149 81 48MB
German Pages 186 [185] Year 1981
A. S. Jerussalimski
Erika Stoecker
A. S. Jerussalimski Deutsche Geschichte im Leben eines sowjetischen Historikers und Kommunisten
Akademie-Verlag • Berlin 1980
Erschienen im Akademie-Verlag, DDR—108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 Lektor: Dr. Joachim Trotz © Akademie-Verlag Berlin 1980 Lizenz-Nr. 202 • 101/97/80 Einband und Schutzumschlag: Rolf Kunze Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen • 5488 Bestellnummer: 753 238 9(6412) • LSV 0258 Printed in GDR DDR 18,- M
Inhalt
V o r b e m e r k u n g Jürgen
VII
Kuczynski
Einleitung KAPITEL I :
1 5
D e r Entwicklungsweg des Historikers
Jugend und Studienjahre
5
D i e W a h l der Forschungsrichtung
.
.
11
D i e Geschichte der internationalen Beziehungen
26
Kampf gegen Faschismus und Krieg
39
KAPITEL I I : D i e A n a l y s e d e r A n f ä n g e d e u t s c h e r i m p e r i a l i s t i s c h e r A u ß e n politik
48
D i e Aufnahme der Monographie in der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft
48
D i e Auseinandersetzung mit der bürgerlichen deutschen Geschichtsschreibung
. . .
Pläne für weitere Arbeiten
KAPITEL I I I : A n d e r S e i t e d e r H i s t o r i k e r d e r D e u t s c h e n
74
Demokratischen
Republik
81
Erste Begegnung mit dem antiimperialistischen Deutschland
81
D i e Arbeit mit jungen Historikern der D D R Gemeinsamkeit
des Ziels und der Praxis in der Erarbeitung und
historischer Erkenntnisse Anhang:
60
94 Verbreitung HO 130
Erinnerungen an Arkadi Ssamssonowitsch Jerussalimski N. M. Druzinin
130
Erinnerungen an Arkadi Ssamssonowitsch Jerussalimski E. I. Druzin'ma
134 V
Nachwort
138
Auswahlbibliographie der Schriften A. S. Jerussalimski
140
Literatur über A. S. Jerussalimski
152
Personenregister
155
Bildnachweis
159
Vorbemerkung
Jerussalimski hatte das Glück, zum jungen Wissenschaftler in der großartigen Atmosphäre der zwanziger Jahre in der Sowjetunion heranzuwachsen. Die ältere Generation der Wissenschaftler, die in den drei Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende geboren war, entfaltete sich in diesem Jahrzehnt zu voller Blüte, die jüngere Generation begann in jenen Jahren erst zu knospen, doch entscheidende Züge wird sie nie verlieren. Jerussalimski sprach .später von „der großen revolutionären Romantik" jener Jahre, die jeder, auch beim kürzesten Besuch, verspüren mußte, und die jeden von uns Alten immer von neuem umfängt und verzaubert, wenn wir an sie zurückdenken, ja, die uns irgendwie noch heute anhaftet, die auch Jerussalimski nie verlassen hat, auch nicht in den niederdrückendsten Stunden seines Lebens. Es ist gut, daß Erika Stoecker uns einige Einblicke in sein Leben, in sein Wirken gegeben hat. Viel zu klein, ja, winzig nur ist unsere Literatur an Biographien revolutionärer Wissenschaftler. Reich sind wir an Biographien führender Politiker, erfreulich wächst die Literatur, die uns das Leben „einfacher Helden" des Klassenkampfes näherbringt. In einer Zeit jedoch, in der die Zahl und Bedeutung der Wissenschaftler so stark zugenommen hat wie im letzten Dritteljahrhundert, ist es wichtig, auch das Leben revolutionärer Wissenschaftler kennenzulernen. Solch ein revolutionärer Wissenschaftler war Jerussalimski. Doch noch ein anderes macht die Biographie Erika Stoeckers so willkommen. Deutschlands Geschichte in der Neuzeit war sein Hauptarbeitsgebiet, und deutsche Geschichte als Marxist zu schreiben, lehrte er ganz persönlich in unserer Republik zahlreiche junge und ältere Historiker, einigen von uns, auch mir, war er ein Freund aus alten Zeiten. Darum ist es auch nicht erstaunlich, daß Erika Stoecker als Untertitel ihrer Teilbiographie dieses sowjetischen Wissenschaftlers wählen konnte: „Deutsche Geschichte im Leben des sowjetischen Historikers und Kommunisten". Die Wahl des Untertitels ist richtig in doppeltem Sinne: Einmal erlebte Jerussalimski bei seinen Aufenthalten vor 1933 und nach 1945 einen Teil realer deutscher Geschichte ganz persönlich, sodann war die Geschichte des deutschen Imperialismus das Hauptthema seiner wissenschaftlichen Arbeiten. Wir beide waren Schüler des großen sowjetischen Ökonomen Eugen Varga, fast vier Jahrzehnte hindurch. Schüler auch noch, als wir eine Art Meister auf unseren speziellen Arbeitsgebieten geworden waren. Noch als wir beide über VII
sechzig waren, saßen wir wie Studenten zu seinen Füßen und lauschten dem über Achtzigjährigen. Beide kämpften wir, wie es sich für marxistische Wissenschaftler gehört, gegen die Ideologie des Feindes und für die Durchsetzung unserer Ideologie zu Hause. Und was für ein Freund, was für eine Stütze war Jerussalimski in solchen Kämpfen! Mutig und geschickt, fest und den Mitkämpfer stützend. Ein echter Wissenschaftler war Jerussalimski! Unermüdlich auf der Suche nach der Wahrheit - in Büchern, Archiven, Diskussionen; mutig sprach er die Wahrheit in seinen Büchern aus - ein echter Revolutionär als Wissenschaftler, der wußte, daß es für den Wissenschaftler nichts Revolutionäreres als die Wahrheit gibt, wenn man versteht, sie parteilich anzuwenden. Anzuwenden! Jerussalimski war ein Aktivist der Wissenschaft, ein Organisator man denke nur daran, wie er die Beziehungen zwischen unseren und sowjetischen Historikern im besten Sinne des Wortes institutionalisierte. Ein Aktivist und ein Initiator - wie könnte ich je den Spaziergang mit ihm und Gefter vergessen, auf dem wir von der künftigen Arbeit über Grundfragen methodologischer Art, über uns alle bewegende Probleme der neuen und neuesten Zeit sprachen. Und wie pflichtbewußt arbeitete er an Unternehmen, zu denen er nicht die mindeste Lust verspürte, deren Notwendigkeit er aber einsah, wie die Redaktion eines Bandes der großen sowjetischen Weltgeschichte. Sie bedeutete, daß sein Bismarck-Buch uns nur in Bruchstücken überkommen ist, aber wir brauchten endlich eine marxistische Weltgeschichte. Wie bedeutungsvoll war er auch als Lehrer. Klug und ernst ging er auf die Fragen und Probleme der jungen Wissenschaftler ein. Streng war er mit ihnen, wenn sie nicht diszipliniert arbeiteten, oberflächlich in den Quellen tasteten, eilig zu Schlüssen kamen. Groß war seine Geduld mit denen, die ihr Studium ernst nahmen. Strahlend seine Freude, wenn sie zu nützlichen Resultaten kamen. So war er ein Beispiel für seine gleichaltrigen Freunde und seine jüngeren Schüler. Ein kommunistischer Wissenschaftler war Jerussalimski, und so wird er in der Erinnerung seiner Wissenschaft weiterleben und weiterwirken - auch Dank dieser Biographie von Erika Stoecker. Jürgen
VIII
Kuczynski
Einleitung Arkadi Ssamssonowitsch Jerussalimski, dem Historiker, der - Geschichte lernend, erforschend und lehrend - mitwirkt, die Zukunft zu gestalten, dem Sowjetbürger, der sein Land und sein Volk mit Stolz und Bescheidenheit vertritt, dem Kommunisten, der seine Verantwortung kennt und ihr gemäß handelt. Weimar, 1.10. 1955
Lothar Bolz
Es ist heute zur Selbstverständlichkeit geworden, die Vorteile der Zusammenarbeit zwischen unseren in Freundschaft verbundenen Ländern in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens festzustellen und zu nutzen. Das ist gut so, und wir arbeiten daran, die Ergebnisse gemeinsamen Müllems zu mehren. Seltener schon erinnern wir uns der Pioniere dieser Zusammenarbeit; wir übernehmen lediglich ihre uns überlieferten Erfahrungen, lesen ihre Bücher. Doch ist es sicher an der Zeit, die Motive aufzuspüren, die diese Menschen in den für beide Völker schweren Jahrzehnten veranlaßten, als wahre Internationalisten unbeirrt dem Fortschritt dienende Positionen einzunehmen und schließlich an der Herausbildung und Festigung wahrhaft freundschaftlicher Beziehungen zwischen unseren Völkern zu arbeiten. Einer von ihnen, ein Wissenschaftler, der den Problemen der gesellschaftlichen Entwicklung in Gegenwart und Vergangenheit nachging, war Arkadi Ssamssonowitsch Jerussalimski. Er gehörte zu jenen sowjetischen Bürgern, die in wichtigen Entwicklungsetappen der 30jährigen Geschichte unserer Republik zu uns kamen, um ihre Erfahrungen und Kenntnisse den demokratischen und antiimperialistischen Kräften in der DDR zur Verfügung zu stellen. Das wissenschaftliche Erbe Jerussalimskis ist umfangreich. Drei Jahrzehnte emsiger Forschung und Lehre lagen hinter ihm, als er 1955 das erste Mal in die DDR reiste. Damals hörte auch ich seine Vorlesungen über die Marxforschung in der UdSSR. Zwei Jahre später hatte ich dann Gelegenheit, an seinem Forschungsseminar teilzunehmen.
1
Es ist nicht jedem Historiker möglich, den Menschen, dessen Biographie ihm „buchenswert" erscheint, auch persönlich kennen zu lernen. Jerussalimski arbeitete in seinem Seminar in Berlin mit vorwiegend jungen Historikern über die Geschichte des deutschen Imperialismus seit dem Ende des 19. Jh., ein Thema, mit dem ich mich später eigentlich nicht befassen wollte. W a s mich veranlaßte, in jenem Studienjahr 1957/58, als ich Jerussalimski als Studentin beobachten konnte, keine der Seminarveranstaltungen zu versäumen, war die imponierende Breite der Sachkenntnis, waren der geistreiche, erfrischende Humor und seine kluge, durch lange Erfahrungen bereicherte Führung junger Wissenschaftler. In erster Linie jedoch berührte mich das ungemein leidenschaftliche Engagement Jerussalimskis für ein freundschaftliches Zusammengehen der fortschrittlichen Menschen unserer Republik mit den Bürgern seines Heimatlandes, als dessen Vertreter er sich in der DDR fühlte - kurz: sein Eintreten für eine von Herz und Hirn bestimmte deutschsowjetische Freundschaft. Das war das Grundanliegen seiner Tätigkeit, sowohl in der DDR, während seiner zahlreichen Arbeitsbesuche, als auch in Moskau. Vielleicht mag sich manch einer, der in Berlin oder in Moskau Gelegenheit hatte, ihn zu „erleben", wie ich die Frage gestellt haben: Wer ist dieser Mann, was veranlaßte ihn zu einer derart lebhaften Anteilnahme an der Entwicklung der DDR, mit vollem Einsatz der eigenen Kraft? Dieser Frage versuchte ich in der vorliegenden Arbeit nachzugeben, und es entstand das Bild einer Persönlichkeit, eines Historikers, für den die deutsche Geschichte, die vergangene wie die zeitgenössische, nicht ein nüchterner „Forschungsgegenstand" war. Er fand sein Thema, dem er Zeit seines Lebens treu blieb, in den Auseinandersetzungen seiner Zeit. Der Kampf der jungen Sowjetmacht um die Festigung ihrer internationalen Positionen erforderte eine genaue Kenntnis der Geschichte und Gegenwart ihrer Beziehungen zu den imperialistischen Mächten, unter denen Deutschland einen besonderen Platz einnahm. Dieses Erfordernis wies den jungen marxistischen Historikern, deren Entwicklungsweg aufs engste mit dem ihres jungen sozialistischen Heimatlandes verbunden war, eine ganz bestimmte Aufgabe zu. Die Zeit, in der Jerussalimski wissenschaftlich wie publizistisch tätig war, verlangte von verantwortungsbewußten Zeitgenossen, die die Gegenwart mitgestalten wollten, vollen Einsatz. Mit Leidenschaft stellte sich Jerussalimski den von ihm akzeptierten Aufgaben - mitunter scharf in der Polemik, zunehmend durch den Gedankenreichtum, den er aus Lenins Werken schöpfte und der ihm half, die von ihm erarbeiteten und bewiesenen Erkenntnisse kompromißlos gegen alle Abweichungen zu vertreten. Er hat sich damit sein Leben nicht leicht gemacht, nicht in der Wissenschaft und auch nicht im gesellschaftlichen Leben. Doch gerade seine kommunistische Parteilichkeit hat ihm im In- und Ausland Achtung und Anerkennung gebracht. Nicht jedem Historiker ist es vergönnt, die Konsequenzen seiner wissenschaftlichen Prämissen durch die Geschichte bestätigt zu sehen und aus unmittelbarer Nähe miterleben zu können. Die Unterzeichnung der Kapitulation Hitlerdeutschlands am 8. Mai 1945, deren Augenzeuge Jerussalimski als einziger Historiker wurde, bedeutete für ihn zugleich, von nun an verstärkt an der Überwindung der 2
imperialistischen Ideologie mitzuarbeiten, und dies nicht nur mit den Mitteln des Historikers. Im direkten Meinungsaustausch mit Vertretern verschiedener Berufe aus vielen Ländern - erwähnt seien die „Rund-Tisch-Gespräche" 1961 in Warschau oder die erste Tagung der UNESCO Ende des Jahres 1956, die zu Fragen der Wissenschaft und Erziehung mit Abgesandten der nichtpaktgebundenen Länder Asiens in Neu Delhi durchgeführt wurde und in deren Verlauf es zu Begegnungen der sowjetischen Delegation, der Jerussalimski angehörte, mit Staatspräsident Rajendra Prasad und Ministerpräsident Nehru kam - reihte sich der sowjetische Wissenschaftler ein in das Ringen seines Heimatlandes, den Gedanken Lenins von der Möglichkeit friedlicher Koexistenz zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung zur Praxis des internationalen Zusammenlebens der Völker werden zu lassen. Warum ihm dabei wie in seinem ganzen Leben überhaupt die deutsche Geschichte und Gegenwart besonders nahe standen, soll im folgenden dargelegt werden.
KAPITEL
I
Der Entwicklungsweg des Historikers
Jugend und Studienjahre D i e belorussische Kleinstadt Bychov, im Gebiet Mogilev gelegen, zählte um die Jahrhundertwende 7 0 0 0 Einwohner, vorwiegend kleine Gewerbetreibende und Kaufleute;
die wenigen Handwerksbetriebe
der Stadt beschäftigten
insgesamt
etwa 5 0 Arbeiter. Als
Sohn eines kaufmännischen
Vertreters wurde Arkadi
Ssamssonowitsch
Jerussalimski hier am 1. Juni 1901 geboren. Seine frühesten Erinnerungen waren mit dem Leben am Ufer des Dnepr verbunden; gleichzeitig prägten sich bestimmte Erlebnisse fest in sein Gedächtnis ein, die ihn schon frühzeitig die Brutalität des Zarismus spüren ließen. In seiner Geburtsstadt, in einem Gouvernement im Westteil des Russischen Reiches gelegen, das die zaristische Regierung den Bürgern jüdischen Glaubens als Siedlungsgebiet zugewiesen hatte, lebten um die J a h r hundertwende etwa 3 4 0 0 Angehörige jüdischer Gemeinden, die gleich anderen nationalen Minderheiten Rußlands grausamster Unterdrückung ausgesetzt waren. Einen der zu Beginn des Jahrhunderts von der Reaktion häufig angestifteten Pogrome überlebte Jerussalimski als K i n d nur dank der Hilfe eines russisch-orthodoxen Geistlichen, der ihn in seinem Hause verbarg. Seine Eltern beschlossen, das G e b i e t zu verlassen; an der W o l g a , in Samara, dem heutigen Kujbysev, fand die Familie eine neue Heimat. E i n e völlig andere Atmosphäre bestimmte den Charakter dieser Stadt. Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft im J a h r e 1861 hatte sie wirtschaftlich einen großen Aufschwung genommen und war zu einem wichtigen
Handelsknotenpunkt
an der W o l g a geworden. D i e erste allgemeine Volkszählung im J a h r e 1897 registrierte in Samara 9 1 6 7 0 Einwohner; zur gleichen Zeit gab es hier mehr als 4 0 Bildungseinrichtungen. Nach seinen späteren Worten fand der junge Arkadi hier seine H e i m a t : „Alles, was meinen Charakter, meine Vorstellung über das Leben und über die Natur, über die Kunst und über die Menschen, alles, was meine Liebe zu Rußland prägte, ist verbunden mit der Wolga. A n der W o l g a verbrachte ich meine K i n d heit und Jugend, auch meine ersten Studienjahre." 1 1
Jerussalimski, A. S., Unbearbeitetes Stenogramm der Rede anläßlich seines 60. Geburtstages, gehalten im Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der UdSSR (im fol-
5
Die Atmosphäre im Hause seiner Eltern, die Aufgeschlossenheit des Vaters gegenüber den großen Werken der russischen wie auch der deutschen und westeuropäischen Kultur beeinflußten den Jungen nachhaltig. Verständnisvolle Lehrer des örtlichen Gymnasiums, später der Universität, unterstützten seine Neigung zu Literatur- und Sprachstudien. Die Beziehungen des Vaters zu Deutschland - er war als Vertreter deutscher Firmen in Rußland tätig und reiste mehrfach nach Deutschland - regten Arkadi an, sich mit deutscher Literatur und Musik zu beschäftigen. Frühzeitig begann er, sich die klassische, später auch die zeitgenössische Literatur zu erschließen. Seine besondere Liebe galt der Musik Mozarts. Am Gymnasium fand die Begeisterung des Schülers für Alte Geschichte aufmerksame Förderung. Ein Lehrer, der die überdurchschnittliche Begabung des Jungen erkannte, unterwies ihn außerhalb des Unterrichts in Alter Geschichte und in hebräischer Sprache. Auf Grund der beruflichen Tätigkeit des Vaters war es der Familie möglich, gelegentlich nach Deutschland zu reisen. Im Sommer durfte der Dreizehnjährige zum ersten Male die Eltern begleiten. So erlebte er in den Augusttagen dieses Jahres den Beginn des ersten Weltkrieges in Berlin ich stand auf der Karlsstraße (heute Reinhardtstraße - E. St.)", erinnerte er sich später, „und sah, wie am 1. August 1914 die deutschen Truppen ,für Kaiser und Vaterland' an die Front zogen. Einige Monate später kehrte ich über Schweden in die Heimat zurück und sah hier, wie unsere braven Soldaten an die Front gegen Deutschland zogen, um ,für Zar und Vaterland' zu kämpfen. Für mich als jungen Menschen war dies Anlaß für tiefgehende Überlegungen. Ich konnte lange nicht begreifen, was hier geschah." Wieder in der Heimat, regten ihn seine Erlebnisse an, sich mit den politischen Ereignissen seiner Zeit zu befassen, suchte er gleich vielen jungen Menschen seiner Generation die ursächlichen Zusammenhänge des Weltkrieges zu ergründen. Doch manches begann er erst besser zu verstehen, als er, wie er später berichtete, im Jahre 1917 „ . . . die Aufrufe der Bolschewiki über den imperialistischen Krieg hörte, . . . daß es die Aufgabe des internationalen Proletariats ist, die Herrschaft der Bourgeoisie zu beseitigen, gegen die Bourgeoisie zu kämpfen". 2 Als die Große Sozialistische Oktoberrevolution das Land erschütterte, stand Jerussalimski kurz vor Beendigung seiner Schulzeit. Seine erste Arbeitsstelle nach Schulabschluß, die Abteilung Volksbildung des Rates des Kreises Melekess im Gouvernement Samara, für die er als Instrukteur für außerschulische Bildung tätig war, delegierte ihn nach wenigen Monaten zum Studium, das er im März 1920 an der Sozial-Historischen Fakultät der zwei Jahre zuvor gegründeten Staatlichen Universität Samara aufnahm. genden: Stenogramm), Archiv der Akademie der Wissenschaften der UdSSR (im folgenden: A N SSSR), f. 1 5 3 9 , op. 1, S. 3. 2
6
Ebenda, S. 4 f.
Wie an allen Bildungseinrichtungen des Landes wurde das geistige Leben an der Universität Samara in den ersten Jahren nach dem Sieg der sozialistischen Revolution durch die Auseinandersetzung um die Grundwerte der neuen Weltanschauung und deren Anwendung in der gesellschaftlichen Praxis, damit um den Platz eines jeden einzelnen in den Geschehnissen des Tages bestimmt. „Heute tritt man uns nicht mehr mit der Waffe in der Hand entgegen", schrieb Lenin, „dennoch ist der Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaft hundertmal schärfer und gefährlicher, weil wir nicht immer klar sehen, wo der Feind gegen uns auftritt und wer unser Freund ist." 3 Der Bürgerkrieg und der Kampf gegen die Intervention der imperialistischen Mächte zwangen den jungen Sowjetstaat, zwangen die Kommunistische Partei vorerst zur Konzentration aller Kräfte auf die Lösung militärischer Aufgaben; die systematische Ausbildung marxistischer Wissenschaftler mußte zeitweilig zugunsten dieser Hauptaufgabe zurückgestellt werden. Erst nach der siegreichen Beendigung des Bürgerkrieges traten neue Erfordernisse in den Vordergrund, konnte der systematischen Erziehung und Ausbildung an den Universitäten und Hochschulen des Landes mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Eine vielschichtige Umgestaltung der ideologischen Beziehungen im Lande stand bevor, die nicht durch administrative Mittel zu bewältigen war. Im Gegenteil, die wissenschaftlich begründete marxistische Weltanschauung im Bewußtsein breiter Kreise der werktätigen Bevölkerung fest zu verankern, erforderte ein langwieriges und kompliziertes Einwirken auf überlieferte Denkvorstellungen und ein konsequentes, zugleich aber feinfühliges Verändern bisheriger Verhaltensnormen. Von diesen Auseinandersetzungen, die sich im ganzen Lande vollzogen, blieben die Universitäten und Hochschulen nicht ausgeschlossen. In den Hörsälen begegneten sich die verschiedensten Weltanschauungen und ideologischen Konzeptionen. Noch war die überwiegende Mehrzahl der Professoren der bürgerlichen Ideologie verhaftet, doch in den Diskussionen vor allem unter den Studenten, in langen, erregten Disputen im Anschluß an die Lehrveranstaltungen wurde um eine schöpferische Aneignung des dargebotenen Faktenmaterials gerungen, wurden kritisch die starken und schwachen Seiten in den Ansichten der Vortragenden gewertet, wurde um das Verständnis der marxistischen Theorie gestritten, stießen bisherige Auffassungen in zunehmendem Maße auf Widerspruch, reizten zur Auseinandersetzung und zur Widerlegung. Die kurze, doch anregende Studienzeit an der Universität Samara war für die Studenten 4 besonders lehrreich, weil dort zu jener Zeit vorwiegend Professoren der Universitäten Moskau und Petrograd wirkten. Zu ihnen zählte der junge, 3
Lenin,
4
Zu ihnen gehörten bekannte Wissenschaftler wie N . A. Maskin ( 1 9 0 0 - 1 9 5 0 ) , Spezialist für Geschichte Roms, A . V. Misulin ( 1 9 0 1 - 1 9 4 8 ) , Althistoriker, erster Rektor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU ( 1 9 4 6 - 1 9 4 8 ) und Herausgeber der Zeitschrift „Vestnik drevnej istorii" ( 1 9 3 8 - 1 9 4 8 ) , G. P. Francov ( 1 9 0 3 - 1 9 6 8 ) , Ägyptologe, Soziologe, Philosoph, Rektor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der
W. /., Werke, Bd. 33, Berlin 1977, S. 274.
7
talentierte, vielseitig interessierte Historiker P. F. Preobrazenskij 5 , der auf die weitere Entwicklung des Studenten Jerussalimski einen großen Einfluß ausüben sollte. Selbst Schüler bedeutender Historiker der Universität Moskau wie R. Ju. Vipper 6 und A. N. Savin, folgte Preobrazenskij dem Beispiel hervorragender russischer Geschichtsforscher, die eine Beschäftigung mit speziellen Problemen der russischen wie der außerrussischen Geschichte auf dem Hintergrund der allgemeinen historischen Entwicklung betrieben. Als Professor an den Universitäten Samara (1919-1921) und Moskau (1921-1937) tätig, legte Preobrazenskij Arbeiten zur Ethnologie und zur Griechischen und Römischen Geschichte vor. E r wurde anerkannter Ethnologe und Spezialist für die Geschichte und Kultur des frühen Christentums. Gleichzeitig setzte er seine in Seminaren bei A. N . Savin begonnenen Studien zur Geschichte der internationalen Beziehungen der Neuzeit in eigenen Lehrveranstaltungen fort und verfolgte aufmerksam die in verschiedenen Ländern herausgegebenen Aktenpublikationen zur Vorgeschichte des ersten Weltkrieges. E r verband seine Studien zur Geschichte des Imperialismus mit Vorlesungen zur gleichen Thematik. Seine umfangreichen Kenntnisse verschiedener historischer Epochen halfen ihm, den Weg zum Marxismus zu finden. In jenen Jahren verwandte Jerussalimski viel Zeit auf das Studium der Werke bedeutender Persönlichkeiten der internationalen Arbeiterbewegung. E r bemühte sich um die marxistische Methode der historischen Forschung und um deren Anwendung auf das eigene Spezialgebiet: Untersuchungen über die sozialen Bedingungen für die Entstehung frühchristlicher Religionen. In seinem Nachlaß ist eine seiner ersten Seminararbeiten erhalten, in der er sich mit dem Ursprung der grieKPdSU
( 1 9 5 8 - 1 9 6 4 ) , Chefredakteur
der Zeitschrift „Probleme
des Friedens
und
des
Sozialismus" ( 1 9 6 4 - 1 9 6 8 ) , M . M. Kobylina, Spezialistin für die Geschichte der Antike im Schwarzmeergebiet und andere. 5
P. F. Preobrazenskij ( 1 8 9 4 - 1 9 4 1 ) , Professor an der Universität Samara ( 1 9 1 9 - 1 9 2 1 ) und Moskau
( 1 9 2 1 - 1 9 3 7 ) ; vgl. seine Arbeiten zur griechischen und römischen
Geschichte:
Tertullian i Rim, 1 9 2 6 ; V mire anticnich idej i obrazov (Sammelband früher Schriften) Moskau 1965. D e s weiteren schrieb er über die Geschichte des Imperialismus und der internationalen Beziehungen
am Vorabend
des ersten Weltkrieges, vgl. „Ocerki
istorii
sovremennogo imperializma", 1. und 2. Aufl. 1926, in der er, basierend auf seinen V o r lesungen an der Universität Moskau, einen Überblick über die Entwicklung des Imperialismus in den wichtigsten europäischen Ländern gab. E r ging dabei von der Imperialismusdefinition Lenins aus (vgl. dazu Dunaevskij,
V. A., Sovetskaja istoriografija novoj istorii
stran Z a p a d a 1 9 1 7 - 1 9 4 1 gg., Moskau 1974, S. 232 f.). In einer Vielzahl von Rezensionen sowjetischer Veröffentlichungen sowie von Übersetzungen bürgerlicher Autoren wies sich P. als ausgezeichneter Kenner der Geschichte der internationalen Beziehungen, einzelner Probleme der Geschichte der Neuzeit und von Quellenpublikationen aus. P. war ein Wissenschaftler mit ausgeprägt publizistischem Talent. 6
Über R. Ju. Vipper ( 1 8 5 9 - 1 9 5 4 ) vgl. die aufschlußreiche Monographie von Safronov,
B. G.,
Istoriceskoe mirovozrenie R. J u . Vippera i ego vremja, Moskau 1976. Über A . N . Savin ( 1 8 7 3 - 1 9 2 3 ) vgl. den Gedenkband für A . N . Savin „Trudy Instituta Istorii R A N I O N " , Moskau 1926.
