nachteilen gebracht hatte, relativierte sich, da die Kolonien Großbritanniens, Spaniens und Portugals in den Amerikas unabhängig wurden und sich der Freihandel als bestimmendes Prinzip im globalen Güteraustausch durchsetzte. Hamburger Firmen konnten sich nun selber Bezugsquellen und Absatzmärkte in aller Welt erschließen. Handelsverträge mit anderen Nationen wurden abgeschlossen, und an allen wichtigen Häfen und Umschlagplätzen entstanden hamburgische Konsulate. Die Palette der Kolonialwaren erweiterte sich. Zu den traditionellen Einfuhrgütern traten Kupfer, Getreide, Chilesalpeter oder Guano und nicht zuletzt die Produkte der Kokosnuss. Unter den „Ausfuhren“ nahmen Auswanderer einen immer wichtigeren Platz ein. Neben dem Handel gewann die Reederei zunehmend an Bedeutung. Es ist deshalb nicht überraschend, dass sich der Schiffbau zu einem Motor der Industrialisierung der Stadt entwickelte. Politisch verlor Hamburg im Laufe des 19. Jahrhunderts seine Unabhängigkeit. 1815 trat es als Freie und Hansestadt dem Deutschen Bund bei, 1867 dem Norddeutschen Bund und 1871 schließlich dem Deutschen Reich. Die ökonomischen Rahmenbedingungen für den Transferhandel wandelten sich grundlegend mit der Mitgliedschaft im Zollverein, die 1881 beschlossen und 1888 vollzogen wurde. Wirtschaftlich einschneidend war zudem der generelle Umschwung von einer Freihandels- zur Schutzzollpolitik, der nach der Gründerkrise 1873 einsetzte. Dennoch konnte Hamburg seine Stellung als Handelsdrehscheibe behaupten. Dazu trug nicht zuletzt der Freihafen bei, den die Stadt sich zu sichern wusste. Die Sorge, die weltweite Abkehr vom Freihandel könnte dem Überseegeschäft Hamburger Firmen schaden, ließ Kaufleute der Stadt ein koloniales Engagement des Reiches fordern. Im Laufe des langen 19. Jahrhunderts konnte Hamburg seine Stellung als ein Zentrum des Welthandels nicht nur behaupten, sondern sogar ausbauen. Die Zahl der Einwohner wuchs und überschritt kurz vor dem Ersten Weltkrieg die Millionengrenze.

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DIE ANEIGNUNG DES FREMDEN: STADIEN VON ADAPTION UND INTEGRATION 2 Über Hamburg und viele andere Verbindungstore zu den überseeischen Welten gelangten neue fremde und exotische Importe und Impulse nach Europa, die man auch koloniale Waren nennen kann. Sie lassen sich in drei Kategorien gruppieren: in materielle, belebte, immaterielle. Zum materiellen Segment zählen Nahrungs- und Genussmittel, pflanzliche, tierische und mineralische Rohstoffe sowie Fertigwaren. Unter belebte „Güter“ fallen Tiere, aber auch Menschen. Das Immaterielle schließlich – Berichte, Erfahrungen, Wahrnehmungen – bildet eine dritte Kategorie. Es lassen sich acht verschiedene Stadien 3 herausarbeiten, die diese drei Arten kolonialer Waren auf ihrem Weg in Konsumgewohnheiten, Lebensformen und Wissensbestände der nördlichen Gesellschaften durchliefen. Diese Stadien folgten nicht immer kontinuierlich aufeinander, sondern verliefen teils auch parallel. Im ersten Stadium berührten die überseeischen Einfuhren lediglich die Oberfläche europäischer Lebenswelten, konnten bestaunt und als neu zur Kenntnis genommen werden. Manche waren zwar fremd, schienen aber auf den ersten Blick wenig spektakulär, andere, etwa Porzellan oder kostbare Stoffe, strahlten exotischen Reiz aus, Nachrichten oder Menschen aus fremden Welten dürften ebenso faszinierend wie irritierend gewirkt haben. Samen und Setzlinge fremder Pflanzen, die akklimatisierbar waren, wurden in einem zweiten Stadium den naturräumlichen und klimatischen Gegebenheiten Europas angepasst, Kartoffeln beispielsweise, aber auch Tomaten oder Sonnenblumen. In das gleiche Stadium gehört im Bereich der lebenden Importe das Zurschaustellen fremder Menschen und Tiere auf Jahrmärkten oder in Menagerien. Immaterielles Wissen wurde in Form von Reiseberichten oder Chroniken gedruckt, zu Kompilationen gebündelt und mit Illustrationen veranschaulicht. Zeitlich, regional und sozial verschieden integrierten die Menschen Europas die Importe und Impulse aus Übersee im dritten Stadium in ihre Art und Weise, Landwirtschaft, Handwerk und Handel zu betreiben. Sie machten sie heimisch in ihren Ernährungsgewohnheiten und Haushalten, verarbeiteten sie in Werkstätten und Ateliers und vermehrten mit ihnen bestehendes Wissen. Fürsten, reiche Patrizier, Kaufleute oder Gelehrte sammelten überseeische Realien aller Art und fügten sie zu Wunder- und Raritätenkammern zusammen.

2

3

Diese Skizze basiert auf Reinhard Wendt, Kartoffeln, Kaffee und Zucker – das Fremde aus „Übersee“ verändert Europa, in: Uta Fenske u.a. (Hgg.): Kolonialismus und Dekolonisation in nationalen Geschichtskulturen und Erinnerungspolitiken in Europa. Module für den Geschichtsunterricht, Frankfurt a. M. 2015, 25–29. Vgl. zur besseren Übersicht das Schema in Abb. 1.

343

Fremdes wird Eigenes

1. 2.

passiv aktiv

3.

Transformation Aneignung Weiterentwicklung, Diffusion

4. 5.

6.

7.

8.

Wandel der Lebenswelten Durchdringung, Bewertung

Umbewertung

materiell

belebt

immateriell

Berührung Akklimatisation und Zucht von Pflanzen Integration und Indigenisierung Substitution neue Gebrauchsgüter und Konsumformen, neue Produktionsmittel

Bestaunen Zurschaustellung

Kenntnisnahme Publikation von neuem Wissen Wissenserweiterung

neue Lebensformen

wachsende Transkulturalität

Impulse für Handwerk, Gewerbe, Industrie, neue Verdienst- und Beschäftigungsmöglichkeiten Identitätsstiftung, Fremdes wird Eigenes

Zurschaustellung unter den Bedingungen von Sozialdarwinismus und Rassismus

Superioritätsgefühl, Zivilisierungsmissionen/ Zivilisationsflucht, Globalisierungsbewusstsein

-

-

Wissenserweiterung seit dem 19. und vor allem seit dem 20. Jh. Zunahme kultureller Vielfalt

Diffusion von Wissen aus Übersee in die Gesellschaft durch Texte, Bilder, Museen, Schulen, Universitäten neue Weltbilder und Weltsichten

Die Aneignung des Fremden. Stadien von Adaption und Integration

Merkantilistische Wirtschaftspolitik sah die Einfuhr fremder Luxusgüter kritisch. In diesem vierten Stadium wurde deshalb die Suche nach billigeren Ersatzstoffen oft sogar offiziell gefördert. Bei Zucker oder Porzellan verlief das erfolgreich, bei Kaffee nicht. Wichtig ist, dass auf diese Weise versucht wurde, etwas Fremdes, auf das man nicht verzichten konnte oder wollte, durch eine identische oder ähnliche Eigenentwicklung zu ersetzen. Um die materiellen Importe zu konsumieren, zu verwenden und weiterzuverarbeiten, wurde in einem fünften Stadium eine Vielzahl neuer Gebrauchsgüter, Werkzeuge und Apparaturen entwickelt. Sklaven, aber auch Gesandte fremder Mächte oder Kinder aus Beziehungen zwischen europäischen Männern und fremden Frauen sowie seit dem 19. Jahrhundert auch Zuwanderer aus Übersee sorgten für einen Hauch größerer ethnischer Vielfalt. Wissen über Menschen und Kulturen anderer Kontinente diffundierte über Texte, Bilder, Museen, Schulen und Universitäten in die Gesellschaft. Auf vielfältige Weise generierten die Importe aus Übersee im sechsten Stadium neue Lebensformen. Schon Begriffe wie „Kaffeepause“ oder „Fünf-Uhr-Tee“ ma-

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Reinhard Wendt

chen das deutlich. Kaffee wurde zunehmend wie im Orient öffentlich und gemeinschaftlich genossen. Zusammen mit Kartoffeln und Speisefett, wie es etwa die Kopra lieferte, war er im 19. Jahrhundert aus dem Alltag der Menschen, die vom Land in die Städte gezogen waren und in Fabriken arbeiteten, nicht mehr wegzudenken. In Hafenstädten wie Hamburg lösten fremde Matrosen oder Kaufleute, die für längere Zeit im Ausland gelebt hatten, transkulturellen Wandel aus. Wachsendes Wissen über fremde Kulturen führte zu neuen Weltbildern und Weltsichten. Die Kontakte mit Übersee lösten im siebten Stadium eine Vielfalt von ökonomischen Impulsen aus. Nutznießer waren nicht nur Großkaufleute. Von den neuen Verdienst- und Beschäftigungsmöglichkeiten profitierten auch Arbeiter, die Schiffe entluden, Handwerker, die Importe veredelten oder Gerätschaften für deren Verarbeitung und Konsum herstellten, Fern- und Kleinhändler, Krämer oder Hausierer, die die überseeischen Waren aus den Hafenstädten ins Binnenland transportierten, und schließlich die Bauen, die importierte Pflanzen auf ihren Felder kultivierten. Im Bereich des Immateriellen führte die wachsende Vernetzung der Welt dazu, dass sich Europa im Vergleich zu anderen Kulturen bewertete. Je umfassender seine Dominanz über die Welt wurde und je stärker sich sozialdarwinistische Sichtweisen etablierten, desto mehr glaubte es, bestimmt zu sein zu einer globalen Führungsrolle. Völkerschauen wie die des Hamburgers Carl Hagenbeck konnten solche Wahrnehmungen ebenso bestärken wie Kolonialwarenwerbung. Allerdings waren auch andere Lesarten möglich. Wo einige unzivilisierte Barbaren erkannten, sahen andere edle Wilde. Überseeische Importe und Impulse konnten sich im Laufe der Zeit fest in Wirtschaft, Kultur und Alltagsleben verankern und erreichten dann das achte Stadium. Sie wurden nicht mehr als etwas Fremdes betrachtet, sondern als etwas Eigenes. Für die Schweiz etwa ist die Produktion von Schokolade zentraler Teil ihres Selbstbildes geworden. In Italien sieht man in der Tomate eine Art nationales Symbol, und Wien ist untrennbar mit dem Kaffeehaus verbunden. In Hamburg ist es der Hafen, der eine identitätsstiftende Rolle spielt. Er setzte die verschiedensten Aneignungsprozesse in Gang und trug immer wieder dazu bei, dass Fremdes Eigenes werden konnte. EIN ZENTRALER AKTEUR IM ANEIGNUNGSPROZESS: JOHAN CESAR VI. GODEFFROY, DER KÖNIG DER SÜDSEE Fremdes aus Übersee kam nach Hamburg mit Unternehmen wie der Firma Godeffroy. Die Godeffroys waren Hugenotten, die 1685 wegen ihres Glaubens Frankreich verlassen mussten. Die Familienvorstände trugen alle den Namen Johan Cesar, und als der VI. Mitte des 19. Jahrhunderts durch Handel mit dem „weißen Gold“ reich und als „König der Südsee“ tituliert wurde, blickte die Firma „Joh. Cesar Godeffroy & Sohn“ schon auf eine fast hundertjährige Geschichte in Hamburg zurück. 4 4

Zu Cesar VI., seiner Firma und ihren Aktivitäten in der Welt und in Hamburg: Birgit Scheps, Das verkaufte Museum. Die Südsee-Unternehmungen des Handelshauses Joh. Ces. Godeffroy

Fremdes wird Eigenes

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Johann Cesar VI. Godeffroy mit Weltkarte (Privatbesitz)

& Sohn und die Sammlungen „Museum Godeffroy“, Hamburg 2005, 10–17, 21–22, 28, 34, 49, 239; Helene Kranz (Hg.), Das Museum Godeffroy 1861-1881. Naturkunde und Ethnographie der Südsee, Hamburg 2005, 12–14, 19; Frederick J. Moss, Through Atolls and Islands in the Great South Sea, London 1889, 256; Otto J. Seiler, Einhundert Jahre Australienfahrt: 18861986. Hapag-Lloyd. Hamburg, Bremen 1986, 11–12, 16, 19–20; Döpper, Hamburg, 11, 14; Keyser, Deutsches Städtebuch, 389.

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Ihre Geschäfte begannen mit der Ausfuhr schlesischen Leinens nach Spanien und dem Import von Wein, Rosinen und Kupfer. Nach 1815 dehnten sich die Geschäfte Richtung Karibik und Mittel- und Südamerika aus. Gehandelt wurde nun auch mit Zucker, Gewürzen, Kaffee, Kakao und anderen Kolonialwaren. Die Firma hatte ihren Sitz am Alten Wandrahm, einer der wichtigsten Kaufmannsstraßen Hamburgs. Ein Landhaus bei Blankenese hoch über dem Ufer der Elbe repräsentierte den wirtschaftlichen Erfolg und den sozialen Aufstieg einer Familie von Zuwanderern. Johann Cesar VI. übernahm 1845 die Leitung der Firma und machte sie zu einem global player. 5 Zunächst baute er das Geschäft mit Amerika aus. Unter seiner Ägide entwickelte sich ein schwunghafter Handel mit und an der Westküste des Kontinents. Godeffroy transportierte Auswanderer nach Chile und Goldsucher nach Kalifornien. Die Rückfracht bestand vor allem aus Kupfer, Getreide, Salpeter und Guano. Auch wenn sich die Firma von Hamburg aus vor allem westwärts orientiert hatte, streckte sie ihre Fühler doch auch nach Asien aus. In Südwestindien handelte sie erstmals mit Kopra. Wichtiger jedoch wurde Australien, das seit 1848 angesteuert wurde. Das Geschäftsmodell entsprach dort strukturell dem amerikanischen: auf der Hinfahrt wurden neben Handelsgütern vor allem Auswanderer transportiert. Die Rückfracht nach Hamburg bildete Kupfer, später auch Wolle sowie Güter aus Südostasien, das die Schiffe ansteuerten, wenn die Ladekapazität noch nicht ausgeschöpft war. Um zusätzliche Waren zu gewinnen, lag es nahe, den Pazifik in die Geschäfte einzubeziehen und dem Handel der Firma eine tatsächlich globale Dimension zu geben. Vor allem zwei Männern war es zu verdanken, dass die Firma Godeffroy binnen weniger Jahre in der Südsee ein Handelsimperium aufbauen konnte: August Unshelm und Theodor Weber. 6 Unshelm legte die Basis für diesen Aufstieg, und nachdem er 1864 bei einem Schiffsuntergang während eines tropischen Wirbelsturms sein Leben verlor, setzte Weber sein Werk fort. Da Samoa ein unruhiges Pflaster war, hielten es beide für richtig, ihre Position politisch abzusichern und die Stellung eines Hamburger Konsuls anzunehmen. Weber übte diese Funktion ab 1866 auch für den Norddeutschen Bund aus und ab 1872 für das Deutsche Reich. Von Apia, dem Hauptquartier der Firma auf der zu Samoa gehörenden Insel Upolu, spannte sich ein Netz von Handelsstationen über den westlichen Pazifik. Es reichte von Samoa im Osten bis Tonga und Fiji im Süden, Neuguinea im Westen und Mikronesien im Norden. Hauptaufgabe der Handelsagenten, die die einzelnen 5 6

Ein Gemälde (Abb. 2) zeigt ihn mit einer Weltkarte in der Hand (Scheps, Das verkaufte Museum, 8). Die Informationen zu Unshelm und Weber stammen aus: Commerzbibliothek Hamburg, S/561, Konsulate 1860/61; Otto Riedel, Der Kampf um Deutsch-Samoa, Berlin 1938, 35–36, 38–41, 44; Bartholomäus von Werner, Ein deutsches Kriegsschiff in der Südsee, Leipzig 21889, 223– 224; Georg Wegener, Deutschland im Stillen Ozean, Bielefeld / Leipzig 1903, 4; Scheps, Das verkaufte Museum, 19-25, 28, 33; Kranz, Museum Godeffroy, 14–15; Seiler, Einhundert Jahre Australienfahrt, 19–20; Clara B. Wilpert, Südsee. Inseln, Völker und Kulturen, Hamburg 1987, 177.

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Stationen leiteten, war es, gegen westliche Waren zunächst vor allem Kokosöl und später Kopra zu beziehen. Auf Upolu besaß die Firma eigene Plantagen. Sie wurde zum größten Grundbesitzer der Insel. Als Vorfrucht gedieh dort Baumwolle, die die Periode von bis zu zehn Jahren überbrückte, bis die ersten Palmen Früchte trugen. Die Arbeit leisteten Männer und Frauen, die vor allem aus Melanesien stammten. Sie hatten sich gegen Bezahlung und freie Verpflegung für drei Jahre dazu verdingt. Ursprünglich war Kokosöl wichtigstes Handelsgut gewesen. Die lokale Bevölkerung presste es vor Ort aus dem Fruchtfleisch oder gewann es durch einfache Siedeverfahren. Das war wenig effizient und lieferte oft verunreinigtes Öl. Exportiert wurde es in Fässern, die häufig leckten, so dass weitere Verluste entstanden. Deshalb ging man dazu über, das Kokosfleisch zu Kopra zu trocken. Das geschah nicht nur in den eigenen Plantagen auf Upolu, sondern auch auf den anderen Inseln. In Europa wurde Kopra immer stärker nachgefragt, da sie einen wesentlichen Rohstoff für die Herstellung von Pflanzenfetten abgab. Man nutzte sie aber auch, um Kerzen, Seifen, eine Reihe von Kosmetika sowie industrielle Fette und Öle zu erzeugen. Das „weiße Gold“ der Südsee wurde zum wichtigsten Handelsartikel Ozeaniens, und Johann Cesar VI. monopolisierte ihn weitgehend. Nach Apia gelangten Kopra und andere Waren mit kleinen, für den Verkehr zwischen den Inseln bestimmten Schonern, aber auch mit Hochseeseglern, die dann den Weitertransport über Australien oder Südamerika oder auch direkt von Samoa nach Europa übernahmen. Die Godeffroysche Flotte wuchs kontinuierlich. Im transozeanischen Verkehr setzte Johann Cesar VI. in den siebziger Jahren 36 Schiffe ein, was ihn zu einem der wichtigsten Reeder Hamburgs machte. Zentrales strukturelles Problem Johann Cesars VI. war, dass seine Firma nicht über genügend Eigenkapital verfügte. In Zeiten ökonomischer Krisen mussten Kredite in großer Höhe aufgenommen werden. Um auf solideren Füßen zu stehen, diversifizierte Johann Cesar VI. sein Unternehmen und investierte in eine Werft, ein Kupferwerk und schließlich in Kohlebergbau und Stahlerzeugung in Westfalen. Gerade dieses letzte Engagement wurde in den siebziger Jahren für die Firma existenzbedrohend. Lediglich das Südseegeschäft blieb stets lukrativ. Johann Cesar VI. überführte es 1878 in eine neue Aktiengesellschaft, die „Deutsche Handels- und Plantagengesellschaft der Südsee-Inseln zu Hamburg“, kurz DHPG. Die Familie Godeffroy hielt vier Fünftel der Aktien, Johann Cesar VII. wurde Vorsitzender und Theodor Weber Mitglied des Aufsichtsrats. 1879 war die alte Firma tatsächlich am Ende, 1885 starb Johann Cesar VI. Um Forderungen von Gläubigern besser begegnen zu können, bemühte sich die DHPG bei der Reichsregierung um finanzielle Unterstützung. Bismarck stand dieser Idee positiv gegenüber, dennoch scheiterte die SamoaVorlage 1880 im Reichstag. Die DHPG überlebte trotzdem, setzte das Südseegeschäft praktisch unverändert fort, und auch für sie wurde Kopra zur wichtigsten Ware. 7 7

Wegener, Deutschland im Stillen Ozean, 6; Scheps, Das verkaufte Museum, 34–35; Hartmut Pogge von Strandmann, Imperialismus vom Grünen Tisch. Deutsche Kolonialpolitik zwischen

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KOPRA: EIN SÜDSEEPRODUKT IN DER LEBENSWELT DER DEUTSCHEN INDUSTRIEGESELLSCHAFT Europa wusste von Kokospalmen und ihren Nüssen seit dem späten Mittelalter, als Marco Polo sie erwähnte. Ein früher ausführlicher Bericht stammt von Balthasar Springer. In seiner „Indienfahrt“ von 1508 notierte er, dass die „Palmitenbäume … sechzerley frucht und ander wunderbarliche Dinge“ lieferten. Die Menschen bezogen von ihr „Wein, Essigk, Öle, Wasser, Nuß, Honig, Zucker usw“. 8 Die erste bildliche Darstellung schuf ebenfalls Anfang des 16. Jahrhunderts der Augsburger Künstler Hans Burgkmair. 9 Aus klimatischen Gründen ließ sich die Kokospalme nicht in Europa akklimatisieren, tauchte aber im 18. Jahrhundert vermehrt als Zierpflanze in fürstlichen Orangerien auf. Manche Kunsthandwerker machten aus den harten Schalen kostbare Trinkgefäße. Nach und nach wurden Nüsse und Kokosöl auch zu einem Nahrungsmittel. Wichtigstes Importprodukt der Kokosnuss wurde jedoch Kopra. Der Name lässt sich etymologisch aus dem Sanskrit ableiten, wo „Khorpara“ schon in vorchristlicher Zeit getrocknetes Kokosnussfleisch bezeichnete. Cochin und Travancore in Südwestindien lieferten traditionell die besten Qualitäten von Kopra, und dort handelte auch die Firma Godeffroy erstmals mit ihr. Süd- und Südostasien waren mit Abstand die wichtigsten Kopralieferanten. Um sich von diesen Herkunftsgebieten unabhängiger zu machen, wurden die Plantagen in den deutschen Südseekolonien ausgeweitet. 1914 gediehen dort fast acht Millionen Palmen, die meisten auf Ländereien der großen Handelsgesellschaften. 10 Kopra wurde gewonnen, indem man das kleingeschnittene Fleisch der Kokosnuss in der Sonne oder in Darren bei künstlicher Wärme trocknete. Das reduzierte den Wassergehalt. Die Darren konnten mit einem oder mehreren Öfen beheizt werden. Dabei ließen sich die Faserhüllen der Nüsse als Brennmaterial verwenden. Vertikale und horizontale Rohre aus Eisenblech oder gemauerte, blechverkleidete Kamine leiteten Wärme ins Innere. Die Kopra wurde auf mehreren übereinander angeordneten und mit Drahtgeflecht bespannten Rosten ausgebreitet, die auf Rädern oder Rollen in die Darren geschoben werden konnten. wirtschaftlicher Ausbeutung und „zivilisatorischen“ Bemühungen, Berlin 2009, 17–18, 301; Seiler, Einhundert Jahre Australienfahrt, 24, 27. 8 zitiert nach Hanns F. Groeschke, Baum des Lebens, Wuppertal 1990, 14. 9 Detaillierte Informationen zu Kokospalme, Kokosnuss, Kopra und aus ihr gewonnenem Speisefett in: Otto Finsch, Über die Naturprodukte der westlichen Südsee, besonders der deutschen Schutzgebiete, Berlin 1887, 4; Max Fesca, Der Pflanzenbau in den Tropen und Subtropen, Berlin 1907,156–157; Paul Preuß, Die Kokospalme und ihre Kultur, Berlin 1911, 161–162, 166, 170–174, 179–180, 183, 205, 210; Max Birk, Kopra-Produktion und Kopra-Handel, Jena 1913, 4, 7, 178, 183; Otto Warburg, Die Bedeutung der Kokospalme für die Kolonien und für Deutschland, in: Verhandlungen der Ölrohstoff-Kommission des Kolonial-Wirtschaftlichen Komitees 1/1913, 36–37; Friedrich Wilhelm Tobias Hunger, Kokospalme. Hamburg / Leipzig 1929, 90, 93, 103, 106–112, 113; Groeschke, Baum des Lebens, 14–16, 17, 34, 50. 10 Die Zahlenangaben zu den deutschen Kolonien aus: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, MHIG 6754: Regelung der Handelsbeziehungen zum Ausland 1917-1919, Denkschrift über den hohen Wert der deutschen Südsee für unsere Volkswirtschaft, 2–3.

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Kopra kam in unterschiedlichen Qualitäten auf den Markt. Dabei spielte vor allem eine Rolle, ob sie aus lokaler, bäuerlicher Produktion stammte oder in größeren, von westlichen Firmen betriebenen Plantagen erzeugt worden war. „Handelskopra“, auch als „native sun dried copra“ bezeichnet, erzielte geringere Preise als „hot air“ oder „kiln dried copra“, die auch „Plantagenkopra“ hieß. Eine hellere Farbe und größere Reinheit gaben hier den Ausschlag. 11 In der Form, in der Kopra am Bestimmungsort entladen wurde, konnte sie nicht verwendet werden. Sie musste sie in mehreren Arbeitsschritten gemahlen, gereinigt und ausgepresst werden. Am Ende dieser Prozesse stand ein feines Mehl. Es wurde erwärmt, befeuchtet und erneut ausgepresst. Letzte Fettreste ließen sich in Extrahierungsverfahren gewinnen, wobei Benzin als Lösungsmittel verwendet wurde. Das war jedoch nicht unbedingt erwünscht, denn die Rückstände, die neben Ölresten Eiweiß und Kohlehydrate enthielten, stellten ein gesuchtes und hochwertiges Viehfutter dar. Nun war Kopraöl gewonnen, das sich jedoch von Kokosöl deutlich unterscheidet. Während Kokosöl konsumiert werden kann, muss Kopraöl erst raffiniert werden, bevor es sich als Speisefett verwenden lässt. Dazu wurde das Öl in großen Kesseln erhitzt und unter Druck gefiltert, gereinigt und entsäuert. In einem letzten Schritt bleichte und desodorisierte man das Öl, so dass es farb- und geruchlos wurde. 12 Ähnlich wie der Konsum von Kartoffeln und Kaffee stand auch der von Speisefetten in engem Zusammenhang mit Industrialisierung und Verstädterung. Die Menschen brauchten preiswerte Lebensmittel. Margarine ersetzte ab 1870 zunehmend die damals noch teure Butter, und auch Speiseöle sowie Brat- und Backfette verbilligten sich. Der Verbrauch an sogenannter Kunstbutter nahm stetig zu. Allerdings konkurrierte Kopraöl dabei auch mit anderen Ölen pflanzlicher Herkunft sowie mit Walöl. Ein wichtiges und bis heute bekanntes Speisefett war Palmin. Es geht auf ein Verfahren zurück, das sich der Ludwigshafener Chemiker Heinrich Schlinck 1882 patentieren ließ. Er hatte eine Methode entwickelt, Kopraöl zu einem farb- und geruchlosen Speisefett zu raffinieren und haltbar zu machen. Ab 1887 kam das Produkt als Mannheimer Kunstbutter auf den Markt, 1896 wurde der Markenname „Palmin“ eingeführt. Seit 1907 ergänzte das streichfähige Paloma aus Palmin, Speiseöl, Eigelb und Zucker das Angebot der Firma. Die Nachfrage nach den Produkten wuchs rasch, und Schlinck entschied sich, ein großes und modernes Werk in Hamburg-Wilhelmsburg zu bauen. Hamburg war ein idealer Standort, da Kopra dort

11 Viele Informationen zu Preisen, Qualitäten und Konsum von Kopra finden sich im Pacific Island Monthly, beispielsweise in den Ausgaben vom 17.1. (S. 11), 17.3. (S. 1, 2) und 17.7.1931 (S. 4) oder vom 17.10. (S. 49) und 19.12.1934 (S. 3). 12 Zu den Herstellern dieser Maschinen zählten beispielsweise das Krupp-Grusonwerk in Magdeburg, die Harburger Eisen- und Bronzewerke, Mayfahrt & Co. in Frankfurt, Fritz Müller in Eßlingen oder Borsig in Berlin (Beschreibungen und Abbildungen finden sich bei Hunger, Kokospalme, 104, 106–110.

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leicht und preiswert zu beziehen war und es für die Endprodukte eingespielte Vertriebswege gab. 1909 begann die Produktion, und 1910 beschäftigte das Werk bereits 1.000 Mitarbeiter. 13 DIE HANDELSAGENTEN: DREI BEOBACHTUNGEN ZU GLOBALGESCHICHTE UND TRANSKULTURALITÄT Die Agenten, die die Interessen der großen Handelsfirmen in der Südsee vertraten, waren nicht nur daran beteiligt, Kopra zu gewinnen. Ihre Arbeit hat globalhistorische und transkulturelle Relevanz. Sie waren, um den ersten Aspekt anzusprechen, Akteure sowohl in der europäischen Ernährungsgeschichte wie in der Transformation der Südsee. In ökologischer Hinsicht trugen sie dazu bei, dass die Kokospalme zu einer beherrschenden Pflanze auf den pazifischen Inseln wurde. Ökonomisch halfen sie, die Geldwirtschaft zu verbreiten und die Südsee als Produzent von Rohstoffen und Abnehmer von Fertigwaren in den Weltmarkt zu integrieren. Abgesehen von Tonga und Fiji, das lässt sich in politischer Hinsicht festhalten, bildete der Raum, in dem die Agenten Godeffroys und der DHPG operierten, den Kern der deutschen Schutzgebiete in der Südsee. Kontraktarbeiter von anderen Inseln sowie Chinesen, die vielerlei Tätigkeiten in den sich wandelnden Ökonomien der Südsee wahrnahmen, veränderten die Sozialstruktur. In puncto Transkulturation wandelten sich zunächst die Agenten selber. Sie nahmen mehr oder weniger intensiv lokale Verhaltensweisen und Normen an, veränderten Kleidung und Ernährungsgewohnheiten, passten ihr Leben und ihre Arbeit den Gegebenheiten an, die sie vorfanden. Gleichzeitig blieben sie aber ihrer deutschen Herkunft verbunden. Um das zu veranschaulichen, sollen hier zwei dieser Handelsagenten kurz vorgestellt werden. Der erste ist Gustav Kronfeld. 14 Er wurde am 26. September 1856 in Thorn im damaligen Westpreußen geboren. Er stammte aus einer jüdischen Familie, hatte Brüder in den USA und in Australien und entschloss sich mit 17 Jahren, sein Glück ebenfalls auf dem Fünften Kontinent zu versuchen. Offenbar erfüllten sich seine Hoffnungen nicht, denn 1876 trat er in Apia in die Dienste Godeffroys und blieb nach dessen Konkurs bei der DHPG. Er stieg auf und wurde zum Faktoreileiter in Neiafu ernannt, dem Hauptort des Vava’u-Archipels im Norden der Tonga-Inseln. Dort heiratete er Louisa Silveira, eine Katholikin samoanisch-portugiesischer Herkunft. Das Paar integrierte sich in das lokale polynesische Umfeld, schloss sich 13 Der Tropenpflanzer 1, 1897, 257–258, ; Eckhard Freiwald / Gabriele Freiwald-Koch, Hamburgs alte Fabriken: Einst und jetzt. Erfurt 2013, 112. 14 Zu ihm und seiner Familie siehe Emily Parr, Veins. A Kronfeld History, Auckland 2012 und Reinhard Wendt, Die Internierung des Gustav Kronfeld in Neuseeland. German Pacific Islanders, Transkulturalität und Kategorien des Nationalen im Ersten Weltkrieg, in: Bärbel Kuhn / Astrid Windus (Hg.): Der Erste Weltkrieg im Geschichtsunterricht. Grenzen – Grenzüberschreitungen – Medialisierung von Grenzen, St. Ingbert 2014, 83–104.

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wirtschaftlich und privat aber auch einem Kreis von Deutsch-Tonganern an. Er wurde vom Wolfgramm-Sanft-Clan dominiert. Rund ein Dutzend Männer aus diesen beiden miteinander verschwägerten Familien waren aus Pommern zugewandert und im Koprahandel vermögend geworden. Sie hatten Frauen aus der lokalen Elite geheiratet und pflegten mit ihnen einen transkulturellen Lebensstil. 15

Gustav und Louisa Kronfeld, Sir George Grey Special Collections, Auckland Libraries, 31-69617, Fotograf: Hermann Schmidt

1890 macht sich Kronfeld selbstständig und ließ sich mit seiner Familie in Neuseeland nieder. Geschäftlich pflegte er weiterhin intensive Kontakte zum deutschpazifischen Umfeld in der Südsee. Seine Verbundenheit mit Polynesien spiegelt sich in den Namen seiner Kinder, die beispielsweise Samuel Tonga oder Manuel Vava’u hießen, und seiner Villa in Auckland, die er nach einer samoanischen Blume „Oli-Ula“ taufte. Doch auch die alte Heimat war nicht vergessen. Kronfeld bezog eine deutsche Zeitung und pflegte Kontakt zu deutschen Verwandten. Gleichzeitig hatte er sich aber auch als „british subject“ naturalisieren lassen, und seine Kinder wurden anglikanisch erzogen. Die Familie bot, so kann man sagen, ein facettenreiches transkulturelles Bild. 15 Siehe dazu Reinhard Wendt, German Pacific Islanders – Eine ferne Diaspora und ihre Erinnerung an Deutschland, in: Werner Daum u.a. (Hgg.): Politische Bewegung und symbolische Ordnung, Bonn 2014, 145–165.

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In Samoa, Tonga und Neuseeland kreuzten sich Kronfelds Wege beruflich wie privat mit denen von Alfred Schultz, der zweiten Person, die ich vorstellen möchte. 16 Er wurde am 11.7.1873 in Hamburg als Sohn eines Kaufmanns geboren. Nach dem Ende seiner Schulzeit absolvierte er eine Lehre bei der DHPG. Johann Cesar VII. hatte ihn persönlich eingestellt. Ab 1895 arbeitete er in Apia. 1900 wurde ihm die Leitung der Agentur in Neiafu anvertraut, die zuvor auch Gustav Kronfeld innegehabt hatte. Dort heiratete er Anna Bertha Wolfgramm aus dem schon erwähnten deutsch-tonganischen Familienclan. Sie hatten zwei Kinder, Clara und Wilhelm oder William.

Gustav mit seinen Söhnen, Sir George Grey Special Collections, Auckland Libraries, 31-WP343, Fotograf: Hermann Schmidt

Für Gustav Kronfeld wie für Alfred Schultz unterbrach der Erste Weltkrieg die transkulturellen Entwicklungen. 17 Beide wurden nun zu „enemy aliens“ und in Neuseeland interniert. Doch auch nach ihrer Entlassung kam eine Rückkehr nach Deutschland für sie nicht in Frage. Kronfeld zog sich aus dem Geschäftsleben zu-

16 Alle Angaben zum Leben von Schultz im Privatarchiv des Autors. Sie wurden aus Adressbüchern, Standesamtsunterlagen, Korrespondenzen sowie Akten neuseeländischer und deutscher Behörden gewonnen. 17 Der besseren visuellen Veranschaulichung dienen die Abb. 3, 4 und 5, die Gustav und Louisa Kronfeld, Gustav mit seinen Söhnen sowie Alfred und Anna Schultz mit ihren Kindern zeigen.

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rück und starb 1926 in Auckland. Schultz sah Deutschland wieder, allerdings unfreiwillig. Im Zweiten Weltkrieg wurde er erneut interniert und im Austausch mit US-amerikanischen Kriegsgefangenen repatriiert. In Hamburg starb er 1944, wohl an den Nachwirkungen eines Bombenangriffs. Ihre transkulturelle Prägung lebte in ihren Kindern weiter, die in der Terminologie der Zeit als „half“ oder „quarter castes“ galten und einen hybriden Lebensstil pflegten. Da zu diesen nicht nur die Söhne und Töchter von Kronfeld und Schultz gehörten, sondern viele andere, wuchs ihre Zahl. Sie formten eine besondere soziale

Alfred und Anna Schultz mit ihren Kindern, Sir George Grey Special Collections, Auckland Libraries, 31-WP675, Fotograf: Hermann Schmidt

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Gruppe. Dass 1925 Samuel Tonga Kronfeld und Clara Schultz heirateten, drückt das beispielhaft aus. Godeffroy und die DHPG und auch Gustav Kronfeld, Alfred Schultz und ihre Familien verdienten ihr Geld mit der Kokospalme und ihren Früchten. Sie war, und das ist das dritte wiederum globalgeschichtliche Beispiel dieses Abschnitts, nicht nur das bestimmende Element im Wirtschaftsleben der Südsee dieser Zeit, sie wurde auch zu einem Sinnbild deutscher Südseewahrnehmung. Die Firma Palmin druckte sie auf Sammelbildchen und warb mit ihr und anderen Exotika für ihre Produkte. Der Aussteiger August Engelhardt sah in der Nuss die Frucht, die von „Europavergiftung“ heilte. Sie reifte am nächsten zur „gutherzigen“ Sonne, zum „wahren Gott“. Wer ihr Fleisch aß und ihre Milch trank, war auf dem Weg zur Erleuchtung. Auf einer kleinen Südseeinsel lebte Engelhardt nach diesen Prinzipien. Er gründete einen „Sonnenorden“, der zeitweise eine ganze Schar europamüder Jünger in die Südsee lockte. 18 Wie stark die Kokospalme, die Südsee und die Menschen, die mit ihr zu tun hatten, nach wie vor im kulturellen Gedächtnis verankert sind, zeigen einige neuere Romane. Sie bezogen aus diesen Szenerien Kulisse und Akteure. 19 Unabhängig von der jeweiligen Handlung spielen sie mit der Exotik und den Träumen von einer Existenz fern der Industriegesellschaften inmitten einer intakten Natur und unter unverdorbenen Menschen. Die Kokospalme ist zu einem Sinnbild von Paradiesvorstellungen und Aussteigerträumen geworden. Tausendfach bemüht von der Tourismuswerbung symbolisiert sie die Südsee, Sehnsuchtsorte und alternative Lebensentwürfe.

18 Reinhard Wendt, Die Südsee, in: Jürgen Zimmerer (Hg.), Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Frankfurt / New York 2013, 47–48. 19 Marc Buhl, Das Paradies des August Engelhardt, Frankfurt am Main 2011; Christian Kracht, Imperium, Köln 2012; Jürgen Petschull, Der letzte Tanz im Paradies. Ein historischer Thriller aus der deutschen Südsee, Berlin 2009.

HAMBURG, DIE NIEDERLANDE UND DAS ZEITALTER DER HANDELSKOMPANIEN Jürgen G. Nagel Hamburg ist ein Begriff, als Brennpunkt eines globalen Warenumschlags, als Welthandelszentrum, als Tor zur Welt – aber auch als Hansestadt, als führendes Mitglied eines mittelalterlichen Bundes, der mit Koggen, Kontoren und Trockenfisch in Verbindung gebracht wird. Gerade in der deutschsprachigen Wissenschaft steuerte die traditionsreiche Hanseforschung lange den Blick auf die Geschichte der Stadt. Hamburg galt vor allem die fachliche Bewunderung als Hansemetropole; für die Frühe Neuzeit, nachdem die Hanse ihren Zenit überschritten hatte, konnte man sich nur eng beschränkte Handelsmöglichkeiten vorstellen. Der Göttinger Historiker Percy Ernst Schramm (1894–1970) ging noch 1950 von dieser Interpretation aus, als er schrieb: „Das Bild des Aufstiegs, das alle Häfen von Emden bis Memel bieten, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die deutsche Reederei auf die europäische Küstenfahrt eingeengt blieb. Die Welt hatte sich seit Kolumbus ungeheuer geweitet; aber der deutsche Handelsraum war noch eingepfercht in die Grenzen, die der hansische Handel bereits im späten Mittelalter erreicht hatte. Die Schrift, die der Professor J. J. Surland in Marburg, Sohn eines Hamburger Syndikus, 1752 in Kassel über das ‚Recht der Deutschen, nach Indien zu handeln‘, drucken ließ, war [...] die Rechtstheorie eines Professors und nicht mehr.“ 1

Nun ist selbst in einer Metropole wie Hamburg der frühneuzeitliche Handel statistisch schwer zu fassen. Epochentypisch ist nur wenig Zahlenmaterial überliefert, das hinreichend belastbar wäre, um längerfristige Zeitreihen zu ermöglichen. Für die jüngsten Forschungen zum Einfuhrhandel nach Hamburg stellen die Admiralitäts- und Convoygeld-Einnahmebücher aus dem 18. Jahrhundert die Hauptquelle dar. 2 Sie verzeichnen tatsächlich eine Konzentration des Hamburger Seehan-

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Pery Ernst Schramm, Deutschland und Übersee. Der deutsche Handel mit den anderen Kontinenten, insbesondere Afrika, von Karl V. bis zu Bismarck. Ein Beitrag zur Geschichte der Rivalität im Wirtschaftsleben, Braunschweig 1950, 42. Zu den Admiralitäts- und Convoygeld-Einnahmebüchern als wirtschaftshistorische Quelle siehe Klaus Weber, Die Admiralitäts- und Convoygeld-Einnahmebücher. Eine wichtige Quelle für Hamburgs Wirtschaftsgeschichte im 18. Jahrhundert, in: Hamburger Wirtschafts-Chronik 1/2000, 83–112, und Markus A. Denzel, Der seewärtige Einfuhrhandel Hamburgs nach den Admiralitäts- und Convoygeld-Einnahmebüchern (1733–1789), in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 102/2015, 131–160. Zur Problematik der statistischen Überlieferung generell siehe bereits Pierre Jeannin, Die Hansestädte im europäischen Handel des 18. Jahrhunderts, in: Hansische Geschichtsblätter 89/1971, 41–73.

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dels auf europäische Häfen, auch dann, wenn, wie im vorliegenden Fall, das Hauptinteresse den „Kolonialwaren“ aus Übersee gilt. Für den Zeitraum zwischen 1733 und 1798 zeigen die Einnahmebücher unzweifelhaft, dass der Handel mit französischen Überseeprodukten wie Zucker oder Kaffee, die im Wesentlichen aus Westindien stammten, enorme Zuwachsraten verzeichnete. 3 Ein Handel, der vorrangig über französische Häfen abgewickelt wurde. Befand sich Hamburg im 17. Jahrhundert, so die gängige Prämisse, noch unter niederländischer Dominanz, setzte im 18. Jahrhundert ein Ablösungsprozess ein, der im Zusammenhang mit der steigenden Bedeutung Frankreichs als Handelspartner stand, wie bereits im hanseatisch-französischen Handelsvertrag von 1716 manifestiert. 4 Unmittelbare Kontakte nach Übersee kamen hingegen erst sehr spät zum Tragen. Indische Direktimporte aus Kalkutta werden in den Büchern erst 1794 verzeichnet, und auch die Karibik tritt nicht eher in Erscheinung. Vor allem die Entrepôts waren für den Direkthandel von Interesse. Der unmittelbare Kontakt zu den Plantagenbesitzungen in Westindien blieb die Ausnahme, während Kaufleute aus Frankreich, England oder den Niederlanden weiterhin die entscheidenden Zwischenhändler blieben. 5 Günter Moltmann schließt aus den verfügbaren Daten darauf, dass Hamburg seine Öffnung nach Übersee erst im späten 18. und vor allem im 19. Jahrhundert erlebte, somit erst dann zur Weltstadt avancierte. 6 Offenbar handelt es sich also tatsächlich um eine Geschichte begrenzter Reichweite. Eines jedoch verzeichnen diese statistischen Quellen gerade nicht: Den Schiffsverkehr zwischen Hamburg und den Niederlanden, da er von den Abgaben, die in den Admiralitäts- und Convoygeld-Einnahmebücher aufgelistet wurden, befreit war. 7 Insofern kann ohne angemessene Vergleichszahlen nur bedingt gesagt werden, dass im 18. Jahrhundert Frankreich zum wichtigsten Handelspartner der Hansestadt wurde. Auch die neueste Forschung geht grundsätzlich davon aus, dass die Niederlande vor allem im 17. Jahrhundert für Hamburg ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Handelspartner waren. Die bis heute grundlegende Forschung hierzu ist mittlerweile allerdings weit über 100 Jahre alt. Letztendlich ist es ein Resümee von Ernst Baasch, das in der einen oder anderen Abwandlung stete Wiederholung erfährt: „Den größten Verkehr nach Zahl und Lasten der Schiffe hatte Hamburg mit den Niederlanden. Die Handelsbeziehungen der Stadt zu diesem Lande sind alt und nie unterbrochen gewesen. 3

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Markus A. Denzel, Einfuhrhandel, 143–145. Zum Hamburger Import von Zucker und Kaffee siehe zudem ders.: Hamburg als Zentrum des mitteleuropäischen Handels mit Übersee vom späten 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, In: Annales Mercaturae Bd. 2, 95–98, Stuttgart 2016. Markus A. Denzel, Hamburg als Zentrum, 81; Carsten Prange, Handel und Schiffahrt im 18. Jahrhundert, in: Inge Stephan (Hg.), Hamburg im Zeitalter der Aufklärung, Berlin 1989, 47. Denzel, Einfuhrhandel, 146. Günter Moltmann, Hamburgs Öffnung nach Übersee im späten 18. und im 19. Jahrhundert, in: Arno Herzig (Hg.): Das alte Hamburg 1500-1848/49. Vergleiche, Beziehungen, Berlin 1989, 51–72. Ernst Baasch, Hamburg und Holland im 17. und 18. Jahrhundert, in: Hansische Geschichtsblätter 16/1910, 80.

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Eine bedeutsame Förderung hatte sie Ende des 16. Jahrhunderts durch die Niederlassung zahlreicher ihre Heimath verlassende Niederländer erfahren. – Die Bedeutung der Niederlande für den hamburgischen Handel war eine dreifache: jenes Land wurde damals der Hauptstapelplatz des ostindischen und Levantehandels; sodann war die Lage der Niederlande an der Mündung des Rheinstroms schon damals für dieselben sehr vortheilhaft; die Niederlande wurden dadurch der wichtigste Stapelplatz der kontinentalen Produkte; endlich besaßen doch auch die Niederlande selbst eine wichtige Industrie und Landwirthschaft. Diese Waren dreifacher Provenienz, die Produkte des Orients, des Rheinlandes und der Niederlande, strömten nun von den Hafenplätzen dieses Landes nach Hamburg, welches in jener Zeit Hauptort des holländischen Handels war und dessen Kommissions- und Speditionsgeschäft blühte.“ 8

Die wirtschaftshistorische Grundlage dieser Einschätzung musste mühsam in den verfügbaren Quellen zusammengetragen werden und blieb zwangsläufig lückenhaft. 9 Immerhin zeichnet die Auswertung der Schifferbücher durch Ernst Baasch ein grundlegendes Bild, das eine Führungsrolle des hamburgisch-niederländischen Handels im 17. Jahrhundert und einen relativen, jedoch keineswegs absoluten Rückgang während des 18. Jahrhunderts erkennen lässt. 1625 ging ein Drittel des Hamburgischen Seehandels in die Niederlande bzw. kam von dort. 1633 trafen aus Holland 994, aus England 62, aus Frankreich 22 sowie aus Spanien, Portugal und Italien 44 Schiffe in der Hansestadt ein. Die Veränderung im Laufe von einem Jahrhundert zeigt sich an den Zahlen von 1740, als aus Holland 340, aus England 138, aus Frankreich samt Überseegebieten 183 und aus Spanien, Portugal und dem Mittelmeer 80 Schiffe nach Hamburg kamen. Im Falle der Holländer handelte es sich vielfach um Küstenverkehr, in dem die ostfriesische Konkurrenz im 18. Jahrhundert deutlich zunahm. 10 In den 1620er und 1630er Jahren weisen die Schifferbücher allein 58 Herkunftshäfen in den Niederlanden auf, 11 darunter in herausragender Stellung Amsterdam und Enkhuizen, wobei Letztere eher auf regionalen Warenaustausch ausgerichtete gewesen sein dürfte, während Amsterdam der Hauptstapelplatz des niederländische Überseehandels war. Um den Blick auf „Kolonialwaren“ aus Übersee zu lenken, sei in diesem Kontext auf einige wenige Beispiele verwiesen: 12 Anfang der 1620er Jahre stammte die überwältigende Mehrheit von Kattunstoffen aus Amsterdam. Zwar wurde dieser Herkunftsort bereits im folgenden Jahrzehnt von London überholt, blieb aber weiterhin relevant. Brasilholz als das wichtigeste Färbeholz auf dem Hamburger Markt stammte häufiger aus Amsterdam denn aus Portugal, was darauf hindeutet, dass in nicht unbeträchtlichem Maße ostindisches Holz darunter war. Ein weiterer bedeutender Farbstoff, das Indigo, stammte ebenfalls aus Amsterdam und damit aus Asien, allerdings auch zu nicht unbedeutenden Mengen auch schon aus Amerika. Beim Pfeffer war ein Konkurrenzkampf zwischen iberischen, englischen und nie8

Ernst Baasch, Hamburgs Seeschifffahrt und Warenhandel vom Ende des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Vereins für hamburgische Geschichte 9/1893, 309–310. 9 Siehe hierzu auch: Baasch, Ernst: Zur Statistik des Ein- und Ausfuhrhandels Hamburgs Anfang des 18. Jahrhunderts. In: Hansische Geschichtsblätter 34 (1929), 89–144. 10 Baasch, Hamburg und Holland, 94. 11 Baasch, Hamburgs Seeschifffahrt, 329–330. 12 Ebd., 360, 385–386, 388, 394, 399–400.

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derländischen Lieferanten mit wechselnden Vorteilen zu beobachten. Und am Zuckerhandel, der für Hamburg zunehmend an Bedeutung gewann, war Amsterdam ebenfalls beteiligt, spielte aber im Vergleich zu Portugal eher eine marginale Rolle. All dies legt eine niederländische Dominanz in den Hamburger Außenwirtschaftsbeziehungen im 17. Jahrhundert nahe und lässt vermuten, dass der angesprochene Ablösungsprozess im 18. Jahrhundert eher ein Erweiterungsprozess des Spektrums darstellte. Ergänzend lässt sich eine Beobachtung auf der politischen Ebene anführen. Der diplomatische Kampf der Generalstaaten gegen eine Hamburger Beteiligung an der Oostende-Compagnie zwischen 1723 und 1733 beruhte auf der Befürchtung, dass ein eigenständiger Handel zwischen der Elbe und Ostindien entstehen könnte. 13 Er veranschaulicht die Bedeutung, die Hamburg als Abnehmer und Zwischenhändler von Waren der VOC, zu der die Oostende-Compagnie in Konkurrenz trat, zugeschrieben wurde. Die spätere Forschung erweitert dieses Bild nur unwesentlich. Frauke Röhlk, deren Studie trotz ihres Erscheinungsjahrs 1973 bis heute den Status eines Standardwerks beanspruchen kann, setzt mit der Datenanalyse erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts an. 14 Dennoch beobachtet sie Handelskontakte nach Amsterdam, daneben nach Rotterdam, Zaandam, Vlissingen oder Edam. Koloniale Importgüter wurden zu dieser Zeit im Wesentlichen als „Gewürze“ verzeichnet. Röhlk konstatiert, dass darunter Pfeffer der wichtigste Artikel gewesen sein muss. Daneben wurden aus Übersee Ingwer, Kaneel, Kardamom, Kümmel oder Nelken gehandelt. Nach der Unterbrechungen durch die Kriege seit 1780 war im frühen 19. Jahrhundert nur noch ein geringer Gewürzhandel mit den Niederlanden zu verzeichnen. Ein wichtiges Importprodukt blieb der Tee. Zwischen 40% und 50% der Amsterdamer Tee-Exporte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gingen nach Norddeutschland. Beim Kaffee erlebten die Amsterdamer Exporte nach Hamburg, Bremen und weiteren Nordseeanrainer („kleine oost“) eine Steigerung von 117.825 Pfund (1753) auf 336.827 Pfund (1789). Allerdings lief in dieser Zeit schon der französische Kaffee dem niederländischen den Rang ab. Auch die Zuckerimporte aus den Niederlanden waren im Vergleich zu denjenigen aus Frankreich in dieser Phase nur geringfügig. Angesichts der überschaubaren Möglichkeiten, den Warenaustausch zwischen Hamburg und den Niederlanden vor dem späten 18. Jahrhundert in seiner Größenordnung dingfest zu machen, gerät aus quantifizierender Perspektive das eigentliche Hamburger „Tor zur Welt“ schnell aus der Sichtweite. Eine sinnvolle Ergänzung zum Blick auf die Zahlen bietet daher die Frage nach den Vernetzungen. Dabei tritt mit Amsterdam eine Hafenmetropole in den Fokus, die völlig zu Recht die Bezeichnung „global marketplace“ erhalten hat. 15 Die Stadt verknüpfte innereuro-

13 Baasch, Hamburg und Holland, 87–93. 14 Frauke Röhlk, Schiffahrt und Handel zwischen Hamburg und den Niederlanden in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1973, 89–97. 15 Zum globalen Charakter von Amsterdam siehe Ulrich Ufer, Welthandelszentrum Amsterdam. Globale Dynamik und modernes Leben im 17. Jahrhundert, Köln 2008. Zur zentralen Rolle

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päische Handelsnetze, wie sie nach Hamburg und von dort aus in das deutsche Hinterland reichten, mit solchen, die nach Übersee ausgriffen. Merkantile Überseekontakte lagen in den Niederlanden des 17. und 18. Jahrhunderts in den Händen der privilegierten Handelskompanien. Die Geoctroyeerde West-Indische Compagnie (WIC, 1621-1791) war für den Atlantischen Handel privilegiert, die Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC, 1600-1799) für den Asienhandel. 16 Durch ihre staatliche Privilegierung, die ihnen wesentliche Rechte wie die Aufstellung von Armeen und bewaffneten Flotten oder die Aushandlung zwischenstaatlicher Verträge ermöglichte, und durch ihre erfolgreiche Verdrängungspolitik insbesondere gegenüber der portugiesischen Konkurrenz konnten vor allem die niederländischen und englischen Handelskompanien eine monopolähnliche Stellung im Warenverkehr aus Asien, Afrika und der „Neuen Welt“ nach Europa aufbauen. War ihr Zugriff auf die Märkte in Übersee nie unumstritten und häufig umkämpft, war ihre Stellung auf den Absatzmärkten in Europa vom Beginn des 17. bis in das späte 18. Jahrhundert überragend. Sie erlaubte es ihnen, die Handelsnetzwerke auf ihre eigenen Metropolen zu konzentrieren und aus den Handelszentren im übrigen Europa nachgeordnete Abnehmer zu machen, die bei ihnen ihren Bedarf an außereuropäischen Produkten deckten. Die Produkte, auf welche die Kompanien ihr Geschäftsmodell konzentrierten, waren bald keineswegs mehr nur „exotisch“. Neben den legendären Gewürzen asiatischer Herkunft und Luxuswaren wie Seide oder Porzellan waren es vor allem Plantagengüter wie Zucker, Kaffee, Tee, Kakao oder Tabak, die in Europa ein Massenkonsum hervorriefen und für die Lebenswelten in ganz Europa bedeutsam wurden. In den Niederlanden bildete der Handel mit diesen Produkten und deren Weiterverarbeitung wichtige Grundlagen für die „first modern economy“, die auf einer immensen ökonomischen Modernisierung durch eine produktive Landwirtschaft, durch technisch fortschrittliche Gewerbe, durch einen modernen Kapitalmarkt und durch neue Kooperationsformen wie die privilegierten Handelskompanien beruhte. 17 Aber auch die Lebenswelten einer reichen Stadt wie Hamburg waren mit diesen Warenströmen verbunden. Hamburg fand also seinen Platz im globalen Handelssystem durch seine Kontakte in die Niederlande – oder anders ausgedrückt: Der „global marketplace“ Hamburg verknüpft sich mit der „first modern economy“ in den Niederlanden. Die Adelung Hamburgs zum „global marketplace“ vertrat der schwedische Wirtschaftshistoriker Erik Lindberg rund sechs Jahrzehnte nach dem Diktum der

Amsterdams im europäischen Handelsgefüge siehe u.a.: Toshiaki Tamaki, Amsterdam, London und Hamburg – A Tale of Three Cities. Niederländische Beiträge zur europäischen Wirtschaft und zum Aufstieg des britischen Empire, in: Hamburger Wirtschafts-Chronik 8/2007, 61–90. 16 Grundlegend zur WIC siehe u.a. Henk den Heijer, De geschiedenis van de WIC. Opkomt, bloei en ondergang, Zutphen 2013; Wim Klooster, Wim, The Dutch Moment. War, Trade and Settlement in the Seventeenth-Century Atlantic World, Ithaca 2016. Grundlegend zur VOC siehe u.a. Jürgen G. Nagel, Abenteuer Fernhandel. Die Ostindienkompanien, Darmstadt 2011; Femme S. Gaastra, Geschiedenis van de VOC. Opkomst, bloei en ondergang, Zutphen 2009. 17 Jan de Vries / Ad van de Woude, The First Modern Economy. Success, Failure, and Perseverance of the Dutch Economy, 1500–1815, Cambridge 1997.

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regionalen Begrenztheit von Percy Ernst Schramm. 18 Es ist kein Zufall, dass auch Lindberg sein Urteil nicht auf der Grundlage neuer Forschungen zu den Warenströmen fällt, sondern einen institutionengeschichtlichen Ansatz verfolgt. Der Aufstieg Hamburgs hatte demnach weniger mit der exponierten geographischen Lage zu tun als mit der eigenen politischen Verfasstheit. Lindberg untersucht das politische Klima und die Rahmenbedingungen, welche die Positionierung Hamburgs in einem globalen Warenaustausch begünstigten. Im Hamburger Selbstverständnis war die herrschaftliche Unabhängigkeit Hamburgs entscheidend für die Erfolge im Handel und die wirtschaftliche Prosperität. 19 Entscheidende Momente waren die Partizipation aller Bürger an politischen Entscheidungen, die Liberalität des gesellschaftlichen Klimas in der Stadt und die Neutralität in den internationalen Machtspielen. Auch wenn die Liberalität der streng lutherischen Kaufmannschaft Hamburgs immer wieder in Zweifel gezogen wurde, herrschte in der Hafenstadt letztendlich doch ein Klima, das die Beteiligung verschiedener Kaufmannsgruppen, auch ausländischer, ermöglichte. Hamburg war die erste deutsche Stadt, welche die Residenz fremder Kaufleute erlaubte und ihnen religiöse wie kommerzielle Freiheit zusagte. 20 Über die Hälfte der ortsansässigen Kaufleute im 17. Jahrhundert waren Immigranten, seien es Niederländer, Flamen, Portugiesen oder Engländer. Besonderer Schutz wurde den englischen Kaufleuten, mit deren Merchant Adventurers 1567 ein Vertrag geschlossen wurde, und sephardische Juden aus Portugal zuteil. 21 Und hinter der Gründung der Hamburger Bank standen niederländische Kaufleute, die sich die Amsterdamer Wisselbank zum Vorbild nahmen. 22

18 Erik Lindberg, The Rise of Hamburg as a Global Marketplace in the Seventeenth Century. A Comparative Political Economy Perspective, in: Comparative Studies in Society and History 50/2008, 641–662; ders.: The Rise of Hamburg as a Global Marketplace in the Seventeenth Century. A Comparative Institutional Perspective, in: Leos Müller / Philipp Robinson Rössner / Toshiaki Tamaki (Hgg.): The Rise of the Atlantic Economy and the North Sea/Baltic Trade, 1500-1800, Stuttgart 2011, 19–33. 19 Grundlegend zu diesem Selbstverständnis sowie zum Verhältnis zwischen kaufmännischer Prosperität und soziopolitischer Verfasstheit in den „merchant republics“ siehe Frank Hatje, Libertät, Neutralität und Commercium. Zu den politischen Voraussetzungen für Hamburgs Handel (1550-1900), in: Hamburger Wirtschafts-Chronik 8/2007, 213–247; Mary Lindemann, The Merchant Republics. Amsterdam, Antwerp, and Hamburg, 1648-1790, New York 2015; Ruth Schilling, Stadtrepublik und Selbstbehauptung. Venedig, Bremen, Hamburg und Lübeck im 16. und 17. Jahrhundert, Köln 2012. 20 Lindberg, Rise of Hamburg, 642, 656. Siehe zur Immigration und Integration von Kaufleuten in Hamburg unter besonderer Berücksichtigung der Beziehungen zu Portugal: Jorun Poettering, Handel, Nation und Religion. Kaufleute zwischen Hamburg und Portugal im 17. Jahrhundert, Göttingen 2013. 21 Ebd., 658; Arno Herzig, Die Hamburger Sephardim als Wirtschaftselite im 17. Jahrhundert, in: West Bohemian Historical Review 1/2009, 17–30; Michael Studemund-Halévy, Portugal in Hamburg, Hamburg 2007; Jorun Poettering, Portugiesische Juden und Hamburger. Zwei Ausprägungen migrantischen Unternehmertums in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 58/2013, 163–179. 22 Lindberg, Rise of Hamburg, 660.

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Ein permanenter Schiffsverkehr zwischen dem eigenen Hafen und den niederländischen Hafenstädten sowie die Präsenz immigrierter Kaufleute waren die wesentlichen Anknüpfungspunkte an ein Welthandelssystem, das durch privilegierte Kompanien organisiert wurde. Darüber hinaus entwickelte Hamburg natürlich auch alternative Zugänge zum Überseehandel, zumal die Dominanzpolitik der Generalstaaten der Hamburger Kaufmannschaft ein Dorn im Auge war. 23 So bedurfte es nicht unbedingt der westindischen Kompanien, um Warenhandel mit der Karibik betreiben zu können. Die Hamburger Firma Schimmelmann fand eigene Wege der Beteiligung am Atlantischen System, insbesondere durch Investitionen in Zuckerplantagen auf den Westindischen Inseln in dänischem Besitz. 24 So zeitigte das Interesse am chinesischen Markt auch einen Versuch im Jahr 1731, jenseits des Zwischenhandels der VOC und Amsterdams direkte Handelsbeziehungen nach Ostasien aufzubauen, was zu schwerwiegenden diplomatischen Konflikten führte. 25 Und natürlich dürfen neben den Niederlanden und auch Frankreich nicht das Erstarken des englischen Seehandels und damit die Hamburger Verbindungen über London geringgeschätzt werden. Die dort ansässige deutsche Kaufmannschaft mit zahlreichen Wurzeln in den Hansestädten bildete eine solide Anbindung an Märkte, die von den englischen Kompanien bedient wurden. 26 Vor diesem komplexen Hintergrund ist Hamburgs Beitrag zum Prozess der Aneignung von Kolonialgütern zu sehen. Auf drei Beispiele sei in aller Kürze verwiesen. Über die niederländischen Kontakte fand asiatische Keramik schon früh ihren Weg in die Hansestadt. Im 17. Jahrhundert war die VOC in Ostasien der mit Abstand größte Porzellaneinkäufer aus Europa. 27 Der für Hamburg anfangs wesentliche Import über Lissabon wurde bald von Lieferungen aus Amsterdam abgelöst. Porzellan aus Asien findet sich in Hamburg nicht nur in Auktionsverzeichnissen des 17. Jahrhunderts, sondern auch in Haushalts- und Nachlassinventaren. Die dortigen Angaben entsprechen Grabungsfunden in Stadt und Umland. Porzellan war 23 Ein Teil der älteren, gleichwohl noch relevanten Literatur zur Hamburger Handelsgeschichte in der Frühen Neuzeit befasst sich dezidiert mit den politischen Umständen; siehe v.a. Ludwig Beutin, Nordwestdeutschland und die Niederlande seit dem Dreißigjährigen Kriege, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 32/1939, 105–147. In der jüngeren Forschung bietet einen quellenorientierten Überblick bis zum Dreißigjährigen Krieg: Karl-KlausWeber, Hamburg und die Generalstaaten. Von der Gründung der Republik 1579 bis zu den Anfängen des Dreißigjährigen Krieges aus Sicht niederländischer Quellen, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 88/2002, 43–88. 24 Christian Degn, Die Schimmelmanns im atlantischen Dreieckshandel. Gewinne und Gewissen, Neumünster 2000. 25 Bernd Eberstein, Hamburg-Kanton 1731. Der Beginn des Hamburger Chinahandels, Gossenberg 2008. 26 Margit Schulte Beerbühl, Deutsche Kaufleute in London. Welthandel und Einbürgerung (16601818), München 2007. 27 Grundlegend für den Handel und Konsum von Porzellan und Keramik in Hamburg, auch für den vorliegenden Abschnitt, auf der Grundlage sowohl schriftlicher wie archäologischer Zeignisse ist Annika Martens, Pozellan, Fayence, Majolika. Konsum chinesischer, mediterraner und niederländischer Keramik in den Hansestädten Hamburg und Lüneburg im 16./17. Jahrhundert, Berlin 2012, insb. 193–211.

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also schon früh alltäglicher Bestandteil der vermögenderen Haushalte geworden. Im 18. Jahrhundert fand es noch weitere Verbreitung, nicht zuletzt durch den Anstieg exportorientierter Produktion in China unter dem Kangxi-Kaiser, die wiederum auf die Nachfrage der Ostindienkompanien zurückzuführen war. Gebrauch fanden die Importwaren als repräsentatives Tischporzellan, wie auch zahlreiche Stillleben aus der Zeit belegen. Die mitunter ausgefeilte chinesische Symbolik auf den importierten Porzellanwaren sicherlich für die wenigsten Hamburger Bürger verständlich. Dies änderte jedoch nichts am exotischen Reiz der Produkte, ganz im Gegenteil: Aus den teuren „exotischen“ Prestigeobjekten wurde eine Selbstverständlichkeit der gehobenen Tischkultur – ein Prozess, der mit einer zunehmenden Orientierung an standardisierten Formen und Dekoren einherging. Die Verwendung von Trinkgefäßen aus Porzellan verweist zudem auf andere Konsumgüter aus Übersee, die sich die Hamburger Gesellschaft aneignete. Schaut man auf die Genussmittel Kaffee, Tee oder Schokolade, 28 bei deren zunehmender Beliebtheit im frühneuzeitlichen Europa Hamburg keine Ausnahme bildete, kommt schnell der Zucker in den Blick. Schließlich passte er die von Natur aus eher bitteren Getränke den Vorlieben des europäischen Gaumens an. Gleichzeitig induzierte sein Import ein Zuckergewerbe, das sich spätestens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerade in Hamburg zu einem prosperierenden Wirtschaftszweig aufschwang. 29 Neben den Händlern waren vor allem Zuckersieder Protagonisten auf diesem Feld. Der nötige Wissenstransfer war zuvor durch Immigranten aus Portugal und den Niederlanden sichergestellt worden. Der Rohstoff wurde vornehmlich aus der Karibik und Brasilien bezogen. Diesbezüglich ist es naheliegend, dass zunächst Portugal als Vermittler auftrat; Frankreich folgte im Laufe des 18. Jahrhunderts. Angesichts der engen Kontakte Hamburgs zu niederländischen Warenumschlagplätzen, auf denen javanischer Zucker von der VOC und westindischer Zucker von der WIC gehandelt wurden, ist es jedoch wenig wahrscheinlich, dass dieser Herkunftsmarkt zumindest im 17. Jahrhundert keine Rolle gespielt haben soll – allerdings jenseits des Fokus serieller Quellen. Ein weiterer wichtiger Wirtschaftszweig stellte die Weiterverarbeitung von Textilien dar. Hamburg war im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa ein führendes Zentrum des Leinen- und Kattundrucks. Die Anfänge des Gewerbes sind in den Niederlanden der 1670er Jahre zu verorten und wurden von dort nach Norddeutschland importiert. Folgt man den Admiralitäts- und Convoygeld-Einnahmebüchern, wurden die nötigen Baumwollprodukte vornehmlich aus London importiert. 30 Für die Färbe- und Druckprozesse wurden zudem Farbstoffe und Gummi Arabicum aus Asien und Afrika benötigt. Bei deren Import nach Europa, bei dem der reine Handel 28 Annerose Menninger, Genuss im kulturellen Wandel. Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade in Europa (16.-19. Jahrhundert), Stuttgart 2008. 29 Prange, Handel und Schiffahrt, 48–49; grundsätzlich zum Hamburger Zuckergewerbe im frühen 19. Jahrhundert siehe Astrid Petersson, Zuckersiedergewerbe und Zuckerhandel in Hamburg im Zeitraum von 1814 bis 1834. Entwicklung und Struktur zweier wichtiger Hamburger Wirtschaftszweige des vorindustriellen Zeitalters, Stuttgart 1998. 30 Denzel, Hamburg als Zentrum, 98.

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mit Technologietransfer und Wissenaustausch Hand in Hand ging, 31 handelte es sich um wichtige Geschäftszweige der niederländischen Kompanien, auch wenn die Einnahmebücher England und Frankreich als Hauptherkunftsgebiete verzeichnen, bevor um 1790 die USA die Vormachtstellung übernahmen. Alle hier exemplarisch angesprochenen Produkte haben gemeinsam, dass sie aus Übersee stammten und lange Zeit vorrangig über die Kontakte Hamburgs in die Niederlande den Weg nach Norddeutschland fanden. Somit war auch Hamburg ein Bestandteil des globalen Systems, das von den niederländischen Handelskompanien aufrechterhalten wurde. Gleichzeitig haben diese Produkte gemein, dass sich im späteren 18. Jahrhundert die Geographie ihrer Herkunftsorte verschob und Überseegebiete außerhalb des niederländisch kontrollierten Systems ins Spiel brachten. Aus Hamburger Sicht etablierte sich Frankreich als neuer Vermittler. Es ist sicherlich kein Zufall, dass diese Wachablösung mit dem wirtschaftlichen Niedergang von WIC und VOC einherging. Mit statistischem Material lassen sich die konkreten Ablösungsprozesse leider kaum untermauern. Möglicherweise ist die Forschung zur Geschichte des frühneuzeitlichen Hamburger Überseehandels auf der Grundlage statistischer Materialien bereits an ihre Grenzen gestoßen. Es lohnt sich dennoch, die bestehenden Forschungsdesiderate anzugehen. Schließlich ist offensichtlich, dass die Hansestadt eine wichtige Rolle in den Prozessen spielte, die aus den Importen aus der weiten, fremden Welt etwas „Eigenes“ werden ließen. Entscheidend waren die Netzwerke, in die der Hamburger Handel eingebunden war und welche zukünftigen Analysen vielversprechend erscheinen lassen. 32 Letztendlich waren sie es, die Hamburg bereits vor dem späten 18. Jahrhundert eine globale Position im Welthandel und in den Integrationsprozessen neuer Güter ermöglichten.

31 Jutta Wimmler, The Sun King’s Atlantic. Drugs, Demons and Dyestuffs in the Atlantic World, 1640–1730, Leiden 2017, 39–61. 32 Eine Pionierstudie zu den Netzwerken Hamburger Kaufleute, allerdings nicht mit Bezug auf die Niederlande, sondern mit Konzentration auf Cádiz und Bordeaux liegt bereits vor: Klaus Weber, Deutsche Kaufleute im Atlantikhandel 1680–1830. Unternehmen und Familien in Hamburg, Cadíz und Bordeaux, München 2004. Netzwerkbildung nimmt zudem auch Poettering, Handel, in den Blick.