8
chischen Philosophie befaßte. 7 Diese Arbeit, geschrieben im Jahre 1920, ist unter verschiedenen Gesichtspunkten von Interesse. Sie beeindruckt durch den ausdrucksstarken und lebendigen Stil des Verfassers; die anschaulichen Vergleiche lassen den Einfluß des Historikers und Publizisten M. O. Gersenson erkennen, dessen Schriften Jerusisalimski während der ersten Studienjahre faszinierten. Die Arbeit selbst enthält sowohl seine Darlegungen über das gestellte Thema - den Zusammenhang zwischen dem philosophischen Denken und den allgemeinen Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens der altgriechischen Gesellschaft - als auch ausführliche schriftliche Antworten auf die Bemerkungen der Seminarleiter. In Erwiderung auf die Randbemerkungen der Professoren E. I. Tarasov und P. P. Lebedev, die der Student augenscheinlich nicht akzeptieren konnte - seine mitunter sogar aggressive Argumentation läßt darauf schließen - , setzte er sich mit Grundfragen der idealistischen Philosophie auseinander, die er in diesen Hinweisen, vor allem aber in den Publikationen seiner Seminarlehrer vorfand. Zugleich formulierte er seine Ansichten über die materialistische Geschichtsbetrachtung, die seiner Meinung nach eine einseitige Auslegung des „ökonomischen Faktors" in der Geschichte nicht zulasse. „Die materialistische Geschichtsauffassung", schrieb er, „sieht im historischen Prozeß nicht zwei Seiten, eine ökonomische und eine ideologische, die durch entsprechende Druckknöpfe miteinander verbunden sind: Der Druck auf den Knopf der ökonomischen .Basis' bedingt den Druck auf den des entsprechenden ideologischen .Uberbaus' - ein solches Verstehen der historischen Erkenntnistheorie ist Vulgarisierung." W i e aus der angegebenen Literatur ersichtlich, stützte sich Jerussalimski in seiner Beweisführung vor allem auf Arbeiten von Karl M a r x und Friedrich Engels, aber auch auf solche von G. V. Plechanov, Joseph Dietzgen und Karl Kautsky. Zweifellos ist diese Seminararbeit unter dem Einfluß seines Lehrers Preobrazenskij entstanden, der ihn in seinem Interesse für diese historische Periode bestärkte. Im Sommer 1921 kehrte Preobrazenskij nach Moskau zurück, um seine Lehrtätigkeit an der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität fortzusetzen. W i e aus einem Brief an den Studenten N. A. Maskin hervorgeht, w a r ihm sehr daran gelegen, seine Lieblingsschüler Jerussalimski und Maskin, die seit den ersten Studientagen in enger Freundschaft verbunden waren, nachfolgen zu lassen. Auf Preobrazenskijs Bemühungen hin übersiedelten Jerussalimski, dessen künftige Frau W a r w a r a und ihr gemeinsamer Freund N. A . Maskin im Oktober 1921 nach Moskau, wo sie ihr Studium an der Pädagogischen Fachrichtung der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität fortsetzten. Auch hier blieb die Alte Geschichte beider Spezialgebiet. Gleichzeitig wurden 7
2
Jerussalimski, A. S., Proischozdenie greceskoj filosofii v svjazi s obscimi (ekonomiceskimi) uslovijami narodnoj zizni, Seminarreferat, 18. 7. 1920, sowie derselbe, Moj otvet i nekotorye dopolnenija. K voprosu o roll ekonomiceskogo faktora v proischozdenii greceskoj filosofii, 5. 12. 1920. Archiv AN SSSR* f. 1539, op. 1, ed. ehr. 85. Stoecker, Jerussalimski
9
sie hineingeworfen in den Wirbel der politischen und ideologischen Auseinandersetzungen in der Hauptstadt des jungen Sowjetstaates. Zu Beginn der zwanziger Jahre war die Universität Moskau Schauplatz schärfster ideologischer Kämpfe zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen den Vertretern bisheriger Geschichtsauffassungen, die in der Regel über ausgezeichnete fachliche Kenntnisse verfügten, in ihrer Lehre jedoch - das betraf auch andere gesellschaftswissenschaftliche Disziplinen - von idealistischen Konzeptionen ausgingen, und den zunächst noch wenigen marxistischen Professoren. Diese Auseinandersetzungen dehnten sich auf die Studentenschaft aus, die seit 1922 zunehmend jenen Bevölkerungskreisen entstammte, denen nunmehr der Weg zu allen Bildungseinrichtungen des Landes erleichtert wurde. In den ersten Jahren der Sowjetmacht mußten Erfolg oder Mißerfolg des Ringens um den bestimmenden Einfluß an den Universitäten wesentlich davon abhängen, inwieweit es gelingen würde, die führenden Fachleute in den traditionellen Bildungs- und Forschungseinrichtungen für die bewußte Mitarbeit beim Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung zu gewinnen. Lenin hatte von den Kommunisten gefordert, sich „das Wissen und die Erfahrung dieser (der bürgerlichen E . St.) Spezialisten zunutze" zu machen; darin sah er „eine unbedingte Voraussetzung, ohne die man den Sozialismus nicht errichten kann". 8 Zugleich nahm er unmittelbar Anteil an der inhaltlichen Umgestaltung der gesellschaftswissenschaftlichen Lehranstalten und Forschungsinstitute. In seinen Erinnerungen an Lenin schrieb M. N. Pokrovskij: „Ich werde die kleine Beratung nicht vergessen, die im November 1920 in seinem Arbeitszimmer stattfand; Lenin legte uns einen Plan vor, der uns durch seine Kühnheit und Großartigkeit erschreckte - heute wird er bereits durch unsere tägliche Arbeit verwirklicht - , der Plan zur Umerziehung der Lehrkräfte an den Hochschulen. Nach diesem Plan sollte allen Hochschullehrern für Gesellschaftswissenschaften folgende Aufgabe gestellt werden: in kürzester Frist sich die Grundlagen des Marxismus anzueignen und künftig den Unterricht anhand von marxistischen Programmen durchzuführen... Damals erschien dies eine ungeheure, neue und kühne Aufgabe, und wir, die wenigen kommunistischen Professoren, die wir in Lenins Arbeitszimmer versammelt waren, entwickelten einen ,Gegenplan': die alten bürgerlichen Professoren durch neue, junge, zu ersetzen, die vorwiegend aus den Reihen unserer Partei stammten." 9 In ständiger Auseinandersetzung mit reaktionären Auffassungen verschiedener Professoren, im Ringen um die wertvollen, vorerst schwankenden, dann immer mehr die Sowjetmacht unterstützenden Vertreter der bürgerlichen Intelligenz gelang es nur allmählich, die Universitäten und Hochschulen in Zentren der sozialistischen Wissenschaft zu verwandeln. 8
Lenin,
9
Pokrovskij,
W. 1., Werke, Bd. 29, Berlin 1 9 7 6 , S. 141 f. M. N.
( 1 8 6 8 - 1 9 3 2 ) , Lenin i vyssaja skola, in: Izbrannye proizvedenija, Bd. 4,
Moskau 1 9 6 7 , S. 11.
10
Den Studenten bot die Moskauer Universität in jenen Jahren ein interessantes Bild. „Man konnte A . V. Lunacarskij hören und die Vorlesungen von Professor Il'jin über die .Gottesidee' bei Hegel; hier lasen M. N. Pokrovskij und M. M. Bogoslovskij; man hörte Professor Deborin und den Idealisten Professor G. G. Spet. Es war eine breite Palette vorhanden - von Karl Marx bis zum äußersten Antimarxismus . . . An der Moskauer Universität nahm ich an der großen Krise unserer Geschichtswissenschaft teil, wie wir als Studenten es damals empfanden," erinnerte sich Jerussalimski. 10 Unter den Lernenden herrschte eine lebhafte, streitbare Atmosphäre: Der glänzende Vortrag, auch die Rhetorik mancher Professoren konnten Eindruck erwecken; andererseits reizte der dargebotene Stoff zur kritischen Diskussion sowohl über fachliche Probleme als auch über die weitere politische und ideologische Entwicklung des Landes. Vielen Studenten gaben diese Auseinandersetzungen den Anstoß zum tieferen Durchdenken des Inhalts der proletarischen Revolution, zum Erkennen des Platzes des einzelnen und seiner Funktion in diesem Prozeß, wie B. G. Veber, durch lange Jahre gemeinsamer Arbeit mit Jerussalimski verbunden, zur eigenen Studienzeit zu Beginn der zwanziger Jahre bemerkt. 11 Die junge Sowjetmacht ging systematisch an die Veränderung des Ausbildungsprogramms; neue, bisher nicht behandelte Disziplinen wurden aufgenommen. So legte Jerussalimski beim Abschlußexamen im April 1923 u. a. Prüfungen zu folgenden Vorlesungen a b : Geschichte des Sozialismus bei V. P. Volgin, Historischer Materialismus bei A. M. Deborin, Ökonomie der Übergangsperiode bei N. I. Bucharin neben weiteren Examina zur Geschichte des Mittelalters bei D. M. Petrusevskij, zur Geschichte und Philosophie des Altertums, zur Psychologie usw. Wenige Monate darauf beendete Jerussalimski sein Studium mit einer Diplomarbeit über „Die jüdisch-christliche Apokalyptik", die P. F. Preobrazenskij betreut hatte. Im November 1923 begann er am Institut für Geschichte der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Moskauer Universität eine langjährige und fruchtbare wissenschaftliche Tätigkeit.
Die Wahl der Forschungsrichtung Mit dem Sieg der proletarischen Revolution im Oktober 1917 in Rußland begann der Prozeß der Umwandlung der marxistisch-leninstischen Theorie in die Ideologie der siegreichen Volksmassen. Noch während der Kämpfe schenkte die Kommunistische Partei den Gesellschaftswissenschaften, insbesondere der Geschichtswissenschaft, ihre erhöhte Aufmerksamkeit. Nach Beendigung des Bürgerkrieges wurde die Ausbildung von marxistisch-leninistischen Historikern zu einem wichtigen Bestandteil der Umgestaltung des gesellschaftlichen Lebens des Landes. An der Jahreswende 1920/21 berief die Kommunistische Partei eine erste Bera10
Jerussalimski,
A. S., Stenogramm, S. 3.
11
Mitteilung von B. G. Veber.
11
tung über Fragen der Volksbildung ein. Die schnelle Ausbildung von Fachkräften sowie die Einrichtung von wissenschaftlichen Forschungszentren standen als dringend zu lösende Aufgaben auf der Tagesordnung. Im Ergebnis der Beratung wurden die ersten Forschungszentren für Gesellschaftswissenschaften ins Leben gerufen, darunter, im August 1921, das Institut für Geschichte an der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Moskauer Universität. Im Jahre 1924 vereinigte man die verschiedenen Forschungsinstitute der genannten Fakultät, an denen auch bürgerliche Spezialisten mitarbeiteten, und unterstellte sie der koordinierenden Leitung eines Präsidiums, dem Pokrovskij vorstand. Zwei Jahre später erlangte die Vereinigung als Russische Assoziation wissenschaftlicher Forschungsinstitute für Gesellschaftswissenschaften (RANION) Selbständigkeit. Das der R A N I O N angeschlossene Institut für Geschichte der Moskauer Universität, das der bedeutende Mediaevist Petrusevskij leitete, verfügte über sechs Sektionen: Alte Geschichte (G. M. Prigorovskij), Mittelalter (D. M. Petrusevskij), Neue und Neueste Geschichte (V. P. Volgin), Russische Geschichte (M. M. Bogoslovskij), Ethnologie (P. F. Preobrazenskij), Geschichte der russischen Revolution (M. N. Pokrovskij). Die organisatorischen Veränderungen waren mit einer Präzisierung der Aufgabenstellung der einzelnen Sektionen verbunden worden. Hatte man sich anfangs, unmittelbar nach der Oktoberrevolution, auf die Sammlung und Sicherstellung der in Moskau befindlichen historischen Quellen und der hier vorhandenen Literatur konzentriert, um diese der Forschung zugänglich zu machen, so rückten in den folgenden Jahren auf dem Gebiet der Geschichte der Neuzeit folgende Schwerpunkte in den Mittelpunkt: Genesis des Kapitalismus; soziale Geschichte Englands und Frankreichs im 19. Jh.; internationale Beziehungen im 19. Jh.; Entstehung des Weltkrieges. Mit dem Eintritt in das genannte Institut begann für Jerussalimski ein neuer, wichtiger Abschnitt seiner Entwicklung, wurden doch hier sein Forscherstil, die Herausbildung seiner beruflichen Fähigkeiten spürbar beeinflußt. Das Ausbildungsprogramm am Historischen Institut der RANION entsprach in jenen Jahren dem einer Aspirantur. Im Rahmen der Forschungen einer Sektion hatten sich die Mitarbeiter auf ein Spezialgebiet zu konzentrieren, über ihre Thematik Referate vor dem Institut oder der Sektion vorzutragen - eine zur damaligen Zeit verbreitete, sehr wirkungsvolle Methode der wissenschaftlichen Qualifizierung der jungen marxistischen Generation von Historikern und der fachlichen Auseinandersetzung mit bürgerlichen Geschichtskonzeptionen - , wobei größter Wert auf eine intensive selbständige Quellen- und Archivforschung vor allem der jungen Mitarbeiter gelegt wurde. Nicht selten konnten diese Referate in Fachzeitschriften, so in den Wissenschaftlichen Mitteilungen des Instituts für Geschichte der RANION, 1 2 publiziert werden. Am Institut war es üblich, höchste Anfordere Trudy Instituía Istorii R A N I O N , Moskau 1 9 2 6 ; folgende Bände unter dem Titel: Ucenye Zapiski Instituta Istorii R A N I O N .
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rungen an alle Mitarbeiter zu stellen und einer einseitigen Spezialisierung entgegenzuwirken. Hochschullehrer wie Pokrovskij und Lukin, Rotstejn, Preobrazenskij und andere, unter ihnen bewährte Kommunisten und erfahrene Wissenschaftler, blieben unnachgiebig in ihrer Kritik an jeglicher Tendenz zur zu früh einsetzenden Spezialisierung und zu einem gesonderten Studium der Russischen oder der Allgemeinen Geschichte. Es wurde vorausgesetzt, daß jeder Mitarbeiter bei seinen Spezialstudien vom Wissen über die allgemeinen historischen Zusammenhänge ausging, die in anderen Sprachen vorliegende Fachliteratur auswertete sowie die schöngeistige Literatur, Musik und Kunst des ihn interessierenden Landes in der entsprechenden historischen Epoche kannte. Vor allem den jungen Mitarbeitern wurde das Studium des Marxismus-Leninismus zur Pflicht. 1 3 Vorerst blieb Jerussalimski bei seinem Forschungsgebiet: die sozialen Ursprünge des frühen Christentums. Deutlich zeigte sich in der weiteren Beschäftigung mit dieser Thematik der Einfluß seines Lehrers P. F. Preobrazenskij, der in jenen Jahren eine ganze Reihe von Arbeiten zur Geschichte und Kultur der Antike und zur Ethnologie veröffentlichte. Ausgehend von der materialistischen Geschichtskonzeption, verstand es Preobrazeniskij, auf der Grundlage umfangreicher und exakter Quellenstudien in literarisch brillanter Form dem Leser den von ihm behandelten Gegenstand, Perioden der Antiken Geschichte, Schriftsteller und Politiker jener Zeit plastisch vorzuführen. E r stellte sein Thema in den jeweiligen historischen Rahmen, machte den Leser aber gleichzeitig auf die unwiederholbare Einmaligkeit und Besonderheit des untersuchten historischen Phänomens aufmerksam. E r legte großen Wert auf das eigene Durcharbeiten und damit Durchdenken der unmittelbaren Zeugnisse der Vergangenheit und bemühte sich, diese Methode der historischen Forschung und Darstellung seinen Schülern beizubringen. Gleichzeitig konnte und wollte sich der „junge talentierte Gelehrte", wie Jerussalimski seinen Lehrer nannte, 14 nicht den neuen großen Problemen seiner Zeit verschließen. Geboren 1894, also nur wenige Jahre älter als seine Studenten, gehörte er zu den jungen Wissenschaftlern und Hochschullehrern jener Jahre, die sich bewußt den brennenden Fragen der Gegenwart stellten. Während seines Studiums hatte er u. a. die Seminare von A. N. Savin zur Geschichte der internationalen Beziehungen belegt (1915/16 und 1917/18), über die S. D . Skazkin, der diese Seminare ebenfalls besucht hatte, folgendes schrieb: „Die Seminare zur Geschichte der russisch-deutschen Beziehungen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts waren ungeheuer interessant. Hier erkannten wir zum ersten Male, wie der Historiker an die Fragen der internationalen Beziehungen herangehen, wie er sie erforschen muß, beginnend mit den speziellen diplomatischen Verhandlungen und den entsprechenden Dokumenten und allmählich die Forschungen erweiternd, um dann die allgemeinen historischen Voraussetzungen der einzelnen 13 14
Vgl. Druzinin, N. M., Vospominanija i mysli istorika, Moskau 1967. So im ersten unveröffentlichten Entwurf der Einleitung zu seinem Sammelband „Der deutsche Imperialismus, Geschichte Und Gegenwart", Manuskript (im folgenden: Einleitung), Archiv A N SSSR, f. 1539, ed. ehr. 183, S. 1.
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Elemente dieser Beziehungen einzubeziehen: der Gesellschaften und der Staaten." 1 5 W i e Skazkin an gleicher Stelle vermerkt, befaßte sich Savin in dem Seminar interessanterweise auch mit der Geschichte des Weltkrieges 1 9 1 4 - 1 9 1 8 und dessen Vorbereitung. D a h e r nimmt es nicht Wunder, d a ß Preobrazenskij neben seinen Vorlesungen und Seminaren zur Alten Geschichte durch anregende und lebendige Vortragsweise sowie durch fesselnde neue Fragestellungen die Aufmerksamkeit der Studenten auch auf die internationalen Beziehungen der neuen und neuesten Zeit lenkte. Verständlich, daß es auch hier in erster Linie um Probleme ging, die mit den Ursachen für die Entstehung des Weltkrieges im Zusammenhang standen. Angeregt durch seinen Lehrer, konnte Preobrazenskij mit seinen Veranstaltungen zur Geschichte der internationalen Beziehungen seit dem E n d e des 19. J h . sowie zur Geschichte des Imperialismus, die er seit der Mitte der zwanziger J a h r e im Institut für Geschichte der R A N I O N leitete, das Bemühen vor allem der jungen Generation unterstützen, „den letztlichen Ursachen und Zusammenhängen der Entstehung des Weltkrieges 1 9 1 4 - 1 9 1 8 auf den Grund zu gehen", wie Jerussalimski später feststellte. 1 6 Als Beispiel sei hier das Seminar über „Englisch-deutsche Beziehungen und die Entstehung der E n t e n t e " genannt, zu dem folgende Seminarveranstaltungen vorgesehen waren: Englisch-deutsche Beziehungen 1 8 9 8 - 1 9 0 1 ; England und Deutschland in Südafrika; England und Deutschland im Fernen O s t e n ; B a g d a d - B a h n ; Russisch-japanischer K r i e g und englisch-deutsche Beziehungen; Balkanfrage 1 8 9 5 - 1 9 0 4 ; England und Deutschland in China; englischdeutsches Abkommen über die Teilung der Einflußsphären. 1 7 Diese Thematik sollte in den kommenden Jahren zunehmend in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen und publizistischen Interessen Jerussalimskis rücken. A u f Grund ihrer politischen Bedeutung nahm sie in den ersten Jahrzehnten nach der Oktoberrevolution einen breiten Raum in den Arbeiten sowjetischer Historiker ein. D e n Beziehungen zwischen den Staaten hatte die historische Forschung im vorrevolutionären Rußland große Aufmerksamkeit geschenkt. D i e sowjetische G e schichtswissenschaft knüpfte an diese Tradition an, unterzog die bürgerlichen Konzeptionen und deren Methodologie einer prinzipiellen K r i t i k und führte die Erforschung der Geschichte der internationalen Beziehungen der neuen und neuesten Zeit auf der Grundlage des dialektischen und historischen Materialismus weiter. D a b e i standen die Untersuchungen der Ursachen und Folgen des Weltkrieges über viele J a h r e an hervorragender Stelle. E i n neuer Abschnitt in der Erforschung der Beziehungen zwischen den Mächten wurde eingeleitet, als die Sowjetregierung seit den ersten Tagen ihres Bestehens die geheimen Papiere der zaristischen und der Provisorischen Regierung veröffentlichte. Im Laufe vieler J a h r e hatten unter der Leitung hervorragender kommunisti15
Skazkin, S. D. (1890-1973), A. N. Savin kak ucitel', in: Trudy Instituía Istorii RANION, Sammelband für Savin, Moskau 1926, S. 54 ff. Vgl. auch Dunaevskij, S. 231.
18 17
14
Jerussalimski, A. S., Einleitung, S. 1. Institut Istorii SSSR Akademii Nauk SSSR,, Otdel Rukopisnych Fondov (im folgenden: ORF), f. M. N. Pokrovskij, razd. VII, ed. ehr. 78, Bl. 47; vgl. auch Dunaevskij, S. 290.
scher Wissenschaftler junge marxistische Historiker, zu denen neben vielen anderen auch Jerussalimski gehörte, bedeutenden Anteil an der Erweiterung und Vertiefung unserer Kenntnisse der politischen, aber auch der ökonomischen Vorgeschichte und Geschichte des Weltkrieges, worauf im folgenden noch näher eingegangen wird. Während seiner Aspirantur wandte sich Jerussalimski verstärkt dem Studium der Werke von Karl Marx und Friedrich Engels zu. In den Unterlagen sind Nachweise darüber enthalten, daß er zum Beispiel im Jahre 1926/27 u. a. folgende Seminare belegte: Politische Ökonomie bei V. N. Poznjakov, sein Referat über „Akkumulation des Kapitals und Probleme des Imperialismus" erhielt die Bewertung „Gutes Referat"; Historischer Materialismus bei A. D. Udal'cov zum Thema „Problematik der internationalen Politik bei Marx und Engels während der Revolution 1848", hier legte Jerussalimski Thesen vor; im Seminar von D. B. Rjazanov stand die „Außenpolitik der neuen Rheinischen Zeitung" im Mittelpunkt. Gleichzeitig jedoch bildete das gründliche Erarbeiten des nunmehr durch Publikation in der Tages- und Fachpresse, hauptsächlich aber mit den ersten Werkausgaben breiten Leserkreisen zugänglichen theoretischen und methodischen Gedankengutes Lenins eine wichtige Etappe auf dem Entwicklungsweg der Generation, der Jerussalimski angehörte. Später bekannte er, daß folgende Werke einen tiefen Eindruck bei ihm hinterließen: „Erstens das »Kommunistische Manifest', zweitens ,Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte', drittens ,Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky' von Lenin und viertens, schon viele, viele Jahre später, Lenins .Hefte zum Imperialismus', die mir das Verständnis so mancher Dinge ungemein erleichterten und mir halfen, in das Laboratorium des schöpferischen Wirkens dieses ungewöhnlichen Menschen einzudringen". 18 Unter den bedeutenden Gelehrten, die auf die Herausbildung der politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Ansichten und Überzeugungen Jerussalimskis sowie vieler seiner Altersgenossen Einfluß nahmen, befanden sich neben seinem Lehrer P. F. Preobrazenskij, der ihm zum Freund und Genossen wurde, V. P. Volgin und etwas später E. S. Varga, F. A. Rotstejn und M. N. Pokrovskij, aber auch dem Marxismus fernstehende Gelehrte wie D. M. Petrusevskij. Blieben manche Lehrveranstaltungen des letzteren den beteiligten Studenten und Aspiranten durch glänzenden Vortrag und durch exaktes Beherrschen des handwerklichen Rüstzeugs eines Historikers in guter Erinnerung, so waren doch Inhalt und Methode dazu angetan, eine kritische Auseinandersetzung herauszufordern. Anders die Erstgenannten! Unterschiedlich in ihrem Weg zum Marxismus, unterschiedlich in ihrer gesellschaftlichen Rolle, ihren Interessen und ihrem Platz in der Wissenschaft, waren sie durchweg konsequente Revolutionäre und aufs engste mit der russischen und internationalen proletarischen Bewegung verbunden. Für sie erschöpfte sich die Beschäftigung mit dem Marxismus-Leninismus nicht im Studium der Werke der Klassiker der revolutionären Arbeiterbewegung. Ihr 18
Jerussalimski, A. S„ Stenogramm, S. 3 f.