DIE BIOGRAPHIE DER DINGE Die Godeffroy’schen Ethnographica als Wanderer durch Zeit und Raum Astrid Windus / Andrea Nicklisch Wie Reinhard Wendt in seinem Beitrag erläutert, bildete der Handel mit Kopra den Kern der wirtschaftlichen Aktivitäten der Hamburger Firma „Joh. Cesar Godeffroy & Sohn“ in der Südsee. Seit Johann Cesar VI. Godeffroy ab 1845 die Firmenleitung überwiegend alleine innehatte, umfassten die gehandelten Produkte neben den Hauptimporterzeugnissen Kopra und Kupfer auch Naturalien und Ethnografica. Die Objekte wurden von Kapitänen und Handelsagenten der Firma zunächst eher unsystematisch in der Südsee und Australien gesammelt und weiter nach Hamburg verschickt. Auf diese Weise war eine naturkundlich-ethnographische Sammlung entstanden, die 1860/61 erstmalig von dem Zoologen Eduard Graeffe wissenschaftlich bearbeitet und zu einer Ausstellung zusammengestellt wurde (Fülleborn 1985, S. 8, 7). Sie bildete den Grundstock für das 1861 in einem Speicher im Alten Wandrahm, direkt gegenüber dem Kontorhaus der Firma eröffnete Museum Godeffroy (Scheps 2005, S. 48–49). Mit ihren Sammlungs- und Museumsaktivitäten waren die Godeffroys Teil einer bürgerlichen Bewegung, die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts den Aufschwung der Naturwissenschaften und in dessen Folge auch der Anthropologie und Ethnologie durch die Gründung wissenschaftlicher Gesellschaften und Vereine begleitete und finanziell sowie institutionell unterstützte. Hierzu gehörte auch die Gründung von Museen wie dem Naturhistorischen Museum in Hamburg (1843) (Scheps 2005, S. 39 ff., 45) oder dem Städtischen (Roemer-)Museum in Hildesheim (1845). Inwiefern Godeffroys Sammlungsaktivitäten und die Gründung des Museums aus einem persönlichen wissenschaftlichen Interesse oder dem Bedürfnis heraus erfolgten, anhand von Ethnografica den Menschen in Hamburg und darüber hinaus einen Zugang zum Wissen über fremde Kulturen zu eröffnen, ist nicht geklärt. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass dabei wirtschaftliche Interessen auch eine Rolle spielten. Denn zum einen stieg der Wert „ursprünglicher“ Objekte mit dem fortschreitenden Kulturkontakt der nichteuropäischen Ethnien mit den Europäern und dem Wandel ihrer „traditionellen“ kulturellen Praktiken; 1 zum anderen betrieb

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Eine wichtige Motivation der durch den Evolutionismus und die Kulturkreislehre geprägten Ethnologen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (darunter Adolf Bastian, Leo Frobenius oder Wilhelm Schmidt) war die Suche nach „ursprünglichen“, d.h. durch Kulturkontakt möglichst

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Godeffroy von Beginn an einen lukrativen Handel mit Dubletten (Fülleborn 1985, S. 7f.). Diese zur Klassifizierung von Ethnographica übliche Kategorie umfasste Objekte, die entweder in größerer Zahl in den Museen vorhanden bzw. anderen Objekten der Sammlung typologisch ähnlich waren, aber auch Stücke, die als minderwertig oder bedeutungslos galten (Hoffmann 2012, S. 42). Sie wurden an andere Museen und Privatsammler verkauft. 2 Aufgrund des Handelsschwerpunktes von Godeffroy lag auch der Museumsschwerpunkt auf Ozeanien und Australien. Bereits mit der Öffnung des Museums hatte Godeffroy den ersten von insgesamt sieben fest angestellten Forschungsreisenden, Eduard Graeffe, auf Reisen geschickt, 3 1863 wurde der Naturwissenschaftler Johannes Dietrich Eduard Schmeltz hauptamtlicher Kustos des Museums (Fülleborn 1985, S. 153). Ab 1873 gab das Museum Godeffroy eine wissenschaftliche Zeitschrift („Journal des Museums [Johan Cesar] Godeffroy. Geographische, ethnographische und naturwissenschaftliche Mitteilungen“) heraus, von der bis 1881 bzw. 1910 insgesamt 17 Hefte erschienen. Sie dokumentieren einen Teil der umfangreichen naturwissenschaftlichen und anthropologischen Forschungen, die in Zusammenhang mit den Sammelaktivitäten durchgeführt wurden. Hierzu wurden die Objekte von Hamburg aus an spezialisierte Wissenschaftler mit dem Auftrag verschickt, diese zu analysieren und ihre Ergebnisse in dem Journal zu veröffentlichen. Über die konkreten wissenschaftlichen Ergebnisse hinaus repräsentiert die Zeitschrift eine faszinierende Quelle, um die globalen Netzwerke bzw. Kontakte zwischen indigenen lokalen Akteuren, Sammler/innen, Museen, Universitäten und Wissenschaftler/innen nachzuvollziehen, die an dem Auffinden und Sammeln, dem Transport, der Konservierung, Klassifizierung und Analyse der Objekte beteiligt waren. Die Texte geben Auskunft über den ursprünglichen Gebrauch der Objekte, ihren Weg vom Herkunftsort bis in die europäischen Museen sowie über einzelne Phasen der kulturellen Transformation dieser Gegenstände und ihrer Aneignung durch die Europäer. Die physische „Migration“ der Stücke bedeutete nicht nur ihre Adaption an neue Gebrauchskontexte, sondern auch ihre Inwertsetzung (Kommodifizierung) innerhalb von Ökonomien, die sich von denjenigen der Herkunftsregion grundlegend unterschieden. Die Gegenstände wurden zu einer Ware.

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„unverfälschten“ und „reinen“ Ethnien und ihrer materiellen Kultur. Das schlug sich in den neu entstandenen ethnologischen und anthropologischen Museumssammlungen nieder. Zur Problematik des Begriffs der „Dublette“ vgl. Hoffmann 2012, S. 40ff. Die Forschungsreisenden waren: Eduard Graeffe (Samoa, Fiji, Tonga, 1861–1871), Amalie Dietrich (Queensland, Australien, 1863–1872), Andrew Garret (Fiji, Cook-Inseln, Französisch Polynesien, 1866–1879), Stanislaus Kubary (Karolinen, Samoa, Fiji, Marshall-Inseln, 1869– 1879), Eduard Dämel (New South Wales, Queensland, Australien, 1871–1875), Franz Hübner (Tonga, Bismarck-Archipel, 1875–1877), Theodor Kleinschmidt (Fiji, Bismarck-Archipel, 1875, 1881). Bis auf Dämel, der ausschließlich zu Insekten forschte, sammelten alle Forschungsreisenden sowohl naturkundliche als auch ethnologische Objekte (Fülleborn 1985, S. 8f).

Die Godeffroy’schen Ethnographica als Wanderer durch Zeit und Raum

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Die ethnologische Forschung spricht in Zusammenhang mit diesem Werte-, Gebrauchs- und Bedeutungswandel von Artefakten auch von der „Biographie“ (Kopytoff 2014) oder dem „Itinerar“ von Objekten, um die komplexen Wege sichtbar zu machen, die diese durch Zeit und Raum durchlaufen (Hahn 2015, S. 27). Hinweise auf die Stationen, die die Godeffroyschen ethnographischen Objekte auf ihrem Itinerar zurücklegten, gibt beispielsweise der im Journal des Museums veröffentlichte Aufsatz „Beiträge zur Kenntnis der Fidschi-Insulaner: Die physischen Verhältnisse der Bewohner“ (Heft 4, 1874) des Zoologen Johann Wilhelm Spengel. Spengel war vom Museum Godeffroy beauftragt worden, die von Eduard Graeffe auf den Fijis gesammelten Menschenschädel zu untersuchen: „Während zweier längerer Reisen in den Fidschi-Inseln gelang es Herrn Dr. Gräffe, in den Besitz einer Anzahl von Schädeln zu kommen, eine Aufgabe, die keineswegs leicht ist, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Ein Beweis dafür ist die Thatsache, dass trotz des Cannibalimus des Volkes und trotz der Sitte, die Köpfe der erschlagenen und verzehrten Feinde offen in den Bäumen des Dorfes aufzustellen, Schädel von Fidschi-Insulanern grosse Seltenheit sind. Jeder Schädel repräsentirt [sic] ein Stück der Geschichte des Volkes und der Entführung eines solchen würde bald die blutige Rache folgen. […] Von den durch Herrn Dr. Gräffe nach Deutschland gelangten Schädeln befinden sich augenblicklich im Museum Godeffroy sechs Exemplare. […] Ausserdem wurde ein Schädel an die anatomische Sammlung in Marburg und einer an die zoologische Sammlung in Heidelberg abgegeben, während ein dritter nach Zürich kam […]. Die Herren Prof. Lieberkühn in Marburg und Prof. Pagenstecher in Heidelberg hatten die Freundlichkeit, mir die oben erwähnten Schädel der ihnen unterstellten Sammlungen zur Untersuchung mitzutheilen […]. Meine Hauptaufgabe wird es nunmehr sein, die acht mir vorliegenden Schädel zu beschreiben und die wichtigsten Maasse derselben mitzutheilen. Daran soll sich eine kurze Besprechung der übrigen im Museum Godeffroy befindlichen Skeletttheile schliessen und endlich ein Entwurf eines Gesammtbildes von dem physischen Habitus der Bewohner, dieses […] Insel-Archipels […].“ (Journal des Museums Godeffroy 1873, Heft 4, S. 63/239–64/240).

Die Schädel als „naturkundliche“ Objekte sind nicht nur deshalb interessant und von besonderer politischer Brisanz, weil sie wie wohl kaum eine andere Objektgruppe die Machtverhältnisse zwischen den „forschenden“ Europäern und den „erforschten“, nicht-europäischen und häufig kolonisierten „Anderen“ symbolisieren. Sie geben Auskunft über die „wissenschaftlichen“ Methoden und den Stand der anthropologischen Forschung im Europa des 19. Jahrhunderts, zu deren Standardrepertoire die Vermessung, Klassifizierung und Archivierung menschlicher Knochen zählten, und die eine der Grundlagen des wissenschaftlichen Rassismus und der späteren „Rassenforschung“ bildete. Aufgrund ihrer Herkunft dienten die Schädel von den Fijis auch als „Nachweis“ für die Existenz anthropophagischer Praktiken. Zusammen mit weiteren Ethnographica wie etwa Keulen, die ebenfalls als Teil dieser Praktiken klassifiziert wurden, gingen sie in europäische Museumssammlungen ein. In diesen Objekten, ihrer Klassifizierung und musealen Inszenierung materialisierte sich der seit der Antike das europäische Denken prägende Diskurs von dem exotischen Anderen als Kannibalen. Sie sind Teil der europäischen „Erfindung“ der Südsee, die im Spannungsfeld der Vorstellungen von der Region als einem romantischen Sehnsuchtsort (s. Beitrag von R. Wendt in diesem Band) bzw. Land von Menschenfressern imaginiert wurde.

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Die von Graeffe auf Fiji unter ungeklärten Bedingungen gesammelten Schädel wurden aus ihren jeweiligen Bedeutungskontexten gelöst und vor ihrer Verschiffung mit Etiketten versehen, die „Informationen“ zu ihrer Herkunft enthielten. Zwei davon waren als „Ueberrest einer kannibalischen Mahlzeit“ klassifiziert – eine Vermutung, der Spengel aufgrund seiner Untersuchungen nur in einem der beiden Fälle zustimmte (Journal des Museums Godeffroy 1873, Heft 4, S. 67/243). Sechs Schädel verblieben im Museum Godeffroy, die anderen gingen, vermutlich klassifiziert als „Dubletten“, an Sammlungen in Marburg, Heidelberg und Zürich. Zum Zweck der wissenschaftlichen Analyse wurden acht der neun Schädel in einem weiteren Schritt an Johann Wilhelm Spengel versendet, um von dort aus in ihrem neuen Status als wissenschaftlich klassifizierte Objekte zurück in die Sammlungen zu gelangen und dort inventarisiert und ggf. in Ausstellungen inszeniert zu werden. Auf diese Weise veränderten sich nicht nur die Bedeutung der Gegenstände und das mit ihnen verbundene Wissen grundlegend in Art und Inhalt. Auch der Charakter der Objekte als Waren wird auf diesem kurvenreichen Weg besonders deutlich, denn auf jeder Station erfuhren sie eine neue kulturelle und ökonomische Inwertsetzung. Drei weitere Beispiele für den zwischen Waren und kulturellen Bedeutungsträgern oszillierenden Charakter ethnographischer Objekte, die ebenfalls direkt mit den Handels- und Sammlungsaktivitäten Godeffroys zusammenhängen, finden sich im heutigen Bestand des Roemer- und Pelizaeus-Museums, wohin sie wahrscheinlich als Dubletten gelangten. Nach dem Konkurs des Handelshauses am 1. Dezember 1879 mussten die von Godeffroy beauftragten Forschungsreisenden ihre Tätigkeiten einstellen, obwohl das Museum bereits vor dem Bankrott aus dem Vermögen herausgelöst worden war. Der Museumsbetrieb in Hamburg konnte nicht wie bisher weitergeführt werden. Da zudem die Häuser am Alten Wandrahm ab 1886 zwecks Neubau der Hamburger Speicherstadt abgerissen werden sollten, wurden die Objekte nach langen Verhandlungen verkauft (Museum Godeffroy 2017). Der ethnologisch-anthropologische Teil der Sammlung ging 1885 geschlossen an das Völkerkundemuseum Leipzig (Scheps 2005, S. 217). Der letzte Kustos des Museums Godeffroy, C. A. Pöhl, erwarb die verbliebenen Dubletten und eröffnete damit 1889 eine eigene Naturalien- und Ethnografica-Handlung in Hamburg. Aus diesem Bestand, aus dem auch die völkerkundlichen Museen von Dresden, Wien und Leiden Ethnografica ankauften, gelangten weitere Objekte nach Hildesheim. Bereits im Jahr 1866 schrieb Friedrich Adolph Roemer an seinen jüngeren Bruder Hermann, den Begründer des Museums: „Solltest du Einkäufe bei Godefroys machen, so kaufe nun gleich für einige hundert Thaler u. Sachen, welche die größere Masse des Volkes interessiren.“ (Friedrich Adolph Roemer 08.12.1866) 4. Allerdings folgte Hermann dem Rat seines Bruders zunächst nicht, Hinweise auf einen Ankauf ethnographischer Dubletten finden sich erstmals in einem Bericht des „Vereins zur Kunde der Natur und der Kunst im Fürstenthum Hildesheim und in der

4

Friedrich Adolph Roemer an Hermann Roemer, 08.12.1866. Stadtarchiv Hildesheim, Bestand 345 Nr. 23.

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Stadt Goslar“ (den Hermann Roemer ebenfalls mit gegründet hatte) über den Zeitraum vom 1. Januar 1877 bis zum 1. Januar 1880: „Zu Ankäufen bot hier vor allem das Museum Godeffroy in Hamburg eine günstige Gelegenheit, da dasselbe die größte Sammlung ethnographischer Gegenstände von den Südsee-Inseln besitzt.“ (Verein zur Kunde der Natur und der Kunst im Fürstenthum Hildesheim und in der Stadt Goslar 1877–1880, S. 7f.). Konkrete Informationen über einen Teil der Käufe in diesem Zeitraum liefert eine von Johannes Schmeltz abgezeichnete Rechnung des Museums Godeffroy über den Verkauf von 59 Objekten (darunter 45 aus Ozeanien) an das Städtische (Roemer-)Museum vom 26. September 1878 (Museum Godeffroy 26.09.1878, S. 1–4). Durch die Anmerkungen zur Herkunft der Objekte im Inventarbuch des Museums können heute insgesamt 102 Gegenstände mit dem Museum Godeffroy in Verbindung gebracht werden. Alle drei hier näher betrachteten Objekte aus Ozeanien befinden sich zurzeit im Magazin des Museums und waren in der Ausstellung „Paradiese der Südsee. Mythos und Wirklichkeit“ (2008/09) ausgestellt. Es handelt es sich um eine Axt (im Inventarbuch eingetragen als „Tóhi-ohn – Axt aus Tridacna, geschäftet, Nukuor“, Inv.-Nr. V 9) 5, ein Tatauiergerät („Tatauierinstrument mit 13 Zinken Griff 18 cm lang, Samoa“, Inv.-Nr. V 50) 6 sowie ein Würdezeichen von den Osterinseln (Inv.Nr. V 62) 7, das im Inventarbuch mit einem ausführlichen Text versehen wurde: „Hoheitszeichen, plattgedrückt, 1,50 m lang, aus hartem braunem Holz, unten am breitesten, sieben cm, nach oben sich allmählich verschmälernd. Das Ende auf beiden Flachseiten in ein menschliches Gesicht auslaufend, das über die Kanten etwas vorkragt. Pupillen der Augen aus Obsidian, der sie umgebende weiße Ring aus Muschel (vgl. Geiseler „Osterinsel“ S. 32 u. S. 48 No 2) Hoheitszeichen der Häuptlinge bei besonderen Gelegenheiten getragen. (vgl. Katalog des Mus. Godeffroy No 2123 S. 237, Tafel XXVI 2. Osterinsel (Rapanui)“ (Roemer-Museum ab 1844b, S. 9; Roemer-Museum ab 1844a, S. 15).

Anlässlich der Ausstellung 2008/2009 wurden den Besuchern im Katalog weitere Informationen zu den Gegenständen gegeben, z.B. ihre indigenen Bezeichnungen, „ua“ für das Hoheitszeichen, „au“ für das Tatauiergerät (Castro et al. 2008, S. 225, 234), Ausführungen zu ihrer Materialität, zu Technologien und kulturellen Bedeutungszusammenhängen, in die die Objekte eingebunden waren. So wird im Katalog die materielle Beschaffenheit der Axt darauf zurückgeführt, dass auf den Koralleninseln Mikronesiens die Schalen der Riesenmuschel (Tridacna gigas) als Ersatz für fehlendes Gestein dienten (Castro et al. 2008, S. 210). Die diesbezüglichen Informationen des für Godeffroy tätigen Sammlers Stanislaus Kubary, der in seinem

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In der Erstausführung des Inventarbuchs wurde für die Herkunft nachträglich „Karolinen“ hinzugefügt. Zu Vorbesitzer und Erwerbsart ist vermerkt „Mus. G. Kauf“ sowie die Nummer „M.G. 652“ (Roemer-Museum ab 1844a, S. 2; Roemer-Museum ab 1844b, S. 1). Das Objekt wurde laut Inventarbuch von C. A. Pöhl käuflich erworben. (Roemer-Museum ab 1844b, S. 7; Roemer-Museum ab 1844a, S. 12). Die Erstausführung des Inventars vermerkt zu Vorbesitzer und Erwerbungsart des Objekts „C. A. Pöhl, Mus. G. Kauf“; in der Zweitausführung ist an dieser Stelle nur „C. A. Pöhl Kauf“ notiert (Roemer-Museum ab 1844b, S. 9; Roemer-Museum ab 1844a, S. 15).

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Bericht „Die Palau-Inseln in der Südsee“ (1873) Äxte mit Tridacna gigas-Klingen beschreibt und abbildet, bestätigen diese Information. Sie verweisen aber auch auf einen charakteristischen Aspekt ethnologischen Sammelns, der in dem Objekt selbst und seiner Beschreibung nicht sichtbar ist: Die Auswahl von Gegenständen, die als „authentischer“ materieller „Beleg“ einer traditionellen Kultur gelten und die zum Zeitpunkt des Sammelns bereits nicht mehr in derselben Weise gebraucht wurden. So schreibt Kubary, dass vor dem Kontakt mit den Europäern auf Palau Äxte mit einem Blatt aus der Riesenmuschel die einzigen Werkzeuge gewesen seien. Während seines eigenen Aufenthaltes auf Palau seien diese jedoch u.a. durch „die große amerikanische Axt“ ersetzt worden (Kubary 1873–1910, S. 234). Kubary sammelte aber nicht die modernen Äxte, sondern die aus der Vorkontaktzeit. Diese Objekte erzeugten in ihrer musealen Inszenierung in Deutschland und Europa ein verzerrtes Bild der Gesellschaft auf Palau. Denn Besucher, die seine Schriften nicht gelesen hatten, bekamen durch die Auswahl und Präsentation der TridacnaAxt den Eindruck, die Gesellschaft auf Palau sei statisch und hätte sich durch den Kontakt nicht verändert. Damit wurde eine Ungleichzeitigkeit der ozeanischen Kulturen im Verhältnis zu den Gesellschaften Europas konstruiert, die die zeitgenössischen evolutionistischen Theorien menschlicher Entwicklung zu bestätigen schien. Auch das samoanische Tatauiergerät erfuhr durch seine „Aneignung“ mittels Sammlung und Musealisierung Veränderungen in seiner Bedeutung, allerdings nicht durch die Folklorisierung der Herkunftskultur, sondern durch die Verwendung klassifikatorischer Kategorien, die Teil europäischer Epistemologien sind. So bezeichnet der Katalogtext von 2008 das Tatauieren auf Samoa als bedeutende Kunstgattung und erläutert, dass die Farbe mit den spitzen Zinken des Werkzeugs unter die Haut gebracht wurde (Castro et al. 2008, S. 225). Dieser Zusammenhang zwischen Kunst und Tatauieren spiegelt jedoch eher einen europäischen Blick wider. Kubary hatte in dem Bericht über seine Forschungen auf Samoa, der in „Globus. Illustrierte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde“ 1882 veröffentlicht wurde, die Hintergründe dieser Praktik erläutert. Bei dem Vorgang des Tatauierens handelt es sich um einen Übergangsritus für Jungen (rite de passage), die in die Gemeinschaft der Männer aufgenommen werden sollen. Die äußerst schmerzhafte Prozedur zöge sich, so Kubary, über mehrere Monate hin. Am Ende stehe die Anerkennung der Initiierten als vollwertige männliche Mitglieder der samoanischen Gesellschaft (Kranz 2005, S. 78ff.). Das Tatauiergerät stellt also ein Objekt dar, das in Zusammenhang mit rituellen Praktiken eingesetzt wurde und erst im Zuge seiner Klassifizierung für den europäischen Museumskontext zum Werkzeug einer Kunstproduktion wurde, die keine rituelle Funktion mehr hatte. Das Würdezeichen von Rapa Nui attestiert seinem Träger einen hohen Rang und wird als mächtige Waffe bezeichnet (Castro et al. 2008, S. 234). Dies hing auch mit seinem Material zusammen, denn durch die Ende des 19. Jahrhunderts bereits vollständige Entwaldung war Holz auf Rapa Nui ein extrem wertvolles Material, das nur für die Elite zugänglich war und in zeremoniellen Zusammenhängen zum Einsatz kam. Auch an diesem Objekt wird, wie an Axt und Tatauiergerät, deutlich, dass das mit Artefakten verbundene Wissen nicht immer lesbar für die heutigen Benutzer bzw. Besucher ist. Denn es ist die Art und Weise des Gebrauchs, der den

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Gegenständen ihre jeweilige – praktische und symbolische – Bedeutung zuschreibt und der die Artefakte zum Medium der Interaktion zwischen Mensch und Umwelt macht (Hahn 2014, S. 140, S. 146 ff.). Diese Zuschreibung kulturellen „Sinns“ an Objekte ist engstens verbunden mit einem weiteren Faktor, der am Beispiel der Godeffroyschen Ethnografica bestens nachvollzogen werden kann: dem Prozess der Kommodifizierung. Denn bevor Axt, Tatauiergerät und Würdezeichen zu musealen Bedeutungsträgern werden konnten, wurden sie in verschiedenen Handelskontexten in ganz unterschiedlicher Weise in Wert gesetzt. Ihre Herstellung erfolgte entweder durch die Nutzer selbst oder durch spezialisierte Handwerker, die den Gegenstand für die Nutzer produzierten und ihn damit erstmals zu einer Ware innerhalb eines lokalen bzw. regionalen Tausch- oder Handelskreislaufs machten. Durch den Erwerb dieser Objekte durch die von Godeffroy beauftragten Forschungsreisenden traten diese in neue Warenkreisläufe ein. Sie wurden ihrem Gebrauchswert enthoben und fungierten nunmehr als Symbole für eine abwesende Welt und/oder als ästhetische Impulsgeber (vgl. Thiemeyer 2014, S. 230f). Der Weg der Objekte von Ozeanien nach Hamburg implizierte eine mehrfache Neubestimmung ihres Wertes innerhalb unterschiedlicher Ökonomien (vgl. Kopytoff 2014, S. 71 ff.). Im Hamburger Museum wurden die gesammelten Stücke dann klassifiziert in Ausstellungsstücke und sogenannte Dubletten. Sie durchliefen einen Prozess der Unterscheidung, bei dem ein Teil im Museum Godeffroy musealisiert, die übrigen als Ware mittels gedruckter Dublettenkataloge weiterverhandelt und in anderen Museen und Sammlungen inventarisiert wurden. Trotz ihrer Teilnahme an ganz unterschiedlichen Ökonomien der Kommodifizierung war der Status der ethnographischen Gegenstände als Ware zeitlich begrenzt (vgl. Kopytoff 2014, S. 87; Hahn 2014, S. 42) – sowohl in ihren Herkunftskontexten wie auch während ihrer späteren Bestimmung als Sammlungsgegenstände. Besonders öffentliche Museumsobjekte erhalten, einmal im Museum angekommen und inventarisiert, nie wieder ihren Status als Ware, da sie von der Warenzirkulation abgetrennt wurden (Thiemeyer 2014, S. 230). Auch ihre „Lebenszeit“ beträgt, unter anderem durch die erhaltenden Maßnahmen des Museums, zum Teil ein Vielfaches nicht-musealisierter Stücke (Thiemeyer 2014, S. 230f.; Hennig 2014, S. 236). Alle beschriebenen Objekte hatten im Laufe ihrer Reise durch Raum und Zeit für eine gewisse Zeit den Status einer Ware und variierten im Wert entsprechend ihres jeweiligen Gebrauchskontextes. Sie waren Alltags- und Zeremonialgegenstände in ihren Herkunftsgesellschaften und als Ausstellungsobjekte in Museen Repräsentanten einer oftmals bereits vergangenen Herkunftskultur oder einer „Kunst“, die innerhalb ihres sozio-kulturellen Kontextes niemals existierte. Für das historische Arbeiten stellen Ethnographica wertvolle Quellen dar. Sie ermöglichen eine kritische Bewertung von Konzepten, die Transkulturation als linearen Vorgang betrachten, und werfen ein neues Licht auf das Wirken globaler Akteure und Handelsnetzwerke, wie sie in der Geschichte des Handelshauses Godeffroy geradezu idealtypisch repräsentiert sind.

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LITERATUR Castro, Inés de / Lembke, Katja / Menter, Ulrich (2008): Paradiese der Südsee. Mythos und Wirklichkeit: Katalog zur Sonderausstellung. Mainz: Von Zabern. Friedrich Adolph Roemer (08.12.1866): Brief an Hermann Roemer. Stadtarchive Hildesheim, SAHI34500023. Fülleborn, Susanne (1985): Die ethnographischen Unternehmungen des Hamburger Handelshauses Godeffroy. Unveröffentlichte Magisterarbeit. Hamburg. Hahn, Hans Peter (2014): Materielle Kultur. Eine Einführung. 2., durchgesehene Auflage. Berlin: Dietrich Reimer (Ethnologische Paperbacks). Hahn, Hans Peter (2015): Dinge sind Fragmente und Assemblagen. Kritische Anmerkungen zur Metapher der „Objektbiographie“. In: Dietrich Boschung, Patric-Alexander Kreuz und Tobias L. Kienlin (Hg.): Biography of objects. Aspekte eines kulturhistorischen Konzepts. Paderborn: Wilhelm Fink (Morphomata, Band 31), S. 11–33. Hennig, Nina (2014): Objektbiographien. In: Stefanie Samida, Manfred K.H. Eggert und Hans Peter Hahn (Hg.): Handbuch materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 234–237. Hoffmann, Beatrix (2012): Das Museumsobjekt als Tausch- und Handelsgegenstand. Zum Bedeutungswandel musealer Objekte im Kontext der Veräusserungen aus dem Sammlungsbestand des Museums für Völkerkunde Berlin. Münster: LIT Verlag. Journal des Museums [Johan Cesar] Godeffroy. Geographische, ethnographische und naturwissenschaftliche Mitteilungen. Erster Band (bestehend aus den Heften 1, 2 und 4 der ganzen Serie.) Mit 35 Tafeln und 8 Holzschnitten. Herausgegeben unter Mitwirkung von Dr. R. [Rudolph] Bergh, L. Friedrichsen, Dr. E Gräffe, Dr. A. Günther, Dr. A. von Krempelbuber, J. Kubary, Dr. Chr. Luerssen, Dr. A. Milne Edwards, G. Semper, J.W. Spengel und O. N. Witt. Hamburg, L. Friedrichsen & Co., Land- und Seekartenhandlung. Geographische und nautische Verlagshandlung. 1873/74. Heft 4, 1873, S. 63/239–64/240. Kopytoff, Igor (2014): The cultural biography of things: Commoditization as process. In: Arjun Apadurai (Hg.): The social life of things. Commodities in cultural perspective. Cambridge: Cambridge University Press 2014, S. 64–91. Kranz, Helene (Hg.) (2005): Das Museum Godeffroy. 1861–1881. Naturkunde und Ethnographie der Südsee. Jenisch-Haus, Hamburg, 15. November 2005 bis 14. Mai 2006. Hamburg: MareBuchverlag. Kubary, Johann Stanislaus (1873–1910): Die Palau-Inseln in der Südsee. In: Journal des Museum Godeffroy: Geographische, ethnographische und naturwissenschaftliche Mitteilungen, Bd. 1, Heft 4. Hamburg: Friederichsen, S. 177–238. Museum Godeffroy (26.09.1878): Rechnung über Ethnographika vom Museum Godeffroy Hamburg an das Städtische (Roemer)-Museum Hildesheim. Statdtarchiv Hildesheim, SAHI7400460004. Museum Godeffroy (2017). Online verfügbar unter https://de.wikipedia.org/ wiki/ Museum_Godeffroy, zuletzt aktualisiert am 25.06.2017, zuletzt geprüft am 01.08.2017. Roemer-Museum (ab 1844a): Katalog der Völkerkundl. Sammlung. 12414. Hildesheim (1.2). Roemer-Museum (ab 1844b): Katalog der Völkerkundl. Sammlung. 13437. Hildesheim (1.1). Scheps, Birgit (2005): Das verkaufte Museum. Die Südsee-Unternehmungen des Handelshauses Joh. Ces. Godeffroy & Sohn, Hamburg und die Sammlungen „Museum Godeffroy“. KelternWeiler: Goecke & Evers.

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Thiemeyer, Thomas (2014): Museumsdinge. In: Stefanie Samida (Hg.): Handbuch materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. Stuttgart, Weimar: Verlag J. B. Metzler, S. 230– 233. Verein zur Kunde der Natur und der Kunst im Fürstenthum Hildesheim und in der Stadt Goslar (1877–1880): Bericht des Vereins zur Kunde der Natur und der Kunst im Fürstenthum Hildesheim und in der Stadt Goslar. Hildesheim: Gebr. Gerstenberg, 01.01.1877–01.01.1880.

ON THE PIG’S BACK 1 Subaltern Imperialism, Anti-colonialism and the Irish Rise to Globalism 2 Hiram Morgan This essay aims to explain how, in spite of a terrible history, Ireland and more particularly the Irish have managed to succeed in the modern world. In overcoming the vicissitudes of war, famine and exile, the Irish gained thereby a spirit of resistance, a social conscience and an international outlook. Since the colonization Ireland sustained was an anglicising one and a prelude to Britain and America’s imperial projects, it also modified the Irish sufficiently to enable them as individuals and families to take full and knowing advantage of this incipient globalization. It was not a question of being the ‘most oppressed people ever’ but rather of being the most resistant, most resilient and often the most ruthless. The Irish were not passive victims; as either survivors or the offspring and descendants of survivors, they had opportunities to adapt or fight back and sometimes both. Far from dwelling on victimhood for its own sake, they made victimhood an important part of their consciousness-raising historical narrative, a means not only of conferring agency on subsequent generations but also of empathizing and finding common cause with others in like circumstances. In this regard Anthony Gidden’s theory of Structuration is useful in solving the paradoxical story of Irish success. It is attuned to the constraints of history and geography and allows agents the possibility of reflexive, discursive and practical consciousness. 3 In the first millennium Ireland was left alone by the Romans and managed to fend off the Vikings. However it was conquered and colonized first in the middle ages and then again in the early modern period. Two periods of penetration, each of about 150 years, radically altered the country; the first was by the Anglo-Normans beginning in 1169, the second was by the New English starting in 1534. At 1 2

3

‘On the pig’s back’ is an Irish proverb about prosperity but here it also serves as a reference to imperialism. Earlier versions of this paper were given in Cologne, Cambridge, Delhi and Madrid. This essay is dedicated to the memory of my friend, Sir Christopher Bayly, Professor of Imperial and Naval history at Cambridge. For my original ruminations on this subject see ‘Unwelcome heritage: Irish involvement in British empire-building’, History of European Ideas, 19/4-6 (1994), 619-25. I also wish to thank Piaras Mac Éinrí, Department of Geography, UCC and Jim Smyth formerly of the Department of Sociology QUB for their comments and ideas in completing this paper. Anthony Giddens, The Constitution of Society: Outline of the Theory of Structuration (Berkeley, CA, 1986).

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its height the Anglo-Norman conquest controlled two thirds of the island – building castles, establishing domain agriculture, bringing in English settlers and introducing the Common Law. Beginning in 1315 with the Bruce Invasion there was a sustained period of Irish revival during which the colony contracted to the Pale (the defended area around Dublin) and many settlers ‘Gaelicized’, accepting the native language and culture as their own. In the second phase under the Tudors and Stuarts the conquest of Ireland was completed, driven on by state strategic and individualistic economic reasons, and consolidated by the large-scale Munster, Ulster and Cromwellian plantations. These introduced not only a new wave of English-speaking settlers but also a dominant minority differentiated by the Protestant religion. Ireland was England’s first colony and English imperialist ideology was first constructed with respect to the Irish. The greatest misrepresentation of the Irish was undertaken at the outset by the Welsh-Norman churchman, Giraldus Cambrensis. This was to justify the actions of his relatives who led the conquest and the ambitions of the centralizing Papal church that licensed the sovereign claims of the English crown. His writings mixed Roman ideas of barbarism and Gregorian reform views of Christianity. As a result the Irish were depicted as nomads who did not cultivate the land, as too ignorant and permissive to be proper Catholics and as being too perverse to exercise sovereignty. 4 Capitalism and Protestantism strengthened this characterization in printed propaganda during the second phase of conquest. In 1572 Sir Thomas Smith proclaimed Ireland as an under-populated land ripe for colonization by the younger sons of England. 5 Edmund Spenser in his View of the Present State of Ireland (1596) claimed that the Irish could not be civilized because they were allegedly descended from the Scythians, the most barbarous people of the ancient world, and advocated a policy of deliberate starvation to reduce the Irish and their lords to submission.6 In 1610 Sir John Davies’ Discovery of the True Causes announced the completion of the conquest of Ireland as a triumphant subordination of native law and custom and in 1616 published the case law establishing it as a precedent for legal imperialism elsewhere. 7 The outbreak of the 1641 rebellion appeared to prove the Irish to be irredeemable and part of an international Popish conspiracy against England’s elect nation. Sir John Temple’s wildly exaggerated History of the Irish rebellion (1646) embodied this thinking and helped justify the excesses of Oliver Cromwell when he declared after the fall of Drogheda (1649): I am persuaded that this is a righteous judgment of God upon these barbarous wretches, who have imbrued their hands in so much innocent blood; and that it will tend to prevent the effusion 4 5 6 7

Giraldus Cambrensis, The History and Topography of Ireland [Topographia Hiberniae], Trans. John O’Meara (Portlaoise, 1982), 100–113. See Hiram Morgan, ‘The colonial venture of Sir Thomas Smith in Ulster, 1571–75’, Historical Journal, 28/2 (1985), 269–71. See Edmund Spenser, A View of the State of Ireland, edited by Andrew Hadfield & Willy Maley (Oxford, 1997); Andrew Hadfield, ‘Briton and Scythian: Tudor Representations of Irish origins’, Irish Historical Studies, 28 (1993), 390–408. Hans S. Pawlisch, Sir John Davies and the Conquest of Ireland: A Study in Legal Imperialism (Cambridge, 1985).

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of blood for the future. Which are the satisfactory grounds to such actions, which otherwise cannot but work remorse and regret. 8

Although the Irish were subject to colonization, they were never – because of history and geography – archetypal victims of colonialism. Ireland in the European periphery was a long established Christian country, whose missionaries had contributed significantly to the development of Christianity in Northern Europe after the collapse of the Roman empire. Even Spenser later admitted: “it is certain, that Ireland hath had the use of letters very anciently, and long before England.” 9 Being on the edge of Europe, the Irish had nowhere to retreat when the Normans arrived and, like the Visigoths in the mountains of Asturias and Cantabria after the Moorish conquest of Spain, they mounted a resistance and eventually a reconquest. Militarily the Irish lords were strengthened by the addition of heavy infantrymen – Galloglasses from the Highlands and Islands of Scotland – who were given land in lieu of service and thereafter a steady stream of seasonal mercenaries known as Redshanks. The Irish also thought strategically, linking up with foreign allies at odds with England. In the first instance they appealed to the Bruce kings of Scotland who were then fighting to regain their own independence from the English. The Irish also took this opportunity to fight back ideologically harking back to the papal grant to Henry II in 1155. 10 The foundational document in this regard was the ‘Remonstrance of the Irish Princes’ sent by Domhnall Ó Néill to Pope John XXII in 1317. He argued that far from civilizing Ireland, English control had over the intervening period destroyed its society, religious institutions and very moral fabric in a wave of death, devastation and deception. In effect the conquest had created the very barbarism it was supposedly intended to reform. 11 The Irish wanted the Pope to appoint a new king of their own blood, preferably of course Edward Bruce, the brother of Robert who had recently arrived with an army. Though his expedition was eventually defeated in 1318, a significant dent had been made in English domination of Ireland. This was a powerful demonstration of agency. The Irish were Europeans of the periphery. Their lords, in diplomatic contact with the Papacy which continued to exercise authority over ecclesia inter Hibernicos, were able to mount arguments rooted in canon law, natural law and just war theory. This was even more the case in the final conquest phase during the reformation period. When after England adopted Protestantism, Ireland became strategically important not only to Rome but to other Catholic powers. The Irish faced with a renewal of the English pressure had a passing interest in Scotland in the late 1530s and early 1540s and France in 8

Thomas Carlyle, Oliver Cromwell’s letters and speeches: including the supplement to the first edition (London, 1868), I, 381-5, letter LXXI. 9 Spenser, View, 47. 10 This 1155 Papal grant was known as ‘Laudabiliter’ – see E. Curtis (ed.), Irish Historical Documents, 1172–1922 (London, 1968), pp.17–18; A.J. Duggan, ‘The power of documents: the curious case of Laudabiliter’ in B. Bolton & C. Meek (ed.), Aspects of Power and Authority in the Middle Ages (Turnhout, 2007), 251–270. 11 See this document at http://celt.ucc.ie/published/T310000-001/.

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the 1550s but mainly their appeal efforts were directed towards Spain, first to Charles V and then to Philip II and Philip III. Bishop Fitzgibbon of Cashel during the first Desmond revolt offered the crown of Ireland to Philip II but the king provided no assistance to Fitzmaurice leading the action. 12 The Pope supplied Fitzmaurice with troops to stage the second Desmond revolt and sent reinforcements in 1580. Philip allowed these expeditions to pass through his territories to annoy Queen Elizabeth but the result was the destruction and confiscation of large tracts of Munster. When Tudor conquest reached its climax, O’Neill and O’Donnell requested Spanish military support and the designation of a Habsburg prince “who will not in the least disdain to rule over us, but also to be among us and to rule and advise our people with kindness and wisdom” 13. However the Spanish military assistance came too little and too late at Kinsale in 1601 and furthermore the Pope was against any transfer of sovereign that might increase Spanish power. In the course of a war lasting nine years the Irish leader Hugh O’Neill sent a remarkable proclamation to the Catholic descendants of the Norman Conquest which turned the rhetoric of English colonialism on its head: I will employ myself to the utmost of my power in their defence and for the extirpation of heresy, the planting of the Catholic religion, the delivery of our country of infinite murders, wicked and detestable policies by which this kingdom was hitherto governed, nourished in obscurity and ignorance, maintained in barbarity and incivility and consequently of infinite evils which are too lamentable to be rehearsed. 14

Also O’Neill represented an Irishman at his most dangerous, a new archetype which was to echo down the centuries. This type of assimilated Irishman remained the ‘Other’, capable of infinite ‘treachery’, ‘betrayal’ and ‘treason’, knowing the metropolis not only better than the metropolis knew the ‘Other’ but better than the metropolis knew itself. Besides the Irish were to all intents and purposes physically indistinguishable for the English and other Europeans! Even though this rhetoric combined faith and fatherland, it awaited the aftermath of the 1641 rebellion to see the native Irish and the Old English join together in the Confederation of Kilkenny to provide representative self-government over large parts of country. Its institutions received recognition from Catholic countries abroad but the arrival and influence of Rinuccini, the Papal nuncio, over its supreme council caused it to fracture before the entry of Cromwell’s New Model Army. The Irish were no slouches either when it came to learning the lessons of the Military Revolution. Following the shipwreck of the Spanish Armada in Ireland in 1588, Hugh O’Neill revolutionized the armament and tactics of Irish soldiers. Firepower and discipline won the battles of Clontribret and the Yellow Ford – he was to the annoyance of the English known through Christendom as ‘the great Prince O’Neill’ 12 J.J. Silke, Ireland and Europe, 1559–1607, Irish History Series no.7 (Dundalk, 1966). 13 Quoted from Hiram Morgan, Tyrone’s Rebellion: the outbreak of the Nine Years War in Tudor Ireland (Royal Historical Society, 1993), 210. 14 Quoted from Hiram Morgan, ‘Power and propaganda in Hugh O’Neill’s connection with Europe’ in Thomas O’Connor & Mary Ann Lyons (ed.), Awakening Irish Identities: The Ulster Earls in Baroque Europe (Dublin, 2010), 29.

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– but his troops lacked siege equipment and adequate cavalry which proved serious shortcomings at Kinsale. 15 In the 1640s the Irish veterans returned from the continent to command the Confederate armies. These included Owen Roe O’Neill, Thomas Preston, Gerard Barry and Hugh Dubh O’Neill whose defence of Clonmel made an ass of Cromwell. 16 Although the English conquest was a part of their wider Transatlantic expansion, the Irish were not killed off by new diseases like indigeneous peoples in the New World; on the contrary the wet conditions in Ireland proved an adverse disease environment for newly arrived foreigners, especially their armies. 17 Furthermore and ironically the potato introduced via Spain from the New World was already by the middle of the seventeenth century helping to sustain the native population on marginal lands. 18 None of these Irish actions or occurences were unique – recent scholarship merely points to them being peripheral reflections of general European developments. Native Irish, later distinguished as Irish Catholics, had fought back repeatedly and had attracted significant foreign alliances but by 1660 the country was thoroughly colonized and increasingly anglicised. After a further defeat in Williamite War of 1689–91, the Catholics held only 14% of the land in Ireland by 1703 and were subject to penal laws designed to limit their civil rights. 19 Although this period of Protestant Ascendancy saw Ireland’s access to the burgeoning British empire restricted by the English parliament’s Navigations Acts, the inhabitants of Ireland were able to take advantage of overseas opportunities not those opened up by Britain but other European countries as well. Though a colonized people from a colonized country, Irish of all sorts had as a result of European imperialism the potential of the global agency. The Irish – though later nicknamed ‘the blacks of Europe’20 – were the required colour (white) and the required religion (Christian). They had access to education if not at home or in England, then at Catholic colleges and universities on the continent. Though most of those going overseas were unlikely to have assets in land, they did have access to European technology and capital. Importantly – because of being disadvantaged at home either by penal legislation or, if Protestant, by the fact the metropole treated Ireland as a colony – they had ambition and need of achievement. Abroad as white Christians they could make use of state supports provided by imperial powers and they had besides by dint of their 15 See James O’Neill, The Nine Years War (1593–1603): O’Neill, Mountjoy and the military revolution (Dublin, 2017). 16 See R Loeber & G. Parker, ‘The military revolution in seventeenth century Ireland’ in J. H. Ohlmeyer, ed., Ireland from independence to occupation, 1641–60 (Cambridge, 1995), ch.1. 17 Patrick Logan, ‘Pestilence in the Irish wars: the early phase’, Irish Sword, 7 (1966), 279–90. 18 Tomás O’Riordan, The introduction of the Potato into Ireland, History Ireland, 9/1 (2001), 27– 31; Austin Bourke, The Visitation of God?: the potato and the Great Irish Famine (Dublin, 1993), ch.1. 19 ‘Land owned by Catholics, 1641, 1688, 1703 by counties’ in T.W. Moody, F.X. Martin & F.J. Byrne, A New History of Ireland (Oxford, 1984), 9 (Maps, Genealogies and Lists), 57. 20 Mostly famously in the 1991 film ‘The Commitments’ (Screenplay, Roddy Doyle), where Jimmy Rabbitte states ‘Do ye not get it, the Irish are the Blacks of Europe, and Dubliners are the Blacks Ireland and the Northside Dubliners are the Blacks of Dublin.’

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own colonization what ultimately became the world language. These abilities, opportunities and structures provided the aspirational Irish with agency abroad. Although the conquest and colonization of Ireland has been much studied, only recently has the role of the Irish in imperialism overseas begun to be seriously scrutinized. There had been important revisionist work – Stephen Howe’s Ireland and Empire 21 and in particular the work of Donald Akenson who has delivered debunked a number of myths in If the Irish ran the World and The Irish Diaspora: a primer. 22 Another much needed revisionist book which addressed the United States context is Noel Ignatiev’s How the Irish became White. 23 The first books have also emerged on the Irish involvement in the British Empire in India – with Barry Crosbie’s Irish Imperial Networks and Kate O’Malley’s Ireland, Indians and Empire. 24 There have also been significant books of essays by Keith Jeffery, Andy Bielenberg, Kevin Kenny, Niall Whelehan and most recently Tim McMahon et al. 25 The scholarship of N.P. Canny has placed Ireland and the Irish in the expanding Atlantic context in the early modern period and that of C.A. Bayly in dilating on the global context in the later modern. 26 There is also an increasing scatter of articles in learned journals and general volumes 27 but as yet no overall survey of the involvement of the Irish in the British Empire or in imperialism as a whole. Furthermore whereas there has been work by Thomas O’Connor and others about Irish exiles in Spain and France, there has been very little about Irish involvement in Spain’s colonial empire and even less on their involvement in the French one. One important recent book is Tim Fanning’s Paisanos: The Forgotten Irish who 21 Stephen Howe, Ireland and Empire: Colonial Legacies in Irish History and Culture (Oxford, 2000). 22 Donald H. Akenson, If the Irish ran the World: Monserrat, 1630–1730 (Liverpool, 1997) & The Irish Diaspora: a primer (Belfast, 1996). 23 Noel Ignatiev, How the Irish became White (New York, NY, 2008). 24 Barry Crosbie, Irish Imperial Networks: Migration, Social Communication and Exchange in Nineteenth-century India (Cambridge, 2012) & Kate O’Malley, Ireland, India and Empire: Indo-Irish Radical Connections, 1919–64 (Manchester, 2008); See also Tadhg Foley & Maureen O’Connor (eds), Ireland and India: colonies, culture and empire (Dublin, 2006) and Michael Silvestri, Ireland and India: Nationalism, Empire and Memory (New York, N.Y, 2009). 25 Keith Jeffery (ed.), ‘An Irish Empire’?: Aspects of Ireland and the British Empire (Studies in Imperialism) (Manchester University Press, 1996, Andy Bielenberg, The Irish Diaspora (London, 2000); Kevin Kenny, Ireland and the British Empire (Oxford, 2004, Niall Whelehan, (ed), Transnational Studies on Modern Irish History (Oxford, 2015) & Timothy G. McMahon, Michael de Nie & Paul Townend Ireland in an Imperial World: Citizenship, Opportunism, and Subversion (London, 2017). 26 Nicholas Canny, Kingdom and Colony: Ireland in the Atlantic World 1560-1800 (Baltimore, MD, 1987) and his edited volume Europeans on the Move: Studies on European Migration, 1500–1800 (Oxford, 1994); C.A. Bayly, Imperial Meridian, The British Empire and the World, 1780-1830 (London, 1990), 82, 86–91, 99–102, 111–20, 124–8 & his article, ‘Ireland, India and the Empire: 1780–1914,’ Transactions of the Royal Historical Society (Sixth Series) 10 (200), 377–397. 27 For instance those by Jill C. Bender & Enda Delaney in Richard Bourke & Ian McBride, The Princeton History of Modern Ireland (Princeton, NJ, 2016).

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Changed the Face of Latin America (Dublin, 2016). Its focus was on the involvement of key Irish figures in the dissolution of colonial authority in South America. That is the theme I want to emphasize in this essay. Overall though the majority of Irish of all backgrounds were involved in driving forward the imperial project, the crucial thing however was the involvement of a minority from a country with a heritage of resistance to colonialism in undermining empire. It is both these majority and minority aspects and in particular the latter which have combined to make the Irish such effective actors in the modern world. The Irish served in and took advantage of all European empires overseas. They were most loyal in serving the French, whose army they joined as in large numbers as ‘Wild Geese’ after defeat in the Williamite Wars and the treaty of Limerick. Irish regiments served not only in the European theatre but also in North America, the Caribbean and Indian Ocean. There were some 20,000 Irish recruits serving the Ancien Régime between 1691 and 1791. 28 Their actions in French service were partly a war against their British conquerors by proxy – one of the most notable being the battle of Pondicherry (1761). Fought by armies led by Count Thomas Lally, son of an Irish brigadier from Galway, and General Eyre Coote, a member of the Anglo-Irish Protestant landlord class in Limerick, it determined control of India in England’s favour. Although the headstrong ‘Irlandais’ was branded a traitor and executed in 1766, Voltaire led a public campaign which eventually saw him posthumously exonerated. “I knew Lally-Tollendal for an absurd man, violent, ambitious, capable of pillage and abuse of power; but I would be astonished if he was a traitor.” 29 Irish merchants, evicted from their home ports, set themselves up in Bordeaux and especially Nantes whence they became increasingly involved in the slave trade between Africa and the Caribbean. Out of Nantes, the Stapleton, O’Shiel and O’Gorman families proceeded to invest in and own sugar plantations in SainteDomingue (Haiti) which before the revolt of Touissant L’Overture was the most lucrative colonial economy in the world. 30 This connection also benefitted Ireland itself because its agricultural produce could be exported to the slave islands via the same French ports. 31 Twice as many Irish served in the Spanish military from the 1580s; first as exiles from Ireland and then as unemployed soldiers and landless gentry fighting as mercenaries. The Irish tercios of O’Neill and O’Donnell, formed to accommodate these recruits, saw service in Europe. The Irish troops who appeared in the Caribbean to assist in its defence against Cromwell’s Grand Design were not only recruits from amongst Irish refugees but also deserters from the English forces. The problem was the Spanish authorities especially in the colonies where security was vital did not entirely trust the Irish fearing them to be potential traitors as subjects of another

28 29 30 31

See Irish Military Migration to France database @ https://www.tcd.ie/CISS/mmfrance.php. Quoted in Ian Davidson, Voltaire: a Life (London,2012), 360. Nini Rodgers, Ireland, Slavery and Anti-Slavery, 1612–1865 (London, 2007), 105–113 Louis Cullen, An Economic History of Ireland since 1660 (London, 1972), 51–55.

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king. 32 This was particularly the case in the volatile mid-seventeenth century but the real problem was the possibility of their siding with the local independence movements. In Mexico the Irish adventurer and courtier William Lamport (Guilliero Lombardo) in 1641 hatched a plot to liberate the country and have himself made king but was arrested and imprisoned for years and eventually executed in 1659. 33 Lamport probably took his inspiration from the breakaway of Portugal previous year. There a leading light in the Portuguese Restoration was the highranking Irish churchman Daniel O’Daly previously a trusted servant of the Spanish crown. 34 France became an alternative attraction but the Irish continued to serve in the Spanish army and navy during the eighteenth century and settle as merchants in Spanish ports. Under the Bourbon dynasty foreigners had better chances of success. The greatest Irish success story in this period was the Bourbon reformer, Alejandro O’Reilly (1722–94). Born in Dublin of a Jacobite military background, he was governor of Puerto Rico, Cuba and Louisiana reorganising the defences of America and eventually the Spanish army itself becoming its inspector general and a titled Spanish nobleman. 35 Although Irish served other imperial powers, most notably and most advantageously they worked in the British Empire. They were prominent in both the socalled First and Second Empires – the early Atlantic mercantilist creation and the later global free trade entity. They were in every region of that empire – the Caribbean, North America, India, Australia and New Zealand – where they were inter alia colonists, merchants, soldiers, administrators and missionaries. The Irish impact was at its peak in the mid-Victorian period when Ireland’s population was at its highest and the country at its poorest. Half the British Army was Irish at that time. The Irish involvement began inauspiciously enough in the Caribbean and was partly a coercive reflection of the contemporary colonization of Ireland itself. Old English merchants and indentured labourers from southern Ireland took up opportunities on the islands England began acquiring there – St Kitts (1623), Barbados (1627), Montserrat (1632) and Jamaica (1655). This phase has recently initiated a debate as to whether the Irish were ‘white slaves’ because the English were very short of labour to work the tropical plantations they were establishing. This controversial claim arises historically not only from their harsh working conditions and high mortality rates but also because a large number were sent to the Caribbean as

32 Kristan Black & Jenny Shaw, ‘Subjects without an Empire: the Irish in the Early Modern Caribbean’, Past & Present, 210 (2011), 33–60. 33 Fabio Troncarelli, La spada e la croce. Guillén Lombardo e l’inquisizione in Messico (Rome, 1999). 34 Margaret MacCurtain, Ambassador Extraordinaire: Daniel O’Daly, 1595–1662 (Dublin, 2017). 35 David Murphy, ‘O’Reilly, Count Alexander’, Dictionary of Irish Biography (Cambridge, 2009) @ online edition Royal Irish Academy.

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prisoners of war after the Cromwellian conquest of Ireland. 36 As Cromwell wrote in his infamous letter from Drogheda: When they submitted, their officers were knocked on the head; and every tenth man of the soldiers killed; and the rest shipped for the Barbadoes. The soldiers in the other Tower were all spared, as to their lives only; and shipped likewise for the Barbadoes. 37

Akenson estimates these deportees to number about 10,000, however as he notes Cromwell also sent out English, Scots and Welsh captives under similar conditions and that those conditions were ameliorated somewhat after the Restoration of the Monarchy in 1660. 38 Many of the English planters considered the Irish lazy, controlled by their priests and apt to conspire with their enslaved African co-workers. Although this did happen on occasion in individual instances and never with the much-feared indigenous Caribs, the Irish were far more likely to join up collectively with their French co-religionists from adjacent islands. In 1667 after the French attacked Montserrat the Irish went on a rampage against their English neighbours. The subsequent protest about it echoed the propaganda generated by the Irish Rebellion of 1641. We withal of his Majesty’s loyal subjects of this island have so much above any other of our neighbours been devastated, wasted, and destroyed in the late unhappy war, not only by our enemies in their short stay with us but have likewise then as many times since in a most barbarous and unfortunate manner been robbed, plundered, and stripped and almost utterly consumed of all that we had in the world by a party of rebellious and wicked people of the Irish nation, our neighbours and inhabitants in such a sort as it is almost impossible either for men or pen to relate. 39

This time the solution was not quite so vengeful as Cromwell’s as the anarchy was largely subdued by making an Irishman, Thomas Stapleton, the island’s governor. In 1689 the Irish in Montserrat, Nevis, St Christopher, Barbuda, Anguilla, Barbados and Antigua were in revolt and in league with the French but that must be seen in the context of the Williamite takeover of power from James II. Although this revolution meant that Catholics in the British Caribbean were, as in Ireland, deprived of their civil rights, the Irish in Montserrat and the other islands settled in thereafter as model subalterns. As the numbers of African slaves steadily increased, the Irish who came originally as indentured labourers and survived its rigours gravitated into the overseer class and if they were lucky even became planters themselves. Furthermore Akenson shows how, as the plantation economy moved onto bigger scale operations on larger islands, the Irish Catholic landlords consolidated their economic grip on Montserrat. In this way Montserrat became a mature and typical British plantation colony. The Irish proved no more paternalist than other slaveowners and 36 The recent racist interpretations of this subject are refuted in the important work of Liam Hogan, see his blog: https://medium.com/@Limerick1914. 37 Carlyle, Cromwell’s letters and speeches, I, 381–5, letter LXXI. 38 Akenson, If, 61–5; See also Rodgers, Ireland, Slavery and Anti-Slavery, chs.2 & 3 & Hilary Beckles, ‘Irish indentured servants and freemen in the English West Indies, 1644–1713’, William and Mary Quarterly, (1990), 507–22. 39 Akenson, If, 86.

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were more reluctant that most to give up the practice. Likewise Akenson shows that, in spite of leaving behind many Irish placenames and surnames, the muchvaunted Irish influence has not lasted in any meaningful fashion. 40 In fact the British Empire’s move into the Atlantic transformed Ireland from a mere periphery into a component part of the world’s most dynamic economic region. Though the Protestant elite that controlled Ireland complained that the country was a junior partner, deliberately hobbled by its more powerful neighbour, it was a partner nonetheless. It has been estimated that up to 250,000 emigrated to North America from Ireland in the eighteenth century. Most of these were Protestants, most of whom were Scots-Irish Presbyterians from Ulster. Though early on many went as indentured labourers, they were certainly not white slaves. They had considerable agency, some seeking freedom from the penal laws which affected Presbyterians as well as Catholics but most seeking better opportunities than available in Ireland. Brought up in the plantation of Ulster, they led the colonization of the Appalachians putting an end in the process to Pennsylvania’s Holy Experiment with the Indians. 41 Some had capital, connections and literary abilities and helped America win its independence from Britain and thereafter went on to supply several presidents of the United States. In the nineteenth century the Scots-Irish supplied Andrew Jackson, victor over the British at the Battle of New Orleans and later the President who removed the Indians West of Mississippi. 42 A few Irish Catholics were prominent – Commodore John Barry was a founder of the US Navy and architect James Hoban designed the White House. 43 By the nineteenth century Irish Catholics were arriving in America in large numbers. The fact that some of them deserted in the subsequent war against Mexico to become there the national heroes known as the San Patricios did not endear the Irish to American nativists but their immigration continued and strengthened. 44 Between 1810 and 1918 4.7 million Irish arrived in the USA, the majority of them Irish Catholic with the biggest surge during the Potato Famine (1845–51) and its immediate aftermath. 45 Even though industrializing Britain’s laissez-faire policies had condemned the Irish poor to death at home, America which was rapidly catching up and driving relentlessly westwards provided millions of Irish with an alternative to starvation. The Catholic Irish had the benefit of family, county and church networks that in turn provided an entrée in local urban politics. Although in the late 19th century the designation of Scots Irish was adopted as differentiation from the Catholic Irish, both proved perfect subaltern imperialists in the New Republic. Irishmen fought in large numbers on both sides in the American Civil War. 40 Akenson, If, passim. 41 Kevin Kenny, Peaceable Kingdom Lost: The Paxton Boys and the Destruction of William Penn’s Holy Experiment (New York, NY, 2009). 42 Most recently Steve Inskeep, President Andrew Jackson, Cherokee Chief John Ross, and a great American land grab (New York, NY, 2015). 43 David Murphy, ‘Barry, John’ & Patrick M. Geoghegan, ‘Hoban, James’ in Dictionary of Irish Biography (Cambridge, 2009) @ online edition Royal Irish Academy. 44 Fanning, Paisanos, ch.13. 45 Bielenberg, ‘Irish emigration to the British Empire’ in idem ed. The Irish Diaspora, p. 224.

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In particular the large numbers who fought for the Union side – such as in New York’s fighting 69th – were a powerful element in the integration of the Irish. Of course as exhibited in the excesses of the 1863 draft riots, the Irish were not particularly anxious about the liberation of the slaves, which was bound to increase labour competition. 46 Many Irish nationalists of the time were abolitionists but not all. John Mitchel, whose Last Conquest of Ireland book criticized laissez-faire economics and interpreted the Famine as a Genocide perpetuated by Britain on the Irish people, was in his American exile an advocate of slavery and supporter of the Confederacy. 47 Plainly seminal analysis in one context did not axiomatically equal empathetic positioning in another! Likewise despite the relief sent by Native Americans during the Famine, the Catholic Irish followed on from the example of their Protestant compatriots in their attitudes to the Indians. General Philip Sheridan, the son of Irish Catholic immigrants, is remembered for “the only good Indian was is a dead Indian” 48. It was Irish Catholics who took most casualties – twenty per cent including Captain Myles Keogh – at the Little Big Horn (1876). 49 The United States proved a land of opportunity not only for aspirant Irish escaping the Famine but also a haven for Irish activists from the time of the Fenians in 1850s and 1860s – whence they attacked Canada – to the 1910s and 1920s when Clan na Gael aided Irish independence. Irish Catholics had already played a similar role in independence struggles in Spain’s Latin American colonies as the Scots-Irish had done in Britain’s North American ones. In part this was the Irish acting the subversives as the Spaniards had once feared. Bernardo O’Higgins, son of Irish-born Bourbon reformer and governor of Peru, Ambrosio O’Higgins, was the Liberator of Chile. However the more recently-arrived Irish such as the merchant Thomas O’Gorman and other ‘free traders’ worked openly with North American and British commercial interests anxious to break the Spanish monopoly. James Bourke was there spying for Britain as it had long been the British object to open up South America to free trade. Their expedition to the River Plate aimed at Buenos Aires and Montevideo in 1806–7 failed but the permissive policies pursued by Irish-born foreign secretary Lord Castlereagh and his Anglo-Irish successor George Canning assisted the achievement of South American independence. By 1815 Latin America was receiving a third of British exports and its main ports were beginning to see the establishment of substantial British communities. By 1824 Canning was able to declare: „Spanish America is free, and if we do not mismanage our affairs sadly, she is English.” 50 The Irish 46 For the most recent research on this subject see Damian Shiels, The Irish in the American Civil War (Dublin, 2013). 47 James Quinn, ‘Mitchel, John’, Dictionary of Irish Biography (Cambridge, 2012) @ online edition Royal Irish Academy. 48 Toby Joyce, ‘The only good Indian is a dead Indian’: Sheridan, Irish-America and the Indians, History Ireland 13/6 (2005), 26–9. 49 Ian Kenneally, Courage and Conflict: Forgotten Stories of the Irish at War (Cork, 2010), ch. 6. 50 Leslie Bethell, ‘Britain and Latin America; historical perspective’ in Britain and Latin America: A Changing Relationship ed. Victor Bulmer-Thomas (London, 1989), 4.

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played a large part in this independence movement, many as volunteers coming to fight in the Irish Legion. The key figures were William Brown from County Mayo who organized the Argentine navy and who conducted a brilliant defence against Spanish blockade attempts at reconquest and General Daniel O’Leary, the son of a Cork butter merchant, who was Simon Bolivar’s right hand man in Venezuela/Columbia. The Irish took pride in the part they played in South American liberation, inspiring emancipationists and repealers at home. But they were also proxies for British interests, surrogate imperialists if you like who merely helped to see direct metropolitan dominion replaced by international capitalist control. When Daniel O’Leary died in Bogotá in 1854, it was surely no irony that his coffin was draped in the Union Jack. 51 Again Ireland takes pride in the part played by its 40,000 settlers in the Argentine. This distinctively-patterned migration from the Midlands and the South-East corner of Ireland was organised by a Kilkenny priest Fr Anthony Fahy and Athlone Protestant and Buenos Aires stock exchange founder Thomas Armstrong. Together with other settlers, they helped displace the Indians from the Pampas and develop a flourishing beef export business tailored to the needs of Industrial Britain. 52 Though it was not to be the case for ever, they were in first instance the perfect proxies in Britian’s ‘informal empire’ – Engish-speaking Catholics with a knowledge of cattle-farming in search of plenty of land. The loss of the first British Empire in North America coincided with the shift towards Asia and the development of a second globalised British empire focused on India. The East India Company had a long-standing connection with Ireland beginning with victualing of fleets in Munster, then the involvement of Irish merchants and the employment of Irish Protestant army officers. The big development was the Company’s urgent need for troops during the Seven Years War (1756–63). As a result – unlike the regular British army – the Company began to recruit hitherto untrusted Irish Catholic soldiers. This process gathered pace when regular recruits were needed for the American War of Independence. During that period 1,500 Irish Catholic soldiers were dispatched, in spite of official disapproval, from a recruiting centre at Naas “thereby to promote the welfare of the East India Company and to render most essential service to the British Nation”. Eventually with Catholic relief measures recruiting stations were established across Ireland and the Irish soldiers became a mainstay of the Company’s army being described as being “physically and morally […] best adapted for the service”. By the mid-nineteenth century the Irish were no longer marginalized and excluded. They were to the forefront in putting down in ‘Indian Mutiny’ – of the 22 Victoria Crosses awarded for bravery 13 went to Irishmen. When the Company was abolished soon after, seven of its nine European regiments being integrated into regular army were given Irish territorial names. 53 By this stage following Catholic emancipation, Irishmen also formed the backbone of the British army itself and were strongly represented in the navy as 51 Fanning, Paisanos, 221. 52 Patrick McKenna, ‘Irish emigration to Argentina: a different model’ in Bielenberg ed. The Irish Diaspora, ch.10. 53 Morgan, Unwelcome heritage’, 620–1.

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well. Driven to enlist by poverty, their numbers were disproportionate in terms of overall population. Furthermore, though involved in political mutinies in the Navy during the Napoleonic wars and in the Army during the Fenian agitation in the 1850s and 1860s, the Irish soldiers never sided with the natives but on the contrary made a huge contribution to worldwide expansion of the British empire in the Georgian and Victorian eras. Other better-resourced Irish took advantage of the same expansion to become white colonists in Canada, Australia, New Zealand and South Africa. About 1.5 million left Ireland for these destinations between 1815 and 1910, 54 part of a larger scale European immigration involving the economic displacement and political subordination of indigenous peoples. These overseas opportunities for the Irish were partly provided by the strategic decisions of members of the Irish Protestant landed class involved in the administration of the empire. Their actions enabled the agency of others. Take for example George Macartney (1727–1806) from County Antrim. Educated at Trinity College Dublin, he was ambassador to Russia, governor of Grenada, governor of Madras, ambassador to China and governor of the Cape Colony. McCartney understood the shift to world-empire writing in 1773 about Britain as “this vast empire on which the sun never sets, and whose bounds nature has not yet ascertained” 55. The highpoint was his embassy to China. It failed partly because he refused to kowtow to the emperor but his observations were prescient: The breaking-up of the power of China (no very improbable event) would occasion a complete subversion of the commerce, not only of Asia, but a very sensible change in the other quarters of the world… as Great Britain, from the weight of her riches and the genius and spirits of her people, is become the first political, marine, and commercial Power on the globe, it is reasonable to think that she would prove the greatest gainer by such a revolution as I have alluded to, and rise superior over every competitor. 56

The problem was that China was self-sufficient and it took the forcing of a commodity – opium produced in British India – on the country to open it to trade. Macartney’s prediction was in fact brought into being by another Ulster plenipotenary sixty years later when Henry Pottinger won the First Opium War, signed the treaty of Nanking and gained concession of Hong Kong. 57 A third Ulsterman of note driving change and conquest in the period of High Imperialism was Frederick Temple Hamilton-Temple-Blackwood, 1st Marquess of Dufferin and Ava (1826–1902). Dufferin was a reforming governor-general of Canada, ambassador to Russia and Turkey and then viceroy of India (1884–88) during which he led the conquest of

54 Bielenberg, ‘Irish emigration to the British Empire’ in idem ed. The Irish Diaspora, 224. 55 Quoted in Thomas Bartlett ‘Ireland, Empire and Union, 1690-1801’ in Kenny ed., Ireland and British Empire, 72. 56 Helen H. Robbins, Our First Ambassador to China: An Account of the Life of George, Earl of Macartney (New York, NY, 1908), 386. 57 Bridget Hourican, ‘Pottinger, Henry’, Dictionary of Irish Biography, (Cambridge, 2009) @ online edition Royal Irish Academy.

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Burma. His stately home in County Down still contains the booty looted from the Royal Palace in Rangoon! 58 By this stage it was a very different Ireland and a very different empire. Although parliamentary incorporation into the United Kingdom kept Ireland in a subordinate position and Victorian populism saw a recrudescence of racist caricaturing of the Irish 59, the Irish enjoyed full access to the empire with regard to trade and emigration. Educational developments saw first national schools (primary education for all) and then the establishment of new non-religious universities, the socalled ‘Godless’ Queen’s Colleges of Cork, Galway and Belfast. This encouraged upward social mobility and the expansion of the professional and service middle classes. The critical factor was the development of competitive examinations for the British army, Medical services, Indian civil service and home civil service. 60 The development of this meritocracy not only overcame interests of class and wealth, which had previously asserted themselves by influence and purchase respectively but also that of religion. As a result Irish Catholics and Dissenters now had opportunities like never before. The Indian Civil Service in particular proved a happy hunting ground for the Irish. Irish universities besides public schools acted as an incubator for would-be candidates, putting on special courses. Whereas in the first half of the century only 5% had come from Ireland, under the new competitive system in its first decade between 1855–64 24% of recruits were graduates of Irish universities. These successes out of proportion to Ireland’s population gave the lie to the established theories about Anglo-Saxon race superiority. 61 Indeed such was the success of Irish applicants – by the mid-1880s there were 1,000 ICS recruits from Ireland 62 – the system was deliberately recalibrated to reduce their chances. Indeed as illuminated by Roy Foster’s ‘Marginal men and Micks on the Make’, the Irish, Catholics as well as Protestants, were also increasingly commanding the heights of public life in the metropole. 63 Some of these Irish administrators were advanced nationalists and were to prove significant subverters of Empire. The most cited example is Galway graduate C.J. O’Donnell – ‘L’Enfant Terrible of the ICS’ – a district official in Bengal between 1872 and 1882. Dealing with the relief measures in the Bihar famine, he 58 See Andrew Gailey, The Lost Imperialist: Lord Dufferin, Memory and Mythmaking in an Age of Celebrity (London, 2015); Morgan, ‘Unwelcome heritage’, 623–4. 59 See L. Perry Curtis, Apes and Angels: The Irishman in Victorian Caricature (Washington DC, 1997). 60 See the recent scholarship of Dr Christopher Shepard, International Office, University College Cork, especially his essay, ‘Cramming, instrumentality and the education of Irish imperial elites’ in David Dickson, Justyna Pyz and Christopher Shepard (eds), Irish classrooms and British Empire: imperial contexts in the origins of modern education (Dublin, 2011) and his article ‘I have a Notion of going off to India’: Colonel Alexander Porter and Irish Recruitment to the Indian Medical Service, 1855–96’ in Irish Economic & Social History, 41/1, 36–52. 61 Crosbie, Irish Imperial Networks, 208–9. 62 Bielenberg ‘Irish Emigration to the British Empire’ in idem ed. The Irish Diaspora, 223. 63 ‘Marginal men and Micks on the Make: the uses of Irish exile, c.1840–1912’ in Roy Foster, Paddy & Mr Punch: Connections in Irish and English History (London 1993), ch.14.

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proved an opponent of laissez-faire policies, English apathy and landlord oppression. In a series of publications irksome to his superiors, he advocated tenant right and the reform of Indian government. His Irish empathy shone through – Irishmen, whose memories of British rule are the darkest in history […] can hardly believe what benefits foreign domination brought to a country torn, as India was last century, by the feuds of a dozen warring races and a dozen militant creeds’.

And he stayed defiant having in London his brother the Irish Home Rule MP, Frank Hugh O’Donnell, who was in touch with Indian nationalist politicians. This MP called for a policy of Home Rule All Round, radiating from the centre of a really Imperial Parliament, representative of every race and every colony [giving] a sure foundation to a broad and true Imperialism. 64

Interestingly Viceroy Dufferin, himself an Irish landlord and unionist, subsequently worked to undermine the Bengal Tenancy Act of 1886 that O’Donnell and other ‘wild Irishmen’ had drawn up. 65 Another Irishman came out to India in 1894 to chair the Indian National Congress meeting in Madras. This was the Quaker, Land League Activist and Home Rule MP Alfred Webb. The author of the first dictionary of Irish national biography, an opponent of slavery and the opium trade, he had spoken out on Indian matters in the House of Commons. He had been invited by the first Asian MP, Dadabhai Naoroji to be president of the Congress. 66 Naoroji’s money drain ideas Poverty and Un-British Rule in India (London, 1901) echoed those of contemporary Irish nationalists. He felt that similar policies and their effects were multiplied many times over in India and besides that his country had greater claim to justice from England than the Irish. After all Ireland not only had a voice in parliament but also a free and complete share in all the gain and glory of the British Empire. An Irishman can occupy any place in the United Kingdom or India. Can an Indian occupy any such position, even in his own country, let alone in the United Kingdom? 67

Webb’s observations on India were quite hardheaded but other Irish Protestant radicals tended to hold romanticized notions of the country – most famously Margaret Noble and James Cousins became not only Indian nationalists but alsoHindus under the names of Sister Nivedita and Jayaram. 68 These Irish wielded no authority in the empire but one contemporary Irish radical did. That was Sir John Pope Hennessy (1834–91), the son of a Cork Catholic 64 Quoted in Crosbie, Irish Imperial Networks, 233. 65 Ibid, 224–45. 66 See M.L. Legg (ed), Alfred Webb: the Autobiography of a Quaker Nationalist, Cork, 1999; for a recent biography is Jennifer Regan-Lefebvre, Cosmopolitan Nationalism in the Victorian Empire: Ireland, India and the Politics of Alfred Webb (New York, NY, 2009). 67 Dadabhai Naoroji, Poverty and Un-British Rule in India (London, 1901), 358. 68 Maurice Hayes, ‘Noble, Margaret (Sister Nivedita)’, Dictionary of Irish Biography (Cambridge, 2016) @ online edition Royal Irish Academy; Joseph Lennon, Irish Orientalism: a literary and intellectual history (Syracuse, NY, 2004), ch. 8.