15
Einfluß prägte die für das RANION-Institut charakteristische Atmosphäre der aktiven Auseinandersetzung mit den Fragen der Gegenwart, auch über den Rahmen des eigenen Landes hinaus, eng verbunden mit der jeweiligen historischen Spezialisierung des einzelnen. Im Ergebnis des politischen Kampfes wurden Studierende und Lehrende ständig mit den Ereignissen der Gegenwart konfrontiert; die enge Verbindung von Politik und Wissenschaft bestimmte ganz wesentlich den weiteren wissenschaftlichen Werdegang der Studenten. So standen die jungen Wissenschaftler nicht allein unter dem Einfluß einzelner bedeutender Persönlichkeiten. Sie wurden hauptsächlich durch die siegreiche Revolution geformt, die auf vielen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens im Lande noch nicht beendet war und deren Auswirkungen auf das Ausland erst begonnen hatten. Gleich anderen Wissenschaftlern seiner Generation lernte Jerussalimski, die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft und die politische Gegenwart in ihrer Wechselwirkung und gegenseitigen Bedingtheit zu erfassen. E r begann, in die Vergangenheit bewußt vom Standpunkt der Gegenwart aus einzudringen, in seine Arbeiten jenes Gefühl für die lebendige Geschichte hineinzulegen, das, wie M. Ja. Gefter es formulierte, „aus der aktiven Vertrautheit mit der Geschichte erwuchs, die seine Zeitgenassen gestalteten". 19 Über die Jahre seiner Ausbildung liegen nur wenige Unterlagen vor, die über jene Fragen Auskunft geben könnten, mit denen sich Jerussalimski während seines Studiums und in den Jahren der Aspirantur besonders beschäftigte. Knappe Notizen in seinen Arbeitsheften geben Aufschluß über einige, ihn zu jener Zeit bewegende Probleme. Der größte Teil der Hefte enthält Gedanken zur Geschichte des frühen Christentums und des späten Judäa sowie den Entwurf zu einer Arbeit über die Apokalyptik. Im zweiten Heft finden sich vorwiegend Notizen über durchgearbeitete Schriften, so u. a. kritische Anmerkungen zu dem Buch des idealistischen Historikers S. A. Kotljarevskij „ D i e Entwicklung der internationalen Beziehungen der Neuzeit", das 1922 in Moskau erschienen war. Des weiteren zeigen diese Aufzeichnungen, daß Jerussalimski den Briefwechsel zwischen Karl Marx und Friedrich Engels sehr aufmerksam studierte; er machte sich Notizen zu Fragen des historischen Materialismus, der politischen Ökonomie und zur Geschichte Rußlands. Seine Arbeitshefte enthalten darüber hinaus Notizen über literarische Werke; so setzte er sich mit dem Buch von Bernhard Kellermann „Der 9. November" auseinander, wobei er unter dem 13. 3. (1923) folgendes vermerkte: Gute Darstellung „der individuellen Psychologie des Typs der Herrschenden Deutschlands. Klare Schilderung militärischer Episoden. Keine Kenntnisse und Darstellung der sozialen Psychologie, des Wachsens der revolutionären Stimmungen, Gedanken und Handlungen . . ," 2 0 Hier zeigt sich, daß die schöngeistige Literatur wie auch 13
Gefter,
M. ]., D e r Historiker, sein T h e m a und seine Zeit. I n : Jerussalimski,
A. S., B i s m a r c k .
D i p l o m a t i e und Militarismus, Berlin 1 9 7 0 , S. 8 . 20
16
Jerussalimski,
A. S„ A r b e i t s h e f t e , A r c h i v A N S S S R , f. 1 5 3 9 , S . 13, Rückseite.
Zeugnisse anderer Bereiche des geistigen und kulturellen Lebens für Jerussalimski zur notwendigen Ergänzung der für den Historiker erforderlichen Quellenforschung und der historiographischen Studien wurden. Im Rahmen seiner Ausbildung am Institut für Geschichte der R A N I O N erhielt Jerussalimski Gelegenheit zu einem fast einjährigen Studienaufenthalt in Deutschland. Mit wachen Augen und einem feinen Gespür für die politische Atmosphäre fuhr er in das Deutschland der Jahre 1924/25. In dem ihm erteilten Forschungsauftrag bezeichnete der Direktor des Instituts als Ziel der Reise „das Kennenlernen der neuesten Literatur zur alten Geschichte, gleichzeitig aber auch das Studium der internationalen Beziehungen und der Stellung Deutschlands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anhand von Archivmaterialien". 2 1 D i e außenpolitischen Bemühungen der Sowjetregierung führten im Jahre 1922 zur Unterzeichnung des Rapallo-Vertrages zwischen der R S F S R und Deutschland. Doch entsprachen der Abschluß dieses Vertrages und die in der Folgezeit sich daraus ergebende Zusammenarbeit beider Staaten auf bestimmten Gebieten keineswegs einer langfristigen Orientierung des deutschen Imperialismus. Reaktionäre Kräfte in Deutschland gingen schnell zum Angriff auf den „Geist von Rapallo" über. Während seines Aufenthaltes erkannte Jerussalimski das Vordringen der innenpolitischen Reaktion, das sich in erster Linie gegen die Kommunistische Partei Deutschlands richtete. „Die Ereignisse in Deutschland erregen mich sehr. Das wird sich nicht zum Guten entwickeln", schrieb er seinem Freund N. Maskin in die Heimat, 2 - nachdem er in Berlin große Massenkundgebungen erlebt hatte, die anläßlich des 10. Jahrestages des Beginns des Weltkrieges veranstaltet worden waren. „Ich stand vor dem Reichstag, als sich eine gewaltige Menge versammelte, als Ebert und Luther auftraten und an die ruhmreiche Zeit des Beginns des Krieges 1914 erinnerten. Ich sah die neue Apologetik des Krieges . . Z' 23 Voller Beunruhigung fand er in den Reden von Reichspräsident Ebert und Reichskanzler Luther keine Erklärung für die Verbrechen des Krieges, kein Wort über die Ursachen und die Schuldigen am Kriege, kein Wort darüber, wie eine Wiederholung zu verhindern sei. Statt dessen „ertönte das .Deutschland, Deutschland über alles . . . ' , und als eine kleine Gruppe von Jugendlichen ihren Protest mit den Rufen .Nieder mit dem Krieg!' zum Ausdruck brachte, wurde sie von plötzlich auftauchenden Polizisten auseinandergeschlagen". Jeder politisch denkende Mensch, „der über ein Gewissen und Verantwortungsgefühl verfügt und der Phantasie besitzt, mußte begreifen, auf welche Seite die herrschenden Kreise Deutschlands die Geschichte lenken wollten", schlußfolgerte er. 24 Unter diesen Umständen ist es kaum verwunderlich, wenn sich der junge sowjetische Historiker intensiver mit der Problematik der Entstehung des deutschen 21
Archiv A N SSSR, f. 1539, op. 2, ed. ehr. 9.
22
Jerussalimski,
23
Derselbe,
Stenogramm, S. 5.
25
Derselbe,
Einleitung, S. 2, Rückseite.
A. S„ Brief an N. A. Maskin, Ende 1924, Nachlaß N. A. Maskin.
17
Imperialismus und damit des Krieges zu beschäftigen begann. In den Briefen aus Berlin und Paris (auch dort arbeitete Jerussalimski wenige Wochen) an seinen Freund tauchte immer wieder das J a h r 1875 auf. D i e Außenpolitik Bismarcks, das deutsch-russische Verhältnis nach dem Krieg von 1 8 7 0 / 7 1 , Deutschlands Rolle auf dem B a l k a n in diesen J a h r e n : Über diese und andere Themen tauschten die Freunde in den Briefen ihre Meinung aus. „Ich kann mich nicht von der Literatur um Bismarck losreißen", schrieb Jerussalimski; damit sei er schon „zu 5 0 Prozent Historiker für die neue Geschichte geworden". „ D a s Studium der Bildung des österreichisch-deutschen Bündnisses sowie der Schemata, die in diesem Zusammenhang in der historischen Literatur konstruiert wurden, führte mich zu der Schlußfolgerung, daß das Verständnis und die Einschätzung der Ereignisse von 1879 nicht möglich sein werden ohne vorherige Untersuchungen der Beziehungen selbst, was ein Erforschen der gesamten Linien der deutschen Politik in den 70er Jahren notwendig macht", schrieb er am 12. 1. 1925 aus Berlin. M i t großem Interesse verfolgte er Neuerscheinungen der Literatur zur jüngsten deutschen Geschichte. 2 5 Jerussalimski beschränkte sich jedoch nicht auf Literaturstudien; das Interesse für die Konzeptionen der deutschen bürgerlichen Historiographie führte ihn auch in Vorlesungen und Seminare an der Berliner Universität. Hier hörte er u. a. E d u a r d Meyers Vorlesungen zur Alten Geschichte: „Ähnlich wie Mommsen entwickelte E . Meyer eine breite allgemeine Konzeption des historischen Entwicklungsprozesses, wobei er bestimmte ,Hauptmomente der Weltgeschichte' hervorhob, die er mit aktuellen Problemen der Gegenwart, wie er sie verstand, in B e ziehung setzte." Ebenfalls in Berlin hörte Jerussalimski den jungen Dozenten Hans Rothfels zum aktuellsten politischen T h e m a der deutschen Geschichtsschreibung jener Jahre, zur Kriegsschuldfrage. V o r allem dessen Vorlesungen, in einer, wie Jerussalimski es später charakterisierte, dem deutschen bürgerlichen historischen Denken eigenen Abstraktheit gehalten, zeigten nichtsdestoweniger die Schärfe des K a m p fes, den die Ideologen und Politiker der Weimarer Republik gegen die Versailler These von der Alleinverantwortung Deutschlands am Ausbruch des Weltkrieges 1914/18 führten. Jerussalimski vermerkte die Angriffe von Rothfels gegen die Theorie des Marxismus-Leninismus, insonderheit gegen die Imperialismustheorien von Lenin und Rosa Luxemburg, und stellte dabei fest, d a ß es auch der Universitätswissenschaft in Deutschland nun nicht mehr möglich war, diese Theorien zu ignorieren. 2 6 25
26
18
Derselbe, Brief an N. A. Maskin, 27. 10. 1924 aus Berlin und 1. 4. 1925 aus Paris, Nachlaß N. A. Maskin. Wie aus den Briefen hervorgeht, erwarb er u. a. folgende Werke: Brandenburg, E„ Von Bismarck zum Weltkrieg, 1. Aufl. Berlin 1924; Frieding, H., Das Zeitalter des Imperialismus, I., Berlin 1919; Hagen, M. v„ Bismarcks Kolonialpolitik, Gotha 1923; Werke zur Kriegsschuldfrage sowie die bis 1925 erschienenen Bände der Dokumentenpublikation „Die Große Politik der europäischen Kabinette". Jerussalimski, A. S., Einleitung, S. 5 f.
So trat neben die Studien zur Alten Geschichte 2 7 eine neue Aufgabe, die er sich in seiner Forschung und publizistischen Tätigkeit über lange J a h r e hinaus immer wieder stellte: das Herausarbeiten des komplizierten funktionalen Zusammenhangs zwischen der Entwicklung des bürgerlichen historischen Denkens in Deutschland und der allgemeinen Richtung und T a k t i k der Politik der herrschenden Klassen. V o n nun an verlief die Erforschung der Vergangenheit des deutschen Imperialismus parallel mit Studien zu Problemen seiner zeitgenössischen G e schichte, seiner Innen-, Außen- und Kolonialpolitik. Während der Reise hatte Jerussalimski reiches Material zusammentragen können, dessen Bearbeitung, ergänzt durch die politischen Erfahrungen und Beobachtungen, ihn immer stärker auf die neuere Geschichte Deutschlands, vornehmlich seit dem letzten Drittel des 19. J h . , lenkte. Kurz nach seiner Rückkehr referierte er über seine Forschungsergebnisse vor dem Institut für Geschichte der R A N I O N ; 1 9 2 8 erschien sein Artikel „ D i e Krieg-in-Sicht-Krise des Jahres 1 8 7 5 " . 2 8 Angesichts der politischen Auseinandersetzungen in Deutschland um die B e stimmungen des Versailler Vertrages gewann die hier behandelte Thematik, die Politik Deutschlands, d. h. Bismarcks, gegenüber Frankreich, in der bürgerlichen deutschen Historiographie aktuelle Bedeutung, suchte diese doch „die angeblich unwandelbare Friedensliebe des Deutschen Reiches" herauszustellen, „die Bismarcksche Politik als eine kraftvolle Friedenspolitik zu charakterisieren und die Krise von 1875 als ein Glied in der ganzen K e t t e der ,Einkreisung Deutschlands' zu betrachten". In einer Analyse der zeitgenössischen Bismarckforschung kam Jerussalimski zu dem Schluß, d a ß die Diskussion um die außenpolitische Orientierung Bismarcks nicht zufällig gerade zu dem Zeitpunkt begann, „als unter den herrschenden Klassen und den politischen Parteien des Weimarer Deutschland verschiedene Tendenzen, Interessen und einfach Neigungen zum diplomatischen Lavieren auf dem G e b i e t der internationalen Beziehungen auftauchten". 2 9 Zurückgekehrt aus Deutschland, setzte Jerussalimski im Sommer 1 9 2 5 seine Studien zur Alten Geschichte fort. Wenige Monate später zwangen ihn jedoch private Umstände - nach dem Ableben seines Vaters mußte er allein für den Unterhalt seiner Familienangehörigen aufkommen - , Lehr- und Forschungsaufträge an verschiedenen Instituten Moskaus zu übernehmen, ohne dabei die Aspirantur zu unterbrechen. Neben Vorlesungen zur Außenpolitik Rußlands und zur Geschichte der internationalen Beziehungen der zweiten H ä l f t e des vergangenen Jahrhunderts sowie über die revolutionären Bewegungen in West- und Mitteleuropa im 19. J h . an der Pädagogischen Fakultät der 2. Moskauer Universität 27
23
29
Jerussalimski arbeitete u. a. in der Bibliothek der Vorderasiatischen Abteilung des KaiserFriedrich-Museums in Berlin. Brief vom 10. 4. 1924 an N. A. Maskin. Erschien unter dem Titel „Voennaja trevoga 1875 goda", in: Ucenye Zapiski Instituta Istorii RANION, Bd. 6, 1928. Jerussalimski, A. S., Probleme der politischen „Ost"- und „West"-Orientierung Deutschlands in der Bismarckforschung, in: derselbe, Der deutsche Imperialismus. Geschichte und Gegenwart, Berlin 1968, S. 360 f.
\9
und am Institut für Orientforschung (Narimanov-Institut) arbeitete er als Assistent am Lehrstuhl für Geschichte der Internationalen Beziehungen der Fakultät für Sowjetrecht an der 1. Moskauer Universität, der späteren Juristischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Lomonossov-Universität. Im November des gleichen Jahres nahm er seine Tätigkeit am Institut für Weltwirtschaft und Weltpolitik bei der Kommunistischen Akademie auf. An diesem Institut wurde in jenen Jahren den historischen Wurzeln der Weltpolitik, insbesondere der Entstehung des Weltkrieges und in dem Zusammenhang den internationalen Beziehungen seit dem letzten Drittel des 19. Jh., große Aufmerksamkeit geschenkt. „Das war auch durchaus verständlich, war doch kaum ein Jahrzehnt seit Beendigung des ersten Weltkrieges vergangen", schrieb S. D. Skazkin in einer Rückschau auf diese Jahre; man wollte „den ganzen verworrenen Komplex der Ursachen, sowohl der naheliegenden als auch der entfernteren, untersuchen, begreifen, neu durchdenken, die schließlich im Jahre 1914 zur Entstehung des imperialistischen Krieges geführt hatten, der nacheinander die meisten Länder Europas, dann aber auch die übrige Welt erfaßte. Man wird leicht verstehen, daß diese Fragen nicht allein von akademischer oder erkenntnistheoretischer Bedeutung waren; hier verbargen sich brennende politische und soziale Probleme: Wer ist für die Entstehung des Krieges verantwortlich, der den Völkern so viel Leid und Opfer abverlangte? W i e wächst und reift der Samen des Krieges, wie wird er insgeheim vorbereitet? W i e kann man die Lehren der Vergangenheit verstehen und sie bei der Verhinderung jeder Möglichkeit eines neuen, zweiten Weltkrieges beherzigen?" 30 S. D. Skazkin, der seine Ausbildung als Historiker vor 1917 beendet hatte, dessen wissenschaftliches Profil sich jedoch in der Sowjetperiode formte, schilderte die Atmosphäre der leidenschaftlichen Auseinandersetzung, des bewußten und konsequenten Parteiergreifens für die Ziele der internationalen Arbeiterbewegung, die in vielen damaligen Arbeiten der jungen marxistischen Geschichtsforschung der Sowjetunion zu spüren ist. Das Institut für Weltwirtschaft und Weltpolitik befaßte sich mit der Erforschung der ökonomischen und politischen Probleme des Imperialismus, seiner Geschichte und vor allem seiner Gegenwart. Ursprünglich von F. A. Rotstejn und D. B. Rjazanov als Kabinett für ausländische Literatur zu Problemen der internationalen Beziehungen bei der Sozialistischen Akademie ins Leben gerufen, begann hier im Jahre 1923 eine systematische wissenschaftliche Arbeit mit der Herausgabe der Zeitschrift „Mezdunarodnaja Letopis'", die sich zunächst die Aufgabe stellte, aktuelle internationale Fragen zur Politik und Wirtschaft der kapitalistischen Länder regelmäßig in Chronologie und Dokumentation zu behandeln. Im darauf folgenden Jahr zu einer gesonderten Sektion der Kommunistischen Akademie erhoben, zog das im Jahre 1925 in aller Form gegründete Institut für Welt30
io
Skazkin, S. D., Konec avströ-russko-germanslcogo sojuza, Vorwort zur 2. Aufl., Moskau 1974, S. 11.
Wirtschaft und Weltpolitik unter der Leitung von F . A. Rotstejn angesichts der Breite seiner Aufgaben eine größere Zahl von Historikern und Ökonomen zur Mitarbeit heran. Seit 1927 (bis 1947) stand es unter der Leitung von E . Varga und war bald als „Varga"-Institut im In- und Ausland bekannt. 3 1 Uber viele Jahre, bis 1941, blieb Jerussalimski in seiner wissenschaftlichen und wissenschaftspublizistischen Arbeit mit diesem Institut verbunden; dankbar und in Verehrung erinnerte er sich an dessen langjährigen Leiter, an „den strengen, aber gerechten und immer wohlwollenden Kritiker und aufmerksamen Leiter, an unseren bedeutenden Gelehrten E . Varga", der den Mitarbeitern zu jeder Zeit mit R a t und schöpferischer Hilfe zur Seite stand. 3 2 In enger Verbindung mit den außenpolitischen Aufgaben des jungen Sowjetstaates sowie mit den Diskussionen innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung orientierte Varga das Institut auf eine fundierte Untersuchung der Entwicklung der kapitalistischen Staaten. D i e Erforschung zeitgenössischer Probleme der Weltwirtschaft und der internationalen Beziehungen sowie der Stellung der einzelnen Mächte im imperialistischen System und ihrer Rolle bei der kapitalistischen Umkreisung des ersten sozialistischen Staates, der Sowjetunion, schloß die Untersuchung ihrer historischen Ursprünge ein. D i e s e Anforderungen begünstigten die Neigung Jerussalimskis
zur publizistisch-journalistischen
Arbeit und
förderten
zugleich seine wissenschaftlichen Fähigkeiten. Zunächst war Jerussalimski als Assistent im genannten Institut tätig, wo er im Rahmen
der Erforschung
des gegenwärtigen
Imperialismus
die
Untersuchung
politischer Aspekte der deutsch-amerikanischen Beziehungen übernahm. 3 3 Angesichts des sich verstärkenden Einflusses der U S A auf die internationale Politik und Wirtschaft der kapitalistischen W e l t lenkte das Institut anfangs seine Studien vorwiegend auf Probleme des amerikanischen Imperialismus in den zwanziger Jahren. B a l d erweiterte sich jedoch der Themenkreis des Instituts; neue Fragen, so die ökonomische und politische Entwicklung der einzelnen europäischen imperialistischen Mächte nach dem E n d e des Weltkrieges, wurden in die Untersuchungen einbezogen. Jeder Mitarbeiter befaßte sich nunmehr mit der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung eines der imperialistischen Länder, vorwiegend in dem Zeitraum nach dem Kriege. Seit E n d e 1926 wurde die politische Entwicklung Deutschlands in den Nachkriegsjahren Jerussalimskis spezieller Forschungsbereich,
zu
dem er Vorträge vor dem Kollektiv der Mitarbeiter hielt und über den er Arti]., Memoiren, 2. Aufl., Berlin 1975.
31
Vgl. Kuczynski,
32
Jerussalimski,
33
Seine Forschungsergebnisse zum Thema „Deutsch-amerikanische Beziehungen am Ende des
A. S., Einleitung, S. 6 f.
19. Jh." trug Jerussalimski im Institut für Geschichte der RANION vor. Vgl. ORF. f. 5, op. 2, ed. ehr. 10, Materialy Kommunisticeskoj Akademii (1928-1929), Bl. 61 iE., publiziert unter dem Titel „Germano-amerikanskie otnosenija v konce X I X veka", in: Mirovoe chozjajstvo i mirovaja politika, 1926, Nr. 10/11.
21
kel für die Zeitschrift des Instituts „Mirovoe chozjajstvo i mirovaja politika" („Weltwirtschaft und Weltpolitik") schrieb. Sei dieser Zeit gehörte Jerussalimski zu den ständigen Autoren der Zeitschrift des Instituts, in der er eine große Zahl von Beiträgen zu verschiedenen Fragen der Entwicklung in Deutschland veröffentlichte. Anläßlich des zehnten Jahrestages der Oktoberrevolution bereitete das Institut mehrere Arbeiten zum Thema „Zehn Jahre kapitalistische Umkreisung der UdSSR" vor, an denen Jerussalimski mit seiner ersten umfangreichen Publikation beteiligt war. Unter dem Aspekt der internationalen Stellung der UdSSR schrieb er über „Deutschland, die Entente und die UdSSR" 34 , im besonderen über das Verhältnis zwischen Deutschland und der Sowjetunion, wobei ihn vor allem die komplizierten Winkelzüge der deutschen Außenpolitik interessierten. Ausführlich behandelte er die Haltung Deutschlands am Vorabend der Konferenz von Locarno, die Bedeutung des deutsch-sowjetischen Handelsvertrages von 1925 sowie den Vertrag über Neutralität und Nichtangriff. Gleich anderen sowjetischen Wissenschaftlern sah Jerussalimski in Deutschland den Knotenpunkt imperialistischer Widersprüche, ein Land, dessen bürgerliche Regierung mit der Sowjetregierung den Rapallo-Vertrag abgeschlossen hatte. Zum anderen war Deutschland für sie die Geburtsstätte der Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus und einer starken revolutionären Arbeiterbewegung, war es der Schauplatz gewaltiger revolutionärer Kämpfe. „Mit Beginn der 20er Jahre, besonders seit 1923, wurde es deutlich", schrieb A. Z. Manfred, wie Jerussalimski Absolvent des RANION-Instituts und später hervorragender Kenner der Geschichte Frankreichs, „daß sich in Deutschland revolutionäre Kämpfe konzentrieren werden. Im Herbst 1923, in den Tagen, da die revolutionäre Krise ihrem Höhepunkt zustrebte, schien es allen, daß die proletarische Revolution unmittelbar bevorstehe. Im Oktober 1923 gab es Tage, an denen der Sieg des Proletariats in Deutschland vielen nicht nur möglich, sondern auch sehr nahe schien."35 Und Ehrenburg sagte in seinen Erinnerungen: „Im Herbst 1923 zweifelte niemand daran, daß Deutschland am Vorabend eines Bürgerkrieges stünde."36 Das Interesse für Deutschland war in der Sowjetunion zu jener Zeit in der Tat außerordentlich hoch. Die Erwartungen erfüllten sich jedoch nicht, die politische Situation änderte sich. Dennoch spielten die Beziehungen zu Deutschland in der Politik der Sowjetregierung weiterhin eine hervorragende Rolle. Sie konnten auf verschiedenen zwischenstaatlichen Ebenen entwickelt werden; in der KPD sahen die sowjetischen Kommunisten die stärkste kommunistische Partei eines kapitalistischen Landes. Es ist daher nur zu verständlich, daß die Geschichte Deutschlands, daß die Entwicklung der deutschen Arbeiterklasse und die Geschichte des deutschen Imperialismus einen besonderen Platz in den Forschungen der sowjetischen Historiker 34
Derselbe,
Germanija, Antanta i SSSR, Moskau 1 9 2 8 .