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merchant and a star graduate of the new Queen’s College in the city. He had obtained entrance to the Indian Medical Service but instead opted for the law in London where he was talent-spotted by Disraeli, the British Prime Minister, and won election to parliament in Westminster as conservative MP for King’s County. In the House of Commons (1859–65), he espoused a host of reform Irish issues including poor law, land and education and more generally spoke about prisons, civil service and work conditions in mines. He took an interest in Catholic matters abroad, in particular the Vatican and Polish questions, and spoke out against the oppression of aborigine peoples – the plight of Caucasians at the hands of Russia, the Sioux Indians fleeing the US and the Maoris fighting the British. His 1860 speech following the Indian Mutiny on the deficiencies of army officer recruitment is indicative of his passionate approach: As long as we send out officers to India who seem inclined to treat the Natives as slaves, who seem unable or unwilling to appreciate the noble qualities, of that unfortunate people, and who add the grossest military outrages and insults to the civil misgovernment and financial burdens we have imposed upon them, so long will our rule in India be a blot upon civilization. The executive barbarity, the breaches of faith, the unfeeling disregard of Eastern customs and prejudices, and the military insolence, which characterize British administration in India, might be traced, to a great extent, to the ignorance and want of ability of those entrusted with the Queen’s authority. 69

After he lost his parliamentary seat, Pope Hennessy was given a series of governorships – Labuan (1867–71), West Africa (1872–3), Bahamas (1873–4), Barbados (1874–5), Hong Kong (1877–82) and Mauritius (1883–88). Everywhere his reformist measures provoked disputes but the Colonial Office obviously saw him as useful in breaking the older power structures and practises clinging on from the mercantilist, first empire. In each colony he employed Irishmen and promoted the interests of Irish Catholic clergy as much as possible. In each colony he introduced prison reform and ended flogging and chagrined established white elites by encouraging indigenous enfranchisement and representation. In Sierra Leone they still have a Pope Hennessy day. Amongst other things he was a proponent of the third-level institution in the region. I think a West African University founded on a very humble basis, ought to be established, where not only the sons of rich Africans could be educated, but where, like in the early Irish universities, and some of the Continental Universities of our own times, even the poorest youths, who had talents and a real taste for knowledge, might by sizarships or fellowships have an opportunity of cultivating learning.

This was a racial as well as social matter and Lord Kimberley, the Colonial Secretary, dismissed the idea when Pope Hennessy informed him: “ I can assure your Lordship that the Natives know very well that the white men sent to the coast are not Superior Beings.” 70 In Barbados in attempting to extend the franchise to descendants of the recently enslaved, he excited the expectations of the blacks and the 69 House of Commons debate, 26 July 1860, Hansard, Vol. 160, cc. 231–59. 70 James Pope Hennessy, Verandah: some episodes in the crown colonies, 1867–1889 (London, 1964), 118–9.

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opprobrium of the old planter elite. In Hong Kong his reputation preceded him. There he managed to end the pass legislation, curfewing and segregation of the majority Chinese population and gave ‘Orientals’ their first representation on the government council. He proved even more popular amongst the French Catholic Creoles of Mauritius. With his Irish background and track record in government, they expected him to make the island into ‘une petite Irlande’ by opposing plantation owners likened to the Anglo-Irish ascendancy. Much to the annoyance of a small clique of established British officials, he promoted the French creoles to government and judicial positions; he even brushed aside the English Catholic bishop of Port Louis who was considered a British government stooge. He improved conditions for Indian sugar plantation workers who now outnumbered the Croeles and even managed to have some Indians included in the franchise and in the government council. His high point was the holding of the island’s first election. The election opened up a lot of divisions and these began to overlap with Irish issues when London sent the Unionist Clifford Lloyd – ‘the most hated man in Ireland’ – to be his Chief Secretary and Deputy Governor. Pope Hennessy eventually managed to have Lloyd sent to the Seychelles and, though he had to go to London to sit through a government enquiry, he eventually returned to a hero’s welcome in Port Louis. Pope Hennessy is forgotten in Ireland today but he is still remembered and represented in Mauritius as the bringer of the island’s constitution. 71 It is worthwhile here dwelling on the Irish in Mauritius more generally. The positive role played on that Indian Ocean island during the second empire in a sense remedies Akenson’s debunking of their reputation on Montserrat during the first. Much of the relevant information has recently been assembled by Mauritian MarcSerge Rivière whilst in the Department of French at the University of Limerick. Before Pope Hennessy, the Anglo-Irish had made an impact on the island. Irish soldiers and sailors were involved in the conquest of the island from France, most notably the commanders Colonel Henry Sheehy Keating and Commodore Sir Josias Rowley. In the early years of British administration Sir Lowry Cole as governor (1823–28) oversaw the end of the Slave Trade and the transition to free trade with the equalization of sugar duties with those in the West Indies. His fellow Ulsterman Charles Telfair (1778–1833) became an expert on the agricultural resources of the island as well as supplying the newly-established Botanic Gardens in his native Belfast with plant specimens. Other visiting Irish Protestants Charles Boyle and Frederick Nixon made the island better known through their writings and drawings. However Irish Catholics came for longer and had a longer lasting impact. Irish Loreto nuns had set up a school there in 1845 that still continues today. The founder was M. Austin Hearne with the assistance of Sr. Hyacintha Looney, Sr. Francis Kelly, Sr. Camilla McCormick, Sr. Chantal Murray, Sr. Rapheal Ryan, Sr. Nativity Murtagh and Sr. Barbara Bannon. Over the following century Ireland was to supply

71 Ibid, passim.

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the island with four bishops and several priests. Many of these were Holy Ghost Fathers who, like the Loretos, belonged to a French order. 72 However subversive they appeared, most of the Irish radicals worked within the empire to reform it. Although Irish nationalists often made rhetorical assertions of common cause with native opponents of British rule, the first and only active support given was to the white South African Republics of Transvaal and Orange Free State. 73 During the Anglo-Boer war (1899–1902) some 400 Irish volunteers joined the commando units fighting the British. The Irish Brigade, famous for its dynamite expertise and generally associated with Colonel John McBride who raised it, was actually commanded by John Filmore Blake, an Irish American, who had fought the Apaches. 74 The Boer cause was very popular in Nationalist Ireland but the vast majority of Irishmen involved in the war were in the Irish regiments of the British Army. The great Irish anti-imperialist is of course Roger Casement (1864– 1916). Originally a British consular official in Southern Africa, he was in the first instance a fierce critic of the Boers until the horrors of the concentration camp system the British employed to contain their civilians became apparent. Afterwards, Casement worked heroically to expose the brutal exploitation of the native populations in the Belgian Congo and the Amazon. I had accepted Imperialism – British rule was to be extended at all costs, because it was best for everyone under the son, and those who opposed that extension ought to rightly to be ‘smashed’[…] Well the [Boer] War gave me qualms at the end – the concentration camps bigger ones – and finally when up in those lonely Congo forests where I found Leopold I found also myself – the incorrigible Irishman! 75

With his knowledge of Irish history and struggle Casement had a natural sympathy for oppressed peoples and in particular how their native landholding systems had been subverted. He combined this with the contemporary Hobsonian analysis of Capitalist Imperialism. When he himself finally opted for Irish nationalism and sought support from Germany, he emphasized that Ireland was never the aggressor only the victim – Irish wars, throughout all time, have been only against one enemy, the invader, and, ending so often in material disaster, they have conferred always a moral gain. Their memory uplifts the Irish heart; for no nation, no people, can reproach Ireland with having wronged them. 76 72 Marc-Serge Rivière, ‘No man is an island’: the Irish presence in Isle de France/Mauritius (1715–2007) (Port Louis, 2008). For my take on the Irish in Mauritius see ‘Our men in Mauritius: Lowry Cole and Pope Hennessy, History Ireland, 23/5 (2015), 23–7. 73 For a discussion of Fenian links and sympathies with the Maoris see Jill C. Bender ‘The Piniana Question: Irish Fenians and the New Zealand Wars’ in McMahon et al ed. Ireland in an Imperial World, ch.10. 74 Donal P. McCracken, ‘McBride’s Regiment in the Anglo-Boer War’, History Ireland 8/1 (2000), 26–9. 75 Quoted in Séamus Ó Síocháin, ‘Roger Casement’s Vision of Freedom’ in ed. Mary E. Daly, Roger Casement in Irish and World History (Dublin, 2005) 1. More generally see Angus Mitchell, 16 Lives: Roger Casement (Dublin, 2013). 76 Roger Casement, ‘The Romance of Irish History’, in The Glories of Ireland ed. Joseph Dunn and P.J. Lennox (Washington, DC, 1914), ch. 1.

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One of the remarkable developments of the 19th century was ‘the Spiritual Empire’, the extension of the Irish Catholic Church’s influence across the British and American Empires and beyond. Again the Irish were proxies but this time it was a parasitical surrogate empire. It would be more aptly called ‘Rome’s Spiritual Empire’. This adherence to Roman control might be claimed to hark back to the days of St Patrick but it was in fact largely the creation of Cardinal Paul Cullen (1803–78) and the Ultramontane Movement of the period. Cullen, having been rector of the Irish College in Rome and with good connections with Propaganda Fide, was able after his return to Ireland to place Irish bishops and priests into dioceses across the world, especially in the USA, Canada, Scotland, India, the Cape Colony, Australia and New Zealand. The result of this Episcopal Imperialism was a cadre of clergy totally devoted to hierarchical structures and dogmas dictated by the Vatican operating often without the regard to the laws of the countries in which they were based. 77 This system supplied Irish parish priests to minister to fellow countrymen, their offspring and other Catholic immigrants settled in the white colonies. A far more positive legacy is that of the Irish missionary orders and their work with indigenous peoples. Christianity can of course be considered proxy imperialism and at the time schooling for industrialism but the educational benefits surely outweighs this. Crosbie’s work on India indicates that Irish missionaries in Madras while attentive to local mores made an impact by ignoring caste distinctions. This surely derived from a national background where class and culture and power had long militated against native Catholics. Likewise the work of Irish nuns in hospitals and schools (as noted above in Mauritius) not only assisted the poor and marginalized but served as examples of empowerment to women of all classes. Irish were active agents of European Empire, especially the British Empire. A people once considered barbarous and who had themselves been colonized was a key part of this globalizing capitalist conglomerate. However, when the New Imperialism emerged to prevent the reform of the Empire in the 1880s, the Irish had also the agency to become active anti-Imperialists. Most importantly, they also provided an example of agency – that a colonised people could and would help dismantle and indeed destroy Empire. In Marxian terms: the Irish constituted a bourgeois group who had “raised themselves to the level of comprehending theoretically the historical movement as a whole” 78. The Irish Revolution changed everything. The 1916 rebellion and then the war of independence 1919–21 provided an example to other colonies in the Empire. Although 1916 saw many anti-imperial revolts and mutinies round the world, the Irish one had taken place in the second city of the Empire. The British state now feared similar developments especially in Egypt and India but the Irish Civil War (1921–23) and the emergence of Ireland as a commonwealth dominion (the Irish Free State between 1922 and 1949) somewhat blunted Ireland’s leadership role in this. Nevertheless Irish anti-colonialism came through strongly as its foreign policy developed. At the League of Nations Ireland was a 77 Colin Barr, ‘Imperium in Imperio: Irish Episcopal Imperialism in the Nineteenth Century’, The English Historical Review, 123/502 (2008), 611–650. 78 Quoted from K. Marx & F. Engels, Communist Manifesto, ch.1.

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proponent of the rights of small nations and the settlement of dispute through diplomacy; later under the United Nations it was in the forefront of peace-keeping missions and the Anti-Apartheid movement. Ireland remained neutral during the Second World War and after. It remained outside NATO but never became part of the Non-Aligned Movement. It was a western country with its local and historical grievances reflected in rhetoric which was anti-communist vis-à-vis Eastern Europe, anti-colonialist in relation to Africa and Asia and anti-partitionist policies in relation to India, Korea, Palestine, Cyprus and China. 79 Furthermore much of this ideology was propagated unofficially by the Irish Catholic missionary movement that reached its height in the middle years of the twentieth century. The Irish missionaries failed in their efforts to pass on the sport of hurling or the use of rhythmmethod. Yet they did a lot for decolonization; distancing themselves from the imperial authorities, they inspired their students powerfully with Irish republican ideas of liberation. 80 Ironically they were promoting the revolutionary legacy of Roger Casement whilst the state was left peddling the reformist ideas of Pope Hennessy. European Empires gave the Irish agency. So too today’s Irish benefit enormously taking advantage of worldwide opportunities from the unparalleled capitalist globalization brought about by the victory of American imperialism in the Cold War and the development of the liberalizing trade regimes through the General Agreement on Tariffs and Trade. This success stands on four pillars. First in spite of Irish independence, access to Britain and the British Commonwealth countries such as Canada, Australia and New Zealand continued. These countries have proved important bolt-holes for the Irish in times of recession, again notably after the crash of 2008/9. Secondly Ireland, having restored free trade with Britain in the 1960s, gained admittance to European Economic Community, later the European Union, the world’s largest market, in 1972. Unlike Britain it has fully embraced this challenge. Thirdly relations with the Irish Diaspora in America have continued to bear fruit. One of the earliest investors in the newly independent Ireland was Henry Ford whose father came from County Cork. The 1962 presidential visit of John F. Kennedy, the grandson of Irish Catholic emigrants and most powerful man in the world, marked a turning point. Irish lobby in the United States – 33 million Americans claim descent from the Emerald Isle – proved invaluable in the Northern Ireland Peace Process in the 1990s. Furthermore the Industrial Development Authority was able to pursue American contacts for investment in Ireland. In the 1980s first Apple and then probably more significantly Intel set up in Ireland. 81 They saw an opportunity of not only using Ireland’s educated work force but also exploiting its

79 See for instance K.L. Shonk, ‘The shadow metropole: varieties of anti-colonialism in Ireland, 1937–68’ in McMahon et al, Ireland in an Imperial World, ch.13. 80 Peter Kelly, ‘An Misean sa Tsín [the Mission to China], History Ireland, 25/4 (2017), 48–51. 81 Andy Bielenberg & Raymond Ryan, An economic history of Ireland since independence (New York, 2013), pp. 87–90; 150–4.

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tax breaks and its access to the European market. And that was not the only geographical factor – Ireland had besides ‘some very good golf courses’! 82 Irish businessmen such as Tony O’Reilly, Peter Sutherland, Denis O’Brien, Bono and Michael O’Leary are the Irish poster-boys of this internationalisation. So too are multinational companies such as Glanbia, Greencore and Ryanair and there is even an international drugs cartel – the Kinahan gang. Not only have the Irish had opportunities in the Western world. Elsewhere their reputation for anti-colonialism has stood to them. The Irish break with Britain and the means by which had been achieved was an inspiration to Nehru, Bose and other Indian Nationalists. These Indian connections, rather neglected after India gained its independence with no Irish embassy established there until 1964, are now going strong. 83 Indeed Leo Varadkar, the current Taoiseach or Prime Minister is the son of an Indian doctor and an Irish nurse. Furthermore since Ireland joined the UN in 1955, it always pursued a one-China policy. Having a Northerner Frank Aiken as Minster for External Affairs was important in this regard. Support for the adhesion of the People’s Republic instead of Taiwan to the UN has and will prove an invaluable asset as China overhauls America as the world’s superpower. 84 Whereas Imperialism and Globalisation have benefitted individual Irish people, especially those well-connected or educated or both, it remains to be seen whether Ireland has itself benefitted. In the 18th century Ireland was denied direct access to imperial trade; in the 19th it suffered a devastating famine occasioned by English free-trade ideology. Even though it gained from remittances and share dividends thereafter, the country remained overtaxed in comparison to the rest of the UK. 85 Economic nationalism failed after independence and emigration continued to diminish the population. Since the late 1950s liberalization, educational developments and market access has changed the country irrevocably – the population is growing significantly and the country has even become a magnet for immigrants seeking opportunities. The uniquely open economy suffered a severe shock with the end of the Celtic Tiger but has since roared back. State structures, social fabric and native capitalism were badly damaged in the crash. Foreign ‘Vulture Funds’, having bought up a lot of indebted Irish property, endanger the prospects of large sectors of the Irish working and middle classes. Although the now well-embedded rhetoric of anti-colonialism has so far helped stave off any widespread racism directed against newcomers, unfortunately the state’s official ideology is still infected by the same Victorian concept of private property which doomed the country once before. Britain’s imminent exit from European Union furthermore threatens one of the pillars on which recent Irish success has been built in this increasingly competitive one-world system. How Ireland and the Irish will fare in a rapidly changing 82 Remark by my friend Jim Smyth, formerly Department of Sociology Queen’s University of Belfast. 83 Michael Holmes ‘The Irish and India; Imperialism, Nationalism and International’ in Bielenberg ed. The Irish Diaspora, ch.12. 84 Bryce Evans, ‘Frank Aiken: revolutionary, statesman, polymath’, History Ireland 21/3 (2013), 8–9. 85 Louis Cullen, Economic History, pp.167–70.

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world are in the balance. A continued investment in the education of all of its citizens and the maintenance of a moral vision based on its historical Sonderweg seem the only ways forward.

KWAME NKRUMAH (1909–1972) Die Autobiographie eines afrikanischen Politikers und Visionärs im Spiegel ihrer Rezeption in Europa Bea Lundt DAS PHÄNOMEN KWAME NKRUMAH 2017 war es 60 Jahre her, dass das westafrikanische Land Ghana entstand. Kwame Nkrumah hatte die britische Kronkolonie ‚Gold Coast’ 1957 in die Unabhängigkeit geführt. Mit seiner Parole „Independence now!“ warf er die Pläne über den Haufen, die die Kolonialmacht für einen Prozess der Dekolonisation in der Nachkriegszeit entworfen hatte und in Kooperation mit den traditionellen Chiefs sowie der westlich erzogenen afrikanischen Elite realisieren wollte: erst nach einer Übergangsfrist der Vorbereitung und „Erziehung“ sollte die Kolonie unabhängig werden. Nkrumah brach mit der Honoratiorenpartei seiner Landsleute, begründete eine Massenbewegung und gewann Wahlen aus dem Gefängnis heraus, in das der Gouverneur ihn wegen seiner politischen Arbeit gesteckt hatte. Er wurde Staatspräsident der neuen Nation. Ghana war damit das erste Gebiet im subsaharischen Afrika, das sich aus kolonialen Abhängigkeiten befreite; der Übergang vollzog sich nach heftigen Aktionen und Auseinandersetzungen, aber weitgehend unblutig. In dem ‚afrikanischen Jahr‘ 1960 folgten eine Reihe anderer Kolonien weitgehend diesem Modell. Nkrumah leitete einen umfangreichen Prozess der Bildungsförderung, Modernisierung und Industrialisierung in dem neu entstandenen souveränen Staat ein. Er schrieb zahlreiche Bücher, in denen er seine Visionen von einem panafrikanischen Sozialismus entfaltete. Kulthaft wurde er in Afrika verehrt: als „Osagyefo“, Erlöser, Retter. Im Laufe seiner Regierungszeit aber verlor er die Sympathien vieler Menschen: mehreren Mordanschlägen entkam er nur knapp. Eine Wirtschaftskrise, Korruption in der eigenen Partei sowie sein zunehmend autoritäres Regime, das in der Einführung eines Einparteiensystems gipfelte, riefen seine Gegner auf den Plan. Neun Jahre nach dem Abzug der Kolonialmacht wurde er durch einen Militärcoup entmachtet; die Bevölkerung jubelte den Putschisten zu, eine Zeit der Militärregime folgte. Nkrumah lebte und starb im Exil.1 1

Die Literatur ist umfangreich. Vgl. etwa die Biographie: David Rooney, Kwame Nkrumah. Vision and Tragedy, Accra 2015, eine neue Edition seines Buches: Kwame Nkrumah, The political Kingdom in the Third World, 1988; David Birmingham, Kwame Nkrumah. The Father of African Nationalism, Ohio 1990, rev. 1998; Kwame Arhin (Hg.), The Life and Work of Kwame Nkrumah. Papers of a Symposium organized by the Institute of African Studies University of

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Erinnerungskulturell polarisiert diese Gestalt: Nkrumah wird in Afrika teils als Held und Vorbild gefeiert 2, teils verdammt als Diktator und Tyrann, der zu Recht vertrieben wurde. 3 Zeitgenossen der Generation der Unabhängigkeitskämpfer wie Wole Soyinka (geb. 1934) bezeichnen seine Visionen als romantisierend, mystifizierend und daher deutlich „falsch“. 4 Wie erinnert man ihn in Europa? Im Jahr 2000 erwählte die British Broadcasting Corporation (BBC) Nkrumah zum „Mann des Jahrhunderts“: im kollektiven Gedächtnis Großbritanniens war er also populärer als Gandhi und Nehru, die ja den Prozess eingeleitet hatten, durch den die einstige Weltmacht ihre imperiale Hegemonie einbüßte. 5 Nkrumah schrieb eine Autobiographie, die ein Schlüsseldokument für das Verständnis des Dekolonisationsprozesses in Westafrika darstellt. 6 Am Beispiel der älteren und neueren Rezeption dieser Quelle in Europa möchte ich im Folgenden überprüfen, ob und inwieweit beim Umgang mit diesem Text eine transkulturelle Kommunikation zwischen den beiden Kontinenten gelungen ist. EINE AUTOBIOGRAPHIE ALS „GRÜNDUNGSDOKUMENT“ EINES AFRIKANISCHEN LANDES Das Werk wird in breiten Teilen der Fachliteratur mit dem Titel aufgeführt: „Ghana. Autobiographie of Kwame Nkrumah“. Eine solche Narration einer Lebensgeschichte in Identifikation der Person mit dem neuen Staat wird als „nationale Autobiographie“ bezeichnet, so der Anglist Philip Holden 2008 in seiner vergleichenden

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Ghana, Legon Accra 1991, reprinted 2001; zur ideengeschichtlichen Einordnung Nkrumahs: Kwame Botwe-Asamoah, Kwame Nkrumah’s Politico-Cultural Thought and Policies. An African-Centered Paradigm for the Second Phase of the African Revolution, London/New York 2005. Wangari Maathai, The Challenge for Africa. A New Vision, London 2009, nennt ihn unter den Helden, who “live their lives for something larger than themselves […] who had a vision for their continent“, 286f. Zugleich diskutiert sie aber auch, ob er ein „wasted talent“ war, 32. Vgl. etwa T. Peter Omari, Kwame Nkrumah. The Anatomy of an African Dictatorship. New York 1970. Vgl. dazu auch Felix Müller, Ghanaian Intellectuals and the Nkrumah Controversy 1970–2007/8, in: Bea Lundt/Christoph Marx (Hg.), Kwame Nkrumah (1909–1972). A controversial African Visionary, Stuttgart 2016, 129–146. Wole Soyinka, Foreword, in: Ivor Agyeman-Duah (Hg.), An Economic History of Ghana. Reflections on a Half-Century of Challenges and Progress, 2008, 1. Vgl. dazu auch Fanny Fröhlich, Die Erfindung einer afrikanischen Gesellschaft. Kwame Nkrumah und die Verbindung von Moderne und Tradition in Ghana, Saarbrücken 2015. Die „klassischen“ Überblicksdarstellungen sind: Rudolf von Albertini, Dekolonisation. Die Diskussion über Verwaltung und Zukunft der Kolonien 1919–1960, Köln 1966 sowie: Imanuel Geiss, Panafrikanismus. Zur Geschichte der Dekolonisation, Frankfurt/Main 1968. Aktuell: Jan C. Jansen, Jürgen Osterhammel, Dekolonisation. Das Ende der Imperien, München 2013. Zu Afrika: Christoph Marx, Geschichte Afrikas von 1800 bis zur Gegenwart, Paderborn 2004. Kwame Nkrumah, Ghana. Autobiography of Kwame Nkrumah, Nelson Edinburgh u.a. 1957, reprinted bei Panaf London 1970 u.ö. (dt.: Schwarze Fanfare. Meine Lebensgeschichte, München 1958).

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Untersuchung von Fallbeispielen aus Afrika und Asien. 7 Er entwickelt dabei die These von Benedict Anderson weiter, der aufzeigte, wie Nationen „imaginiert“ werden. 8 In der Quellengattung der ‚nationalen Autobiographie‘, so Holden, imaginiere sich nicht ein Kollektiv, sondern ein Individuum präsentiere sich der internationalen Öffentlichkeit in seiner neugefundenen Autonomie. Die Autoren dieser Texte seien die wahren Erben der Aufklärung, die den Stab der Modernität von einem erschöpften Westen übernähmen. 9 In der Tat scheint die Autobiographie Nkrumahs diese Funktion auf geradezu klassische Weise zu erfüllen, indem sie den Prozess der Dekolonisation im Spiegel der Handlungen des Autors beschreibt und damit zugleich die Transformation der Kolonie in ein nachkoloniales Land entwirft, getragen von Vorstellungen über Fortschritt und Zivilisation. Tatsächlich erfuhr das Genre „Autobiographie“ seine zentrale Prägung durch die europäische Aufklärung mit ihrem Ideal des unabhängig seine Subjektivität definierenden Individuums. Meist als literarisches Genre verstanden, bieten solche Texte für ein historisches Verständnis ihres Inhaltes besondere Schwierigkeiten der Deutung: Denn das Bestreben, ein Zeugnis über die Arbeit an der eigenen Identität zu schaffen, erfüllt zumeist legitimatorische Zwecke. Dabei wird oft vom Höhepunkt eines erreichten Zenites aus in der Rückschau linear ein kausaler Zusammenhang konstruiert. Der Aussagewert der dabei mitgeteilten Informationen als Quelle über die Realität der Vergangenheit ist entsprechend begrenzt. Erst in den letzten Jahrzehnten wurden systematisch Selbstzeugnisse verschiedener Art gesammelt und als Information über Geschichte lesbar gemacht, indem der subjektive Charakter der Konstruktion, die ein Selbst vornimmt, de-konstruiert und das Werk im Zusammenhang mit dem kulturellen Umfeld, in dem es entstanden ist, kontextualisiert wird. 10 Die Autobiographie steht zunächst im Gegensatz zu der für afrikanische Ethnien traditionell stärker kollektivistisch ausgerichteten Selbstwahrnehmung. 11 Das Interesse von Europäern, Afrikaner zur Beschreibung ihres Lebens anzuregen, war zunächst zumeist kolonial motiviert. Missionaren, die ebenfalls Anstöße zum Verfassen entsprechender Ego-Texte gaben, ging es vor allem um eine pietistisch inspirierte Gewissenserforschung. 1940 erschien eine Sammlung autobiographischer

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Zahlreiche Belege bei Philip Holden, Autobiography and Decolonization. Modernity, Masculinity, and the Nation-State, London 2008. 8 Benedict Anderson, Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London, 2. überarbeitete Auflage 2016 (zuerst 1983). Anderson greift keine Beispiele aus Afrika auf. 9 Holden 2008, 7. 10 Winfried Schulze, Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996. 11 Darauf verweist schon Georges Gusdorf, Conditions et limites de l’ autobiographie, in: Formen der Selbstdarstellung. Festgabe für Fritz Neubert, Berlin 1956, 105f. zit. nach Gerhard Grohs, Stufen afrikanischer Emanzipation. Studien zum Selbstverständnis westafrikanischer Eliten, Stuttgart u.a. 1967, hier: 10.

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Schriften „der schwarzen Rasse“, die Diedrich Westermann (1875–1956) herausgab, 12 einer der ersten Vertreter einer wissenschaftlichen Afrikanistik an deutschen Hochschulen. Er war zunächst missionarisch in Westafrika tätig gewesen. In den Fallbeispielen fand er „eine erschütternde Rat- und Hilflosigkeit der Seele, eine seltsame Finsternis des Gemüts“ 13 und legitimierte mit solchen Ergebnissen die Notwendigkeit einer christlichen Erziehung durch Europäer. Vor allem Repräsentanten der westlich gebildeten Elite Afrikas verfassten autobiographische Texte, die seit dem 18. Jahrhundert überliefert sind. Gerhard Grohs (1929–2015) widmete ihnen eine Überblicksdarstellung, die 1967 erschien. 14 Das englische Wort educated Africans übersetzte er mit ‚moderne Afrikaner‘ und stellte titelprägend „Stufen afrikanischer Emanzipation“ vor: er konstruierte einen Prozess der Höherentwicklung, wobei er Nkrumah zur 3. Stufe rechnete, auf der das Streben nach Bildung und Reform erstmalig in revolutionäre Aktionen umschlug. Um aufklärerische Ideale der Rationalität zu realisieren, müssten traditionelle Bestandteile der Ethnien nach und nach überwunden werden. 15 Zentral ist in seiner Darstellung der Begriff ‚Nation‘, der aus seiner Sicht ein gelungenes Gemeinschaftswesen kennzeichnet. Solche Vorstellungen von der Universalität von Moderne, Fortschritt und Emanzipation als des entscheidenden Maßstabes für eine Entwicklung afrikanischer Länder, die sich schrittweise nach europäischem Vorbild vollziehen werde, sind für das 19. und frühe 20. Jahrhundert typisch. Sie hielten sich aber noch lange nach der Dekolonisation und wurden erst mit den Postcolonial Studies systematisch in Frage gestellt. Selbstzeugnisse von Afrikanern werden heute als Belege für „transkulturelle“ Identitätsbildungen gelesen, die seit Beginn der Missionierung in Westafrika stattfanden. 16 Geprägt wurde daher der Begriff „Transnationale Biographien“, der die Verflechtung der verschiedenen Einflüsse zwischen den Kontinenten beschreibt. 17 Die aktuelle Diskussion um den Nationsbegriff weist zudem neue Perspektiven, die gerade auch das Buch Nkrumahs in anderem Licht erscheinen lassen: So beschreibt etwa die Kunsthistorikerin Janet B. Hess, die 2012 die visuelle Kultur der Unabhängigkeitsbewegungen Afrikas untersuchte, statt ‚Nationen‘ einen Prozess der ‚Nationalisierung‘, der sich der Körperlichkeit der politischen Führer als ihrer Repräsentanten bediene. Bei Nkrumah und ähnlich auch bei Patrice Lu-

12 Diedrich Westermann, Afrikaner erzählen ihr Leben. Elf Selbstdarstellungen afrikanischer Eingeborener aller Bildungsgrade und Berufe und aus allen Teilen Afrikas, Berlin 1952, 3. Auflage (zuerst 1940). 13 Westermann, Einführung, 5–9, hier: 8. 14 Grohs 1967, hier: 10. Über Nkrumah bes. 168–176. 15 Grohs 1967 in seinem Schlussresümee, 229. 16 Vgl. etwa Kokou Azamede, Transkulturationen? Ewe-Christen zwischen Deutschland und Westafrika 1884–1939, Stuttgart 2010. 17 Vgl. dazu Christine Egger, Transnationale Biographien. Die Missionsbenediktiner von St. Ottilien in Tanganyika 1922–1865, Köln u.a. 2016. Sie untersucht allerdings biographische Zeugnisse von Missionaren in Ostafrika.

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mumba (1925–1961) findet sie „the establishment of a particular vision of the colonized and ‚nationalized‘ subject“. 18 Sie dynamisiert damit den Begriff ‚Nation‘, und beschreibt ihn als eine von außen erfolgende Zuweisung. Wunschbilder von einer bestimmten Form der Staatlichkeit, wie sie in Europa dominant waren, wurden dabei auf die bisher kolonisierten Länder projiziert. Diese aber verfügten über keine der Nationalstaatsentwicklung in Europa vergleichbare Voraussetzungen. So wurde mit der Namensgebung „Ghana“ an eine afrikanische vorkoloniale Reichsbildung in der Sahelzone angeknüpft. Das neue Land identifizierte sich also nicht mit dem für die ‚Nation‘ konstitutiven Modell einer territorialen Geschlossenheit mit Grenzen in einem historischen stabilen Raum. Nkrumah selber nennt als sein zentrales Ziel die Befreiung von kolonialer Abhängigkeit. „Independence for the Gold Coast was my aim“, so stellt er es im Vorwort klar. 19 Und er fügt hinzu: „Its independence will be incomplete, however, unless it is linked up with the liberation of other territories in Africa.“ 20 Damit definiert er seine Absicht als Ermutigung und Bestärkung anderer Länder des Kontinentes Afrika, ebenfalls Fremdherrschaft abzuwerfen. Sein Werk „Africa must Unite“ widmete er dem Panafrikanisten George Padmore (1900–1959) „und der afrikanischen Nation, die kommen muss“. 21 Unter Nation versteht er also einen Zusammenschluss aller Länder des Kontinentes Afrika und beschwört eine Vision, die Panafrikanisten wie der Geehrte repräsentierten. Auch Fanny Fröhlich vermeidet bewusst den Begriff „Nation“ bereits im Titel ihrer ausführlichen Darstellung der Konzepte Nkrumahs und spricht von der „Erfindung einer afrikanischen Gesellschaft“, die sie in der Verbindung der Traditionen des Landes mit der Moderne begründet sieht. 22 Dabei erkennt sie Nkrumah eine aktivere Rolle zu als Hess, die ihn als Objekt fremdgesteuerter Beeinflussungen versteht. Gerade in transkultureller Perspektive müssen autobiographische Texte aus Afrika bei der Rezeption in Europa, so hat es das Beispiel des Umgangs mit der Vokabel ‚Nation‘ gezeigt, methodenbewusst, kenntnisreich und kultursensibel gedeutet werden, da der Erwartungshorizont westlicher Rezipierender oft durch literarische Vorbilder sowie Begrifflichkeiten und Denkmuster des Okzidents geprägt ist. 23

18 Janet B. Hess, Nkrumah/Lumumba. Representations of Masculinity, in: Nicholas M. Creary (Hg.), African Intellectuals and Decolonization, Athens 2012, 27–36, hier: 28. 19 So im Preface, Nkrumah Autobiography, VII. 20 Nkrumah, X. 21 Kwame Nkrumah, Africa must Unite, 1964, dt. Leipzig 1965, Widmung. 22 Fanny Fröhlich, Die Erfindung einer afrikanischen Gesellschaft. Kwame Nkrumah und die Verbindung von Moderne und Tradition in Ghana, Saarbrücken 2015. 23 Zur Methodik der Analyse transkultureller Selbstzeugnisse vgl. Claudia Ulbrich, Hans Medick, Angelika Schaser (Hg.), Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, Köln u.a. 2012.

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ZIELGRUPPE UND ENTSTEHUNGSPROZESS DER QUELLE Der Autor bedient sich der Sprache der englischen Kolonialmacht. Er wendet sich also nicht primär an die Bevölkerung Ghanas als Zielgruppe, denn der größte Teil der Bewohner des Landes konnte das Buch weder selbst lesen noch verstehen. Geschrieben wurde diese Autobiographie zweifellos primär für die westliche Welt, die den Präsidenten Ghanas kennenlernen sollte. Das zeigt sich in den ausführlichen Erläuterungen der Landessitten, die der Autor gezielt an Menschen richtet, die diese Kultur nicht kennen. Die westliche Lebenswelt ist ihm vertraut, er hebt die Unterschiede explizit hervor. So spricht er von den „superstitions“ seiner Ethnie, der Akan 24, erklärt die polygame Lebensweise, die auch sein Vater „by native custom“ pflegte, 25 und die Matrilinearität, die ihn zum „clan“ seiner Mutter gehören ließ. Diese Ordnung sei anders „as would be the case in western marriages. 26 Verschiedentlich bezeichnet er die Gesellschaft, in der er aufwuchs, als „primitive“. Doch benutzt er diesen Begriff nicht in einem abwertenden Sinne als Gegensatz zu ‚zivilisiert‘; vielmehr diskutiert er an vielen Stellen die positive Funktion traditioneller Elemente, um sie den Lesenden nahezubringen. 27 Wie entstand diese Quelle: In einer speziellen Erklärung, die dem Text vorausgeht, spricht Nkrumah seiner englischen Privatsekretärin Erica Powell (1921–2007) seinen Dank aus. Diese habe ihn immer wieder ermahnt, neben seiner politischen Arbeit Zeit für dieses Buch abzuzweigen. Die von ihm diktierten Teile bearbeitete sie dann außerhalb ihrer eigentlichen Arbeitspflichten 28; ihre Freizeit war daher völlig „devoted to the compilation of the manuscript“. Ohne „patience and industry“ von ihr habe das Werk nicht fertiggestellt werden können. Erica Powell, die zunächst für den englischen Gouverneur gearbeitet hatte, begleitete ihn über lange Phasen seines Lebens, war ihm bis zu seinem Tod loyal verbunden und schrieb selber autobiographische Notizen über ihre Zeit als Sekretärin in Afrika nieder. 29 Ihr Einfluss auf Inhalt und Textgestalt war zweifellos erheblich. Doch nicht nur sie wirkte auf das Manuskript ein: Holden recherchierte den Entstehungsprozess der Publizierung aus Korrespondenzen und mündlichen Angaben. Auch der Verleger habe den Text verändert, und zwar beschwichtigend, um Protesten und Forderungen von darin kritisierten Zeitgenossen vorzubeugen, so kann er belegen. 30 Es griffen also zwei erfahrene europäische Gestalten erheblich in den Inhalt ein, sodass Autorschaft und Authentizität der Textgestalt nicht gesichert sind. Holden folgert,

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Nkrumah, 4. Nkrumah, 6. Nkrumah, 6. „I was brought up in a particularly primitive society […] The taboos of primitive society generally curb crime. The impact of Western culture on the African mind brought in its train as much bad as good.“ Nkrumah, 132. 28 Holden, 119. 29 Powell, Erica, Private Secretary (Female)/Gold Coast, New York St. Martin’s 1984. 30 Holden 2008, 119. Eine ähnliche Fassung: ders., Modernity’s body: Kwame Nkrumah’s Ghana, in: Postcolonial Studies Vol. 7, No 3, 2004, 313–332.

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der Text sei rasch und flüchtig zusammengestellt worden 31, wobei er möglicherweise die Systematik, Sorgfalt und die eigenen Interessen der beteiligten Personen unterschätzt. Das Buch erschien am 6. März 1957, dem offiziellen Datum der Unabhängigkeit, zunächst in Edinburgh. Auf dem Titel befindet sich ein Foto von Nkrumah in Landestracht; breite Streifen in Rot und Gold überziehen das Cover. Seitlich wird ein schwarzer Stern mit fünf Zacken sichtbar, der über den Buchrücken bis auf die Rückseite reicht. Simuliert wird damit die Flagge Ghanas, die die Farben Rot-GoldGrün aufweist und einen schwarzen Stern in der Mitte trägt, der als Symbol der Unabhängigkeit gilt. „Nationalisierend“ wird eine Identität von Buch, Autor und Land visuell hergestellt. Dabei wird die Erwartung an die Lebensgeschichte gänzlich auf dieses Element der Etablierung von Staatlichkeit reduziert. Doch fehlt eine der Landesfarben, sodass ein Mangel suggeriert wird, als sei die Fahne, vor der der Autor posiert, noch nicht freigegeben; der Prozess der Nationsbildung also noch nicht ganz abgeschlossen. Die ersten Auflagen waren rasch vergriffen; oft wird in der Fachliteratur mit späteren Ausgaben gearbeitet. Holden etwa gibt einen Nachdruck „New York International 1979“ als Quelle an; Fanny Fröhlich nennt eine für London 1979, Hess belegt nur aus sekundärer Literatur. 32 Die äußere Gestalt des jeweiligen Bandes wird in diesen Arbeiten nicht berücksichtigt. Gerade mit dieser aber wird eine Sinngebung vorgenommen, die Teil der populären Memorialkultur werden sollte. Bestimmte Erwartungen und Vorurteile über das als noch unstabil imaginierte junge Ghana und die Person, die an seiner Spitze steht, werden bei der internationalen Rezeption dieses Schlüsseldokumentes materialisiert, und sie fließen unkontrolliert in den Prozess der Überlieferung mit ein. Dabei taucht die Identifikation von Autor und Land im Titel, die Anlass zu so vielen ‚nationalen‘ Deutungen des Werkes gab, weder in der englischen noch in der deutschen Erstausgabe 33 und auch nicht in dem von Rooney zusammengestellten Werkverzeichnis auf 34; bei späteren Rezipierenden ist diese Kombination aber zentral. DIE REZEPTION DER AUTOBIOGRAPHIE DURCH DIE DEUTSCHE AUSGABE Schon ein Jahr später kam 1958 eine deutsche Übersetzung als Taschenbuch im List-Verlag heraus. Sie nennt die englische Fassung als ihre Vorlage und wurde ihr graphisch nachempfunden, unterscheidet sich aber erheblich von dieser.

31 Holden 2008, 119. 32 Holden 2008; Fröhlich 2015. Literaturverzeichnisse. 33 Die Erstausgabe hieß einfach „The Autobiography of Kwame Nkrumah“. Auf der vorangehenden Seite befanden sich Wappen und Name des Landes, die auf den Selbstverlag Nkrumahs hinwiesen. 34 Dort aufgeführt mit dem einfachen Titel „Autobiography“. Rooney, 375.

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Cover und Rückseite der ersten deutschsprachigen Ausgabe der Autobiographie Nkrumahs

Auch dieses Titelblatt zeigt ein Foto des Autors in traditionell-afrikanischer Kleidung, allerdings wurde ein anderes ausgewählt. 35 Es befindet sich diesmal vor einem Hintergrund, der mit rot und grün erneut zwei der drei Landesfarben aufgreift, wobei sich aber deren Anordnung in schmalen Längsstreifen nicht als Flagge Ghanas identifizieren lässt. Die ‚Nationalisierung‘ Nkrumahs durch das staatliche Hoheitszeichen ‚Fahne‘ wird also zurückgenommen. Der Kopf der Figur wird im obersten Teil überschrieben durch eine Zeile, die an eine aufwärts flatternde Fahne oder züngelnde Flamme erinnert, die aus dem Kopf Nkrumahs zu steigen scheint. Die Schrift enthält aber einen völlig neuen Titel, der dieser Buchausgabe verliehen wurde: „Schwarze Fanfare“. Unten auf der Seite befindet sich die Angabe des Verlages sowie, deutlich kleiner, eine Kennzeichnung der Person Nkrumahs: „Der Staatsmann der Goldküste“. Für den Namen des Autors war bei dieser Gestaltung

35 Trotz der weiten Verbreitung dieses Fotos gibt es auch Fehlinterpretationen: So leitet Janet B. Hess weitreichende Überlegungen aus der Bekleidung ab, denn sie deutet das Hemd, das Nkrumah unter dem Kente-Gewand trägt, als europäisches „business shirt […] a colarness garment of the type associated with a Socialist leadership“, 30. Nkrumah vermittle hier gleichzeitig verschiedene Botschaften, die sein schwieriges Verhältnis zu Tradition und Moderne symbolisierten. Das Shirt ist aber in Ghana überall erhältlich und offizieller Teil des Kente in der EweTradition.

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kein Platz mehr in der Waagrechten. Daher steht er senkrecht neben dem Foto, versehen mit einem Doktortitel. Erst im Buchinneren findet sich unauffällig klein und damit nur indirekt wahrnehmbar unter der Titelzeile die Information, dass es sich um eine Autobiographie handelt; erneut wird der Name des Buches verändert: „Meine Lebensgeschichte“. Mit dem eigentlich überflüssigen Possessivum nimmt der Verleger einen Akt der Besitzzuteilung vor, der klarstellen soll, dass wirklich der genannte Afrikaner selber schrieb. Eine andere ungewöhnliche Angabe findet sich im Buchinneren: „Umschlagzeichnung: Prof. H. Hussmann“. Doch findet sich nirgends eine Zeichnung; gemeint ist wohl das Layout des Schriftbildes. Auch ein Student hätte aber diese Anordnung der vier Satzteile um das Foto herum entwerfen können. Offenbar ist der Verlag bei diesem Buchprojekt nervös und ein wenig verkrampft um akademische Reputation des Vorhabens besorgt. Die Hautfarbe des Autors steht also anstelle des Namens des neuen Landes prominent an erster Stelle, und diese wird mit einem doppeldeutigen Symbol verbunden: „Fanfare“ bezeichnet zum einen ein Blechblasinstrument, das für Afrika untypisch ist, zugleich auch den damit erzeugten lauten Signalton. Der Text wird quasi als akustische Botschaft umdefiniert: Ton statt Wort ist zu erwarten. Fanfaren werden etwa geblasen, um Soldaten in einem Heerlager zusammenzurufen; allerdings ist dies keine Tätigkeit, die von leitenden Offizieren ausgeübt wird. Der Kampf um die Unabhängigkeit, von dem in dem Buch erzählt wird, ist noch nicht geschlagen, und schon gar nicht mit modernen technischen Mitteln – so wird es suggeriert. Mit der Assoziation eines militärischen Ortes wird eine zentrale Botschaft Nkrumahs verfälscht: er war nie ein Soldat. Zwar macht er selber deutlich, er habe in Amerika und England Bildung erworben, um sich „für den Kampf vorzubereiten.“ 36 Diesen definiert er aber deutlich nicht als Auseinandersetzung mit Waffengewalt, sondern mit Worten und Wissen. Sein Konzept folgt dem Modell des gewaltfreien Widerstandes Gandhis, von Nkrumah als ‚positive action‘ beschrieben. 37 Ghana, der Name des neuen Landes, wird außen wie innen im Buch gar nicht genannt; vielmehr wird die Bezeichnung der Kolonie gewählt. Damit wird der bereits ein Jahr vor dem Erscheinen erreichte Stand des unabhängigen demokratischen Staates, der seinen eigenen Namen trägt, negiert. Offenbar ging man davon aus, das Land sei dem Lesepublikum noch nicht bekannt. Durch den bestimmten Artikel „der Staatsmann“ – erneut ein semantisch unnötiger Zusatz – wird eine völlige Ausnahmeposition des Autors behauptet. Der mehrfach explizit genannte akademische Grad Nkrumahs ordnet den so kämpferisch eingeführten Mann zugleich als eine akademisch gebildete Autorität ein. Entsprechende Titel werden in der westlichen Publikationslandschaft grundsätzlich auf Cover und Titelei nicht aufgeführt. Auch die englische Erstausgabe nannte ihn nicht; er wurde also bewusst ergänzt und markiert erneut eine Ausnahmesituation dieses Buches. Sachlich ist er nicht ganz korrekt: Denn Nkrumah hatte

36 So schon in der Einleitung, 7. 37 Ähnlich auch in: Kwame Nkrumah, What I mean by Positive Action, in: ders., The struggle continues. Six panaf pamphlets, London 1973, 5–8 (geschrieben 1949).

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zwar an der Lincoln University in Pennsylvania verschiedene Bachelor- und Masterabschlüsse erworben, eine Doktorarbeit aber abgebrochen. Angesichts seiner politischen Bedeutung erhielt er 1951, also bereits einige Jahre vor der offiziellen Unabhängigkeit, von ebendieser Hochschule einen Ehrendoktor der Rechte verliehen, einem Fach, in dem er nicht wissenschaftlich ausgewiesen war. 38 Weitere Ehrentitel folgten. Die ständige Reproduktion des Doktorgrades stellt also eine überhöhende Mythifizierung seiner in der Tat beachtlichen wissenschaftlichen Leistungen dar. Begleitende Texte sollen das Interesse potenzieller Käufer des Buches wecken. Noch vor der eigentlichen Titelseite befindet sich in der inneren Buchklappe links ein kurzer Text von Peter Grubbe aus der Welt: Dieser weist zunächst auf die wirtschaftspolitische Bedeutung des Landes hin, indem er das während der Kolonialzeit in Monokultur angelegte, in der westlichen Welt unentbehrliche Konsumprodukt nennt: „Ghana ist heute der größte und bedeutendste Kakaoproduzent der Welt.“ Die Person, um die es geht, wird also über den Nutzwert des Gutes eingeführt, dessen Import gefragt ist. Über den Ministerpräsidenten dieses Landes heißt es: Nkrumah ist der erste Neger – nicht Araber wie Bourgiba oder König Mohammed –, der erste schwarze Politiker, der es in Afrika vom Rebellen zu einem international anerkannten Regierungschef gebracht hat. 39

„Neger“, heute ein Unwort, wurde zwar in den Fünfziger-Jahren noch häufiger benutzt. Nkrumah selbst spricht gleich im Vorwort von den „Neger-Universitäten“, die ihm Lehraufträge anboten. 40 Doch ist dieser Begriff hier in abgrenzender Absicht benutzt, um die Sensation des Weges hervorzuheben, den dieser Schwarze ging. Der afrikanische Kontinent wird dabei aufgespalten in die bereits in das westdeutsche Bewusstsein integrierte arabische Welt mit ihren namhaften Repräsentanten und die der bisher unvertrauten „Neger“. Nkrumah wird isolierend hervorgehoben; über das Ansehen des einstigen „Rebellen“ entscheidet die internationale Gemeinschaft. Als entscheidende normsetzende Instanz scheint sie ein einheitliches Urteil gefällt zu haben. Von einer agency, einer Aktivität des Dargestellten, der ja auch als Teil dieser Gemeinschaft eine eigene Sache vertritt, ist nicht die Rede. Grubbe (1913–2002), war in der Nachkriegszeit als linksliberaler Journalist bekannt, der in Afrika reiste, dort filmte und sich zu entwicklungspolitischen Fragen äußerte. 1963 und dann wieder 1995 wurde seine wahre Identität entlarvt: er hieß eigentlich Klaus Peter Volkmann und hatte versucht, sich durch ein Pseudonym der Verurteilung als Kriegsverbrecher zu entziehen. Während der Zeit des Nationalsozialismus war er für Deportationen, Misshandlungen und den Mord an Juden (mit)verantwortlich, zuletzt als Kreishauptmann SS im besetzten Polen.41 Trotz der Enttarnung wurde er während seiner Lebenszeit nicht verurteilt. Gerade in der zeitlichen Distanz erscheint es bemerkenswert, dass man für die Vorstellung der Autobiographie Nkrumahs im deutschsprachigen Raum die Einschätzung eines von den 38 39 40 41

Nkrumah dt., 150ff. Klappentext Buchinnenseite. Nkrumah, dt., 7. [letzter Abruf am 23.05.2017].

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Alliierten wegen rassistischer Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesuchten Nationalsozialisten, der damals noch unbehelligt eine Doppelexistenz lebte, auswählte. Auch auf dem Rückdeckel findet sich ein erläuternder Text: eine Personenbeschreibung aus dem wegweisenden Roman „Black Power“ des afroamerikanischen Schriftstellers Richard Wright (1908–1960), hier in der deutschen Übersetzung: Ich betrachtete Nkrumah. Er war ziemlich schmächtig gebaut, mit glatter, tiefschwarzer Haut; […] er war ein gewiegter Politiker, dessen ganz konkrete, praktische Interessen auf ein unverrückbares Ziel gerichtet waren[.]

Durch diesen ganz auf Nkrumahs Aussehen gerichteten Blick wird er zu einem Objekt der Neugierde, dessen Obskurität der Visualisierung seiner Person im Detail bedarf. Bei der weiteren Beschreibung erweist er sich nicht als groß, stark, stolz und strahlend. Erneut wird die Hautfarbe explizit genannt, hier sogar in der gesteigerten Form „tiefschwarz“. Kontrastiv zu dem unbedeutenden Aussehen steht die Energie, mit der diese Person agiert. Er wird immerhin als ein „gewiegter Politiker“ bezeichnet; er wurde also ‚gewogen‘ und trotz seiner ‚Schmächtigkeit‘ für gewichtig befunden, eine Passivkonstruktion. Die politische Absicht des so beschriebenen Menschen verflüchtigt sich in den drei Punkten, die das Ende des Zitates markieren und Phantasien schüren: eine Warnung, diesen Menschen nicht zu unterschätzen, von dem eine undefinierbare Gefahr ausgeht. Wright verfasste selber eine Autobiographie und erlebte die Situation in Ghana vor der Unabhängigkeit; sein Roman „Black Power“, hier in deutscher Übersetzung genannt, erschien 1954 und thematisierte die Verhältnisse an der Goldküste, wo er Nkrumah traf, der auch selber während seiner Zeit in den USA mit Vertretern der panafrikanischen Befreiungsbewegung in Kontakt getreten war. Die Ernsthaftigkeit des Afrikaners wird durch den Amerikaner versichert; möglicherweise bewirkt diese Präsentation Nkrumahs eine Steigerung der Bedrohung durch eine Verschwörung der „Schwarzen Macht“ über gleich zwei Kontinente. Eine Reihe von Bestandteilen der englischsprachigen Publikation wurden für die deutsche Taschenbuchausgabe getilgt: das Wappen Ghanas auf der ersten Seite, ein Gedicht von Walt Whitman, das, dem Preface vorangestellt, die Kenntnisse Nkrumahs in europäischer Literatur repräsentierte. Es fehlen die Abbildungen, die dem englischen Buch auf immerhin 38 Seiten beigefügt sind sowie die List of Plates, die die Fotos und Karten erläutert. Weiterhin sind die beiden Appendices nicht aufgenommen: die ‚Constitution of the Convention People’s Party‘ sowie ‚The Document Known as ‚The Circle“. Erstere Quelle vermittelt einen Eindruck von der Professionalität der Partei, die Nkrumah schuf. Die zweite ist die Plattform der in England gegründeten Studentenorganisation für die Unabhängigkeit der Kolonien; sie verdeutlicht die internationale Basis der politischen Aktivitäten Nkrumahs schon während seiner Studienzeit. Auch der Index fehlt. Insgesamt wird dem deutschen Buch der Charakter der sachlichen und visuellen Information weitgehend entzogen. Doch sind dieser Ausgabe auch Teile hinzugefügt worden: So wird ihr programmatisch ein Zitat aus dem Buch vorangestellt:

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Bea Lundt Ich habe den Kampf für die Unabhängigkeit der Goldküste niemals als eine isolierte Angelegenheit betrachtet, sondern stets als Teil eines allgemeinen welthistorischen Vorganges […] [.] Unsere Aufgabe ist noch nicht erfüllt und unsere Sicherheit noch nicht gewährleistet, bevor nicht die letzten Spuren des Kolonialismus vom afrikanischen Boden hinweggefegt sind. 42

Mit dieser Selektion aus dem ursprünglich letzten Kapitel wird die Autobiographie hier erneut – ganz im Sinne der Titelgestaltung – ‚entnationalisiert‘ und auf die Formel eines noch bevorstehenden politischen Kampfes reduziert, der sich nicht einfach in weiter Ferne abspielen wird, sondern unmittelbar auch Europa betrifft; im Nachkriegsdeutschland der BRD wurde damit in der Regel die „rote Gefahr“ assoziiert, die hier in Gestalt von gleich zwei Repräsentanten der „schwarzen Macht“ erscheint. Ein ganzes Kapitel mit dem Titel „Unabhängigkeit“ wird der Autobiographie angehängt. In diesem berichtet Nkrumah über die Feiern, die am 6. März 1957 stattfanden, außerdem über seine Teilnahme an der Konferenz der Premierminister des Commonwealth in London. Das Buch endet mit dem Satz: „So war ich glücklich, mein Land Ghana in diesem Geiste der Freundschaft und Würde unter den anderen Nationen des Commonwealth vertreten zu können.“ 43 Durch dieses neue Schlusskapitel verschiebt sich der Tenor der Autobiographie. Der Text der Erstausgabe schloss mit einem hoffnungsvollen Blick Nkrumahs in eine ungewisse Zukunft des neuen Landes. Jetzt steht nicht mehr der für Nkrumah selber ganz zentrale Sieg im Unabhängigkeitskampf als erreichtes Ziel am Ende der Autobiographie, sondern die Konferenz in London, bei der er als einer unter vielen etablierten Staatsoberhäuptern die ehemalige Kolonialmacht hofierte und dabei fiktive Werte der Harmonie beschwor, die dem neokolonialen Fortwirken der Abhängigkeit in keiner Weise entsprachen. Offenbar war die Zugehörigkeit Ghanas zum Commonwealth von dem deutschen Verleger so verstanden worden, dass die Kolonie „Goldküste“ konfliktlos und ohne Intermezzo autonomer Staatlichkeit gleich in eine von Großbritannien geleitete Staatengemeinschaft transferiert wurde. Ein Nachweis über Herkunft und Anlass dieser Textpassage wird nicht erbracht, ein erneuter Beleg für Unsicherheit oder gar gezielte Willkür, mit der die Textgestalt behandelt wurde. BILDER VON NKRUMAH WÄHREND DER 50ER-JAHRE IN EUROPA Die ‚nationalisierende‘ erste Fassung von Nkrumahs Autobiographie, erschienen in Schottland, missversteht sein panafrikanisches, noch unerfülltes Anliegen. Die deutschsprachige Ausgabe geht andere Wege. Das Manuskript wird in reißerischer und abwertender Weise werbewirksam manipuliert, um populäre Bedürfnisse anzusprechen: Der Autor wird dabei mythisiert als ein westlich gebildeter Ausnahme-

42 Nkrumah dt., 13 (nach eigener Zählung, die Paginierung des eigentlichen Textes beginnt mit S. 15.). Das Zitat stammt aus dem letzten Kapitel der englischen Ausgabe, in der deutschen S. 259. 43 Nkrumah dt., 269.

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afrikaner, dem man angesichts seiner lauten Heeressignale Aufmerksamkeit schenken muss, der aber inzwischen pazifiziert und bestens in Europa integriert wurde, wo er der Queen ehrfurchtsvolle Besuche abstattet. Versuche, diese Gestalt einzuordnen, oszillieren aber zwischen den Polen der Projektion seiner Aufschreie zurück in überwundene koloniale Zeiten und einer rassistischen Distanzierung von einer schwarzen Macht, die von einem eigentlich unansehnlichen Nkrumah ausstrahlt. Fehlinformationen über Nkrumah gab es auch im Rahmen von als seriös geltenden Printmedien: Schon einige Jahre zuvor, am 30.4.1952, hatte der Spiegel eine Titelgeschichte veröffentlicht: „In die Weltpolitik katapultiert – Medizinmann und Ministerpräsident Dr. Kwame Nkrumah.“ 44 Ein Medizinmann allerdings war Nkrumah nie; Hinweise auf entsprechende magische Tätigkeiten sind nicht überliefert. Möglicherweise wollte man seine Führungsposition aus einer spirituellen Rolle in seiner Ethnie erklären, die man sich als einflussreich vorstellte. Mit dieser Zuordnung wird ihm abgesprochen, ein wissenschaftlich ausgebildeter, rational handelnder Staatsmann zu sein, wie der Doktortitel es verheißt. Die Passiv-Konstruktion des einleitenden Satzteiles und die Wahl des Verbes entstammen wiederum dem Wortschatz vormoderner Kriegsszenarien. Der Urwald, in dessen ferner Düsternis man diesen Menschen Ahnen, Götter und Geister beschwören sah, steht im Kontrast zu dem Nomen ‚Weltpolitik‘, das mit kosmopolitischen Gemeinsamkeiten der zivilisierten Welt verbunden wird. Die gesamte Überschrift legt nahe, Nkrumah sei voreilig an einen falschen Ort befördert worden. Eingewickelt in eine noch nicht vollständig entrollte Fahne der neuen Nation – Fanfarenblasend im kolonialen Heereslager – eingehegt auf dem Parkett Londoner Audienzen als eine leise Stimme im lauten Konzert der Mächtigen – mit Bananenblättern um die Hüften Heilpflanzen sammelnd im Dschungel: die Kleider, Räume und Töne, die man in Europa mit Nkrumah assoziierte, variierten. Offenbar war die Unkenntnis und Verwirrung angesichts der Situation in Ghana im NachkriegsDeutschland grösser als in Großbritannien, wo man über breite koloniale Erfahrungen mit Afrika verfügte und den Unabhängigkeitskampf im Dialog mit gebildeten Afrikanern unmittelbar erlebt hatte. Diese Unsicherheit förderte eine Skrupellosigkeit beim Umgang mit jenen Zeugnissen, die die Erfahrungen Nkrumahs als Funktionsträger politischer Gruppen seit seinem Studium belegten sowie seine Legitimität als Politiker in demokratischen Parteien seit 1947, also lange vor der Unabhängigkeit belegten. Dabei war das Jahrhundert der Dekolonisation bereits weit fortgeschritten, als die Buchausgaben erschienen: die Kolonie Indien war schon 1947 unabhängig geworden und auch die entsprechenden Bestrebungen der afrikanischen Besitzungen europäischer Mächte waren spätestens seit den panafrikanischen Kongressen öffentlich bekannt, deren erster 1919 in Paris stattfand. 45 In Vergessen-

44 Der Spiegel, 30.4.1952, 6. Jg., Nr. 18, Spiegel-Verlag Hamburg. 45 Zur panafrikanischen Bewegung vgl. Arno Sonderegger, How the Empire Wrote Back: Notes on the Struggle of George Padmore and Kwame Nkrumah, in: Lundt/Marx 2016, 19–38.

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heit geraten war auch die vorkoloniale Zeit, in der Europäer mit afrikanischen Herrschern in Beziehung getreten waren, deren Kompetenz sie zu schätzen wussten.46 Auch andere Kontinuitäten relativieren die Ausnahmeposition, die bei der Publikation der Autobiographie Nkrumahs diesem zugewiesen wird: So hatten Afrikaner bereits Jahrhunderte zuvor akademische Grade erworben und Fuktionen ausgefüllt. Anton Wilhelm Amo, ebenfalls ein Ghanaer (1703–1753), wurde 1734 an der Universität Wittenberg promoviert, lehrte und publizierte danach als Philosoph und Jurist dort sowie in Halle. 47 DIE INHALTLICHE REZEPTION DER AUTOBIOGRAPHIE IN DEN SECHZIGER JAHREN Auch inhaltlich wurden in der älteren deutschsprachigen Rezeption dieses Werkes Missverständnisse reproduziert: Etwa über die Herkunft und Schichtzugehörigkeit Nkrumahs. Nkrumah wuchs in einem Dorf unmittelbar an der Küste auf, wo es seit Jahrhunderten Hybridität durch Kontakte mit Europäern gab; die baulichen Relikte der Handelsniederlassungen von Europäern befanden sich in unmittelbarer Nachbarschaft. 48 Sein Vater war Goldschmied 49, und übte damit einen hochspezialisierten und sehr traditionsreichen künstlerischen Beruf aus, der mit dem Reichtum des Landes umgeht, das ja nicht zufällig „gold coast“ genannt wurde. Die Farbe „gold“ wurde denn auch für die Landesflagge gewählt, um dieses wertvolle Gut zu symbolisieren. Nkrumahs Mutter stammte aus einer politisch führenden Familie und genoss „das höchste Ansehen“ im Dorf. 50 Über sie hatte Nkrumah Anspruch auf zwei Häuptlingsschaften, was sie ihm erst bei seiner Abreise nach Übersee offenbarte. 51 Diese Aussicht auf eine Führungsposition war nach seinen Beschreibungen nicht wichtig in seiner Kindheit und Jugend. Beide Eltern waren aber an einer gründlichen Ausbildung des Sohnes sehr interessiert: Nkrumah besuchte eine katholische Missionsschule und wurde dort von einem deutschen Priester persönlich gefördert, bevor er an die renommierte koloniale Kaderschmiede Achimota bei Accra geschickt wurde. 52 Als junger Lehrer arbeitete er in Elmina, dem Ort, in dem die Portugiesen 1482 ein erstes Fort errichtet hatten. 46 Christina Brauner, Kompanien, Könige und caboceers. Interkulturelle Diplomatie an Gold- und Sklavenküste im 17. und 18. Jahrhundert, Köln u.a. 2015. Die Autorin beschreibt die vielfältigen diplomatischen Begegnungen in vorkolonialer Zeit, wobei Afrikaner von den Europäern weitgehend als gleichwertige Partner wahrgenommen wurden. Erst mit der eigentlichen Kolonialzeit änderte sich diese kommunikative Basis. 47 [letzter Abruf am 23.05.2017]. 48 Elf der zahlreichen Castles an Ghanas Küste wurden 1979 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Damit sind sie auch als ein Auftrag für eine Integration in ein globales Bewusstsein definiert. 49 Nkrumah dt., 18. 50 Nkrumah dt., 21. 51 Nkrumah dt., 38. 52 Nkrumah dt., Kapitel „Meine Tage als Lehrer in Achimota“, 26–36.

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Trotz solcher eindeutiger Informationen behauptet die Forschung der sechziger Jahre, Nkrumah stamme aus extrem provinziellen einfachen Verhältnissen. Grohs schreibt etwa, Nkrumahs Vater sei ein „Bauer“; eine Verbindung mit der afrikanischen Herrschaftsschicht, den Chiefs, bestreitet er ausdrücklich. 53 Und auch Imanuel Geiss erklärt, Nkrumah stamme „‚aus dem Busch‘, vom platten Land“, und unterscheide sich daher völlig von der bisher in der westlichen Welt bekannten, urban lebenden, gebildeten Elite Westafrikas. 54 Pate für solche Zuweisungen stand vermutlich die amerikanische Gründungslegende vom Aufstieg des ‚Tellerwäschers‘ zum Millionär. In einer gewissen Analogie wurde Nkrumahs Herkunft zunächst kleingemacht, die Sensation seines Aufstiegs sodann überhöht. Sein Fall schließlich wurde aus der Hybris erklärt, den zivilisierten Nationen ähneln zu wollen. Erica Powell hatte wohl gewusst, warum sie ihren vielbeschäftigten Chef ständig anhielt, ihr autobiographische Details zu diktieren, die sie strukturierte, um die Willkür der europäischen Phantasien etwas einzudämmen, die ohne dieses Buch sicherlich noch ganz anders explodiert wären. In der traditionellen westafrikanischen Gesellschaft, das war wohl bei der Rezeption der Herkunftssituation von Nkrumah nicht verstanden worden, gab es keinen zentralisierten Staat mit einer Metropole, die das Monopol besaß für Hof und Herrschaft, Bildung und Kultur. Eine Vielzahl von dezentralen ‚Chiefs‘ regelten vielmehr die Vorgänge in ihrem Herrschaftsgebiet. 55 Trotz der dörflichen Herkunft verlief die Ausbildung Nkrumahs stringent, und sie war umfassend, zudem international ausgerichtet. Von Accra aus zog es ihn über England in die USA. Die in zwölf entbehrungsreichen und intensiven Studienjahren erworbene breite Bildung des Wissensdurstigen mit Abschlüssen in einer Reihe von Fächern entspricht durchaus dem klassischen Ideal Humboldts. Sein Leben lang vergewisserte sich Nkrumah schreibend seiner intellektuellen Identität. Gleichwohl bezeichnet Geiss die Ausbildung Nkrumahs als „eklektizistisch“ und kritisiert die „Oberflächlichkeit seines heterogenen Wissens“, ein geradezu heuchlerisches Urteil, vergleicht man den Ausbildungsstand Nkrumahs mit der Basis der Bildung europäischer Studierender, und erst recht der Staatsoberhäupter. Zudem wird damit die Qualität des stets genannten Doktortitels Nkrumahs hämisch in Abrede gestellt. 56 Ein drittes Beispiel zeigt die überzogen negative Kommentierung der Religiosität Nkrumahs, der selber keinen Widerspruch darin sah, ein „konfessionsloser Christ und marxistischer Sozialist“ zu sein. 57 Geiss berichtet dagegen von folgender Episode: Eine Gedenkfeier für seinen verehrten Lehrer James E. Aggrey (1875– 1927) in Salisbury gestaltete Nkrumah nach afrikanischem Ritus: er gab sich dabei, so sieht es Geiss, als „heidnischer Fetischpriester“, der „magische Zauberformeln sprach“. 58 In der Studentenzeitung wurde die Szenerie dokumentiert. Nkrumahs 53 So etwa Grohs, 29. 54 Geiss 1968, 286. 55 Auf die Bedeutung dezentraler Herrschaftsbildung in Afrika verweist insbesondere: Adam Jones, Afrika bis 1850, Frankfurt/Main 2016. 56 Geiss, 287. 57 Nkrumah dt., 25. 58 Geiss 1968, 288.

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Professor, bei dem er grade seinen Bachelor der christlichen Theologie abgelegt hatte, schrieb ihm daraufhin einen wütenden Brief, den Geiss leider nicht zitiert. Nkrumah antwortete, indem er sich auf die Hybridität und Vereinbarkeit der Glaubenswelten berief: Die Last (burden) meines Lebens ist es, so zu leben, dass ich ein lebendiges Symbol für die besten Seiten des Christentums und der Gesetze, Bräuche und Glaubensgewohnheiten meines Volkes werden kann. 59

Damit beging er einen „Denkfehler“, urteilt Geiss, „denn die moderne Welt, erst recht die Industrialisierung, muss die alte Stammesgesellschaft auflösen“, es komme sonst „zu verkrampften Lösungsversuchen“. 60 Angesichts dieser inkonsequenten Konzepte Nkrumahs sei seine Entmachtung ganz von internen Gegnern seiner Politik getragen worden. Auch Franz Ansprenger beobachtete 1972 die verschiedenen, sich überschneidenden Elemente in der Herrschaft Nkrumahs mit Unverständnis und nannte sie „opportunistisch“, wobei er sich auf den „ghanaischen Volksmund“ berief. 61 Er übersah dabei, dass Nkrumahs verbindliche Haltung auf seiner ausgeprägten Bereitschaft zu Verhandlungen zwischen den verschiedenen beteiligten Parteien beruhte und damit einem Vorbild folgte, das sich schon bei der Befreiung Indiens bewährt hatte. DAS FESTHALTEN AN DER EUROPÄISCHEN MODERNE ALS MASSSTAB: NEUERE DEUTUNGEN Das Wissen um die Globalität der Vorgänge bei der Auflösung der Kolonialreiche fördert neue Fragestellungen und Perspektiven 62; die Distanz zu den Ereignissen bringt teils neue Ergebnisse zutage 63, teils führt sie zu einer ausgewogeneren Beurteilung der bisherigen Rezeption Nkrumahs. 64 Die Hybridität Westafrikas, die für die Kontextualisierung der Autobiographie Nkrumahs wichtig ist, wird inzwischen weitgehend positiv verstanden. Gerade die Verflechtungsgeschichte Ghanas setzte seinem Handeln zudem aber auch Grenzen: Herausgearbeitet wurden in den letzten

59 Geiss 1968, 289. 60 Geiss 1968, 290. 61 Franz Ansprenger, Kwame Nkrumahs Ghana, in: ders. u. Heide Traeder, Rainer Tetzlaff, Die politische Entwicklung Ghanas von Nkrumah bis Busia, München 1972, 8–64, darin Kapitel II: Das politische System der Jahre 1947–1965 oder ‚Nkrumahism, the highest stage of opportunism“. 62 Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, München 2016. 63 Etwa durch die Öffnung von Archiven, die die Beteiligung des CIA bei dem Coup belegen: Jonathan Otto Pohl, Nkrumah, the Cold War, the ‚Third World‘, and the US Role in the 24 February 1966 Coup, in: Lundt/Marx 2016, 119–136. 64 Vgl. etwa Carola Lentz, A Lasting Memory: The Contested History of the Nkrumah Statue, in: Lundt/Marx 2016, 153–184.

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Jahren die Druckmittel des Kalten Krieges, die Ghana etwa einbanden in die Interessenspolitik der beiden deutschen Staaten. 65 Noch immer aber steht in der Fachliteratur der letzten Jahre der Maßstab der europäischen ‚Moderne‘ im Mittelpunkt. Doch hatte schon Norbert Elias (1897– 1990) der von 1962–1964 als Gastprofessor an der University of Ghana in Legon lehrte, dort weder seine Erwartung von einer dem alten Griechenland vergleichbaren Ursprünglichkeit, noch seine These von der Universalität der notwendigen Stadien des Zivilisationsprozesses bestätigen können. 66 Holden versucht indes weiterhin, eine andere klassische Position über die Entwicklung Europas auf Ghana zu übertragen: Aus der Perspektive der Genderforschung erläutert er, Nkrumah habe am eigenen Beispiel das Leitbild einer urbanen, disziplinierten, asketisch orientierten Männlichkeit konstruiert, die dem unermüdlichen Arbeitseinsatz für die kommende Nation dienen sollte. Einer solchen Definition von Maskulinität bedurfte es, denn durch Kolonialisierung werde ein Land ‚verweiblicht‘: seine ‚männlichen‘ Kräfte wurden durch die Fremdbestimmung unterworfen und müssten neu beschworen werden. Doch ist das Paradigma der Arbeitsaskese Teil einer bestimmten Entwicklung im protestantisch geprägten Westen. Nicht zufällig verband Max Weber sie mit dem „Geist des Kapitalismus“ 67 – eine Situation also, die für die kolonial eingebundene Ökonomie Westafrikas gar nicht charakteristisch ist. Zudem war Nkrumah katholisch erzogen; er hielt dabei zugleich an afrikanischen Traditionen fest. Über die polygame Lebensform schreibt er, sie entspreche der „des öfteren bereits anerkannten Tatsache [...] dass der Mann von Natur aus polygam veranlagt ist“ 68. Zwar lebte er offiziell monogam in einer politischen Ehe, die er im Jahr der Unabhängigkeit 1957, also erst mit 47 Jahren, mit einer Ägypterin einging. Das Paar konnte sich sprachlich nicht verständigen; doch war die Beziehung von Dauer, drei Kinder wurden geboren. Nkrumah hatte zudem einen Sohn aus einer vorehelichen Beziehung; belegt ist auch, dass er während seines Studiums in England Liebesbeziehungen unterhielt. 69 Zudem wird Nkrumah immer wieder als ‚charming-boy‘ bezeichnet: Gerade auch auf seiner charismatischen Attraktivität, belegt durch zahlreiche Fotos von Feiern und Festen, auf denen er als Frauenliebling umjubelt wird, beruhte sein Erfolg. Die Passagen in seiner Autobiographie, in denen er offen zugibt, er habe immer Angst vor der Verantwortung gehabt, die mit einer festen Verbindung zu einer Frau verbunden sei 70, passen durchaus zu diesem Bild. Ohnehin waren die Geschlechterverhältnisse in dem deutlich matrilinear geprägten Westafrika nicht 65 Matteo Landricina, Deutsch-deutscher Gegensatz am Volta. Kwame Nkrumahs Ghana aus der Sicht der Bundesrepublik, in: HZ, Bd. 304, 2017, 370–397. Ulrich van der Heyden, Kwame Nkrumah- Diktator oder Panafrikanist? Die politische Bewertung des ghanaischen Politikers in der DDR im Spannungsfeld der deutsch-deutschen Konkurrenz in Westafrika, Potsdam 2017. 66 Ulrich van Loyen, Strände der Vernunft. Norbert Elias im inneren Afrika. Mit einem Vortrag von Lucien Lévy-Bruhl, Berlin 2012, etwa 15. 67 Begründet von Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. 68 Nkrumah, 20. 69 Holden, 138. 70 Nkrumah dt., 25f.

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mit der polaren Genderstruktur im europäischen Bürgertum vergleichbar, von der Holden ausgeht. Andere Arbeiten der Genderforschung belegen eine Bevorzugung des männlichen Geschlechtes während der Kolonialzeit, mit weitreichenden Folgen für die Frauen, die ihre angestammte Macht verloren. 71 Überzeugender ist der Ansatz, die Trope vom ‚Scheitern‘ Nkrumahs als Teil eines typisch westlichen Männlichkeitsideales zu deuten, das die Norm des formalen Erfolges als Maßstab für ein gelungenes Leben einführte. Die Autobiographie endet mit dem ‚Triumph‘ Nkrumahs und kann nicht von dem späteren Scheitern seiner Konzepte aus gedeutet werden. Dem ‚Vater der Nation‘ werden aber spätere Probleme ‚seines‘ Landes angelastet, indem sie aus dem Charakter abgeleitet werden, den er in seiner Autobiographie von sich entfaltet. Sie werden in dieser gesucht und in sie hineingesehen. 72 Doch zweifellos ist die Wahrnehmung des Scheiterns der Entkolonisierung Westafrikas nicht gegenstandslos. Wolfgang Reinhard spricht von einer „strukturellen Fehlentwicklung, die dadurch zustande kam, dass koloniale Fremdherrschaft primär nach den Interessen der Herrschenden und nicht der Beherrschten wirtschaftet.“ 73 Die führenden Eliten Afrikas sind also fortgesetzter Fremdbestimmung ausgesetzt, die gerade Nkrumah als „Neo-Kolonialismus“ kritisiert und als Ursache für die „Dark Days in Ghana“ bezeichnet hatte. 74 So erklären sich die resignierenden Urteile über die „wasted generation“, wie sie Wole Soyinka sowie Wangari Maathai äußern nicht primär als Kritik an Nkrumah, sondern als Beschreibung der Aussichtslosigkeit seines Unterfangens. 75 NEUE PERSPEKTIVEN FÜR DIE NKRUMAH-REZEPTION Auf der Basis der Agenda 2030 76, in der von einer weltweiten gemeinsamen Aufgabe zur Nachhaltigkeit die Rede ist, an der gemessen alle Länder dieser Welt defizitär sind, kann die Autobiographie von Nkrumah ‚entpolitisiert‘ neu gelesen werden: Der Autor stellt westlichen Lesenden seine kulturellen Erfahrungen vor, beschreibt seine Entwicklung in turbulenter Zeit und versucht ihnen sein panafrikanisches Anliegen zu verdeutlichen. Ähnlich wird das Leben von Nkrumah auch an junge Lesende in Ghana vermittelt: 77 Es wird seine Laufbahn beschrieben, die sich 71 Vgl. etwa Henry Kam Kah, The Sacred Forest. Gender and Matriliny in the Laimbwe History (Cameroon), c. 1750–2001, Berlin 2015. 72 Holden, 140. Hess, 29f. 73 Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, München 2016, 1018. 74 Kwame Nkrumah, Neo-Colonialism, The Last Stage of Imperialism, New York 1965. Dieses Buch, in dem er scharf die USA angriff, war vermutlich der Anlass für die Unterstützung des Putsches durch die CIA im selben Jahr, so etwa Pohl in Lundt/Marx. Im Exil schrieb Nkrumah u.a.: ders., Dark Days in Ghana, New York 1968. 75 Vgl. FN 2 und 4. 76 . 77 Dapo Adeleke, Kwame Nkrumah, Lantern Heroes Series, Accra 2009, 12.

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in mehreren Schritten von den Erwartungen an die „Normalität“ in seiner Ethnie entfernte: Erzählt wird aus der Perspektive der Eltern im Dialog mit dem Sohn über seine Zukunft. Der Weg Nkrumahs wird als „noble course of life“ beurteilt. 78 Die problematische Entwicklung in Ghana wird nicht verschwiegen, aber sie entwertet nicht den ersten Teil seines Daseins. Auch eine weitere Schrift, die für junge Lesende bestimmt ist, 79 würdigt vor allem die Leistung Nkrumahs durch seine Motivierung der Afrikaner, ihre Zukunft selber in die Hand zu nehmen.

Ein Jugendbuch (Adeleke) zeigt die Stadien der Distanzierung Nkrumahs von den Erwartungen seiner Eltern.

Gerade in Ghana selber gibt es auch Forschungen junger Historiker, die an einer Entmythisierung der Person Nkrumahs stricken und die Befreiung von kolonialer Herrschaft auf langwirkende soziale Bewegungen zurückführen, in die dann auch die Chiefs involviert sind. Damit wird eine Gruppe gerechtfertigt, die in der afrikanischen Fachliteratur oft als korrumpiert galt, weil die traditionellen Autoritäten im

78 Adeleke, 27. 79 Woeli Dekutsey, Kwame Nkrumah. The Great African, Accra 2012.

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Rahmen der indirect rule die Ansprechpartner der Briten waren. 80 Die Diskussion in Ghana hat also die polare Einordnung Nkrumahs überwunden, sie ist kreativ und ausgewogen. 2017 fand ein großes Event statt, das Nkrumah in den Kontext des Zukunftsvertrages der Organisation für afrikanische Einheit „Global Africa 2036“ stellt und als Aufgabe formuliert „making the dream of Kwame Nkrumah a reality“. 81

80 Etwa Nana Yaw Sapong, Framing Contentious Politics in the Gold Coast: The Nkrumah Contingency 1948-1951, in: Lundt/Marx, 85–102. 81 „2nd Kwame Nkrumah Pan-African Intellectual & Cultural Festival“ zum Thema „Global Africa 2063: Education for Reconstruction and Transformation“. Veranstaltet vom „Institute of African Studies“ an der University of Ghana Accra 25. Juni bis 1. Juli. Das Zitat stammt aus dem Konzept .

MARITIME WELTWIRTSCHAFT Ökonomische Aspekte der „Europäisierung der Welt“ 1 Markus A. Denzel Als am 1. Mai 1851 die erste Weltausstellung im Kristallpalast im Londoner Hyde Park eröffnet wurde, war dies „der größte Tag in unserer Geschichte, das wundervollste, eindrucksvollste und packendste Schauspiel, das man je gesehen ... Der Triumph ist unermeßlich“, schrieb Königin Victoria von England (1837–1901) zwei Tage danach an ihren Onkel, König Leopold I. von Belgien (1831–1865). Diese Great Exhibition of the Works of Industry of All Nations, wie sie offiziell hieß, präsentierte die neuesten technischen, industriellen und künstlerischen Errungenschaften einer ökonomisch enorm rührigen Zeit, und sie ließ den Gastgeber Großbritannien als den „Workshop of the World“ erscheinen – so war es die erklärte Absicht der initiierenden Royal Society of Arts, ihres Präsidenten, des Prinzgemahl Albert von Sachsen-Coburg und Gotha (1819–1861), und der unterstützenden Industriellen und Geschäftsleute. Auch wenn die erste World’s Fair, wie sie bald genannt wurde, von Großbritannien und seinem weltumspannenden „seabourne Empire“ dominiert wurde, waren es noch immerhin 94 Länder – selbständige und abhängige – aus allen fünf Kontinenten, die hier ihre Produkte vorstellten. 2 Sie repräsentierten die damals aufkommende „Weltwirtschaft“, das bislang unbekannte, auf dem Zusammenspiel von Welthandel und Industrialisierung basierende Phänomen internationaler Arbeitsteilung zwischen den produzierenden Nationen. 3 Nach Bernhard Harms (1876–1939), dem Begründer einer integrativen Weltwirtschaftslehre, ist unter Weltwirtschaft „der gesamte Inbegriff der durch hochentwickeltes Verkehrswesen ermöglichten und durch staatliche internationale Verträge sowohl geregelten

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Dieser Beitrag schließt konzeptionell und inhaltlich an einen früheren Beitrag des Verf’s an: Markus A. Denzel, Auf dem Weg zum Welthandel – Interkontinentale Handels- und Zahlungsverkehrsvernetzungen über die Weltmeere, in: Jürgen Elvert u.a. (Hgg.), Das maritime Europa. Werte – Wissen – Wirtschaft, Stuttgart 2016, 49–65. Utz Haltern, Die Londoner Weltausstellung von 1851, Münster 1971; Franz Bosbach/John R. Davis (Hgg.), Die Weltausstellung von 1851 und ihre Folgen, München 2002. Vgl. Hans Pohl, Aufbruch der Weltwirtschaft. Geschichte der Weltwirtschaft von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1989, 1; ders., Trends in der Weltwirtschaft von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, in: Markus A. Denzel (Hg.), Vom Welthandel des 18. Jahrhunderts zur Globalisierung des 21. Jahrhunderts. Leipziger Überseetagung 2005, Stuttgart 2007, ²2009, 53–66.

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wie geförderten Beziehungen und deren Wechselwirkungen zwischen den Einzelwirtschaften der Erde“ zu verstehen. 4 „Weltwirtschaft“ im Sinne der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war dabei immer auch und gerade mit der Verbindung der Länder und Kontinente untereinander über See zu verstehen, eben als „maritime Weltwirtschaft“. Hierunter können alle Entwicklungen verstanden und subsumiert werden, die die ökonomische Expansion Europas in außereuropäische Länder und Regionen in dieser Epoche betrafen. „Exportiert“ wurden nämlich nicht nur europäische Gewerbe- und Industrieprodukte, sondern auch ökonomisches, technisches und kommerzielles Know-how, das maßgeblich einerseits zur „Europäisierung der Welt“, andererseits dazu beitrug, dass der mit Abstand größte Teil der außereuropäischen Länder heute europäische und – davon abgeleitet – amerikanische Standards in allen ökonomischen, technischen und kommerziellen Standards verwendet. 5 Die zentrale Frage lautet: Was gab Europa der Welt? Aus der Fülle der hierauf möglichen Antworten sollen im Folgenden drei, für zentral erachtete Aspekte aus der ökonomischen Perspektive erörtert werden: 1. DER EXPORT AUS DEM „WORKSHOP OF THE WORLD“ – ODER: VOM KUPFER ZUM GUSSSTAHL Den orientalischen und asiatischen Luxuswaren, die die europäischen Handelsstädte und -nationen seit der renaissance du commerce (Henri Pirenne) in immer größeren Mengen nach Westen holten, um die immer weiter zunehmende Nachfrage nach derartigen Köstlichkeiten geschmacklicher, textiler oder anderer Art befriedigen zu können, hatten die Importeure nur wenige, im Okzident hergestellte Produkte entgegenzusetzen. Der Export von Rohstoffen, Menschen (Sklaven) und Waffen in den Orient – zu den „Feinden der Christenheit“ – wurde durch die Kirche zunehmend unterbunden, und die selbsthergestellten Gewerbewaren entsprachen nur in seltenen Fällen dem Geschmack und dem Qualitätsbewusstsein der Menschen in der Levante. Im Orienthandel wurde daher spätestens seit dem 15. Jahrhundert Kupfer das neben Gold und Silber wertmäßig wichtigste Exportprodukt. Gehandelt u.a. von den Fuggern und anderen berühmten oberdeutschen Handelshäusern, war Kupfer im 16. Jahrhundert in Indien, wohin die Portugiesen es brachten, nicht nur Zahlungsmittel, sondern auch ein zentrales Gewerbeprodukt für den Kanonenguss, die Waffenfabrikation und die Bedachung öffentlicher Gebäude. 6 4 5

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Bernhard Harms, in: Weltwirtschaftliches Archiv 1, 1914, 15. Z.B. Markus A. Denzel, Die Adaption ‚europäischer Währungssysteme‘ in China und Japan im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Zur Durchsetzung des Dollar-Systems im ostasiatischen Raum, in: Harald Witthöft unter Mitarb. v. Karl Jürgen Roth, Acta Metrologiae Historicae V: 7. Internationaler Kongreß des Internationalen Komitees für Historische Metrologie (CIMH) (25.–27. September 1997 in Siegen 1997), St. Katharinen 1999, 227–254. Markus A. Denzel, Metalle im Levantehandel im 14. und 15. Jahrhundert, in: Rudolf Tasser/Ekkehard Westermann (Hgg.), redigiert v. Gustav Pfeifer, Der Tiroler Bergbau und die

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Für den Einkauf von Sklaven brachten die europäischen Sklavenhändler Waffen und Munition, Alkoholika, Textilien und Hüte, Kleineisenwaren und auch viel Tand, wie die berüchtigten Glasperlen, an die afrikanischen Küsten. Darüber hinaus spielten auch Kuriosa eine größere Rolle, als man gemeinhin glaubt, so etwa die Ausfuhr von mechanischen Uhren und astronomischen Instrumenten nach China oder von Küchenmessern nach Indien. Aus deutscher Perspektive war dann Leinwand seit dem 17. Jahrhundert das mit Abstand wichtigste Exportprodukt nach Übersee bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein, als die zunehmend schlechter werdende Qualität der deutschen, handwerklich hergestellten Leinwand die Absatzchancen auf den überseeischen Märkten gegenüber den besseren und billigeren Industrie-Leinen der Briten verminderte. Gerade das Beispiel der Leinwand zeigt den durchschlagenden Erfolg, den die neuen, industriell, d.h. fabrikmäßig und massenhaft, hergestellten Textilwaren der Briten auf den außereuropäischen Märkten erlangen konnten. Der im 18. und 19. Jahrhundert stark zunehmende Seehandel erlaubte es, zunächst britische, später auch andere europäische Fabrikwaren in immer größeren Mengen auf die außereuropäischen Märkte zu bringen. Anfangs dominierten dabei einfache Qualitäten, wie etwa die billige Baumwollware für die Kleidung der Sklaven in den amerikanischen Plantagenkolonien. Doch gelang es britischen Fabrikanten seit dem späteren 18. Jahrhundert, ihre Produkte rasch qualitativ so zu verbessern, dass sie spätestens nach den Napoleonischen Kriegen auch in Ländern mit traditionell sehr hochwertiger Textilproduktion als Konkurrenten auf den dortigen Märkten auftreten konnten. Denn nunmehr waren die britischen Produkte nicht nur preiswert, sondern auch qualitätsvoll geworden, so dass die einheimischen, handwerklich oder allenfalls in Manufakturen produzierenden Gewerbetreibenden diesen nach und nach nichts mehr entgegenzusetzen hatten und in den ‚Preiskämpfen‘ auf den einzelnen Märkten unterlegen waren. Paradebeispiel für diese Entwicklung ist Indien, wo der massive und massenhafte Import britischer Fabrikwaren – allen voran Textilien, aber keinesfalls ausschließlich – dafür sorgte, dass zwischen 1830 und 1900 um mehr als 70 Prozent des bis dahin bestehenden Gewerbes einging. 7 Mit der industriellen Fabrikfertigung wurde die Palette der Exportprodukte von Europa (und zunehmend auch aus den USA) nach Übersee geradezu unerschöpflich. Sie reichte von Textilwaren aller Art über erste Werkzeugmaschinen bis hin zur technischen Ausstattung für Kraftwerke und zum Kruppschen Gussstahl, der, in immer größeren Blöcken gegossen, jeweils das spektakulärste Ausstellungsstück des deutschen Pavillons auf den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts war. 8 Sie umfasste aber auch ‚schöne‘ Gewerbeprodukte, von Kartenspielen über Mode- und Galanteriewaren bis hin zu Musikinstrumenten, die etwa von Leipzig über London

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Depression der europäischen Montanwirtschaft im 14. und 15. Jahrhundert. Akten der bergbaugeschichtlichen Tagung in Steinhaus, Innsbruck u.a. 2004, 45–60. Christoph Buchheim, Industrielle Revolutionen. Langfristige Wirtschaftsentwicklung in Großbritannien, Europa und in Übersee, München 1994, 71; Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, München 2016, 800. Lothar Gall, Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums, Berlin ²2001.

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bis Australien und China transportiert wurden. 9 Der Handel mit Industrieprodukten erzielte nach 1850 – in der Epoche der aufbrechenden Weltwirtschaft – ein starkes Wachstum und trug erheblich zum Anwachsen des Welthandels insgesamt bei. Im Verlauf der Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts büßten die industriell gefertigten Textilwaren ihre noch vor 1850 dominierende Stellung im Handel mit Industriegütern zugunsten der Metallverarbeitung, dem Maschinenbau und den aufkommenden ‚neuen‘ Industrien (v.a. Chemie und Elektro) ein. 10 Aber auch die Industrialisierungsansätze in einigen verschiedenen außereuropäischen Ländern (außer den USA), die durch den Technologietransfer aus Europa gefördert wurden (s.u.), ließ die Bedeutung von Textilien im Welthandel schwinden. Dabei blieb Großbritannien bis zum Ersten Weltkrieg der führende Textillieferant auf den außereuropäischen Märkten; zwischen 1831 und 1931 entfiel etwa ein Drittel des britischen Gesamtexports auf Textilwaren, wenngleich mit abnehmender Tendenz, wobei allein im Baumwollsektor vier Fünftel der Gesamtproduktion exportiert wurden (1913). Im Bereich des Maschinenbaus und der Metallverarbeitung konzentrierten sich die um die Jahrhundertwende führenden Industriemächte auf verschiedene Branchen: Während die Briten im Export von Eisenbahnausrüstungen – v.a. nach Indien – führend blieben, dominierten die USA im Landmaschinen- und das Deutsche Reich im Werkzeugmaschinen- und Elektroapparateexport. Dabei lagen die außereuropäischen Hauptabsatzmärkte der deutschen Elektrohersteller nach 1890 in Lateinamerika – und hier vor allem in Argentinien 11 – und Asien – hier insbesondere Japan –, während die US-amerikanischen sich auf Brasilien, Mexiko und ebenfalls Japan konzentrierten. Die englische Elektroindustrie war demgegenüber mehr auf China und Australien sowie – in Ansätzen – Afrika ausgerichtet. Schließlich kamen 1913 zwar etwa zwei Fünftel des Weltexports an Chemikalien aus Deutschland, ein Fünftel aus England, 13% aus Frankreich und den anderen westeuropäischen Ländern sowie 11% aus den USA, aber die überseeischen Märkte wurden immer noch von England beherrscht, insbesondere durch den Export von Soda und Sodaprodukten (zur Textilverarbeitung erforderlich) sowie von Schwerchemikalien. 12

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Ingbert Blüthner-Haessler, Von Leipzig nach London. Blüthner und das Pianoforte (ca. 1850– 1914), Stuttgart 2012. 10 Vgl. Ralph Davis, The Industrial Revolution and British Overseas Trade, Leicester 1979. 11 Gerhart Jacob-Wendler, Deutsche Elektroindustrie in Lateinamerika. Siemens und AEG 1890– 1914, Stuttgart 1982. 12 Hierzu im Überblick Pohl, Aufbruch der Weltwirtschaft, 153–184.

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2. INTERNATIONALER TECHNOLOGIETRANSFER – ODER: DER „EXPORT DER INDUSTRIALISIERUNG“ Ein, wenn nicht der entscheidende Aspekt für eine Ausbreitung des Industrialisierungsprozesses ist der Technologietransfer, d.h. „jede Art der räumlichen Verbreitung und Übertragung von technischem Wissen (Know How)“. 13 Die Übernahme von bewährten Technologien aus dem Ausland – durch Fachleute, Blaupausen, Lizenzen, etc. – erlaubte vielfach eine Importsubstitution: Einheimische Produkte begannen, bislang importierte abzulösen. Dieser Technologietransfer ging dabei legale und illegale Wege gleichermaßen und schloss auch das Herausschmuggeln von Maschinen aus England und ihren Transport über See, den Diebstahl von Blaupausen und die Industriespionage mit ein. In den Jahrhunderten des Mittelalters war Europa weitgehend ein Importeur von Technologien insbesondere aus dem Orient gewesen, woher es u.a. die Papierherstellung 14 oder auch den Plantagenanbau erlernt hatte. Ein erster bedeutender, von Europa ausgehender Technologietransfer fand dann im Montansektor statt, als Techniken im Bergbau und Hüttenwesen seit dem 16. Jahrhundert in außereuropäische Länder – insbesondere nach Lateinamerika – übertragen wurden. 15 Weniger spektakulär, aber langfristig nicht minder wichtig waren die verschiedenen Kleingewerbe, die von Europa aus in die Neue Welt transferiert und dann – insbesondere in den USA – in der jeweiligen Produktionsweise den dortigen Verhältnissen angepasst worden sind. Dieser transatlantische Technologietransfer brachte nicht zuletzt die hohe Kunst der Eisenverarbeitung auf den amerikanischen Kontinent. Mit dem einsetzenden Industrialisierungsprozess in England und dem Export der neuartigen Produkte begann – zunächst ungewollt und trotz entsprechender, merkantilistisch motivierter Verbote – ein weiterer Technologietransfer, zunächst auf den europäischen Kontinent, dann in die jungen USA, schließlich in zahlreiche außereuropäische Länder und Regionen, in die England seine massenhaft hergestellten Fabrikwaren verkaufte. 16 Wurden Produktionsmittel in industriell weniger oder noch gar nicht entwickelte Ländern importiert – Maschinen, Lokomotiven 13 Pohl, Aufbruch der Weltwirtschaft, 141. Vgl. Ulrich Troitzsch, Technologietransfer im 19. und 20. Jahrhundert. Einleitung, in: Technikgeschichte 50, 1983, 177–180, hier: 177f. – In der englischsprachigen Literatur wird gemeinhin zwischen der geographischen Ausbreitung von Technologie („technological diffusion“) und der geplanten Übertragung von Wissen („technological transfer“) unterschieden. Vgl. Hans Corsten, Zur Abgrenzung von Technologietransfer, Diffusions- und Imitationsprozessen, in: Jahrbuch für Absatz- und Verbrauchsforschung 27, 1981, 265–273. 14 Wolfgang von Stromer, Große Innovationen der Papierfabrikation in Spätmittelalter und Frühneuzeit, in: Technikgeschichte 60/1, 1993, 1–6. 15 Bernd Hausberger, La nueva España y sus metales preciosos: la industria minera colonial a través de los „libros de cargo y data“ de la Real Hacienda, 1761–1767, Frankfurt am Main/Madrid 1997. 16 David J. Jeremy, Damming the Flood: British Government Efforts to Check the Outflow of Technicians and Machinery, 1780–1843, in: Business History Review 51, 1977, 1–34; ders., Transatlantic Industrial Revolution: The Diffusion of Textile Technologies between Britain and America, 1790–1830s, Oxford/Cambridge (Mass.) 1981.

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etc. –, konnten sie unmittelbar angewendet, aber auch imitiert und – in der Regel recht rasch – verändert, ja sogar verbessert werden. Dieser sachliche Transfer von Wissen ging vielfach, wenn auch nicht immer mit personalem Transfer einher, d.h. der Anbzw. Abwerbung von Fachkräften, so etwa mit dem Engagement eines Lokomotivführers und Maschinisten beim Kauf eines, wie es anfangs hieß, „Locomobils“. Derartige Wanderungsbewegungen von Fachkräften stellen rein zahlenmäßig eine relativ geringe Größe dar, spielten aber qualitativ eine sehr gewichtige Rolle. Doch war dies nicht der einzige Weg personalen Wissenstransfers. Insbesondere die an die Kavalierstouren des 18. Jahrhunderts angelehnten Reisen von Unternehmern in die heranwachsenden Zentren der Industrialisierung – wie etwa des Barmener Fabrikantensohnes Friedrich Engels (1820–1895) nach Manchester – sowie die häufigeren Gewerbe- und die selteneren Weltausstellungen 17 ermöglichten das Kennenlernen technischer Innovationen – langfristig ergänzt um die orts- und produktunabhängige Wissensvermittlung durch entsprechende Fachliteratur. Schließlich war konnte auch ein Auslandsstudium einen gewichtigen Beitrag zum Technologietransfer, wie die Entsendung von jungen Japanern an ausländische Universitäten und Fachschulen belegt, die nach ihrer Rückkehr den nachholenden Industrialisierungsprozess des Landes beförderten. Im 20. Jahrhundert lassen sich mehrere vergleichbare Prozesse dokumentieren, so etwa für die Entwicklungen in Südkorea, aber auch in Indien. Der internationale Technologietransfer ging allerdings nicht nur vom industrialisierten England aus, sondern fand auch zwischen den sich industrialisierenden Volkswirtschaften statt, die sich damit gegenseitig beförderten. 18 So profitierte Deutschland noch bis ins 20. Jahrhundert von amerikanischen Landmaschinen, während die USA forschungsintensive Kraftmaschinen wie etwa den Dieselmotor aus Deutschland übernahmen. 19 Doch noch viel wichtiger war der Technologietransfer in spätindustrialisierende und unterentwickelte Länder. So übernahm Japan schon im Bakumatsu (1853–1867), in den Jahren des ausgehenden TokugawaShōgunats bzw. der endenden Edo-Zeit, Neuerungen im Schiffsbau und im Geschützguss aus der niederländischen Fachliteratur. In der der Meiji-Ära (1868– 1912) hingegen kopierte es Technologien des Schiffsbaus und des Textilsektors aus Großbritannien, der Eisen- und Stahlindustrie aus Großbritannien und Deutschland sowie der Elektrotechnik und des Maschinenbaus wiederum aus Deutschland und aus den USA. Auch Indien (seit 1856), Ägypten, Brasilien, Indochina und Persien 17 Walther Schmidt, Die frühen Weltausstellungen und ihre Bedeutung für die Entwicklung der Technik, in: Technikgeschichte 34, 1967, 164–178; Markus A. Denzel, Die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts und ihr Beitrag zum ökonomischen Wettbewerb, in: ders./Margarete Wagner-Braun (Hgg.), Wirtschaftlicher und sportlicher Wettbewerb. Festschrift für Rainer Gömmel zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2009, 81–96. 18 Zum Folgenden überblicksartig Pohl, Aufbruch der Weltwirtschaft, 142–151. 19 Hans-Joachim Braun, Technologietransfer im Maschinenbau von Deutschland in die USA 1870–1939, in: Technikgeschichte 50, 1983, 238–252; Brooke Hindle, The Transfer of Power and Metallurgical Technologies to the United States, 1800–1880. Proceses of Transfer, with Special Reference to the Role of the Mechanics: in: L’Acquisition des Techniques par les Pays Non-Imitateurs, Paris 1973.

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profitierten bis zum Ersten Weltkrieg von Technologien der industriellen Baumwollverarbeitung aus Großbritannien, das in diesem Transfer weltweit führend war. 20 Schließlich wurden erste baumwollverarbeitende Industrien seit den 1890er Jahren auch in China aufgebaut, und zwar wiederum von Großbritannien, aber jetzt auch schon von Japan, das somit etwa drei Jahrzehnte, nachdem es selbst entsprechenden Wissensinput aus Europa erhalten hatte, zum ‚Exporteur‘ seiner im Übrigen an die ostasiatischen Produktions- und Arbeitsbedingungen besser angepassten Technologien zur Baumwollverarbeitung werden konnte. 21 An weiteren Industriezweigen, in denen Technologietransfer aus Europa bzw. den USA festzustellen ist, wären die Eisen- und Stahlindustrie zu nennen, allerdings erst seit den 1890er Jahren und mit einem ersten Aufschwung nicht vor dem Ersten Weltkrieg. Aus Deutschland kamen erste Ansätze zur Elektrifizierung vor allem der Metropolen nach Lateinamerika. Vielfach wurden in den außereuropäischen Ländern jedoch auch nur einzelne Industrieanlagen importiert, um die jeweiligen Exportprodukte international besser vermarkten zu können. Hierzu zählen Kühlhäuser und Konservenfabriken in Argentinien, Uruguay, Australien und Neuseeland, Kaffeeröstereien in Brasilien, Zuckerraffinerien in der Karibik oder kautschukverarbeitende Betriebe in Malaysia. Auch im 20. Jahrhundert konnte der Bau ganzer Fabriken oder Produktionskomplexe – z.B. Rourkela Steel Plant in Indien ab 1956 – durch die industrialisierten Länder einen Beitrag zum Technologietransfer in die noch nicht industrialisierten, sich entwickelnden Länder darstellen. 3. WECHSELVERKEHR UND BANKEN – ODER: VOM SCHULDNER ZUM GLÄUBIGER DER WELT Die maritime Expansion Europas – zunächst im Zeitalter der Kreuzzüge im Mittelmeerraum, dann ab dem 15. Jahrhundert über den Atlantik, den Indik und den Pazifik – war immer auch ökonomisch begründet gewesen, der Handel ein maßgebliches Movens des immer weiteren Erkundens, und die Suche nach ‚Gewürzen‘ – stereotypisch für die Kostbarkeiten des Orients und ganz Asiens – war überhaupt eine der zentralen Ursachen des europäischen Expandierens. Dabei war vom Anbeginn dieser Handelsbemühungen – schon seit dem 11./12. Jahrhundert – ein entscheidender Faktor offensichtlich: Europa konnte auf den orientalischen und später asiatischen Märkten mit seinen vergleichsweise bescheidenen Produkten nicht die gleiche Nachfrage erzielen, wie sie in Europa nach den Luxuswaren des Ostens bestand. Ökonomisch ausgedrückt: Trotz aller Exportbemühungen der Europäer blieb der Handel mit den außereuropäischen Ländern in der Regel tendenziell mehr oder minder stark defizitär, und daran änderte sich in der gesamten vorindustriellen 20 Vgl. z.B. Stanley J. Stein, The Brazilian Cotton Textile Industry 1850–1950, in: Simon Kuznets/Wilbert E. Moore/Joseph J. Spengler (Hgg.), Economic Growth: Brazil, India, Japan, Durham (N.C.) 41967, 430–447. 21 Erich Pauer, Technologietransfer und industrielle Revolution in Japan 1850–1920, in: Technikgeschichte 51, 1984, 34–54.

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Zeit so gut wie nichts. Die mangelnde Attraktivität der europäischen Exportwaren musste mit Edelmetallen ausgeglichen werden, die als Zahlungsmittel über Land und über See ostwärts strömten. Gold, Silber und – nicht zu vergessen – das vor allem in Indien als Zahlungsmittel wie als Rohstoff gleichermaßen begehrte Kupfer glichen das europäische Zahlungsbilanzdefizit aus. 22 Dass das eher edelmetallarme Europa hierzu über Jahrhunderte überhaupt in der Lage war, verdankte es vor allem den seit der Mitte des 16. Jahrhunderts erschlossenen lateinamerikanischen Silbervorkommen sowie afrikanischem, kolumbianischem und brasilianischem Gold.23 Welche Dimensionen diese Edelmetallströme nach Asien annahmen, zeigt das Beispiel des europäischen Handels mit dem chinesischen Hafen Kanton: In den 37 Jahren zwischen 1760 und 1797 kauften allein die Briten hier Tee, Seide, Porzellan und andere ‚Chinoiserien‘ im Wert von 91,28 Millionen Pfund Sterling oder einer Silbermenge von knapp 9.585 Tonnen Feinsilber. Der gesamte Import der Europäer aus Kanton belief sich zwischen 1764 und 1784 auf mehr als 614 Millionen Pfund Sterling (= 64.470 Tonnen Feinsilber), wovon knapp fünf Achtel (62,8%) auf die Kontinentaleuropäer und drei Achtel auf die East India Company (37,2%) entfielen. 24 Eine Veränderung dieser Situation trat erst ein, als zunächst Großbritannien, dann die USA und die Kontinentaleuropäer fabrikmäßig hergestellte, preisgünstige Industriewaren auf die außereuropäischen Märkte brachten: Aufgrund ihres Preisund bisweilen auch Qualitätsvorteils gegenüber den einheimischen Produkten fanden sie immer breitere Käuferschichten, drängten aber auch zugleich das einheimische Angebot und die landestypische Gewerbeproduktion vielfach so stark zurück, dass in den meisten entwickelten Ökonomien Asiens ein ‚Deindustrialisierungsprozess‘ einsetzte, wie es insbesondere in Indien im 19. Jahrhundert zu beobachten ist. Im Ergebnis drehte sich die Handelsbilanz um und wurde nunmehr aus der Perspektive der Außereuropäer defizitär. Die westeuropäischen industrialisierten und sich industrialisierenden Handelsnationen sowie die ebenso rasch industrialisierten USA begannen, vom Schuldner zum Gläubiger der Welt zu werden. Die nicht zuletzt aufgrund der jahrhundertelangen defizitären Handelsbilanz entwickelten kommerziellen und finanziellen Institutionen – das Bank- und Kreditwesen, das Versicherungswesen, Börsen etc. – wurden im 19. Jahrhundert, bedingt durch den stark wachsenden Export, zunehmend auch in die außereuropäischen 22 Markus A. Denzel, Zur Finanzierung des europäischen Asienhandels in der Frühen Neuzeit: Vom Zahlungsausgleich im Gewürzhandel zum bargeldlosen Zahlungsverkehr, in: ders. (Hg.), Gewürze in der Frühen Neuzeit: Produktion, Handel und Konsum. Beiträge zum 2. Ernährungshistorischen Kolloquium im Landkreis Kulmbach 1999, St. Katharinen 1999, 37–69. 23 Markus A. Denzel, Zur Bedeutung der Edelmetallimporte aus Übersee für den europäischen Zahlungsverkehr vom 15. bis 18. Jahrhundert, in: Hartmut Klüver (Hg.), Europas Abhängigkeit vom Seehandel. Vorträge des 3. Hamburger Symposiums zur Schiffahrts- und Marinegeschichte vom 23.–24. Mai 2002, Düsseldorf 2004, 27–39. 24 Louis Dermigny, La Chine et l’Occident. Le commerce à Canton au XVIIIe siècle 1719–1833, Paris 1964, Tome II, 544, 684; Markus A. Denzel, Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen China und Europa: Seehandel und Zahlungsverkehr von 1702 bis 1914, in: Jahrbuch für europäische Überseegeschichte 14, 2014, 101–152. Das Pfund Sterling wird zu 105 Gramm Feinsilber gerechnet.

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Länder übertragen. Das europäische System des bargeldlosen Zahlungsverkehrs war in der Zeit der Kommerziellen Revolution im hochmittelalterlichen Italien nicht zuletzt aus dem zunehmenden Bedürfnis der Kaufleute nach Krediten entstanden, da sie ihren expandierenden Handel im Mittelmeerraum aufgrund des Mangels an Edelmetall nicht mehr zu finanzieren vermochten. Dieses auf dem Wechsel als Zahlungs- und Kreditmedium basierende System war außereuropäischen bargeldlosen Zahlungsmitteln nicht zuletzt deshalb überlegen, weil es die Kreditfunktion, die diese auch besaßen, mit der des Währungsumtauschs verband. Letztere war – anders als in den großen Ökonomien Chinas, Japans und Indiens – im kleinteilig strukturierten Europa unabdingbar erforderlich, so dass das europäische Wechselsystem die Währungssysteme verschiedener Länder miteinander zu vernetzen vermochte, während die indischen, chinesischen oder japanischen Systeme ausschließlich auf ihre eigene Wirtschaft beschränkt blieben und keine internationale Vernetzungsfunktion wahrnehmen konnten. 25 Das System des bargeldlosen Zahlungsverkehrs europäischer Prägung wurde mit der Ausbreitung des europäischen Handels in den jeweiligen Weltregionen mit ‚exportiert‘. So waren bargeldlose Zahlungsverkehrstransaktionen auf der Grundlage des Wechsels zwischen den nordamerikanischen Kolonien und Europa seit dem späten 17. Jahrhundert in Gebrauch gekommen. In Indien, Kanton und auf Java hatten die englische und die niederländische Ostindienkompanie die ersten derartigen Transaktionen unternommen, die seit den 1760er Jahren an Regelmäßigkeit deutlich gewonnen hatten. In den lateinamerikanischen Staaten löste seit der Unabhängigkeit der bargeldlose Wechselverkehr den ebenfalls bargeldlosen, aber auf den Verkehr mit dem spanischen Mutterland beschränkten Zahlungsausgleich durch libranzas ab. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – in der Zeit der aufkommenden Weltwirtschaft – waren alle internationalen Handelszentren durch Wechselverkehr mit Europa, teilweise auch mit den USA verbunden, so dass sich in der Zeit des internationalen Goldstandardsystems ab den 1870er Jahren ein europa- oder genauer London-zentriertes Netzwerk internationaler Zahlungsverkehrsverbindungen ergab, in dem London als Weltfinanzzentrum die Position einer internationalen Clearing-Stelle einnahm. Ungeachtet der Tatsache, dass sich das europäische Systems des bargeldlosen Zahlungsverkehrs über Jahrhunderte eingespielt und bewährt hatte und europäische Kaufleute über Generationen darin ihre Erfahrungen gesammelt hatten, konnte seine hohe Effizienz gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, einhergehend mit der immer engeren Verflechtung der Weltwirtschaft, nochmals gesteigert werden. Der Aufbau europäischer Banken in den außereuropäischen Handelszentren als ‚Ableger‘ oder Tochtergesellschaften europäischer Mutterhäuser verstärkte und verstetigte die finanziellen Ausgleichsmechanismen zwischen den Kontinenten erheblich. Diese sogenannten Überseebanken (overseas banks) vermittelten den Zahlungsverkehr jedoch nicht nur in die jeweiligen Heimatländer, sondern in alle wichtigen europäischen und zunehmend auch nordamerikanischen Finanzzentren

25 Markus A. Denzel, Das System des bargeldlosen Zahlungsverkehrs europäischer Prägung vom Mittelalter bis 1914, Stuttgart 2008.

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und kanalisierten somit die vormals allein von Kaufmanns-Bankiers abgewickelten Zahlungsströme zwischen den Kontinenten. 26 Hinzu kam die immer weitere Verbreitung der elektrischen Telegraphie auch in der Kommunikation mit den außereuropäischen Handels- und Finanzzentren, die seit den 1870er Jahren durch interkontinentale Überland- und Unterseekabel zunehmend mit Europa und Nordamerika verbunden wurden. Telegraphische Anweisungen zwischen geographisch noch so weit entfernten Weltregionen wurden zunehmend gebräuchlich. 27 Sie liefen von Kalkutta und Shanghai nach London seit 1878, von New York seit 1879, von Hongkong seit 1880, von Bombay seit 1883, von Yokohama seit 1894 und von Australien seit 1906. 28 Reaktionen auf Kursschwankungen auf den Finanzmärkten wurden somit im Zeitalter der Telegraphie zu einer Sache von Stunden und Minuten – und dies gegebenenfalls weltweit. Je schneller und zuverlässiger die Kommunikation wurde, desto kürzer wurden nach und nach auch die gebräuchlichsten Usancen im bargeldlosen Zahlungsverkehr – eine Entwicklung, mit der der Transport von Edelmetall in keiner Weise mithalten konnte. – Insgesamt wurde durch die langfristige Etablierung und immer intensivere Nutzung des Systems des bargeldlosen Zahlungsverkehrs mittels Wechsel in den außereuropäischen Finanzplätzen letztlich auch aus der finanziellen Perspektive ein Beitrag zur „Europäisierung der Welt“ geleistet. Es sollte deutlich geworden sein, dass annähernd alle Prozesse, die mit dem Begriff „Weltwirtschaft“ in Verbindung gebracht werden können, immer auch mit Seefahrt, Seetransport und der die Kontinente verbindenden Funktion des Meeres zu tun haben und ohne diese überhaupt nicht denkbar wären. Internationale Arbeitsteilung in industriell geprägten Gesellschaften ist ohne Seehandel und Seeverkehr ebenso unmöglich wie – bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein – der Transfer von ökonomischem und technologischem Wissen zwischen den Kontinenten. Weltwirtschaft hat somit immer auch eine gewichtige maritime Komponente, ja ist in gewissem Sinne per se maritim. Und diese maritime Weltwirtschaft war in der zweiten Hälfte der 19. Jahrhunderts und auch noch danach eine wesentliche Grundlage der „Verwandlung der Welt“ 29.

26 Vgl. u.a. Otto Soltau, Die französischen Kolonialbanken, Straßburg 1907; Maximilian MüllerJabusch, Fünfzig Jahre Deutsch-Asiatische Bank 1890–1939, Berlin 1940; Dieter Brötel, Französisches Bankkapital in Indochina. Kolonialherrschaft und Dekolonisation, in: Francia 25/3, 1998,167–178. 27 Vgl. Jorma Ahvenainen, The Far Eastern Telegraphs. The History of Telegraphic Communications between the Far East, Europe and America before the First World War, Helsinki 1981; ders., Telegraphs, Trade and Policy. The Role of the International Telegraphs in the Years 1870–1914, in: Fischer/McInnis/Schneider (Hgg.), World Economy, part II, 505–518; ders., The Role of Telegraphs in the 19th Century Revolution of Communications, in: North (Hg.), Kommunikationsrevolutionen, 73–80; Robert Boyce, Submarine Cables as a Factor in Britain’s Ascendency as a World Power, 1850–1914, in: ebd., 81–99. 28 Denzel, Das System des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, 86. 29 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 52010.

MADE IN GERMANY Deutsche Industrieprodukte für die Welt Samuel Eleazar Wendt / Klaus Weber Seit Beginn der 1950er Jahre, als das westdeutsche Wirtschaftswunder einsetzte, weist die Bundesrepublik fast durchgehend eine positive Handelsbilanz auf. Erst in den letzten Jahren wird der „Exportweltmeister“ von China herausgefordert, das allerdings kein Neuling auf den Weltmärkten ist. Bis weit ins 18. Jahrhundert waren asiatische Waren auf den Weltmärkten begehrter als europäische. Nicht von ungefähr hatten Europäer sich bemüht, hinter die Geheimnisse der chinesischen Porzellan- und Seidenherstellung zu kommen. Und die Baumwollstoffe, mit denen Großbritannien ab etwa 1800 Exporterfolge erzielte, lehnten sich in Web- und Farbmustern vielfach an indische Vorbilder an. Erst in Zuge ihrer Industrialisierung konnten west- und mitteleuropäische Länder die Gewerberegionen Indiens und Chinas von den ersten Plätzen verdrängen. Wenn Chinas Außenhandelsüberschuss im Jahr 2015 den deutschen Überschuss übertraf, dann kehrt eine alte Nation lediglich in die Führungsriege zurück – wenn auch Deutschland im Folgejahr 2016 wieder den ersten Platz einnahm. 1 Neu ist auch nicht, dass deutsche Exportüberschüsse kritisiert werden, jüngst von Seiten der USA, dem Land mit dem weltweit größten Handelsbilanzdefizit. Einfuhrzölle sollen Waren „Made in Germany“ belasten und amerikanische Konsumenten zum Kauf von Gütern aus heimischer Produktion motivieren, die US-Industrien stärken und Arbeitsplätze schaffen. Ähnliche Überlegungen standen bereits hinter dem 1887 in Großbritannien verabschiedeten Merchandise Marks Act. Diesem Gesetz zufolge musste eine Kennzeichnung die britischen Verbraucher über die Herkunft von Industrieerzeugnissen informieren. „Made in Germany“ wurde also nicht als ein Gütesiegel geschaffen, sondern es sollte auf die fremde Herkunft und auf eine mindere Qualität der Erzeugnisse hinweisen. Aber kaum zehn Jahre später erschien in England ein Buch mit dem Titel Made in Germany, in dem Ernest Williams – gleichermaßen besorgt und bewundernd – festhielt, dass hochwertige und preisgünstige Investitions- und Konsumgüter aus Deutschland der bislang führenden Industrienation ernstlich Konkurrenz machten. 2 Zugleich hatte sich das Bild von Deutschland selbst grundlegend gewandelt. Um 1800 hatten Madame de Staël und andere Beobachter sich die Deutschen noch als 1 2

Statistisches Bundesamt, Außenhandel. Gesamtentwicklung des deutschen Außenhandels ab 1950, http://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/Aussenhandel/Tabellen/GesamtentwicklungAussenhandel.pdf (7.4.17). Ernest Edwin Williams, Made in Germany, London 1896, 162.

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schwerfällig vorgestellt, und sie sahen das Land von Dichtern, Denkern, Komponisten und Metaphysikern bevölkert – man denke an Goethe, Hölderlin, Beethoven und Hegel. Kaum 100 Jahre später galten die Deutschen als die „Yankees Europas“. 3 Der rapide Wandel Deutschlands zur Industrienation kann nicht allein im nationalen Rahmen erklärt werden, denn auch damals schon waren die Nationen durch Wissens- und Gütertransfers eng miteinander verflochten. Wesentliche Voraussetzungen für die Industrielle Revolution in England waren die oberflächennahen Vorkommen hochwertiger Kohle und ihre Nutzung für die Mechanisierung gewesen. Auf dem Kontinent konnte diese Entwicklung zunächst in Belgien angeschoben werden. Auch dort waren Kohle und Eisenerz für die Produktion von Baustahl, Eisenbahnschienen, Lokomotiven und Maschinen reichlich verfügbar. In Deutschland waren oberflächennahe Kohlevorkommen seltener – aber aus großen Waldbeständen konnte man hier Holzkohle gewinnen, und vor allem waren die Lohnkosten deutlich niedriger als in England und in Belgien. Damit waren die Anreize zur kapitalintensiven Mechanisierung schwächer. Viele Unternehmer setzten hier auf arbeitsintensivere Varianten der Produktion. So wurde z.B. bis weit ins 19. Jahrhundert hinein englisches Roheisen importiert und im Bergischen Land und anderen Metallregionen in handwerklicher Weise zu hochwertigen Stahlwaren weiterverarbeitet, die auch in England gefragt waren. Hier liegt der Ursprung der modernen deutschen Kleineisenindustrie. Weitere Sektoren wiesen solche Strukturen auf. Die in dieser Zeit langsam einsetzende Mechanisierung der Textilbranche war zunächst auf wenige Zentren begrenzt. Die neuen rheinischen und sächsischen Fabriken koexistierten daher noch viele Jahre mit der hausindustriellen Textilproduktion in bestimmten ländlichen Gebieten (Schlesien, Sachsen, Westfalen, Schwaben). Während die hohen laufenden Kosten der Fabriken eine gute Auslastung über das ganze Jahr hinweg forderten, wurden die nicht fest angestellten Spinnerinnen, Weber und Näherinnen auf dem Lande zunehmend dazu eingesetzt, die Nachfragespitzen im extrem saisonalen Textilgeschäft abzudecken. Diese Flexibilität ging vielfach zu Lasten der ländlichen Arbeiterinnen und Arbeiter, aber trug zur internationalen Konkurrenzfähigkeit der Branche bei. Maschinell gesponnenes englisches Garn wurde in den traditionsreichen sächsischen und westfälischen Textilregionen zu Stoffen verwebt, und fertiges Schur- und Baumwollgewebe von der Insel wurde zu Konfektionsware verarbeitet, die man dann wieder exportierte – auch nach England. Schon im 18. Jahrhundert hatten die deutschen Exportgewerbe effiziente Vertriebsnetze über England, die Niederlande und Spanien bis in deren Kolonien aufgebaut. Arbeitsintensive Produkte, z.B. Leinen für Arbeitskleidung, hätte man dort nicht zu vergleichbar niedrigen Kosten herstellen können. Die arbeitsintensive Textilindustrie deckte deshalb bis in die 1880er Jahre den größten Anteil der deutschen Exporte, wobei aber der Anteil der Halbfertigwaren stetig sank und der Anteil an Fertigwaren bzw. Konfektionskleidung wuchs. 3

Robert Harry Lowie, The German People. A Social Portrait to 1914, New York 1980, 51.

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Insbesondere zwischen deutschen und britischen Industrien bestand also in vieler Hinsicht weniger Konkurrenz als vielmehr Symbiose und wechselseitige Ergänzung, denn sie wiesen ein jeweils ganz unterschiedliches Profil auf. 4 Deshalb war die Handelsbilanz mit Großbritannien auch meist ausgeglichen. Von 1827 bis 1833, also noch vor Gründung des Deutschen Zollvereins, gab es sogar einen Exportüberschuss auf deutscher Seite. 5 Die Vorwürfe von Nationalökonomen wie Georg Friedrich List und Gustav Schmoller – britische Industriewaren überschwemmten demnach die deutschen Länder und blockierten so deren Industrialisierung – trafen jedenfalls nicht zu. Ab der Jahrhundertmitte konnten die Schwerindustrien an Rhein und Ruhr den Vorsprung Englands aufholen, vor allem getrieben vom Eisenbahnbau, der enorme Nachfrage schuf. Dank neuer Verfahren in der Stahlgewinnung und der Walztechnik war man ab den 1860er Jahren nicht mehr auf die Einfuhr von Bahnschienen angewiesen, sondern konnte bald selbst große Mengen exportieren. Fortschritte im Bergbau erlaubten nun zudem die Ausbeutung der tief liegenden Kohleflöze des Ruhrgebietes. Das sicherte den neuen Großindustrien die Energieversorgung. Im Verlauf dieser „nachholenden Modernisierung“ musste man auch nicht die hohen Entwicklungskosten tragen, die für den Industrialisierungspionier England noch angefallen waren, und man konnte technologische Entwicklungspfade meiden, die sich dort als unwirtschaftlich erwiesen hatten. Nachholende Modernisierung kann deshalb besonders stürmisch und erfolgreich verlaufen, und die Schwerindustrien sowie der Maschinenbau in Deutschland bieten dafür gute Beispiele. Allerdings beschränkte man sich nicht auf die Übernahme fremder Technologien. Sehr viel mehr Tüftelei und eigener Erfindungsgeist steckte in den feinmechanischen und optischen Industrien, die in besonderem Maße von relativ niedrigen Lohnkosten profitierten. In armen Regionen wie dem Schwarzwald wurden seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert hölzerne Uhren für den Export hergestellt – Musterbeispiel eines Produkts, in dem fast keine Materialkosten, aber viel Arbeit und technisches Wissen stecken. Bereits um 1840 gingen jährlich über ein halbe Million Schwarzwälder Uhren auf heimische und überseeische Märkte, und das ähnlich strukturierte Erzgebirge zog bald nach. 6 Im 19. Jahrhundert wurden zunehmend metallische Werkstoffe verwendet, und der Elektromotor ermöglichte Effizienzsteigerungen gerade in diesem Sektor. Standorte wie Pforzheim und Furtwangen wurden so industrialisiert. Auch die vorindustrielle Glasmacherei war vor allem in Waldregionen angesiedelt. Da die optische Industrie ebenfalls auf Präzision angewiesen ist, kam es zwischen diesen beiden mittelständisch geprägten Sektoren zu engen Verflechtungen und Synergien, so z.B. in den Unternehmen von Carl Zeiss und Otto Schott in Jena. Obwohl quantitativ vergleichsweise klein, trugen sie zu dem Ruf der Präzision und Zuverlässigkeit deutscher Erzeugnisse bei. 4 5 6

Sidney Pollard, Industrialization and the European Economy, in: The Economic History Review, 26/1973 4, 636–648, 643. Martin Kutz, Deutschlands Außenhandel von der Französischen Revolution bis zur Gründung des Zollvereins. Eine statistische Strukturuntersuchung zur vorindustriellen Zeit, Wiesbaden 1974, 4, 12–15. Richard Mühe / Helmut Kahler, Deutsches Uhrenmuseum Furtwangen, München 1987, 69.

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Noch tiefgreifender war die Schaffung ganz neuer Industriezweige. 1847 gründete Werner Siemens in Berlin eine Telegraphen Bau-Anstalt, in der bald auch Stromgeneratoren, Transformatoren und Elektromotoren entwickelt und produziert wurden. Die AEG geht auf ein 1883 von Walther Rathenau – ebenfalls in Berlin – gegründetes Unternehmen zurück. Mit der Entwicklung der Drehstromtechnik legte die AEG einen zentralen Grundstein der Elektroindustrie. Zugleich schufen Firmen im Rheinland (Bayer 1863), in der Rhein-Main-Region (Merck 1850, Höchst 1863, BASF 1865) und in Berlin (Schering 1871) mit innovativen Produkten einen weiteren neuen Sektor: die Chemieindustrie. Sie nutzte vormals unbekannte, aber nun in immer größeren Mengen verfügbare Grundstoffe. Aus den Schlacken der Hochöfen wurde Phosphatdünger, aus dem bei der Koksgewinnung anfallenden Steinkohlenteer wurden synthetische Farbstoffe und bald auch Medikamente, Kosmetika, Holz- und Pflanzenschutzmittel gewonnen. Anilin, Aspirin, Morphin, Naphthalin und Phenol gehören zu den damals entwickelten Produkten – aber auch Nitroglycerin und andere Sprengstoffe. Neue Grundstoffe bezog man auch aus tropischen Regionen, z.B. Palmöl für Kosmetika und Lebensmittel, und v.a. Kautschuk, mit dem man seit der Entdeckung des Vulkanisationsverfahrens völlig neuartige Produkte schaffen konnte: Reifen, Dichtungen, medizinische Artikel (z.B. Katheter und Handschuhe) oder Kondome. Der geradezu explodierende Kautschukbedarf wurde zu einem wichtigen Antrieb der in den 1880er Jahren einsetzenden Kolonialexpansion des Kaiserreiches, insbesondere in Afrika. Im Jahr 1910 bezogen v.a. in Hamburg und Berlin ansässige Fabriken 14.000 Tonnen Rohkautschuk, allerdings ganz überwiegend aus britischen und niederländischen Kolonien, da die eigenen Plantagen zu wenig lieferten – und zu teuer. Um diese Zeit beschäftigte die Branche ca. 35.000 Menschen und produzierte jährlich Waren im Wert von 200 Millionen Mark, wovon gut 40 % in den Export gingen. Die deutsche Gummiwarenindustrie war damit die drittgrößte weltweit, nach der US-amerikanischen und der britischen. 7 England hatte mit Dampfmaschine, Spinn- und Webmaschinen, mit Eisenbahn und Dampfschiff die „Erste Industrielle Revolution“ entfesselt. Deutschlands erste moderne Industriekonjunktur war – nach englischem Vorbild – vom Eisenbahnbau angeschoben und durch Exporte stabilisiert worden, und sie führte allein zwischen 1850 und 1875 fast zu einer Verdoppelung des Sozialprodukts der deutschen Länder. Bei der „Zweiten Industriellen Revolution“, in den 1860er und 70er Jahren vom Elektro- und Chemiesektor angeschoben, waren Industriezentren am Rhein und in Berlin die Pioniere. Wenn England die Welt mit Lokomotiven und Dampfmaschinen belieferte, so beherrschten deutsche Elektro- und Chemieunternehmen die entsprechenden neuen Segmente des Weltmarkts. Das Wort „bayer“ im amerikanischen Englisch spiegelt dies bis heute wider: Es bezeichnet weder den süddeutschen Lederhosenträger noch den Chemiekonzern – sondern Kopfschmerztabletten jeglicher Herkunft. 7

Samuel Eleazar Wendt, Hanseatic Merchants and the Procurement of Palm Oil and Rubber for Wilhelmine Germany’s New Industries, 1850–1918, in: European Review, 26/2018 (im Druck).

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In den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts stellten Investitionsgüter wie Werkzeug- und Textilmaschinen, Metallrohre, Generatoren und Transformatoren und weitere Erzeugnisse der kapitalintensiven Industrien einen immer größeren Teil der deutschen Exporte; nach 1900 stellten sie mehr als die Hälfte der Gesamtausfuhren. Zugleich sank der Anteil der Fertigprodukte an den Einfuhren – das Land hatte also die Außenhandelsstruktur einer industriellen Exportnation entwickelt. 8 Der größte Teil der deutschen Ausfuhren ging zwar in die kontinentalen Nachbarländer, aber der deutsche Anteil an den gesamteuropäischen Exporten auf die Weltmärkte stieg von knapp einem Fünftel um 1880 auf über ein Viertel bei Ausbruch des Weltkrieges. Auch diese Steigerung der Seeexporte gegen Ende des 19. Jahrhunderts muss in der bereits erwähnten, weit zurückreichenden Kontinuität gesehen werden. Schon im 17. und 18. Jahrhundert hatten sich zahlreiche deutsche Kaufleute aus den Gewerberegionen des Alten Reiches in den Häfen der Seemächte Niederlande, Großbritannien und Frankreich niedergelassen, um dort die eigenen Erzeugnisse zu vermarkten: westfälisches Leinen, Uhren aus dem Schwarzwald, böhmisches Glas, oder Blankwaffen, Klingen, Werkzeug und weiteres Kleineisen aus Solingen, Remscheid und Iserlohn. Über Mittelsmänner gingen die Waren auch in die Kolonien, die den Deutschen selbst verschlossen waren. In Spanien und Portugal reichen solche Verbindungen besonders weit zurück. Sobald aber das britische und dann auch das spanische Amerika unabhängig wurden, drangen diese Großhändler in die ihnen bislang versperrten Regionen vor. So lässt sich erklären, dass es 1845 weit über 340 deutsche Handelshäuser außerhalb Europas gab, davon mehr als die Hälfte in den USA und in Mexiko, und etwa 100 in Südamerika. Produkte aus deutschen Regionen waren also bereits sehr gut eingeführt, und eigene kaufmännische Netzwerke für Informationsbeschaffung und Vertrieb waren fest etabliert. 9 Wesentlichere Neuerungen waren wohl in Deutschland selbst zu beobachten. Der in den 1830er Jahren beginnende Aufbau des Eisenbahnnetzes hatte nicht nur den Industrialisierungsprozess beschleunigt, sondern seit den 1850ern auch die Anbindung an die Seehäfen verbessert, vor allem nach Bremen und Hamburg. Mit dem Bahnbau einher ging der Aufbau des Telegraphennetzes – zunächst bis in die Seehäfen, mit den ersten Unterseekabeln bald auch nach England, und schon 1866 in die USA. Das stetige Wachstum der Exporte über See wurde begleitet vom Wachstum der hanseatischen Reedereien, die zudem von der Massenauswanderung profitierten. Die Auswanderung war von den Hunger- und Beschäftigungskrisen der 1830er und 40er Jahre angestoßen worden, aber wurde durch die Industrialisierung 8

9

Friedrich Wilhelm Hennig, Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte im 19. Jahrhundert, Paderborn 1996, 232–236. Paul Erker, Dampflok, Daimler, DAX: Die deutsche Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2001, 55–56. Alan S. Milward / Samuel B. Saul, The Development of the Economies of Continental Europe 1850–1914, Cambridge MA 1977, 60–62. Milward / Saul, Development, 470–473. Klaus Weber, Deutsche Kaufleute im Atlantikhandel. Unternehmen und Familien in Hamburg, Cadiz und Bordeaux, 1680–1830, München 2004. Margrit Schulte Beerbühl, Deutsche Kaufleute in London. Welthandel und Einbürgerung (1600–1818), München 2007. Jorun Poettering, Handel, Nation und Religion. Kaufleute zwischen Hamburg und Portugal im 17. Jahrhundert, Göttingen 2013.

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in Deutschland wieder gebremst. Aus dem Russischen und Habsburgischen Reich dagegen schwoll sie weiter an, begünstigt durch die mittlerweile weit nach Osten getriebenen Bahnlinien. Diese Migration wurde zu einem großen Teil über Hamburg und Bremen nach Amerika kanalisiert. Exporte und Auswanderung machten die HAPAG Lloyd und die Norddeutsche Lloyd zu den größten Reedereien der Welt. Im Jahr 1914 liefen 194 respektive 153 Schiffe unter diesen beiden Flaggen. Die britische Handelsflotte war zwar insgesamt größer, aber auf viel mehr kleinere Reedereien aufgesplittert. 10 Überhaupt war die Konzentration, die Konzern- und Kartellbildung seit der Reichsgründung 1871 stark ausgeprägt. Sie war in Deutschland politisch gewollt, während die liberalere britische Gesetzgebung Kartelle verbot. Die Exportindustrien des Kaiserreichs setzten nicht mehr nur auf Lohnkostenvorteil, Innovation und Qualität; sie steigerten ihre Anteile auf den Weltmärkten nun auch durch Preisabsprachen und Quersubventionen. In Kartellen einigten sich Großunternehmen, Konsumgüter auf dem deutschen Binnenmarkt überteuert zu verkaufen, um mit den so gemachten Profiten die Investitionsgüter auf Exportmärkten billiger anzubieten. Dieses Preisdumping trug erheblich zur Verschlechterung des außenpolitischen Klimas bei, vor allem zwischen Berlin und London, und es war eine der Ursachen dafür, dass gegen Ende des ausgesprochen freihändlerischen 19. Jahrhunderts viele Nationen ihre Einfuhrzölle erhöhten. 11 Auch der mit der Reichsgründung aufkommende Kolonialehrgeiz brachte keine nachhaltigen Vorteile. Zuvor hatte man die eigenen Erzeugnisse sehr erfolgreich unter den Flaggen der größeren Seemächte auf deren Märkte geschleust, ohne eigene Handels- oder Kriegsflotte und ohne eigene Kolonien – und dabei freilich von der Plantagensklaverei und weiteren Ausbeutungsverhältnissen in den fremden Kolonien profitiert. Nun wollte man auch selbst über all das verfügen, aber das Kolonialabenteuer wurde volkswirtschaftlich zu einem Verlustgeschäft. Die wenigen großen Profiteure dieser Politik verfügten über gute Beziehungen nach Berlin – an erster Stelle der Hamburger Reeder Carl Woermann. Er verkaufte maßlos überteuerten Frachtraum an den Staat, etwa für die Transporte von Truppen zur Niederschlagung von Aufständen, wie 1904 und 1908 in Deutsch-Südwestafrika. Reelle Gewinne bot weiterhin der deutsche Seehandel nach altem Muster: Allein im indirekten Handel mit der britischen Kronkolonie Indien setzte Deutschland noch unmittelbar vor Ausbruch des Weltkrieges mehr Waren ab als in allen deutschen Kolonien zusammen. Vier Kriegsjahre und 17 Millionen Tote später waren diese alten Handelsverbindungen geschwächt und traditionelle Absatzmärkte geschrumpft. Das Durchschnittseinkommen der Deutschen fiel zurück auf den Stand von 1895. 12 Deutschlands aggressive Handelspolitik und der Erwerb von Kolonien hatten zum Ausbruch des Krieges beigetragen, nicht zu einem größeren Anteil am Welthandel. Mit 10 Arnold Kludas, Die Geschichte der deutschen Passagierschiffahrt, Bde. I-V, 1850–1990, Hamburg 1986–1990. 11 Hennig, Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 844. Siehe auch Carsten Burhop, Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871–1918, Stuttgart 2011, 106–111, 155–157. 12 Burhop, Wirtschaftsgeschichte, 215.

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dem Ersten Weltkrieg erlitt der gesamte Welthandel einen Einbruch, von dem er sich erst in den Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg wieder erholte. In der Zwischenkriegszeit setzten viele Nationen auf Autarkie, nicht nur in Europa. Dieser Wirtschaftsnationalismus erschwerte den deutschen Exportsparten die Erholung, und er trug allgemein zur Verschärfung innerer und außenpolitischer Spannungen bei. Erst nach einem noch viel destruktiveren Zweiten Weltkrieg einigte man sich 1947/48 im General Agreement on Trade and Tariffs (GATT) wieder auf ein liberaleres Welthandelssystem. Den zunächst 23 (v.a. westlichen) Unterzeichnerstaaten trat 1951 auch die BRD bei – eine wichtige Voraussetzung für das stark auf Export gebaute Wirtschaftswunder. Der andauernde Erfolg der deutschen Exportindustrien beruht aber nicht mehr in erster Linie auf niedrigen Löhnen im Lande – auch wenn die deutschen Industrien immer wieder von Gewerkschaften kritisiert werden, weil die gezahlten Reallöhne stagnierten, während sie in den Nachbarländern stiegen. Der Erfolg beruht vor allem auf niedrigen Lohnstückkosten, das heißt auf möglichst weitgehender Automation der Fertigungsprozesse. Diese in den 1970er Jahren einsetzende Umwälzung konnten die Exportindustrien der DDR – Maschinenbau, optische und chemische Industrien, etc. – nicht mitvollziehen. Ohnehin vom Exporthafen Hamburg und überseeischen Märkten abgeschnitten, und im Außenhandel auf die übrigen COMECON-Länder angewiesen, fiel das östlichere Deutschland zurück. Seine zunehmenden Außenhandelsdefizite trugen wesentlich zur Implosion des Regimes bei.13 Heute verdanken verschiedenste Sparten ihre enorme Produktivität den digital gesteuerten Industrierobotern, die von Technologieunternehmen wie KUKA hergestellt werden und nicht nur hier eingesetzt, sondern auch in andere Industrieländer exportiert werden. Diese 1898 gegründete Augsburger Firma stellte zunächst Acetylengeneratoren her und baut heute Laser-, Klebe- und Schweißroboter sowie komplette Fertigungsanlagen für verschiedenste Branchen. Umstritten war der 2016 erfolgte Verkauf des gesamten Unternehmens an den chinesischen Haushaltsgerätekonzern Midea. Die Übernahme illustriert jedenfalls die Bedeutung dieser Schlüsselindustrie und Chinas Ehrgeiz, auch hier gleichzuziehen. Der andauernde deutsche Exporterfolg beruht zudem auf niedrigen Lohnkosten außerhalb des Landes – die man in den östlicheren EU-Ländern nutzt, und noch mehr außerhalb der Europäischen Union, v.a. in Asien und Lateinamerika. Immer zuverlässigere Logistik und günstiger Seetransport erlauben es, Einzelteile und Komponenten selbst für komplexe Produkte dort fertigen oder bearbeiten zu lassen. 14 In den Exportgütern, die über Hamburg, Bremen oder Rotterdam in die Welt gehen, steckt also auch der Mehrwert, der von äußerst preisgünstiger Arbeit im entfernten Ausland geschaffen wurde. Mit Aufschlag wird er dann unter dem Gütesiegel „Made in Germany“

13 Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1945 bis zur Gegenwart, Bonn 2011, 407–415. André Steiner, The Plans that Failed. An Economic History of the GDR, Oxford 2010, 161–165. 14 Stephan Lessenich, Neben uns die Sintflut: Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, Berlin 2016.

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re-exportiert, selbst wenn sein Anteil am Wert eines Produkts sehr weit über der Hälfte liegt. Den hohen Wert der deutschen Ausfuhrgüter verdeutlicht ein Vergleich Hamburgs mit Rotterdam (dem europaweit größten) und Shanghai (dem weltweit größten Hafen). Obwohl die Zahl der in 2016 umschlagenen Container in Rotterdam um knapp 40 % über der Hamburger Zahl lag, wurde an der Elbe gut das Dreifache des Werts exportiert. Der Containerumschlag in Hamburg beträgt nur ein Viertel des Umschlags in Shanghai, aber der Wert der Exporte liegt in Hamburg bei der Hälfte des Werts im chinesischen Hafen. In Rotterdam werden v.a. Massengüter wie Öl, Kohle und Erze umgeschlagen, und in Shanghai sind auch die großen Mengen von Industriegütern nicht so hochwertig wie in Hamburg. Aus China kommen nicht zuletzt die arbeitsintensiven Textilien, die bis weit ins 20. Jahrhundert in Deutschland selbst hergestellt wurden. Im Prozess der Industrialisierung schaffen verschiedene Wirtschaftsregionen (bzw. Wirtschaftsnationen) sich jeweils eigene, auf ihre Standortfaktoren zugeschnittene Nischen. In Deutschland, wo Rohstoffe knapp sind und die Arbeit teuer geworden ist, wurde das vor allem der Sektor der kapitalintensiven Spitzentechnologien und der sogenannten Premiummarken. Die wichtigsten Gruppen von Exportwaren sind Fahrzeuge und Fahrzeugkomponenten, Maschinen, Chemieprodukte und EDV-Technik. Unter den Bedingungen der Globalisierung können die hiesigen Exportindustrien aber zugleich die niedrigen Lohnkosten anderer Weltregionen nutzen. Selbst chinesische Zulieferer greifen mittlerweile auf die noch billigeren Arbeitskräfte in Ländern wie Myanmar oder Nordkorea zurück, deren arbeitsintensive Erzeugnisse günstig eingekauft werden und über maritime Wege in die deutschen Handelsbilanzen einfließen. 15 Die Zunahme des weltweiten Schiffverkehrs spiegelt nur zum Teil eine Zunahme der Güterproduktion; sie spiegelt auch diese tiefe Staffelung der Wertschöpfungsketten. Entsprechend ist die Tonnage der gesamten Welthandelsflotte von rund 800 Millionen Tonnen im Jahr 2000 auf knapp 1,8 Milliarden in 2016 gewachsen. 16 Im Warenverkehr mit China – mittlerweile ganz vorn unter Deutschlands Handelspartnern – macht zwar die „Neue Seidenstraße“ viel von sich reden. Aber die jährlich rund 70.000 Container, die mittlerweile über Schienenwege an ihrem deutschen Endpunkt Duisburg ankommen, sind eine bescheidene Größe im Vergleich mit dem Umschlag in Hamburg. Auch in Zukunft werden die mächtigsten Warenströme über See dirigiert werden.

15 Bundeszentrale für politische Bildung, Interregionaler Warenhandel, http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/globalisierung/52547/interregionaler-warenhandel (5.2.18). Bundeszentrale für politische Bildung, Deutschland: Export und Import nach Waren, http:// www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/globalisierung/52848/ex-und-import-nach-waren, (5.2.18). Ein früher kritischer Blick auf diese Entwicklung von Kenichi Ohmae, Die Macht der Triade. Die neue Form weltweiten Wettbewerbs, Wiesbaden 1985. 16 UK Department for Transport, Shipping Fleet Statistics 2016, https://www.gov.uk/...data/.../ shipping-fleet-statistics-2016.pdf (5.2.18).

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Made in Germany

Containerumschlag in 20-Fuß-ISO-Container (TEU)17 Hamburg Rotterdam Shanghai

1990 1.900.000 3.660.000 4.561.000

Exportvolumen in US-Dollar 18 Deutschland Niederlande VR China

1990 421.100.000.000 131.775.000.000 62.091.000.000

2005 8.100.000 9.288.000 ca. 20.000.000

2005 970.914.495.277 406.372.448.797 76.195.300.000

2015 8.800.000 12.235.000 36.537.000

2016 8.900.000 12.385.000 37.133.000

2015 2016 1.326.764.730.90 1.337.853.024.600 570.625.946.450 571.435.907.410 2.273.470.000.00 2.097.630.000.000

Außenhandelsüberschüsse in US-Dollar 19 Deutschland Niederlande VR China

1990 65.414.000.000 5.677.000.000 8.740.000.000

2005 193.842.000.000 42.550.000.000 112.000.000.000

2015 275.373.000.000 56.530.000.000 593.000.000.000

2016 282.362.000.000 66.290.000.000 509.900.000.000

17 Port of Hamburg, Containerumschlag, http://www.hafen-hamburg.de/de/statistiken/containerumschlag. Shanghai International Port, Container Throughput, http://www.portshanghai.com. cn/jtwbs/webpages/server_teu.html. (01.02.2018) Port of Rotterdam, Fakten & Zahlen, https:// www.portofrotterdam.com/sites/default/files/fakten-und-zahlen-rotterdamer-hafen.pdf. Tae Woo Lee / Mingnan Shen, Shipping in China (01.02.2018), Abingdon 2002. Theo E. Notteboom, 40 ans de conteneurisation dans le cluster portuaire Zeebrugge, Anvers, Rotterdam (Institut national de recherche sur les transports et leur sécurité) Paris 2006, http://ifsttar.fr/fileadmin/ redaction/1_institut/1.20_sites_integres/AME/SPLOTT/documents/seminaires- EMAR/200601-20-seminaire-EMAR-presentation.pdf 01.02.2018). 18 World Trade Organization, Time Series on International Trade, http://stat.wto.org/StatisticalProgram/WSDBStatProgramHome.aspx?Language=E (05.02.2018). 19 World Trade Organization, Time Series on International Trade, http://stat.wto.org/StatisticalProgram/WSDBStatProgramHome.aspx?Language=E (05.02.2018).