35
Manfred,
A. Z. ( 1 9 0 6 - 1 9 7 6 ) , Nikolaj Michajlovic Lukin, in: Evropa v novoe i novejsee
vremja, Moskau 1 9 6 6 , S. 14. 36
22
Ehrenburg,
/., Menschen, Jahre, Leben. Memoiren, Bd. II, Berlin 1 9 7 8 , S. 57.
einnahmen. Das Bewußtsein der Pflicht des Historikers, mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln der historischen Forschung und der Propagierung ihrer Ergebnisse den Kampf des eigenen sozialistischen Landes wie der fortschrittlichen Kräfte in Deutschland zu unterstützen, drängte Wissenschaftler verschiedener Generationen und unterschiedlicher Profilierung zur Untersuchung der Geschichte ihres Landes. Fragen der Außenpolitik Deutschlands wie des deutschen Imperialismus insgesamt beschäftigten in den zwanziger Jahren eine ganze Reihe von sowjetischen Historikern, so P. F. Preobrazenskij, der bereits 1926 in einem Überblick das Wesen des Imperialismus analysierte. Trotz einiger, aus heutiger Sicht korrekturbedürftiger Passagen zeigte diese Schrift doch anschaulich das Bemühen des Autors, seiner Charakteristik des Imperialismus die von Lenin erarbeiteten Merkmale und dessen Periodisierung zugrunde zu legen. Die zahlreichen Arbeiten von M. N. Pokrovskij und F. A. Rotstejn sind bekannt; weniger die spezielle Untersuchung über die Geschichte Deutschlands von 1890-1914, die N. M. Lukin vorlegte. Zu Recht wird N. M. Lukin (1885-1940) als Kommunist und Wissenschaftler zu den Begründern der sowjetischen Geschichtswissenschaft gezählt. Bereits seit 1904 Mitglied der Partei der Bolschewiki, gehörte er in seinen Studienjahren zu den politisch Aktivsten; für seine Teilnahme an revolutionären Aktionen wurde der Student der Moskauer Universität, Lukin, mehrfach verhaftet. In den Arbeitervierteln Moskaus dagegen kannte man ihn unter dem Namen N. Antonov; hier leistete er in den Jahren nach der ersten russischen Revolution bis zum Beginn der revolutionären Ereignisse des Jahres 1917 umfangreiche propagandistische Arbeit. Um so bemerkenswerter ist es daher, daß er zugleich fünf Jahre vor Beginn des Weltkrieges sein Studium an der Moskauer Universität beendete. Seine hervorragenden Leistungen veranlaßten die Professoren R. Ju. Vipper und D. M. Petrusevskij, ihn für den Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte zu gewinnen. Hier legte er 1913 die Magisterprüfung ab und erhielt zwei Jahre später eine Privatdozentur, ohne jedoch die politische Arbeit zu unterbrechen. Aus den Erinnerungen seiner Freunde und Schüler, die in dem erwähnten Sammelband „Evropa v novoe i novejsee vremja" zusammengetragen wurden, erfahren wir mehr über den ungemein engagierten Einsatz Lukins in den ersten Jahren nach dem Oktober, sowohl in der politischen Tagesarbeit als auch in der Wissenschaft, als Hochschullehrer wie als Forscher. Hier sei nur auf die vielen Publikationen verwiesen, in denen er sich als profilierter Kenner der französischen Geschichte seit dem Ende des 18. Jh. ausweist. Als jedoch die revolutionäre Situation in Deutschland zu Beginn der zwanziger Jahre ihren Höhepunkt zu erreichen schien, schrieb Lukin einen „Abriß der neuesten Geschichte Deutschlands von 1890-1914", ein Buch, das 1925 erschien und einem Erfordernis jener Jahre entsprach, breite Leserkreise seines Landes mit der jüngsten Geschichte Deutschlands bekannt zu machen. Es beruhte auf Primärquellen, vermittelte neue Forschungsergebnisse, so in den Kapiteln über die deutsche Sozialdemokratie, auch in einigen Abschnitten über den politischen Kampf im Lande. Zugleich bot 23
es eine marxistische Interpretation der historischen Literatur über Deutschland. Lukin publizierte neben vielen anderen noch weitere Arbeiten zur neuen G e schichte Deutschlands, später auch zur Geschichte des Imperialismus. Für die erste Ausgabe der G r o ß e n Sowjetenzyklopädie, die von hervorragender Bedeutung bei der ideologischen Erziehung war, schrieb Lukin den Abschnitt über die Geschichte Deutschlands ( 1 8 7 1 - 1 9 1 4 ) , in dem er die Ergebnisse weiterer Untersuchungen zusammenfassend vorlegte. M i t der Geschichte des deutschen Imperialismus und dessen Historiographie befaßte er sich in seinem Referat auf der 1. Konferenz marxistischer Historiker in Moskau (1928). D i e davor liegende Periode über die Geschichte Deutschlands im gleichen Artikel der Großen Sowjetenzyklopädie wie auch den Artikel über Bismarck schrieb D . S. Skazkin ( 1 8 9 0 - 1 9 7 3 ) . Dieser hatte seine Studien 1 9 0 9 an der Moskauer Universität begonnen, an der man sich mehr als an anderen Hochschuleinrichtungen des Landes mit der Geschichte West- und Mitteleuropas befaßte. Geschult bei hervorragenden Spezialisten, nicht zuletzt im Arbeitskreis um A . N . Savin, dem Skazkin nach seinen eigenen Worten gerade für das Verständnis der G e schichte der internationalen Beziehungen der jüngsten Vergangenheit, einschließlich der Jahre des Weltkrieges, sehr viel verdankte, widmete er sich seit Mitte der zwanziger J a h r e einer gründlichen Analyse der konkreten Ursachen, die zum Weltkrieg geführt hatten. E i n e eingehende Darstellung der Politik der beteiligten Mächte, wie sie sich in den diplomatischen Dokumenten, den veröffentlichten wie den geheimgehaltenen, widerspiegelte, war zu jener Zeit zu einem dringenden E r fordernis geworden. Nach der Auswertung der in der U d S S R publizierten D o k u mente und der in Deutschland und anderen Ländern herausgegebenen Aktenpublikationen sowie nach jahrelangen Arbeiten in den Archiven der ehemaligen zaristischen Ministerien legte D . S. Skazkin 1928 eine Monographie über das „ E n d e des österreichisch-russisch-deutschen Bündnisses" vor, die als eine der bedeutendsten Forschungsleistungen zur Geschichte der internationalen Beziehungen bis heute ihren Platz in der sowjetischen Geschichtswissenschaft behauptet hat; eine Neuauflage im J a h r e 1 9 7 4 bestätigt dies. Sein Hauptaugenmerk galt dem Wechselverhältnis von Innen- und Außenpolitik der einzelnen Staaten; dabei gelangte er zu der Erkenntnis, daß die ökonomischen Faktoren im Hinblick auf die Außenpolitik nicht ernst genug genommen werden können. „Zu einer hohen Bewertung der Rolle der Ökonomie auf dem Gebiet der Außenpolitik veranlaßten mich die diplomatischen Dokumente selbst", schrieb er während der Erarbeitung des Manuskriptes an Kareev, „zum anderen die theoretische und praktische Tätigkeit von Politikern wie Bismarck. D i e Bedeutung ökonomischer Berechnungen wird besonders deutlich, wenn man nicht nur die für die Öffentlichkeit bestimmten B e richte b e r ü c k s i c h t i g t . . . , sondern auch das in Betracht zieht, was in der T i e f e der Kanzleien verborgen blieb." 3 7
37
S. D. Skazkin
an N. I. Kareev, Handschriftenabteilung der Staatlichen Leninbibliothek,
f. 119, ed. ehr. 21, Bl. 1 f., zit. nach Dunaevskij, S. 233.
24
Die Geschichte der internationalen Beziehungen und insbesondere die des Weltkrieges, seiner Entstehung und seiner Resultate, waren in den zwanziger Jahren auch das Thema verschiedener Arbeiten des damals bereits bekannten und profilierten Historikers E. Tarle (1875-1955). 3 8 Sein Buch „Europa in der Epoche des Imperialismus 1871-1919", erstmals 1927 erschienen (in zweiter Auflage 1928), trug im Unterschied zu Skazkins Monographie verallgemeinernden Charakter und beruhte auf gedruckten Materialien. Unter dem Eindruck des Kriegserlebnisses hatte für Tarle nach der Beendigung des Krieges der Prozeß der Überprüfung bestimmter weltanschaulicher und wissenschaftlicher Postulate begonnen; nur sehr allmählich hatte er sich von bisherigen Ansichten lösen können. Dies kam unter anderem in seinem Beitrag zum Disput über die Ursachen wie über die Resultate des Krieges zum Ausdruck, der in der wissenschaftlichen Literatur der zwanziger Jahre und danach mit äußerster Heftigkeit geführt wurde und in dem Tarle in seinen Stellungnahmen nicht von der Leninschen Imperialismustheorie ausging, als er sich in seinen Untersuchungen einseitig gegen die Außenpolitik der herrschenden Kreise Deutschlands aussprach. In diese Auseinandersetzungen wurden die jungen Wissenschaftler verständlicherweise einbezogen. Jerussalimski sah den Grund für seine eigene Abkehr von der Alten Geschichte und sein Hinwenden zur Neueren Geschichte später „zum einen in dem Bemühen, die Ursachen und jene Umstände tiefer zu erfassen, die zur Entstehung des Weltkrieges von 1914-1918 geführt hatten, der zweifellos eine tiefe Spur im Bewußtsein der Menschen meiner Generation hinterlassen hatte". Es war nur zu erklärlich, wenn das Werk Lenins „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus", mit dem er sich erst Jahre nach der Oktoberrevolution bekanntmachen konnte, „wie eine echte Offenbarung, wie eine gewaltige wissenschaftliche Entdeckung aufgenommen wurde, die es gestattete, das Geheimnis der Entstehung imperialistischer Kriege zu enthüllen, und dies vorwiegend anhand von Material, das das Entstehen, Entfalten und die Formen der Expansionen der deutschen Monopole beleuchtete". 39 In diesem Erkenntnisprozeß spielten die Hinweise seines Lehrers Preobrazenskij eine nicht unwesentliche Rolle, der den Studenten bereits 1923 auf die ersten Bände der deutschen Aktenpublikation „Die Große Politik der Europäischen Kabinette" aufmerksam gemacht und ihn gleichzeitig auf die Notwendigkeit einer kritischen Wertung dieser Dokumentation verwiesen hatte. Als weiteres Motiv für die Hinwendung zu einem neuen Forschungsgebiet 40 nannte Jerussalimski „das Bestreben, die Hauptlinien der politischen Entwicklung, die Klassenkämpfe in Deutschland unter dem Gesichtspunkt der heraufziehenden Gefahr eines neuen Krieges zu verstehen. Diese Gefahr begannen 38
Über Evgenij Tatle, vgl. die Studie v o n Jerussalimski,
A. S., E. V . Tarle als Historiker und
Publizist, i n : Zeitschrift f ü r Geschichtswissenschaft (im folgenden: Z f G ) , 1 9 5 8 , H . 2 , S . 2 5 5 ff. 3!)
Jerussalimski,
40
Ebenda, S. 2.
A. S., Einleitung, S. 1 f.
3
Stoecker, Jerussalimski
25
die Sowjetmenschen schon zu dem Zeitpunkt zu spüren, als die herrschenden Kreise in Deutschland, wo nach der Annahme des amerikanischen Reparationsplanes, des Dawes-Planes, die imperialistischen Kräfte schnell erstarkten, in der Außenpolitik von der .Rapallo-Politik' abgingen und Kurs auf die ,Locarno-Politik' nahmen, und in der Innenpolitik die Reaktion gegen die Arbeiter und insbesondere gegen die Kommunistische Partei verstärkten." Beim Studium der bürgerlichen deutschen historischen Literatur der zwanziger Jahre kam Jerussalimski zu dem Schluß, daß die verschiedenen Konzeptionen über die Außenpolitik Bismarcks und die Vorgeschichte des Weltkrieges im wesentlichen der politischen Orientierung verschiedener Gruppen der deutschen Bourgeoisie in der Weimarer Republik entsprachen: „Die historische Einschätzung verwandelt sich somit unverkennbar in eine politische Wertung, und die Erforschung der politischen Geschichte der Vergangenheit wird zur historischen Bestimmung der Gegenwartsaufgaben." Der Bismarck-Mythos wurde zu einem wichtigen Charakteristikum der deutschen bürgerlichen Historiographie, die einerseits versuchte, für die „Ost"- bzw. „West"-Orientierung der Außenpolitik ihrer herrschenden Kreise eine historische Begründung zu finden, andererseits aber zugleich die Frage nach der Schuld am Ausbruch des Krieges auch aus außenpolitischen Gründen in die Frage nach der Schuld am Ausgang des Krieges umzumünzen suchte. Dieses „Einwirken innenpolitischer Faktoren auf die historische Einschätzung außenpolitischer Fragen" 41 fand Jerussalimski durch Beobachtungen bestätigt, die er während seines zweiten Studienaufenthaltes machte.
Die Geschichte der internationalen Beziehungen Im Sommer 1928 reiste Jerussalimski erneut nach Deutschland, diesmal nicht allein zu Studienzwecken. Das Institut für Weltwirtschaft und Weltpolitik und speziell die von Pokrovskij initiierte und geleitete Kommission zur Publikation der Geheimdokumente aus den Archiven der zaristischen und der Provisorischen Regierung hatten ihn beauftragt, sowohl die neueste Literatur zur deutschen Nachkriegspolitik zusammenzutragen als auch sich mit den deutschen amtlichen Aktenpublikationen über die Ursachen des Weltkrieges vertraut zu machen. Auf Anraten von Varga arbeitete er vor allem im Archiv für Weltwirtschaft in Hamburg, im dortigen Institut für Auswärtige Politik sowie im Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr in Kiel. Zugleich besuchte er die Universität in Heidelberg und fand dort mehrfach Gelegenheit zu langen Streitgesprächen mit Fachkollegen verschiedenster Couleur. In einer Gesprächsrunde bei Hajo Holborn, einem Schüler von Friedrich Meinecke, seit 1926 Privatdozent, diskutierte er bis tief in die Nacht über die noch sehr verbreitete „inhaltslose Idealisierung Bismarcks und über die deutschen Konzeptionen der ewigen Friedensliebe" des deutschen Kanzlers. „Offensichtlich 41
26
Derselbe, Probleme der politischen „Ost"- und „West"-Orientierung Deutschlands, S. 372.
wissen diese Leute gut, was sie da tun, und deshalb tun sie es", kommentierte er den Besuch bei Holborn. 42 Zunächst jedoch führte ihn die Reise nach Berlin. Hier sah er sich zum ersten Male mit faschistischen „Sturmtrupps in braunen Uniformen" konfrontiert, sah diese „nachts durch die Straßen ziehen, Menschen jagen und Schaufenster einschlagen ..." 43 Den jungen Wissenschaftler, der schon in seiner Jugend die Werke von Mozart, Goethe und Heine kennengelernt hatte, der sich bereits als Student, gleich vielen seiner Altersgenossen, die humanistischen Traditionen der deutschen Kultur erschloß, mußten die Beobachtungen in Deutschland beunruhigen und erschrecken. „Meine ersten Begegnungen mit Faschisten prägten sich fest in mein Bewußtsein ein", erinnerte er sich später an das Jahr 1928. Obgleich er in seinen Briefen von der immer wieder bewunderten architektonischen Schönheit der „märchenhaften Stadt" Dresden schwärmte, obgleich er die liebliche Landschaft Thüringens genoß und sich durch die interessante und lebhafte Atmosphäre der Universitätsstadt Heidelberg angezogen fühlte - „einerseits ein deutsches quartier latin, andererseits eine Durchgangsstation für versnobte amerikanische Touristen"4'1 - , wurden ihm die Erlebnisse faschistischer Ausschreitungen „so unerträglich", daß er noch vor Beendigung der Studien abreiste. „Damals begriff ich", so sagte er, „daß wir, auch ich persönlich, in Gestalt des Faschismus unseren Feind zu sehen hatten." 45 Seit jener Zeit, da er Untersuchungen über die Entwicklung des deutschen Imperialismus der Nachkriegsjahre durch eigene Beobachtungen der beginnenden Faschisierung des gesellschaftlichen Lebens in Deutschland ergänzen konnte, wuchs seine Überzeugung von der Menschenfeindlichkeit des Faschismus; die Entlarvung der faschistischen Ideologie und der demagogischen Politik nahm immer breiteren Raum in seinen Schriften ein. Bereits unmittelbar nach der Rückkehr aus Deutschland setzte sich Jeruasalimski in einem Artikel mit den Veränderungen im Kräfteverhältnis auseinander, die er in Deutschland hatte beobachten können. 48 In den drei Monaten, die Jerussalimski in Deutschland verbrachte, nahmen Probleme seiner ursprünglichen Forschungsthematik noch einen gewissen Raum bei seinen Literaturstudien ein: der Jüdische Krieg und die revolutionären Bewegungen im Orient auf dem Hintergrund der römischen Politik, soziale Fragen, Besonderheiten des Klassenkampfes, der Versklavung fremder Völker und anderes. Dennoch verbrachte er die meiste Zeit in den bereits genannten Instituten in Hamburg und Kiel. Hier konnte er nicht nur Propagandaschriften einsehen, die sich Derselbe,
Brief an N. A . Maskin, 29. 7. 1 9 2 8 ; vgl. auch Probleme der politischen „Osm-
und „West"-Orientierung. 43
Derselbe,
Einleitung, S. 5.
44
Derselbe,
Brief an N. A . Maskin, 29. 7. 1 9 2 8 . Seine Eindrücke gab er in dem Artikel „Der
Zerfall der Regierungskoalition 1 9 2 8 " wieder, dt. in: Der deutsche Imperialismus, S. 4 1 9 ff. 4j
Derselbe,
Stenogramm, S. 6.
46
Derselbe,
Peregruppirovka politiceskich sil i vybory v Germanii, in: Mirovoe chozjajstvo,
1 9 3 0 , Nr. 10, S. 2 5 - 4 3 . 3»
27
mit der Unterstützung der Kolonialexpansion des deutschen Kapitals befaßten, er erhielt auch Einblick in Denkschriften der Deutschen Kolonialgesellschaft sowie in Jahresberichte einzelner Kolonialfirmen. Die in diesen Archiven aufbewahrten Materialien vermittelten wertvolle Hinweise zur Wirtschafts- und Kolonialpolitik Deutschlands - von Jerussalimski zu einem Artikel verarbeitet, der 1935 in der Zeitschrift seines Instituts erschien/*7 Ausgehend von der Kolonialexpansion des Deutschen Reiches vor 1914, untersuchte er darin die Politik des deutschen Faschismus, insbesondere dessen Eroberungspolitik und den Platz, den die Kolonien dabei einnahmen. Obwohl zu jener Zeit nur wenige Quellen zur Verfügung standen, die eine etwaige Bestimmung der Rolle einzelner Monopolverbände und Interessengruppen zuließen, gelang es ihm, „eine recht vollständige Vorstellung über die Triebkräfte der Koloriialexpansion des deutschen Faschismus und deren Hauptrichtung im Kampf um die alten und um die Gewinnung neuer Kolonien" zu geben. Nach Ansicht von Skazkin war „dieses Vermögen, den Ereignissen zu folgen und ihnen eine richtige historische Wertung zu geben, ... charakteristisch auch für weitere Arbeiten des Autors". 48 Des weiteren galt seine Aufmerksamkeit entsprechend dem Forschungsauftrag einem Arbeitsgebiet, dem er sich in den folgenden Jahren in zunehmendem Maße widmen sollte: der Publikation amtlicher Dokumente und hier in Deutschland speziell den Methoden der Herausgeber. Nicht von ungefähr hatte man ihm diese Aufgabe übertragen, war er doch bereits zu Beginn des gleichen Jahres mit Pasukanis, Adamov und Popov in den engeren Kreis der Mitarbeiter der Kommunistischen Akademie berufen worden, die mit der Erarbeitung einer Grundkonzeption für die vorgesehene regierungsamtliche Dokumentenpublikation beauftragt wurde. 4 9 Mit der Gründung der Kommision zur Herausgabe von diplomatischen Schriftstücken der zaristischen sowie der Provisorischen Regierung, gleichermaßen verantwortlich getragen von der Kommunistischen Akademie, dem Zentralarchiv und dem Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten, wurde Ende der zwanziger Jahre eine neue Etappe in der Sichtung und Erschließung von Geheimdokumenten eingeleitet. Ausgehend von den Hinweisen Lenins, daß nach der Machtergreifung durch die Sowjets zu untersuchen sei, „aus welchen historischen Bedingungen heraus der betreffende Krieg entstanden sei, welche Klassen ihn führen und mit welchem Ziel sie ihn führen", 50 waren seit November 1917 sowohl in der Presse als auch in der „Sammlung Geheimer Dokumente aus dem Archiv des ehemaligen Mini47
Derselbe,
43
49
50
28
Kolonial'nye plany germanskogo imperializma, dt. in: Der deutsche Imperialis-
mus, S. 495 ff. Skazkin, S. D., Rezension zu A. S. Jerussalimski, Germanskij imperializm. Istorija i sovremennost', Moskau 1964, in: Novaja i novejsaja istorija, 1965, H. 3, S. 150. Protokoll der Sitzung der Kommission zur Herausgabe der Dokumente des Weltkrieges, 7. 2. 1928, ORF, f. 5, op. 2, ed. ehr. 17, Bl. 1. Lenin, W. /., Werke, Bd. 24, Berlin 1974, S. 396.
steriums für auswärtige Angelegenheiten" die ersten, bislang unbekannten Dokumente über die Außenpolitik im Weltkrieg erschienen. D i e „Sammlung" war ausgewählt, dechiffriert und herausgegeben worden von dem Matrosen N. G . Markin, der, nach Jerussalimskis Worten, „nicht nur das Gewehr ausgezeichnet zu handhaben verstand, der auch eine andere mächtige Waffe der proletarischen Revolution beherrschte - politischen Klasseninstinkt, was ihn befähigte, die wichtigsten, entscheidenden Dokumente herauszufinden und sie der Öffentlichkeit zu übergeben. Der Eindruck war ungeheuer." 51 In den Jahren darauf, allein bis zum Ende des Bürgerkrieges, folgten 20 weitere „Sammlungen" und in verschiedenen Zeitschriften mehr als 30 Publikationen von Dokumenten aus den Archiven der zaristischen und der Provisorischen Regierung zur Geschichte des Weltkrieges sowie zu anderen Problemen der Geschichte der internationalen Beziehungen sowie zur Russischen Geschichte. Doch erst der Sieg über die innere Konterrevolution wie über die ausländischen Interventen und der Übergang zum friedlichen Aufbau des zerstörten Landes ermöglichten es, sich dieser Aufgabe systematischer zuzuwenden. In neu entstandenen historischen Instituten wurden wissenschaftliche Zeitschriften gegründet, die sich vorwiegend der Publizierung, Analyse und Wertung der Dokumente zur diplomatischen Geschichte des Weltkrieges und dessen Vorgeschichte widmeten. Eine Vielzahl von thematischen Sammelbänden erschien; das „Krasnyj Archiv", beginnend im Jahre 1922, erwarb sich große Verdienste „um die Enthüllung des Geheimnisses der imperialistischen Politik und Diplomatie" 5 2 , wie es einleitend im ersten Band hieß. Auch die nunmehr einsetzende umfangreichere Veröffentlichung diplomatischer Aktenstücke aus den Archiven der bürgerlichen Regierungen in anderen europäischen Staaten erleichterte eine kritische Analyse der Außenpolitik der imperialistischen Regierungen und der vorherrschenden Interessengruppen, die letztlich für den Weltkrieg verantwortlich waren. In der sowjetischen Geschichtsschreibung wurde in den zwanziger Jahren damit begonnen, die nun erst in vollem Umfang bekannt werdenden diplomatischen Aktionen der Vorkriegsjahre auf der Basis der neu erschlossenen Quellen zu untersuchen und zu kommentieren. Erstmals wurde es möglich, sich mit dem Inhalt der Dokumente aus marxistischer Sicht auseinanderzusetzen. Vorbereitet durch Arbeiten namhafter sowjetischer Historiker, so von Pokrovskij, Adamov, Grimm, Popov, aber auch von Wissenschaftlern der jüngeren Generation, wie Jerussalimski 5 3 , Chvostov und Veber, konnte nun das von Pokrovskij initiierte 51
Jerussalimski,
A. S., Mirovaja vojna, Vorlesungsprotokoll, 26. 12. 1932, S. 7. Archiv A N
SSSR, f. 1539, op. 2 ; vgl. auch derselbe,
Die Versailler These und ihre Revision, in: Der
deutsche Imperialismus, S. 305 f. 52 53
Krasnyj Archiv, Bd. 1, Moskau 1922, S. 1, redaktionelles Vorwort. So beteiligte sich Jerussalimski an der Vorbereitung und Herausgabe u. a. folgender Sammlungen : Franko-amerikanskie peregovory o vecnom mire i arbitraze; Italo-al'banskij sojuznyj dogovor; Franko-jugoslavskij dogovor, in: Mirovoe chozjajstvo, 1928 Nr. 4, 7 ; Dokumentacija po voprosam mezdunarodnoj
politiki:
Dogovor
mezdu Italiej i Green;
Anglo-
29
Projekt einer umfassenden Publikation der die Außenpolitik der zaristischen und der Provisorischen Regierung betreffenden Dokumente in Angriff genommen werden. D a s Vorhaben wurde auf der ersten Konferenz der marxistischen Historiker 1 9 2 8 in Moskau diskutiert und unterstützt. Mehr als ein Jahrzehnt wirkte Jerussalimski an den Vorarbeiten und an der Herausgabe der sowjetischen Aktenpublikationen mit. „Für uns ist die Publikation der Dokumente, die den Weltkrieg betreffen, keine akademische Frage", erläuterte er einige Jahre später (1932) seinen Studenten gegenüber die Veröffentlichung der Geheimdokumente, „für uns ist dies eine Frage des scharfen politischen Kampfes, um den Imperialismus zu entlarven, um ihn zu bekämpfen." Und dies um so mehr, so fuhr er fort, da „die Frage der Vorbereitung des Weltkrieges für uns von aktueller Bedeutung ist, insbesondere angesichts der Tatsache, daß der im kapitalistischen Lager vorbereitete imperialistische Krieg heute in erster Linie gegen die Sowjetunion gerichtet ist". 5 4 Seit 1928 zunächst als Mitarbeiter der mit der Vorbereitung betrauten Kommission zur Auswahl und Sichtung von Aktenstücken herangezogen, dann mit der Ausarbeitung der Prinzipien des Anerkennungsapparates beauftragt, bereitete er später selbst mehrere B ä n d e zum D r u c k vor und wurde schließlich im M a i 1938 auf B e schluß des Politbüros des Z K der K P d S U ( B ) zum Mitglied der Herausgeberkommission berufen, deren Arbeit er als stellvertretender Vorsitzender gemeinsam mit F. A. Rotstejn leitete. Ausgehend von der nachdrücklich erhobenen Forderung Lenins, daß die Politik der imperialistischen Mächte „während langer Jahrzehnte vor dem Krieg . . . in ihrer Gesamtheit studiert und verstanden werden" 5 5 muß, um den Charakter des Krieges und dessen historische, ökonomische und politische Ursachen aufzudecken, erwies sich die Aufgabe, die sich die verantwortungsbewußten marxistischen Historiker bei Beginn des Unternehmens stellten, trotz des unbeschränkten Zugangs zu den Akten der ehemaligen Regierungen des Russischen Reiches als nicht leicht. D i e Erforschung einzelner Aspekte der Geschichte der internationalen Beziehungen war bereits Gegenstand von Untersuchungen bürgerlicher Gelehrter Rußlands gewesen. Auch Wissenschaftler und Publizisten verschiedener Profilierung, die mit der Partei der Bolschewiki verbunden waren, hatten schon vor der Oktoberrevolution Arbeiten zu dieser Thematik vorgelegt; seit den frühen zwanziger Jahren übten sie einen nachhaltigen E n f l u ß auf die weitere Erforschung dieser Fragen aus. D o c h erst durch zunehmende Aneignung des Leninschen Gedankengutes, begleitet von der Überwindung fehlerhafter Ansichten und bei gleichzeitiger Verarbeitung einer Vielzahl unterschiedlicher Konzeptionen konnte sich die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft allmählich auch auf diesem G e b i e t durchsetzen. Selbst kitajskij dogovor; Panamerikanskaja konferencija po arbitrazu i soglasitel'noj procedure, ebenda, 1929, Nr. 7 ; Reparacionnyj vopros i voennye dolgi, Sammelbaad, Moskau 1933, 5,1 53
30
u. a. Dokumentationen zu zeitgenössischen Fragen. Jerussalimski, A. S., Mirovaja vojna, Vorlesung, gehalten am 26. 12. 1932, S. 7. Lenin, W. /., Werke, Bd. 24, S. 399.
manche Wissenschaftler, für die die Oktoberrevolution die Umsetzung ihrer Weltanschauung in die Praxis bedeutete, hatten sich noch, wie es Gefter formulierte, „den inneren Reichtum und die Dialektik der Leninschen Theorie des Imperialismus anzueignen und mußten zum Beispiel die gradlinig ökonomische Auffassung über die Entstehung des Weltkrieges oder die Einengung seiner Vorgeschichte hauptsächlich auf den europäischen Rahmen, was die Trennung der historisch-diplomatischen Forschung von dem ganzen Komplex der sozialen und Klassenbeziehungen zur Folge hatte, überwinden". 56 Das Vorhaben der Sowjetregierung, eine umfangreiche Dokumentenpublikation herauszugeben, hatte im Ausland, besonders in Deutschland, großes Interesse hervorgerufen. Im Verlauf der im Juli 1928 in Berlin durchgeführten Woche der Sowjetischen Geschichtswissenschaft konnten zwischen Otto Hoetzsch, dem Leiter der einladenden Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas, und dem sowjetischen Delegationsleiter, M. N. Pokrovskij, Vereinbarungen getroffen werden, die später zum Abschluß eines Vertrages über den Druck der sowjetischen Manuskriptvorlage in deutscher Übersetzung in Deutschland führten. Es steht außer Zweifel, daß das Auswärtige Amt wie auch Hoetzsch aus bestimmten politischen Gründen an der Herausgabe der Dokumente aus den Archiven der zaristischen Regierung interessiert waren. W i e Jerussalimski später in einer Würdigung Hoetzschs betonte, hatte dieser niemals seine antisozialistischen Ansichten zu verbergen gesucht. Dennoch, so konnte Jerussalimski nach einem Gespräch mit Hoetzsch feststellen, „war er ein real denkender Mensch und bemüht, die sowjetische Wirklichkeit zu studieren . . . er gehörte zu den Vertretern jener politischen Tendenzen, die es im Interesse Deutschlands für notwendig hielten, normale Beziehungen zur Sowjetunion zu unterhalten." 07 Zunächst jedoch nutzte Jerussalimski zur Vorbereitung des genannten Unternehmens alle Möglichkeiten, während seines Aufenthaltes in Deutschland im Herbst 1928 im Zusammenhang mit der in der bürgerlichen historischen Literatur und Publizistik durch die Veröffentlichung diplomatischer Akten der kapitalistischen Mächte veranlaßten Diskussion noch genauer die Methoden einer Verfälschung der Aussage historischer Dokumente kennenzulernen. Er verband seine Quellenstudien mit der kritischen Gegenüberstellung der verschiedenen Dokumentensammlungen, die von den Regierungen einzelner Länder mit dem Ziel einer Apologetik ihrer jeweiligen Rolle bei der Vorbereitung und Auslösung des imperialistischen Krieges 1914-1918 herausgegeben wurden. Später erinnerte er sich, daß „das Verständnis der allgemeinen Konzeption . . . , die der vielbändigen deutschen Publikation über den Ursprung des ersten Weltkrieges, ,Die Große Politik . . . ' , zugrunde lag, außerordentlich erleichtert wurde durch die Beobachtung der Vorbereitungsarbeiten an der gekürzten Ausgabe dieser Publikation (,Die Aus30 57
Gefter, M. J., op. dt. S. 8 f. Jerussalimski, A. S., Sud'ba professora Getca, Pravda, 11. 6. 1935; zu Hoetzsch vgl. Voigt, G„ Otto Hoetzsch, 1876-1946. Wissenschaft und Politik im Leben eines deutschen Historikers, Berlin 1978.