SCHATZKAMMER UND MÜLLEIMER Europas Meere zwischen Nutzung und Verschmutzung Jens Ruppenthal EINLEITUNG Im Märchen vom Fischer und seiner Frau geht es um die Maßlosigkeit der Menschen gegenüber dem Meer und seinen Schätzen. Ein armer Fischer fing eines Tages einen fetten Butt. Dieser jedoch flehte, er sei in Wahrheit ein verzauberter Prinz. Der Fischer hatte ein Herz und ließ den Fisch wieder frei. Allerdings äußerten der Fischer und seine Frau im Gegenzug in den folgenden Tagen eine ganze Reihe von immer unbeherrschteren Wünschen nach Besitz und Macht. Das Meer verdüsterte sich zusehends, und als das Maß auch für den geduldigen Butt voll war, zerstörte ein gewaltiges Unwetter die angehäuften Reichtümer der Fischersleute. Bereits die Politologin und Seerechtlerin Elisabeth Mann Borgese nutzte das durch die Gebrüder Grimm bekannte Märchen, um in ihrem Buch Das Drama der Meere das Kapitel zur Fischerei einzuleiten. Sie interpretierte die Geschichte als Konflikt zwischen Technik und Natur. 1 Seit längerem nehmen die Wechselwirkungen im Verhältnis von Mensch und Meer auch in der historischen Reflexion zunehmenden Raum ein. Die US-amerikanische Wissenschafts- und Umwelthistorikerin Helen Rozwadowski appellierte vor einigen Jahren: „The time has come for scholars in the humanities to try to understand that the ocean is not only a source of natural resources or a stage for the events of human history, but rather a complex and changing natural environment that is inextricably connected to, and influenced by, people.“ 2

Ihre Forderung an die Geistes- und Kulturwissenschaften nach einem holistischeren Verständnis der Meere erhob sie in einem Beitrag zur Verknüpfung von Ozean und Frontierdenken in den Schriften des Science Fiction- und Sachbuchautors Arthur C. Clarke. In der Tat gilt seit einigen Jahren das Interesse der historischen Forschung auch den Qualitäten der Meere als Imaginationsräume. Im Rahmen einer allgemeinen kulturhistorischen Hinwendung zum Meer problematisierten Alexan-

1 2

Mann Borgese, Elisabeth, Das Drama der Meere, Frankfurt a.M. 1977, S. 83–84. Rozwadowski, Helen M., Arthur C. Clarke and the Limitations of the Ocean as a Frontier, in: Environmental History 17 (2012), S. 578–602, hier S. 582.

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der Kraus und Martina Winkler jedoch die vorherrschenden Vorstellungen der Kollektivsingulare das Meer und der Mensch. Auch den Dualismus von Meer und Land gelte es zu hinterfragen, schließlich müsste es sonst neben einer Geschichte des Meeres dann auch eine Geschichte des Landes geben. Kraus und Winkler wenden sich also gegen die simplifizierende Betrachtung des Meeres als einheitlicher Geschichtsraum. 3 Vor allem aber bricht sich in der geistes- und kulturwissenschaftlichen Arbeit am Meer allmählich die Erkenntnis Bahn, dass die Meere dreidimensionale, vielschichtige und differenziert zu betrachtende Räume sind und dass es sich bei den Ozeanen um komplexe Großökosysteme handelt. Bereits 2001 mahnten die Fischereihistoriker Poul Holm, David Starkey und Tim Smith, dass sich die historische Auseinandersetzung mit dem Ozean nicht darauf beschränken dürfe, den Menschen einfach nur als Akteur gegenüber einer passiven Natur zu verstehen, sondern ihn zu interpretieren als „one factor in a broad ecological network of complex interactions“. 4 Im Sinne einer ganzheitlichen Forschungsperspektive auf das Meer ist es wichtig, dabei nicht nur Fisch- und Walfang und andere historische und gegenwärtige Formen der Gewinnung mariner Ressourcen zu berücksichtigen. Auch die Nutzung der Meere zur Entsorgung von Abfällen oder die unfallbedingte Einbringung schädlicher Stoffe stellen bewusste oder unbeabsichtigte Eingriffe in das Ökosystem Meer dar. Beide Themenbereiche besitzen neben ihrer technischen und ökonomischen außerdem eine politische und rechtliche Dimension, weil Meeresnutzung und Meeresverschmutzung regelmäßig Gegenstand von und Anlass für meist internationale Konflikte und Verhandlungen waren. Trotz, oder gerade wegen, der seit einigen Jahren verstärkt geforderten ganzheitlichen geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschungsperspektive beanspruchen die folgenden Betrachtungen keineswegs Vollständigkeit. Sie konzentrieren sich vielmehr auf drei zentrale historische Entwicklungen im menschlichen Umgang mit den Meeren: erstens auf die kontinuierliche Ausbeutung der lebenden marinen Ressourcen, korrespondierend mit einem zunehmenden Technisierungsgrad; zweitens auf Verhandlungen über die Meere und Ozeane insbesondere infolge internationaler Ressourcenkonflikte; drittens auf Verschmutzungen durch Schifffahrt und Schiffsunglücke sowie Verunreinigungen von Land aus. Diesen Betrachtungen liegt die These zugrunde, dass im 19. Jahrhundert die Vorstellung einer unbegrenzten Ausbeutungs- und Strapazierfähigkeit der Meere und Ozeane langsam zu zerfallen begann und dieser Prozess für das historische Verhältnis von Mensch und Meer fundamental ist. Er ist ebenso grundlegend wie der weitgehende Verlust der Furcht vor den Gefahren des Meeres als einer unbekannten, lebensfeindlichen und mythisch aufgeladenen Welt. 3 4

Kraus, Alexander/Winkler, Martina, Weltmeere. Für eine Pluralisierung der kulturellen Meeresforschung, in: dies. (Hg.), Weltmeere. Wissen und Wahrnehmung im langen 19. Jahrhundert (Umwelt und Gesellschaft 10), Göttingen 2014, S. 9–24, hier S. 17. Holm, Poul/Starkey, David/Smith, Tim, Introduction, in: dies. (eds.), The Exploited Seas: New Directions for Marine Environmental History (Research in Maritime History 21), St. John’s 2001, XIII–XIX, hier XIII.

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ÜBERNUTZUNG Die Nutzung mariner Ressourcen war zu allen Zeiten und an fast allen Küsten gängige Praxis. In ihrer Konstanz und kulturübergreifenden Universalität ist sie allenfalls mit der Nutzung des Meeres für den Transport von Gütern und Menschen vergleichbar. An der grundsätzlichen Verfügbarkeit der „Schätze des Meeres“, ob es sich um Fische und Wale, um Korallen und Schwämme oder um Erdöl und Mineralien handelte, kam stets nur gelegentlich und vorübergehend Zweifel auf. Die längste Zeit schien es, als seien die Ressourcen des Meeres unerschöpflich. Noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts fand sich diese Vorstellung als Topos in der europäischen Literatur. Ein Beispiel dafür ist der Roman Gran Sol des spanischen Schriftstellers Ignacio Aldecoa von 1957. Gran Sol nannten kantabrische Hochseefischer einen vor Irland gelegenen Fanggrund, und Aldecoa erzählt von einer Fangfahrt dorthin. Routiniert lässt er seine Romanfiguren ein Schleppnetz einholen: „Dann wurde der Fang aufs Deck entleert, und zuerst kamen die kleinen Seeteufel mit ihren aufgesperrten Mäulern und runzeligen Fischschwänzen. Katzenäugige Haie kamen hinterher: Dornhaie mit Stacheln an Rücken- und Schwanzflossen, kleine Hundshaie mit harten Zähnen, kleine Wasserbestien, deren herrliche Augen an Deck vor ohnmächtiger Wut glasig wurden. Unter ihnen das schlängelnde Gewimmel der Aale, der Flundern und Seezungen, das unwirkliche Geschöpf der Meerratte mit ihren Nagezähnen, Schuppen, die vielleicht auch Fell sind, ihrem spitz zulaufenden Schwanz, der grauen Färbung, den grünen oder blauen Augen einer verschreckten Kreatur. Die Schleppnetze entleeren den fünften Schöpfungstag auf die Decks der Hochseekutter.“ 5 Der Autor beschreibt die Vielfalt der ozeanischen Fauna, er nennt die vertrauten Tiere und er beschreibt Geschöpfe, deren mitunter haarsträubend hässliche Gestalt erklärende Worte verlangen. Ein einziges Schleppnetz bringt Bestien, Gewimmel und verschreckte Kreaturen in Massen an Bord. Mit dem Verweis auf die Schöpfungsgeschichte lässt Aldecoa den biblischen Urzustand des Lebens im Meer ins Netz gehen. Alles, womit Gott einst die Meere bevölkert hatte, so suggeriert diese Passage, war noch immer in seiner Vielfalt und Fülle vorhanden, wie auch der Wechsel ins Präsens unterstreicht. Die Beute dieses Schleppgangs symbolisiert den ewigen Reichtum der Meere. Auch die Fischwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland feierte diesen Reichtum. In der Allgemeinen Fischwirtschaftszeitung (AFZ) erschien wenige Jahre vor Aldecoas Roman ein redaktioneller Beitrag mit dem Titel „Keine Zukunftssorgen!“:

5

Aldecoa, Ignacio, Gran Sol, Zürich 2009 (span. Originalausgabe 1957), S. 119.

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Jens Ruppenthal „Der Fisch ist kein Großwild. Man könnte ihn eher mit unseren Insekten vergleichen. Ebenso wie es dem Menschen unmöglich ist, Heuschrecken-, Mücken- und Fliegenplagen auszumerzen, ebenso ist es ihm auch unmöglich, grundlegende Veränderungen im Fischbestand unseres Meeres hervorzurufen.“ 6

Die globalen Fischbestände erscheinen hier als zahlenmäßig unfassbar. Selbst wenn „der Mensch“ wollte, wäre er nicht in der Lage, „dem Fisch“ den Garaus zu machen. Eine solche Gegenüberstellung der Kollektivsingulare von Mensch und Natur führte scheinbar logisch zum Postulat der Unerschöpflichkeit der Ressource Fisch. Nur kurze Zeit später mutmaßten die AFZ-Redakteure unter Berufung auf Schätzungen der Vereinten Nationen, dass die „gegenwärtigen Fänge glatt verdoppelt werden“ könnten und „daß es der Menschheit durch verhältnismäßig geringe Investitionen in wenigen Jahren schon möglich sein wird, das Tor zu dieser unerschöpflichen Schatzkammer aufzutun“. 7 Tatsächlich verdoppelten sich die weltweiten jährlichen Fangmengen von 20 Millionen Tonnen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1960 und erhöhten sich bis 1970 weiter auf knapp 70 Millionen Tonnen. Dann brach diese Entwicklung für etwa eine Dekade ab, um später wieder anzusteigen, wenn auch weniger stark als zuvor. Dennoch hatte sich die Gesamtfangmenge bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts beinahe verfünffacht. Diese exorbitante Zunahme war vor allem auf die Industrialisierung der Fischerei beziehungsweise auf die konstante Verbesserung und Rationalisierung der Fang- und Verarbeitungstechniken zurückzuführen. Das betraf vor allem die Fangschiffe und ihre Ausrüstung: Die Reedereien in den Fischereinationen stellten zunehmend sogenannte Vollfroster in Dienst; dabei handelte es sich um Fang-Fabrikschiffe mit den Möglichkeiten, den Frischfisch bereits an Bord zu Tiefkühlprodukten zu verarbeiten. 8 Mit den Schiffen verbesserten sich auch die Fischortungsmöglichkeiten. Der Echolottechnik lagen hydroakustische Forschungen zugrunde, die bereits in den 1930er-Jahren vor allem in Großbritannien, Frankreich und Norwegen begonnen hatten und von Anfang an mit Blick auf eine Verwendung in der Fischerei betrieben wurden. Der Einsatz hydroakustischer Mittel profitierte stark von den Fortschritten auf dem Gebiet der U-Boot-Ortungstechnik während des Zweiten Weltkriegs. Ab

6 7 8

Keine Zukunftssorgen! In: Allgemeine Fischwirtschaftszeitung 2, Nr. 31, 1. Novemberausgabe 1950, o.S. Das Meer als Rohstoff- und Nahrungsmittelquelle, in: Allgemeine Fischwirtschaftszeitung 6, Nr. 23, 1954, S. 6. McKenzie, Matthew, ‚The Widening Gyre‘: Rethinking the Northwest Atlantic Fisheries Collapse, 1850–2000, in: Starkey, David J./Heidbrink, Ingo (eds.), A History of the North Atlantic Fisheries, vol. 2: From the 1850s to the Early Twenty-First Century (Deutsche Maritime Studien, Bd. 19), Bremen 2012, S. 293–305. Im gleichen Band: Heidbrink, Ingo, From Sail to Factory Freezer: Patterns of Technological Change, S. 58–78.

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den 1960er-Jahren war es schließlich möglich, anhand der Signale zwischen verschiedenen Fischarten zu unterscheiden. 9 Der Glaube an die Unerschöpflichkeit des Meeres galt da jedoch schon nicht mehr uneingeschränkt. Es war bereits in früheren Jahrhunderten klar geworden, dass fischende Menschen durchaus in der Lage waren, Fischbestände durch intensive Nutzung zu reduzieren. Fischereiregulierende Maßnahmen gab es bereits am Beginn der Frühen Neuzeit, erste staatliche Kommissionen zur Untersuchung von Überfischungserscheinungen traten im 19. Jahrhundert in Großbritannien zusammen, und der International Council for the Exploration of the Sea (ICES) wurde 1901 in erster Linie gegründet, um Fischereiforschung zu betreiben. Regelmäßig aber gingen Wissenschaftler bei ihren Einschätzungen von der Prämisse aus, dass der Einfluss des Menschen nicht ausreiche, um die Meere insgesamt zu erschöpfen. Diese Gewissheit stützten noch die Experten des mittleren 20. Jahrhunderts auf die Beobachtung eben jenes kontinuierlichen Wachstums der internationalen Fischereierträge, das höchstens gelegentlichen Schwankungen unterlag. 10 Ab 1960 war immerhin vermehrt von Überfischung die Rede. Aus dem Institut für Seefischerei der Bundesforschungsanstalt für Fischerei in Hamburg war immer häufiger zu hören, dass zumindest bei einigen Fischarten nicht mehr von einer grenzenlosen Verfügbarkeit ausgegangen werden könne. Zum extremen Rückgang der Heringsbestände in der Nordsee hieß es zum Beispiel im Institutsbericht von 1970: „Wir müssen nach der Katastrophe in der Nordseeheringsfischerei unsere Ansicht revidieren, daß die Heringsbestände unerschöpflich sind.“ 11 Gleichzeitig gingen Fischwirtschaft und Fischereiforschung jedoch davon aus, dass ein Ende der Ertragsfähigkeit der Ozeane insgesamt noch nicht absehbar war und die zukünftige Nutzung der marinen Nahrungsquellen eine technisch und politisch lösbare Aufgabe blieb. 12 Obgleich also häufiger von Überfischung und kaum noch dezidiert von einer Unerschöpflichkeit der Meere die Rede war, bestand der Topos implizit fort. Eine Ambivalenz aus der technischen Erschließung des ozeanischen Raumes und der Erfahrung schwindender Ressourcen kennzeichnete in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Handeln in den Fischereinationen. Administrative Reaktionen auf die Schwankungen in der Verfügbarkeit der natürlichen Rohstoffe und regulierende Maßnahmen als Ergebnis von einzelstaatlichen Entscheidungen oder, wie in späteren Epochen, von internationalen Verhandlungen sind eine Begleiterscheinung dieser Entwicklung.

9

Schwach, Vera, An Eye into the Sea. The Early Development of Fisheries Acoustics in Norway, 1935–1960, in: Rozwadowski, Helen M./Keuren, David K. van (eds.), The Machine in Neptune’s Garden. Historical Perspectives on Technology and the Marine Environment, Sagamore Beach 2004, S. 211–242. 10 Roberts, Callum, The Unnatural History of the Sea, Washington/Covelo/London 2007; Rozwadowski, Helen M., The Sea Knows No Boundaries. A Century of Marine Science under ICES, Seattle/London 2002. 11 Bundesforschungsanstalt für Fischerei, Jahresbericht 1970, S. 18. 12 Jennifer Hubbard, Mediating the North Atlantic Environment: Fisheries Biologists, Technology, and Marine Spaces, in: Environmental History 18 (2013), S. 88–100.

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VERHANDLUNG Zu einer Entfaltung der historischen Perspektive von Meeresnutzungen gehört auch der Walfang. Zum einen ist er ein Beispiel dafür, dass bestimmte Ressourcen nur zu bestimmten Zeiten von Belang waren. Zum anderen lässt sich auch am Walfang zeigen, wie eine begehrte Ressource aufgrund steigenden Zugriffs auf die Bestände im Zusammenspiel mit verbesserten Jagdmethoden zu einem Gegenstand internationaler Verhandlungen wurde. Allerdings drehten sich diese anfangs, nämlich bei der Gründung der Internationalen Walfangkommission 1946, um die Frage, wie die wirtschaftlich interessanten Arten u.a. durch Quoten für die Walfangnationen auf Dauer verfügbar gehalten werden konnten. Der mit Walen heute verbundene Gedanke der unbedingten Schutzwürdigkeit spielte für die Internationale Walfangkommission in ihren ersten Jahren noch keine wesentliche Rolle, es ging ihr um die Verfügbarhaltung einer natürlichen Ressource – nichts anderes beschreibt das Prinzip der Nachhaltigkeit. Das Image des Wals als buchstäblich liebenswertes Monument der Naturgeschichte entwickelte sich erst später. 13 Konflikte um die Ressourcen der Meere waren mit den Versuchen der Steuerung und Regulierung untrennbar verbunden. Sie prägten insbesondere das Verhältnis der europäischen Fischereinationen zueinander stark. Internationale Fischereikonflikte entzündeten sich in der Regel an der einseitigen Ausweitung nationaler Fischereizonen. 14 Die sogenannten Kabeljaukriege waren nicht nur das Ergebnis einer durch politisches Handeln künstlich herbeigeführten Verknappung einer natürlichen Ressource, sondern vor allem das Resultat konstanter Übernutzung der Bestände, und zwar nicht nur durch isländische Fischer. In jenen Jahren trat das Problem der Überfischung immer deutlicher zu Tage, die Fachdiskussionen erreichten die Öffentlichkeit. Auch bundesdeutsche Medien berichteten regelmäßig; am Beispiel des Herings schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung 1973: „Überfischung, also Raubbau, der mit der Revolutionierung der Fischereitechnik, mit dem Bau moderner Fangschiffe und mit den raffinierten Ortungstechniken den gesamten Bestand an Jung- und Altfischen hart traf, hat das ökologische Gleichgewicht zwischen Produktion und Verbrauch des Herings total zerstört. Die Natur ist der technischen Rationalisierung nicht gewachsen. Auch die Nordsee ist heringsleer.“ 15

Der Bericht sollte die „biologischen Hintergründe“ der zwischenstaatlichen Auseinandersetzung beleuchten und bezeichnete die Vorstellung, die Ozeane böten alle Möglichkeiten zur Ernährung der Weltbevölkerung, als „Illusion“. Da der Hering gerade für die deutschen Zeitungsleser der vertrauteste Meeresbewohner war, 13 Dorsey, Kurkpatrick, Whales and Nations: Environmental Diplomacy on the High Seas, Seattle 2014. 14 Heidbrink, Ingo, „Deutschlands einzige Kolonie ist das Meer!“ Die deutsche Hochseefischerei und die Fischereikonflikte des 20. Jahrhunderts (Schriften des Deutschen Schiffahrtsmuseums 63), Bremerhaven/Hamburg 2004. 15 Rudzinski, Kurt, Island kämpft auch gegen die Ausraubung des Meeres, in: FAZ vom 18.6.1973.

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schien er wohl besser als der Kabeljau geeignet, um die Überfischung zu erörtern. An anderer Stelle war von der „Herings-Katastrophe“ im Ostatlantik die Rede; dazu schrieb ein Fischereiexperte: „Die Geschichte des Heringsfangs ist in den vergangenen Jahren zu einer Geschichte der Vernichtung geworden.“ 16 Im Sinne des eingangs zitierten Postulats, wonach der Mensch als ein Faktor in einem ökologischen Geflecht von komplexen Interaktionen verstanden werden müsse, lässt sich festhalten, dass ökologische und politische Krisenfaktoren in den nordatlantischen Fischereikonflikten einander bedingten. Auffällig ist die martialische Sprache in diesen Konflikten: Da ist die Rede von Raubbau und Vernichtung, und in den Kabeljaukriegen schmähten die Kontrahenten einander als Piraten und Plünderer. Eine derartige Wortwahl erinnert durchaus an die mediale Berichterstattung über die aktuellen politischen Auseinandersetzungen im Nordpolarmeer, wo von Kaltem Krieg, Säbelrasseln und Wettkampf oder Wettlauf um Rohstoffe die Rede ist. Das dadurch hervorgerufene Bild bedarf jedoch der Überprüfung. Politische Ziele im Zeichen von Ressourcenansprüchen müssen nicht unbedingt mit kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen und schon gar nicht mit gesichertem Wissen über Rohstoffvorkommen in einem bestimmten Meeresraum logisch ineinandergreifen. Auch in der Arktis muss unterschieden werden zwischen Erdöl- und Erdgasvorkommen im Bereich des Kontinentalschelfs und anderen, etwa mineralischen Rohstoffen, die überwiegend jenseits des Kontinentalsockels in der Tiefsee vermutet werden. Denn Gewissheit über die Lage und Ausdehnung realer Vorkommen gibt es bei letzteren vor allem in der Arktis kaum. Die Ausbeutung der vorhandenen Lagerstätten des Kontinentalsockels wiederum ist durch das Seerecht klar geregelt. Zumindest teilweise verzerrt die mediale Geräuschkulisse um einen vermeintlichen Wettlauf im Nordpolarmeer reale Konfliktlinien. 17 Die Motive und Argumente von Arktisanrainerstaaten zur Untermauerung ihrer Ansprüche auf bestimmte Gebiete sind vielfältig. Dazu zählt auch die beispielsweise von Russland und Kanada besonders betonte Bedeutung der Arktis für ihre jeweilige nationale Identität. Die Frage ist, zu welchen Zielen solche Gebietsansprüche formuliert werden. Der deutsche Geophysiker Karl Hinz, ehemaliges Mitglied in der Festlandsockelkommission der Vereinten Nationen, sieht in langfristiger Perspektive als Grund für die zahlreichen Anträge an die Festlandsockelkommission durchaus das Kalkül der beteiligten Staaten, der Arktische Ozean berge möglicherweise heute noch unbekannte Rohstoffe, deren Verfügbarkeit für die künftigen Generationen der eigenen Nation langfristig gesichert werden sollte.18 Ohne den beteiligten Nationen absprechen zu wollen, dass ein Teil ihrer Identität 16 Thurow, Fritz, Sustained fish supply. An introduction to fishery management, in: Archiv für Fischereiwissenschaft 33, 1/2 (1982), 1–42, hier S. 17. 17 Vgl. zu diesem Themenkomplex die Beiträge in dem Schwerpunktband „Logbuch Arktis: Der Raum, die Interessen und das Recht“ der Zeitschrift Osteuropa, 61. Jahrgang, Heft 2–3, Februar–März 2011. 18 „Es gibt keinen Wettlauf um die Arktis“. Karl Hinz über die Festlandsockelkommission, den Rohstoffmythos und einen Präzedenzfall, in: ebd., S. 93–110.

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in der Arktis wurzelt, lässt sich nicht bestreiten, dass sich in einem Prozess der Konstruktion, wie ihn die konstante Vergewisserung und Kommunikation der eigenen Identität darstellt, die Gelegenheit anbietet, Ressourcen ganz gezielt als Bausteine zu verwenden. Die erwähnte Festlandsockelkommission gehört im Übrigen zu jenen Einrichtungen, die gemeinsam mit dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen 1982 ins Leben gerufen wurden. Sie dient der Klärung nationaler Ansprüche auf Bereiche des Kontinentalschelfs, die sich jenseits der 200 Seemeilen breiten „Ausschließlichen Wirtschaftszone“ entlang der Küstenlinie befinden. Daneben legte die 3. UN-Seerechtskonferenz, die von 1973 bis 1982 tagte, die Grundlagen für die Internationale Meeresbodenbehörde und den Internationalen Seegerichtshof. Ihr wichtigstes Ergebnis war jedoch das Seerechtsübereinkommen selbst, das zum einen auf dem frühneuzeitlichen Grundsatz der Freiheit der Meere und zum anderen auf der Idee des Meeres als eines gemeinsamen Erbes der Menschheit basiert. Das Dokument stellt eine umfassende Verrechtlichung des maritimen Raumes dar, und dies sowohl in der Horizontalen als auch in der Vertikalen einschließlich des Meeresbodens in der Tiefsee. 19 Es bildet somit auch eine Leitlinie für Aushandlungsprozesse im Rahmen von Konflikten um marine Ressourcen, wenngleich die Auseinandersetzungen im Nordpolarmeer belegen, dass diese trotz des Vorhandenseins einer solchen Verfassung der Meere nicht unbedingt leichter zu lösen sind. VERSCHMUTZUNG Zur zentralen These dieser Überlegungen, wonach die Vorstellung des Meeres als einer unbegrenzt leistungsfähigen und belastbaren Sphäre ebenso langlebig war wie die eines mythischen Gefahrenraums, gehört neben der Nutzung mariner Ressourcen und den um sie entstehenden Verhandlungen und Konflikten auch die Meeresverschmutzung. Das dabei zugrunde liegende Denkmuster ähnelte der lange gehegten Ansicht, dass die Gewinnung von Nahrung und Energie aus den Meeren dem Besitz einer Dauerkarte für den Besuch in einer unerschöpflichen Schatzkammer gleichkam. Die gezielte Entsorgung von Abfällen und Schadstoffen auf See oder die Einleitung von Abwässern durch Flüsse erschien als verkraftbare Zumutung. Das Meer wurde überwiegend als uneingeschränkt strapazierfähige Benutzeroberfläche angesehen. Diese Annahme mochte noch gespeist werden durch Äußerungen wie die des Geographen Friedrich Ratzel aus dem Jahr 1900: „Das Meer ist nur der Weg. Das will besagen, daß das Meer den Verkehr erleidet, der über es hin seine Wege sucht. Es trägt ihn, aber es trägt nichts dazu bei.“ 20 Obgleich dieses Zitat aus einem Beitrag zur Flottendiskussion im Kaiserreich stammt, spiegelt es die Auffassung eines passiv erduldenden Raumes. Bei Nutzung wie Verschmutzung galt für das Meer im Allgemeinen: Es hält unerschöpflich bereit, es nimmt unbegrenzt auf. 19 Glassner, Martin Ira, Neptune’s Domain. A political geography of the sea, Boston 1990. 20 Ratzel, Friedrich, Das Meer als Quelle der Völkergröße. Eine politisch-geographische Studie, München/Leipzig 1900, S. 38.

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Dieser Eindruck wurde vielleicht nicht zum überhaupt ersten Mal, gewiss aber besonders wirkungsvoll durch die Verschmutzung des Meeres und besonders seiner Lebewesen durch Erdöl gestört. Bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren machten Ornithologen auf die zunehmende Ölverschmutzung an den europäischen Küsten aufmerksam, diskutierten Politiker und Naturschützer im Rahmen des Völkerbundes über geeignete Gegenmaßnahmen und begannen Bilder von verölten Seevögeln die Wahrnehmung des Problems zu prägen. 21 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zogen diverse medienwirksame Öltankerhavarien die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. Das erste große Tankerunglück mit einer veritablen Ölpest im Gefolge, das sich vor den europäischen Küsten ereignete, war nur das erste in einer langen Reihe von ähnlichen und keineswegs auf europäische Gewässer beschränkten Vorkommnissen. Im März 1967 lief die rund 300 Meter lange und mit 117.000 Tonnen Rohöl beladene Torrey Canyon vor Cornwall auf ein Riff. Das unter liberianischer Flagge fahrende Schiff war zu dieser Zeit einer der größten Öltanker weltweit. Nach misslungenen Bergungsversuchen bei schwierigen Wetterbedingungen brach der Havarist auseinander. Mangels besser geeigneter Gegenmaßnahmen bombardierten britische Kampfflugzeuge das Schiff mehrere Tage lang, um zumindest das noch darin befindliche Öl zu verbrennen. Das bereits in großen Mengen ausgetretene Öl gelangte allerdings aufgrund wechselnder Winde nicht nur an britische Strände, sondern erreichte nach wenigen Wochen auch die Küste der Bretagne. 22 Genau hier verunglückte elf Jahre später mit der Amoco Cadiz ein noch größerer Tanker, wobei mit 220.000 Tonnen beinahe die doppelte Menge an Öl wie bei der Torrey Canyon auslief. 23 Bis heute handelt es sich dabei um die schlimmste Ölkatastrophe in Europa. Die meisten großen Tankerkatastrophen geschahen zwischen dem Untergang der Torrey Canyon und dem Beginn der 1990er-Jahre. Danach ging zwar die Zahl der großen Einzelunglücke vor allem aufgrund strengerer Bauvorschriften für Öltanker zurück, doch diese Art der Katastrophe und die Bilder einer Ölpest und ihrer fatalen Folgen für die marine Umwelt wie für die Menschen an den betroffenen Küsten hatten da längst einen festen Platz in den kollektiven Gedächtnissen gefunden. Die mediale Berichterstattung reichte in vielen Fällen weit über den küstenregionalen Rahmen hinaus und produzierte europäische Medienereignisse. 24 21 Wöbse, Anna-Katharina, Weltnaturschutz. Umweltdiplomatie in Völkerbund und Vereinten Nationen 1920–1950 (Geschichte des Natur- und Umweltschutzes, Bd. 7), Frankfurt a.M./New York 2012. 22 Cabinet Office, The Torrey Canyon. Report of the Committee of Scientists on the Scientific and Technological Aspects of the Torrey Canyon Disaster, London 1967. 23 Bonnieux, Francois, Rainelli, Pierre, Learning from the Amoco Cadiz Oil Spill: Damage Valuation and Court’s Ruling (Nota di Lavoro 18.94 della Fondazione ENI Enrico Mattei), o.O. 1994, S. 3. 24 Ruppenthal, Jens, „Lessons from the Torrey Canyon“. Maritime Katastrophen, Kalter Krieg und westeuropäische Erinnerungskultur, in: Elvert, Jürgen/Feldt, Lutz/Löppenberg, Ingo/Ruppenthal, Jens (Hg.), Das maritime Europa. Werte – Wissen – Wirtschaft (HMRG Beihefte 95), Stuttgart 2016, S. 245–256.

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Einzelne Tankerhavarien zogen dabei stets die meiste Aufmerksamkeit auf sich, obwohl bis heute der weitaus größte Teil des Öls in den Meeren aus anderen Quellen stammt. Während sich nur etwa ein Zehntel der weltweiten Ölverschmutzung auf Schiffsunglücke zurückführen lässt, geht fast die Hälfte auf Abwässer und den Betrieb von Bohrinseln sowie ein gutes Drittel auf die reguläre Schifffahrt zurück. 25 Das meiste Öl gelangt also ebenso kontinuierlich wie unkontrolliert in die Ozeane. Andere Schadstoffe wurden durchaus gezielt im maritimen Raum entsorgt. Die Verbrennung und Verklappung von Giftmüll, teilweise mit Hilfe von Spezialschiffen, wäre hier zu nennen. Für die schwer zu beseitigenden Abfälle der ressourcenintensiven Industriegesellschaften schienen die Meere lange Zeit die ideale, weil vermeintlich unbegrenzt aufnahmefähige Deponie zu sein. Die buchstäblich weitreichendsten ökologischen Probleme verursachen solche Verschmutzungen, die praktisch allerorten ohne nennenswerte Regulierung stattfinden. Ein aktuell besonders präsentes Beispiel ist die globale Verunreinigung der Ozeane durch Plastikmüll. Insbesondere die Rede von den „Müllinseln“, die im Zweifel die Vorstellung einer beinahe begehbaren Fläche aus Plastikflaschen, Plastiktüten und Plastiklatschen hervorrufen könnte, ist dabei allerdings irreführend. Obwohl jährlich rund acht Millionen Tonnen Plastik durch Abwässer, mangelhaftes Abfallmanagement, verlorene Ladung oder über Bord geworfenen Schiffsmüll in die Meere gelangen, befindet sich nur ein Prozent davon an der Meeresoberfläche und von diesem einen Prozent wiederum lediglich die Hälfte in den großen Müllwirbeln im Atlantischen, Indischen und Pazifischen Ozean. Der weitaus größte Teil des Plastiks findet sich in granulierter, zerriebener und zersetzter Form, also in Gestalt von Mikroplastik in den Meeren. Die mitunter mikroskopisch kleinen Teilchen verteilen sich nicht nur bis in polare Breitengrade in der Fläche, sondern auch in der Wassersäule, wo sie von Fischen für Plankton gehalten und aufgenommen werden, und am Boden der Tiefsee, wo sie sich sogar besonders konzentriert ansammeln. Auch die mysteriösen Müllwirbel weisen zwar eine hohe Plastikteilchendichte auf, bestehen aber ebenfalls im Wesentlichen aus Mikroplastik. Angesichts dieser Verbreitung ist davon auszugehen, dass die Ozeane auch nicht mittels raffiniertester Technologie jemals wieder plastikfrei sein werden. 26 In der öffentlichen Wahrnehmung harrt das Problem bislang dieser Differenzierung. Gemessen an der medialen Präsenz der Erscheinungsformen von Meeresverschmutz-ung ließe sich derzeit zugespitzt sagen: Plastik ist das neue Öl. SCHLUSS Die drei betrachteten Themenkomplexe – Übernutzung mariner Ressourcen, Verhandlung über die Nutzung der Ozeane, Wahrnehmung der Meeresverschmutzung – lassen sich zu folgenden Erkenntnissen bündeln: Für alle marinen Rohstoffe – 25 Maribus (Hg.), World Ocean Review, Bd. 1: Mit den Meeren leben, Hamburg 2010, S. 92. 26 Meeresatlas. Daten und Fakten über unseren Umgang mit den Ozeanen, 2. Aufl., 2017, S. 18–19.

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lebende wie nicht-lebende – gilt, dass ihre Gewinnung und Nutzung von politischökonomischen Interessen und Konfliktlinien und einem zunehmend komplexen Rechtsregime abhängt. Wer wie wo fischt oder bohrt, hing zu allen Zeiten davon ab, wie sich das Spannungsfeld von Kooperation und Konflikt zwischen politischen und ökonomischen Akteuren gestaltete. Ressourcennutzung basiert, vom Küstenfischerboot über das Fabrikschiff bis zur Ölbohrinsel, auf der Anwendung von Technik. Das kann Technik-Utopien zum Meeresbergbau ebenso umfassen wie die Diskussion um Technologietransfer im Zusammenhang mit dem Common HeritageGedanken im Seerechtsdiskurs. Vor allem aber gehört die Industrialisierung der Fischerei in diesen Kontext. Technisierung und Industrialisierung führten langsam, aber sicher nicht nur zu einer Übernutzung der marinen Ressourcen, sondern auch zu einer Zunahme der Meeresverschmutzung. Das nur allmählich sich entwickelnde Bewusstsein, dass die Ozeane weder unerschöpflich noch unbegrenzt belastbar sind, ist für eine Charakterisierung des Verhältnisses von Mensch und Meer im historischen Wandel absolut zentral. Wenn es neben der Abkehr von der Vorstellung eines mythischen, menschenfeindlichen Gefahrenraums einen tiefgreifenden Wandel in der Wahrnehmung des Meeres gibt, dann diesen.

METALLE AUS DEM MEER Eine kurze Geschichte des Tiefseebergbaus Ole Sparenberg 2006 schloss die Bundesrepublik Deutschland mit der Internationalen Meeresbodenbehörde der Vereinten Nationen einen Vertrag über zwei Meeresgebiete von zusammen 75.000 km2 im Zentralpazifik. Damit erwarb die Bundesrepublik in diesen Gebieten auf 15 Jahre exklusive Rechte für die Erforschung von Manganknollen auf dem Meeresboden. 1 2014 erwarb die Bundesrepublik auf demselben Weg ebenfalls eine Lizenz für die Exploration von Massivsulfiden in einem Seegebiet im Indischen Ozean. 2 Dieses Interesse an metallischen Ressourcen aus der Tiefsee ist nicht neu, sondern insbesondere Manganknollen standen bereits international wie auch in der Bundesrepublik von etwa 1965 bis 1982 im Mittelpunkt umfangreicher Forschungs- und Entwicklungsarbeiten, auf denen die heutigen Projekte aufbauen. Obwohl eine Reihe von Unternehmen und staatlichen Institutionen aus fast allen westlichen Industrienationen auf einen Tiefseebergbau nach Manganknollen hinarbeiteten, wurden die entsprechenden Projekte in den 1980er Jahren wieder eingestellt, so dass bis heute keine Erzförderung aus der Tiefsee im kommerziellen Maßstab stattgefunden hat. Der Begriff „Tiefseebergbau“ bezog sich in der Vergangenheit in erster Linie auf den Abbau von Manganknollen. Daneben interessierten sich bundesdeutsche Unternehmen in den 1970er Jahren für Erzschlämme im Roten Meer, aber auch hier erfolgte nie der Schritt zum gewerblichen Abbau. 3 Manganknollen sind schwarzbraune mineralische Objekte von unregelmäßiger, knollenartiger Form und meist zwischen einem und 15 cm Durchmesser, die in 4.000 bis 6.000 m Wassertiefe teils dicht gelagert den Tiefseeboden bedecken. Sie sind in allen Ozeanen zu finden, 1

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Manganknollen – eine Rohstoffquelle der Zukunft, in: BGR, Tätigkeitsbericht der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe 2005/2006, Hannover 2007, S. 59f.; Elke Bodderas, Schatzkammern unter Wasser, in: Die Welt, 20.9.2006, S. 39; Gerald Traufetter, Naschen von Neptuns Schatz, in: Der Spiegel 40/2006 (2.10.2006), S. 146–148, hier S. 148. Bundesministerium für Wirtschaft, Pressemitteilung: Weg frei für die weitere Erkundung von Rohstoffen in der Tiefsee (4.8.2014) (http://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Pressemitteilungen/2014/20140804-weg-frei-fuer-die-weitere-erkundung-von-rhstoffen-in-der-tiefsee.html; letzter Zugriff: 21.9.2017). Harald Bäcker, Erzschlämme, in: Geologisches Jahrbuch. Reihe D 38 (1980), S. 77–108; Harald Steinert, Ein „Tiefseepanzer“ mitten in der Lüneburger Heide, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.5.1989, S. 10.

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allerdings liegen die größten und ökonomisch bedeutendsten Vorkommen in einem Seegebiet zwischen Hawaii und Mexiko im Pazifik. Die Knollen sind nach ihrem hohen Mangangehalt benannt, sie enthalten allerdings auch Nickel, Kupfer und Kobalt, und auf diese Metalle richtete sich primär das wirtschaftliche Interesse (daher ist der ebenfalls verwendete Begriff „polymetallische Knollen“ treffender). 4 Manganknollen sind seit den ersten meereskundlichen Forschungsfahrten im späten 19. Jahrhundert bekannt, aber als mögliche Ressource wurden sie erst seit den 1950er Jahren wahrgenommen. Nachdem ozeanographische Untersuchungen im Rahmen des Internationalen Geophysikalischen Jahres 1958/59 den Kenntnisstand über Manganknollen erheblich erweitert hatten, markierte spätestens das 1965 erschienene Buch des amerikanischen Ingenieurs John L. Mero „The Mineral Resources of the Sea“ den Startschuss für Tiefseebergbauprojekte weltweit. 5 Nach den großen Fortschritten der militärischen Unterwassertechnik im Zweiten Weltkrieg hatten Politiker, Wissenschaftler und die Öffentlichkeit seit den 1950er Jahren einen neuen Blick auf die Ozeane und speziell die Unterwasserwelt entwickelt, die ähnliche Chancen und Herausforderungen zu bieten schien wie zur gleichen Zeit das Weltall, so dass neuartige Nutzungen der Ozeane bis hin zur permanenten menschlichen Besiedelung des Meeresbodens vorstellbar wurden. 6 Vor diesem Hintergrund erschien der Abbau von Manganknollen als ein geradezu konventionelles Projekt. Mero versprach 1965, dass der Tiefseebergbau verglichen mit dem Bergbau an Land relativ unkompliziert wäre, da kein Deckgebirge durchdrungen werden müsse und keine Sprengungen oder Bohrungen nötig seien, um die Knollen von der Meeresbodenoberfläche aufzusammeln. 7 Die Menge der in den Manganknollen enthaltenen Metalle ist in der Tat immens, aber bei Mero nahm das Bild dieser Ressource utopische Züge an: Ihm zufolge würde selbst eine Weltbevölkerung von 20 Milliarden Menschen mit einem Metallverbrauch auf dem Niveau der USA tausende Jahre brauchen, um die Vorräte auf dem Tiefseeboden zu verbrauchen. Er ging so weit, zu erklären, dass sich die Knollen angesichts der Größe der Vorkommen und trotz geologisch geringer Wachstumsraten schneller bildeten als die entsprechenden Metalle gegenwärtig verbraucht wurden, so dass Manganknollen eine unerschöpfliche Ressource darstellten. 8 Tiefseebergbau schien somit eine geeignete Antwort auf die hohen Wachstumsraten von Weltbe-

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Michael Wiedicke u. a., Marine mineralische Rohstoffe der Tiefsee Chance und Herausforderung (BGR Commodity Top News, Nr. 40), Hannover 2012, S. 13; John L. Mero, The Mineral Resources of the Sea (Elsevier Oceanography Series; 1), Amsterdam/London/New York 1965, S. 129–132, 277. Rainer Fellerer, Manganknollen, in: Geologisches Jahrbuch. Reihe D 38 (1980), S. 35–76, hier S. 41; Geoffrey P. Glasby, Lessons Learned from Deep-Sea Mining, in: Science, Vol. 289 (28.7.2000), S. 551–553, hier S. 551. Helen M. Rozwadowski, Arthur C. Clarke and the Limitations of the Ocean as a Frontier, in: Environmental History 17 (2012), S. 578–602. Mero, Mineral Resources, S. 280. Ebd., S. 277–279.

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völkerung und -wirtschaft in den 1960er Jahren zu bieten. Konkreter als die zu dieser Zeit aufkommenden Sorgen um die Ressourcenerschöpfung, die wenig später vom Club-of-Rome weiter popularisiert wurden, erschienen Mero – neben wirtschaftlichen Vorteilen – politische Faktoren: Die Industrieländer waren zunehmend auf Rohstoffe aus den nun unabhängig gewordenen Ländern des globalen Südens angewiesen, und diese Staaten könnten den freien Handel mit ihren Ressourcen einschränken und damit die Versorgung westlicher Industriestaaten gefährden. Da die Manganknollenfelder in internationalen Gewässern liegen, war diese Ressource dagegen frei zugänglich und überdies, ohne dass Förderabgaben zu zahlen wären. 9 Der politische Faktor bzw. die Versorgungssicherheit gewannen ab Anfang der 1970er Jahre an Bedeutung: Nach einem ersten Anstieg, der bereits Mitte der 1960er unabhängig vom Ölpreis einsetzte, erreichten die Metallpreise Anfang 1974 Rekordhöhen, und die erzexportierenden Entwicklungsländer versuchten, dem Vorbild der OPEC folgend über Kartelle den Markt zu kontrollieren. 10 Auch in der stark importabhängigen Bundesrepublik sahen Regierung und Industrie die Bedeutung des Tiefseebergbaus darin, den Rohstoffbezug zu diversifizieren, die Abhängigkeit von wenigen Förderländern zu verringern und damit die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. 11 Flankierend kamen noch technologiepolitische Gründe hinzu, denn der Tiefseebergbau und die Meerestechnik allgemein galten als Hochtechnologie bei der die Bundesrepublik den Vorsprung anderer Nationen, vor allem der USA, aufzuholen habe. 12 1969 stellte die Bundesregierung zusammen mit den Bundesländern an der Küste das erste „Gesamtprogramm Meeresforschung“ für die Jahre 1969–1973 auf, in dem die Erforschung der Manganknollen eine von mehreren Aufgaben bildete. 13 Auf Seiten der deutschen Industrie beschäftigten sich die Metallgesellschaft AG

9 Ebd., S. 5, 275f. 10 Rohstoff-Preise. Handel mit Dynamit, in: Der Spiegel 31/1973 (30.7.1973), S. 70f.; Hans Jürgensen, Ein Dutzend Rohstoffkartelle?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.4.1974, S. 13; The New Commodity Rich, in: The Economist, 11.5.1974, S. 76f.; C. Fred Bergsten, A New OPEC in Bauxite. The Success of the International Bauxite Association shows that Oil is not Unique, in: Challenge 19 (1976), 3, S. 12–20. 11 Bundesarchiv (BA) B102/248665, Der interministerielle Staatssekretär-Ausschuß für Rohstoff-Fragen, Sachbericht zur Rohstoffpolitik, Bonn, März 1976, S. 17, 26; Hessisches Wirtschaftsarchiv Darmstadt (HWA) Abt. 119 Nr. 1702, AMR-Durchführbarkeitsstudie Projekt Manganknollen. Erste Wirtschaftlichkeitsabschätzung 1972–1974, S. 217–219. 12 Deutscher Bundestag Drucksache 8/1981, Antwort der Bundesregierung: Große Anfrage, Rohstoffpolitik der Bundesregierung, 7.7.1978, S. 8; HWA, Abt. 119 Nr. 1702, AMR-Durchführbarkeitsstudie Projekt Manganknollen. Erste Wirtschaftlichkeitsabschätzung 1972–1974, S. 5, 219. 13 Sven Asim Mesinovic, Globale Güter und territoriale Ansprüche. Meerespolitik in der Bundesrepublik Deutschland und den USA in den 1960er Jahren, in: Geschichte und Gesellschaft 40 (2014), 3, S. 382–402, hier S. 395; Der Bundesminister für wissenschaftliche Forschung, Bestandsaufnahme und Gesamtprogramm für die Meeresforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1969–1973, Bonn 1969, S. 50.

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und die Preussag seit 1968 mit dem Tiefseebergbau und beteiligten sich in den Jahren 1970/71 erstmals an Forschungsfahrten des US-amerikanischen Unternehmens Deepsea Ventures. Aufgrund der finanziellen Größenordnung des Projektes forderte das Bundeswirtschaftsministerium eine Kooperation der interessierten deutschen Unternehmen, woraufhin Preussag, Metallgesellschaft und Salzgitter AG Ende 1972 die „Arbeitsgemeinschaft meerestechnisch gewinnbare Rohstoffe“ (AMR) gründeten. 14 Die AMR, der von 1973 bis 1976 auch die Rheinischen Braunkohlenwerke angehörten, bildete neben dem Staat den Hauptakteur in dem deutschen Tiefseebergbauprojekt. Die finanziellen und politischen Risiken erschienen jedoch auch für ein nationales Gemeinschaftsunternehmen zu groß, wobei als politisches Risiko vor allem die ungeklärte Rechtslage der Tiefseebodenressourcen galt, die nur durch internationale Vereinbarungen geregelt werden konnte. Daher strebten Staat und Industrie in der Bundesrepublik eine Kooperation mit ausländischen Unternehmen, möglichst auch aus den USA, an. Die AMR gründete deshalb 1975 zusammen mit Partnerfirmen aus Kanada (INCO), den USA (SEDCO) und Japan (Sumitomo) das Konsortium „Ocean Management Incorporated“ (OMI). 15 Neben OMI waren in den 1970er und frühen 1980er Jahren mindestens fünf weitere, überwiegend ebenfalls multinationale Konsortien aktiv. Beteiligt waren Unternehmen aus den USA, Großbritannien, Kanada, Japan, Belgien, Italien, den Niederlanden und Frankreich, darunter bekannte Rohstoff-, Energie- bzw. Hochtechnologieunternehmen wie Rio Tinto, Royal Dutch Shell, Lockheed und Mitsubishi. 16 An der Mehrzahl dieser Konsortien waren die jeweiligen Regierungen aus Gründen der Rohstoffversorgungssicherheit und der Technologiepolitik in gewissem Umfang beteiligt. Im bundesdeutschen Fall handelte es sich bei der Preussag, der Salzgitter AG und den Rheinischen Braunkohlenwerken um zumindest teilweise staatliche bzw. gemischtwirtschaftliche Unternehmen. Zudem flossen in der Bundesrepublik wie auch international erhebliche Subventionen in die Projekte. Eine Schätzung von 1987 ging davon aus, dass fast ein Drittel der gesamten Ausgaben für die verschiedenen internationalen Tiefseebergbauprojekte von den Staaten getragen wurde. 17

14 HWA, Abt. 119 Nr. 1702, AMR-Durchführbarkeitsstudie Projekt Manganknollen. Erste Wirtschaftlichkeitsabschätzung 1972–1974, S. 4f.; HWA, Abt. 119 Nr. 1672, Projekt Manganknollen. Beitritt der AMR – Arbeitsgemeinschaft meerestechnisch gewinnbare Rohstoffe in ein internationales Konsortium, Vorstandsvorlage MG-Meerestechnik, Frankfurt/Main Okt. 1974, S. 2f. 15 HWA, Abt. 119 Nr. 1702, AMR-Durchführbarkeitsstudie Projekt Manganknollen. Erste Wirtschaftlichkeitsabschätzung 1972–1974, S. 220; HWA, Abt. 119 Nr. 1672, Projekt Manganknollen. Beitritt der AMR – Arbeitsgemeinschaft meerestechnisch gewinnbare Rohstoffe in ein internationales Konsortium, Vorstandsvorlage MG-Meerestechnik, Frankfurt/Main Okt. 1974, S. 8–10. 16 James M. Broadus, Asian Pacific Marine Minerals and Industry Structure, in: Marine Resources Economics 3 (1986), 1, S. 63–88, hier S. 72–74; Fellerer, Manganknollen, S. 75. 17 Broadus, Asian-Pacific Marine Minerals, S. 81.

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Den bisherigen Höhepunkt des Tiefseebergbaus stellten 1978/79 die Abbautests von drei Konsortien im Pazifik dar. Dabei gelang OMI, dem Gemeinschaftsunternehmen unter Beteiligung der deutschen AMR, als erstes die kontinuierliche Förderung von Manganknollen aus ca. 5.000 m Wassertiefe im Frühjahr 1978. Zweck dieses Großversuchs war es, zum einen die Gewinnungs- und Förderungstechnik zu erproben und zum anderen größere Mengen Knollen zu gewinnen, die für die Entwicklung von Verhüttungsverfahren benötigt wurden. 18 Für den Abbautest zog das umgerüstete Ölbohrschiff Sedco 445 einen sogenannten Kollektor zur Aufnahme der Knollen über den Meeresboden, der über einen vertikalen Rohrstrang mit dem Schiff verbunden war, durch den die Knollen an die Oberfläche gepumpt wurden. In mehreren Testläufen, bei denen verschiedene Typen von Kollektoren und Pumpen erprobt wurden, gelang es ca. 800 t Manganknollen zu fördern. 19 Damit war die prinzipielle Realisierbarkeit des Tiefseebergbaus unter Beweis gestellt, allerdings war der Test von einer kommerziellen Förderung noch weit entfernt. Das OMI-Konsortium selbst sprach 1980 von einem Test im Maßstab 1/5 bis 1/10 und ging davon, dass noch erhebliche Entwicklungsarbeiten nötig seien. 20 Für einen wirtschaftlich rentablen Betrieb ging man allgemein von 5.000 bis 10.000 t/Tag Förderkapazität aus. 21 Trotz der erfolgreichen Tests stand der Tiefseebergbau Ende der 1970er Jahre noch nicht an der Schwelle zum kommerziellen Betrieb. Im Gegenteil: Anfang des folgenden Jahrzehnts hatten die meisten Akteure mit Ausnahme der staatlichen französischen und japanischen Programme ihre Ausgaben stark zurückgefahren und ihre Forschungs- und Entwicklungsarbeiten weitgehend beendet. 22 Von den deutschen Unternehmen blieb die Preussag noch am längsten aktiv und versuchte, das vorhandene Know-how an Dritte zu vermarkten, bevor sie ihre Abteilung Meerestechnik 1989 auflöste, da mit der Nutzung von Tiefseebodenressourcen in näherer Zukunft nicht mehr gerechnet wurde. 23 Zu dieser Entwicklung des gesamten Tiefseebergbauprojekts trug eine Reihe von Faktoren bei, die sich anders entwickelt hatten, als Anfang der 1970er Jahre erwartet worden war. 18 HWA, Abt. 119 Nr. 1702, AMR-Durchführbarkeitsstudie Projekt Manganknollen. Erste Wirtschaftlichkeitsabschätzung 1972–1974, S. 97. 19 John L. Shaw, Nodule Mining – Three Miles Deep!, in: Marine Georesources and Geotechnology 11 (1993), S. 181–197; Olga Summerer, Manganknollen-Förderung, in: Bild der Wissenschaft 1978, 8, S. 48–59. 20 Archiv der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR), Sign. 0110932, Appraisal Study 1980. Deep Ocean Mining. Prepared by Ocean Management, Inc., S. 1, 8. 21 Günter Dorstewitz, Meeresbergbau auf Kobalt, Kupfer, Mangan und Nickel. Bedarfsdeckung, Betriebskosten, Wirtschaftlichkeit (Bergbau, Rohstoffe, Energie; 6), Essen 1971, S. 86; Antony F. Amos/Oswald A. Roels, Environmental Aspects of Manganese Nodules Mining, in: Marine Policy 1 (1977), 2, S. 156–163, hier S. 161. 22 Rüdiger Kuhn, Meeresrohstoffe: Nach Aufbruchstimmung in den Siebzigern heute nur für Experten ein Thema, in: Handelsblatt, 11.4.1986, S. 44; Broadus, Asian-Pacific Marine Minerals, S. 64f.; Glasby, Lessons Learned, S. 551. 23 Meerestechnik: Nur Knowhow vermarktet, in: Handelsblatt, 7.8.1987, S. 1; Preussag: Rückzug aus der Meerestechnik, in: Handelsblatt, 5.7.1989, S. 13.

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Die Entwicklung auf den Metallmärkten bildete einen wichtigen Faktor. Entgegen den Befürchtungen war es weder zu einer Erschöpfung der Lagerstätten noch zu einer dauerhaften Verteuerung oder schwerwiegenden politisch bedingten Versorgungsunterbrechungen gekommen. Obwohl „Rohstoffpolitik“ und die mögliche Gefährdung der Erzversorgung in der Bundesrepublik Ende der 1970er Jahre durchaus noch ein politisches Thema waren, 24 konnte man schon 1976 feststellen, dass der dramatische Rohstoffpreisanstieg 1972–1975 nur eine vorübergehende Erscheinung war und keineswegs ein Zeitalter permanenter Knappheit oder politischer Machtverschiebung hin zu den Produzentenstaaten eingeläutet hatte. 25 Dementsprechend waren die meisten Rohstoffpreise einschließlich der Metalle ab 1975 wieder deutlich eingebrochen und zeigten danach inflationsbereinigt bis zur Jahrtausendwende eine fallende Tendenz. 26 Überdies erwiesen sich die Kartelle der kupfer- und bauxitproduzierenden Staaten im Unterschied zu ihrem Vorbild der OPEC bald als zahnlos und stellten keine ernsthafte Bedrohung für die Industriestaaten dar. 27 Vor diesem Hintergrund erschien der Abbau von Manganknollen weder ökonomisch rentabel noch strategisch erforderlich. Zum Niedergang des Tiefseebergbauprojekts trug ebenfalls bei, dass sich der juristische Blick auf das Meer aus Investorensicht deutlich ungünstig entwickelt hatte. Anfangs galten die Manganknollen noch als herrenloses Gut, da sich die Lagerstätten unter der Hohen See und somit außerhalb nationaler Hoheitsgewässer befinden. John L. Mero sah 1965 hierin noch einen besonderen Vorteil dieser Ressource. 28 Der rechtliche Status geriet jedoch in Bewegung als zwei Jahre später der UN-Botschafters Maltas, Arvid Pardo, in der Vollversammlung vorschlug, den Meeresboden mit seinen Ressourcen zum gemeinsamen Erbe der Menschheit („common heritage of mankind“) zu erklären und einem internationalen Regime zu unterstellen, um sicherzustellen, dass die Ressourcen zum Vorteil der gesamten Menschheit unter besonderer Berücksichtigung der ärmsten Staaten genutzt würden. 29 Pardos Vorschlag stieß in der Staatengemeinschaft auf eine positive Reso-

24 Vgl. Deutscher Bundestag Drucksache 8/1681, Große Anfrage: Rohstoffpolitik der Bundesregierung, 4.4.1978. 25 Edward R. Fried, International Trade in Raw Materials: Myths and Realities, in: Science, Vol. 191, No. 4228 (20.2.1976), S. 641–646. 26 Für Preisdaten s. die Statistiken der UNCTAD (http://unctad.org/en/Pages/statistics.aspx; letzter Zugriff: 21.9.2017). 27 Fried, International Trade, S. 644; BA B102/248665, Der interministerielle Staatssekretär-Ausschuß für Rohstoff-Fragen, Sachbericht zur Rohstoffpolitik, Bonn, März 1976, S. 13f. 28 Mero, Mineral Resources, S. 138. 29 Arvid Pardo, Who Will Control the Seabed?, in: Foreign Affairs 47 (1968), S. 123–137; ders., Examination of the question of the reservation exclusively for peaceful purposes of the sea-bed and the ocean floor, and the subsoil thereof, underlying the high seas beyond the limits of present national jurisdiction, and the use of their resources in the interest of mankind, in: United Nations General Assembly 22nd Session, First Committee, 1515th Meeting, A/C.1/PV.1515, 1 November 1967, (http://www.un.org/Depts/los/convention_agreements/texts/pardo_ga1967.pdf; letzter Zugriff: 21.9.2017).

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nanz, vor allem da die Alternative in einem ungeregelten Wettlauf um die Ressourcen oder in einer Aufteilung des Meeresbodens unter den Uferstaaten bestand. Die genaue Ausgestaltung des Common-Heritage-Prinzips wurde eine der Aufgaben der dritten UN-Seerechtskonferenz (UNCLOS III), 1973–1982. Die Konferenz führte zu einer Neugestaltung des gesamten Seerechts, aber die Regelung des Tiefseebergbaus bildete den kontroversesten Punkt. 30 Dabei entsprachen die Frontlinien dem Nord-Süd-Konflikt: Während die Industriestaaten im Norden vor allem an einem freien Zugang zu den Ressourcen interessiert waren, forderten die Entwicklungsländer eine möglichst starke internationale Meeresbodenbehörde, die u. a. mit einem behördeneigenen Unternehmen selbst Tiefseebergbau betreiben sollte und zum Schutz erzexportierender Staaten Produktionsobergrenzen hätte festlegen sollen. 31 Am Ende von UNCLOS III stand 1982 das Seerechtsübereinkommen, das hinsichtlich des Tiefseebergbaus weitgehend den Vorstellungen der zahlenmäßig überlegenen Entwicklungsländer folgte, auch wenn private (oder staatliche) Unternehmen neben dem Unternehmen der UN-Meeresbodenbehörde jetzt zugelassen waren. 32 Diese hatten aber der Behörde, die somit gleichzeitig deren Aufsichtsinstanz und Konkurrenz darstellte, die erforderliche Technologie bereitzustellen. Für die westlichen Industriestaaten einschließlich der Bundesrepublik war das Seerechtsübereinkommen inakzeptabel, was sie ausdrücklich mit den Bestimmungen zum Tiefseebergbau begründeten. 33 Sie traten ihm daher nicht bei, so dass das Übereinkommen in dieser Form nie in Kraft trat. Stattdessen suchten die USA, Großbritannien, Frankreich und die Bundesrepublik eine multilaterale Lösung außerhalb des Seerechtsübereinkommens, indem sie nationale Tiefseebergbaugesetze verabschiedeten, Lizenzen an ihre Unternehmen vergaben und untereinander einen Vertrag zu deren gegenseitiger Anerkennung abschlossen. 34 Das OMI-Konsortium blieb demgegenüber jedoch skeptisch, da solche nationalen Regelungen keine ausreichende

30 Wolfgang Graf Vitzthum, Die Bemühungen um ein Régime des Tiefseebodens. Das Schicksal einer Idee, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 38 (1978), S. 745–800, hier S. 745; Deutscher Bundestag Drucksache 8/1471, Unterrichtung durch die Bundesregierung: Jahreswirtschaftsbericht 1978 der Bundesregierung, 26.1.1978, S. 13. 31 Hamilton S. Amerasinghe, The Third World and the Seabed, in: Elisabeth Mann Borgese (Hrsg.), Pacem in Maribus, New York 1972, S. 237–248, hier S. 244–246; Vitzthum, Régime des Tiefseebodens, S. 780; Elisabeth Mann Borgese, The International Seabed Authority as Prototype for Future International Resource Management Institutions, in: René-Jean Dupuy (Hrsg.), Le nouvel ordré économique international: colloque, La Haye, 23–25 oct. 1980, Den Haag 1981, S. 59–73, hier S.61f. 32 United Nations Convention on the Law of the Sea, in: Vaughan Lowe/Stefan Talmon (Hrsg.), The Legal Order of the Oceans. Basic Documents on Law of the Sea, Oxford/Portland 2009, Document 36. 33 Deutscher Bundestag Drucksache 10/2817, Unterrichtung durch die Bundesregierung: Jahreswirtschaftsbericht 1985 der Bundesregierung, 30.1.1985, S. 19; Law of the Sea, in: Yearbook of the United Nations. Vol. 36 (1982), New York 1986, S. 178–247, hier S. 184. 34 Yoshifumi Tanaka, The International Law of the Sea, Cambridge 2012, S. 178.

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Rechtssicherheit zu bieten schienen. 35 Damit hatte sich aus Investorensicht die Rechtslage seit den späten 1960ern erheblich verschlechtert. Ein Kompromiss zwischen Entwicklungsländern und Industriestaaten, der das Inkrafttreten des Seerechtsübereinkommens ermöglichte, konnte erst 1994 gefunden werden, nachdem der Tiefseebergbau seine Relevanz weitgehend verloren hatte. 36 Zum Rückzug vom Tiefseebergbau trug ferner bei, dass sich im Zuge der jahrelangen Forschungsarbeiten die geologischen Verhältnisse am Meeresboden als ungünstiger herausstellten als anfangs erwartet. Entgegen den ursprünglichen Annahmen sind die Manganknollen unregelmäßig verteilt, ihre Metallgehalte unterliegen großen Schwankungen und der Tiefseeboden weist erhebliche Unebenheiten auf, die den Abbau erschweren. Die Suche nach einem abbauwürdigen Manganknollenfeld gestaltete sich somit schwierig, und die Kosten stiegen. 37 Bedenken hinsichtlich der ökologischen Folgen eines Manganknollenabbaus, die heute in der Öffentlichkeit sehr deutlich geäußert werden, spielten hingegen Anfang der 1980er noch kaum eine Rolle. Untersuchungen zu den Auswirkungen auf die Umwelt wurden seit den späten 1970ern durchgeführt, aber die Folgen galten als vertretbar. Interessanterweise verlagerte sich der Schwerpunkt der bundesdeutschen Tiefseeforschung in den 1980er Jahren auf die Untersuchung der ökologischen Folgen, also zu einem Zeitpunkt, als die Nutzung der Manganknollen immer unwahrscheinlicher wurde. 38 Das OMI-Konsortium musste bereits 1980 feststellen, dass die „euphoric expectations of the 1960s and early 1970s“ hinsichtlich des Tiefseebergbaus sich nicht erfüllt hatten, 39 und das Handelsblatt übertitelte 1994 einen kurzen Artikel über Geschichte und gegenwärtigen Stand des Projekts treffend mit: „Still ruht die Knolle in der See“. 40 Gegenüber derselben Zeitung hatte ein Vertreter der AMR bereits 1986 immerhin die Hoffnung geäußert, dass die Manganknollen eines Tages wieder aus der Versenkung auftauchen würden, wenn die Rohstoffpreise wieder in Höhe schnellten. Das war ab etwa 2002 tatsächlich der Fall, wobei sich das Interesse z. T. auf andere Ressourcen des Tiefseebodens (Massivsulfide und kobaltreiche EisenMangankrusten) verlagert hat. Allerdings liegt ein kommerzieller Tiefseebergbau

35 BGR, Sign. 0110932, Appraisal Study 1980. Deep Ocean Mining. Prepared by Ocean Management, Inc., S. 8. 36 Tanaka, Law of the Sea, S. 178f. 37 BGR, Sign. 0110932, Appraisal Study 1980. Deep Ocean Mining. Prepared by Ocean Management, Inc., S. 8; Fellerer, Manganknollen, S. 69. 38 Ole Sparenberg, Ressourcenverknappung, Eigentumsrechte und ökologische Folgewirkungen am Beispiel des Tiefseebergbaus, ca. 1965–1982, in: Günther Schulz/Reinhold Reith (Hrsg.), Wirtschaft und Umwelt vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Auf dem Weg zur Nachhaltigkeit? (VSWG-Beihefte; 233), Stuttgart 2015, S. 108–124, hier S. 119–122. 39 BGR, Sign. 0110932, Appraisal Study 1980. Deep Ocean Mining. Prepared by Ocean Management, Inc., S. 8. 40 Still ruht die Knolle in der See, in: Handelsblatt, 23.3.1994, S. 25.

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zurzeit immer noch in einiger Ferne, 41 und bis dahin bleibt die Geschichte der Manganknollen vor allem ein Beispiel dafür, wie Wahrnehmung und Nutzung des Meeres von wirtschaftlichen, politischen und juristischen Rahmenbedingungen geprägt werden.

41 Für eine Diskussion der aktuellen Aussichten s. Ole Sparenberg, Meeresbergbau nach Manganknollen (19652014): Aufstieg, Fall und Wiedergeburt?, in: Der Anschnitt 67 (2015), 4/5, S. 128–145, hier S. 141f.

MEERESFORSCHUNG 1 Geschichte und Geschichten aus Westeuropa und den USA Gerd Hoffmann-Wieck EINLEITUNG Lange galt das Meer als unendlicher Ressourcenraum, den wir Menschen nicht nachhaltig beeinflussen könnten. Heute wissen wir, dass auch das Meer endlich ist. Es wird diskutiert, ob das gigantisch große Ökosystem Meer durch anthropogene Einflüsse zum Nachteil für die globale Umwelt kollabieren könnte. Die Bedeutung der Meere für das Leben auf der Erde – auch für die menschliche Existenz – wird nicht mehr bestritten. Damit wird auch die Relevanz der Meeresforschung für das politische und wirtschaftliche Handeln deutlich. Der Schutz der Ozeane als eigenes Nachhaltigkeitsziel Sustainable Development Goal (SDG) 14 wurde auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung 2015 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York verabschiedet. Auf der ersten Ozeankonferenz der Vereinten Nationen im Juni 2017 wurde vereinbart, den Meeresschutz in nationale, regionale und globale Strategien zu integrieren. Ein umfassendes Wissen und Verständnis der marinen Prozesse und Organismen sowie ihrer Geschichte und ihres gegenwärtigen Zustands mit all ihren interdependenten Verknüpfungen sind von entscheidender Bedeutung für das Prozessverständnis der gesamten Lebewelt des Planeten und damit für die Prognose zukünftiger Entwicklungen. Erst eine ganzheitliche meereswissenschaftliche Forschung von Natur- und Wirtschaftswissenschaftlern, Medizinern, Soziologen, Historikern, Juristen u.a. wird ein globales und nachhaltiges Management der Ozeane ermöglichen. Der Kieler Exzellenzcluster „Ozean der Zukunft“ (2006–2017) ist ein gutes Beispiel für einen solchen Denk- und Forschungsansatz. Eine systematische Aufarbeitung der Geschichte der Meeresforschung in Deutschland ist im Unterschied zu den USA und Großbritannien bis heute ein Desiderat der Forschung. Der Weg von frühen forschenden Aktivitäten während der entdeckungsgeschichtlichen Periode im 17./18. Jahrhundert über erste angewandte Fragestellungen im 19. Jahrhundert – wie z.B. bei der Verlegung des ersten interkontinentalen

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Ich danke Prof. Hjalmar Thiel (Hamburg), Dr. Jens Ruppenthal (Deutsches Schiffahrtsmuseum Bremerhaven und meinen GEOMAR-Kollegen Dr. Andreas Villwock, Dr. Ingo Hennings und Jan Steffen für ihre Unterstützung.