31
wärtige Politik des Deutschen Reiches 1871-1914' in vier Bänden), die 1928 vom Institut für Auswärtige Politik in Hamburg vorgenommen wurde, gleichzeitig aber auch im Ergebnis von Gesprächen . . . mit den Leitern beider Ausgaben - Professor A. Mendelssohn Bartholdy (Hamburg) und Fr. Thimme (Berlin)". 58 Nach der Niederlage des deutschen Imperialismus im ersten Weltkrieg konzentrierte die bürgerliche imperialistische Geschichtsschreibung in Deutschland ihre Aufmerksamkeit in Arbeiten und Quelleneditionen, nicht zuletzt auch in der umfangreichen und aufwendigen Aktenpublikation des Auswärtigen Amtes darauf, das kaiserliche Deutschland von der Verantwortung für die Vorbereitung und den Beginn des Weltkrieges zu entlasten, den deutschen Imperialismus in der Geschichtsdarstellung zu rehabilitieren, um damit seinen Wiederaufstieg in der Praxis der Geschichte sehr wesentlich zu fördern. Die Forderung der herrschenden Klassen Deutschlands an die europäischen Regierungen, die diplomatischen Akten zu publizieren, kann somit „nicht allein mit ihrer besonderen Liebe für die historische Wahrheit" erklärt werden, resümierte Jerussalimski. Im Gegenteil, der Kampf um die Revision des Versailler Vertrages wurde „in der Sprache der Wissenschaft in jener umfangreichen Literatur zur Geschichte der internationalen Beziehungen fortgesetzt, die nach dem Kriege in Westeuropa, insbesondere in Deutschland, erschien". 59 Im Gegensatz dazu lagen der sowjetischen Veröffentlichung andere Prinzipien zugrunde, ging es doch hier nach den Worten Pokrovskijs um eine „vollständige und allseitige Beleuchtung der Außenpolitik des Zarismus in der Epoche des Imperialismus" 60 wie um die Entlarvung der Politik der imperialistischen Mächte insgesamt. Während sich die deutsche Publikation nur auf die Akten des Auswärtigen Amtes stützte, wurde schon in der Konzipierung der sowjetischen Sammlung der Kreis wesentlich weiter gezogen: In breitem Umfang standen neben den Archiven des Außenministeriums auch die Bestände des Generalstabes, des Marineministeriums, des Finanzministeriums, des Admiralstabes, des Ministeriums für Handel und Industrie sowie des Ministerrates zur Verfügung. Das Interesse für die sowjetischen Publikationen basierte daher nicht allein darauf, daß die Edition dank der Anwendung des chronologischen Prinzips, der 58
Jerussalimski,
A. S„ Einleitung, S. 4. Seine Wertung der Aktenpublikation „Die Große
Politik . . ." siehe u. a. in: derselbe,
Die Außenpolitik und Diplomatie des deutschen Impe-
rialismus Ende des 1 9 . Jahrhunderts (im folgenden: Außenpolitik), Berlin 1 9 5 4 , S. 26. Vgl. auch Schleier, H., Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik, Berlin 1 9 7 5 , S. 1 3 9 ff. 59
Jerussalimski,
A. S., Problemy vnesnej politiki Bismarka v poslevoennoj germanskoj istorio-
grafii, in: Istorik-Marksist, 1 9 2 9 , Bd. 12, S. 2 1 4 . Zur deutschen Aktenpublikation Klein,
vgl.
F., Über die Verfälschung der historischen Wahrheit in der Aktenpublikation „Die
Große Politik", in: Z f G , 1 9 5 9 , H. 2, S. 3 1 8 ; Schleier,
H„ Die bürgerliche deutsche Ge-
schichtsschreibung. 60
Pokrovskij,
M. N.,
O sovetskoj publikacii dokumentov po istorii mirovoj vojny, ORF, f.
5, op. 1, ed. ehr. 3 1 4 , Bl. 3.
32
zeitlichen Ausdehnung bis über den 1. August 1914 hinaus und angesichts der im einzelnen vollständig wiedergegebenen Dokumente sowie der Gründlichkeit des Anmerkungsapparates höchsten wissenschaftlichen Anforderungen genügte. Mit Hilfe der sowjetischen Veröffentlichungen versuchten die bürgerlichen deutschen Geschichtsschreiber von der im Versailler Vertrag enthaltenen These von der Alleinschuld Deutschlands abzulenken und die These von der vorwiegenden oder sogar ausschließlichen Verantwortung des russischen Zarismus für den Ausbruch des Krieges zu stützen. In der umfangreichen in Deutschland erschienenen Literatur über die sowjetischen Aktenpublikationen kam dies deutlich zum Ausdruck. Nach angestrengter Archivarbeit konnten die Mitarbeiter der Kommission, unter ihnen erfahrene, aber auch jüngere Historiker, wie Grimm, Adamov und Notovic, Jerussalimski, Chvostov, Veber u. a., mit der Vorbereitung der einzelnen Aktenbände beginnen. Dabei kam ihnen die langjährige Praxis weiterer Mitarbeiter, wie die A. L. Popovs 61 , zugute, der sich durch die Herausgabe und ausführliche Kommentierung von Dokumenten aus der Geschichte des russischen Imperialismus im Gesamtsystem der internationalen Beziehungen, besonders zur Politik der europäischen Mächte gegenüber den Völkern des Nahen und Fernen Ostens, bereits verdient gemacht hatte. Popovs Arbeiten kräftigten die jungen Mitarbeiter der Arbeitsgruppe in ihrem Entschluß, die zur Veröffentlichung vorgesehenen Dokumente über Europa hinausführend aus der gesamten weltumspannenden Vorgeschichte des Weltkrieges auszuwählen. Während seiner langjährigen Arbeit in der Herausgeberkommission konnte Jerussalimski teils allein, teils in Zusammenhang mit B. G. Veber als verantwortlicher Redakteur mehrere Bände der Reihe „Internationale Beziehungen im Zeitalter des Imperialismus" zum Druck vorbereiten. 62 Über mehrere Jahre war diese Publikation Gegenstand zahlreicher Artikel und Rezensionen des jungen Wissenschaftlers sowohl in der Tagespresse als auch in Fachzeitschriften. Er verglich sie mit Aktenveröffentlichungen der kapitalistischen Regierungen, wertete die vorgelegten Dokumente und ergänzte sie durch die Veröffentlichung von weiteren Aktenstücken zu speziellen Themen. 63 Im Jahre 1929 wurde das Institut für Geschichte der R A N I O N der Kommunistischen Akademie angeschlossen, die Assoziation selbst aufgelöst. Damit schloß 61
Mendel'son,
V. /., A . L. P o p o v - istorik vnejsnej politiki Rossii i mezdunarodnych otnosenij,
i n : Istorija i istoriki 1 9 7 1 , M o s k a u 1 9 7 3 , S. 2 5 2 - 2 7 3 . 62
M e z d u n a r o d n y e otnosenija v epochu imperializma. D o k u m e n t e aus den A r c h i v e n d e r Z a ristischen und der Provisorischen Regierung, 1 8 7 8 - 1 9 1 7 . A u s der Serie III, 1 9 1 4 - 1 9 1 7 , zeichnete
Jerussalimski
allein
bzw.
gemeinsam
mit
B. G .
Veber
verantwortlich
für Bd.
2,
1 4 . 3 . - 1 3 . 5. 1 9 1 4 , Moskau/Leningrad 1 9 3 3 , und B d . 3, 1 4 . 5 . - 2 7 . 6. 1 9 1 4 , Moskau/Leningrad 1 9 3 3 ; aus der Serie II, 1 9 0 4 - 1 9 1 4 , f ü r B d . X V I I I , Teil 1 und 2, M o s k a u 1 9 3 8 , und als Redaktionsmitglied f ü r die B d e . X V I I I - X X , M o s k a u 1 9 3 8 - 1 9 4 0 , sowie Bd. X I X , Teil 2, Berlin 1 9 4 3 , der nur noch in deutscher Sprache erscheinen konnte. 63
V g l . Jerussalimski,
A. S., K istorii Potsdamskogo soglasenija 1 9 1 1 g., i n : K r a s n y j A r c h i v ,
B d . 5 8 , M o s k a u 1 9 3 3 , S. 4 6 ff. u. a.
33
Jerussalimski gemeinsam mit anderen Abolventen dieses Instituts die Aspirantur ab. Unter ihnen befanden sich manche später auch in der D D R gut bekannte Historiker wie Druzinin, Neckina, Neusychin, Manfred, N . Maskin, Efimov, Öerepnin, Nikitin, Porsnev, Smirin, S. A. Tokarev, V e b e r und Chvostov. D a erst mit der neuen Aspirantenordnung (1935) der Abschluß dieser Ausbildungsstufe obligatorisch mit der Promotion verbunden wurde, blieb die Verteidigung der Dissertation durch Druzinin, Neckina und Neusychin unmittelbar nach Beendigung der Aspirantur am Institut für Geschichte der R A N I O N vorerst noch eine Ausnahme. Jerussalimski wurde an das Institut der Roten Professur berufen, wo er einen Lehrauftrag für Geschichte der Außenpolitik Rußlands erhielt. Gleichzeitig setzte er seine Tätigkeit am Institut für Weltwirtschaft und Weltpolitik fort. Hier fand seine wissenschaftliche wie publizistische Aktivität, aufs engste mit den aktuellen ideologischen und außenpolitischen Auseinandersetzungen, mit dem K a m p f gegen die imperialistisch-faschistische Ideologie und Kriegsvorbereitung verflochten, in zahlreichen Artikeln für Fachzeitschriften und für die Tagespresse seinen Niederschlag. D e r Übergang des Sowjetvolkes zu neuen Aufgaben gewaltigen Ausmaßes, die komplizierteren sozialökonomischen, politischen und theoretischen Probleme, deren Lösung mit der weiteren Entwicklung und Festigung der sowjetischen Gesellschaft erforderlich wurde, stellten auch an die Geschichtswissenschaftler anspruchsvollere Anforderungen. „Charakteristischer Grundzug dieser E t a p p e " , so kennzeichnete Ponomarev den Übergang zu den dreißiger Jahren, „wurde die marxistisch-leninistische Erforschung eines umfangreichen Faktenmaterials. Sie entfaltete sich in breiter Front, erfaßte viele Teilgebiete der historischen Forschung, ermöglichte neue Methoden der Quellenanalyse, schuf Beispiele des tiefen E i n dringens in das Wesen historischer Prozesse und wichtiger historischer Ereignisse. D a s Ergebnis dieser umfangreichen Forschungen war die marxistisch-leninistische Verallgemeinerung von grundlegenden Problemen der allgemeinen G e s c h i c h t e . . . " 6 ' ' D a b e i spielten das schöpferische Aneignen der Leninschen Lehre, insbesondere der Imperialismustheorie, sowie das Studium der Arbeitsmethoden Lenins eine hervorragende Rolle - vorrangig für jene Historiker, die die Geschichte der internationalen Beziehungen, insbesondere die Vorbereitung und Entfesselung des Weltkrieges untersuchten, eine Problematik, die in Anbetracht der internationalen Lage zu Beginn der dreißiger J a h r e mehr als zuvor die Aufmerksamkeit der sowjetischen Geschichtsforschung beanspruchen mußte. D i e im Jahre 1 9 2 8 auf Beschluß des II. Sowjetkongresses der U d S S R begonnene Herausgabe der W e r k e von K a r l M a r x und Friedrich Engels war für die Festigung der marxistischen Geschichtskonzeption von großer Bedeutung. Sowohl '' Ponomarev, B. N., Zadaci istoriceskoj nauki i podgotovka naucno-pedagogiceskich kadrov vo oblasti istorii, in: Vsesojuznoe sovescanie o merach uluscenija podgotovki naucnopedagogiceskich kadrov po istoriceskim naukam, Moskau 1964, S. 18.
6
34
in Moskau als auch in anderen Forschungszentren des Landes wurde der 50. T o destag von M a r x zum A n l a ß genommen, das marxistische Geschichtsverständnis und die marxistische Geschichtskonzeption an konkreten Beispielen zu popularisieren. Auch Jerussalimski leistete dazu einen Beitrag: In einem Artikel über „ K a r l M a r x und Fragen der internationalen Politik" 6 5 untersuchte er, hierbei von M a r x ' theoretischen Erkenntnissen ausgehend, die Bedeutung der Kriege im System der internationalen Beziehungen, den dialektischen Zusammenhang zwischen den nationalen Befreiungsbewegungen und der Entwicklung in den „Mutterländern" sowie die Beziehungen zwischen letzteren und die Rolle der nationalen und demokratischen Bewegungen in Europa bei der Vorbereitung nationaler Kriege. D a b e i war ihm besonders daran gelegen zu zeigen, wie eng M a r x diese Probleme mit anderen außenpolitischen Fragen verknüpfte, wie es dem Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus gelang, sie dem von der Bourgeoisie ausschließlich für sich beanspruchten Kompetenzbereich zu entreißen und der Arbeiterklasse die Aufgabe klar zu machen, auf alle außenpolitischen Aktionen der herrschenden Klassen E i n f l u ß zu nehmen. W i e bereits erwähnt, beschäftigten sich auch andere marxistische Historiker mit dieser politisch überaus aktuellen Thematik. Noch in den Kriegsjahren hatte Pokrovskij in einer Reihe von Artikeln über die aggressive Außenpolitik der imperialistischen Mächte geschrieben. E r war den jungen Historikern ein Vorbild in der Schärfe seiner F e d e r und in der K r a f t seiner Argumente wie auch in der Kenntnis archivalischer Quellen und der Gründlichkeit ihrer Nutzung. D o c h lag seiner Auffassung der imperialistischen Epoche eine gewisse Uberbewertung der Aggressivität des englischen Imperialismus und damit verbunden des russischen Zarismus zugrunde, die eine faktische Entlastung Deutschlands durch die These von dessen „Verteidigungsstellung" gegenüber den Ententemächten zur Folge hatte. Cicerin warnte Pokrovskij davor, die Handlungen Wilhelms II. z. B . in den Tagen der Julikrise als A k t der „Selbstverteidigung" zu deuten; sowohl die E n tentemächte als auch Deutschland und dessen Verbündete hatten nach Cicerins Überzeugung auf den Krieg hingearbeitet. Im Juli 1929 schrieb er an Pokrovskij, daß es die Pflicht der sowjetischen Historiker sei, die Verbrechen des Zarismus zu verdeutlichen, gleichzeitig aber auch die Rolle eines jeden imperialistischen Staates bei der Vorbereitung und Entfesselung des Weltkrieges darzustellen, um damit nicht zuletzt „den deutschen fortschrittlichen Elementen zu helfen, die Verbrechen ihrer reaktionären Kreise aufzudecken". 6 6 In den letzten Arbeiten Pokrovskijs ist zu erkennen, daß er sich um ein besseres Verständnis dieser Fragen und um eine Korrektur seiner bisherigen Auffassungen bemühte. Für Jerussalimski war das Studium der Leninschen Schriften, vor allem der Jerussalimski, A. S., Karl Marks i voprosy mezdunarodnoj politiki, in: Mirovoe chozjajstvo, 1933, Nr. 3, S. 32-60. 6« Gosudarstvennyj Musej Revoljucii SSSR, f. M. N. Pokrovskij, d. Nr. 31642/320-64; Nr. 31642/320-67, Brief Cicerin an Pokrovskij, 21. 7. 1929, zit. nach Dunaevskij, S. 226 f.
35
ersten und zweiten Werkausgabe, von entscheidender Bedeutung. Grundlegend waren Lenins Erkenntnisse über die Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung, insbesondere der Entwicklung des Imperialismus, bei der umfassenden Erarbeitung der Vorgeschichte des Weltkrieges und bei der Bestimmung der Rolle der einzelnen imperialistischen Mächte. Gleichzeitig aber, und dies gerade machte das „schöpferische Aneignen" derselben aus, gab das ernsthafte Eindringen in die Arbeitsmethode Lenins, in die „Entwicklung des Leninschen Denkens", wie es Jerussalimski nannte, dem eigenen „Denken jedesmal einen neuen Impuls". 67 Es ist von großem Reiz zu verfolgen, wie Jerussalimski in zahlreichen Artikeln und Rezensionen in den dreißiger Jahren um ein eigenes Erarbeiten dieser Methoden rang und sie in den Vorlesungen den Studenten zu vermitteln suchte. In dem erwähnten Vorwort stellte Gefter fest, daß „Lenins ,Hefte zum Imperialismus' Jerussalimskis Leitfaden in den vierziger Jahren" geworden waren. Dem ist gewiß zuzustimmen, geht doch aus den Stenogrammen der Vorlesungen Jerussalimskis und aus seinen Manuskripten der dreißiger Jahre eindeutig hervor, daß er diese „Hefte" seit ihrem ersten Erscheinen aufmerksam studierte. Die „Hefte zum Imperialismus" wurden erstmals in den Bänden des „Leninskij Sbornik" publiziert (1933—1938) . 68 Während der Vorarbeiten zu seiner klassischen Schrift über den Imperialismus hatte Lenin im Laufe von eineinhalb Jahren aus Hunderten von Büchern, Zeitschriften und Broschüren Material zusammengetragen, Konzepte angefertigt und Aufzeichnungen verarbeitet, die nun insgesamt etwa 50 Druckbogen füllten. Sowohl die vom Petrograder Verlag vorgeschriebene Begrenzung auf fünf Druckbogen als auch die beabsichtigte legale Drucklegung im zaristischen Rußland zwangen Lenin, sich in seiner Schrift auf das Wesentlichste zu beschränken. Die „Hefte" machen uns jedoch mit dem ganzen Umfang des Materials bekannt, das Lenin in Vorbereitung seiner Arbeit auswertete. Zum anderen zeigen sie deutlich die Überlegungen Lenins zu Konzeption und Gliederung der Schrift: In den nicht zum Druck vorgesehenen Heften brauchte er sich nicht, wie er sagte, „der verfluchten äsopischen Sprache" 69 zu bedienen, die die zaristische Zensur den Revolutionären aufzwang. Hier sprach er schonungslos sein Urteil über die Apologeten des Imperialismus in der Arbeiterklasse, in scharfen Worten griff er pseudo-marxistische Theorien an, wandte er sich gegen unwissenschaftliche Behauptungen kleinbürgerlicher Vertreter der Opposition gegen den Imperialismus. In den „Heften" gab Lenin nicht allein den Historikern ein überzeugendes Beispiel dafür, wie die Ergebnisse der bisherigen Forschung kritisch zu nutzen sind, wie alles Wertvolle verarbeitet werden kann, ohne dabei Zugeständnisse an bürgerliche Auffassungen zu machen. 67
Gefter,
68
Sie erschienen erstmalig
M. }., op. cit., S. 9 f. in: Leninskij Sbornik, Bd. X X I I ,
Moskau
1933,
Bd.
XXVII,
Moskau 1 9 3 4 , Bd. X X V I I I , Bd. X X I X , Moskau 1 9 3 6 , Bd. X X X I , Moskau 1 9 3 8 . Sie wurden hier sowohl in der Leninschen Originalfassung als auch in russischer Übersetzung v e r öffentlicht. 63
36
Lenin, W. /., W e r k e , Bd. 2 2 , Berlin 1 9 7 7 , S. 1 9 .
Rückblickend meinte Jerussalimski, daß es ihm zu jener Zeit vor allem darum ging, „die Methodologie zu erkennen, die er (Lenin - E. St.) im Prozeß der Untersuchungen des Imperialismus im allgemeinen und des deutschen Imperialismus im besonderen angewandt hat".70 In seinen Vorlesungen über die Geschichte der internationalen Beziehungen, die er in den dreißiger Jahren an verschiedenen historischen Instituten und Hochschuleinrichtungen Moskaus hielt, stützte er sich auf die „Hefte", wobei der Gedanke über die Notwendigkeit der globalen Betrachtungsweise der die welthistorische Entwicklung in den Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg bestimmenden oder beeinflussenden Ereignisse im Vordergrund stand. Lenin hatte in seinem Vorwort zur französischen und zur deutschen Ausgabe der Imperialismusschrift (1920) betont, daß „der Beweis für den wahren sozialen oder, richtiger gesagt, den wahren Klassencharakter eines Krieges . . . selbstverständlich nicht in der diplomatischen Geschichte des Krieges zu suchen" ist, vielmehr ist eine „Analyse der objektiven Lage der herrschenden Klassen in allen kriegführenden Staaten" notwendig. „Um diese objektive Lage darstellen zu können, darf man nicht Beispiele und einzelne Daten herausgreifen, . . . sondern man muß unbedingt die Gesamtheit der Daten über die Grundlagen des Wirtschaftslebens aller kriegführenden Mächte und der ganzen Welt nehmen."'1 Im Oktober 1935 z. B. lenkte Jerussalimski die Aufmerksamkeit seiner Hörer nachdrücklich auf das kurz zuvor im „Leninskij Sbornik" (Bd. XXIX) publizierte Heft „Egelhaaf", das den „Versuch einer Zusammenstellung der wichtigsten Daten der Weltgeschichte nach 1870" enthält. Wiederholt wies er auch in späteren Jahren auf den großen Wert gerade dieses Heftes hin, ging es ihm doch darum, an Hand der vergleichenden Tabelle den Studenten den Gedanken Lenins über die notwendige global-synchrone Betrachtungsweise der welthistorischen Ereignisse, insbesondere der neuesten Zeit, nahezubringen, der in der erwähnten, von Lenin zusammengestellten Tabelle überaus deutlich zum Ausdruck kommt. Schon während seiner Aspirantur, seit 1925, hatte Jerussalimski an verschiedenen Hochschulen und Universitäten Moskaus Vorlesungen und Seminare zu einzelnen Problemen der Geschichte der Außenpolitik Rußlands wie zur Geschichte der internationalen Beziehungen im 19. Jh. gehalten. Parallel zur Arbeit an den Publikationsvorhaben rückten dann seit der Mitte der dreißiger Jahre in den Lehrveranstaltungen am MIFLI (Moskauer Institut für Philosophie, Literatur und Geschichte) die Geschichte der internationalen Beziehungen im Zeitalter des Imperialismus, vor allem die englisch-deutschen Gegensätze in den letzten Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg, in den Vordergrund. Dabei nahmen die Behandlung der Transvaalkrise, des Friedens von Schimonoseki, des IhotwanAufstandes, der Rolle Waldersees und des Flottenbauprogramms breiten Raum ein. In diesem Zusammenhang ist von Interesse, daß der erste Entwurf einer Disposition für eine umfangreiche Monographie über die Geschichte der Außen70 71
Jerussalimski, A. S., Der deutsche Imperialismus, S. 20. Lenin, W. /., Werke, Bd. 22, S. 194.