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Telegrafenkabels – bis zur aktuellen international vernetzten Meeresforschung wird im Folgenden schlaglichtartig mit dem Schwerpunkt auf der Entwicklung in Deutschland dargelegt. Die Geschichte der internationalen Polarforschung ist zwar eng mit der Meeresforschungsgeschichte verknüpft, kann aber aufgrund des begrenzten Umfangs dieses Beitrags keine Berücksichtigung finden. Ein vollständiges Erfassen der Geschichte der Meeresforschung ist im Rahmen dieses Essays nicht möglich. Der erhebliche Anteil russischer Meeresforschung wird nur kurz angesprochen. Die Darstellung der Meeresforschungsgeschichte ab 1945 beschränkt sich auf die Entwicklungen in Deutschland. WEM GEHÖRT DER OZEAN? Im Zeitalter der Entdeckungen stellte sich erstmals die Frage nach den politischen Verhältnissen auf dem Weltmeer. Damals ging es vor allem um die Schifffahrtsrechte. Papst Alexander VI. (1431–1503) teilte die Welt 1493 zwischen Spanien und Portugal auf. Im Jahr 1750 wurde diese Grenze aufgehoben, Holland und Großbritannien hatten sie schon vorher nicht anerkannt. 1609 erschien Hugo Grotius´ Schrift mare liberum. Grotius (1583–1645) argumentierte, der Ozean sei so unendlich weit, dass kein Staat über ihn effektiv Herrschaft ausüben könne, ausgenommen der Küstenstreifen. Der Brite John Selden (1584–1654) konnte sich dagegen mit der territorialen Aufteilung der Meere anfreunden. Er argumentierte, dass Herrschaft über Land auch diejenige über die Meere begründen müsse. Heute ist das Thema Seerecht im Fokus der Politik, da die Gewinnung mariner Ressourcen stets mit der Frage nationaler Grenzen verbunden ist. Das aktuelle Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen von 1982 definiert die Ausdehnung der Küstenmeere, im internationalen Meeresbereich auch die Zuweisung von Rechten an mineralischen Ressourcen, die Meeresforschung und weitere Themen zur Nutzung und die Verpflichtung zum Schutz der Meere. Nur die Fischerei im internationalen Bereich unterliegt bis heute keiner Regelung, eine Ursache der Überfischung. Auch der Klima- und Ozeanwandel wurde im Seerechtsvertrag nicht berücksichtigt. Heute liegen dem Internationalen Seegerichtshof in Hamburg über 100 Streitfälle über den Verlauf von Seegrenzen zur Entscheidung vor. FRÜHE MARITIME FORSCHUNGSAKTIVITÄTEN Schon während der Entdeckungsreisen von Kolumbus (1492–1504), Magellan (1519–1522) und anderen wurden vereinzelt ozeanographische Messungen von Wassertemperatur, Strömung, Meerestiefe, zur maritimen Meteorologie und zur Geologie der Meeresböden dokumentiert. Die ersten publizierten nahezu wissenschaftlichen Aufzeichnungen zur Navigation auf dem Weltmeer stammen von William Dampier (1683). Er erstellte Strömungskarten wie auch Darstellungen der vorherrschenden Winde, die u.a. auf den Forschungsreisen von Darwin, Humboldt und Cook genutzt wurden. Graf Luigi Marsigli (1658–1730), italienischer Pionier der

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Ozeanographie, beschrieb 1725 in seinem Werk Histoire physique de la mer u.a die Strömungsverhältnisse am Bosporus, den oberflächennahen Einstrom salzarmen Wassers ins Mittelmeer und den bodennahen Ausstrom salzreichen Wassers ins Schwarze Meer. 1750 erschien mit der Abhandlung vom Meere des österreichischen Naturforschers J. S. V. Popowitsch (1705–1774) eine Analyse der Vorstellungen zu den Gezeiten und Meeresströmungen sowie zum Wasserkreislauf der Erde. Einer der Gründungsväter der USA, Benjamin Franklin (1706–1790) arbeitete 1753 als Postmeister in Philadelphia. Er wunderte sich, dass die Postschiffe zwischen England und Amerika für ihre Hin- und Rückreise einen sehr unterschiedlichen Zeitbedarf erforderten. Franklin befragte Kapitäne und erfuhr von einem Strom, den er Golfstrom nannte. Franklin erkannte, dass die Passatwinde, das Druckgefälle und die Temperaturunterschiede für diese Strömung von großer Bedeutung sind. Georg Forster (1754–1794) begleitete James Cook (1728–1779) auf seiner zweiten Weltumsegelung 1772–1775, die die Erkundung der Antarktis zum Ziel hatte. Forster fertigte den wissenschaftlichen Bericht der Expedition an. Alexander von Humboldt bezeichnete Forster als sein Vorbild. 1785–1788 fand die französische Weltumsegelung unter Jean-Francois de la Pérouse (1741–1788) mit den Schiffen Astrolabe und Boussole im Pazifik statt, da König Ludwig XVI (1754–1793) eine ähnlich prestigeträchtige Fahrt wie die unter James Cook unternehmen wollte. Beide Schiffe, mit einer Gruppe Wissenschaftler an Bord, erlitten Schiffbruch, so dass die Ergebnisse der Reise nicht vorgelegt werden konnten. 1815 bestieg der deutsch-französische Dichter Adalbert von Chamisso (1781–1838) als Naturforscher das russische Forschungsschiff Rurik zu einer Forschungsreise um die Erde. Er entwickelte eine Hypothese zur Entstehung von Korallenriffen und entdeckte den Generationswechsel bei Salpen (frei schwimmende Meerestiere). Alexander von Humboldt (1769–1859) hat während seiner Amerikareise 17991804 wichtige Impulse in der Meeresforschung gesetzt. Sein besonderes Verdienst ist die systematische Erforschung einer kalten Meeresströmung, die später den Namen Humboldt-Strom erhielt. Er wies nach, dass es sich um eine polare Strömung handelt, die von der Antarktis an der südamerikanischen Pazifikküste nach Norden fließt. Humboldt identifizierte Dichteunterschiede als Antrieb der Meeresströmungen. ERSTE GRÜNDUNGEN MARIN-MARITIMER INSTITUTIONEN, FORSCHUNGSINSTITUTE UND ORGANISATIONEN Die Untersuchung der Küsten und der Fischereibiologie wurde ab 1720 durch die Gründung entsprechender staatlicher Institutionen vorangetrieben. Ursachen waren der stark wachsende Seehandel, die vielen Schiffsverluste und die Rückgänge der Fischereierträge. In Nordeuropa und in den USA war das Interesse an der Erforschung der Fischwanderungen ein wichtiges Forschungsthema, da Mitte des

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19. Jahrhunderts erste große Rückgänge der Fangerträge bei einigen Fischarten zu verzeichnen waren. Zwischen 1880 und 1900 erfolgte der Übergang von Fischereifahrzeugen unter Segel zu dampfgetriebenen Trawlern. Infolge der Industrialisierung und des Bevölkerungswachstums wuchs die Nachfrage nach Fisch erheblich an. 1807 wurde auf Erlass der Regierung der United States Coast Survey gegründet. Das Depot of Charts and Instruments der US-Navy folgte 1830. Hauptziel war die Vermessung der Küsten und die Erforschung von Salzgehalt, Tiden, Strömungen und Winden. 1842 wurde Matthew Maury (1806–1873) Leiter des Depots of Charts and Instruments. Er betrieb die Sammlung von Wind- und Strömungsdaten um der Segelschifffahrt Routen mit günstigen Winden und Strömungen anbieten zu können. 1847 publizierte er die besten Routen für Reisen nach Westindien, Südamerika, an die kalifornische „Goldküste“ und zu den Walfanggründen. 1853 berief Maury die erste internationale Meereskonferenz in Brüssel mit dem Ziel ein, ein globales Beobachtungssystem an Land und auf See zu schaffen. Zehn Staaten traten bereits während der Konferenz dieser Institution bei, andere folgten später.1870 erfolgte die Gründung der United States fishing commission mit der Aufgabe die Ursache für den Niedergang der Fischbestände zu erforschen. Die Untersuchungen begannen in Woods Hole nahe Cape Cod (Massachusetts). Hier wurde mit privaten und öffentlichen Mitteln ein Meereslaboratorium nach dem Muster der Zoologischen Station Neapel (s.u.) errichtet. Das Laboratorium wurde die Keimzelle der 1930 gegründeten, heute weltweit renommierten Woods Hole Oceanographic Institution. 1882 finanzierte der Kongress das Forschungsschiff Albatross für die Tiefseeforschung, mit dem Expeditionen im Atlantik und Pazifik durchgeführt wurden. Mehrere Expeditionen leitete der schweizerisch-amerikanische Forscher Alexander Agassiz (1807–1873). Auf Anregung von Georg von Neumayer (1826–1909) und mit Unterstützung von Wilhelm von Freeden (1822–1894) wurde 1868 die Norddeutsche Seewarte gegründet. In der Nachfolge entstand 1874 die Deutsche Seewarte in Hamburg, deren Amtsführung von Neumayer als Direktor 1875 übernahm. Mit Hilfe dieser Institution sollten Überseereisen sicherer und schneller durchgeführt werden können. Die Seewarte wurde als Marineinstitution der kaiserlichen Regierung zur Unterstützung der Seefahrt durch hydrographische und ozeanographische Forschung nach angelsächsischem Vorbild eingerichtet. 1870 wurde vom Preußischen Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten die sogenannte Kieler Kommission (Kommission zur wissenschaftlichen Untersuchung der deutschen Meere) eingesetzt, die den Beginn preußisch-deutscher Meeresforschung markiert. Aufgabe der Kommission war es, wissenschaftliche Erkenntnisse zur Förderung der Fischerei zu gewinnen. In enger Kooperation mit dem 1870 gegründeten Deutschen Fischereiverein gelang der deutschen Meeresforschung die Einbindung in die internationale Meeres- und Fischereiforschung. 1872 erfolgte die Gründung der Zoologischen Station Neapel in Italien durch den deutschen Meeresbiologen Anton Dohrn (1840–1909) mit einem ungewöhnlichen Modell: Die Station verfügte über zahlreiche Labor-Arbeitsplätze, die Regierungen, Universitäten oder wissenschaftliche Vereinigungen wie auch einzelne Wissenschaftler für meeresbiologische Forschungen mieten konnten. Die Einkünfte

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finanzierten die Ausstattung der Laboratorien und der Forschungsboote, die zweimal täglich zur Probennahme hinausfuhren. Forscher aus vielen Ländern verbrachten Forschungsaufenthalte in der Station. Ab 1884 begannen abgestimmte Forschungsreisen deutscher, dänischer und schwedischer Forschungsschiffe. Diese Kooperation führte 1902 zur Gründung des International Council for the Exploration of the Sea (ICES). Diese weltweit erste internationale Organisation zur Erforschung der Meere war auf die Fischereiforschung in Nord- und Ostsee sowie im Nordatlantik fokussiert. Erster Präsident des ICES wurde Walter Herwig (bis 1908), der die ICES-Gründung gemeinsam mit Otto Krümmel (s.u.) von deutscher Seite vorangetrieben hatte. Ab 1902 wurde der Reichsforschungsdampfer Poseidon für die deutschen ICES-Aufgaben eingesetzt. Heutige Mitglieder des ICES sind Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Irland, Island, Großbritannien, Kanada, Lettland, Niederlande, Norwegen, Polen, Portugal, Russland, Schweden, Spanien und die USA. ICES vereint die fischereibiologische Forschung mit der allgemeinen Meeresforschung. Deutscher Partner des ICES war und ist die 1900 gegründete Deutsche Wissenschaftliche Kommission für die Meeresforschung (DWK). Imperiale Ziele zeigten sich bei den zwischen 1904 und 1914 durchgeführten Küstenuntersuchungen der Vermessungsschiffe der Marine, Planet und Möwe, vor den deutschen überseeischen Besitzungen. Mission der beiden Schiffe war die Vermessung der Anfahrtswege zu den deutschen Kolonien und die Küstenvermessung vor Ort in der Südsee, in Südwest- und Ostafrika. Erstmals wurden mit Drachen und Ballonen auch hohe Luftschichten über See erkundet. Im Bereich der westlichen Ostsee trieb der Hamburger Kaufmann und Autodidakt Heinrich Adolf Meyer (1822–1889) die deutsche Meeresforschung erheblich voran, indem er – privat finanziert – nach ersten systematischen Untersuchungen in den 1850er Jahren das erste Beobachtungsnetz in der Beltsee zwischen 1868 und 1870 zur Erfassung der hydrographischen Verhältnisse errichtete und unterhielt, d.h. regelmäßig zu festen Terminen an den Stationen den Salzgehalt und das spezifische Gewicht des Ostseewassers ermittelte. Nach seiner Berufung zum Direktor des Zoologischen Instituts und Museums 1868 der Kieler Universität konnte Karl August Möbius (1825–1908) seine Meeresforschung in Ost- und Nordsee intensivieren, z.T. in Kooperation mit H. A. Meyer. 1868 erhielt er den Auftrag der Preußischen Regierung, den Rückgang der Produktion der damals natürlichen Austernbänke an der Nordseeküste zu untersuchen. Im Rahmen dieser Forschung entwickelte Möbius den Begriff Biocönose, heute ein zentraler Begriff der Ökologie. Möbius war Mitglied in der KöniglichPreußischen Kommission zur wissenschaftlichen Untersuchung der deutschen Meere. Die Arbeiten für die Kommission sowie seine Ausfahrten mit der Pommerania führten schließlich zu seiner Publikation Die Fische der Ostsee (1883). Ab 1870 wandte sich der Kieler Physiologe Victor Hensen (1835–1924) der Fischereiforschung zu. 1870 hatte er die Gründung der Kieler Kommission in seiner politischen Funktion als Abgeordneter des Preußischen Landtags initiiert und beteiligte sich ab 1900 auch an der Deutschen Wissenschaftlichen Kommission für die

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Meeresforschung (DWK), dessen Initiator der Präsident des Deutschen Seefischereivereins Walther Herwig (1838–1912) war. Hensen verfolgte das Ziel, den Ertrag der Fischgründe – auch durch die Regulierung der Fangmengen – zu erhalten. Die Forschung konzentrierte sich dabei auf den sogenannten pelagischen Auftrieb, die im Wasser schwebenden Organismen, für den Hensen schließlich den Begriff Plankton prägte. Das Plankton war zu dieser Zeit kaum erforscht. Nach Expeditionen in Ost- und Nordsee entwickelte er das Konzept für eine mehrmonatige Atlantik-Expedition 1889 mit dem Dampfschiff National, deren Ergebnisse die erste systematische Erfassung der Verteilung pflanzlichen und tierischen Planktons in einem großen Seegebiet ermöglichte. 1884 wurde Otto Krümmel (1854–1912) Ordinarius für Geographie an der Kieler Universität. Neben der Entwicklung von Forschungsgeräten befasste es sich mit der Morphologie des Meeresbodens und den Meeresströmungen. 1884 gab er das Handbuch der Ozeanographie heraus, 1902 den Band Der Ozean, eine Einführung in die allgemeine Meereskunde. Nachfolger von Möbius wurde 1888 Carl Brandt (1854–1931), der sich neben dem Stoffwechsel der Meere der Bedeutung der gelösten Stickstoff- und Phosphorverbindungen für die Produktion des pflanzlichen Planktons zuwandte, EXPEDITIONEN IN DIE TIEFSEE Während die USA ihre Küsten erforschten, bot sich in Europa, wo die Küstenforschung bereits weit vorangetrieben war, nun die Möglichkeit in die Tiefe vorzustoßen. Die Ursprünge der Ozeanographie als wissenschaftliche Disziplin liegen in der britischen und amerikanischen Erkundung der Tiefsee seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Galt das Meer zuvor als feindlicher, gefährlicher Lebensraum, so entwickelte sich nun ein nationaler Entdeckergeist auf die Tiefsee. Die Erkundung der Tiefsee war ein sehr präsentes Thema in der Gesellschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Expeditionen wurden mit großem Interesse verfolgt, Veröffentlichungen und Ausstellungen wurden enthusiastisch aufgenommen. Erste Aquarien eroberten die privaten Haushalte, das Sammeln und Studieren von Meerestieren galt in den gebildeten Kreisen als angemessene Form der Unterhaltung. Erste Aquarien wurden auf der Londoner Weltausstellung 1851 ausgestellt. Entfacht wurde dieses Interesse auch durch Jules Vernes (1828–1905) Roman Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer (1870), aber auch durch die Präsentation von Meeresorganismen z.B. im Pariser Naturkundemuseum 1884, wo die Ergebnisse der französischen TiefseeExpeditionen der Travailleur und der Talisman ausgestellt wurden. In Deutschland wurden die Ergebnisse der Deutschen Tiefseeexpedition (1898/99) von Carl Chun in einem populärwissenschaftlichen Band der Öffentlichkeit nahegebracht. Ernst Haeckels (1834–1919) Bildband „Kunstformen der Natur“ (1889) trug zur Verbreitung des Darwinismus und zugleich zur Begeisterung für die Meeresorganismen bei wie auch die Bände von Brehms Tierleben, die von Alfred Edmund Behm (1829–1884), 1863 bis 1869 veröffentlicht wurden.

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Im Unterschied zur USA konnten britische, französische, deutsche und skandinavische Forschungsinstitute für ihre Tiefseeexpeditionen auf die Unterstützung wissenschaftlicher Gesellschaften zählen und auch von ihren Regierungen umfangreiche Forschungsmittel einwerben. Vor allem für Großbritannien waren die Rahmenbedingungen für die Tiefseeforschung günstig. So konnte der Naturforscher Edward Forbes (1815–1854) im Jahr 1841 mit dem Vermessungsschiff Beacon Untersuchungen im östlichen Mittelmeer durchführen, einem Gebiet, von dem wir heute wissen, dass es arm an Nährstoffen und arm an Organismen ist. Da Forbes nur wenige Organismen fand, stellte er die Hypothese auf, dass unterhalb von 500 m Wassertiefe kein Leben möglich sei. Diese „azoische Theorie“ sollte sich über Jahrzehnte halten, obwohl immer wieder einzelne Untersuchungen das Gegenteil belegten. So wies Sir James Clark Ross (1800–1862) auf seiner Antarktis-Expedition 1839–1843 Schalentiere und Seewürmer in 700 m Tiefe nach. 1854 veröffentlichte Maury mit der bathymetrischen Karte des Nordatlantiks die erste Tiefenkarte eines großen Ozeanbereichs. Grundlage waren mit der Lotmaschine ermittelte Tiefen. Diese Karte war Grundlage der Trasse des ersten interkontinentalen Telegrafenkabels zwischen Neufundland und Irland. Erst 1860 wurde die „azoische Theorie“ endgültig widerlegt. An defekten Telegrafenkabeln, die 1860 aus über 2000m Tiefe vor Sardinien heraufgeholt wurden, entdeckte man fest angeheftete, inkrustiertierende Organismen, so dass gesichert war, dass diese nicht aus höher gelegenen Meeresbereichen stammten. 1859 veröffentlichte Charles Darwin (1809–1882) sein Hauptwerk On the Origin of Species by Means of Natural Selection. Nach Darwin sollten sich die Organismen in der Tiefsee viel langsamer entwickelt haben als die Bewohner des festen Landes. Daher müssten sich in der Tiefsee Organismen finden lassen, die als „missing link“ der „unendlich zahlreichen Verbindungsglieder“ seine Theorie stützen würden. Eine Sammlung dieser „alten Gattungstypen“ trug der norwegische Meeresbiologe Michael Sars (1805–1869) zusammen. Zur Klärung weiterer Fragen über die Tiefsee führte der Professor für Naturgeschichte an der Universität Belfast Charles Wyville Thomson (1830–1882) 1868– 1871 Tiefseeexpeditionen zur Vorbereitung der Challenger-Expedition mit den Vermessungsschiffen Lightning und Porcupine durch, die tierisches Leben bis in 4454 m Tiefe bewiesen. Die Ergebnisse publizierte Thomson 1873 in seinem Buch The Depths of the Sea. Auch der amerikanische Coast Survey entsandte 1867–1871 auf Anraten von Louis Agassiz (1807–1873) Expeditionen an die Küste von Florida und nach Südamerika, die ebenfalls Nachweise von Organismen bis in 1500 m Tiefe erbrachten. Die amerikanischen Expeditionen setzten die Royal Society in Großbritannien unter Druck. Kurze Zeit später wurden die Pläne für die Challenger-Expedition positiv beschieden, sowohl von der Royal Society als auch von der British Association for the Advancement of Science.

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DIE CHALLENGER-EXPEDITION (1872–76) – DER BEGINN MODERNER MEERESFORSCHUNG Mit der Exploring Voyage of HMS Challenger 1872–76 wird heute oft der Beginn der modernen Meeresforschung definiert. Auf dieser Expedition wie auch auf allen folgenden bis zur Deutschen Atlantischen Expedition 1925–27 gab es nur wenig Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen. Jeder betrieb separat seine eigenen Untersuchungen. Die Expedition führte auf ihrer 69.000 Seemeilen langen Forschungsreise durch alle Ozeane insgesamt 363 Stationsmessungen durch: Tiefenlotungen, Temperaturmessungen in verschiedenen Tiefen, Schleppnetzfänge, Dredgenzüge zur Gewinnung von Bodenproben und Tiefseeorganismen wurden erfolgreich durchgeführt. Es ist die erste große Forschungsreise mit meteorologischen, hydrographischen, geologischen und biologischen Aufgaben. Charles Wyville Thomson (s.o.) und William Benjamin Carpenter (Universität London, 1813–1885) planten die Reise. Bis zu dieser Expedition waren mit Ausnahme des Nordatlantiks (s.o.) nur vereinzelte Ozeantiefen bekannt. Die Challenger-Expedition erbrachte die ersten Tiefenkarten der großen Ozeane mit der damals tiefsten Lotung auf 8.184 m. Die Bearbeitung und Auswertung der Proben erfolgte an Instituten vieler Länder. Publiziert wurden die Ergebnisse in 50 großformatigen Bänden in einer Auflage von 750 Exemplaren, die zwischen 1880 und 1895 erschienen sind. Die 50 Bände wurden kostenfrei weltweit an die bedeutenden ozeanographischen Institute und Museen geschickt. Durch diese Expedition erfuhr auch die deutsche Meeresforschung einen Aufschwung. Das Deutsche Kaiserreich wollte ebenfalls „Flagge zeigen“ und startete 1874 von Kiel aus die von Georg von Neumayer organisierte Expedition der Dampfkorvette Gazelle in den Indischen Ozean, die in ihrer Bedeutung aber weit hinter der Challenger Expedition zurückblieb. Neben Wetterbeobachtungen untersuchten die Wissenschaftler Meeresströmungen, loteten Wassertiefen und sammelten biologische Proben. Challenger und Gazelle trafen sich 1876 im Hafen von Montevideo in Uruguay und sprachen die Kurse ihrer Routen zurück nach Europa ab, um nicht dieselben Seegebiete zu erforschen. Norwegische Tiefseeexpeditionen im Nordatlantik fanden zwischen 1872 und 1876 unter der Leitung des Biologen Michael Sars und des Ozeanographen Henrik Mohn (1835–1916) von der Universität Oslo mit der Vöringer statt. Zwischen 1880 und 1883 wurden von französischer Seite mehrere Tiefsee-Expeditionen in der Biscaya, im Mittelmeer, bei den Kap Verden und den Kanaren mit den Forschungsschiffen Travailleur und Talisman durchgeführt, die Organismen aus Tiefen zwischen 1000 m und 5000 m an die Oberfläche brachten. Alfonse Milne-Edwards (1835–1900) vom 1793 gegründeten Musée National d´Histoire Naturelle (Paris), begleitete einige der Expeditionen. 1890 bis 1898 erkundeten mehrere österreichisch-ungarische Tiefsee-Expeditionen das Mittelmeer, das Rote Meer und das Marmarameer mit den Forschungsschiffen Pola und Taurus. Schwerpunkt waren meteorologische, physikalische, geologische, chemische und biologische Untersuchungen. Auf einer der Reisen wurde der erste Tiefseefisch in der Adria gefangen.

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Den ersten bedeutenden deutschen Beitrag zur Tiefseeforschung lieferte der Biologe Carl Chun (1854–1912) von der Universität Leipzig ab 1876 auf seinen Expeditionen im Mittelmeer und im Atlantik (Kanarische Inseln). Diese Untersuchungen waren Grundlage der von ihm geleiteten Deutschen Tiefsee-Expedition 1898/99 mit dem Dampfer Valdivia. Auch diese Expedition in den Atlantischen, Indischen Ozean sowie in antarktische Gewässer wurde vom Kaiser finanziert. Deutschland sollte einen bedeutenden Beitrag zur internationalen Tiefseeforschung leisten. 1900 wurde in Berlin das erste deutsche Institut und Museum für Meereskunde der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität (heute Humboldt-Universität) gegründet. Initiiert wurde die Gründung durch das Reichsmarineamt und das Preußische Kultusministerium mit großer Unterstützung durch den deutschen Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) Die Wissenschaftler verfolgten das Ziel, die ozeanographische Forschung voranzutreiben, das Museum sollte die politische, militärische und wirtschaftliche Bedeutung der Meere für das Kaiserreich herausstellen, parallel zur zeitgleich von Tirpitz eingeleiteten Flottenpolitik. 1899 beschloss der Internationale Geographenkongress in Berlin auf Anregung von Prinz Albert I. von Monaco die internationale Zusammenführung von Tiefenmessungen und die Herausgabe von Tiefenkarten der Ozeane im Rahmen der bis heute existierenden Organisation General Bathymetric Charts of the Ocean (GEBCO). Die erste GEBCO-Tiefenkarte erschien 1902. 1921 wurde die Internationale Hydrographische Organisation (IHO) als ständige Einrichtung zur Koordination nationaler hydrographischer Institutionen, zur Weiterentwicklung der Hydrographie, der Ozeanographie und des Meeresschutzes mit Sitz in Monaco eingerichtet. Otto Krümmel war Mitglied des GEBCO-Gründungskomitees. 1912 stellte der Meteorologe und Polarforscher Alfred Wegener (1880–1930) seine Hypothese der Kontinentalverschiebung vor, die damals keine Akzeptanz fand. Erst in den 1960er und 1970er Jahren wurde durch die umfangreichen Tiefenmessungen in den Ozeanen, ergänzt um geologische und geophysikalische Untersuchungen, das Modell der Plattentektonik wissenschaftlich akzeptiert, wodurch wesentliche Teile von Wegeners Theorie bestätigt wurden. 1918 wurde das Office Scientifique et Techniques des peches maritimes (COMEXO) gegründet, eine Keimzelle des heute unternational renommierten zentralen französischen Forschungsinstituts IFREMER, Institut Francais de Recherche pour l´Explotation de la Mer, das heute in Brest, Boulogne, Nantes, Toulon und Tahiti verortet ist und über weitere 25 Forschungsstationen in Frankreich und den ehemaligen Kolonien verfügt. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Kontakte zur gesamten deutschen Wissenschaft von internationaler Seite abgebrochen. Hintergrund war u.a. die kritiklose öffentliche Unterstützung der deutschen Giftgas-Kriegsführung durch namhafte deutsche Wissenschaftler. Neben den wissenschaftlichen Aufgaben der Deutschen Atlantischen Expedition wollte man durch diese Expedition die internationalen Wissenschaftskontakte wieder aufnehmen, was auch gelang.

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DIE DEUTSCHE ATLANTISCHE EXPEDITION (1925–27) Die Deutsche Atlantische Expedition mit der Meteor I (1925–27) leitete eine neue Epoche in der internationalen Meeresforschung ein. Sie stand unter der Leitung von Alfred Merz (1880–1925), Direktor des Berliner Instituts für Meereskunde. Nach Merz’ Tod in Buenos Aires wurde dem Kommandanten, Kapitän zur See Fritz Spieß, auch die wissenschaftliche Leitung der Expedition übertragen. Erstmals wurde mit dem mittleren und südlichen Atlantik ein großer Ozeanraum systematisch und interdisziplinär entlang von 13 Traversen untersucht, sowohl in der Wassersäule als auch in der Atmosphäre. In bathymetrischer, ozeanographischer, meteorologischer, biologischer und chemischer Hinsicht erfolgte eine erste systematische und interdisziplinäre Aufnahme eines großen Ozeanraums. Merz setzte erstmals diese Interdisziplinäre Forschung durch. So hatten die Biologie und die Chemie ihren Beitrag zu den physikalischen Fragestellungen zu Strömungen und Wasserkörper und zum Aufbau der Wassermassen im Südatlantik von Merz zu liefern. Erstmals wurden auch Echolote (Behm Kiel, ELAC Kiel, Krupp Atlas Bremen) eingesetzt, deren Messergebnisse punktuell durch Messungen mit der herkömmlichen Drahtlotung, unterstützt durch eine Lotmaschine kontrolliert und bestätigt wurden. 67.000 Echolotungen führten zu einer ersten detaillierten Darstellung der „Landschaft“ am Meeresboden des zentralen und südlichen Atlantik, erstmals wurde der Mittelozeanische Rücken als geschlossener Gebirgszug sichtbar. Die These, nach der Strömungen in der Wassersäule auch durch Dichteunterschiede in Abhängigkeit von Salzgehalt und Temperatur bestimmt seien, wurde bestätigt. 1937 wurde das Institut für Meereskunde der Universität Kiel eröffnet, dessen zentrale Aufgabe fischereibiologische Forschung in Ost- und Nordsee war. Erster Direktor war der Biologe Adolf Remane (1898-1976). Das Institut wurde im Krieg zerstört. ERSTE MARINE FORSCHUNGSGERÄTE In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden für die Meeresforschung bedeutende Messgeräte entwickelt, 1714 das Thermometer durch den Dresdener Daniel Gabriel Farenheit (1686–1736), das die Vergleichbarkeit von Messwerten ermöglichte. 1744 folgte die Skaleneinteilung durch den Schweden Anders Celsius (1701–1744). 1757 erfand Henry Cavendish (1731–1810) das erste Minimum-Maximum-Thermometer für Unterwassermessungen. Der Brite Robert Hooke entwickelte ein Lot für die Probennahmen am Meeresboden, John Hadley (1682–1744) den Spiegeloktanten, der 1750 eine genauere Bestimmung des geographischen Breitengrades ermöglichte. Durch die Einführung von Schiffschronometern ab 1761 wurde die Genauigkeit der geographischen Längenmessung verbessert. Ab 1850 wurden Lotmaschinen von Charles Dwight Sigsbee (1845–1923) eingesetzt, die mit motorisierten Winden den Zeitbedarf für tiefe Messungen und Probennahmen erheblich reduzierten. 1853 erfand John Mercer Brooke (1826–1906) ein Lot,

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das eine kombinierte Tiefenmessung und Probennahme ermöglichte. 1902–1907 entwickelte Hermann Anschütz-Kämpfe (1872–1931) in Kiel mit Unterstützung von Albert Einstein (1879–1955) den Kreiselkompass. 1838 bestimmten die Schweizer Jean-Daniel Colladon (1802–1893) und Charles-François Sturm (1803– 1855) die Schallgeschwindigkeit im Genfer See, die für die Entwicklung des Echolots durch den Kieler Physiker Alexander Behm (1880–1952) 1913 von großer Bedeutung war. Zu erwähnen ist der Kieler Physiker Hugo Lichte (1891–1963), der weltweit als Begründer der physikalischen Meeresakustik angesehen wird. ENTWICKLUNG DER DEUTSCHEN MEERESFORSCHUNG NACH 1945 Ab Ende 1945 übernahm das Deutsche Hydrographische Institut (DHI) die Aufgaben der 1868 gegründeten Deutschen Seewarte. Das DHI konnte 1949 die Gauss als erstes Vermessungs- und Forschungsschiff in Betrieb nehmen. 1990 wurde das DHI mit dem Bundesamt für Schiffsvermessung zum Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) zusammengefasst. Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten wurde der 1950 gegründete Seehydrographische Dienst (SHD) der Deutschen Demokratischen Republik 1990 in das BSH eingegliedert. Die Fischereiforschung in Hamburg konnte 1948 als Zentralanstalt für Fischerei, ab 1949 als Bundesforschungsanstalt für Fischerei seine Forschung fortsetzen, ab 1955 mit dem Fischereiforschungsschiff Anton Dohrn, das in Nord- und Ostsee sowie im Nordatlantik eingesetzt wurde. 1947 nahm das Wilhelmshavener Forschungsinstitut Senckenberg am Meer seine Forschung wieder auf. An der Universität Hamburg entstand 1947 das Institut für Fischereiwissenschaft, das ab 1953 in das Institut für Fischereibiologie und ab 1963 in das Institut für Hydrobiologie und Fischereiwissenschaft umbenannt wurde. 1957 folgte das Institut für Meereskunde, seit 2016 Teil des Zentrums für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit (CEN). Die Biologische Anstalt Helgoland, 1892 gegründet, arbeitete ab 1959 wieder auf Helgoland und Sylt als marines Forschungsinstitut des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und wurde 1998 dem Alfred-WegenerInstitut für Polar- und Meeresforschung (s.u.) angegliedert Internationale Höhepunkte der Forschung waren die Mitwirkung am Internationalen Geophysikalischen Jahr 1957 mit den Forschungsschiff Gauss und dem Fischereiforschungsschiff Anton Dohrn, an dem Polarfront-Survey vor Grönland 1958/59 und die Teilnahme des 1964 in Dienst gestellten deutschen Forschungsschiffs Meteor II, das 1965 an der Internationalen Indischen Ozean Expedition (IIOE) teilnahm. Zudem beteiligten sich zahlreiche Universitätsinstitute und Zoologische Museen an internationalen Forschungsvorhaben auf der hohen See. Mit der Teilnahme an diesen internationalen Expeditionen gelang es den deutschen Wissenschaftlern, den Anschluss an die internationale Meeresforschung wieder herzustellen.

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In der DDR wurde 1950 das Institut für Meereskunde (IfM) in Warnemünde gegründet, das 1960 in die Akademie der Wissenschaften der DDR aufgenommen wurde. 1991 ging aus dem IfM Warnemünde das Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde (IOW) hervor. Zunächst war das Institut auf Fischerei- und Küstenforschung in der Ostsee orientiert, dehnte seine Forschung dann aber auf die Nordsee und den Atlantik aus, auch im Auftrag der Fischereiforschung, für die in Rostock 1953 ein Institut für Hochseefischerei gegründet wurde. Wie die westdeutschen Forscher von Forschungsaufenthalten vor allem in den USA und Großbritannien profitierten, erfuhren ostdeutsche Forscher Unterstützung in russischen Forschungseinrichtungen. Zwischen 1970 und 1995 vergrößerte sich die west- und später die gesamtdeutsche Meeresforschungslandschaft erheblich. 1980 entstand das Alfred-WegenerInstitut für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Die Universität Bremen gründete 1986 den Fachbereich Geowissenschaften und 2001 das Zentrum für marine Umweltwissenschaften MARUM, seit 2013 als assoziiertes LeibnizInstitut. Die Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schifffahrt mbH (GKSS) wandelte sich vom Kernforschungszentrum 1976 zum HelmholtzZentrum für Material- und Küstenforschung (HZG). Das Max-Planck-Institut für Meteorologie, 1975 in Hamburg gegründet, entwickelt Klimamodelle unter Einbeziehung des Ozeans. Die Carl von Ossietzky Universität Oldenburg gründete 1987 das Institut für die Chemie und Biologie des Meeres mit Außenstellen in Wilhelmshaven (ICBM-Terramare) und auf Spiekeroog mit Schwerpunkten sowohl in der Grundlagenforschung als auch im angewandten Bereich der Meeres- und Umweltwissenschaften. 1991 entstand in Bremen das Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung (ZMT) und im Jahr 2002 das Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie. Das Institut für Ostseefischerei in Rostock wurde Teil der Bundesforschungsanstalt für Fischerei in Hamburg. In den 1960er Jahren entwickelten sich mit dem Tiefsee-Umweltschutz und den mineralischen Tiefsee-Ressourcen neue interdisziplinäre Forschungsthemen. 1966 begann die Dokumentation von Umweltschäden durch die Versenkung von Atommüll im Atlantik, durch die Gewinnung von Erzschlämmen im Roten Meer und durch den Tiefseebergbau (Manganknollen) im Pazifik. In den 1960er bis 1980er Jahren wurden unter der Leitung der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR, Hannover), einigen Firmen und Forschungsinstituten erste Explorations-Expeditionen (Manganknollen und Massivsulfide) mit den Forschungsschiffen Valdivia II und Sonne I durchgeführt. Nach einer Unterbrechung wurden diese Untersuchungen von der BGR Anfang dieses Jahrhunderts mit den Forschungsschiffen Sonne I und Sonne II wieder aufgenommen. Die hier beteiligten Wissenschaftler aus der BGR und aus verschiedenen Forschungsinstituten sind neben ihrer Forschungstätigkeit auch in der Politikberatung tätig. Mit der Gründung des Konsortiums Deutsche Meeresforschung (KDM) zur Förderung der deutschen Meeresforschung in Berlin (2004) wurde ein Zusammenschluss der großen deutschen Forschungsinstitute und -Museen auf den Gebieten der Meeres-, Polar- und Küstenforschung geschaffen, das seit 2009 auch in Brüssel

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präsent ist. Im KDM bündeln die 19 Mitgliedsinstitute ihre meereswissenschaftliche Expertise, um sie gemeinsam vor Entscheidungs- und Zuwendungsgebern zu vertreten und in die Öffentlichkeit zu tragen. UNTERSTÜTZUNG DER MEERESFORSCHUNG DURCH DIE EUROPÄISCHE UNION Seit dem ersten Forschungsrahmenprogramm (1984–1987) fördert die Europäische Union die Meeresforschung unter besonderer Berücksichtigung europäischer Zusammenarbeit. Mit ihrem zweiten Rahmenprogramm bekam die Meeresforschung erstmals einen eigenen Titel: Marine Science and Technologie (MAST) Programme I-III (1989–2002). Ziel war die Förderung technologischer und wissenschaftlicher Grundlagen und die bessere Vernetzung zwischen den Instituten in den EU-Mitgliedsländern. In dieser Zeit wurden das European Committee for Ocean Science und das European Comittee for Polar Sciences gegründet, die als europäische Dachverbände seit 1998 das Ziel verfolgen, die großen Herausforderungen in der Meeres- und Polarforschung zu identifizieren. 2007 wurde die Europäische Integrierte Meerespolitik verabschiedet, die die Bereiche Fischerei und Aquakultur, Schifffahrt und Seehäfen, Meeresumwelt, Meeresforschung, Offshore-Energiewirtschaft, Schiffbau und meeresbezogene Industriezweige, Meeresüberwachung, Meeres- und Küstentourismus, maritimer Arbeitsmarkt, Entwicklung der Küstenregionen sowie auswärtige Beziehungen im Zusammenhang mit Meeresfragen umfasst. 2014 wurde die Meeresforschung unter dem Titel „Blaues Wachstum“ (Blue Growth) installiert. In diesem Programm wird die Forschungskooperation im Atlantik zwischen Instituten der Atlantik-Anrainerstaaten unterstützt. Gemeinsam mit den USA und Kanada wurde in 2013 das Galway Statement on Atlantic Ocean Cooperation unterzeichnet und vier Jahre später mit Brasilien und Südafrika das Belem Statement on Cooperation in the South and Tropical Atlantic and the Southern Oceans. Wichtige Prioritäten sind in beiden Abkommen die Beobachtung von Veränderungen im Meer und ein besseres Verständnis der marinen Biodiversität, sowohl für die Nutzung wie auch den Schutz von biologischen Rohstoffen. Deutschland ist in diesen Programmen und Initiativen ein zentraler Partner. Unter dem Dach des Konsortiums Deutsche Meeresforschung (KDM) und in Kooperation mit der Bundesregierung beteiligt sich die deutsche Meeresforschung aktiv an der Prioritätensetzung auf EU-Ebene.

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DIE BEDEUTUNG DER MEERESFORSCHUNG IM HISTORISCHEN UND AKTUELLEN VERHÄLTNIS EUROPAS ZUM MEER Während das Meer vor der Aufklärung eher mit großen Ängsten vor Naturgefahren und Meeresungeheuern verbunden war, näherte sich Europa mit Humboldt, Cook, Forster, Chamisso, Maury etc. dem Meer an. Um 1700 begannen die europäischen Staaten wie auch die britischen Kolonien in Nordamerika und später die USA ihre Küstengewässer systematisch zu loten um die Havarien der Handelsschiffe zu reduzieren. Mit den Amerikanern Maury und Franklin fanden die Meeresströmungen – ebenfalls aus wirtschaftlichen Gründen – ein zunehmend größeres Interesse. Man wollte die Fahrtzeiten der Segelschiffe optimieren. Um 1850 rückte das Meer und seine Lebewelt mit ersten Aquarien, z. B. in der Weltausstellung in London 1851, und dem Roman von Jules Vernes 20.000 Meilen unter dem Meer zunehmend in den Fokus der Gesellschaft. Mit der Expedition der Challenger (1872–76) beginnt die systematische Meeres- und Tiefseeforschung. Ein großer Teil der Forschung fand lange Zeit im Elfenbeinturm der Wissenschaft statt. Die deutsche Meeresforschung war allerdings schon früh darauf bedacht ihre Erkenntnisse verständlich in die Öffentlichkeit zu tragen. Beispiele populärwissenschaftlicher Vermittlung sind die Bücher über die Deutsche TiefseeExpedition (1898/99) und die Deutsche Atlantische Expedition (1925-27), die Ausstellungen im Berliner Meeresmuseum (1902-44), der Film über die Deutsche Atlantische Expedition sowie die Vortragsreihe des Berliner Instituts für Meereskunde. Heute hat sich die Rolle der Wissenschaft, insbesondere der Naturwissenschaft, in der deutschen Gesellschaft komplett gewandelt. Die Ende der 1980er Jahre beginnende Diskussion um die Nachhaltigkeit, das von Paul Crutzen (2000) bekannt gemachte sogenannte Anthropozän, der Stern-Report (2006) und die IPCC-Reports der Vereinten Nationen (ab 2007) brachten den Klimawandel in die Wahrnehmung der Menschen. Weitere marine Themen wie die anhaltende Überfischung der Meere, die Ausbeutung mineralischer und energetischer Tiefseeressourcen (Manganknollen, sulfidische Erze, Methanhydrate oder biologische Rohstoffe für die Medizin und Pharmazie) sind aktuelle Forschungsthemen, die in den traditionellen wie in den modernen Medien vermehrt diskutiert werden. Allerdings hat das Bewusstsein von dem mit dem Klimawandel verknüpften Ozeanwandel – die Erwärmung der Ozeane, der Meeresspiegelanstieg und die Ozeanversauerung – bis heute in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft nicht angekommen. Dieser Prozess gestaltet sich besonders schwierig, da sich der Ozeanwandel zwar der Wissenschaft zeigt, für die Gesellschaft diese Veränderungen in den Weltmeeren in der Regel nicht sichtbar sind, sieht man von der Verschmutzung der Meere durch Plastikmüll oder Öltankerhavarien ab. Hier ist die Meereswissenschaft weiterhin in der Pflicht die begonnene Sensibilisierung weiterhin fortzuführen. Es bleibt zu hoffen, dass der in unzähligen Untersuchungen an Land und im Meer unzweifelhaft nachgewiesene anthropogene Klima- und Ozeanwandel nachhaltiges politisches und wirtschaftliches Handeln nach sich zieht.

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LITERATUR Adamowsky, Natascha (2017): Ozeanische Wunder. Entdeckung und Eroberung des Meeres in der Moderne.- Poetik und Ästhetik des Staunens (Hrsg.: Nicola Gees / Mireille Schnyder), Bd. 3; Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Paderborn Gierloff-Emden,Hans-Günter (1979) Geographie der Meere, Teil 1 & 2, Walter de Gruyter, Berlin, New York 1980. Hempel, Gotthilf / Bischof, Kai / Hagen, Wilhelm (Hrsg.) (2017): Faszination Meeresforschung, Ein ökologisches Lesebuch; 2.Aufl., Springer-Verlag 2017 Kragh, Lisa (2017): Kieler Meeresforschung im Kaiserreich. Die Plankton-Expedition von 1889 zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, Kieler Werkstücke, Reihe A: Beiträge zur schleswig-holsteinischen und skandinavischen Geschichte, herausgegeben von Oliver Auge, Bd. 48, Peter Lang Edition, Frankfurt Möllers, Nina, Schwägerl, Christian & Trischler, Helmuth (Hrsg.): Willkommen im Anthropozän. Unsere Verantwortung für die Zukunft der Erde.-Freiburger Graphische Betriebe GmbH & Co.KG, Freiburg 2015 Paffen, Karlheinz / Kortum, Gerhard (1984): Die Geographie des Meeres; im Selbstverlag des Geographischen Instituts der Universität Kiel, Kiel 1984 Schlee, Susan (1974): Die Erforschung der Weltmeere. Eine Geschichte ozeanographischer Unternehmungen; Verlag Gerhard Stalling Oldenburg und Hamburg, 1974 Thiede, Jörn et al. (im Druck): From a modest start to a flourishing marine research environment: The institutional development of marine Geosciences in Kiel/Germany after World War II; Archiv des DSM 2018 Walle, Heinrich (2009): Rahsegler in Deutschland, Von der Seewarte zur Gorch Fock; Dr. Dieter Winkler Verlag Bochum 2009 Zenk, Walter et al. (im Duck): Early oceanography and development of physical and chemical marine sciences in Kiel after Worls war II; Archiv des DSM 2018

THE DEVELOPMENT OF ICES Helen M. Rozwadowski Europe boasts the longest ratio of shoreline to inland area of almost any part of the world and, as a consequence, the sea has shaped development there since before written history. Knowledge of the ocean forged by navigators and fishers enabled the growth of communities and encouraged connections between them through trade. The fifteenth- and sixteenth-century discovery of ocean routes around the globe connected Europe to known lands and new lands. 1 As colonial powers wove webs of trade routes over the seventeenth and eighteenth centuries, navigational challenges drew governments into the business of supporting science through chartmaking, the search for a solution to the longitude problem, studies of magnetic variation, and hydrographic surveying. The creation of knowledge about the ocean by modern science enabled the extension of European power around the globe. 2 The tight link between power and knowledge of the ocean wrought by modern science surfaced again in the nineteenth and twentieth centuries, when European nations following their national interests in fisheries began to fund national marine research stations and, subsequently, founded the International Council for the Exploration of the Seas (ICES) in 1902. One of the many manifestations of the sea’s significance to the development and integration of Europe, ICES at its creation reflected the strong internationalism of its time and the economic and political importance of fisheries. The sheer logic of studying the vast, dynamic ocean cooperatively motivated international marine science. The organization, in turn, provided a robust stage for scientific exchange as well as a forum for European discussions of fisheries policy by scientists, whose participation carried into the postwar fisheries, and later environmental, regulatory commissions. ICES established the practice, widely adopted after the Second World War, of deploying internationally-agreed research as an advisory tool for ocean management. Marine sciences grew up in the last quarter of the nineteenth century in the wake of the famous circumnavigation expedition of HMS Challenger and a flurry of nationalistic ocean science voyages such as the German Gazelle expedition and the Norwegian Vøringen voyage. 3 Before that time, occasional investigations of 1 2 3

J. H. Parry, The Discovery of the Sea (Berkeley: University of California Press, 1981). Michael S. Reidy and Helen M. Rozwadowski, „The Spaces in Between: Science, Ocean, Empire,” Isis 105 (2)(2014): 338–351. Vera Schwach, „Faded Glory: The Norwegian Vøringen Expedition, 1876–187,” pp. 31–70 in Keith R. Benson and Helen M. Rozwadowski, eds., Extremes: Oceanography’s Adventures at

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tides, water temperature and pressure undertaken by the men of science such as Robert Boyle and Robert Hooke in the seventeenth century had not consolidated into a coherent field of study. 4 Spectacular, singular initiatives to prosecute ocean research gave way to investigations done more steadily and quietly, in the dozens of marine laboratories and stations that opened across Europe and in North America. The first in time, in Naples, was heralded at its inauguration, and subsequently by historians, as a site for academic research and an incubator for new fields such as physiology and embryology, but the majority of these stations were engaged with fisheries issues. 5 Many European sea fisheries at the turn of the century inspired concern, especially in response to the growing industrialized trawling fisheries. Nations desired to boost economic gain from the sea and to identify causes of declining catches in certain fisheries. A strong commitment to internationalism, which influenced many branches of science including marine research, accompanied the century’s turn. During this period, European nations made strenuous efforts to harmonize transportation and communication across national boundaries by standardizing railroad gauges and forging agreements on postage, and so on. In the sciences, this impulse extended to the standardization of botanical and chemical nomenclature and similar projects to enable communication among scientists from all nations. Not all branches of science proved amenable to international organization; agricultural sciences and seismology, for example, failed to form lasting institutions. ICES, by contrast, not only emerged, but also survived the First World War when many such organizations foundered, because of the compelling logic for studying such a vast, fluid environ-

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the Poles (Sagamore Beach, MA: Science History Publications/USA, 2007). Water Lenz, „The Aspirations of Alfred Merz, Georg Wüst, and Albert Defant: From Berlin to Pacific Oceanography,” pp. 118–123, in Keith R. Benson and Philip F. Rehbock, eds., Oceanographic History: The Pacific and Beyond (Seattle/London: University of Washington Press, 2002). Margaret Deacon, Scientists and the Sea Sea, 1650–1900: A Study of Marine Science, 2nd ed. (Aldershot, Hampshire, Great Britain: Ashgate, 1997). Raf de Bont, Stations in the Field: A History of Place-Based Animal Research, 1870–1930 (University of Chicago Press, 2015). Antony Adler, „The Hybrid Shore: The Marine Station Movement and Scientific Uses of the Littoral, 1843–1910” pp. 145–178; and Robert-Jan Wille, „Stations and Statistics: Paulus Hoek and the Transnational Discipline of Ocean Biology, 1871–1914” pp. 179–212, in Soundings and Crossings: Doing Science at Sea, 1800–1970, ed. by Katharine Anderson and Helen M. Rozwadowski (Sagamore Beach, MA: Science History Publications/USA, 2017). Jane Maienschein, One Hundred Years of Exploring Life, 1888– 1988: The Marine Biological Laboratory at Woods Hole (Boston: Jones and Bartlett, 1988). Margaret Deacon, „Crisis and Compromise: The Foundation of Marine Stations in Britain During the Late 19th Century,” Earth Sciences History (12)(1)1993, pp. 19–47. Keith R. Benson, „The Naples Stazione Zoologica and Its Impact on the Emergence of American Marine Biology.“ Journal of the History of Biology 12(1988b): 221–341. Benson, „Summer Camp, Seaside Station, and Marine Laboratory: Marine Biology and its Institutional Identity,” Historical Studies in the Physical and Biological Sciences 32(1), Second Laboratory History Conference (2001), 11–18.

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ment synoptically, or quasi-synoptically, by numerous vessels using the same instruments to collect the same data over a large area. 6 Indeed, ICES endured over a century of political and institutional challenges; its longevity underscores the economic and national resonances of fisheries, which accompanied internationalism to motivate government support for marine science. For some northern European nations that founded ICES, such as Norway, fishing was a primary driver of the economy, while for others, such as England, it was the economic mainstay for a region or regions of the country. In Germany, the government was engaged in efforts to develop a larger, modern fishery starting with the 1867 formation of the Deutsche Fischerei-Verein (DFV) and continuing with the formation of the Kiel Commission (Kommission zur Wissenschaftlichen Untersuchung der deutschen Meere) three years later. While the precise nature and extent of economic importance of fisheries varied among ICES member nations, the common factor was government willingness to pay for research facilities, including dedicated research vessels, and the salaries of scientists to conduct investigations at sea. Johan Hjort formed the nucleus for an extraordinarily active group of marine scientists in Bergen, and Paulus P.C. Hoek leveraged economic interest to create the Dutch Den Helder station, to mention two cases that have been well-studied. 7 Kiel was another such node. The Kiel Commission, formed to provide scientific support to develop German fisheries, created a chain of coastal research stations from Denmark to the Russian border that conducted investigations related to fisheries and also focused on links between the sea and weather, a secondary topic of significant economic interest that contributed to momentum for ICES among governments across Europe. In Kiel, Victor Hensen began his quantitative studies of plankton in the 1880s, recognizing the importance of phytoplankton as the foundation for the marine food chain (he called it “this blood of the sea”). Although this poetic phrase may seem like a romantic analogy, the comparison with the human body in fact reveals that laboratory physiology inspired Hensen’s analytic and quantitative approach. Hensen’s successors, especially Karl Brandt, fused the practical demands of fisheries development with a combination of traditional descriptive natural history and the new scientific approaches to marine research involving biochemistry and microbiology. 8 While the achievements of Hensen, Brandt and other Kiel researchers were important to the history of German science, Kiel scientists were deeply engaged in the international research organized through ICES. As an exemplar representing European marine research, Kiel reflects the vibrant tradition

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Helen M. Rozwadowski, “Internationalism, Environmental Necessity, and National Interest: Marine Science and Other Turn-of-the-Twentieth-entury Sciences”, Minerva 42 (2) (2004): 127–149. Vera Schwach, Havet, fisken og vitenskapen. Fra fiskeriundersøkelser til havforskningsinstitutt 1860–2000 (Bergen: Havforskningsinstituttet, 2000). Schwach, “Internationalist and Norwegian at the same time: Johan Hjort and ICES” (215) ICES Marine Science Symposia, 39–44. Wille, “Stations and Statistics”. Eric L. Mills, Biological Oceanography: An Early History, 1870–1960 (Ithaca, NY: Cornell University Press, 1989), pp. 9–171.

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of innovative marine science, extending to international research and grounded in fisheries interests. 9 Activities in several parts of Europe came together to contribute to the founding of ICES. Scandinavia scientists promoted regional cooperation to study physical movements of ocean waters, which were understood to be relevant to fisheries. Concern for herring fisheries drew biologists into the initiative, adding questions related to spawning, the fate of fish eggs, and the distribution and movements of plankton. A trio of preparatory and founding meetings for ICES took place in Norway, Sweden and Denmark in 1889, 1901 and 1902, but diplomacy led to the appointment of the Dutch scientist, Hoek, as the General Secretary, reflecting the balance that a representative from the small nation of The Netherlands could provide in an institution comprised of the relatively larger powers of Germany, the United Kingdom, and the combined Scandinavian countries. Hoek was not only geographically ideal; his experience as an academic biologist, a national marine station director and a government fisheries advisor encapsulated the ambition of ICES to pursue science to inform fisheries management. 10 What seemed to ICES founders as the single goal of using science to improve fisheries encompassed in reality two opposing ambitions, first to use new knowledge to conserve or restore fisheries and, second, to direct science to increasing the economic yield from fisheries for the state. States’ interests in revenue and food supply from fisheries promoted close ties to large, centralized fishing companies, to the detriment of small-scale operators, in pursuit of the efficiencies due to scale that could in theory be achieved. The same embrace of efficiency drew fisheries biologists to adopt the language, goals and mathematical tools of German forestry science, aiming to manage fisheries for a maximum yield by using mathematical tools to ensure sustained catches. 11 At its initial preparatory meeting ICES delegates agreed that “rational exploitation of the sea should rest as far as possible on scientific inquiry,” believing it possible to achieve conservation at the same time as maximal economic exploitation of living marine resources. 12 Most European sea fisheries occurred in international waters, so instances of overfishing, or suspicions of it, were taken up by ICES for international investigation. ICES scientific experts arrived at the international meetings carrying traditions from their national marine stations: to treat science as neither pure nor applied, and with an understanding of their role as including advising governments on fisheries matters. ICES advisory role expanded dramatically after the Second World War, with the creation of the Permanent Commission by delegates to the 1946 London Overfishing Conference. Wartime advances in many fields of science only increased the confidence of fisheries scientists that their field would soon predict fish 9 See http://www.deutsche-meeresforschung.de/en/kms. 10 Wille, “Stations and Statistics,” 203. 11 Jennifer Hubbard, „In the Wake of Politics: The Political and Economic Construction of Fisheries Biology, 1860–1970,” Isis 105(2104): 364–378. 12 Copies of the resolutions from the 1899 Stockholm conference are reprinted in Rapport et Proces-Verbaux 47(1928): 11–8.

The Development of ICES

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catches and, thereby, achieve unprecedented control of fisheries. 13 The Commission, and its successor the Northeast Atlantic Fisheries Commission, could extend or alter regulations initially agreed at the Conference, thus avoiding unwieldy international diplomacy simply to adjust fishing rules. In these regulatory organizations, scientists served as negotiators alongside high level bureaucrats and politicians. With the meteoric expansion of ocean sciences during and after the war, ICES transformed from the central international marine science organization to a regional body, but remained a leader in fisheries science and extended its activities to include research in the marine environmental sciences. In this realm, as in fisheries, ICES pursued applied alongside pure science, undertaking the standardization of monitoring equipment, baseline studies of marine contaminants, and a formal advisory role. The Oslo, Paris and Helsinki Commissions involved scientific advice from ICES to regulate inputs of contaminants to the sea. Although ICES in the early twenty-first century has twenty member nations including two in North America, it remains very much a European-based institution although its scientific remit now extends to the global. Its mission statement states the intention to “[develop] science and advice to support the sustainable use of the oceans,” a goal in close alignment with its founding ideals. 14 Its uniqueness as an institution lies in its identity as neither entirely an academic nor purely a governmental body, which has knowledge of but no direct connection to industry. It is an intergovernmental organization rather than an international one, so there are national representatives, but these must both attend to national interests and are responsible to produce internationally agreed science to serve as the basis for international agreements. Cultivated in Europe, the marine sciences have since spread around the world, in large part thanks to ICES. From the late eighteenth century forward, modern marine science represented a novel means for producing knowledge about the sea, different in significant ways from knowledge produced through the traditional work of navigation or fishing. Scientific understanding of oceans proved spectacularly powerful in supporting the projection of European power over the ocean and thereby around the globe. European cooperation in pursuit of scientific understanding of fisheries represented a new episode linking knowledge of the ocean with power, in this case the invention of institutions and practices to regulate fisheries, and later the marine environment, internationally. The founding of the International Council for the Exploration of the Seas brought European nations together to support effective supranational marine scientific research; aligned these governments

13 Though it extends beyond ICES and Europe, see Carmel Finley, All the Fish in the Sea: Maximum Sustainable Yield and the Failure of Fisheries Management (Chicago: University of Chicago Press, 2011), for an account of the unblinking confidence placed in Maximum Sustainable Yield as postwar international fisheries expanded. 14 See http://www.ices.dk/explore-us/who-we-are/Pages/Who-we-are.aspx.

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with communities of academic experts to render science into an advisory tool for fisheries; and created a lasting model for international ocean management. 15

15 Helen M. Rozwadowski, The Sea Knows No Boundaries: A Century of Marine Sciences under ICES (Seattle and London: University of Washington Press, 2002).

STRÖMUNGEN ALS DIFFERENZPHÄNOMENE Zur Formalisierung von Strömungswissen bei James Rennell Julia Heunemann In seinem Haus der Suffolk Street in London widmete ein britischer Gentleman einst Jahrzehnte seines Lebens dem Nachvollzug vergangener Seereisen. Diesen Eindruck jedenfalls erweckt seine mit geradezu unzähligen Daten aus einer großen Menge von Logbüchern angereicherte Studie über Meeresströmungen, welche samt zugehörigem Atlas im Jahr 1832, zwei Jahre nach dem Tod des Engländers, von dessen Tochter Jane Rodd herausgegeben wurde. 1 Die Rede ist von James Rennell, einer der spannendsten Figuren der Meeresforschung im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert – und darüber hinaus eine erstaunlich gut vernetzte. Dies lassen die Besuche einer ganzen Reihe von Naturforschenden in der Suffolk Street erahnen, die dort im Austausch mit Rennell ihren eigenen Forschungsprojekten Auftrieb gaben. Zugleich ist zu vermuten, dass es sein Forschungsgegenstand war, der Rennells Vernetzung bedingte und zugleich befeuerte. Denn für eine großräumige, bestenfalls globale Erforschung von Meeresströmungen an Ort und Stelle – also auf hoher See – reichte ein einziges Leben nicht aus. Zu den Verdiensten des britischen Forschers gehört es weniger, dies erkannt zu haben, als Mittel und Wege gefunden zu haben, marine Dynamiken weitläufig zu erforschen, ohne dafür notwendig ein Schiff besteigen zu müssen. Maßgeblich hierfür waren maritime Netzwerke, die Europa und, wie sich zeigen wird, insbesondere England mit dem Rest der Welt verknüpften.

ZEITEN UND ORTE VON STRÖMUNGEN Auch Rennells Karriere als Strömungsforscher hatte auf hoher See begonnen. Nachdem er als britischer surveyor general Bengalen vermessen hatte, nutzte er seine Rückreise nach London im Jahr 1778 für eine Untersuchung des Agulhasstroms im südwestlichen Indischen Ozean, trat danach allerdings keine größeren Seereisen mehr an. Während er also am Beginn seiner Karriere marine Dynamiken 1

James Rennell: An investigation of the Currents of the Atlantic Ocean, and of those which prevail between the Indian Ocean and the Atlantic. Published for Lady [Jane] Rodd. London 1832: J. G. & F. Rivington.

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lokal vom Schiff aus verfolgt hatte, geht sein Projekt, Meeresströmungen weiträumig und zum Teil sogar weltumspannend nachzuverfolgen, auf Seereisen zurück, die er selbst nie angetreten hatte. Vielmehr entfaltete sich sein Strömungswissen weitab vom Meer, am heimischen Schreibtisch in der Suffolk Street in London, wo Rennell nach seiner Rückkehr aus Indien die in Logbüchern festgehaltenen, zurückliegenden und zugleich zurückgelegten Erfahrungen anderer auszuwerten antrat. An diesem neuen Schauplatz der Wissensproduktion über marine Dynamiken geriet Strömungsforschung mit anderen Worten zum Studium historischer Quellen. Rennell wurde daher auch treffend als Antiquar der Meeresströmungen bezeichnet. 2 Strömungen verweisen auf ein Meer, das mehr als nur eine Fläche ist, auf welcher Seeverkehr bloß stattfindet. Sie implizieren, dass das Meer vielmehr auch aktiv am Transit von Waren, Informationen und Menschen teilhat: In der Tat hatten Seeleute, lange vor Rennell erfahren, dass ihre Schiffe nicht nur durch Winde, sondern zuweilen auch durch das Meer selbst bewegt werden. 3 Immerhin verbanden sich mit diesem Wissen eine ganze Reihe von erheblichen Gefahren, aber auch Potenziale für ihre Arbeit: So konnte sich zum einen ein (strömungsbedingtes) unbemerktes Abdriften von Kursen schnell zur Frage nach Leben und Tod zuspitzen. Zum anderen, und damit einhergehend, stand mit dem Wissen über marine Dynamiken nicht zuletzt die Segelgeschwindigkeit zur Debatte. Denn durch gezieltes Befahren von Strömungen konnten Schiffe deren zusätzlichen Antrieb für sich nutzen – vorausgesetzt ihre Lage und Richtung waren bekannt. Frühe Strömungsstudien im Nordatlantik, wie sie Mitte des 18. Jahrhunderts von dem Handelsschiffer Walter Hoxton, dem Landvermesser Gerard de Brahm und dem Postmeister und späteren Staatsmann Benjamin Franklin betrieben wurden, zielten daher vorrangig auf die Optimierung navigatorischer Techniken zugunsten des maritimen Verkehrs ab. 4 Sie sind somit eng an ökonomische Diskurse des interkontinentalen Transits geknüpft.

2 3

4

Vgl. Michael T. Bravo: James Rennell. Antiquarian of Ocean Currents. In: Ocean Challenge 4 (1–2), 1993, S. 41–50. In der Literatur findet sich hierfür eine Vielzahl an Beispielen. Verschiedene davon sind etwa bei Johann Georg Kohl versammelt, vgl. Johann Georg Kohl: Geschichte des Golfstroms und seiner Erforschung von den ältesten Zeiten bis auf den grossen amerikanischen Bürgerkrieg. Eine Monographie zur Geschichte der Oceane und der geographischen Entdeckungen. Mit 3 lithographischen Karten. Bremen 1868: C. Ed. Müller. Hoxton trug sein Wissen tabellarisch in eine später publizierte Karte ein: Walter Hoxton: [To the Merchants of London Trading to Virginia and Maryland,] This Mapp of the Bay of Chesepeack with the Rivers Potomack, Potapsco North East and part of Chester. London o.J. [1735]: Mount & Page. De Brahm publizierte Strömungsstudien samt Kartenmaterial, vgl.: William Gerard de Brahm: The Atlantic pilot. London 1772: T. Spilsbury / S. Leacroft. Franklins bekannteste Ausführungen zu Strömungen finden sich in einem publizierten Brief, vgl. Benjamin Franklin (1786): A Letter from Dr. Benjamin Franklin, to Mr. Alphonsus le Roy, Member of Several Academies, at Paris. Containing Sundry Maritime Observations. At Sea, on board the London Packet, Capt. Truxton, August I785. Read Dec. 2.1785. In: Transactions of the American Philosophical Society held at Philadelphia for Promoting Useful Knowledge 2, S. 294–329.

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Allerdings beschränkten sich diese frühen Studien auf teils sehr kleine Gebiete, zumal ausschließlich auf den Nordatlantik. Ein Großteil der Kenntnisse über Strömungen war dagegen über die Weltmeere verstreut, wo sie an Bord von Schiffen in Form von Praktiken und Instrumenten zirkulierten. Aufgezeichnet wurden sie dort höchstens in (handschriftlich) ergänzten Seekarten und Logbucheinträgen. Sie kursierten mithin als praktisches, nicht formalisiertes Wissen.

STRÖMUNGSWISSEN ALS DIFFERENZWISSEN Zu jener Zeit, als Rennell seine frühen Strömungsstudien im Indischen Ozean unternahm, wurden marine Dynamiken in der Regel ausschließlich vor Ort erkundet; auf hoher See. Dort ließ sich ihre Stärke und Richtung instrumentell durch eine Verknüpfung navigatorischer Techniken und Praktiken auf die Spur kommen. Maßgebend hierfür war die Differenz zwischen zwei auf unterschiedliche Arten ermittelten Schiffspositionen, von denen beide auf Zeitmessung beruhten. Eine davon resultierte aus der so genannten Koppelnavigation. Hierbei wurde das Log, ein an einer oft durch Knoten unterteilten Leine befestigtes Stück Holz, ins Meer gelassen. Dort verblieb es nahezu am selben Ort, während sich für die Dauer eines SanduhrDurchlaufs die Logleine der Fahrt des Schiffes gemäß abrollte. Das Verhältnis der Länge der abgerollten Leine, die anhand der Anzahl abgerollter Knoten bemessen werden konnte, zur verstrichenen Zeit verwies so auf die Geschwindigkeit des Schiffes. In Zusammenschau mit der durch den Kompass identifizierten Fahrtrichtung konnte wiederum auf den seit der letzten bekannten Position zurückgelegten Weg geschlossen und schließlich die aktuelle Position ermittelt werden. Diese Methode der Ortsbestimmung war zwar verhältnismäßig unkompliziert, barg jedoch ein hohes Fehlerpotenzial. Und dieses ließ sich unter anderem auf marine Dynamiken zurückführen. Denn sobald sich ein Schiff in einer Strömung befand, so wurden beide – Schiff wie Log – von dieser fortbewegt. Blieb dieser Umstand allerdings unbemerkt, was auf hoher See und aus Mangel an umfassenden Strömungskenntnissen keineswegs ungewöhnlich war, so beeinträchtigte das die Geschwindigkeitsmessung unter Umständen erheblich und konnte in der Folge zu gefährlich fehlerhaften Positionsbestimmungen führen. Aufgrund der zuweilen höchst unsicheren Ergebnisse der Koppelnavigation kam eine zweite Technik der Verortung von Schiffen im Raum zum Tragen. Dafür wurden astronomische Beobachtungen von Fixsternen mit den in nautischen Almanachen gelisteten Positionen dieser Himmelskörper abgeglichen. Da hierbei die genaue Uhrzeit zu Rate gezogen werden musste, lieferte diese ungleich komplexere Technik allerdings erst nach Einführung von Schiffschronometern im späten 18. Jahrhundert verlässliche Positionsbestimmungen – und selbst dann nur unter freiem Himmel. Beide Methoden waren also tendenziell störungsanfällig. Daher wurden sie zur Kursermittlung, zumal auf hoher See, parallel praktiziert. Die Ergebnisse

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wurden jeweils akribisch in Logbücher eingetragen und miteinander abgeglichen, um auch über weite Strecken hinweg möglichst exakt Kurs halten zu können. Entscheidend für ein wissens- und mediengeschichtliches Nachdenken über Strömungskenntnisse sind die jeweilig auftretenden Abweichungen der Daten beider Praktiken der raumzeitlichen Selbstverortung. Denn es waren ebendiese Differenzen zwischen den in Logbüchern aufgezeichneten Daten, die auf die Existenz sowie die Lage, Richtung und Geschwindigkeit von Strömungen schließen ließen. Mit anderen Worten schlugen Strömungen in Logbüchern als navigatorische Störungen zu Buche.

AUTORITÄTEN DER STRÖMUNGEN Strömungsdaten beruhten hiernach auf der Bewegung der messenden, datenproduzierenden und aufzeichnenden Akteure; der Logs und Kompasse, Chronometer, Sextanten und Almanache und schließlich der Schiffe selbst und ihrer Besatzungen. 5 In Logbüchern schließlich hinterließ potenziell jede Schiffsreise Spuren punktueller Strömungsforschung. Denn in diesen Journalen ließen sich die zurückgelegten Kurse anhand der chronologisch aneinandergereihten Positionsbestimmungen nachzeichnen – und jede dabei auftretende Differenz konnte gegebenenfalls auf marine Dynamiken verweisen. Strömungskenntnisse waren somit eng an Reisewege und deren Linearität geknüpft. Und sie blieben vorerst nur wenigen vorbehalten. Denn nachdem sie erst als informelles und praktisches Wissen auf hoher See zirkulierten, landeten sie in Form von mit Daten gefüllten Logbüchern oft genug in den Schubladen von Schiffspersonal, Seehandelsunternehmen oder Kriegsmarinen. Publiziert wurden Strömungskenntnisse bis ins 19. Jahrhundert hinein dagegen nur selten, wie im Falle der erwähnten Seereisenden Hoxton, de Brahm und Franklin, die sich jeweils auf überwiegend selbst ermittelte Daten und somit auch nur auf wenige, eigens zurückgelegte Routen, beziehungsweise Routenabschnitte bezogen. Rennell wiederum erkannte und nutzte das Potenzial von Logbuchaufzeichnungen als Ressource eines weltumspannenden Wissens über marine Dynamiken. Anfangs konsultierte er nur Logbücher einzelner weitgereister Navigatoren aus seinem Bekanntenkreis, wie William Bligh und Matthew Flinders, die in den Legenden seiner Strömungskarten als „Authorities for the Currents“, Strömungsautoritäten geführt werden. Über seine Tätigkeit als Berater der Britischen Admiralität verschaffte sich Rennell schließlich Zugang zu den gesammelten Journalen der Royal Navy und der East India Company. 6 Die Schiffe dieser beiden Akteure europäischer Expansion und Kolonisation waren zu Rennells Freude bereits um 1800 fast ausschließlich mit Chronometern bestückt und ließen daher sehr präzise Logbuchdaten 5 6

Vgl. zu Techniken und Praktiken der Wissensproduktion auf Schiffen im 18. Jahrhundert: Richard Sorrenson: The Ship as a Scientific Instrument in the Eighteenth Century. In: Osiris 11, 1996, S. 221–236. Vgl. Bravo, a.a.O., 45.

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erwarten. Auf diese Weise etablierte er ein Informantennetzwerk, von dem wiederum auch andere zeitgenössische Strömungsforschende, wie etwa Alexander von Humboldt profitierten, der Rennell im Jahr 1828 besucht hatte, um sich über Strömungen auszutauschen. 7 Besonderen Wert legte Rennell darauf, möglichst viele Logbücher heranzuziehen um anhand ihrer Vielzahl an Einzeldaten auf Strömungsrichtungen und -stärken schließen zu können. Denn Fakten resultierten ihm zufolge erst aus Anhäufungen möglichst zahlreicher Indizien: „[T]he great mass of evidence points to the establishment of a fact“ 8, lautete sein Plädoyer zugunsten eines haltbaren und konsistenten Wissens. Dennoch deuten sich mit den als Autoritäten bezeichneten Logbuchautoren auch spezifische Ausschlussmechanismen von Rennells Studien an. Denn zum einen vernachlässigten seine Quellen jenes Strömungswissen, das seit Jahrhunderten als mündliches und praktisches zirkulierte, ohne je aufgezeichnet worden zu sein. Von diesem Wissen zeugen anekdotische Anmerkungen über das Wissen von Walfängern bei Franklin 9 oder von lokal tätigen Fischerjungen bei Humboldt, der in einem Brief an den Kartografen Heinrich von Berghaus treffend formulierte, dass die von ihm beschriebene Strömung „300 Jahre vor mir allen Fischerjungen von Chili bis Payta bekannt [war]; ich habe bloß das Verdienst, die Temperatur des strömenden Wassers zuerst gemessen zu haben.“ 10 Humboldt reagierte damit auf Berghaus’ Bezeichnung besagter Strömung als „Humboldtscher Strömung“ und berief sich bemerkenswerterweise darauf, dass die Benennung einer Strömung nach Rennell unter Schiffsvolk Belustigung hervorgerufen habe 11 – offenbar, da den Besatzungen die Strömung lange vor deren Erforschung bekannt gewesen war.

7

Vgl. R.G. Peterson; L. Stramma; G. Kortum: Early concepts and charts of ocean circulation. In: Progress in Oceanography 37 (1), 1996, S. 1–115, hier: S. 64. 8 James Rennell, a.a.O., S. 79. Weiter schreibt er dort: „It would have been too hazardous a measure, to regard any principal fact as being established on the authority of a few examples only; unless they were the observations of persons of known judgment and accuracy“ [Herv. i. O.]. 9 Vgl. Franklin, a.a.O., S. 314f. 10 Alexander von Humboldt: Brief an Heinrich Berghaus, erhalten am 21. Februar 1840. In: Alexander von Humboldt und Heinrich Karl Wilhelm Berghaus: Briefwechsel Alexander von Humboldt’s mit Heinrich Berghaus: aus den Jahren 1825 bis 1858, Band 2. Leipzig 1863: Hermann Costenoble, S. 283–284, hier: 284. 11 „Eben so protestire ich (auch allenfalls öffentlich) gegen alle ‚Humboldtsche Strömung‘, der schon in England von den Seefahrern belächelten ‚Rennellschen‘ nachgebildete.“ (Ebd.).

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Zum anderen war auch die Reichweite von Rennells Strömungsforschung aufgrund seiner Quellenauswahl begrenzt. Dies tritt in den seiner Studie beigefügten Karten am deutlichsten zutage. In ihnen häufen sich Strömungsmarkierungen in bestimmten Gebieten stark, während andere Gebiete wiederum, selbst im Atlantik, großflächig unmarkiert bleiben.

„Investigation of the Currents, Chart the First. The Eastern Division of the Atlantic Ocean“ In: Rennell, James, a.a.O. [Atlasband], o.S., Detail. Der Ausschnitt zeigt den Atlantik zwischen Südamerika und Westafrika.

Diese weißen Flecken weisen jedoch keineswegs auf ein Fehlen von Strömungen hin, sondern vielmehr einmal mehr auf verbreitete navigatorische Praktiken. So waren offensichtlich weder East India Company und Royal Navy, noch die anderen maritimen Bekanntschaften Rennells daran interessiert, ihre einmal für gut, kurz und sicher befundenen Kurse zu verlassen: Die in ihren Logbüchern auftretenden Strömungsdaten waren zwar durchaus weitläufig und weltumspannend, jedoch schlichtweg häufig auf bewährte, und daher wiederholt befahrene Routen beschränkt. Und die Publikation dieser offensichtlich „bewährten“ Routen in Rennells Strömungsstudie mag wiederum kaum dazu beigetragen haben, dass von ihnen abweichende Kurse gesucht und befahren wurden. Dies weist auf einen weiteren Aspekt des Strömungswissens zu Beginn des 19. Jahrhunderts, bevor es ab den 1850er Jahren zunehmend formalisiert wurde. 12 Während die Erhebung von Strömungsda-

12 Um 1850 begann unter Initiative des US-Navyoffiziers Matthew Fontaine Maury eine zunehmend internationalisierte Erfassung von Strömungsdaten anhand von standardisierten Logbüchern.

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ten also eng an navigatorische Praktiken an Bord von Schiffen geknüpft war, beruhte die Möglichkeit der Formalisierung des Wissens über marine Dynamiken bei Rennell in besonderem Maße auf den Kursen der interkontinentalen Seefahrt. Und vor dem Hintergrund, dass Strömungen wiederum Schiffe von Kursen abbringen, in ihrer Fahrt behindern oder auch beschleunigen konnten – und damit nicht zuletzt auch Routen vorgaben –, hatte im Gegenzug auch das Meer als einer ihrer Akteure Teil an der europäischen Expansion zur See.