37
politik und Diplomatie des deutschen Imperialismus am Ende des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. bereits in jenen Jahren entstand. D i e politischideologischen Auseinandersetzungen jener Zeit ließen ihn die Verantwortung des Historikers „in dem allgemeinen Strom des Lebens und des Kampfes, der Geschichte und der Gegenwart genannt wird" 7 2 , erkennen, als er die faschistische deutsche Presse aufmerksam verfolgte. 1935 schrieb er in der Pravda: „Der Schatten Bismarcks schwebt über dem faschistischen Deutschland. Der verhängnisvolle Schatten des Militarismus und des Krieges." Anläßlich des 120. Geburtstages des ersten deutschen Kanzlers erklärte er, daß „die faschistische Presse in Erwartung kommender Ereignisse, und diese vorbereitend, besondere Aufmerksamkeit der bismarckschen militaristischen Politik schenkt . . . Hitler hat sich die alte bismarcksche Theorie zu eigen gemacht, wonach die Festigung eines dauerhaften Friedens vorbereitend einen Krieg notwendig mache." 73 In zahlreichen Artikeln setzte er sich mit der immer offener werdenden Aufrüstung Deutschlands auseinander und enthüllte den eigentlichen Kern der „Friedenspläne" des deutschen Militarismus. D i e wertvollen Traditionen der russischen progressiven Publizistik, wissenschaftliche Forschung mit einer breite Leserkreise ansprechenden publizistischen Darstellung ihrer Ergebnisse zu verbinden - Jerussalimski würdigte dies in einer späteren Einschätzung des Werkes von E . V . Tarle 7 4 - , suchte er selbst fortzusetzen. Seine leidenschaftliche und aktive Natur forderte gesellschaftliche Bestätigung. 75 Nach Abschluß der Aspirantur war sein Studium der Werke von Marx, Engels und Lenin aufs engste mit aktivem, lernendem und lehrendem Tätigsein im gesellschaftlichen und politischen Leben seiner Zeit verbunden. Zweifellos festigte die mit den aktuellen Fragen der Gegenwart verbundene Erforschung des Wesens des Imperialismus die politische Überzeugung Jerussalimskis und bestärkte ihn in seinem Entschluß, Mitglied der Kommunistischen Partei der Sowjetunion zu werden. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben sahen die marxistischen Historiker in der breiten Propagierung eines wissenschaftlich begründeten Geschichtsbildes. Daher verstärkten sie zu Beginn der dreißiger Jahre ihre Massenarbeit. In Moskauer Großbetrieben entstanden Zirkel, in denen profilierte Historiker, Ökonomen, Juristen und andere Gesellschaftswissenschaftler zu den Werktätigen über ihre Arbeit wie über aktuelle Fragen der politischen Lage sprachen. Fast über ein Jahrzehnt, seit etwa 1930, war Jerussalimski eng mit der „Trechgornaja Manufaktura", einem Textilgroßbetrieb in Moskau, durch sein propagandistisches Wirken verbunden. Später bekannte er: „Ich bin stolz darauf, daß ich während der Kandidatenzeit in der Trechgornaja Manufaktur'a arbeiten konnte und die Arbeiter mir 73
jerussalimski, A. S., Der deutsche Imperialismus, S. 20.
73
Derselbe,
Ten' Bismarka, Pravda, 14. 4. 1 9 3 5 ; derselbe,
Germanskij „plan mira", ebenda,
25. 5. 1 9 3 6 ; derselbe, Politika vnezapnogo udara, ebenda, 3. 9. 1936 u. a. 74
Derselbe,
Der sowjetische Gelehrte E . V. Tarle als Historiker und Publizist, in: ZIG, 1958,
H. 2, S. 2 5 5 - 2 8 5 . 75
38
Druzinin, N. M., Erinnerungen an Arkadi Ssamssonowitsch Jerussalimski, Anhang, S. 131.
das Empfinden für Demokratie anerzogen. Mit warmen und freudigen Gefühlen erinnere ich mich an die Jahre meiner gemeinsamen Tätigkeit mit den Angehörigen des Betriebes. Ich bin stolz darauf, daß fünf Arbeiter aus der vorrevolutionären Zeit bei meiner Aufnahme in die Partei für mich bürgten." 76 Erfolgreiche propagandistische Arbeit leistete Jerussalimski seit jenen Jahren auch bei Einheiten der Roten Armee und der Schwarzmeer-Flotte. Anfänglich unterstützt und angeleitet durch den Leiter der Auslandsabteilung der Pravda, I. Eruchimovic, arbeitete Jerussalimski seit Beginn der dreißiger Jahre auch am theoretischen Organ der Kommunistischen Partei, „Bolsevik", sowie an der „Pravda" mit, als deren Korrespondent er den VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale unmittelbar verfolgte. Zugleich schrieb er Beiträge über außenpolitische Fragen für die Armeezeitung „Krasnaja Zvezda" und für andere Periodika.
Kampf gegen Faschismus und Krieg Mit dem Machtantritt der Faschisten in Deutschland erhöhte sich für alle Völker die Gefahr eines Krieges. Der Kampf gegen den Faschismus und gegen die Entfesselung eines neuen Krieges wurde zum Hauptinhalt der Bemühungen des ganzen Sowjetvolkes wie auch breiter Kreise der demokratischen Weltöffentlichkeit. Daran hatten die historische Forschung und Publizistik der Sowjetunion einen hervorragenden Anteil. 7 7 Zu denen, die sich auf diesem Gebiet besonders hervortaten, gehörte Jerussalimski. Große Aufmerksamkeit widmete er der Aufrüstung im faschistischen Deutschland und den demagogischen Losungen, mit denen die Nazipartei und deren Verbündete ihre Innen- und Außenpolitik tarnten. 78 Den Kampf um das von der Sowjetunion geforderte System der kollektiven Sicherheit, das der Leiter der sowjetischen Delegation, der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, 78
Jerussalimski,
A. S., Stenogramm, S. 9. D i e Parteigruppe des Textilkombinates „Dzerzins-
kij" nahm ihn als K a n d i d a t e n ( 1 9 3 2 ) und als Mitglied ( 1 9 3 8 ) a u f . In einer der f ü n f Bürgschaften v o n A r b e i t e r n des Betriebes hieß es, J. sei ein der Partei ergebener Genosse, d e r bei den A r b e i t e r n A u t o r i t ä t besitze und umfangreiche propagandistische A r b e i t leiste. „Ich bin fest d a v o n überzeugt", hieß es weiter, „daß Jerussalimski ein w e r t v o l l e s Mitglied der Partei w e r d e n w i r d . " A r c h i v A N S S S R , f. 1 5 3 9 , op. 2 ed. ehr. 1 3 , R e k o m e n d a c i j a raboeego K o m b i n a t a T r e c h g o r n a j a M a n u f a k t u r a postupajuscemu v k a n d i d a t y V K P (B), 5. 6. 1 9 3 0 . 77
Derselbe,
Die
Kriegspropaganda
in
der
faschistischen
deutsche Imperialismus, S. 4 6 5 f f . ; s. dazu auch Chvostov, 78
Jerussalimski,
A.
historischen
Publizistik,
in:
Der
V. M., u. a.
S., D e r Beginn der A u f r ü s t u n g des faschistischen Deutschlands und die
V e r h a n d l u n g e n mit den W e s t m ä c h t e n , i n : ebenda, S. 4 7 4 ; derselbe,
Rezension z u : V o o r u -
zenija kapitalisticeskich stran v 1 9 3 5 g., M o s k a u 1 9 3 6 , i n : B o l s e v i k , 1 9 3 6 , N r . 1 6 , in der J . die materiellen
und ideologischen V o r b e r e i t u n g e n
eines großen K r i e g e s durch
Japan,
die A n g a b e n über K r i e g s v o r b e r e i t u n g e n in einzelnen militärischen Bereichen w i e auch die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und J a p a n untersuchte.
39
M . Litvinov, vor dem Völkerbund entwickelte, kennzeichnete Jerussalimski als einzig mögliche Antwort auf die aggressive Politik des faschistischen Deutschlands. „ D e r Frieden ist unteilbar - in dieser bedeutsamen Formulierung Litvinovs sind die historischen Erfahrungen der Vergangenheit und der historische W e i t blick auf die Zukunft konzentriert", schrieb er 1936 in der „Pravda", als er die außenpolitische Tätigkeit Litvinovs würdigte. „Auf der Tagesordnung steht jetzt die Notwendigkeit, ein System der kollektiven Garantie des Friedens gegen einen möglichen Aggressor zu organisieren . . . D i e U d S S R stellt der faschistischen K o n zeption der Sicherheit für die Aggressoren die Konzeption der Sicherheit der Völker gegenüber." Diesen K a m p f führte „Genosse Litvinov mit bolschewistischer Leidenschaft, mit unerschöpflicher Energie", denn, so unterstrich Jerussalimski, „die Erfahrungen der bisherigen Geschichte der internationalen Beziehungen zeugen davon, daß die Widersprüche zwischen einzelnen militärischen Gruppierungen die Gefahr neuer Kriege vergrößern und einen Krieg in allernächster Zukunft unausweichlich machen." 7 9 In dieser außenpolitisch äußerst angespannten Situation erblickte die Partei- und Staatsführung der Sowjetunion neben vielen anderen diplomatischen Aktivitäten eine wichtige Aufgabe darin, dem zunehmenden Interesse der breiten Öffentlichkeit an außenpolitischen Fragen größte Aufmerksamkeit zu schenken, das wachsende Bedürfnis nach Information über aktuelle Probleme der Vergangenheit und Gegenwart zu befriedigen. D i e wissenschaftliche und publizistische Tätigkeit zur Geschichte der Diplomatie des eigenen Landes wie auch der bürgerlichen Staaten wurde intensiviert; die Geschichte der Außenpolitik der Sowjetunion und der imperialistischen Staaten nahm in Lehre und Ausbildung an den Hochschulen und Universitäten größeren Raum ein. Gleichzeitig hielt es die sowjetische Regierung für erforderlich, eine umfassendere Weiterbildung aller im diplomatischen Dienst Tätigen zu gewährleisten. Im Herbst 1 9 3 9 wurde die Hochschule für Diplomatie gegründet, die sich in erster Linie auf die Aus- und Weiterbildung leitender Mitarbeiter des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten konzentrierte. Hier übernahm Jerussalimski auf Beschluß des Z K der K P d S U ( B ) den Lehrstuhl für Geschichte und Geschichte der Diplomatie. Außerdem ernannte ihn der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, V . M . Molotov, zum Leiter der Weiterbildungskurse für die Mitarbeiter des gleichen Volkskommissariats, nachdem ihn wenige Monate zuvor die Politische Leitung der Roten Armee als Lehrstuhlleiter für Geschichte der internationalen Beziehungen und für Geschichte der Außenpolitik der U d S S R an die Militärpolitische Akademie „ W . I. Lenin" berufen hatte. M i t gewohnter Energie und in vollem Bewußtsein ihrer Bedeutung suchte Jerussalimski den Aufgaben gerecht zu werden, obwohl die ständige Anspannung aller K r ä f t e nicht ohne Folgen für seine Gesundheit bleiben konnte; ein Herzleiden machte ihm seit Jahren zu schaffen. 79
40
Derselbe, Borec za nedelimyj mir, Pravda, 17. 7. 1936.
D a s S e m i n a r Prof. P. F. P r e o b r a z e n s k i j s ( M i t t e ) in der Universität S a m a r a 1920; A . S. J e r u s salimski ( l i n k s n e b e n ihm), N . A . M a s k i n (links stehend), V . A . M i s u l i n ( n e b e n i h m ) u n d M. M. Kobylina
O.BMCMAPK MbiCJIM l/l B O C n O M I / l H A H l / i f l
A EPyCAAUMCKH14
BJ1CMAPK KAK AHIIAOMAT
r o c y ftA I' C T B E U H O E COUKAJIb» HOCK
Titelblatt der Ubersetzung der Memoiren von O. v. Bismarck; der einführende Artikel erschien außerdem als gesonderte Broschüre 1940 in russischer und 1941 in bulgarischer zum gleichen Thema hielt A. S. Jerussalimski mehrfach Vorträge einem Vortrag)
Sprache;
(hier die Eintrittskarte zu
Pressekonferenz vor dem Reichstagsgebäude in Berlin am 5. Mai 1945 mit Generaloberst N. E. Berzarin; unter den Korrespondenten A. S. Jerussalimski (vorn Mitte), Arthur Pieck (links, 2. Reihe) und Vsevolod Vysnevskij (rechts)
"O « •s nC W I— OJO CL,
8. M a i 1945 — B e r l i n - K a r l s h o r s t . B e o b a c h t e r der S i e g e r m ä c h t e , unter ihnen A . S. J e r u s s a l i m s k i , betreten d e n Saal, in d e m die b e d i n g u n g s l o s e K a p i t u l a t i o n u n t e r s c h r i e b e n w i r d
Im Gespräch mit Walter Bartel und Armeegeneral Kurasov, O k t o b e r 1955 in Berlin
T a g u n g der W e l t f ö d e r a t i o n
der Wissenschaftler in Berlin, E m p f a n g am 22. O k t o b e r 1955;
A. S. Jerussalimski im Gespräch mit H . - H . Bielfeldt u n d W . Unverzagt, V . Klemperer (vorn links)
Eine Bootsfahrt mit E r n s t Diehl und Rolf D l u b e k auf d e m Teupitzsee, E n d e O k t o b e r 1955
Zu Beginn seines Vorlesungszyklus über die Geschichte der internationalen Beziehungen an der Militärpolitischen Akademie umriß Jerussalimski die politisch-ideologische und die wissenschaftlich-theoretische Aufgabenstellung dieser Veranstaltungen: „Wir müssen nicht nur die ökonomischen Wurzeln der imperialistischen Kriege aufdecken, wir müssen nicht nur den Klassencharakter dieser imperialistischen Kriege bloßlegen, wir müssen auch die Methoden der Vorbereitung imperialistischer Kriege herausfinden, jene Bedingungen, die den Krieg hervorbringen, d. h., um mit den Worten Lenins zu sprechen, ,jenes Geheimnis enthüllen, in dem der Krieg entsteht'. Für uns ist es wichtig, jene Umstände zu erklären, die die Kriege gebären, die Ziele der imperialistischen Kriege wie auch die politischen Resultate, zu denen diese Kriege führen, darzulegen." 8 0 Auch hier hielt er seine Hörer an, Lenins „Hefte zum Imperialismus" als wichtiges Arbeitsinstrument zu nutzen, denn sie „sind in diesem Sinne nicht nur ein glänzendes Beispiel der schöpferischen Arbeit eines Forschers auf dem Gebiet der Geschichte der internationalen Beziehungen, sie sind gleichzeitig eine reiche Schatzkammer der marxistisch-leninistischen Wissenschaft. D i e einzelnen verstreuten Bemerkungen und sogar die Tabellen, die Lenin zusammenstellte, sind uns wegweisend bei der Analyse der Außenpolitik der kapitalistischen Staaten." 8 1 Um dem erhöhten Interesse für die Geschichte der Diplomatie zu entsprechen, begann der Staatsverlag der U d S S R für sozialökonomische Literatur im J a h r e 1940, eine neue Reihe unter dem Titel „Bibliothek der Außenpolitik" herauszugeben. In einem umfangreichen Artikel 8 2 in der „ P r a v d a " erläuterte Jerussalimski das bedeutsame Vorhaben. E r wies auf die jahrhundertealte Praxis der herrschenden Klassen hin, den eigentlichen Inhalt, die Ziele und Methoden ihrer diplomatischen Aktivitäten vor den Volksmassen geheimzuhalten. D i e Außenpolitik und Diplomatie der kapitalistischen Mächte, in der Epoche des Imperialismus mehr denn je das „Allerheiligste" der herrschenden Klassen, wurde noch komplizierter, noch aggressiver, war in ihrem Wesen noch schärfer als bisher gegen die Volksmassen gerichtet. D i e Interessen des Finanzkapitals bestimmten nunmehr die außenpolitische Orientierung der einzelnen Staaten. D e r K a m p f um den Monopolbesitz an Rohstoffquellen und Einflußsphären, somit um die Aufteilung der E r d e , wurde in der Epoche des Imperialismus zum wesentlichen Inhalt der Außenpolitik und der Diplomatie. In diesen Zusammenhang stellte Jerussalimski die zwischen den imperialistischen Staaten abgeschlossenen „geheimen militärisch-politischen Verträge gegen die Konkurrenten und Feinde und gleichzeitig mit denen, die man für Feinde hielt, gegen jene, die man als Freunde ansprach". Angesichts der Verschwörung der imperialistischen Mächte in München sei es notwendig, bei „unseren Menschen das Verständnis für die Kompliziertheit der internationalen Beziehungen zu fördern, ihnen zu helfen, die Ziele und Methoden der Außen80 81 82
4
Vorlesungsstenogramm vom 5. 10. 1939, Archiv AN SSSR, f. 1539, ed. ehr. 36. Vorlesungsstenogramm vom 17. 11. 1939, ebenda. Derselbe, Biblioteka vnejsnej politiki, in: Pravda, 15. 10. 1940, Nr. 287; 16. 10. 1940, Nr. 288. Stoeckec, Jerussalimski
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Politik der imperialistischen Staaten zu erkennen, sich in dem raffinierten Labyrinth der bürgerlichen Diplomatie zurechtzufinden." 8 3 W i e aus den redaktionellen Vorbemerkungen zur genannten Reihe hervorgeht, stellte sich der Verlag das Ziel, dem sowjetischen Leser in größerem Umfang als bisher Monographien zur Geschichte der internationalen Beziehungen und zur Außenpolitik und Diplomatie einzelner Staaten, Memoiren bedeutender Politiker und Diplomaten, Handbücher zum internationalen Recht u. a. vorzulegen. Zugleich sollte jeder in dieser Reihe vorgesehenen Veröffentlichung, insbesondere den Werken bürgerlicher Autoren der Vergangenheit und Gegenwart, eine ausführliche wissenschaftliche Einführung vorangestellt werden, wie dies bei Übersetzungen von Werken bürgerlicher Autoren in der marxistischen
Geschichts-
schreibung der Sowjetunion seit 2 0 Jahren üblich war - ein wirksames Mittel der Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Politik. D a m i t wollte der Verlag dem Leser helfen, Fragen der Außenpolitik und Diplomatie leichter zu erkennen und zu verstehen. 8 4 D i e Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion bewegten
die
sowjetische Öffentlichkeit in dieser Zeit in hohem M a ß e . Gründlichere Kenntnisse über deren Geschichte, aber auch über die Geschichte der deutsch-russischen B e ziehungen
vor
der
Oktoberrevolution konnten die Einschätzung der 1 9 4 0 ge-
gebenen Situation erleichtern. D a h e r erschien als erstes W e r k im Herbst 1 9 4 0 die Übersetzung der Memoiren O t t o von Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen", denen der Herausgeber und verantwortliche Redakteur der Übersetzung, A . S. Jerussalimski, eine ausführliche Einleitung voranstellte. 8 5 Jerussalimski hatte sich wiederholt mit Bismarck befaßt, und er konnte daher erstmals eine tiefschürfende, auf fundiertem Wissen beruhende marxistische W e r tung des deutschen Politikers geben. E r zeigte das Wechselverhältnis zwischen der Politik des Kanzlers und den Interessen seiner Klasse auf dem Hintergrund des objektiven Kräfteverhältnisses in Deutschland und unter den europäischen Mächten. Diese Arbeit war mit dem Ziel entstanden, angesichts der gegenwärtigen außenpolitischen Situation den „Realismus" des Kanzlers zu verdeutlichen, der ungeachtet seiner reaktionären Absichten, die Bestrebungen und Interessen der Derselbe, Pravda, 15. 10. 1940. ' Wie aus den redaktionellen Vorbemerkungen zu O. Bismark, Mysli i vospominanija, Bd. I, Moskau 1940, S. III, hervorgeht, begannen die Vorarbeiten zur Herausgabe der Memoiren von Lloyd George; Grey; Churchill; Ishii, Diplomaticeskie kommentarii, Moskau 1942; von Werken zur Geschichte der internationalen Beziehungen, so Istorija diplomatii, Bd. I, Moskau 1941; von A. Debidour, Istorija evropejskoj diplomatii ot Berlinskogo kongressa do 1916 g. (1878-1904); von E. Satow, Rukovodstvo k diplomaticeskoj praktike; Oppenheim, Mezdunarodnoe pravo; Cambon, Diplomat; ]u. ja. Solov'ev, Vospominanija diplomata (1893-1922); weiter die Übersetzung der „Intimate Papers of Colonel House" - Archiv Polkovnika Cbauza, Bde. 1-4, Moskau 1937-1944 u. a. 83 Jerussalimski, A.S., Bismark kak diplomat, ebenda, S. V-XLVIII; der Artikel erschien außerdem gesondert als Broschüre im gleichen Verlag unter gleichem Titel, Moskau 1940, in einer Auflage von 100 000 Exemplaren und in Nr. 18 des „Bolsevik", 1940.
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8J
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militaristischen Kreise in Deutschlaad realisieren zu wollen, weitsichtig genug war, „unabhängig von seinen ihn im Augenblick bewegenden Motiven einen militärischen Zusammenstoß mit Rußland unter allen Umständen zu vermeiden". In seiner Abhandlung analysierte Jerusisalimski die Politik Bismarcks, insbesondere die Beziehungen des deutschen Kanzlers zu Rußland; dabei ging er den Beweggründen nach, die Bismarck von einem Briuch mit dem zaristischen Rußland abhielten. Zum Schluß seiner Darstellung wird deutlich, daß sich Bismarck gegen Ende seiner Amtszeit nicht mehr den veränderten Bedingungen der sich entwickelnden imperialistischen Phase anpassen konnte; den Übergang zur „Weltpolitik" des von ihm geschaffenen Deutschen Reiches vermochte er nicht mehr zu vollziehen. Die Abhandlung über Bismarck war zweifellos von hohem wissenschaftlichem Wert, sie wurde in der Tagespresse und weit über die Kreise der wissenschaftlichen Intelligenz hinaus mit großer Aufmerksamkeit aufgenommen. Sie „machte den Autor in breiten Kreisen der Öffentlichkeit bekannt". 86 In zahlreichen öffentlichen Vorträgen vor ungewöhnlich großem Hörerkreis sprach Jerussalimski über die „Außenpolitik und Diplomatie Bismarcks". Er untersuchte die diplomatische Tätigkeit des Kanzlers, zeigte dessen Scharfsinn und diplomatische Schlauheit, besonders dessen Fähigkeit, bestimmte historische Realitäten zu erkennen und sie für die Ziele seiner Politik zu nutzen. Damit half Jerussalimski, tiefer und systematischer in die Methoden der Außenpolitik und Diplomatie der Bourgeoisie einzudringen, besser deren Inhalt wie auch deren Taktik zu verstehen. Die Einleitung und die gesamte russische Übersetzung der „Gedanken und Erinnerungen" wurden auch im Ausland bekannt. Fortschrittliche Kräfte in Bulgarien, die besorgt die bedrohliche Entwicklung der Beziehungen zwischen der UdSSR und dem faschistischen Deutschland beobachteten, sahen sich durch die Abhandlung Jerussalimskis in ihrem Bemühen bestärkt, vor allem „während der ersten Jahre des zweiten Weltkrieges den bulgarischen Lesern eine richtige Orientierung im Verstehen der komplizierten internationalen Beziehungen zu geben". Die genannte Abhandlung war ihnen dabei eine große Hilfe; bulgarische Kommunisten übersetzten und veröffentlichten sie in den ersten Wochen des Jahres 1941 als Broschüre unter dem Titel „Bismarck kato politik" in Sofia sowie in der Zeitschrift „Naucen pregled". 87 Als die faschistischen Armeen das Sowjetland überfielen, sah Jerussalimski, wie viele Wissenschaftler, seinen Platz in den Reihen der Roten Armee. Zunächst als Mitarbeiter des Sowinformbüros, dann als Leiter der Auslandsabteilung des Zentralorgans der Roten Armee, „Krasnaja Zvezda", an der Front, in Vorträgen vor Truppenteilen, besonders jedoch in seinen zahlreichen publizistischen Arbeiten 86
Erusalimski),
87
Schriftliche Mitteilung v o n J a r o s l a v Y o c o v , 2 5 . 4. 1 9 7 3 , Sofia. E r selbst initiierte und leitete
A. S., Bismarck. Introduzione di M. Ja. Gefter,
Rom 1 9 6 9 , S. 2.
diese A r b e i t gemeinsam mit S a v v a Ganovski, heute Mitglied der Bulgarischen A k a d e m i e der Wissenschaften S o f i a ; beide veranlaßten auch den Druck in der genannten Zeitschrift 1 9 4 1 , H. 4 , S. 7 - 1 6 . A*
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setzte er seine K r a f t , sein Wissen für die Verteidigung der Heimat, für die B e freiung der vom faschistischen Deutschland okkupierten Völker ein. Erlebnisse und Eindrücke von den verschiedenen Frontabschnitten fanden ihren Niederschlag in Artikeln für die Tagespresse, in erster Linie für die Armeezeitung. E r hielt Vorträge über den Iran, über Rumänien und Bulgarien, über die militärische und innenpolitische Lage in diesen Ländern sowie über deren Vergangenheit. E r schilderte die Auswirkungen des Kampfes der Sowjetunion und der Antihitlerkoalition auf die internationale Situation und auf den K a m p f in den von den faschistischen Armeen besetzten Ländern. Als Beispiel sei der Vortrag über den Iran genannt, den er im Anschluß an eine Reise in dieses L a n d (1942) hielt. Seine Beobachtungen verband er mit Erläuterungen über die Geschichte des Landes, verdeutlichte den Platz dieser Region in den Plänen der deutschen Faschisten. Zugleich spricht aus der Darstellung sein großes Verständnis für die Lage der einfachen iranischen Bauern, die ihm als Vertreter der Sowjetunion für die von seinem Heimatland erwiesene Hilfe dankten. 8 8 Wenige Tage, nachdem die E r f o l g e der Roten Armee und die damit verbundenen Veränderungen des internationalen Kräfteverhältnisses ein zweites Zusammentreffen der Regierungschefs der drei Großmächte der Antihitlerkoalition in L i v a d i j a / J a l t a ermöglicht hatten, informierte Jerussalimski in einem öffentlichen Vortrag in Moskau über Vorbedingungen, Aufgabenstellung und konkrete Ergebnisse der Krimkonferenz. D i e Einheit der Antihitlerkoalition bezeichnete er als Voraussetzung für den von allen Völkern ersehnten Sieg über den Faschismus. D i e vollständige Ausrottung des deutschen Militarismus und Faschismus mußte dem demokratischen Neubeginn in Deutschland vorausgehen, wenn die Zukunft der V ö l k e r in Frieden garantiert und neue Kriege verhindert werden sollten. 8 9 D i e Gewißheit des Sieges über die faschistischen Aggressoren verlieh seinem Auftreten Überzeugungskraft, bildete den T e n o r seiner Vorträge im Rundfunk und seiner Vorlesungen. E i n Jahr nach dem faschistischen Überfall auf die Sowjetunion brachte er seine Zuversicht zum Ausdruck, daß „der T a g kommen wird, da unter den Schlägen der vereinten V ö l k e r die deutsch-faschistische Kriegsmaschine zerschlagen sein wird. D a n n wird die Menschheit mit allen Kräften darum besorgt sein, eine Wiedergeburt des Faschismus zu verhindern." 9 0 Im Range eines Oberstleutnants nahm Jerussalimiski an den Kämpfen der Roten Armee um die Befreiung der Sowjetunion teil, reiste er als Korrespondent der Armeezeitung in den Iran und in den Irak, kam er in die Länder des Balkans, nach Österreich und Polen und schließlich in das befreite Deutschland, nach Berlin. Rückschauend berichtete er, daß ihn während all der J a h r e immer wieder die Frage bewegt hatte, „wie konnte es geschehen, daß jene mutigen Deutschen, die damals (im J a h r e 1 9 2 4 - E . St.) .Nieder mit dem K r i e g ! ' gerufen hatten, nun gegen 88
89 90
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Jerussalimski, A. S., Iran. Stenogramm eines öffentlichen Vortrages vom 13. 4. 1944 in Moskau, Moskau 1944. Derselbe, Krimskaja konferencia. Stenogramm eines Vortrages vom 12.3.1945, Moskau 1945. Derselbe, Tevtony XX veka, in: Krasnaja Zvezda, 1. 8. 1942.