SEERECHTSGESCHICHTE(N) Nele Matz-Lück Bis heute handeln die Geschichten, die das Seerecht schreibt, vor allem von staatlicher Macht und Herrschaft über das Meer, von Rechten an und über Ressourcen, aber auch von der Notwendigkeit, widerstreitende Interessen in Ausgleich zu bringen. In jüngerer Zeit mischt sich darin die Sorge um den Erhalt der Meeresökosysteme und die nachhaltige Nutzung biologischer Ressourcen der Meere. Zu Zeiten des niederländischen Juristen Hugo Grotius – auch als Hugh de Groot bekannt – im 17. Jahrhundert schienen die lebenden Meeresschätze so unendlich zu sein wie die Weite der Ozeane selbst. Öl, Gas und mineralische Ressourcen spielten noch keine Rolle als wirtschaftliche Werte. Grotius folgerte aus der vermeintlichen Unerschöpflichkeit der Ozeane, dass kein Staat jenseits eines schmalen Küstenstreifens in der Lage sei, die effektive Kontrolle über die endlosen Meeresflächen ausüben. Folglich, so die Argumentation des Juristen, könne auch kein Staat ausschließliche Ansprüche an die Nutzung der Hohen See und der lebenden Ressourcen derselben stellen. Heute wissen wir, dass der Mensch die Meeresökosysteme durch seine vielfältigen Nutzungen der Ozeane in ganz erheblichem Maße beeinträchtigt, stört und zerstört. Der dramatische Niedergang der weltweiten Fischbestände durch Überfischung ist nur ein Beispiel, das neben der Verschmutzung der Meere aus verschiedenen Quellen zu nennen ist. Beides zeigt, wie wenig der Mensch in der Realität trotz aller politischen Versprechungen an einem Umgang mit dem Meer und seinen Ressourcen interessiert ist, der heutigen und künftigen Generationen dient, ohne Meeresökosystemen irreparablen Schaden zuzufügen. Zwar sind politische Bekenntnisse zu einem verbesserten Meeresschutz wichtig, allein um Aufmerksamkeit in Politik und Zivilgesellschaft zu erzeugen. Es darf dabei aber nicht bleiben. Dass der Schutz der Ozeane als ein eigenes Nachhaltigkeitsziel (sustainable development goal), das so genannte „SDG 14“, auf der internationalen Agenda sichtbar positioniert ist, ist ein wichtiges Zeichen. Die erste Ozeankonferenz der Vereinten Nationen im Juni 2017 hatte die Umsetzung dieses Ziels in nationale, regionale und globale Strategien zu Ziel. Die vielen freiwilligen Verpflichtungen von verschiedenen Akteuren – Staaten, internationale Organisationen, Nicht-Regierungsorganisationen – sind beeindruckend, werden sich aber – wie alle bisherigen Bemühungen und Bekenntnisse – an der erkennbaren Verbesserung des Zustands unserer Meere und Ozeane messen lassen müssen. Das internationale Seerecht leistet einen wichtigen Beitrag, verschiedenste Fragen über die staatliche Herrschaft über die Meere und ihre Grenzen mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit zu regeln. Dazu gehören inzwischen Themen, die auf

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den ersten Blick nicht unmittelbar mit Herrschaft über das Meer zu tun haben – z.B. Schifffahrt, wissenschaftliche Meeresforschung oder der Meeresumweltschutz –, die sich aber in ihrer Ausgestaltung zurückführen lassen auf die Frage, welcher Staat in welchem Bereich des Meeres Rechte zur Regelung und Durchsetzung besitzt. Der Umfang der staatlichen Regelungsgewalt in verschiedenen Meereszonen aber gründet auf Hoheitsrechte, d.h. Herrschaft über das Meer. Nur dort, wo kein Staat räumliche Hoheitsgewalt ausübt, sucht das Seerecht andere Mechanismen der Setzung und Durchsetzung bestimmter Standards für die Nutzung der Meere. 1. HERRSCHAFT ÜBER DAS MEER IM WANDEL DER ZEIT a) Seemächte und militärische Bedeutung der Meere Macht auf dem und über das Meer war bereits im Altertum ein entscheidender Faktor, das eigene Territorium nicht nur zu verteidigen, sondern zu vergrößern und Handelswege zu sichern. Wer als Seemacht über das Meer herrschte, hatte beste Möglichkeiten, auch über das Land zu herrschen. Der Seekrieg und die effektive militärische Kontrolle von Handelsrouten sicherten Herrschaft, Stabilität und Wohlstand. Die schier endlosen Kriege des 17. und 18. Jahrhunderts zwischen den Europäischen Mächten wurden nicht zuletzt als Seekriege geführt und entschieden. Die ständige Möglichkeit des Angriffs von See aus bedingte gleichzeitig die Notwendigkeit der Verteidigung von Land aus und begründete schon früh staatliche Ansprüche jedenfalls auf eine Verteidigungszone entlang der Küste, in der unbedingte Kontrolle ausgeübt wurde. Die im 17. Jahrhundert begründete „Kanonenschussregel“ beruhte auf der tatsächlichen Kontrolle des Küstenmeeres durch Artillerie von Land aus. Sie wird häufig dem Niederländer Cornelius van Bynkershoek zugeschrieben. Tatsächlich hat er diese Regel wohl nicht selbst erfunden, sondern lediglich bestätigt und schriftlich festgehalten. Vielmehr scheint es ein tradiertes Rechtsprinzip jener Zeit gewesen zu sein, dass die Herrschaft über das Staatsgebiet – einschließlich der vorgelagerten Meeresgebiete – dort endet, wo die Reichweite der Verteidigung mit Waffen ein Ende findet (terrae dominum finitur, ubi finitur armorium vis). Diese Regel war mit verschiedenen Unsicherheiten behaftet. Eine davon bezog sich darauf, ob sich der Anspruch auf das Meer nach der theoretischen Möglichkeit der Verteidigung mit zu der jeweiligen Zeit verfügbaren Artilleriegeschossen richtete oder ob nur derjenige Staat, der tatsächlich Geschütze an den Küsten postiert und jederzeit physisch in der Lage war, das vorgelagerte Meer gegen Angriffe durch und mit Schiffen zu verteidigen, auch Hoheitsrechte daran hatte. Auch hätte sich die Breite des kontrollierten Raumes mit der Entwicklung neuer Waffen mit größerer Reichweite verändern müssen. Daran schloss sich die jahrzehntelange Uneinigkeit über die Bemessung des Küstenmeeres an. Der Gedanke einer seewärtigen „Verteidigungszone“ ist aber geblieben. Auch in unserer Zeit gewährt das Seerecht noch eine „Pufferzone“, die so genannte „Anschlusszone“, in der Kontrollrechte ausgeübt werden dürfen, um Gefahren für die Integrität des Küstenstaates durch die unmittelbar bevorstehende Verletzung von Zollvorschriften,

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Einwanderungsbestimmungen und Regelungen zum Schutz vor Krankheiten, um nur einige Beispiele zu nennen, abzuwenden. Heute, nach dem Niedergang der großen Seemächte und insbesondere in Friedenszeiten, betrachten wir die Herrschaft über das Meer ganz überwiegend vom Land aus. Nicht derjenige, der über das Meer herrscht, erwirbt Rechte am Land, sondern derjenige der Ansprüche auf Territorium am oder im Meer geltend macht, erhält Rechte am Meer als Dreingabe. Das schließt nicht aus, dass militärische Präsenz auf dem Meer auch in modernen Konflikten eine erhebliche Rolle spielt. Der Bau von mehreren Flugzeugträgern durch China und die Flottenpräsenz der USA im Pazifik sprechen eine Sprache, die belegt, dass das Meer als Schauplatz von Macht und Muskelspielen noch lange nicht ausgedient hat. Die Meere haben ihre geostrategische Relevanz nicht verloren. Militärische Manöver in spannungsgeladenen Regionen, wie die regelmäßigen gemeinsamen Übungen der USA mit Südkorea und teilweise auch mit Japan vor der südkoreanischen Küste, und Blockaden, wie die Abriegelung des seewärtigen Zugangs zum Gaza-Streifen durch Israel, zeigen, dass die Meere keineswegs nur als Fischgründe und Transportmedium betrachtet werden. Die Sicherung der Handelswege, insbesondere durch Meerengen wie die Straße von Malakka oder die Straße von Hormuz, ist auch in unseren modernen Zeiten weiterhin ein bedeutendes Anliegen. Und dennoch geht es bei der Demonstration militärischer Stärke auf See zumeist nicht länger um den Erwerb von Territorium und auf Ausschließlichkeit beruhende Ansprüche am Meer durch die tatsächliche Herrschaft über das Wasser. Das Gewaltverbot – verankert in Art. 2 Abs. 4 der Charta der Vereinten Nationen –, das Kriegsführung nicht länger als legitimes Mittel der Durchsetzung politischer, territorialer oder wirtschaftlicher Interessen begreift, ist ein Faktor, der zu einer Umkehr der Betrachtung des Verhältnisses von Meer zum Land bei der Begründung territorialer Ansprüche führt. Überlegene Seekriegsführung wirkt nicht länger anspruchsbegründend, sondern territoriale Ansprüche über das Land sind die Grundlage, um Ansprüche über Meeresgebiete geltend zu machen. Die oben angeführte seewärtige Verteidigung des Landes ist dabei in den Hintergrund getreten. Vielmehr dient das Land inzwischen vor allem als Begründung für Ansprüche über ausschließliche Nutzungsrechte an Meeresressourcen. b) Die Teilung der Welt im 15. Jahrhundert Wem aber gehören die Ozeane? Wie definiert sich Herrschaft über die Meere, wenn man von reiner militärischer Macht absieht? Wo endet sie? Wenn man diese Fragen Ende des 15. Jahrhunderts, dem Zeitalter der Entdeckungen, stellte, war die Antwort jedenfalls in der Theorie einfacher zu beantworten als heute: die eine Hälfte der Welt einschließlich der Ozeane und der dort befindlichen neu entdeckten und noch nicht entdeckten Gebiete war Spanien, die andere Hälfte Portugal zugewiesen worden. Im Jahr 1493, unmittelbar nach der Entdeckung der Neuen Welt, hatte Papst Alexander VI. die Welt mittels der päpstlichen Bulle Inter Caetera in zwei

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Hälften geteilt und zwischen Spanien und Portugal, den beiden maßgeblichen Seemächten der damaligen Zeit, aufgeteilt. Dieser päpstliche Akt ist also von effektiven, d.h. militärischen Möglichkeiten dieser beiden Mächte, Herrschaft über die Meere auszuüben, kaum zu trennen. Die einschlägige Trennungslinie zwischen den beiden Königreichen verlief von Pol zu Pol etwas westlich der Kapverden durch das Meer. Alles westlich davon gehörte laut päpstlichem Dekret zu Spanien, alles östlich davon zu Portugal. Im Jahre 1494 verschoben Spanien und Portugal diese Linie durch den Vertrag von Tordesillas noch etwas weiter westlich, ohne damit aber die Idee der Zweiteilung der Welt einschließlich der Weltmeere in Frage zu stellen. Eine solche Einteilung durch päpstlichen Erlass oder bilateralen Staatenvertrag, der die anderen der inzwischen über 190 Staaten der Welt ausschließt, erscheint uns heute undenkbar. c) Hugo Grotius und die Freiheit der Meere Ganz unproblematisch war diese Teilung der Welt durch päpstliche Bulle und Vertrag allerdings auch damals nicht: zum einen stritt man weiter über den Verlauf der Linie im Pazifik – sowohl Spanien als aus Portugal beanspruchten z.B. die Molukken für sich – und zum anderen erkannten andere Staaten wie die Niederlande und Großbritannien diese Aufteilung nicht an, mit der sie und alle weiteren Staaten von der Nutzung der Meere ausgeschlossen werden sollten. Förmlich aufgehoben wurde die Demarkationslinie erst im Jahre 1750. Zu diesem Zeitpunkt war die Herrschaft über Länder und Meere in der Realität aber ohnehin bereits eine ganz andere. Ende des 16. Jahrhunderts stiegen die Niederländer zu einer Handelsmacht auf, die die freie Durchfahrt für ihre Schiffe in weiten Teilen der Meere beanspruchten, um nicht zuletzt am Gewürzhandel zu partizipieren. Als ein niederländisches Schiff von Portugal unter Berufung auf ein Handelsmonopol durch die besagte päpstliche Bulle festgehalten wurde, engagierten die Niederländer den jungen Juristen namens Hugo Grotius, der begründen sollte, warum die Aufteilung der Ozeane keinen Bestand haben könne. In seiner kleinen Schrift über das freie Meer, „Mare Liberum“, argumentierte Grotius dann, dass die Ozeane so unendlich weit seien, dass kein Staat effektive Herrschaft darüber ausüben könne. Ausgenommen sei nur ein schmaler Streifen unmittelbar an der Küste, der der Kontrolle der Küstenstaaten unterliegen solle. Ohne wirksame staatliche Herrschaft über die Meere als solche aber, müsse es ein Recht auf freie Durchfahrt und ein Recht auf Fischerei für alle Staaten bzw. die unter ihren Flaggen segelnden Schiffe geben. Die Notwendigkeit von „Lizenzen“ für die Schifffahrt auf Hoher See sollten damit ebenso ausgeschlossen werden wie das Aufbringen und Festhalten von Schiffen, die von diesen Freiheiten Gebrauch machten. Trotz der ursprünglichen Vormachtstellung Spaniens und Portugals, fanden die Ideen von Grotius auch bei jenen Staaten, die nicht Gegenstand der päpstlichen Bulle gewesen waren, nicht notwendig Gefallen. Der britische Gelehrte John Selden beispielsweise ist als Kontrahent von Hugo Grotius im „Kampf der Bücher“ bekannt geworden. Großbritannien war zwar mit der exklusiven Aufteilung der

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Ozeane zwischen Spanien und Portugal nicht einverstanden, hatte aber an dem Konzept der ausgedehnten Herrschaft über Meeresgebiete dann nichts auszusetzen, wenn dies britische Herrschaft über die Ozeane einschloss. In diesem Sinne argumentierte Selden, dass die Herrschaft über das Land auch Herrschaft über die Meere begründen müsse und damit auch das Recht einhergehe, andere von der Nutzung auszuschließen. Im Gegensatz zum „Mare Liberum“ steht ein „Mare Clausum“, ein geschlossenes Meer, im Vordergrund der Argumentation. Die Gegenpole der Herrschaft über das Land als Begründung der Herrschaft über jedenfalls Teile des Meeres einerseits und die Freiheiten der Hohen See, d.h. die Begründung eines herrschaftsfreien Raumes, soweit damit ausschließliche räumliche Hoheit gemeint ist, andererseits beschäftigen uns bis heute. d) Die Bedeutung der Küste für Herrschaft über das Meer Oben ist bereits von der Bedeutung des Landes für Herrschaftsansprüche über das Meer die Rede gewesen. Eine einfache Faustformel, die der Internationale Gerichtshof für unsere Zeit bestätigt hat, besagt: keine Küste = keine staatliche Hoheit über Meeresgebiete. Herrschaft über das Meer folgt in heutiger Zeit, in der erfolgreiche Seekriegsführung nicht mehr als legitime Herrschaftsbegründung taugt, den souveränen Territorialansprüchen über das Land. Maßgeblich dafür ist außerdem nicht länger die Verteidigungsfähigkeit, d.h. die physische Kontrolle über das Meer, sondern allein das Vorhandensein von am Meer gelegenen Territorium. Das erfordert, dass es einen Übergang von dem entsprechenden Land zum Meer geben muss, d.h. eine Küste. Diese kann Teil des Festlandes oder einer Insel sein. Auch wenn es fast zwangsläufig klingt, war es erst der Internationale Gerichtshof in den Fällen zur Abgrenzung des Festlandsockels zwischen Deutschland, Dänemark und den Niederlanden in der Nordsee, der im Jahre 1969 klarstellte, dass das entscheidende Kriterium, das Staaten mit räumlichen Herrschaftsrechten über das Meer von solchen ohne entsprechende Rechte unterscheidet, die Existenz einer Küste sei. Je nachdem wie lang die Küste ist, wie sie geformt ist, ob Inseln vorgelagert sind oder nicht, verändern sich Form und Ausdehnung der Meereszonen, über die der Küstenstaat staatliche Hoheit ausübt. Das gilt insbesondere auch im Verhältnis zu den angrenzenden oder gegenüberliegenden Nachbarn. Dennoch eröffnet jedes irgendwie geartete Stück Küste die Möglichkeit Meeresgebiete zu beanspruchen und – gegebenenfalls – die Abgrenzung mit anderen Staaten auszuhandeln oder gerichtlich feststellen zu lassen. Der Grundsatz der Notwendigkeit einer Küste, um Herrschaft über das Meer auszuüben, schließt einen nicht unerheblichen Teil der Staaten – nämlich etwa 45 – zwar nicht von der Nutzung der Meere, wohl aber von räumlichen Ansprüchen über Meeresgebiete aus. Maritime Interessen haben diese Staaten sehr wohl. Das zeigt sich auch daran, dass Binnenstaaten Vertragspartei zum Seerechtsübereinkommen werden und darin ausdrücklich erwähnt werden. Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, von dem noch die Rede sein wird, fungiert als eine Art zwischenstaatliche Verfassung für die Ozeane und klärt für die derzeit 168

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Vertragsparteien u.a. verbindlich die maximale Breite von Meereszonen, die Rechte in Archipelgewässern, Freiheiten der Hohen See, Ressourcenrechte und Pflichten zum Meeresumweltschutz. Der Tschad ist dem Übereinkommen 2009 beigetreten, Niger vor vier Jahren. Nepal aber beispielsweise ist seit 1998 Partei zum Seerechtsübereinkommen, die Mongolei seit 1996, Österreich seit 1995. Helmut Türk war neun Jahre lange der österreichische Richter am Internationalen Seegerichtshof in Hamburg und damit Mitglied einer Institution, die im Streitfall zwischen Vertragsparteien über die Auslegung und Anwendung des Seerechtsübereinkommens entscheidet. Letztlich haben gerade die Binnenstaaten ein besonderes Interesse, von den Küstenstaaten nicht benachteiligt zu werden. Sie benötigen den Zugang zum Meer, sie müssen sich Nutzungsrechte an Meeresschätzen erkämpfen, während die Staaten, die Meeresgebiete wasserseitig ihrer Küsten beanspruchen ohnehin inhärente Rechte über die natürlichen Ressourcen haben. Die geographische Lage allein ist bereits Nachteil genug und bedarf aus Sicht der Binnenstaaten eines Ausgleichs durch Beteiligungsrechte jedenfalls aber einer Berücksichtigung ihrer Interessen in der internationalen Auseinandersetzung. Mehr als ein Krieg hatte unter anderem das Ziel, den Verlust des Meereszuganges zu verhindern oder einen solchen wieder zu erlangen. Im Zuge der gewaltsamen Abspaltung Eritreas war es seitens Äthiopiens ein ganz wesentliches Ziel der bewaffneten Auseinandersetzung die Verhinderung, zu einem Binnenstaat ohne eigenen Hafen zu werden. Der Vertrag von Versailles sah einen polnischen Korridor durch deutsches Gebiet vor, um Polen Ostseezugang zu gewähren, auch die Gründung der „Freien Stadt Danzig“ hatte das Ziel, den Meereszugang zu gewährleisten. Bosnien-Herzegowina hat einen schmalen Korridor zur Stadt Neum, der das kroatische Staatsgebiet an der Adriaküste teilt und darüber einen eigenen Meereszugang mit etwa 20 km Küste; allerdings keinen eigenen Handelshafen. Neben vielen anderen rechtlichen und politischen Fragen, ist es eine Ursache der Streitigkeiten zwischen China, Vietnam, den Philippinen und anderen Anrainern des Südchinesischen Meeres, dass nicht geklärt ist, welche Inselchen, Felsen und sonstige Erhebungen im Meer zu welchem Staatsgebiet gehören. Wenn die Herrschaft über das Land nicht geklärt ist, fehlt nach dem heutigen Verständnis der Herrschaft über das Meer die rechtliche Grundlage für die räumlichen Rechte am Ozean. Der Ansatz, dass ein Staat aufgrund historischer Rechte ein Meer beansprucht und daraus die Souveränitätsrechte – gleichsam Besitzansprüche – über die darin liegenden Inseln ableitet, wird von der Staatengemeinschaft nicht länger anerkannt, auch wenn sich China im Streit um die Hoheit im Südchinesischen Meer gelegentlich auf diesen Zusammenhang von Herrschaft über Meer und Land beruft. Damit steht zwar fest, dass im heute geltenden Seevölkerrecht staatliche Territorialansprüche am Land und vor allem der Besitz einer Küste notwendige Voraussetzungen für Ansprüche auf Meeresgebiete sind. Darin eingeschlossen sind die in den anerkannten Meereszonen befindlichen Meeresschätze und entsprechende Nutzungsrechte daran. Daraus ergibt sich aber noch nicht, wie weit die Meeresgebiete reichen, die das Seerecht einem Küstenstaat als Teil seines Staatsgebiets zuweist. Über diese Frage haben Staaten lange keine einvernehmliche Antwort gefunden.

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e) Die Breite des Küstenmeeres Als Küstenmeer oder Territorialgewässer wird der Streifen des Meeres bezeichnet, der dem Küstenstaat als (fast) uneingeschränktes Herrschaftsgebiet unmittelbar angrenzend an die Küste von Festland oder Inseln zugewiesen wird. Das Wasser des Küstenmeeres, sein Meeresboden und der Bodenuntergrund wie auch die Luftsäule darüber gehören zum Staatsgebiet. Für das Staatsgebiet gilt im Grundsatz die vollkommene Regelungs- und Durchsetzungsgewalt. Eine Einschränkung der Herrschaft des Küstenstaates zu Gunsten der Freiheit der Schifffahrt gilt nur für die so genannte „friedliche Durchfahrt“ von Schiffen unter fremder Flagge. Die Liste an Tatbeständen, die aus einer Durchfahrt eines Schiffes durch die Territorialgewässer eines Küstenstaates eine „nicht-friedliche“ macht, was wiederum mit dem Verlust des Rechtes auf eine ungestörte Passage einhergeht, ist lang und beinhaltet nicht nur im engeren Sinne unfriedliche Akte wie die Bedrohung des Küstenstaates mit Waffengewalt, sondern auch unerlaubte Meeresforschung, Fischerei und Spionage. Das Ende des Küstenmeeres ist folglich Staatsgrenze, an der die Einreisebedingungen des Küstenstaates gelten. Jede Person, die diese Grenze überquert, begibt sich in die Hoheitsgewalt des jeweiligen Staates, ganz genauso, als ob eine Landesgrenze im wörtlichen Sinne überwunden wird. Es ist für den Küstenstaat daher von unmittelbarer Bedeutung, wo er diese Meeresgrenze ziehen und um wieviel marinen Raum er sein Staatsgebiet vergrößern darf. Es verwundert daher nicht, dass einzelne Staaten den Versuch unternommen haben, ein Gebiet von bis zu 200 sm von ihren Küsten als Küstenmeer und damit als Staatsgebiet zu beanspruchen. Im 17. Jahrhundert war die oben bereits erwähnte so genannte „Kanonenschuss-Regel“ weitgehend anerkannt, um mittels der möglichen seewärtigen Verteidigung von Land aus, einen Streifen des Küstenmeeres als exklusive Einflusssphäre zu beanspruchen. Die Reichweite der Kanonenschuss-Regel wurde schließlich pauschal mit einer Breite des dadurch begründeten Küstenmeeres von 3 sm beziffert, wenngleich dies nie vertraglich fixiert wurde. Als Staaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Versuch unternahmen, multilaterale Vereinbarungen über seerechtliche Fragen, einschließlich der Breite des Küstenmeeres und der Rechte am Festlandsockel, zu schließen, bestand jedoch keine Einigkeit mehr über die Breite der Territorialgewässer bis zu einer Grenze von maximal 3 sm. Einige Staaten beanspruchten zwar weiterhin 3 sm als Küstenmeer, viele aber 6 sm, einige 12 sm, wieder andere 50 sm. Bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde offenbar, dass die immer vielfältigeren Nutzungen der Meere klare zwischenstaatliche Regelungen über die Breite des Küstenmeeres und andere staatliche Einflusszonen, z.B. Fischereizonen und einen definierten Festlandsockel, verlangten. Erst nach der Gründung der Vereinten Nationen begann mit den Seerechtskonferenzen eine zielgerichtete multilaterale Zusammenarbeit mit dem Ziel, eine umfassende Kodifikation des Seerechts – möglichst ein einem einzigen Vertrag – zu erreichen. Während der ersten Sitzung der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen im Jahre 1949 waren die Themen des Küstenmeers und die Regelung der Hohen See als Themen identifiziert worden, deren Regelung kodifiziert, d.h. in einem multilateralen Vertrag verbindlich niedergelegt, werden sollte. Der Wunsch,

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die Themen in einem einzigen vertraglichen Regelungswerk zusammenzufassen, blieb zunächst unerreicht, als die Staaten am Ende der Ersten Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen 1958 gleich vier Genfer Seerechtskonventionen zu verschiedenen Themenbereichen beschlossen: das Übereinkommen über das Küstenmeer und die Anschlusszone, das Übereinkommen über die Hohe See, das Übereinkommen über die Fischerei und die Erhaltung der lebenden Schätze der Hohen See und das Übereinkommen über den Festlandsockel. Der erste Entwurf der Völkerrechtskommission zur Kodifikation des Seerechts hatte noch eine einzige, systematisch gegliederte Konvention vorgesehen, die alle Themenbereiche in sich vereinte. Die Aufteilung in verschiedene Einzelverträge hat den Nachteil, dass die Mitgliedschaft der Staaten im Vergleich der Verträge zueinander variiert, obwohl die Themenbereiche eng zusammenhängen. So verzeichnet das Genfer Übereinkommen zur Hohen See 63 Parteien, während das Übereinkommen zum Küstenmeer und der Anschlusszone nur die Zustimmung von 52 Staaten fand. Auch Deutschland wurde Partei zur erstgenannten Konvention, nicht aber zur zweiten, obwohl die Frage der Befugnisse im Küstenmeer einerseits und auf der Hohen See andererseits miteinander verknüpft sind. Das Übereinkommen zum Festlandsockel unterzeichnete Deutschland zwar am 30. Oktober 1958, ratifizierte den Vertrag aber nie, so dass keine völkerrechtlich verbindliche Mitgliedschaft bestand. Auch zu einer Mitgliedschaft im Fischereiübereinkommen konnte Deutschland sich damals nicht durchringen. Heute haben die Genfer Seerechtsübereinkommen kaum noch eigenständige Bedeutung, weil das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen diese jedenfalls für seine 168 Parteien abgelöst hat. Dass sich eines der vier Abkommen aus dem Jahr 1958 mit dem Küstenmeer befasste, bedeutet nicht, dass sich die Staaten über die Breite desselben einigen konnten. Die Ausdehnung der Territorialgewässer wird von dem Genfer Seerechtsübereinkommen über das Küstenmeer und die Anschlusszone offengelassen. Zwar bestimmt der Vertrag, dass die Küstenstaaten Hoheitsrechte über das Küstenmeer ausüben und Schiffe unter fremder Flagge ein Recht friedlicher Durchfahrt genießen, wo dieser Bereich beginnt, war international aber nicht festgelegt, sondern richtete sich nach dem staatlichen Recht. Zu groß waren die Meinungsverschiedenheiten der verhandelnden Staaten. Erst die Dritte Seerechtskonferenz, die nach neun Jahren regelmäßiger Verhandlungen 1982 mit der Annahme des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen endete, führte eine Einigung herbei. Das Seerechtsübereinkommen ist der Meilenstein der Kodifikation des Seerechts. Nicht nur die Breite des Küstenmeeres, auch andere Meereszonen und ihre Ausdehnung, die Zuweisung von Rechten an Meeresressourcen, die Meeresforschung und weitere relevante Themen der Nutzung und des Schutzes der Meere sind darin festgelegt. Das heutige allgemein anerkannte Limit des Küstenmeers liegt bei maximal 12 sm. Gemessen wird diese Breite von den Basislinien an den Küsten aus. Das ist im Regelfall die Niedrigwasserlinie, die als Ausgangspunkt für die Messung aller heutigen Meereszonen dient, also auch für solche, wie die Ausschließliche Wirtschaftszone, die zwar nicht mehr zum Staatsgebiet gehört, aber ausschließliche Rechte an Ressourcen vermittelt. Auch Inseln haben im Übrigen ein Küstenmeer, selbst Felsen. Die Fläche, über die ein Staat Hoheit ausübt, vergrößert sich also erheblich,

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wenn Inseln – auch weit entfernt vom Festland liegende – als Teil des Staatsgebietes beansprucht werden. 2. RECHTE AN MEERESRESSOURCEN AUSSERHALB DES KÜSTENMEERS In wirtschaftlicher Hinsicht noch wichtiger als das Küstenmeer sind die Ausschließliche Wirtschaftszone und der Festlandsockel. Sie gehören zwar nicht zum Staatsgebiet, vergrößern das Territorium eines Staates also nicht, der Küstenstaat hat aber ausschließliche Nutzungsrechte an den natürlichen Ressourcen. D.h. Fischerei, Ölund Gasförderung, aber auch die Nutzung von Windenergie unterstehen der Hoheit des jeweiligen Küstenstaates. Beide Zonen messen im Regelfall bis zu 200 sm von den Basislinien. Der Festlandsockel kann sogar noch „erweitert“ werden, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen vorliegen, d.h. wenn ein noch weiter in da Meer hinausreichendes Kontinentalschelf von der Küste dieses Staates ausgeht. Die Fortführung des Landes des Küstenstaates als Meeresboden spielte eine entscheidende Rolle als Argument der so genannten „Truman Proclamation“ der USA zum Festlandsockel aus dem Jahr 1945. Darin hielten die Vereinigten Staaten fest, dass sie die natürlichen Ressourcen des Meeresbodens und –untergrundes im Anschluss an die Küste der USA als zum Staate zugehörig betrachten und Hoheitsrechte darüber ausüben würden. Diese Erklärung bezog sich ausschließlich auf den Boden, nicht aber auf die darüber befindliche Wassersäule. Nutzungsrechte an den Ressourcen des Wassers erklärten Staaten allerdings alsbald vor allem als „Fischereizonen“ unterschiedlicher Breite, bevor das Seerechtsübereinkommen ein einheitliches Konzept der Ausschließlichen Wirtschaftszone einführte. Die Hohe See wie auch der Tiefseeboden jenseits der Festlandsockel sind „staatsfreie“ Räume. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie regelungsfrei wären. Die Nutzung ist für beide Bereiche sehr unterschiedlich organisiert. Für die Hohe See gelten weiterhin überwiegend die Freiheiten der Nutzung. Das Seerechtsübereinkommen nennt die Schifffahrt, Überflug, Fischerei, das Verlegen von Kabeln und Rohrleitungen und die Meeresforschung. Diese Freiheiten sind zwar nicht vollkommen unbeschränkt, aber eben auch nicht zentral und einheitlich geregelt. Für die Manganknollen aus den Tiefen der Ozeane, die erstmals während der Forschungsreise der HMS Challenger im späten 19. Jahrhundert entdeckt worden waren, und andere mineralische Ressourcen haben die Vertragsstaaten zum Seerechtsübereinkommen eigens eine internationale Organisation gegründet. Die Internationale Meeresbodenbehörde mit Sitz auf Jamaika reguliert die Exploration und zukünftige kommerzielle Förderung dieser Ressourcen durch ein System von zeitlich befristeten Lizenzen. Genaugenommen war es die Sorge, dass ein ungehinderter Abbau dieser Ressourcen nach dem „Windhundprinzip“ durch diejenigen Staaten, die dazu technisch in der Lage wären, zu derartigen politischen Spannungen führen könnte, dass militärische Konflikte über die Nutzung des Meeresbodens ausbrächen, die den Ausschlag für die Dritte Seerechtskonferenz gaben. Der Bot-

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schafter Maltas bei den Vereinten Nationen, Arvid Pardo, bewegte die Staatenvertreter in einer langen Rede vor der Generalversammlung im Jahr 1967, in der er dazu aufrief, die Ozeane und die darin enthaltenen Ressourcen, vor allem aber die Schätze der Tiefsee, zum gemeinsamen Erbe der Menschheit zu erklären und gemeinsam zum Nutzen aller zu verwalten, um bewaffnete Konflikte zu vermeiden. Damals ging man davon aus, dass die Vorräte bestimmter Metalle an Land zur Neige gingen und der ökonomisch lohnenswerte Abbau metallischer Ressourcen am Tiefseeboden unmittelbar bevorstand, so dass Pardo die Dringlichkeit des Themas plausibel machen konnte. Inzwischen haben wir ein entsprechendes institutionelles Regime, aber trotz wiederkehrender Sorge vor der Endlichkeit terrestrischer Ressourcen oder der Monopolstellung bestimmter Länder bei Seltenen Erden hat noch kein Unternehmen mit dem kommerziellen Abbau von mineralischen Tiefseeressourcen begonnen. 3. SCHWIERIGKEITEN UND HERAUSFORDERUNGEN Schwierigkeiten und Herausforderungen, die an das Seerecht herangetragen werden, sind vielgestaltig, haben sich im Laufe der Geschichte aber verändert. Der Schutz der Meere vor Überfischung, aber auch vor Verschmutzung stehen derzeit im Vordergrund, leiden aber an verschiedenen Schwächen. Zum einen gibt es für einige Bereiche nur unvollständige Regelungen. So ist z.B. die Fischerei auf Hoher See nicht in allen Bereichen und nicht für alle Bestände gleich und gleich gut geregelt. Die Ausweisung verbindlicher mariner Schutzgebiete auf Hoher See ist derzeit praktisch nicht möglich, weil sich alle Staaten einig sein müssten, wenn die Freiheiten der Hohen See in diesen Bereichen eingeschränkt werden sollten. Mindestens ebenso wichtig – vermutlich sogar noch wichtiger – ist aber, dass bestehende Regelungen nicht immer umgesetzt und durchgesetzt werden. Das Völkerrecht insgesamt leidet an einem Durchsetzungsdefizit und das gilt auch für das internationale Seerecht. Selbst in den Bereichen, in denen eher zu viele als zu wenige Regelungen auf globaler und regionaler Ebene bestehen, gibt es kaum Instanzen, die effektiv über ihre Einhaltung wachen. Die illegale Fischerei ist ein ganz erhebliches Problem, das die Hohe See, aber auch die Ausschließliche Wirtschaftszone von Staaten betrifft. Eine Idee hinter den exklusiven Rechten an den lebenden Ressourcen der Ausschließlichen Wirtschaftszone war es, nicht zuletzt den Entwicklungsländern mehr Rechte über Ressourcen zu geben und gleichzeitig, über die Zuweisung von ausschließlichen Nutzungsrechten zu einem verbesserten Schutz der Bestände zu gelangen. Die „Allmende“-Problematik, die aus den Freiheiten der Hohen See resultiert, wenn alle unregulierten Zugang zu einem gemeinsamen Gut haben und jeder nur auf seinen eigenen kurzfristigen wirtschaftlichen Vorteil bedacht ist, sollte so abgefangen werden. Der ganz überwiegende Anteil der ökonomisch relevanten Fischerei spielt sich nämlich in den Ausschließlichen Wirtschaftszonen von Staaten und nicht auf Hoher See ab. Dass mit der Regelungshoheit der Küstenstaaten automatisch auch eine am langfristigen Erhalt der Ressource orientierte nachhaltige Bewirtschaftung einhergeht,

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hat sich indes als Trugschluss erwiesen. Teilweise lassen sich Staaten nicht von Nachhaltigkeitskriterien leiten, teilweise wird die Einhaltung nicht kontrolliert, teilweise kann ein Küstenstaat seine Wirtschafszone auf Grund fehlender Kontrollkapazitäten gar nicht wirksam überwachen und fremde Schiffe nicht daran hindern, ohne Lizenz zu fischen. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass auf Hoher See weiterhin für die allermeisten Regelungsbereiche das Flaggenstaatenprinzip gilt. Auch dies ist eine Folge der Konzeption von Hugo Grotius zur Freiheit der Hohen See. Weil kein Staat räumliche Herrschaft über die Hohe See ausübt, können fremde Schiffe nicht kontrolliert werden. Allein der Staat, unter dessen Flagge ein Schiff fährt, darf die Einhaltung internationaler Standards auf Hoher See durch seine Schiffe überwachen und durchsetzen. Das bedeutet, dass auf Hoher See Marineschiffe keine fremden Schiffe kontrollieren dürfen, selbst wenn es konkrete Hinweise auf rechtswidriges Verhalten derselben gibt. Eine Ausnahme davon gilt für Piraterie, die seit der Antike als Übel der Menschheit gilt und von allen Staaten auf Hoher See bekämpft und gerichtlich geahndet werden darf. Auch ziehen sich Institutionen zurück oder gelangen an die Grenzen ihrer Zuständigkeit, wenn die Ausübung staatlicher Herrschaft durch zwei oder mehrere Staaten über ein Meeresgebiet umstritten ist. Die Festlandsockelgrenzkommission – eine weitere durch das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen gegründete Institution – gibt zwar Empfehlungen dazu ab, in welcher Entfernung ein Staat die äußere Grenze des Festlandsockels festlegen kann, wenn diese weiter als 200 sm von der Küste entfernt liegen soll. Für umstrittene Gebiete allerdings, darf die Kommission keine Empfehlungen geben. Das gilt z.B. für den zentralen Arktischen Ozean. Russland, Kanada und Dänemark (Grönland) haben – in verschiedenen Stadien – überlappende Ansprüche auf den Meeresboden unter dem Nordpol vorgetragen. Eine Lösung kann nur in einer Einigung der Staaten liegen. Auch in anderen Konflikten, z.B. im Falle des Südchinesischen Meers, gelangt das Seerecht an seine Grenzen und bleibt es im Wesentlichen den beteiligten Staaten überlassen, eine friedliche Lösung zu finden. 4. AUSBLICK Noch nie in der Geschichte des Seerechts gab es so viele Regelungen zur Nutzung und zum Schutz der Meere. Der Versuch der Staaten, nach neunjährigen Verhandlungen mit dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen eine Verfassung für die Ozeane zu schaffen, ist als großer Erfolg zu werten. Dass wir das Abkommen heute als lückenhaft empfinden, weil zum Beispiel die Auswirkungen des Klimawandels auf die Meere nicht adressiert wird und der Zugang zu und die Nutzung von genetischen Ressourcen im Ozean nicht ausdrücklich erfasst wird, liegt daran, dass die Bedeutung dieser Fragen im Jahre 1982 nicht vorausgesehen werden konnte. Das Übereinkommen wird ergänzt durch eine Vielzahl weiterer globaler und regionaler Verträge zu bestimmten Fragen insbesondere des Meeresumweltschutzes.

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Es gibt auch weiterhin Entwicklungen im internationalen Seerecht, mit deren Hilfe Staaten versuchen, Lücken zu schließen und die Meere besser zu schützen, zu verwalten und nachhaltig zu nutzen. Die intensiven Diskussionen und Verhandlungen zur Vorbereitung eines verbindlichen Abkommens, das sich mit Fragen des Schutzes der biologischen Vielfalt in der Hohen See und am Tiefseeboden befassen, zeugen davon und werden die Staatengemeinschaft die nächsten Jahre noch beschäftigen. Die Fragen zur räumlichen Herrschaft über das Meer sind auf abstrakter Ebene allerdings abschließend geklärt, auch wenn es weiterhin konkrete Streitfälle zwischen Staaten über Grenzziehungen und die Ausdehnung von Meereszonen gibt. Es geht heute vielmehr um die Bewahrung und an Nachhaltigkeit orientierte Nutzungen des Meeres angesichts der dramatischen Überfischung, des vom Klimawandels ausgehenden zusätzlichen Drucks auf Meeresökosysteme, der Vermüllung der Meere und weiterer Verschmutzung. Auf politischer Ebene ist der Meeresschutz derzeit ein wichtiges Thema: mit dem Nachhaltigkeitsziel 14 werden die Ozeane und ihre Bedeutung für die Menschheit besonders hervorgehoben. Dennoch scheinen die Probleme angesichts des dramatischen Zustands der Ozeane und Meere zu überwiegen. Das Seerecht kann einen Beitrag leisten, diese Probleme aber nicht allein lösen. Das gilt zumal, wenn Prinzipien wie die Flaggenstaathoheit auf Hoher See fortwirken, die sich mit Hugo Grotius erklären lassen, angesichts heutiger Probleme in ihrer Ausschließlichkeit aber nicht mehr zeitgemäß erscheinen. Dies zu ändern und weitere Probleme effektiv zu regeln, erfordert den politischen Willens aller Staaten und ihrer Bevölkerungen.

MIKROKOSMOS AN BORD: DER BEGINN DER MODERNEN KREUZFAHRT Dagmar Bellmann EINFÜHRUNG Die Kreuzfahrtbranche ist ein äußerst erfolgreicher Zweig der Tourismuswirtschaft mit einer immer größeren Diversifizierung der Passagiere, auf die passgenaue Angebote und Schiffstypen zugeschnitten werden. Diese Diversifizierung entspricht einem wesentlichen Merkmal des modernen Massentourismus. Im Jahr 2015 buchten 1,81 Millionen Deutsche eine Kreuzfahrt 1 – und die Zahlen steigen weiter. Kaum jemand kann sich deshalb heutzutage vorstellen, dass vor etwa 150 Jahren das Konzept der Kreuzfahrt nicht nur unbekannt war, sondern Unverständnis, wenn nicht gar pures Entsetzen hervorgerufen hätte. Niemals wäre noch im frühen 19. Jahrhundert ein Reisender auf die Idee gekommen, eine Schiffsreise könne überhaupt so etwas wie Vergnügen bedeuten. Das Meer war den meisten Reisenden vollkommen fremd, und in der westeuropäischen Kultur war die Angst vor dem Meer tief verwurzelt. 2 Zudem verfehlten die zahlreichen schreckenerregenden Berichte über Schiffsreisen ihre Wirkung nicht. Nicht nur zu Zeiten der Segelschifffahrt, sondern auch noch in den ersten Jahrzehnten der Dampfschifffahrt lasen sich die meisten Reiseberichte wie ein Panoptikum des Grauens. Reisen auf See diente reinen Transportzwecken und wurde nur mangels anderer Reisealternativen angetreten. Berühmt geworden sind die satirischen Reisebeschreibungen von Charles Dickens bei seiner ersten Transatlantik-Überfahrt im Jahre 1842 mit dem Schaufelraddampfer Britannia. 3 Aber auch weitaus weniger prominente Reisende waren wenig angetan von ihren Reisen auf See. Zahlreiche Reisende berichten von Langeweile, Seekrankheit, aber auch von Todesangst bei Sturm. So schrieb der Handlungsreisende R. W. Walker von seiner atlantischen Überfahrt 1884 auf der Servia der britischen Cunard Line in sein Tagebuch: “Cannot say when I awoke for I do not know when I slept. It has been a dreadful night: the pitching and rolling worse than ever. I was sleepy but every time I went off I 1 2 3

https://www.vollefahrtvoraus.de/news/kreuzfahrt-studie-zahlen-zu-passagieren-zielen-und-prei sen [Aufruf: 14.01.2018]. Vgl. dazu ausführlich Alain Corbin, Meereslust – Das Abendland und die Entdeckung der Küste 1750–1840 (Berlin: Wagenbach, 1990). Charles Dickens, American Notes [1842] and Pictures from Italy [1846], The Complete Works of Charles Dickens in 30 volumes, illustrated, New York 2009.

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got a good shaking. I cannot describe the movement of last night. Sometimes it seemed as if a very strong man had hold of me and was shoving me head first down some great depth. Then when a wave struck the ship seemed to stand quite still and shake“ 4 Nach damaligem Stand der Technik hätte die Überfahrt von Großbritannien nach New York mit dem Dampfschiff nur 6 ½ Tage dauern sollen. Wegen technischen Ausfällen und heftigen Stürmen benötigte die Überfahrt jedoch schließlich unerträglich lange 17 Tage. Nicht nur Überfahrten über den für seine Stürme gefürchteten Atlantik sorgten für Angst und Schrecken. Auch die Überfahrt über den Ärmelkanal auf das europäische Festland und Fahrten im Mittelmeer bargen genügend Schrecken. So hielt der Handlungsreisende Frederick George Pearson, der im September 1878 geschäftlich an das Mittelmeer reiste, in seinem Tagebuch minutiös seine täglichen Anfälle von Seekrankheit fest, die ihn entweder in seine karge Koje fesselten oder ihn in regelmäßigen Abständen an Deck trieben, um sich über die Reling zu übergeben. Am Ende der Reise notierte er schließlich resigniert: „I am more than convinced now that the sea life would never do for me.“ 5 Unter dem Licht dieser wenig enthusiastischen Reiseschilderungen betrachtet, erscheint es umso erstaunlicher, dass Kreuzfahrten zu beliebten Reisen avancieren konnten. Dies konnte nur aus der Verbindung zwischen modernem Tourismus und Reisen mit Dampfschiffen entstehen. Beides entwickelte sich im Lauf des 19. Jahrhunderts und verband sich schließlich zur neuen touristischen Attraktion der Kreuzfahrt. Das moderne, im Voraus gebuchte und strikt durchorganisierte Reisen ist nicht nur massentauglich und heutzutage für nahezu jeden Geldbeutel erschwinglich geworden, es lässt sich auch als Mikrokosmos bezeichnen, als abgeschlossene Welt in sich. Dieser Mikrokosmos weist drei allgemeine Merkmale auf: Erstens die Reiseorganisation: Der Tourist kann sich innerhalb seines Mikrokosmos aufhalten, ohne dass er gezwungen wäre, diesen zu verlassen. Die Reiseorganisation durch einen Veranstalter stellt alles Notwendige für ihn bereit, so dass der Reisende weder gezwungen ist, für sich selbst zu sorgen, noch auf Hilfe außerhalb der Reiseorganisation angewiesen ist. Zweitens die Technik: Der touristische Mikrokosmos lässt sich nur durch ausgefeilte Technik erzeugen und aufrechterhalten wie beispielsweise eine möglichst lange Lagerung von Lebensmitteln, Schutz vor Kälte und Hitze, pünktliche und zuverlässige Verkehrsmittel etc. Drittens die Sozialpraktiken an Bord: Durch die Abschottung von der Außenwelt entsteht ein Gemeinschaftsgefühl der Reisenden unter sich, welches durch Rituale, gemeinsame Aktivitäten und Vorschriften verstärkt wird. Die Eigenschaften des touristischen Mikrokosmos treffen auf alle Formen des organisierten Reisens zu, von der Kreuzfahrt über die Studienreise bis hin zum 4 5

R.W. Walker, Manuscript of Voyage account aboard Cunard liner Servia [transcript], February 16, 1884, DX/1099, National Museums Liverpool, Merseyside Maritime Museum, 8. Frederick G. Pearson, Diary on a voyage around the Mediterranean on board the Glendale [transcript], 1878, DX/1010/1, National Museums Liverpool, Merseyside Maritime Museum, 60.

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Cluburlaub. Durch die Abgeschlossenheit des Schiffsraums treten jedoch einige der oben beschriebenen Phänomene touristischer Mikrokosmen besonders plastisch hervor: Der Naturraum des Meeres wird durch den Schiffsraum scharf abgegrenzt, das Bordleben ist streng reglementiert und die Beziehungen zur menschlichen Außenwelt sind durch die Landgänge ritualisiert. Der Mikrokosmos des Schiffs wird auf diese Weise als Gegenwelt inszeniert und strukturiert so den Umgang mit dem als fremd – und manchmal als furchteinflößend – empfundenen Meer und den Umgang mit ‚exotischen‘ Menschen und Gesellschaften. Diese drei Merkmale des touristischen Mikrokosmos auf See werden in diesem Beitrag näher erläutert. DIE REISEORGANISATION Eine Kreuzfahrt wird aus rein touristischen Motiven unternommen und enthält immer eine Kombination aus Landausflügen und mehreren Tagen auf See. Das Schröder Tourismuslexikon aus dem Jahr 2007 definiert Kreuzfahrten als „Mehrtägige Schiffsurlaubsreisen, bei denen verschiedene Häfen angelaufen werden. Die Passagiere haben die Möglichkeit, an Landausflügen mit Besichtigungsprogrammen teilzunehmen. Das Arrangement schließt Übernachtung, Verpflegung sowie Unterhaltungsprogramme, Sport und Animation an Bord und häufig auch An- und Rückreise […] ein.“ 6 Der Begriff der Kreuzfahrt entstand jedoch im deutschsprachigen Raum erst um 1960, als die Hapag die Reisen ihrer Hanseatic mit dem Begriff „Kreuzfahrt“ belegte. 7 Zuvor wurden Kreuzfahrten als „Excursionen“ oder „Vergnügungsreisen“, „Sonderfahrten“, „Erholungsreisen“ oder „Gesellschaftsreisen“ angepriesen. 8 Im englischen Sprachraum wurde die Bezeichnung „excursion“ verwendet, und in Frankreich nannte man Vergnügungsreisen zunächst „voyage d’excursion“ und ab der Jahrhundertwende „croisière“. 9 Im deutschen Sprachraum wird häufig die Fahrt der Augusta Victoria der Hapag im Jahr 1891 als Geburtsstunde der klassischen Kreuzfahrt bezeichnet. 10 Die Reise mit 241 Passagieren an Bord begann in Cuxhaven und führte in das Mittelmeer und den Vorderen Orient. 11 Ein Reisebüro zur selbständigen Organisation von Landausflügen befand sich an Bord und nahm Reservierungen während der Fahrt entgegen. 12 Der neue Trend ging mit der Erkenntnis der internationalen Reedereien 6

Günter Schroeder, Das Tourismus Lexikon: 5000 Fachbegriffe aus der Touristik verständlich erklärt, 5. überarb. Aufl., TravelTalk (Hamburg: TourCon Niedecken, 2007), 193. 7 Ibid. 8 Arnold Kludas, Vergnügungsreisen zur See. Eine Geschichte der deutschen Kreuzfahrt: Bd. 1: 1889–1939, Schriften des Deutschen Schiffahrtsmuseums 55 (Hamburg: Convent Verl., 2002), 10. 9 Marie-Francoise Berneron-Couvenhes, „La Croisière du Luxe au demi-luxe: Le cas des Messageries Maritimes,” Entreprises et histoire 46 (1992): 38. 10 Vgl. Kludas, Kludas, Vergnügungsreisen zur See Bd.1 2002, 17. 11 Philip Dawson, Cruise ships: An evolution in design (London: Conway Maritime, 2000), 15. 12 Kludas, Kludas, Vergnügungsreisen zur See Bd.1 2002, 30.

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einher, dass neben dem Auswanderungsgeschäft nach Nordamerika mit Schifffahrten für andere Zielgruppen zusätzliches Geld verdient werden konnte. Bei der touristischen Kreuzfahrt handelte es sich deshalb um einen Trend, der nicht einer einzigen Nation zugeschrieben werden kann, sondern offensichtlich ‚in der Luft‘ lag. Ab den späten 1880er Jahren boten britische, holländische, französische und deutsche Reedereien Kreuzfahrten an. 13 Auch mehrere Monate andauernden Weltreisen wurden bald angeboten. Die für Vergnügungsfahrten eingesetzten Schiffe waren zunächst Linienschiffe, die in der Nebensaison fuhren, sogenannte Dual-Purpose-Schiffe. 14 Im Jahr 1900 trat die Prinzessin Victoria Luise der Hapag ihre Jungfernfahrt nach Westindien an. Dieses Schiff war ausschließlich für touristische Reisen vorgesehen und zu diesem Zweck in Anlehnung an die kaiserliche Yacht Wilhelms des II. Hohenzollern konstruiert worden. 15 Die Auslegung eines Schiffes ausschließlich für Vergnügungsreisen blieb jedoch bis zum Zweiten Weltkrieg eher die Ausnahme. Es war stattdessen üblich, in der Wintersaison Dampfer, die sonst in der Atlantikschifffahrt eingesetzt wurden, für Kreuzfahrten so umzurüsten, dass aus der I. und II. Klasse eine einzige I. Klasse für die zahlungskräftige Kundschaft gemacht werden konnte und die III. Klasse komplett wegfiel. Dies praktizierten beispielsweise die Hapag und die Cunard Line für Kreuzfahrten in das Mittelmeer. 16 Aber auch zahlreiche andere Reedereien setzten noch in den 1920er und 1930er Jahren Dual-PurposeSchiffe ein. 17 Der erste große Pauschalreisenanbieter Thomas Cook aus Großbritannien bot bereits ab 1841 Reisepakete in das Mittelmeer an. Die Reisenden wurden dabei zwar auf regulären Linienfahrten großer Reedereien eingebucht, erhielten aber an Bord eine exklusive Betreuung durch Thomas Cook und nahmen an den jeweiligen Zielhäfen der regulären Linienschiffe an speziell auf sie zugeschnittenen Landausflügen teil. 18 Abgesehen von diesen Angeboten gab es jedoch immer wieder ausgedehnte Reisen mit einem Charterschiff für Reisegesellschaften, die in der Regel durch Zeitungsaufrufe von findigen Reedereien oder Reiseunternehmern zusammengestellt worden waren. Für eine solche Reise schiffte sich beispielsweise 1867 Mark Twain auf der Quaker City in New York ein. 19 Die Fahrt des für diese Reise 13 Vgl. dazu Dawson, Dawson, Cruise ships 2000, 1. Kap., 9-23 sowie Kludas, Kludas, Vergnügungsreisen zur See Bd.1 2002, 36–37. 14 Vgl. zu Dual-Purpose-Schiffen ibid., 178–81 sowie Dawson, Dawson, Cruise ships 2000, 24– 25. 15 Ibid., 16 ff. 16 Vgl. Matthias Trennheuser, Die innenarchitektonische Ausstattung deutscher Passagierschiffe zwischen 1880 und 1940 (Bremen: Hauschild, 2010), Univ., Diss. Saarbrücken., 112–14 und Cunard Line, correspondence A.A. Booth / Ernest H. Cunard, 1909–1912, D42/C1/1/15, University of Liverpool, Special Collections Cunard Archive. 17 Vgl. dazu das Kapitel „Duality“ bei Dawson, Dawson, Cruise ships 2000. 18 Ibid., 10. 19 Vgl. Karl Cerny, „Die Auserlesenen der ‚Quaker City‘ “ In: Die Zeit online, Die Zeit, February 12, 1971, accessed January 12, 2018, http://www.zeit.de/1971/07/die-auserlesenen-der-quaker-city/komplettansicht?print.

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gecharterten Schiffes führte an das Mittelmeer und in den Vorderen Orient. Die britische North Company begann 1888 mit regelmäßigen Kreuzfahrtreisen an das Mittelmeer. 20 Aber nicht nur das Mittelmeer und die Karibischen Inseln zählten zu den ersten Reisezielen von Kreuzfahrten, sondern ebenso das Nordkap. Die erste belegte organisierte Tour nach Norwegen datiert aus dem Jahr 1886 mit dem Dampfschiff St. Rognvald. Die Reise begann in Leith und Aberdeen und führte bis hinauf nach Bergen. Die Reisegesellschaft bestand ausschließlich aus Passagieren der Ersten Klasse. 21 Am Beispiel der Nordkapfahrten zeigt sich, dass es vor allem die europäischen Königshäuser waren, die Vergnügungsfahrten für das reiche bürgerliche Publikum attraktiv machten. In Deutschland wurden diese Fahrten beliebt, weil der deutsche Kaiser Wilhelm II. mit seiner Yacht Hohenzollern nach Norwegen reiste. 22 Vergnügungsreisen auf Schiffen folgten damit den gleichen Mustern wie das Aufkommen des Heil- und Seebädertourismus des 18. Jahrhunderts. Auch hier waren Königshäuser und der Hochadel die Vorreiter, denen immer breitere Schichten nacheiferten. 23 Die Reedereien, die Vergnügungsfahrten anboten, konnten sich allerdings nicht auf eine europäische Zielgruppe beschränken, denn hierfür war der Kreuzfahrtmarkt in seinen Anfängen viel zu klein. So wurden zahlreiche Programme für den amerikanischen Markt aufgelegt. Werbeprospekte für gebildete und reiche Amerikaner priesen nach dem Vorbild der Grand Tour eine Europareise an, die den Besuch des Rhein, der Alpen und Italiens als Pflichtprogramm einschloss. Der Schriftsteller Henry James hat diese Form des amerikanischen Reisens in seinen Romanen mehrfach thematisiert, so unter anderem in seinem Klassiker „Portrait of a Lady“. Der moderne Tourismus ab dem 19. Jahrhundert zeichnet sich im Gegensatz zu Reisen in früheren Jahrhunderten zunächst einmal durch die gestiegene Zahl an Reisenden aus. War das Reisen zum Vergnügen in vorherigen Jahrhunderten dem Adel vorbehalten gewesen, gehörte es mehr und mehr zum guten Ton einer immer größer werdenden Zahl von Reisenden aus bürgerlichen Schichten, eine Bildungsreise durch Europa in Anlehnung an die klassische Grand Tour der Adligen zu unternehmen. Damit ging eine immer stärkere Professionalisierung des Reisens einher. Durch Reiseberichte und Reiseführer wie den Baedeker wurden die Routen und die anzulaufenden Sehenswürdigkeiten einem breiten Publikum vertraut. Reisebüros und Reisegesellschaften boten immer mehr organisierte Touren an. Die Eisenbahnnetze in Europa vergrößerten sich ständig, und im Laufe des 19. Jahrhunderts

20 Dawson, Dawson, Cruise ships 2000, 13. 21 Ibid., 10. 22 Kaiser Wilhelm II. bereiste seit seinem Amtsantritt 1888 mit der Hohenzollern 23mal Norwegen und dreimal Schweden, vgl. Stefan Gammelien, „Kaiserliche Nordlandfahrten: Die Reisen Wilhelms II. nach Skandinavien“ in Nordlandreise: Die Geschichte einer touristischen Entdeckung; historien om oppdagelsen av turistmålet Norge, ed. Sonja Kinzler (Hamburg: Mare, 2010), hier 68. 23 Vgl. Corbin, Corbin, Meereslust – Das Abendland 1990, 344–46.

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entstand der neuartige Typus des Grand Hotels, der den Reisenden für die Übernachtung einen ganz neuen Standard und Komfort bieten konnte. Das Reisen auf See fügte sich in diese entstehende touristische Infrastruktur ein. Dies reicht bis hin zu Bahnstationen, die direkt an die Kais der großen Reedereien führte. Als Beispiel lässt sich der Hafen von Le Havre anführen, wo Erste-Klasse-Passagiere von ihren Luxuswaggons direkt in die Erste-Klasse-Kabinen der Compagnie Générale Transatlantique gebracht werden konnten. 24 Ab den 1880er Jahren änderte sich die Innenarchitektur der Passagierschiffe. Immer mehr Reedereien beauftragten für die Inneneinrichtung ihre Schiffe Architekten anstelle von Werften oder Einrichtungsfirmen, wie es zuvor üblich gewesen war. 25 Hierbei wurde bevorzugt auf Architekten mit Erfahrungen im Hotelbau zurückgegriffen. Für die britische Peninsular Steam Navigation Company (P&O) übernahm Thomas Edward Colcutt, der das Savoy Hotel in London gestaltet hatte, zwischen 1896 und 1903 das Innendesign von 12 Schiffen. 26 Internationale Hotels und öffentliche Repräsentativbauten wurden im historistischen Stil der Ecole des Beaux-Arts in Paris gestaltet. 27 Der englische Architekt Arthur J. Davis und der Elsässer Charles Mewès stammten beide von dieser Schule und statteten gemeinsam um die Jahrhundertwende mehrere Luxushotels aus, unter anderem das Hotel Ritz in Paris. 28 Diese Architekten wurden auch von der Hapag und der Cunard Line zur Innenausstattung ihrer prestigeträchtigen großen Atlantikdampfer beauftragt: Mewès stattete die Amerika (1905), den Imperator (1913) und die Vaterland (1914) aus, und Davis die Aquitania (1914) und die Queen Mary (1935). Die Verbindung von Hotel- und Schiffsarchitektur ist keineswegs zufällig: Im 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine internationale touristische Infrastruktur mit festen Schiffs- und Bahnverbindungen sowie internationalen Grand Hotels. Diese Infrastruktur zeichnete sich dadurch aus, dass die Ausgestaltung der Zugabteile, Hotels und Schiffe sich architektonisch sehr ähnelte. Bei den Passagierschiffen hatte diese Anlehnung an Hotels vor allem den Sinn, so weit wie möglich die Illusion zu erzeugen, ein Leben wie an Land führen zu können, und dies trotz aller Wetterwidrigkeiten und der gefürchteten Seekrankheit zum Trotz. Die großen Reedereien warben explizit mit der Eigenschaft, dass die Passagiere sich an Bord „ganz wie an Land“ fühlen könnten. Die Werbesprüche der verschiedenen Reedereien gleichen sich in dieser Hinsicht auf bemerkenswerte Weise: Die Cunard Line schrieb in einer Werbebroschüre von 1902 über die Speisesalons der I. Klasse der 24 Hélène Bocard and Philippe Ayrault, De Paris à la mer - La ligne de chemin de fer Paris-RouenLe Havre, Île-de-France et Haute-Normandie (Paris: A.P.P.I.F, 2005). 25 Vgl. Anne Wealleans, Designing liners: A history of interior design afloat (London: Routledge, 2006), 24. 26 Vgl. ibid., 32. 27 Ausführlich bei Arthur Drexler, ed., The architecture of the école des Beaux-Arts (London, 1977). 28 Zur Biographie von Charles Mewès vgl. o.A., „The Creator of the Modern Luxury Hotel: Charles Mewès, Architect, 1860–1914 “, Royal Institution of British Architects Journal 54 (1947).

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Campania und Lucania: „The general effect […] is most impressive, and suggests a palatial structure on terra firma rather than a floating temple of luxury.“; 29 und im Jahr 1905 hieß es in einer blumigen Werbebroschüre der Hapag: „Wer heute reist, den nimmt als eine schwimmende, glänzende Stadt das Dampfschiff im Hafen auf; und die Stadt löst sich vom Lande, wandert ruhig und sicher, ‚ein Schwimmfels‘, über die Wasserweiten zu neuen Kontinenten und vereinigt sich von neuem mit dem Lande; die drohende Furchtbarkeit der ‚Wasserwüste‘, des unbeugsamen Elementes, ist verschwunden; in manchen Augenblicken drängt sich dem Passagier die staunende Frage auf, ob er das Festland mit seiner behaglichen Wohnung, seinen Geselligkeiten und Zerstreuungen, mit seiner gewohnten Lebenshaltung überhaupt verließ.“ 30

DIE TECHNIK DER DAMPFSCHIFFE Ohne die enorme technische Weiterentwicklung der Dampfschifffahrt wäre die Entwicklung hin zur modernen Kreuzfahrt nicht möglich gewesen. Passagiere brauchten „Sicherheit, Komfort und Schnelligkeit“. Nicht umsonst lautete so ab den 1870er Jahren der Dreiklang in der Werbung aller internationalen Reedereien, um potentielle Kunden für Seereisen zu gewinnen. Die Hamburg-Amerika Linie pries beispielweise 1890 ihre Schiffe mit einem „Maximum von Sicherheit, Schnelligkeit und Bequemlichkeit“ an. 31 Die ersten Dampfer auf den Weltmeeren waren mit einem Schaufelradantrieb ausgestattet. Mit den Fahrten der Sirius und der Great Western 1838 von London bzw. Bristol nach New York begann das Zeitalter der regelmäßigen Dampfschifffahrt auf den Weltmeeren. 32 Beide Schiffe benötigten noch 18 Tage für die Überfahrt. Aber bereits 1866 benötigte das schnellste Dampfschiff, die Scotia der Cunard Line, nur noch acht Tage, und ab 1889 dauerten die schnellsten Überfahrten fünf Tage. Im Jahr 1907 brachte es die Lusitania der Cunard Line auf vier Tage und 19 Stunden; 33 und dabei blieb es, bis die Normandie der französischen Compagnie Générale Transatlantique die westliche Route 1937 in drei Tagen und 23 Stunden schaffte. Diese enorme Steigerung der Schnelligkeit der Dampfschiffe erhöhte die

29 Cunard Steamship Company, „The Story of the Cunard Line: A Reprint of an article appearing in the magazine Business Illustrated “, accessed March 2, 2013, http://www.gjenvick.com/HistoricalBrochures/CunardLine/StoryOfCunardLine/1902/index.html#axzz3gXRxMPVC. 30 Hamburg-Amerika Linie, Neue Riesendampfer der Hamburg-Amerika Linie, o.J. [ca. 1905/ 06], III 2 V 21m, Deutsches Schiffahrtsmuseum, 2. 31 Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft, Nach Amerika, o.J. [ca. 1890], Sammlung Kludas, Deutsches Schiffahrtsmuseum, 4. 32 Vgl. Tjard Schwarz and Ernst von Halle, Die Schiffbauindustrie in Deutschland und im Auslande: Erster Theil: Der Weltschiffbau, 2 vols. (Berlin, 1902), Unter Benutzung amtlichen Materials, 20. 33 N.R.P Bonsor, North Atlantic Seaway – An illustrated history of the passenger services linking the old world with the new (Lancashire, 1955), 591 f.

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Attraktivität von Seereisen erheblich. Möglich war dies jedoch nur durch zahlreiche technische Innovationen, die ineinander greifen mussten. Die Raumaufteilung und Schiffskonstruktion orientierte sich zunächst am Vorbild des Segelschiffs. 34 Dies änderte sich erst, als der Schaufelradantrieb auf der Atlantikstrecke gegen Ende der 1850er Jahre durch den Schraubenantrieb abgelöst wurde. Dieser wies eine wesentlich höhere Effizienz im Kohleverbrauch aus und sparte gegenüber dem Schaufelradantrieb auch an Gewicht ein. 35 Er war darüber hinaus auch sicherer, denn Schaufelräder blieben bei Seegang nicht gleichmäßig im Wasser, es bestand Bruchgefahr durch den Wellengang und zudem drohte die Eintauchtiefe bei abnehmendem Kohlenvorrat zu gering zu werden. 36 Außerdem wurde es mit Einführung des Schraubenantriebs möglich, eine neue Raumverteilung an Bord der Schiffe vorzunehmen, denn der Platz in der Mitte des Schiffes, der zuvor für den Schaufelradantrieb benötigt worden war, konnte nun für Passagierunterkünfte genutzt werden. Voraussetzung für den Schraubenantrieb war wiederum die Ablösung des Baumaterials Holz durch Eisen und ab den 1880ern durch Stahl, der wesentlich weniger anfällig war für Materialermüdung durch Vibrationen. Durch das Baumaterial Stahl wurde nicht nur ein Größenausbau der Schiffe möglich, sondern erstmals konnten auch einzelne Maschinenteile aus Stahl gefertigt werden, so z.B. Kurbelwellen. 37 Dies trug zur Betriebssicherheit der Schiffe wesentlich bei, da die Verschleiß- und Bruchgefahr von Maschinenteilen sich verringerte. Auch der Schiffsrumpf wurde im Laufe der Jahrzehnte in Bezug auf die Sicherheit umgestaltet. Die wichtigste Änderung war der Einbau von Schotten, d.h. Teilungen innerhalb des Schiffsrumpfes, die über die Wasserstandlinie hinausreichen und die durch Schottvorrichtungen geschlossen werden konnten. Damit wurde es möglich, ein vollständiges Volllaufen eines Schiffes bei Eindringen von Wasser in den Schiffsrumpf zu vermeiden. Ein erstes Schottsystem wurde 1838 auf der britischen Royal William installiert. 38 Der Einbau von Schotten wurde bereits ab 1855 im Lloyd’s Register für eiserne Dampfer vorgeschrieben. 39 Eine weitere Verbesserung der Sicherheit war die Einführung von doppelten Schiffsböden, die die Gefahr

34 Vgl. Rudolph Haack and Carl Busley, Die technische Entwicklung des Norddeutschen Lloyds und der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Aktiengesellschaft (HAPAG): Erstmaliger Reprint d. Sonderdr. aus d. Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure, Jg. 1890–1892, erschienen im Jahre 1893, neu hrsg. u. eingeleitet von Lars U. Scholl, Klassiker der Technik (Düsseldorf: VDI-Verl., 1986), 1. 35 Denis Griffiths, Power of the great liners – A history of Atlantic marine engineering (Sparkford: Stephens, 1990), 24. 36 Schwarz and Halle, Schwarz & Halle, Die Schiffbauindustrie in 1902, 20. 37 Griffiths, Griffiths, Power of the 1990, 47. 38 Bonsor, Bonsor, North Atlantic Seaway 1955, 594. 39 Eike Lehmann, „Die konstruktive Entwicklung der Seeschiffe“, in Technikgeschichte des industriellen Schiffbaus in Deutschland: Bd. 1: Handelsschiffe, Marine-Überwasserschiffe, U-Boote, ed. Lars U. Scholl, Schriften des Deutschen Schiffahrtsmuseums 34 (Hamburg: Kabel, 1994), 28.

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des Volllaufens des Schiffes bei Aufgrundlaufen oder Kollisionen verringern konnten. Das erste Schiff, das damit ausgestattet wurde, war die seiner Zeit technisch weit vorausweisende Great Eastern des Ingenieurs Brunel. Aber erst in den 1880er Jahren setzte sich das System durch, als sich herausstellte, dass der Raum innerhalb der doppelten Schiffshülle zur Aufnahme von Ballastwasser dienen konnte. 40 In die 1880er Jahre fielen weitere technische Innovationen zur Verbesserung der Sicherheit wie z.B. weniger explosionsgefährdete Kessel 41, der Einbau von Schotten, die Konstruktion doppelter Schiffshüllen und schließlich die Einführung von Elektrizität. Die ersten elektrischen Glühlampen wurden von der Firma Siemens & Halske auf der Elbe des NDL 1883 installiert. 42 Für die Sicherheit der Schiffe war wichtig, dass nun nicht nur die Passagierräume beleuchtet werden konnten, sondern auch die Maschinenräume, und es konnten elektrische Außenlampen installiert werden, was die Gefahr von Schiffskollisionen deutlich verringerte. Hinzu kam eine wesentliche Verbesserung des Komforts für Passagiere, denn mit Elektrizität konnten Hilfsmaschinen wie Kühlungs- und Ventilationssysteme, Heizungen und Aufzüge betrieben werden. 43 Und schließlich konnte mit der Einführung von Funk an Bord von Schiffen die Kommunikation mit anderen Schiffen und dem Festland aufgenommen werden, was die Sicherheit der Schifffahrt ebenfalls weiter steigerte. Der erste Dampfer, der telegraphisch mit dem Festland Kontakt aufnehmen konnte, war 1899 die St. Paul der American Line. 44 Trotz dieser zahlreichen Verbesserungen gab es jedoch immer wieder schwere Unfälle, von denen der Untergang der Titanic nur das prominenteste Beispiel ist. Erst nach diesem Unglück wurden international gültige Sicherheitsregelungen für die Passagierschifffahrt vor allem in puncto Zahl und Konstruktion von Rettungsbooten erlassen, die jedoch aufgrund des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges erst 1929 in Kraft traten. 45 In die 1880er Jahre fiel auch die allmähliche Abkehr vom Allzweckschiff durch die Entwicklung spezialisierter Dampfschiffe, da die Inneneinrichtung nun immer präziser auf den Transportzweck abgestimmt werden konnte. In den ersten 50 Jahren der Dampfschifffahrt auf den Weltmeeren hatte es zunächst einen einheitlichen Standard von kombinierten Fracht- und Passagierschiffen gegeben. Ab den 1880er

40 David Pollock, The Shipbuilding Industry [1905]: Its History, Practice, Science and Finance (London, 2010 [Facsimile]), 53. 41 Vgl. dazu J. Armstrong and D. M. Williams, „The Steamboat, safety and the state: Government reaction to new technology in a period of laissez-faire “, The Mariner’s Mirror 89, no. 2 (2003) sowie Paul F. Paskoff, Troubled waters: Steamboat disasters, river improvements, and American public policy, 1821-1860 (Baton Rouge: Louisiana State University Press, 2007). 42 Siemens AG: Industrial Solutions and Services Marine Solutions, „125 Jahre Innovationen im Schiffbau “ , accessed August 20, 2013, http://www.industry.siemens.com/verticals/global/de/ marine/Seiten/Default.aspx, 14. 43 Schwarz and Halle, Schwarz & Halle, Die Schiffbauindustrie in 1902, 30. 44 Bonsor, Bonsor, North Atlantic Seaway 1955, 598. 45 Vgl. W.S Abbell and A.J Daniel, „Safety of Life at Sea (1929 Conference)“, in Transactions and Annual Report 1930, ed. The Royal Institution of Naval Architects (1930), 1–24.

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Jahren wurden aber immer mehr spezialisierte Schiffe gebaut. Dampfschiffe wurden in Klassifikationssysteme mit entsprechenden Bauvorschriften eingeteilt, die von privatwirtschaftlichen Organisationen wie Lloyd’s, Bureau Veritas und dem Germanischen Lloyd überprüft wurden. Passagierschiffe fielen in die höchste Klasse in Bezug auf die Anforderungen an die Sicherheit und Stabilität der Schiffe. 46 Viele der technischen Neuerungen wurden allerdings nicht primär zur Verbesserung der Sicherheit für die Passagiere eingeführt, sondern erst dann, wenn sich technische Innovationen auch wirtschaftlich für die Reedereien rentierten. Bezüglich der Effektivität der Sicherheitseinrichtungen mussten Passagiere sich also weitgehend auf die Aussagen der Reedereien verlassen. Sie konnten höchstens selbst die Zahl und die Aufstellungsweise von Rettungsbooten in Augenschein nehmen. Der Rest war Marketing, Presseberichterstattung und die Realität – die weitaus meisten Überfahrten gingen schließlich gut. Es ist jedoch gleichgültig, ob die Angst vor einer Seereise sich ‚objektiv’ rechtfertigen lässt oder nicht, denn es geht um subjektive Wahrnehmungen, Erfahrungen und Gefühle. Hier genügte Technik und perfekte Reiseorganisation alleine nicht, sondern es brauchte eine ganze Palette von Sozialpraktiken an Bord, die den Passagieren durch ihre feste und voraussagbare Struktur Sicherheit vermitteln konnten.

DIE SOZIALPRAKTIKEN AN BORD Abgesehen von den technischen Entwicklungen auf Passagierschiffen, die für das Gefühl von Sicherheit und Komfort sorgen konnten, ist eine parallele Entwicklung zu nennen, die für die zunehmende Beliebtheit von Kreuzfahrten mindestens eine genauso große Rolle spielte: die Einführung von festen Ritualen und Aktivitäten an Bord von Passagierschiffen. Der Reisende auf See befindet sich in einem Zustand des ‚Dazwischen‘ – er hat seine Heimat verlassen, ist aber noch nicht am Ziel angekommen. Die unendlich scheinende Weite des Meeres, die Konfrontation mit sich selbst, der Schrecken der Seekrankheit sowie das enge Zusammenleben mit Unbekannten konnten einiges zu diesem diffusen Gefühl des Unbehagens beitragen. Diese Gefühle konnten jedoch durch Spiele, Rituale und feste Tagesabläufe aufgelöst werden, die den Passagieren Halt gaben und dem Aufenthalt auf See einen besonderen Reiz verleihen konnten. Je bekannter Seereisen wurden, desto stärker wurden diese Praktiken Teil eines Narrativs, welches durch Zeitungsartikeln, Reiseberichten Reiseratgeber und Romane immer weiter verbreitet wurde, und teilweise bis heute wirkmächtig ist. Die an Bord von Vergnügungsschiffen entwickelten Praktiken bestanden aus abendlichen Festen, Konzerten, dem Captain’s Dinner, Spielen wie dem Shuffleboard oder Wetten um Distanzen sowie die Herausgabe von Bordzeitschriften.

46 Vgl. Lehmann, Die konstruktive Entwicklung 1994, hier: 67–62.

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Beliebt war auch die Inszenierung von parodistischen Gerichtsverfahren mit Richtern, Anwälten und Angeklagten durch die Passagiere. So berichtet Mark Twain 1867 von einem derartigen Scheinprozess: „We also had a mock trial. No ship ever went to sea that hadn’t a mock trial on board. The purser was accused of stealing an overcoat from state-room No. 10. A judge was appointed; also clerks, a crier of the court, constables, sheriffs; counsel for the State and for the defendant; witnesses were subpoenaed, and a jury empaneled after much challenging. The witnesses were stupid, and unreliable and contradictory, as witnesses always are. […] The case was at last submitted, and duly finished by the judge with an absurd decision and a ridiculous sentence.“ 47

Die Tagesabläufe für die Passagiere waren auf allen Schiffen nach den Essenszeiten strukturiert, zu denen sie durch eine Glocke oder eine Melodie gerufen wurden. Die Mahlzeiten gaben dem Tag eine feste Struktur. In die Rituale des täglichen Essens stach als besonderes Ereignis das Captain’s Dinner hervor, das im Speisesaal der I. Klasse am letzten Abend einer Reise stattfand und den rituellen Abschluss einer Reise bildete. Spätestens seit der deutschen „Traumschiff“-Fernsehserie lässt sich dieses Ritual mittlerweile zum Allgemeinwissen zählen. Während des Captain’s Dinner wurden Reden gehalten, Musik gespielt und zum Abschluss illuminiertes Eis in den verdunkelten Saal getragen. Das Captain’s Dinner fand zunächst ab Ende des 19. Jahrhunderts auf transatlantischen Passagierschiffen statt. Bis heute gibt es keine eindeutigen Belege, woher die Tradition des Captain’s Dinner stammt und wann sie als fester Bestandteil von Seereisen eingeführt wurde. Es ist jedoch anzunehmen, dass das Captain’s Dinner in die Tradition der festlichen Essen einzuordnen ist, die von Stadtverwaltungen für prominente Passagieren bei der Ankunft eines Schiffes im Zielhafen gegeben wurden. Auch für Kapitäne ziviler Schiffe wurden derartige Festessen gegeben. Der Kapitän galt und gilt noch heute als Stellvertreter des Schiffes und dessen Mannschaft. Dem Kapitän wurde jedoch erst im Zuge der Industrialisierung der Schifffahrt im Laufe des späten 18. und 19. Jahrhunderts diese herausragende Rolle zugewiesen. Dazu wurde das zuvor auf Handelsschiffen geltende Gewohnheitsrecht abgeschafft und staatliche Kontrolle an Bord durchgesetzt, die nun seitens der Kapitäne ausgeübt und in Regelwerken verankert wurde. 48 Die Passagiere identifizierten den Kapitän mit ‚seinem‘ Schiff. Bewunderung für die technische Ausstattung des Schiffes wurde dabei auf die Persönlichkeit des Kapitäns übertragen. Einem Passagier reichte deshalb alleine schon der Anblick des Kapitäns, um sich sicher zu fühlen. Er notierte enthusiastisch 1928 auf einer atlantischen Überfahrt in das Gästebuch des Kapitäns: „Though I have not had the pleasure of meeting you,

47 Mark Twain, The innocents abroad, or, The new pilgrims’ progress: Being some account of the steamship Quaker City’s pleasure excursion to Europe and the Holy Land, with descriptions of countries, nations, incidents, and adventures as they appeared to the author [1869] (New York: Modern Library, 2003), 23. 48 Vgl. Ulrich Welke, Der Kapitän – Die Erfindung einer Herrschaftsform (Münster: Westfälisches Dampfboot, 1997), 74.

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my dear Captain, I have seen you from the distance and something in your countenance gave me a feeling of security through the critical days of this voyage.“49 Rituale an Bord wie das Kapitänsessen und der Kapitänstisch, das noch aus Zeiten der Segelschifffahrt stammte, als die wenigen Passagieren aus der Kajüte zusammen mit dem Kapitän speisten, machten den Kapitän darüber hinaus für das Sozialprestige an Bord äußerst attraktiv. Der Kapitänstisch bot den Passagieren einerseits eine Bühne zur Selbstdarstellung und zur Positionierung innerhalb der Schiffsgemeinschaft. Es hob sie aus der Masse anderer Passagiere heraus und bestätigte den sozialen Rang, den sie auch an Land genossen. Somit spiegelte der Kapitänstisch auf der einen Seite die herkömmliche Ordnung an Land wider und verfestigte gewohnte soziale Rollen. Auf der anderen Seite wurde durch den Kapitänstisch die Vorrangstellung des Kapitäns vor allen anderen an Bord herausgestrichen, und somit wieder das Besondere des Schiffsdaseins betont. Einen wichtigen Bestandteil des täglichen Bordlebens bildete das Wetten. Sie hatten den Vorteil, dass sie ohne viel Hilfsmittel und mit einer variablen Zahl von Teilnehmern gespielt werden konnten. Im 19. Jahrhundert hielten jedoch hauptsächlich Männer Wetten ab, da dies für Frauen als unschicklich galt. Am beliebtesten waren Wetten um die täglich zurückgelegten Distanzen des Schiffes (im Deutschen „Etmal“ genannt), eine Praxis, die bis in die 1930er Jahre ausgeübt wurde und in nahezu jedem Reisebericht erwähnt wurde. 50 Während der Fahrt auf dem offenen Meer gab es nur den Anblick des Wassers und außer dem Horizont nichts, woran das Auge sich festhalten konnte. Das tägliche Ritual des Wettens stellte das Bedürfnis nach Orientierung in den Mittelpunkt, indem die Reisenden ihre Wetteinsätze mit den tatsächlich am Tag zurückgelegten Seemeilen vergleichen konnten. Der Weltreisende Joel W. Burdick an Bord der Laconia 1922/23 schrieb in seinem Reisebericht regelmäßig über die täglichen Wetten, die ihn über die gesamte Dauer der Fahrt hinweg begleiteten und einen festen Ankerpunkt seines Tagesablaufs bildeten. 51 Das Essen nahm im Sozialgefüge wie auch im Tagesablauf aller Passagiere einen wichtigen Platz ein. Die meisten Passagiere der I. und II. Klasse genossen das Essensangebot, das im Laufe der Jahre immer reichlicher wurde, entwickelten aber

49 Commodore Ziegenbein, Gästebuch SS Berlin, 1925-28, III A 1755, Deutsches Schiffahrtsmuseum, ohne Datum, Eintrag von Selden P. Delany auf der Berlin. 50 Beschrieben in o.A., „Deck pastimes“, Saturday review of politics, literature, science and art, August 30, 1884, 1505:58, 274, James Mortimer, „A Trip from London to Chicago“, Strand Magazine, July 1893, 6, 20–45, Framley Steelcroft, „Pastimes at Sea“, Strand Magazine: an illustrated monthly, July 1896, 12, 231, Ulr. Myers, Wie man sich an Bord vergnügt – Eine Skizze aus dem modernen Reiseleben. Vermutlich aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band unbekannt, [ca. 1890], II B 77-4182, Deutsches Schiffahrtsmuseum, 218–20 und Ann Tizia Leitich, An Bord der „Europa“: Radiobericht von der ersten Amerikareise. Sonderdruck aus dem Juniheft 1930 überreicht vom Norddeutschen Lloyd (1930), 8. 51 Joel W. Burdick, Our World Tour 1922-1923 – An account of the first ever World Cruise by a passenger line (London, 1990), 24; 28; 31; 34.

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auch ein zwiespältiges Verhältnis hierzu. Die an Bord reichlich angebotenen Mahlzeiten mussten demzufolge durch sportliche Betätigung ausgeglichen werden. Nach der Jahrhundertwende wurden Turn- oder Gymnastikräume standardmäßig in Passagierschiffen eingerichtet. Sport zu betreiben, wurde nicht nur als gesundheitsfördernd, sondern als modern und dynamisch empfunden. An Deck wurde Sport getrieben wie Kricket, Kegeln, Tennis, Tontaubenschießen und sogar Golf. Die meisten dieser Sportarten waren für das Schiffsleben adaptierte Versionen, die wenig Platz benötigten. Aber zum Inbegriff des Schiffssports wurde Shuffleboard, das auch „shovelboard“ oder „pullboard“ genannt wurde. Die genaue Herkunft dieses Spiels ist nicht geklärt, es war jedoch zumindest noch in den 1850er Jahren weitgehend unbekannt. 52 In etlichen Reiseberichten wurde Shuffleboard als bevorzugter Zeitvertreib an Deck geschildert. Viele weitere Gesellschaftsspiele an Bord lehnten sich hingegen an Kinderspiele an. So gab es beispielsweise Eierlaufen, Sackhüpfen, Tauziehen oder Kissenschlachten. Hatten die Reisenden zunächst alle diese Bordaktivitäten in Eigenregie organisiert, so wurde ihnen dies zunehmend durch die Angestellten der Reedereien abgenommen, vor allem bei Kreuzfahrten, bei denen den Passagieren ein ununterbrochenes Unterhaltungsprogramm bereits bei der Buchung ihrer Reise versprochen wurde. So ist beispielsweise für die Schiffscrews ein komplettes Skript mit auswendig zu lernenden Rollen für die Aufführung einer Äquatortaufe an Bord von Dampfern der Cunard Line aus dem Jahr 1924 erhalten. 53 Die Aktivitäten an Bord verloren damit häufig ihren kreativen Charakter und wurden stattdessen fester Bestandteil einer Kreuzfahrt. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs brachte den Reisebetrieb auf den Weltmeeren vorerst zum Erliegen. In den 1920er Jahren kam das Geschäft mit der Passagierschifffahrt nur allmählich wieder in Gang. Nun änderte sich allerdings einiges in der Zusammensetzung der Passagiere, die wegweisend für die weitere Entwicklung bis weit in das 20. Jahrhundert werden sollte: die Umwerbung eines Massenpublikums. Dies war zunächst einer politischen Entwicklung geschuldet. Mit der Einführung der Emergency Quota Acts der USA von 1921 und 1924 brach die Zahl der Emigranten nach Amerika massiv ein. Die Reedereien sahen sich nun gezwungen, verstärkt die Kunden der 3. Klasse zu umwerben, die nicht mehr auswanderten, sondern zunehmend aus touristischen Gründen reisten. Auch hier waren wiederum Amerikaner die Vorreiter. 54 Immer mehr Reedereien richteten spezielle „Touristenklassen“ ein. Die neue Zielgruppe wurden Angestellte und Beamte der Mittelklasse, aber auch Lehrer und Studenten sowie Angehörige freier Berufe. Neben Kreuzfahrten in die Karibik und nach Südamerika strahlte nun die Côte d’Azur eine besondere 52 J.W E. Hengiston, „A Yankee Steamer on the Atlantic “, New monthly magazine and humorist, December 1852, 96:384, 462. 53 Cunard Line, Script for Crossing-the-Line ceremony, around 1924, D42/PR4/46/4, University of Liverpool, Special Collections, Cunard Archive. 54 Zur Entwicklung der atlantischen Passagierschifffahrt vgl. Lorraine Coons and Alexander Varias, Tourist third cabin: Steamship travel in the interwar years (New York: Palgrave Macmillan, 2003).

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Anziehungskraft aus. Die französische Mittelmeerküste war vor dem Ersten Weltkrieg nur in der Wintersaison besucht worden. Nun wurde sie durch amerikanische Industrielle, Künstler und Mäzene neu entdeckt. Auch dies verstärkte die Anziehungskraft Europas. 55 Der Schriftsteller F. Scott Fitzgerald hat dieses Lebensgefühl in seinem Roman „Tender is the Night“ von 1934 verewigt. Die ab 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise führte zu einem massiven Einbruch der Passagierzahlen. In Deutschland wurden die beiden größten deutschen Reedereien, die Hapag und der Norddeutsche Lloyd, gleich zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft zu 75 % verstaatlicht und ab 1934 in der sogenannten „Norda“ gemeinsam bewirtschaftet. 56 Vergnügungsfahrten mit der nationalsozialistischen „Kraft durch Freude“-Bewegung erreichten ein Massenpublikum mit kleinem Geldbeutel. 57 Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs beendete ein weiteres Mal den internationalen Passagierverkehr, der erst Anfang der 1950er langsam wieder in Gang kam. Durch die zunehmende Ablösung des Flugzeugs als Transportmittel für lange Strecken wurde der reine Passagiertransport zunehmend unrentabel, und die internationalen Reedereien konzentrierten sich mehr und mehr auf das Geschäft mit Kreuzfahrten.

FAZIT Im Laufe der Entwicklung von Kreuzfahrten trat das Element Meer immer stärker in den Hintergrund. Alles wurde darauf ausgerichtet, vergessen zu machen, sich auf einem Schiff zu befinden. Stattdessen wurde ein eigener Mikrokosmos erzeugt, der sich einerseits zwar an der gesellschaftlichen Realität der Reisenden ausrichtete, andererseits zugleich genügend Freiraum zur vorübergehenden Schaffung einer Parallelwelt bieten konnte. Diese (Ab)Geschlossenheit wurde im Laufe der Geschichte der Passagierschifffahrt immer weiter vorangetrieben und zeigt sich in letzter Konsequenz an der zunehmenden Autarkie der Kreuzfahrtschiffe, die beispielsweise mit komplett geschlossenen Abfallsystemen konstruiert werden, an Projekten wie den schwimmenden Eigentumswohnungen auf der MS The World, und an der immer größeren Dimensionierung der Schiffe, die mittlerweile so viele Passagiere aufnehmen können wie eine Kleinstadt. 58 Der Mensch hat im Laufe der 55 Vgl. Michael Nelson, Americans and the making of the Riviera (Jefferson, NC: McFarland und Co, 2008). 56 Vgl. Susanne Wiborg and Klaus Wiborg, 1847-1997 Unser Feld ist die Welt: 150 Jahre HapagLloyd, Hamburger Abendblatt Sonderausgabe (Hamburg: Springer, 2004), 272–73. 57 Shelley Baranowski, Strength through Joy: Consumerism and mass tourism in the Third Reich, 1st ed. (Cambridge, New York: Cambridge University Press, 2007). 58 Der neueste und spektakulärste Superlativ ist die Harmony of the Seas der amerikanischen Reederei Royal Caribbean Cruises“, die am 22.05.2018 ihre Jungfernfahrt antreten soll. Das Schiff wird bis zu 6.360 Passagiere aufnehmen können. Vgl. https://www.welt.de/reise/article

Mikrokosmos an Bord

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Kulturgeschichte des Reisens seine Ängste in Bezug auf die Naturgewalten verdrängt bzw. ausgeblendet. Der Freizeitforscher Opaschowski hat das Spannungsverhältnis des modernen Urlaubers zwischen dem Wunsch nach Freiheit und dem Wunsch nach Verlässlichkeit und Sicherheit im Urlaub herausgearbeitet. 59 Bei Kreuzfahrten ermöglichten erst die sich immer weiter entwickelnde Technik, die touristische Reiseorganisation sowie neue Sozialpraktiken an Bord den Passagieren, eine derartige Reise als Genuss und nicht mehr als Gefahrenquelle zu erleben, bei der das Meer immer stärker zum ‚domestizierten Naturraum‘ wurde.

WEITERFÜHRENDE BIBLIOGRAPHIE Armstrong, John / David M. Williams, „The steamboat and popular tourism.“ The Journal of transport history 26, no. 1 (2005): 61–77. Baranowski, Shelley, Strength through Joy: Consumerism and mass tourism in the Third Reich. 1st ed. Cambridge, New York: Cambridge University Press, 2007. Bellmann, Dagmar, Von Höllengefährten zu schwimmenden Palästen: Die Passagierschifffahrt auf dem Atlantik (1840-1930), Frankfurt am Main: Campus-Verlag, 2015 Brendon, Piers, Thomas Cook: 150 years of popular tourism. London: Secker; Warburg, 1991. Coons, Lorraine / Alexander Varias. Tourist third cabin: Steamship travel in the interwar years. New York: Palgrave Macmillan, 2003. Dawson, Philip, Cruise ships: An evolution in design. London: Conway Maritime, 2000. Gerstenberger, Heide / Ulrich Welke, Vom Wind zum Dampf – Sozialgeschichte der deutschen Handelsschiffahrt im Zeitalter der Industrialisierung. Münster: Westfälisches Dampfboot, 1996. Griffiths, Denis, Steam at sea – Two centuries of steam-powered ships. London: Conway Maritime Press, 1997. Hachtmann, Rüdiger, Tourismus-Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2007. Kludas, Arnold, Vergnügungsreisen zur See. Eine Geschichte der deutschen Kreuzfahrt: Bd. 1: 1889–1939. Schriften des Deutschen Schiffahrtsmuseums 55. Hamburg: Convent Verl., 2002. Kludas, Arnold, Vergnügungsreisen zur See. Eine Geschichte der deutschen Kreuzfahrt: Bd. 2: 1952 bis heute. Schriften des Deutschen Schiffahrtsmuseums 56. Hamburg: Convent-Verl., 2003. Nelson, Michael. Americans and the making of the Riviera. Jefferson, NC: McFarland und Co, 2008. Trennheuser, Matthias, Die innenarchitektonische Ausstattung deutscher Passagierschiffe zwischen 1880 und 1940. Bremen: Hauschild, 2010. Univ., Diss. Saarbrücken. Wealleans, Anne, Designing liners: A history of interior design afloat. London: Routledge, 2006. Welke, Ulrich, Der Kapitän – Die Erfindung einer Herrschaftsform. Münster: Westfälisches Dampfboot, 1997.

155371745/Das-groesste-Kreuzfahrtschiff-der-Welt-sticht-in-See.htmlhttp://www.oasisoftheseas.com/ [Aufruf: 15.01.2018]. 59 Horst Werner Opaschowski, Tourismusforschung, Freizeit- und Tourismusstudien 3 (Opladen: Leske + Budrich, 1989), 79 f.

VERZEICHNIS DER PERSONEN, ORTE UND SCHIFFE Aachen 263 Abeokuta 222 Aberdeen 505 Abessinien 319 Abraham, Ruth 311 Accra 397, 412, 413, 416, 417, 418 Achimota 412 Actium 37, 41, 66, 103 Adler, Alexander 311 Adria 101, 466, 494 Aeneas 24 Afonso I. 221 Afrika 41, 61, 123, 134, 16, 163, 164, 167, 168, 171, 172, 174, 175, 179, 180, 181, 221, 223, 224, 225, 226, 243, 245, 246, 247, 248, 249, 250, 256, 257, 258, 259, 260, 261, 262, 263, 264, 265, 267, 268, 269, 270, 275, 276, 277, 278, 279, 283, 286, 289, 298, 315, 355, 359, 363, 397, 398, 399, 401, 402, 403, 406, 407, 411, 413, 415, 430 Ägäis 29, 32, 38, 39, 43, 64 Agassiz, Alexander 462, 465 Aggrey, James E. 413 Agrippa 41 Ägypten 23, 38, 40, 43, 46, 47, 51, 63, 70, 74, 77, 396, 423 Aiken, Frank 397 Akenson, Donald H. 380, 384, 385, 393 Akrotiri 43 Albatross 462 Albert I., Prinz, Monaco 467 Albert von Sachsen-Coburg und Gotha 417 Aldecoa, Ignacio 439 Alexander der Große 40, 47, 59 Alexander VI., Papst 460, 492 Alexandria 12, 46, 47, 48, 51 Alfaro, Francisco de 192 Algerien 299, 319, 320 Alpen 505 Alvarado, Pedro de 157 Amazonas 155, 160, 394 Ameinokles 93

Amerika 123, 126, 132, 134, 135, 138, 148, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 179, 180, 190, 191, 193, 194, 196, 198, 199, 243, 245, 247, 248, 250, 256, 261, 262, 265, 292, 293, 294, 303, 304, 307, 358, 375, 381, 383, 385, 386, 387, 397, 431, 432, 461, 461, 507, 508, 514 Amnissos 23 Amo, Anton Wilhelm 411 Amoco Cadiz 445 Amsterdam 73, 80, 81, 83, 84, 256, 264, 308, 357, 358, 359, 360, 362 Andalusien 157, 158 Anderson, Benedict 18, 399 Angola 221, 246, 252, 258, 259, 271, 287, 320 Anguilla 384 Anschütz-Kämpfe, Hermann 469 Ansprenger, Franz 414 Antarktis 123, 461, 465, 461, 465 Antigua 384 Antillen 247, 269 Antium 33 Anton, Paul 215 Antonius 41, 95 Antrim 388 Antwerpen 302, 305 Apia 348, 349, 353, 355 Appian 69, 71 Aquitania 507 Arabien 260 Aragon 156 Archimedes 46 Argentinien 121, 291, 296, 387, 420, 423 Aristoteles 60, 183 Arktis 76, 83, 123, 443, 444 Armstrong, Thomas 387 Arouet, François-Marie (Voltaire) 186 Asante, David 223, 226 Asien 97, 135, 137, 139, 140, 164, 179, 180, 181, 259, 260, 261, 262, 264, 298, 309, 314, 348, 358, 359, 362, 363, 387, 389, 396, 399, 420, 424, 434 Astmann, Johann Paul 210, 211

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Verzeichnis der Personen, Orte und Schiffe

Astrolabe 461 Asturien 377 Asunción 191, 193 Athen 31, 32, 34, 37, 38, 39, 40, 45, 60, 63, 64, 65, 94, 314 Äthiopien 494 Athlone 387 Atlantik 53, 73, 80, 104, 114, 142, 154, 155, 156, 160, 162, 221, 243, 244, 247, 248, 249, 250, 256, 258, 261, 265, 315, 317, 381, 383, 385, 446, 462, 464, 467, 468, 470, 471, 462, 464, 467, 468, 470, 471 Attiret, Jean-Denis 184 Auckland 353, 354, 356 Augsburg 137, 140, 262, 434 Augusta Victoria 503 Augustus (röm. Kaiser; siehe auch Octavian) 50, 51 Australien 163, 164, 167, 168, 170, 171, 172, 174, 175, 178, 18, 238, 289, 291, 294, 296, 297, 319, 348, 349, 353, 383, 388, 395, 396, 420, 423, 426 Azoren 246 Baasch, Ernst 356, 357, 358 Babylonien 63 Bachmann-Medick, Doris 13 Bacon, Francis 97 Baeck, Leo 309 Bahamas 392 Bahia 253 Balboa, Vasco Núñez de 138, 157 Balearen 245, 316 Ballin, Albert 301, 305, 306 Baltikum 79, 82, 271, 340 Banks, Joseph 139 Bannon, Barbara 393 Barbados 253, 269, 278, 383, 384, 392 Barbuda 384 Barmen 422 Barry, Gerard 379 Barry, John 385 Bartholomäi, Wilhelm Ernst 203 Bartholomees, J. Boone 100 Basel 181, 223, 226 Batavia 178 Bayly, C. A. 381 Bayreuth 205, 206, 207, 210, 211, 212, 216, 217, 218, 220 Beacon 465 Behm, Alexander 469 Behm, Alfred Edmund 464, 468

Beijing 184 Bein, Alex 313 Belfast 380, 389, 393, 397 Belgien 299, 428, 452 Belgrad 201, 202, 203 Bengalen 481 Bergen 315, 477, 505 Berghaus, Heinrich von 133, 485 Bergisches Land 428 Berlin 225, 276, 283, 304, 307, 309, 312, 313, 430, 431, 432, 434,467, 470, 476, 467, 470, 476 Berliner, Cora 311 Betten, Anne 310 Bhabha, Homi 14, 199, 201 Biafra 276 Bielenberg, Andy 381, 397 Bihar 390 Bird, Keith W. 114 Birmingham 263 Biscaya 466 Bismarck, Otto von 110, 114, 349 Blackburn, Robin 256, 257 Blake, John Filmore 394 Blankenese 347 Bligh, William 485 Bockius, Ronald 77, 84 Bogotá 387 Bolivar, Simon 387 Bolivien 168 Bombay 426 Bono 397 Bora-Bora 143 Bordeaux 253, 254, 308, 340 Bosnien-Herzegowina 494 Bosporus 41 Botany Bay 151 Botefeur, Daniel 273 Botswana 225 Bougainville, Louis Antoine de 146, 237 Boulogne 467 Bourke, James 387 Boussole 461 Bown, William 387 Boyle, Charles 393 Boyle, Robert 476 Brahm, Gerard de 482, 484 Brandenburg-Bayreuth, Markgrafschaft 206 Brandis, Dietrich 164, 169, 175 Brandt, Karl 464, 477 Brant, Sebastian 131

Verzeichnis der Personen, Orte und Schiffe Brasilien 80, 138, 168, 171, 177, 180, 182, 249, 250, 251, 253, 261, 264, 271, 272, 278, 279, 287, 291, 316, 363, 420, 423, 471 Brecht, Bertolt 133 Breithaupt, Joachim Justus 214 Bremen 75, 78, 301, 302, 304, 305, 306, 432, 434, 468, 470 Bremerhaven 307, 459, 470 Brendecke, Arndt 134, 136, 139 Breslau 313 Brest 467 Bridgetown, Barbados 253 Bristol 252, 253, 256, 276, 278, 508 Britannia 501 Britannien 53 Britisches Empire 302, 380, 381, 383, 385, 387, 388, 389, 390, 391, 395 Britisch-Indien 164, 298 Brody 307 Brooke, John Mercer 468 Brouwer, Hendrick 82 Bruce, Edward 376, 377 Bruce, Robert 377 Brügge 260 Buda 201 Budapest 205 Buenos Aires 191, 193, 199, 307, 387, 468 Buganda 225 Buitenzorg 166, 169 Bundesrepublik Deutschland 299 Burdick, Joel W. 513 Burdigala (Bordeaux) 53 Burgk, Christian Joseph 202, 210, 211, 212, 213, 217, 218, 219, 220 Burgos 246 Burkina Faso 178 Burma 389 Buys Ballot, Christoph 83 Bynkershoek, Cornelius van 490 Byzanz 96 Cádiz 180, 253, 254, 255, 256, 340 Caesar 40, 41, 71, 95 Caesarea Maritima 51 Cahnmann, Werner 311 Caledon River 279 Canning, George 387 Canny, Nicholas P. 381 Cape Cod 462 Cárdenas, Bernardino de 193 Cardiff 298

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Carmini, Leonardus 131 Carpenter, William Benjamin 466 Cartagena de Indias 248 Cartagena-Portobelo 256 Casas, Bartolomé de las 131, 136 Casement, Roger 394, 395, 396 Cassius Dio 34 Castiglione, Giuseppe 184 Cato 127 Cavendish, Henry 468 Celle 225 Celsius, Anders 468 Césaire, Aimé 320 Cesarani, David 307 Ceuta 246 Ceylon 168, 171 Chakrabarty, Dipesh 13 Challenger 465, 466, 472, 475 Chamisso, Adalbert von 461, 472 Charcas 190, 192 Charlestown 255 Chicago 302 Chile 133, 291, 348, 386, 485 China 77, 81, 86, 97, 103, 118, 122, 168, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 194, 262, 263, 317, 318, 320, 362, 388, 389, 396, 397, 418, 419, 420, 423, 424, 427, 434, 435, 436, 491, 494 Chios 315 Christian Ernst, Markgraf von Brandenburg-Bayreuth 205, 206, 217 Christus, Jesus 180, 286 Chun, Carl 464, 467 Cicero 29, 30, 62, 71 Clarke, Arthur C. 437 Claudius, röm. Kaiser 51, 52, 127 Clausewitz, Carl von 98 Clavijo 154, 155 Cleveland 302 Clonmel 379 Clontribret 379 Coburg 212 Cochin 350 Cohn, Emil Bernhard 311 Colcutt, Thomas Edward 506 Cole, Lowry 393, 394 Colladon, John-Daniel 469 Colomb, Philipp 96, 101, 102 Conrad, Joseph 286 Cook, James 135, 139, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 149, 152, 237, 460, 461, 472 Coote, Eyre 382

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Verzeichnis der Personen, Orte und Schiffe

Corbett, Julian Stafford 98, 99, 102 Córdoba de Tucumán 191 Cortés, Hernan 154, 155, 157, 159 Coryate, Thomas 103 Côte d’Azur 514 Crassus 70 Creek Town 276 Cromwell, Oliver 377, 379, 382, 383, 384 Crosbie, Barry 380 Crosby, Alfred 163 Crowther, Samuel 222 Crutzen, Paul 472 Cuenca 158 Culata 160 Cullen, Paul 395 Cuxhaven 504 Cuzco 161 D’Ailly, Pierre 155 Dampier, William 460 Dänemark 271, 274, 463, 477, 478, 493, 499 Danzig 80, 494 Dar es Salam 169 Darwin, Charles 460, 465 Davies, John 376 Davis, Arthur J. 506, 507 DDR 433, 469 Defoe, Daniel 308 Dejima 317 Delft 318 Delos 50 Delphi 61, 62 Den Helder 477 Deutsches Reich 86, 110, 285, 318, 340, 341, 348, 420 Deutschland 84, 86, 87, 101, 112, 113, 115, 175, 251, 295, 296, 297, 299, 301, 303, 305, 306, 308, 309, 312, 319, 323, 324, 329, 332, 341, 348, 350, 353, 356, 367, 370, 420, 422, 423, 427, 428, 429, 432, 434, 435, 436, 440, 449, 451, 452, 453, 454, 455, 456, 459, 460, 463, 464, 467, 471, 476, 477, 478, 493, 496 Deutsch-Neuguinea 239 Diangenda Kuntima 287 Diaz, Bartolomeu 123 Díaz del Castillo, Bernal 155, 156, 159, 160 Dickens, Charles 501 Didyma 62 Dienemann, Mally 311 Dionysios I. 39

Djakarta 178 Dnepr 315 Döblin, Alfred 308 Dohrn, Anton 462, 469 Dominica 277, 278 Dönitz, Karl 114 Dover 53 Down 389 Dresden 369, 468 Drogheda 377, 383 Dubin, Lois 307 Dublin 376, 378, 379, 380, 381, 383, 386, 388, 390, 394 Duero 153 Duisburg 435 Dusky Bay 142, 145 Ecuador 133, 160 Edam 358 Edinburgh 398, 403 Einstein, Albert 469 El Mina 260 Elba 313 Elbe 78, 340, 348, 434, 509 Elias, Norbert 414, 415 Elisabeth I., Königin, England 378 Elisabethville 287 Ellis Island 295, 301, 304, 306 Elmina 260, 412 Eloesser, Arthur 313, 314, 315 Emden 264 Engelhardt, August 358 Engels, Friedrich 422 England 77, 81, 83, 113, 237, 245, 249, 269, 271, 272, 278, 320, 356, 357, 363, 376, 377, 378, 380, 382, 383, 391, 406, 409, 413, 415, 417, 420, 421, 422, 427, 428, 429, 430, 432, 461, 477 Enkhuizen 357 Ephialtes 64 Erfurt 214 Erzgebirge 429 Estland 463 Etzioni, Amitai 197 Europa 15, 16, 17, 19, 21, 22, 24, 73, 74, 80, 83, 105, 110, 111, 123, 124, 125, 126, 127, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 146, 147, 148, 151, 163, 164, 167, 168, 172, 175, 176, 177, 178, 179, 182, 185, 186, 187, 194, 198, 244, 245, 257, 259, 260, 261, 264, 265, 267, 268, 289, 290, 292, 293, 294, 296, 297, 298,

Verzeichnis der Personen, Orte und Schiffe 299, 300, 307, 309, 310, 312, 313, 314, 315, 315, 316, 317, 318, 319, 320, 322, 323, 324, 341, 342, 345, 349, 350, 359, 362, 363, 367, 370, 397, 398, 401, 402, 409, 410, 411, 415, 417, 418, 419, 421, 423, 424, 425, 426, 464, 466, 472, 475, 476, 477, 478, 479, 481, 506, 513 Évian 299 Extremadura 158, 160 Fahy, Anthony 387 Fanning, Tim 381 Farenheit, Daniel Gabriel 468 Faro 156 Fiji 238, 348, 352, 366, 367, 368 Finnland 463 Fitzgerald, F. Scott 514 Fiume 303, 306 Flavius Josephus 48 Flensburg 264 Flinders, Matthew 485 Florenz 180, 246 Florida 316 Forbes, Edward 465 Ford, Henry 397 Formosa 168 Forster, Georg 135, 138, 139, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 461, 472 Forster, Johann Reinhold 142, 144, 149 Foster, Roy 390 Foucault, Michel 308 Fourah Bay College 222 Francke, August Hermann 200, 203, 205, 212, 213, 215, 216, 217, 218, 219 Franken 204, 207, 210, 214 Frankfurt/Main 309, 313 Franklin, Benjamin 461, 472, 482, 483, 484, 485 Frankreich 81, 83, 104, 112, 180, 186, 245, 249, 251, 254, 264, 271, 278, 280, 298, 299,319, 320, 340, 345, 356, 357, 359, 362, 363, 378, 381, 382, 383, 393, 394, 420, 431, 440, 452, 456, 463, 467 Freeden, Wilhelm von 462 Friedenthal, Herbert 312 Friedrich Wilhelm, der große Kurfürst, Brandenburg 83 Fröhlich, Fanny 398, 402, 403 Froschauer, Johann 137 Fugger, Handelshaus 263 Furtwangen 429, 430

521

Galilei, Galileo 183 Galizien 303 Galway 382, 389, 390 Gambiamündung 259 Gandhi, Mahatma 398, 406 Gaspari, Adam Christian 129 Gaula, Amadis de 156 Gauss 469 Gazelle 466, 475 Geiss, Imanuel 398, 412, 413 Gelon von Syrakus 38 Genf 496 Gennep, Arnold van 308, 309 Genua 96, 104, 105, 246, 315, 316 Georg Wilhelm, Markgraf von Brandenburg-Bayreuth 207, 217 Georgien 73 Ghana 179, 259, 288, 397, 398, 399, 401, 402, 403, 404, 405, 406, 407, 408, 409, 411, 414, 416, 417, 418 Gibeon 284 Gibraltar 73, 315 Gidden, Anthony 375 Giraldus Cambrensis 376 Glete, Jan 106 Goa 262 Godeffroy, Handelshaus 341, 345, 350 Godeffroy, Johan Cesar VI. 339, 348, 349, 365, 366, 367, 368, 369, 370, 372, 373 Godeffroy, Johann Cesar VII. 349, 355 Goldküste 179, 259, 260 397, 401, 403, 405, 408, 409, 410, 417 Goldschmied, Leopold 311 Göring, Heinrich 285 Goslar 369, 373 Gotha 171 Gott 445 Gottgetreu, Erich 311 Graeffe, Eduard 365, 366, 367, 368, 373 Granada 157 Great Eastern 509 Great Western 508 Greenblatt, Stephen 14, 131 Greenhill, Basil 76, 84 Greenwich 76 Grenada 388 Griechenland 26, 30, 31, 58, 59, 62, 95, 297, 414 Grohs, Gerhard 400 Gronemann, Sammy 310 Gronemann, Sonja 311

522

Verzeichnis der Personen, Orte und Schiffe

Grönland 469, 500 Großbritannien 86, 109, 111, 112, 113, 249, 251, 274, 279, 282, 285, 296, 297, 299, 318, 320, 341,375, 380, 385, 386, 387, 388, 389, 396, 397, 398, 410, 411, 417, 419, 420, 423, 424, 427, 429, 431, 440, 441, 452, 456, 459, 460, 463, 465, 470, 492, 493, 502, 504 Grotius, Hugo 17, 460, 489, 492, 493, 499, 500 Grubbe, Peter 407 Guadalquivir 153 Guam 235, 236 Guayaquil 256 Guineaküste 260 Gustaf Adolf II., König, Schweden 83 Haarlem 262 Hadley, John 468 Haeckel, Ernst 464 Hagenbeck, Carl 345 Hagenbüchach 205, 216, 218 Haifa 312, 314 Haiti 158, 249, 254, 382 Halle an der Saale 200, 205, 206, 212, 213, 214, 215, 216, 217, 220 Hamburg 12, 83, 262, 298, 301, 302, 304, 305, 306, 307, 308, 313, 318, 339, 340, 341, 342, 345, 346, 348, 349, 350, 352, 355, 356, 355, 356, 357, 358, 359, 360, 361, 362, 363, 364, 365, 366, 368, 369, 372, 373, 430, 432, 433, 434, 435, 441, 442, 446, 459, 460, 462, 469, 470, 476, 494 Hannover 470 Hanseatic 503 Harms, Bernhard 417, 418 Harms, Ludwig 225 Harms, Robert 273 Hassel, Johann Heinrich 200, 212 Havanna 98, 248, 252, 254, 273 Hawaii 238, 450 Haweis, Thomas 238 Hearne, Austin 393 Heidelberg 367, 368 Heilsbronn 211 Heine, Heinrich 314 Heinrich II., König, England 377 Heinsius, Paul 75, 84 Helgoland 469 Heller, Hartmut 204, 210, 211 Helsinki 479

Hennessy, John Pope 391 Hensen, Victor 463, 464, 477 Herkules 73 Hermann, Hugo 311 Hermannsburg 225 Herodes der Große 51 Herodot 24, 29, 31, 36, 44, 59, 61, 62, 63 Herwig, Walter 463, 464 Herzl, Theodor 313 Hesiod 23, 26 Hess, Janet B. 401, 405 Hewson, Paul David Heye, Hellmuth 113 Hieron II. von Syrakus 46 Hildesheim 365, 369, 372, 373 Hinestrosa, Gregorio de 193 Hinz, Karl 443, 444 Hipper, Franz von 112 Hippodamos von Milet 45 Hispaniola 157, 247, 248 Hitler, Adolf 112, 113 Hjort, Johan 477 Ho Chi Minh 319 Hoban, James 385 Hoek, Paulus P. C. 476, 477, 478 Hohenzollern 504, 505 Holden, Philip 399, 403, 404, 415, 416 Holland 80, 262, 264, 356, 357, 358, 460 Holm, Poul 438 Homer 23, 24, 26, 27, 28, 29, 34, 44, 57, 58, 62, 93 Hongkong 389, 392, 426 Hooke, Robert 468. 476 Hormuz, Straße von 491 Howe, Stephen 380 Hoxton, Walter 482, 484 Hudson Bay 317 Humboldt, Alexander von 16, 133, 139, 460, 461, 467, 472, 485 Huntington, Samuel P. 141, 144 Husum 76 Hutchins, David 169, 173 Hyde Park 417 Ijssel-Meer 84 Ilha de Luanda 247 Imperator 507 Indien 128, 163, 164, 167, 168, 169, 171, 181, 182, 185, 260, 299, 318, 319, 320, 380, 381, 382, 383, 387, 388, 389, 390, 391, 392, 395, 396, 397, 418, 419, 420, 422, 423, 424, 425, 482

Verzeichnis der Personen, Orte und Schiffe Indischer Ozean 80, 134, 163, 164, 166, 167, 168, 169, 172, 173, 175, 260, 315, 317, 381, 393, 423, 446, 449, 466, 467, 469, 481, 483 Indochina 318, 319, 423, 426 Indonesien 80, 317, 320 Inikori, Joseph 265 Ionien 28 Ionisches Meer 101 Irland 375, 376, 377, 378, 379, 380, 381, 382, 383, 384, 385, 386, 387, 388, 389, 391, 393, 394, 395, 396, 397, 463, 465 Irland, Freistaat 396 Iserlohn 431 Island 315, 463 Israel 308, 309, 310, 311, 313, 491 Istanbul 201, 308 Italien 40, 41, 66, 67, 68, 70, 71, 124, 262, 292, 297, 312, 313, 357, 452, 462, 505 Jackson, Andrew 385 Jaffa 312 Jamaika 247, 253, 261, 269, 278, 383, 498 James, Henry 505 Japan 86, 182, 183, 185, 317, 318, 418, 420, 422, 423, 452, 491 Java 81, 166, 168, 178, 425 Jeffery, Keith 380, 381 Jesus Christus 288 Johann XXII., Papst 377 Johannes (Priesterkönig) 155 Jomini, Antoine-Henri 109 Joseph II., Mitregent, Österreich 187 Jünger, David 309 Kaffa 315 Kalifornien 171, 172, 348 Kalkutta 356, 426 Kambyses 38 Kampanien 51, 507 Kanada 76, 98, 287, 289, 290, 296, 297, 317, 386, 388, 389, 395, 396, 443, 452, 463, 471, 499 Kanarische Inseln 246, 247, 260, 466, 467 Kangxi, Kaiser, China 183, 184, 362 Kantabrien 377 Kantharos 46 Kanton 424, 425 Kap der Guten Hoffnung 123 Kapkolonie 223, 224, 282, 388, 395 Kapstadt 223, 307

523

Kapverdische Inseln 247, 262, 279, 466 Karer 23 Kareski, Georg 311 Kareski, Selma 311 Karibik 162, 244, 247, 248, 249, 251, 254, 269, 270, 272, 299, 316, 340, 347, 356, 361, 363, 381, 382, 383, 384, 423, 514 Karl V., Kaiser, Hl. Röm. Reich 247, 378 Karthago 37, 39, 40, 41, 49 Kassel 318 Kastilien 136, 154, 156, 157, 158 Kastilien-León 156 Kaukasus 73 Keating, Henry Sheehy 393 Kelly, Francis 393 Kemp, Theodor van der 223 Kennedy, John F. 397 Kenny, Kevin 381, 385 Keogh, Myles 386 Kew 167, 169 Kido 284 Kiel 214, 466, 468, 469, 476, 477 Kilkenny 379, 387 Kimbangu, Simon 182, 226, 286, 287, 288, 289 Kingston 253 Kinsale 378, 379 Kinshasa 179, 287 Kleinasien 44 Kleopatra 41 Klötzel, C. Z. 311 Knossos 23 Kolkata 171 Kolumbien 387 Kolumbus, Christoph 105, 123, 127, 128, 131, 133, 137, 155, 158, 159, 261, 316, 460 Kommos 43 Konfuzius 177, 183, 184, 185, 186 Kongo 221, 222, 225, 226, 286, 287, 394 Kongo (Brazzaville) 286 Konstantin 41 Konstantinopel 48, 55, 95, 201, 314, 315 Korea v98, 396 Korinth 50, 93 Koroni 101 Korsika 313 Kraus, Alexander 438 Kreta 23, 43, 245, 315 Krim 98, 100, 315 Krischer, Markus 204

524

Verzeichnis der Personen, Orte und Schiffe

Krockow, Christian Graf von 112 Kronfeld, Gustav 353, 354, 355, 356, 357, 358 Kroton 63 Krümmel, Otto 463, 464, 467 Kuba 98, 137. 247, 248, 257. 269. 300. 383 Kubary, Stanislaus 366, 370, 371, 373 Kupferberg, Alfred 311 Kyrene 61, 62, 63, 74 Kyros (Perserkönig) 59 Kyzikos 96 L’Overture, Touissant 382 La Coruña 53 La Pérouse, Jean-François de Galaup de 237, 461 La Rochelle 253, 254, 262 Labrador-See 317 Labuan 392 Laconia 513 Ladoga-See 315 Lagos 252, 256 Lally, Thomas 382 Lamport, William 382 Landa, Diego de 230, 233 Lange, Joachim 215 Las Navas de Tolosa 156 Lateinamerika 178, 181, 386, 420, 421, 423, 434 Laureion 38 Laurons 74 Le Havre 253, 254, 506 Legon 398, 414 Leibniz, Gottfried Wilhelm 186 Leiden 262, 369 Leipzig 417, 420, 467 Leith 505 Leopold I., Kaiser, Österreich 201 Leopold I., König, Belgien 417 Leopoldville 179 Lepanto 105, 106 Lerche, Johann Christian 200, 220 Lesotho 225, 279, 281, 282 Lettland 303, 463 Leutwein, Theodor 285 Levante 38, 43, 418 Libau 303 Lichtblau, Albert 309 Lichte, Hugo 469 Lichtenberg, Georg Christoph 133, 138, 139 Lichtenstein, Hinrich 224 Lightning 465

Ligurien 315 Lima 190, 191, 236, 256 Limerick 381, 393 Limpopo 225 Lindberg, Erik 360, 361 Linné, Karl von 125 Lissa 94 Lissabon 136, 139, 180, 246, 252, 253, 256, 260, 308, 362 List, Friedrich 429 Little Big Horn 386 Liverpool 252, 253, 256, 276, 298, 305 Livingstone, David 221, 224, 225 Loewenson, Friedel 310 Logroño 162 Loire 264 Londinium (London) 53 London 163, 165, 166, 167, 168, 170, 223, 225, 237, 245, 249, 251, 252, 253, 255, 256, 297, 298, 308, 318, 320, 358, 359, 362, 363, 398, 399, 403, 406, 409, 417, 420, 426, 466, 472, 476, 479, 480, 481, 482, 483, 504, 506, 508, 509, 512, 513, 516 Looney, Hyacintha 393 Louisiana 273, 383 Lovejoy, Paul 265 Löw, Conrad 127, 128 Loyola, Ignacio de 192 Luanda 246 Lubumbaschi 287 Lucania 507 Lucullus 70 Lüderitz, Adolf 285 Ludwig XIV., König, Frankreich 184 Ludwig XVI., König, Frankreich 461 Lumumba, Patrice 401 Lüneburger Heide 225 Lusitania 508 Lutendele 287 Lybien 61 Macao 317 Macartney, George 388 Mackenzie, Charles 225 Madeira 246, 260, 262, 264 Madras 388, 391, 395 Madrid 190, 196, 199 Magellan, Ferdinand 235, 460 Mahan, Alfred Thayer 96, 97, 98, 99, 101, 102, 103, 109, 110, 113, 114 Maheine 143, 146

Verzeichnis der Personen, Orte und Schiffe Main 430 Mainz 74 Makedonien 40, 63 Málaga 157 Malakka, Straße von 491 Malaysia 423 Malediven 263 Mali 246 Malta 498 Manchester 262, 422 Manila 168 Mann, Golo 109 Mann Borgese, Elisabeth 437 Mannheim 313, 352 Mansa Musa 246 Marburg 367, 368 Marcus Licinius Crassus 68 Marianen-Inseln 235 Marmarameer 62, 466 Marokko 299 Marquesas-Inseln 146, 238 Marseille 75, 318 Marsh, George P. 174, 175 Marsigli, Luigi 460 Martin, Marie-Luise 288 Martinique 320 Marx, Karl 396 Massachussetts 269 Mauretanien 53 Mauritius 392, 393, 394, 395 Maury, Matthew 462, 465, 472 Max Emanuel, Kurfürst, Bayern 201, 207 May, Yomb 151 Mayo 387 McBride, John 394 McCormick, Camilla 393 McMahon, Tim 381 Mehmed IV., Sultan 201 Meiners, Christoph 142, 149 Meiningen 214 Melanesien 143, 149, 238, 239, 240, 349 Melbourne 164, 168, 169 Melilla 246 Melville, Herman 11 Mero, John L. 450, 451, 454 Merz, Alfred 468 Mesoamerika 228 Metapont 63 Meteor I 468 Meteor II 469 Methoni 101 Mewès, Charles 506, 507

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Mexiko 227, 229, 230, 247, 255, 256, 382, 385, 420, 431, 450 Meyer, Heinrich Adolf 463 Middelburg 253, 255, 256 Mikronesien 239, 348 Milne-Edwards, Alfonse 466 Minos 23, 44 Mississippi 385 Mitchel, John 386 Mithridates VI. 71 Mithridates von Pontos 50 Mittelamerika 244, 245, 251 Mitteleuropa 291, 297, 299, 302, 363 Mittelmeer 23, 29, 31, 34, 37, 39, 40, 41, 62, 63, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 73, 74, 79, 94, 95, 96, 101, 102, 104, 105, 245, 315, 316, 319, 357, 461, 465, 466, 467, 502, 504 Möbius, Karl August 463, 464 Moffat, Robert 224 Mohn, Henrik 466 Moltmann, Günter 356 Molukken 492 Mombasa 260 Mongolei 494 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de 97 Montevideo 387, 466 Montserrat 383, 384, 393 Monyebe 224 Moses 129 Moshoeshoe 279, 280, 281, 282, 289 Möwe 463 Müller, Ferdinand von 169, 171, 172, 173, 174, 175 Müller, Liselotte 311 München 199, 201, 204, 207 Munster 376, 378, 388 Münster, Sebastian 127, 135 Munychia 46 Murray, Chantal 393 Murray, Hubert 242 Murtagh, Nativity 393 Museum Godeffroy 365, 366, 367, 368, 369, 372, 373 Myanmar 435 Mykale 38 Mylae 103 Mzilikazi 224 Naas 388 Namibia 283, 285, 286

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Verzeichnis der Personen, Orte und Schiffe

Nanking 389 Nantes 252, 254, 262, 382, 467 Naoroji, Dadabhai 391 Napoleon Bonaparte 109 Natal 225 National 464, 466 Nausikaa 26, 27, 28, 57, 58 Navarra 158 Ndongo 246 Neapel 41, 245, 476 Nehru, Jawaharlal 398 Neiafu 353, 355 Nepal 494 Neuchâtel 262 Neuguinea 348 Neum 494 Neumann. Oskar 311 Neumayer, Georg von 462, 466 Neuseeland 143, 145, 289, 29, 319, 353, 354, 355, 356, 383, 388, 394, 395, 396, 423 Neusohl 263 Nevis 384 New Orleans 255, 385 New Town 276 New York 245, 249, 250, 254, 255, 257, 293, 295, 302, 304, 306, 307, 309, 313, 380, 381, 385, 386, 389, 391, 397, 398, 403, 416, 426, 501, 502, 505, 508, 511, 514, 516 Newport, Rhode Island 109 Newton, John 273 Nicklisch, Andrea 340 Niederlande 73, 79, 80, 82, 83, 105, 107, 249, 251, 271, 298, 299, 320, 355, 356, 357, 360, 361, 363, 364, 452, 463, 478, 492, 493 Niger 494 Nigerbecken 259 Nigeria 222, 226, 279, 288 Nil 47 Nixon, Frederick 393 Nkamba 286, 287 Nkrumah, Kwame 397, 398, 399, 400, 401, 402, 403, 404, 405, 406, 407, 408, 409, 410, 411, 412, 413, 414, 415, 416, 417, 418 Noble, Margaret 391 Nocke, Alexandra 308 Nordafrika 44, 55, 170, 259, 315, 319 Nordamerika 244, 278, 289, 291, 293, 296, 306, 316, 383, 476, 479, 504

Nordatlantik 463, 466, 469, 482 Norddeutschland 359, 363 Nordeuropa 34, 377, 461 Nordfrankreich 245 Nordkorea 435 Nordpol 500 Nordsee 53, 78, 86, 110, 111, 112, 315, 340, 441, 442, 463, 464, 468, 469, 470, 493 Norfolk Island 238 Normandie 507 Norwegen 114, 440, 463, 477, 478, 505 Nyasaland 225 Nzinga a Nkuwu 221 Ó Neill, Domhnall 377 O’Brien, Denis 397 O’Connor, Thomas 378, 381 O’Daly, Daniel 383 O’Donnell, C. J. 390 O’Donnell, Frank Hugh 390 O’Gorman, Thomas 386 O’Higgins, Ambrosio 386 O’Higgins, Bernardo 386 O’Leary, Daniel 387 O’Leary, Michael 397 O’Malley, Kate 380 O’Neill, Hugh 378, 379 O’Neill, Hugh Dubh 379 O’Neill, Owen Roe 379 O’Reilly, Alejandro 383 O’Reilly, Tony 397 Obama, Barrack 121 Oberitalien 105 Oberstimm 74 Octavian 41 Odessa 303, 307 Odysseus 26, 27, 35, 58, 126 Ojeda, Alonso de 157 Old Calabar 276, 278 Oldenburg 470, 476 Olpp, Johannes 284 Oñate, Pedro de 192 Onim 252 Oostende 358 Opaschowski, Horst 515 Oranje Freistaat 279, 281, 282, 394 Orellana, Francisco de 153, 154, 155, 156, 157, 160, 161, 162 Orkney Islands 111 Oslo 479 Osmanisches Reich 200, 201, 333

Verzeichnis der Personen, Orte und Schiffe Ostafrika 264, 463 Ostasien 86. 178, 180, 181, 361, 362 Österreich 340, 494 Österreich-Ungarn 291, 301, 302, 303, 432 Osteuropa 194, 301, 303, 306, 308 Ostfriesland 83 Ostia 51 Ostindien 129 Ostsee 79, 86. 100, 111, 315, 340, 463, 469, 470, 494 Oxford 319 Oyo, Großreich 222 Ozeanien 235, 237, 238, 243, 349, 366, 369, 372 Padmore, George 401, 411 Pakistan 299 Palästina 73, 307, 309, 311, 312, 313, 314, 396 Palau 370, 371, 373 Panamá 256 Papua 242 Paraguay 190, 191, 192, 193, 199 Pardo, Arvid 454, 455, 498 Paris 320, 466, 479, 506 Pasquier, Francisco 162 Paul III. (Papst) 180 Paul V. (Papst) 183 Paul Salomon Dialungana Kiangani 287 Paulus (Apostel) 43, 73, 180 Pazifik 73, 134, 135, 149, 155, 181, 348, 424, 446, 449, 450, 453, 491, 492 Pearl Harbor 121 Pearson, Frederick George 502 Peisistratos 31, 63 Peloponnes 101 Pennsylvania 302, 385, 407 Pergamon 40 Perikles 33, 45, 60, 64, 95 Persien 262, 423 Peru 154, 155, 160, 161, 168, 189, 190, 194, 196, 199 Peter I., Zar, Russland 81 Petermann, August 171 Petter, Wolfgang 110 Pforzheim 430 Phaleron 45 Pharos 46, 48 Pharsalos 95 Phasis 73 Philadelphia 302, 461 Philip, John 225

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Philipp II. von Makedonien 59 Philipp II., König, Spanien 191, 378 Philipp III., König, Spanien 378 Philippi 95 Philippinen 181, 494 Piräus 45, 46, 64 Pirenne, Henri 418 Pisa 96 Pittsburgh 302 Pizarro, Francisco de 157, 160, 161 Pizarro, Gonzalo 160 Planet 463 Platea 61 Platon 26, 31, 33, 60 Plinius 259 Plutarch 34, 60, 70 Pöhl, C. A. 369, 370 Pola 466 Polen 112, 113, 340, 463, 494 Polo, Marco 155, 350 Polykrates von Samos 38, 44 Polynesien 143, 238, 239, 354 Poma de Ayala 155 Pommern 353 Pommersfelden 126 Pompeius 40, 50, 57, 68, 69, 70, 71 Pomponius Mela 127 Pondichery 263, 382 Popowitsch, J. S. V. 461 Porcupine 465 Port Louis 393, 394 Portugal 80, 136, 139, 156, 180, 247, 260, 264, 271, 272, 285, 297, 298, 307, 340, 341, 357, 358, 361, 363, 383, 431, 432, 460, 463, 492, 493 Portugiesisch-Amerika 191 Portus 34 Portus Augusti 51, 55 Poseidon 24, 27, 463 Potosí 194 Pottinger, Henry 389 Powell, Erica 403, 412 Presner, Todd 309 Preston, Thomas 379 Preußen 262, 303 Príncipe 247 Prinzessin Victoria Luise 504 Psammetichos 38 Ptolemaios III. Euergetes 46 Ptolomeus 132 Puerto Rico 247, 248, 383 Puerto Viejo 161

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Verzeichnis der Personen, Orte und Schiffe

Punt 38 Puteoli 51, 66 Pythagoras 63 Qianlong, Kaiser, China 184 Quaker City 505, 511 Quebec 317 Queen Mary 507 Quetzalcoatl 182 Quito 256 Raeder, Erich 102, 109, 112, 113, 114, 115 Raleigh, Walter 97 Ramses III 38 Rangoon 389 Rapa Nui 371 Rathenau, Walther 430 Ratzel, Friedrich 444, 445 Ravenna 33, 41 Recife 252, 253 Reichmann, Eva 311 Reinhard, Wolfgang 414, 416 Remane, Adolf 468 Remscheid 431 Rennell, James 481, 482, 483, 484, 485, 486, 487 Rhein 78, 429, 430, 431, 505 Rheinland 430 Rhode Island 253, 255 Rhodes, Cecil 225 Rhodos 12, 40, 46, 50, 314 Ricci, Matteo 183, 184, 185, 187 Rijeka 303 Rinuccini, Giovanni Battista 378 Rio de Janeiro 252, 253 Río de la Plata 190, 192, 194, 198 Rioni 73 Ripa, Cesare 124 Rivière, Marc-Serge 393, 394 Rodd, Jane 481 Rodney, Walter 265 Roemer, Adolph 365, 368, 369, 370, 372, 373 Roemer, Hermann 369 Röhlk, Frauke 358 Rom 183, 34, 37, 40, 48, 50, 52 66, 67, 70, 71, 72, 73, 378, 383, 395, 451 Romulus 69 Ronda 162 Rooney, David 397, 404 Ross, James Clark 465 Rostock 470

Rotes Meer 38, 47, 466, 470 Rothermund, Dietmar 14, 151, 204, 207, 208, 210, 211, 221 Rotterdam 298, 302, 305, 358, 434, 435 Rouen 262 Rowley, Josias 393 Royal William 509 Rozwadowski, Helen 437, 441 Rüdisbronn 202, 205, 218, 219, 220 Ruhleben 304, 305 Ruhr 429 Rurik 461 Russland 100, 118, 141, 291, 301, 302, 304, 315, 333, 340, 388, 389, 392, 432, 443, 463, 477, 499 Ryan, Rapheal 393 Saavedra, Hernando Arias de 192 Sachsen 428 Safi 316 Said, Edward 13 Saint Domingue 249, 254, 261, 278, 382 Salamanca 136 Salamis 32, 37, 38, 39, 63, 103 Salé 316 Salewski, Michael 114, 115 Salisbury 413 Saloniki 308 Salvador de Bahia 252 Sambia 225 Samoa 348, 349, 350, 355, 366, 370, 371 Samos 44, 63 San Francisco 307 Sanlúcar de Barrameda 253 Santiago 153, 154, 155, 156, 160, 162 Santo Domingo 158, 248, 256 Santorin 43 Sanvitores, Diego Luis de 235 Saõ Paulo 192 São Tomé 246, 247, 260, 262 Sardinien 316 Sars, Michael 465, 466 Scapa Flow 111 Scavkapalanka 202 Schade, Johann Kaspar 211 Schall von Bell, Johann Adam 183, 188 Schimmelmann (Handelshaus) 361 Schlesien 428 Schlinck, Heinrich 352 Schlögel, Karl 15 Schmeltz, Johannes Dietrich Eduard 366, 369

Verzeichnis der Personen, Orte und Schiffe Schmidt, Georg 223 Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich 146 Schmoller, Gustav 429 Schongauer, Martin 137 Schott, Otto 430 Schottland 377, 378, 395, 410 Schramm, Percy Ernst 355, 360 Schülting, Sabine 132 Schultz, Alfred 355, 356, 358 Schultz, Clara 357 Schwaben 428 Schwarzes Meer 29, 62, 73, 100, 303, 315, 317, 461 Schwarzwald 429, 431 Schweden 463, 468, 478 Schweiz 312 Scotia 508 Sechele 224 Sedco 445 453 Seeland 80 Selden, John 17, 460, 493 Senegal 246, 259, 320 Senghor, Léopold Sédar 319 Servia 501 Sevilla 136, 156, 180, 246, 248, 253, 254, 255, 256 Shaka, König der Zulu 279, 280 Shanghai 426, 434, 435, 436 Sheffield 263 Sheridan, Philip 386 Siemens, Werner (von) 430 Sierra Leone 221 Sigsbee, Charles Dwight 468 Silveira, Louisa (verh. Kronfeld) 353 Simbabwe 224, 225 Sinh Cung, Nguyen 319 Sirius 508 Sizilien 245, 313, 315 Skagerrak 111 Skandinavien 79. 80. 263, 315, 478 Smith, Adam 261 Smith, Thomas 376 Smith, Tim 438 Smyrna 28, 35 Soja, Edward 15 Sokrates 60 Solingen 260, 263, 431 Solon 34 Somalia 319 Songhay 259 Sonne I 470 Sonne II 470

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Sophia Louise, Markgräfin von Brandenburg-Bayreuth 205, 207, 209, 217 Sorkin, David 307 Soto, Hernando de 157 South Carolina 279 Southampton 305, 307 Soyinka, Wole 398, 416 Spanien 40, 41, 44, 68, 80, 104, 105, 136, 154, 162, 180, 264, 271, 297, 307, 340, 341, 347, 357, 377, 378, 379, 381, 386, 428, 431, 460, 463, 492, 493 Spanisch-Amerika 194, 196, 261 Sparta 37, 39, 65, 94 Spartacus 68 Spener, Philipp Jakob 211 Spengel, Johann Wilhelm 367, 368, 373 Spenser, Edmund 376, 377 Spiekeroog 470 Spieß, Fritz 468 Springer, Balthasar 350 St Christopher 384 St Kitts 383 St. Domingue 269 St. Lorenz-Strom 316 St. Paul 510 St. Rognvald 505 St.-Malo 253, 254 Stapleton, Thomas 384 Starkey, David 438, 440 Stern, Arthur 311 Stockholm 75, 84 Stolberg 263 Stump, Herman 305 Sturm, Charles-François 469 Subsahara 259, 265 Südafrika 164, 169, 173, 388, 471 Südamerika 137, 155, 289, 292, 302, 316, 340, 347, 349, 381, 387, 432, 514 Südasien 164, 168, 170, 172, 173, 174, 175 Südchinesisches Meer 494, 495, 500 Südeuropa 245, 292, 295, 299 Südfrankreich 262 Süditalien 315 Südkorea 86, 491 Südostasien 348, 350 Südosteuropa 301 Südsee 135, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 150, 151, 339, 345, 346, 348, 349, 350, 351, 352, 354, 358, 365, 368, 369, 370, 372, 373, 463 Südwestafrika 285 Südwestindien 348, 350

530

Verzeichnis der Personen, Orte und Schiffe

Suhl 263 Sulla 68, 71 Sutherland, Peter 397 Sydney 307 Sylt 469 Syrakus 38, 39 Syrien 38

Tucumán 190, 191, 196, 197 Tunesien 299 Tupaia 138, 140 Türk, Helmut 494 Türkei 389 Turner, Victor 309 Twain, Mark 505, 511

Tahiti 135, 145, 149, 236, 238, 467 Taiwan 397 Tajo (Tejo) 153 Talisman 464, 466 Tambora 317 Tanna 148, 149 Taurus 466 Tefen 310 Tegetthoff, Wilhelm von 94 Telfair, Charles 393 Temple, John 376 Temple Hamilton-Temple-Blackwood, Frederick, 1. Marquess of Dufferin and Ava 389 Teneriffa 264 Tenochtitlan 154, 247 Texel 253, 255, 256 Thaba Bosiu 280, 281 Thasos 94 Themistokles 32, 38, 45, 63, 314 Thera 61, 62 Thomas (Apostel) 182 Thomson, Charles Wyville 465, 466 Thorn 353 Thornton, John 265 Thrakien 61, 63 Thukydides 26, 28, 33, 34, 39, 93, 95, 97 Tiber 40, 52 Tiepolo, Giambattista 125 Tirpitz, Alfred (von) 96, 97, 192, 109, 110, 111, 112, 113, 114 Tonga 238, 348, 352, 353, 354, 355, 357 Tongatapu 238 Tordesillas 492 Torres Bollo, Diego de 192 Torrey Canyon 445, 446 Toulon 467 Trajan, röm. Kaiser 52 Transvaal 394 Travailleur 464, 466 Travancore 350 Triest 303, 308, 310, 312, 318 Trujillo 160 Tschad 494

Uganda 225 Ulster 376, 378, 385, 389 Ungarn 263 United Kingdom 478 Unshelm, August 348 Upolu 348, 349 Uruguay 291, 423 USA 16, 84, 86, 97, 101, 110, 118, 223, 226, 255, 271, 272, 278, 279, 287, 289, 290, 291, 292, 294, 295, 296, 297, 300, 301, 303, 353, 380, 385, 386, 395, 397, 419, 421, 422, 423, 424, 425, 427, 431, 432, 450, 451, 452, 456, 459, 461, 463, 464, 465, 470, 471, 472, 491, 497 Vaal 282 Valdivia 467 Valdivia II 470 Valencia 155, 158, 256 Valignano, Alessandro 182 Vanuatu 151 Varadkar, Leo 397 Vaterland 507 Vatikan 392, 395 Vava’u-Archipel 353 Venedig 46, 96, 101, 103, 104, 105, 315 Venezuela 387 Venn, Henry 222 Veracruz 248 Verardus, Carolus 131 Verbiest, Ferdinand 184, 187 Verne, Jules 464, 472 Versailles 113, 319, 494 Vespucci, Amerigo 137, 140 Victoria, Königin, Vereinigtes Königreich, Kaiserin, Indien 417 Vietnam 177, 182 Viktoriasee 225 Virginia 269, 278, 316 Vlissingen 253, 255, 256, 358 Volkmann, Klaus Peter 407 Vøringen 466, 475, 476 Walker, R. W. 501

Verzeichnis der Personen, Orte und Schiffe Wallis, Samuel 237 Warnemünde 470 Webb, Alfred 391 Weber, Max 330, 415 Weber, Theodor 348, 349 Wegener, Alfred 467, 469, 470 Weimar 202, 213 Weißenstein 126 Weltsch, Robert 311 Wendt, Reinhard 365, 368 Wertheimer, Martha 311 Wesley, Charles 278 Wesley, John 238, 278 Westafrika 246, 260, 263, 264, 265, 271, 392, 398, 400, 401, 414, 415 Westermann, Diedrich 400 Westeuropa 86, 87 Westfalen 349, 428 Westindien 267, 356 Westkleinasien 28, 58, 63, 64 Westpreußen 353 Whelehan, Niall 381 Whitefield, George 238 Whitman, Walt 408 Wien 75, 84, 126, 200, 201, 204, 213, 307, 369 Wilhelm II., Kaiser, Deutsches Reich 102 110, 467, 505 Wilhelmshaven 111, 469, 470 Williams, Ernest 427, 428 Wilson, James 238 Windus, Astrid 340, 353 Winkler, Martina 438 Winterthur 262

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Witbooi, Hendrik 283, 284, 285, 289 Witsen, Nicolaas 81, 82 Wittenberg 411 Woermann, Carl 433 Wolff, Christian 186 Wolfgramm, Anna Bertha (verh. Schultz) 355 Wolpe, Rebecca 308 Woods Hole 462 Wright, Richard 408 Württemberg 181 Würzburg 125 Xaver, Franz 126 Xenophon 95 Xerxes 38 Xu Guanqi, Paul 183 Yellow Ford 379 Yokohama 426 Yucatán 227, 228, 229, 230, 231, 232, 233 Zaandam 358 Zaïre 286 Zama 40 Zea 46 Zeiss, Carl 430 Zentralafrika 271 Zhu Xi 184, 186 Zollverein 429 Zollverein, Deutscher 341 Zürich 312, 367, 368 Zweig, Stefan 157 Zypern 245, 396

VERZEICHNIS DER MITARBEITERINNEN UND MITARBEITER Bellmann, Dagmar, Dr., Technische Universität Darmstadt. Böttcher, Nikolaus, apl. Prof. Dr., Freie Universität Berlin. Brinkmann, Tobias, ao. Prof. Dr., PennState College, Pennsylvania. Bruns, Sebastian, Dr., Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Denzel, Markus A., Prof. Dr., Universität Leipzig. Dippel, Horst, Prof. Dr., Universität Kassel. Ebhardt, Christian, Dr., Deutsches Schifffahrtsmuseum Bremerhaven. Elvert, Jürgen, Prof. Dr., Universität zu Köln. Elvert, Martina, M.A., Universität zu Köln. Fellmeth, Ulrich, Prof. Dr., Universitätsarchiv Universität Hohenheim. Flurschütz da Cruz, Andreas, Dr., Universität Bamberg. FranciscoVallejo, Javier, Freie Universität Berlin. Füllberg-Stolberg, Claus, Prof. Dr., Leibniz Universität Hannover. Häberlein, Mark, Prof. Dr., Universität Bamberg. Heunemann, Julia, Bauhaus-Universität Weimar. Hoerder, Dirk, Prof. em. Dr., Universität Bremen. Hoffmann-Wieck, Gerd, Dr., GEOMAR, Hemholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Karsten, Arne, PD Dr., Bergische Universität Wuppertal. Kirchberger, Ulrike, PD Dr., Universität Kassel. Kraus, Michael, Dr., Georg-August-Universität Göttingen. Lundt, Bea, Prof. em. Dr., Europa-Universität Flensburg. Marx, Christoph, Prof. Dr., Universität Duisburg-Essen. Matz-Lück, Nele, Prof. Dr., Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Morgan, Hiram, Dr., University College Cork. Mückler, Hermann, Univ-Prof. Mag. Dr., Universität Wien. Nagel, Jürgen G., Prof. Dr., FernUniversität in Hagen. Nicklisch, Andrea, M.A., Roemer- und Pelizaeus-Museum Hildesheim. Oltmer, Jochen, Prof. Dr., Universität Osnabrück. Reinhard, Wolfgang, Prof. Dr. Dr. h. c. em., Universität Freiburg. Rozwadowski, Helen M., Ph. D., University of Connecticut. Ruppenthal, Jens, PD Dr., Universität Bremen, Deutsches Schifffahrtsmuseum Bremerhaven. Schäfer, Christoph, Prof. Dr., Universität Trier. Schlör, Joachim, Prof. Dr., University of Southampton. Schmale, Wolfgang, Univ.-Prof. Dr., Universität Wien. Schmidts, Thomas, PD Dr. habil., Römisch-Germanisches-Zentralmuseum Mainz. Schulz, Raimund, Prof. Dr., Universität Bielefeld. Schüren, Ute, Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster. Sonnenberger, Udo, M.A., Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Sparenberg, Ole, Dr., Universität des Saarlandes Saarbrücken. Walle, Heinrich, Dr., Bonn

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Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Weber, Klaus, Prof. Dr., Europa-Universität Viadrina Frankfurt a. O. Wendt, Reinhard, Prof. Dr., FernUniversität in Hagen. Wendt, Samuel Eleazar, M.A., Europa-Universität Viadrina Frankfurt a. O. Windus, Astrid, Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster. Witt, Jann M., Dr., Deutscher Marinebund am Marine-Ehrenmal in Laboe. Zeuske, Michael, Prof. Dr., Universität zu Köln.

Dieses Buch möchte dazu beitragen, unseren Blick auf die Interdependenzen zwischen Europa und der Welt zu schärfen. Das Meer diente dabei seit den ersten europäischen Entdeckungsfahrten nach Übersee als Brücke zwischen der Alten und den Neuen Welten in Übersee, es war sogar die Voraussetzung dafür. Die hier versammelten Beiträge sind als inhaltliche Ergänzung und Vertiefung der Sonderausstellung „Europa und das Meer“ des Deutschen Historischen Museums Berlin konzipiert. Denn eine vergleichsweise komplexe Geschichte anhand einer zwangsläufig begrenzten Zahl von Exponaten sichtbar und zugänglich machen zu wollen, ist eine große Herausforderung für jedes Museum und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ohne die Reduktion auf das Wesentliche, Exemplarische geht es nicht, bestimmte Aspekte des Ausstellungsnarrativs können eben nicht visualisiert werden. Die Beiträge dieses Bandes wurden verfasst von Autorinnen und Autoren, die als Spezialisten auf ihrem jeweiligen Gebiet an der Erzählung dieser Ausstellung mitgewirkt haben. Ihre Studien liefern weiterführende und vertiefende Informationen zu Aspekten, die die Ausstellung selber nicht berücksichtigen kann.