die Sowjetunion marschierten? W o waren jetzt diese Menschen? G a b es in der deutschen Arbeiterklasse keine K r ä f t e , die gegen den Faschismus auftraten?" E i n e Antwort fand er später, „im J a h r e 1944, als wir mit Marschall Rokosovskij ins Lager Majdanek kamen. D a s , was ich dort sah, ist nicht zu beschreiben; 8 0 0 0 0 0 Paar Schuhe von Männern, Frauen und Kindern aus allen Ländern E u ropas; Leichen von Kindern, die Verbrennungsöfen! Mir begegneten auch Menschen, die wie durch ein Wunder am Leben geblieben waren. Mehrere T a g e hielt ich mich in dem Lager auf, und immer stärker festigte sich in mir die Überzeugung, daß der Faschismus als schlimmster Feind der Menschheit vom Antlitz der E r d e ausgelöscht werden muß. Hier verstand ich: jene Antifaschisten, deren Stimme ich nicht gehört hatte, waren hier zu finden; unter den schwersten Bedingungen der Illegalität, in Buchenwald, in den Konzentrationslagern hatten sie gemeinsam mit sowjetischen Menschen mutig den K a m p f fortgesetzt. Hier sah ich, was ich früher logisch begriffen hatte: es gab zwei Deutschland, neben der abstoßenden Fratze des Faschismus gab es auch das antifaschistische, demokratische Deutschland, dem die Zukunft gehört." 9 1 D i e militärische Niederlage des deutschen Imperialismus erlebte Jerussalimski in Berlin. E r nahm am 5. 5. 1945 an der ersten Pressekonferenz teil, die Generaloberst Berzarin, Oberbefehlshaber der V . Armee und Stadtkommandant von Berlin, an der Ruine des Reichstagsgebäudes abhielt. 9 2 Als einziger Historiker wurde er Zeuge des Augenblicks, da der deutsche Militarismus und Faschismus die Waffen strecken mußte. „Am späten Abend des 8. M a i 1945 unterzeichnete Feldmarschall K e i t e l in Karlshorst, einem Bezirk in Berlin, in der Halle einer ehemaligen Schule für Offiziere des Pionierwesens, das Dokument der bedingungslosen Kapitulation. Ich selbst war anwesend", erinnerte er sich später. 9 3 „ D i e Umstände hatten es so gefügt, daß ich an der bedingungslosen Kapitulation Hitlerdeutschlands teilnahm", berichtete er. „ D a s war ein unvergeßlicher Augenblick. Mir schien, nun sei der Zusammenbruch des deutschen Faschismus und damit auch des deutschen Imperialismus besiegelt und ich habe als Historiker hier nichts weiter zu tun und kann mich einem neuen T h e m a zuwenden. D o c h es kam anders!" M i t der Unterzeichnung der Kapitulation war der militärische K a m p f gegen den schlimmsten Feind der Menschheit beendet, vor den Völkern stand nun als moralische und politische Aufgabe die Liquidierung der Grundlagen des deutschen Faschismus und Militarismus. „Als ich nach zehn Jahren wieder in Berlin weilte, bestätigte sich meine Überzeugung, daß es weiterhin meine Aufgabe bleiben mußte, meinen Platz im K a m p f gegen den Imperialismus und Faschismus einzunehmen." 9 '' Nach Kriegsende kehrte Jerussalimski zu seiner Lehr- und Forschungstätigkeit zurück. A m Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte der Moskauer Universität scharte er Studenten, Aspiranten und wissenschaftliche Mitarbeiter um sich, die er 81 93 93 94
Derselbe, Stenogramm, S. 6 f. Bokov, F., Vstreca u sten Rejstaga, in: Izvestxja, 5 . 5 . 1966, Abendausgabe. Jerussalimski, A. S., Sixteen Years Later in: Moscow News, 6. 5. 1961, S. 3. Derselbe, Stenogramm, S. 8.
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mit den verschiedenen theoretischen Problemen der Geschichte des Imperialismus, mit der deutschen Außenpolitik vor dem ersten Weltkrieg, mit der Bedeutung des deutschen Imperialismus im System der internationalen imperialistischen Mächte, die zum Krieg geführt hatten, vertraut machte. Über den bisherigen Rahmen der Untersuchung der Wurzeln des deutschen Imperialismus hinausgehend, lenkte er das Interesse der Studierenden auf die Jahre nach dem ersten Weltkrieg und auf die Vorbereitung der Machtübertragung an den Faschismus in Deutschland, wobei er die politische Rolle der deutischen und internationalen Monopole sowie deren Verflechtung in den Vordergrund stellte. Seinen Studenten und Aspiranten Vorbild in der Beherrschung der marxistischleninistischen Forschungsmethode, blieben seine vielfältigen Anregungen stets fern von Dogmatismus und gedanklicher Enge. Er verband die Lehrtätigkeit mit Studien zur Vorbereitung einer umfangreichen Monographie über die „Außenpolitik und Diplomatie des deutschen Imperialismus am Ende des 19. Jahrhunderts", die er im Frühjahr 1948 als Habilitationsschrift vorlegte. 9 -' Die Verteidigung von Habilitationsdissertationen spielte im wissenschaftlichen Leben in der Sowjetunion wie schon vor dem Kriege so auch in den unmittelbaren Nachkriegsjahren eine bedeutende Rolle. Eine Reihe von Dissertationen ehemaliger Absolventen des Instituts für Geschichte der R A N I O N erlangte große Anerkennung; einige von ihnen, neben anderen Arbeiten dieser Autoren, fanden in deutscher Ubersetzung in der D D R Verbreitung und waren eine wirkungsvolle Hilfe bei der Festigung der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft unserer Republik. 96 Vor einem Auditorium von 400 Hörern verteidigte Jerussalimiski seine Schrift. Lothar Bolz, der von der Verteidigung aus der „Vecernaja Moskva" erfahren hatte, schrieb in der von ihm geleiteten Zeitung „Nachrichten für die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion" darüber folgendes: „Es war am 8. März ..., als ein bereits weithin bekannter Sowjethistoriker, ein Mitarbeiter des Historischen Instituts der Akademie der Wissenschaften, Arkadi Ssamssonowitsch Jerussalimski, seine Doktorarbeit im überfüllten Saal des Instituts öffentlich gegen seine amtlichen Opponenten, die Akademiemitglieder Deborin und Skazkin, verteidigte." Dem Vortrag des Kandidaten schloß sich eine lebhafte Diskussion an, denn angesichts der Erfahrungen der vergangenen Jahre und in Anbetracht der bedrohlichen Ent95
Derselbe,
Vnesnjaja politika i diplomatija germanskogo imperializma v konce X I X
veka,
Moskau 1 9 4 8 , 1 9 5 1 2 , d t . : Die Außenpolitik und Diplomatie des deutschen Imperialismus Ende des 1 9 . Jahrhunderts, Berlin 1 9 5 4 ; vgl. auch Druzinin,
M. N., Erinnerungen an A . S. Jerussa-
limskij, S. 1 3 1 f. 90
So u. a. Smirin, M. M., D i e Volksreformation des Thomas Münzer und der G r o ß e deutsche Bauernkrieg, Berlin 1 9 5 2 (Moskau 1 9 4 7 ) ; Neusychin,
A. /., D i e Entstehung der abhängigen
Bauernschaft als Klasse der frühfeudalen Gesellschaft in W e s t e u r o p a v o m 6. bis 8. Jahrhundert, Berlin 1 9 6 1 ; Porsnev,
B. F. D i e Volksaufstände in Frankreich v o r der Fronde
1 6 3 2 - 1 6 4 7 , Leipzig 1 9 5 4 ; Maskin,
N.
A.,
Zwischen Republik und Kaiserreich. Ursprung
und sozialer Charakter des augustinischen Prinzipats, Leipzig 1 9 5 4 .
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wicklung in Europa und insbesondere im Westen Deutschlands zog das aktuelle Thema die unterschiedlichsten Interessenten an. Zudem war der Autor als Verfasser der Abhandlung über Bismarck und durch seine langjährige Tätigkeit bei der Presse, vor allem während des Krieges, der Öffentlichkeit bekannt. Das eigentliche Thema der Dissertation „war die von deutschen Historikern in Umlauf gesetzte Version von der .verpaßten Möglichkeit' eines englisch-deutschen Bündnisses am Ende des 19. Jahrhunderts", schrieb L. Bolz, „das heißt davon, daß der Grund für die Katastrophe in zwei von Deutschland angezettelten Weltkriegen nicht im deutschen Imperialismus selbst zu suchen sei, sondern lediglich in der .ungeschickten' Politik des deutschen Imperialismus." Die nun vorliegende Monographie, das Ergebnis jahrzehntelangen wissenschaftlichen Forschens und Durchdenkens und der Verarbeitung der politischen Erfahrungen des Krieges, stellte eine wertvolle Bereicherung der marxistisch-leninistischen Geschichtsforschung dar. Das Ergebnis der Disputation, die er „mit angespannter Aufmerksamkeit verfolgte", faßte L. Bolz wie folgt zusammen: „Die wahre Geschichte Deutschlands, nämlich die Geschichte vom Kampf zwischen deutschem Monopolkapital und werktätigem deutschen Volk, von der gegen die Interessen des deutschen Volkes gerichteten Außen- und Innenpolitik des deutschen Monopolkapitals, diese Geschichtsschreibung hat außerhalb von Deutschlands Grenzen ihre Zuflucht suchen müssen. Sie hat sie hier in der Sowjetunion gefunden. Und mit welcher Sach- und Quellenkenntnis wird sie gepflegt! Und doch beschwert sich der Verfasser gerade über die Unzulänglichkeit der ihm zur Verfügung stehenden Quellen ... E r tat es, obwohl er nicht nur die riesige deutsche, englische, russische Geschichtsschreibung zu diesem Thema, nicht nur die amtlichen Veröffentlichungen und Sammelwerke, die privaten Memoiren und Briefbände eingehend studiert hatte, sondern auch die von der Sowjetregierung geöffneten Archive und Geheimarchive des einstigen zaristischen Außenministeriums. Welche "Quellen also fehlten ihm noch? Worüber beschwerte er sich? E r beschwerte sich darüber, daß ihm gerade die für das Studium der deutschen Innen- und Außenpolitik allerwichtigsten Quellen unzugänglich blieben: die Archive der deutschen Großbanken, Konzerne, Industriellen-Verbände. Noch nie habe ich in einer deutschen Doktorarbeit eine ähnliche Beschwerde zu Gesicht bekommen." 97 Das Buch, dessen Autor 1949 den Lomonosov-Preis der Moskauer Universität erhielt und der ein Jahr später mit dem Staatspreis ausgezeichnet wurde, ist, seitdem es 1954 auch dem deutschsprachigen Leser zugänglich wurde, zu einem Standardwerk geworden, das auch in der Deutschen Demokratischen Republik, zuerst als Handbuch genutzt, neue Maßstäbe setzte. 97
Bolz,
L., (ersch. unter Rudolf Germersheim), Im Lande der Sowjets, in: Nachrichten für die
deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion, 3. Jg., Moskau, Nr. 13, 31. 3. 1948.
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KAPITEL II
Die Analyse der Anfänge deutscher imperialistischer Außenpolitik
Die Aufnahme der Monographie in der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft Für die marxistischen Historiker, die an den Universitäten und Hochschulen der DDR daran gingen, ein neues Geschichtsbild zu erarbeiten, bildete die Monographie des sowjetischen Wissenschaftlers eine wertvolle Hilfe. Die mit konsequenter Parteilichkeit geschriebene Darstellung zeigte die wahren Zusammenhänge der bis dahin in verfälschender Weise untersuchten imperialistischen deutschen Außenpolitik. Die nach 1954 in deutscher Sprache vorliegende Monographie half dem deutschen Leser „zwischen Freund und Feind, zwischen Einheit und .Einheit', zwischen Verteidigung von echten nationalen Interessen und chauvinistischer Maske zu unterscheiden", stellte Walter Markov in seiner Rezension dazu fest. Er fügte hinzu: „Die These der junkerlich-bürgerlichen Geschichtsschreibung über die f e h ler' einzelner Politiker als Ursache des Mißerfolges des deutschen Imperialismus* wird ebenso zerschlagen wie der Versuch, die Aggressivität der deutschen Außenpolitik in historisch-geographische Verteidigungsnotwendigkeiten umzulügen." 1 Die marxistische Geschichtsliteratur der D D R wies zu jener Zeit bereits einige Arbeiten auf, in denen sich bewährte Antifaschisten und Kommunisten mit dem Problem der Kriegsvorbereitung und deren ökonomischen und politischen Ursachen befaßten. Diese Schriften hatten teilweise weite Verbreitung gefunden. So setzte sich Alexander Abusch in einer seiner ersten Publikationen unmittelbar nach Kriegsende mit den Trägern und Verantwortlichen der verhängnisvollen Entwicklung in Deutschland auseinander, die schließlich zur verbrecherischen Entfesselung des zweiten Weltkrieges geführt hatte. In dieser noch in der Emigration entstandenen Arbeit, die er „Irrweg einer Nation" 2 nannte, wurden erste Schritte unternommen, einige Kernprobleme der Politik des kaiserlichen Deutschlands, die aggressive und räuberische Außenpolitik des deutschen Imperialismus und deren ökonomische Wurzeln und Ursachen aufzudecken. Die Tradition revolutionärer deutscher Publizistik setzte Albert Norden fort, 3 Markov,
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2 3
W., Rezension zu: Jerussalimski,
A. S„ Vnesnjaja politika . . 2 .
1951, in: ZfG, 1953, Nr. 6, S. 996. Abusch, A., Irrweg einer Nation, Berlin 1947. Norden, A., Lehren deutscher Geschichte, Berlin 1 9 4 7 ; derselbe, Berlin 1 9 5 0 ; derselbe, Um die Nation, Berlin 1952, u. a.
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Aufl., Moskau
So werden Kriege gemacht,
indem er mit kämpferischer Feder die Aufmerksamkeit auf die tieferen Ursachen jener Katastrophe lenkte, in die das deutsche Volk geführt worden war. Sein Buch „Lehren deutscher Geschichte: Zur politischen Rolle des Finanzkapitals und der Junker", dessen erste Auflage 1947 erschien, fand in den Jahren danach bei den organisierten, politisch interessierten Arbeitern, den Aktivisten der ersten Stunde, große Aufmerksamkeit. Es half vielen Menschen, den historischen Hintergrund des antifaschistischen, demokratischen Aufbaus in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone Deutschlands verstehen zu lernen. Den meisten Geschichtslehrern vermittelte es ein erstes Bild wichtiger Entwicklungstendenzen und Zusammenhänge der Geschichte Deutschlands, insbesondere der verhängnisvollen Rolle des ostelbischen Junkertums und der deutschen Monopolbourgeoisie. Nie zuvor waren diese Zusammenhänge so konkret und überzeugend einer breiten Leserschaft vor Augen geführt worden. Da für den Kampf gegen die Reaktion „neben dem offenen Blick für die Ereignisse der Gegenwart die Kenntnisse unserer Geschichte" notwendig sind, gab Jürgen Kuczynski in seinen „Studien zur Geschichte des deutschen Imperialismus" einen ersten Abriß über Monopole und Unternehmerverbände in Deutschland, eine, wie er schrieb, „erste Einführung in das ,Familienleben' einer winzigen Oligarchie von vielfachen Millionären, von Räubern, die nicht einzelne, sondern ganze Völker, vor allem auch ihr eigenes, ausplündern". Im zweiten Band der Studien stellte Kuczynski die chauvinistischen Propagandaorganisationen des Monopolkapitals vor, ohne die, wie der Autor nachweisen konnte, „die deutsche imperialistische Ideologie niemals so stark in so breite Schichten der deutschen Bevölkerung (hätte) eindringen können". 4 Von großer Bedeutung waren die Arbeiten jener marxistischen Wissenschaftler, die sich als Historiker, wie Alfred Meusel, oder als Ökonomen, wie Alfred Lemmnitz, um die Erläuterung und Verbreitung der Imperialismustheorie Lenins bemühten. Die Veröffentlichung von ersten Vorlesungen „Über die politische Ökonomie des Kapitalismus" und „Zur Geschichte des deutschen Imperialismus von 1890-1914" 5 , die auf Lenins Schriften beruhten, erleichterte Studenten wie Lehrern und Propagandisten das Verständnis der Leninschen Theorie. Eine erste wissenschaftliche Darstellung der Außenpolitik des deutschen Kaiserreiches von 1871 bis 1918 versuchte Albert Schreiner, kommunistischer Publizist und Militärspezialist der K P D vor 1933, der sich im spanischen Bürgerkrieg große Verdienste erworben hatte, in seinem Buch „Zur Geschichte der deutschen Außenpolitik" 6 zu geben. Er zeigte die enge Wechselwirkung zwischen der Innen'' Kuczynski, ]., Studien zur Geschichte des deutschen Imperialismus. Bd. I, Monopole und Unternehmerverbände, Berlin 1948, S. 5, 317, Bd. II, Propagandaorganisationen des Monopolkapitals, Berlin 1950, S. 5. 5 Lemmnitz, A., Vorlesungen über die politische Ökonomie des Kapitalismus, Berlin 1955; Meusel, A., Beiträge zur Geschichte des deutschen Imperialismus von 1890-1914, Berlin 1951. s Schreiner, A„ Zur Geschichte der deutschen Außenpolitik, Bd. 1, 1871-1918, Berlin 1952.
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und Außenpolitik in Deutschland nach der Reichsgründung und brachte im Gegensatz zu den bürgerlichen deutschen Historikern den Beweis, daß die Außenpolitik imperialistischer Regierungen durch den Klassencharakter des imperialistischen Staates selbst bestimmt wird. Mit diesen Untersuchungen entsprach seine Arbeit einem dringenden Bedürfnis jener ersten Jahre nach Kriegsende. In einigen Schriften wurden erstmals in der deutschen marxistischen Geschichtsschreibung der Nachkriegsjahre die grundsätzliche Stellung der Arbeiterklasse zur Außenpolitik des bürgerlichen Staates dargelegt und der Kampf gegen diese Politik in die Darstellung der Außenpolitik des deutschen Imperialismus einbezogen. Für die Überwindung der faschistischen Geschichtsideologie und die Erarbeitung eines neuen Geschichtsbildes hatten führende Vertreter der K P D in der Emigration Vorarbeit geleistet. Neben der Veröffentlichung ihrer Schriften erlangte die Herausgabe der Werke marxistischer Historiker der revolutionären deutschen Sozialdemokratie, in erster Linie derer von Franz Mehring und K a r l Kautsky, wie auch besonders die Übersetzung von Forschungsergebnissen der sowjetischen Geschichtswissenschaft bei der Durchsetzung eines neuen, dem Fortschritt dienenden Geschichtsbewußtseins, große Bedeutung. Für eine marxistische Analyse der Ursachen des ersten Weltkrieges und der Rolle, die der deutsche Imperialismus dabei gespielt hatte, stellte die 1947 in deutscher Übersetzung erschienene „Geschichte der Diplomatie", Band II, 7 eine wertvolle Hilfe dar. Ihre Verfasser, V . M. Chvostov und I. I. Mine, gaben erstmals einen zusammenhängenden Überblick über die diplomatischen Aktionen der europäischen Großmächte und deren wahre Triebkräfte für den Zeitraum des Übergangs vom Kapitalismus zum Imperialismus bis zur Niederlage Deutschlands im ersten Weltkrieg. Während der vergangenen zwei Jahrzehnte hatte Jerussalimski in zahlreichen Arbeiten einzelne Aspekte und verschiedene Etappen der Entwicklung, der Niederlagen und des Wiedererstarkens des deutschen Imperialismus, seines Kampfes um die Neuaufteilung der Welt untersucht. Nun, nach Beendigung des zweiten Weltkrieges, bestand trotz der deutschen Kapitulation die Gefahr, daß der in einem Teil Deutschlands wiedererstehende Imperialismus gemeinsam mit den reaktionären Kräften der Westmächte einen neuen, weit schrecklicheren Krieg entfesseln könnte. Die Vergangenheit der bürgerlichen Diplomatie war noch nicht, wie Tarle schrieb, „im Schöße der Ewigkeit" 8 versunken, sondern eng und unmittelbar mit der Gegenwart verbunden. Dem objektiv bestehenden Bedürfnis, mit den Mitteln des Historikers dieser drohenden Gefahr zu begegnen und diese abwenden zu helfen, konnte Jerussalimski auf Grund seiner wissenschaftlichen Fähigkeiten entsprechen. In imponierender Weise setzte sein Werk neue Maßstäbe in der Geschichtsliteratur auch der 7
Geschichte der Diplomatie, Bd. II, Moskau 1947, 2. Aufl., Berlin 1948.
8
Tarle,
E. V., An den Quellen der imperialistischen Aggression, in: Neue Welt, 1950, Nr. 1,
S. 141.
50
D D R ; über die Kreise der Fachleute hinaus fand es interessierte Aufnahme. Gestützt auf eine breite Quellenbasis, legte der Verfasser das Ergebnis langjähriger Forschungen zu einem der wichtigsten und aktuellsten Probleme der Geschichte des deutschen Imperialismus wie der Geschichte des Imperialismus überhaupt, zur Geschichte seiner Triebkräfte und Methoden vor. Die von ihm vorgenommene Untersuchung eines begrenzten Ausschnittes imperialistischer Außenpolitik, seine Detailforschungen gaben der noch jungen marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung der D D R neue Orientierungspunkte. D a s gesicherte Fundament, von dem Jerussalimski bei seiner wissenschaftlichen Analyse ausging, war die Imperialismustheorie Lenins. Als in den folgenden Jahren ein tieferes Verständnis der Geschichte ein neues Durchdenken der bisherigen Leistungen und Ergebnisse der historischen Forschung in der U d S S R erforderlich machte, drängten ihn seine eigenen wissenschaftlichen und politischen Erfahrungen dazu, für eine stärkere Verbreitung und Nutzung der Leninschen Imperialismuslehre, insbesondere der „Hefte zum Imperialismus", zu wirken. In der zweiten, überarbeiteten Auflage seiner Monographie, die 1951 in Moskau erschien, schrieb er, die Ergebnisse seiner Untersuchungen zusammenfassend: „Insbesondere für den Historiker, der die Außenpolitik der imperialistischen Mächte studiert, ist die Leninsche Methode der Sammlung, Klassifizierung, Ausarbeitung und Verallgemeinerung des Tatsachenmaterials, das zur Beleuchtung irgendeines historischen Problems notwendig ist, überaus lehrreich." Zugleich begründete er, warum „an den ,Heften' alles wichtig" sei, „angefangen von der reichen Fundgrube der Tatsachen und statistischen Berechnungen, die von Lenin auf das sorgfältigste ausgewählt wurden, bis zu den allgemeinen Urteilen und der ausdrucksvollen Zeichensetzung, mit der er seine Vermerke an den Rändern der durchgelesenen Bücher begleitete". Eingehend studierte Jerussalimski die Passagen, in denen sich Lenin gegen Auffassungen wandte, im Imperialismus lediglich eine außenpolitische Tendenz bzw. eine Politik der Expansion zu sehen; hier fand er den methodologischen Leitfaden für die Analyse des von ihm selbst erschlossenen Materials. Dabei wurde seine Erkenntnis bestätigt, daß die Außenpolitik der imperialistischen Mächte ebenso wie deren Innenpolitik durch „die wirtschaftlichen und politischen Interessen der herrschenden Klassen, ihrer einzelnen Gruppen und einflußreichen Cliquen" 9 bestimmt wird. Er verwies auf die verschiedenen Dispositionen zur Imperialismusschrift, die Lenins Gedanken über die enge Verbindung und gegenseitige Bedingtheit der beiden Seiten des einheitlichen politischen Kurses der imperialistischen Mächte zum Ausdruck brachten. 10 Lenin hatte kurz nach Fertigstellung des „Gemeinverständlichen Abrisses" über den Imperialismus geschrieben: „ D i e .Außenpolitik' von der Politik überhaupt zu trennen oder gar die Außenpolitik der Innenpolitik entgegenzustellen, ist ein grundfalscher, unmarxistischer, unwissenschaftlicher Gedanke. In der äußeren Jerussalimski, 10
Lenin,
A. S., A u ß e n p o l i t i k . . ., S. 7 6 7 .
W. / . , H e f t e z u m I m p e r i a l i s m u s , Berlin 1 9 5 7 , S. 2 1 7 u. a.
51
wie in der inneren Politik hat der Imperialismus in der gleichen Weise die Tendenz zur Durchbrechung der Demokratie, zur Reaktion."' 1 Im Leninschen Sinne verstand Jerussalimski das ökonomische und politische Wesen des Imperialismus als eine besondere, zugleich höchste und letzte Phase in der kapitalistischen Entwicklung. E r widmete gerade jenen Jahren seine Aufmerksamkeit, in denen der Übergang zur monopolistischen Phase beendet wurde. Der chronologische Rahmen seiner Untersuchung umfaßte somit die fünf Jahre von 1894 bis 1899, in denen der Übergang im wesentlichen abgeschlossen wurde, in denen die Aufteilung der Welt unter die imperialistischen Hauptmächte allgemein als beendet anzusehen war und der Kampf um deren Neuaufteilung begann. Wenn diese zeitliche Begrenzung seiner Untersuchung später von manchen bürgerlichen Rezensenten nicht akzeptiert wurde, so lag das an deren Unvermögen, den Inhalt dieses Übergangs überhaupt zu erfassen. 12 Jerussalimskis Charakteristik dieser Jahre lautet folgendermaßen: „ D a s war die Periode einer raschen, sprunghaften wirtschaftlichen Entwicklung der einen kapitalistischen Staaten auf Kosten eines relativen Zurückbleibens der anderen, als die Ungleichmäßigkeit und die Verteilung der durch bloßen Raub erworbenen Kolonien besonders starken Einfluß auf das Wachsen der internationalen Gegensätze bekam. D a s war die Periode der endlosen Kolonialkriege der Europäer gegen die Bevölkerung der Kolonialländer, die Periode der systematischen Ausrottung ganzer Völker, über deren Gebeine der europäische Kapitalismus in das monopolistische Stadium seiner Entwicklung schritt." 13 Jerussalimski nutzte für seine Arbeit in erster Linie die publizierten Akten des deutschen und des englischen Auswärtigen Amtes. Mit den Publikationen dieser Art vertraut, gelang es ihm, die „Dokumente auf neue Art mit den Augen eines marxistischen Historikers zu ,lesen' ", 1 4 E r wies unzulängliche Auswahlprinzipien nach und konnte Auslassungen und Entstellungen belegen. E r machte deutlich, wie er dies bereits in früheren Auseinandersetzungen über die „Frage der Verantwortlichkeit für den Krieg" 1 5 an Hand der Dokumente über den ersten Weltkrieg getan hatte, „daß die bürgerlichen Veröffentlichungen diplomatischer Dokumente nicht nur ein Arsenal für bestimmte historische Konzeptionen apologetischen Charakters, sondern auch eine direkte Waffe des politischen Kampfes darstellen". 16 E s muß nicht betont werden, daß der Monographie auch die sowjetischen Dokumentenpublikationen zugrunde lagen, hatte der Autor doch seit vielen Jahren an der Veröffentlichung diplomatischer Dokumente aus den zaristischen Regierungs14
Derselbe,
12
Vgl. z. B . Kucberov,
Werke, B d . 23, Berlin 1978, S. 34.
A., Rezension zu: Jerussalimski,
A. S., Vnesnjaja politika . . . , 1. Aufl.
Moskau 1948, in: The American Slavic and East Europan Review, 1950, Nr. 4, S. 315 ff. 15 1/1 15 10
52
Jerussalimski, A. S., Außenpolitik . . ., S. 66. Tarle, E. V., op. cit., S. 142. Jerussalimski, A. S., Vopros ob otvetstvennosti za vojnu, in: Istorik-Marksist,1932, Nr. 1/2. Derselbe, Außenpolitik . . ., S. 27 f.
archiven, vor allem im „Krasnyj Archiv", mitgewirkt. Darüber hinaus nutzte er
bisher
unveröffentlichte
Akten
des
Archivs
des
ehemaligen
zaristischen
Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten und des Ministeriums für Finanzen, die sich im Zentralen Staatsarchiv der U d S S R in Leningrad befinden und die, wie Skazkin dazu in seiner Rezension vermerkte, von den sowjetischen Historikern bis zu diesem Zeitpunkt nicht genügend ausgewertet worden waren. Zudem bereicherte Jerussalimski seine Untersuchung im Vergleich zu bisherigen Arbeiten ähnlichen Charakters durch Aussagen russischer Demokraten. Auf Grund ihrer eigenen Erlebnisse in Deutschland machten z. B . Alexander Herzen, G l e b Uspenskij und Michail Saltykov-Scedrin auf charakteristische Züge der
reaktionären
Entwicklung im gesellschaftlichen Leben des Deutschen Reiches jener Zeit aufmerksam. E s waren dies zum Teil bemerkenswerte Beobachtungen, die bislang zumindest dem deutschen Leser unbekannt geblieben waren. D i e Memoirenliteratur, die nach dem Fiasko des ersten Weltkrieges in so reichhaltiger Weise auf dem deutschen Büchermarkt erschienen war, hatte Jerussalimski schon in den zwanziger Jahren mit großem Interesse und kritischem Blick verfolgt: Sie zeigte, wie „die Männer der .Wilhelminischen Ä r a ' in dem Bemühen, sich zu rechtfertigen, sich in Beschuldigungen gegen ihre Kampfgenossen ergehen und sich gegenseitig mit Enthüllungen bedenken". 1 7 Zum Unterschied von bürgerlichen
deutschen
Historikern benutzte
Jerussa-
limski die in der Regel kaum ausgewerteten Stenographischen Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, die Protokolle über die Verhandlungen der Parteitage der Sozialdemokratischen Partei sowie die umfangreiche tagespolitische Publizistik und politische Zeitschriftenliteratur
in
Deutschland.
Presseerzeugnisse, Pamphlete und Denkschriften unterschiedlicher Art ergänzten die diplomatischen Quellen. D i e für das Verständnis von Strategie und T a k t i k des deutschen Imperialismus aufschlußreichen Druckerzeugnisse des Alldeutschen Verbandes, vor allem die „Alldeutschen Blätter", wertete Jerussalimski entsprechend ihrer Bedeutung für die Politik der herrschenden Klassen Deutschlands. Andere Materialien hingegen, die „das Interesse des die Geschichte des Imperialismus studierenden Forschers stets auf sich lenken" werden, denen sich jedoch bürgerliche Historiker kaum zugewandt hatten, wie die Archive der deutschen Banken, der Monopole, der Organisation der Großbourgeoisie, der führenden Organe der politischen Parteien blieben marxistischen Forschern zu der Zeit, als Jerussalimski diese Monographie schrieb, verschlossen. Zu manchen Quellen erhielt er später in der D D R Zugang, als es ihm gelang, „Materialien zur Geschichte der deutschen Banken, Monopole, Rüstungskonzerne ä la Krupp, des Zentralverbandes Deutscher Industrieller, des Bundes der Landwirte, der Kolonialgesellschaften und anderer Organisationen
17
der herrschenden
Klassen
ausfindig
zu
Skazkin, S. D., Rezension zu: Jerussalimski, A. S„ Vnesnjaja politika . .., 1. Aufl., Moskau 1948, in: Sowjetwissenschaft. Ges.-wiss. Beiträge, 1949, Nr. 2, S. 232.
53
machen, die einen ungeheuren Einfluß auf die Politik der deutschen Regierung ausübten". 18 Jerussalimski leitete seine Schrift mit einer grundsätzlichen Wertung der wichtigsten Thesen der deutschen, aber auch der entsprechenden englischen und amerikanischen Historiographie zur Außenpolitik des imperialistischen deutschen Staates ein. E r verwies auf den Zusammenhang von Konzeptionen der bürgerlichen G e schichtsschreibung und Inhalt der von der Großbourgeoisie vertretenen hauptsächlichen politischen Auffassungen, analysierte die Funktion der bürgerlichen deutschen Historiographie und legte deren eigentliche Hauptaufgabe, die Widerspiegelung „bestimmter politischer Tendenzen unter den herrschenden Klassen Deutschlands in den Fragen der Außenpolitik", bloß. 1 9 Mit besonderer Aufmerksamkeit wurde in der D D R vermerkt, daß Jerussalimski mit großer Ausführlichkeit auch die Beziehungen zwischen den außenpolitischen Aktionen der deutschen Regierung und dem Kampf der Klassen und Parteien im Lande dargestellt hatte: Sie ergaben einen interessanten Ansatzpunkt für eigene weitergehende Forschungen. Jerussalimski zeigte die Aggressions- und Unterdrückungspolitik der herrschenden Klassen Deutschlands gegenüber fremden Völkern in ihrem engen Zusammenhang mit der Verschärfung der reaktionären volksfeindlichen Politik im eigenen Land, d. h. die Verbindung zwischen der inneren Funktion des Staatsapparates, die in der Unterdrückung der revolutionären Arbeiterbewegung zum Ausdruck kam, mit dessen äußerer Funktion. In der Periode des Imperialismus standen diese Funktionen ausschließlich im Dienste des Finanzkapitals und der Junker, die beide über die Gestaltung der Beziehungen zu anderen Staaten und die dabei anzuwendenden Methoden entschieden. Auf der Grundlage der von ihm untersuchten Quellen gelangte Jerussalimski zu der Feststellung, daß im Prozeß des Hinüberwachsens in das monopolistische Stadium des Kapitalismus die Bankkönige und Industriemagnaten eine immer größere Rolle in Deutschland zu spielen begannen. E r schrieb: „Ohne Regierungsoder politische Posten zu bekleiden, hatten sie dank ihrer Stellung, dank ihrer parteilichen, geschäftlichen, persönlichen oder familiären Beziehungen die Möglichkeit, einen starken Einfluß auf den von der Regierung verfolgten politischen Kurs auszuüben . . . In solchen Fällen war die Regierung lediglich dazu berufen, die politischen Abmachungen, die vom monopolistischen Kapital, von seinen einzelnen Gruppen oder gar von einzelnen diese Gruppen vertretenden Magnaten diktiert wurden, staatlich zu sanktionieren." 20 Jerussalimski legte reichhaltiges Material vor für seinen Nachweis, daß der aggressivste Teil der herrschenden Klassen Deutschlands bereits um die Jahrhundertwende immer weitreichendere annexionistische Pläne entwickelt hatte. Die „Sammlungspolitik", die die reaktionären Kräfte zur Verwirklichung dieser Pläne 18
Jerussalimski,
A. S„ Die Außenpolitik und Diplomatie des deutschen Imperialismus zu
Beginn des 20. Jahrhunderts, in ZfG, 1962, Nr. 3, S. 582. Außenpolitik . . ., S. 19.
19
Derselbe,
20
Ebenda, S. 55.
54
Schaffung eines deutschen „Mitteleuropa" einschließlich ganz Südosteuropas und von Gebieten der asiatischen Türkei sowie eines umfangreichen Kolonialreiches in Afrika - vereinen sollte, „bildete sich endgültig als Ergebnis der Regierungskrise aus, die durch die Verschärfung des Klassenkampfes im Jahre 1896 und insbesondere im Jahre 1897 herbeigeführt wurde". Die bürgerliche Geschichtsschreibung suchte die Bedeutung dieser Krise zu bagatellisieren und stellte sie im wesentlichen als Form des persönlichen Kampfes verschiedener Politiker oder als Ergebnis der Intrigen einzelner Hofcliquen dar. 2 1 Die Regierungskrise war jedoch dadurch hervorgerufen worden, daß in Deutschland der junkerlich-bürgerliche Imperialismus seine politischen Ziele durch die Regierung verwirklicht sehen wollte, und zwar „sowohl hinsichtlich bestimmter Formen des Kampfes gegen die Arbeiterklasse als auch hinsichtlich der Vorbereitung zum Kampf um die Neuaufteilung der Welt". 2 2 D a s Bündnis zwischen dem reaktionären preußischen Junkertum und der Bourgeoisie, das der von Bismarck geschaffenen staatlichen Einheit Deutschlands seinen Stempel aufdrückte, verlieh den allmählich entstehenden aggressiven Tendenzen des deutschen Imperialismus einen besonders zugespitzten Charakter. Die sprunghafte Entwicklung des deutschen Imperialismus ließ dessen Ansprüche unverhältnismäßig schnell wachsen; die deutsche Diplomatie begann, sich in alle wesentlichen internationalen Fragen einzumischen. Obwohl die herrschenden Klassen Deutschlands erst gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts erste Schritte auf dem Wege zur „Weltpolitik" unternahmen, war der deutsche Imperialismus schon in den von Jerussalimski behandelten fünf Jahren auf allen entscheidenden Schauplätzen wirksam, die vor dem Weltkrieg Objekt seiner Aggression wurden - in Afrika, in Ostasien und im Nahen Osten. In seiner Monographie analysierte Jerussalimski die Stellung, den sozialökonomischen und historischen Platz des deutschen Imperialismus sowie die Rolle seiner Außenpolitik und Diplomatie im Gesamstystem der internationalen Beziehungen zwischen den Großmächten. Dabei beschränkte er sich nicht auf die Untersuchung der Rolle des Deutschen Reiches in Europa und dessen Beziehungen zu den europäischen Partnern und Konkurrenten. Seine universelle Geschichtsbetrachtung entsprach dem tatsächlichen Ablauf der Geschichte; sie bildet eine der starken Seiten in den Arbeiten Jerussalimskis. D i e synchron-globale Darstellungsweise, die ihm im besonderen Maße eigen war, verdeutlicht sein Bemühen um das Erfassen der stets synchron verlaufenden historischen Entwicklung. „ E s ist für einen Historiker sehr schwer, diese Komplexität zu finden", konstatierte Gefter, „noch schwerer aber, sie in ansprechender, interessanter literarischer Form darzustellen." 23 Sicher war es Jerussalimski dabei eine große Hilfe, daß er sich seit Jahren mit den Gedanken Lenins beschäftigte, 21
A u c h heute findet m a n diese A u f f a s s u n g in Arbeiten bürgerlicher Historiker der B R D ; z. B . Röhl,
s.
}. C., D e u t s c h l a n d ohne B i s m a r c k . D i e R e g i e r u n g s k r i s e im zweiten K a i s e r r e i c h
1 8 9 0 - 1 9 0 0 , T ü b i n g e n 1 9 6 9 , u. a . 22
jerussalimski,
A. S., Außenpolitik . . ., S. 7 8 3 .
23
Mitteilungen v o n M . J a . G e f t e r .
55
die dem „Versuch einer Zusammenstellung der wichtigsten Daten der Weltgeschichte nach 1 8 7 0 " 2 4 zugrunde liegen. Wiederholt kam er auf diese inhaltlich wie methodisch überaus wichtige Tabelle Lenins zurück, fand er doch hier die „gleichzeitige, sozusagen synchrone Betrachtung der Tatsachen des inneren Lebens Deutschlands und seiner Politik in allgemeiner Verbindung mit seiner Kolonialpolitik und der Politik der anderen imperialistischen M ä c h t e . " 2 5 D e r italienische marxistische Historiker Ernesto Ragionieri, der ihm während ihres gemeinsamen Aufenthaltes in Berlin zum Freund geworden war, kam zu folgender Einschätzung: Jerussalimski „hatte sich in nicht schematisch reduzierter Weise die Schriften von M a r x und Engels zu eigen gemacht, er gab in der Darstellung der Außenpolitik des deutschen Imperialismus dem K a m p f der deutschen Arbeiterklasse gegen den Imperialismus und gegen den Krieg ungewöhnlich viel Raum. So entsprach sein Eindringen in die Geschichte Deutschlands immer einem universellen Standpunkt, und dieser war stets die Folge einer Perspektive, die die engen Grenzen der deutschen Geschichte überschritt." 2 6 Dieses Herangehen an die Bewältigung des von ihm gewählten historischen Problems gab ihm die Möglichkeit, die Politik des deutschen Imperialismus gegenüber seinen Verbündeten und Rivalen, das Balancieren zwischen England und Rußland und das Anwachsen der deutsch-englischen Gegensätze in Afrika, im Fernen Osten und in anderen Gebieten in ihrer ständigen Wechselwirkung darzustellen, als Deutschland an der Schwelle seiner „Weltpolitik" versuchte, die Widersprüche zwischen den Mächten, in erster Linie zwischen Rußland und England sowie zwischen England und Frankreich, als ein Mittel der Durchsetzung dieser Politik auszunutzen und die Mächte gegeneinander auszuspielen. Gleichzeitig vermochte Jerussalimski in bisher nicht gekanntem Umfang und in bisher nicht üblicher Ausführlichkeit auf die sehr konkreten ökonomischen und politischen Interessen einzugehen, die dem Bündnis zwischen Deutschland und seinen Partnern, an erster Stelle Österreich-Ungarn, das Gepräge gaben. E i n e eingehende Untersuchung erfährt auch das Verhältnis Deutschlands zu Italien, wobei der Autor entgegen der in der bürgerlichen Literatur verbreiteten These die schon 1896 sich abzeichnenden Risse im Dreibund aufzeigte, denen die Widersprüche zwischen beiden Partnern zugrunde lagen, die dann schließlich zur Auflösung der Koalition führten. M i t seinem W e r k hatte Jerussalimski eine, wie Hallgarten in seiner Rezension schrieb, „der großen Lücken ausgefüllt, die die G P offen l i e ß " ; seine Monographie ging nach den Worten Hallgartens weit über die bisherige spärliche westliche Literatur zu diesem Thema hinaus. 2 7 Jerussalimski seinerseits hatte mit Lenin, W. /., Hefte zum Imperialismus, S. 680 ff. Jerussalimski, A. S., Außenpolitik . . S. 768. 213 Ragionieri, E., Prefazione, in: Jerussalimski, A. S., Da Bismarck a Hitler . . ., Rom 1967, S. XIV. 27 Hallgarten, G. W. F., Rezension zu: Jerussalimski, A. S., Vnesnjaja politika . . ., 2. Aufl., in: The American Historical Review, 1952, Nr. 3, S. 672 f. 24
25
56
Aufmerksamkeit sowohl die Arbeit von Hallgarten als auch die bereits 1930 publizierte Schrift des früh verstorbenen Eckard Kehr 2 8 gelesen. In seinem Buch wie auch in späteren Arbeiten verwies er auf die wertvollen Ergebnisse der Tatsachenforschung dieser Historiker; er nahm ihre Schlußfolgerungen mit großem Interesse zur Kenntnis, ohne sich jedoch mit ihnen zu identifizieren. 29 In keiner Weise kann daraus eine Gleichsetzung der Imperialismus-Auffassung bei Jerussalimski und Hallgarten, wie dies bei Pierre Renouvin 30 anklingt, oder gar eine „Linie" konstruiert werden, die angeblich von Eckard Kehr über Wolfgang Hallgarten, Hans Rosenberg, A. S. Jerussalimski zu Hans-Ulrich Wehler und Helmut Böhme führt, wie dies letzterer recht unbescheiden behauptete.-®1 Jerussalimski schrieb: „Kehr beleuchtet in seinem Buch die Rolle der deutschen Monopole bei der Entwicklung der Rivalität zur See und analysiert den Kampf der deutschen Parteien in der Frage des Flottenbaus. Der Wert seiner Arbeit wird jedoch einmal durch deren thematischen und chronologischen Rahmen, zum anderen durch einige methodologische Ausgangspositionen Kehrs eingeschränkt." E r selbst hielt es demgegenüber für notwendig, „weiterzugehen und den Weg zu beschreiten, den Lenin in seinen .Heften zum Imperialismus' gewiesen hat". 3 2 Jerussalimski erarbeitete eine kritische und zugleich positive Wertung des Werkes von Hallgarten, die er in der Einleitung zur russischen Ubersetzung dieses Werkes über den „Imperialismus vor 1914" ausführlich darlegte. Mit diesem Beitrag, der 1962 gesondert in deutscher Sprache erschien, hat Jerussalimski viel zur Klärung der Standpunkte der marxistischen Historiker in der D D R beigetragen. Kurz danach schrieb Walter Bartel an Jerussalimski: E r möchte nicht versäumen, für den „außerordentlich interessanten Beitrag über Hallgarten zu danken ... Ich glaube", so schrieb Bartel weiter, „daß Sie das Widerspruchsvolle in ihm richtig aufgedeckt haben. Deshalb stimme ich Ihrem folgenden Satz zu: ,Man muß jedoch erkennen, und das ist bemerkenswert, daß das Material selbst und die Praxis seiner Untersuchung den Autor zu Schlußfolgerungen drängen, die nicht nur zur Grundkonzeption der reaktionären bürger28
Kehr,
E.,
Schlachtflottenbau und Parteipolitik
1894-1901,
Berlin
1 9 3 0 ; Hallgarten,
W„
Vorkriegsimperialismus, Paris 1935. 29
V g l . Jerussalimski,
A. S., D i e A u ß e n p o l i t i k u n d D i p l o m a t i e d e s d e u t s c h e n I m p e r i a l i s m u s zu
B e g i n n d e s 2 0 . J a h r h u n d e r t s ; derselbe,
E i n Versuch, den deutschen Imperialismus
soziolo-
gisch zu e r f o r s c h e n ( ü b e r d i e A r b e i t H a l l g a r t e n s „ I m p e r i a l i s m u s v o r 1 9 1 4 " ) , i n : D e r d e u t s c h e Imperialismus 30
Renouvin,
. . ., S . 4 9 - 8 9 u . a .
P., L ' o r i e n t a t i o n a c t u e l l e d e s t r a v a u x d ' h i s t o i r e c o n t e m p o r a i n e . X C o n g r e s s o Inter-
n a t i o n a l e d i s i e n c e istoriche, R o m 1 9 5 5 , R e l a z i o n i , v o l . V I , R e l a z i o n i g e n e r a l i , S . 3 8 4 - 3 8 7 . 31
Böhme,
H., D i e d e u t s c h - r u s s i s c h e n W i r t s c h a f t s b e z i e h u n g e n unter d e m G e s i c h t s p u n k t d e r d e u t -
schen H a n d e l s p o l i t i k ( 1 8 7 8 - 1 8 9 4 ) , R e f e r a t a u f d e r T a g u n g d e r H i s t o r i k e r d e r U d S S R
und
d e r B R D in M a i n z , S e p t e m b e r 1 9 7 3 . 32
Jerussalimski,
A.
S.,
Die
Außenpolitik
und
Diplomatie
des
deutschen
Imperialismus
zu
Beginn des 20. Jahrhunderts, S. 5 8 5 . 5
Stoecker, Jerussalimski
57
liehen Historiographie im Widerspruch stehen, sondern auch mit seinem eigenen theoretischen Ausgangspunkt nicht übereinstimmen. Deshalb können dieses Material und viele Beobachtungen Hallgartens auch von den marxistischen Historikern genutzt werden."' Interessant in diesem Zusammenhang sind die Gedanken Ragionieris über Jerussalimskis Hallgarten-Analyse. Ragionieri erklärte in dem ausführlichen Vorwort zum Buch Jerusisalimskis „Der deutsche Imperialismus. Geschichte und Gegenwart", das in italienischer Übersetzung in Rom 1967 erschien: „Jerussalimski versucht nicht eine Versöhnung der Leninschen ImperialismusDefinition, an die er sich hält, mit der Definition des Imperialismus, die aus dem Werk von Hallgarten ersichtlich ist. Jerussalimski zeigt, immer unter Berücksichtigung der völlig verschiedenen Ausgangspunkte, alle positiven Aspekte der Ergebnisse der Untersuchungen Hallgartens. Er stimmt nicht zu, die Untersuchungen der .sozialen Basis' der Politik des Imperialismus auf das Studium der .ökonomischen Prämissen' zu reduzieren. Er verweist unter anderem auf den von Hallgarten ständig vorgenommenen Übergang von der Analyse der ökonomischen Grundlagen zu den Kämpfen der herrschenden Klassen untereinander und ihren Parteien um die Probleme der Außenpolitik. Diese Daxstellung ist •nach Jerussalimski mitunter einseitig, da sie die determinierenden Kräfte und deren Verhalten unabhängig vom Komplex der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung sieht. Aber den Grundzügen der Forschung von Hallgarten in der Richtung, die Jerussalimski den .ökonomischen Materialismus' nennt, stimmt er in großen Teilen zu, abgesehen von den Vorbehalten, die er hinsichtlich der schon erwähnten Methodologie dieser Forschung macht. Bei der aufmerksamen Lektüre dieser Untersuchung - einer der letzten Arbeiten von Jerussalimski - stellt man fest, daß er nicht nur die Fähigkeit schätzt, die .Geheimnisse' der internationalen Politik zu enthüllen, indem er auf den immer stärkeren Einfluß der Waffenhändler und Kanonenkönige auf die internationale Politik hinweist und dabei insbesondere die Rolle der Vertreter der großen Monopolgruppen hervorhebt. Von all dem abgesehen - und auch dann, wenn man die Wertschätzung eines Wissenschaftlers für einen anderen nicht berücksichtigt - , zeigt sich das grundsätzliche Einverständnis mit der Inspiration, von der das Werk Hallgartens getragen ist: die Auffassung vom entscheidenden Platz, den das Problem des Imperialismus und die Hintergründe für Krieg und Frieden in unserer Zeit einnehmen, eine Auffassung, die in einem gewissen Maße den Gedanken in seiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit nahekommt. Ragionieris Einschätzung des Grundanliegens von Hallgarten wird in einem Brief bestätigt, den Hallgarten am 30. 11. 1957 aus Washington an Jerussalimski schrieb, der sich zu dieser Zeit in Berlin aufhielt. In diesem Brief heißt es: „... Wir haben, als Erforscher eines Gebietes, das auf der ganzen Welt wohl Sie und ich am besten kennen dürften, zum mindestens was den ,Unterbau' anlangt, 33
58
Ragionieri, E., op. cit., S. XVII.
einander wahrscheinlich so viel zu sagen, daß eine bloße Korrespondenz hierzu freilich wohl wenig ausreicht. Dabei dürfte für Sie, wie für mich, der Wunsch mitsprechen, das unsere zu tun, um die riesenhafte Gefahr eines Zusammenstoßes zwischen den großen Machtblocks, und des ,Fernwaffen'-Krieges zu erörtern, und nach Kräften vermeiden zu helfen." 34 Zum Bedauern beider kam es nicht zu einer Begegnung und zu persönlichen Gesprächen. Das positive Echo, das die Monographie in sowjetischen Leserkreisen fand, ließ Jerussalimski, unter Berücksichtigung vieler Hinweise und kritischer Bemerkungen in Rezensionen und Leserdiskussionen, in ungewöhnlich kurzer Zeit (1951) eine zweite, überarbeitete und erweiterte Fassung herausgeben, auf der die deutsche Übersetzung beruhte. Diese zweite Auflage war um wertvolle Untersuchungen bereichert worden. Der Autor ergänzte die Charakteristik des preußisch-deutschen Militarismus, insbesondere die des Großen Generalstabes, zeigte präziser dessen Rolle bei der Fixierung des politischen Kurses im Lande wie in außenpolitischen Fragen am Ende des 19. Jh. Als „unvermeidlicher Weggenosse der kapitalistischen Gesellschaft" verstärkte sich der Militarismus beim Übergang zum Imperialismus. Die Ursachen für die außergewöhnliche Aggressivität des deutschen Imperialismus und für die Besonderheiten der Entwicklung in Deutschland wurden deutlich hervorgehoben. Zum anderen vervollständigte Jerussalimski seine Darstellung des diplomatischen Apparates des Deutschen Reiches und einzelner prominenter Personen - jener, wie Skazkin bemerkt, „ganz kleiner Menschen mit dem Kaiser an der Spitze, einem Renommisten und Großtuer, der gerne bedrohlich klingende Wendungen gebrauchte, gleichzeitig aber auch ein Feigling war. Diese Charakteristiken sind treffend und hervorragend gelungen, zuweilen auch geradezu künstlerisch vollendet (so die Wilhelms, Hohenlohes, Marschall von Biebersteins, Bülows). Man wird es mit großem Interesse lesen." 35 Überhaupt beschäftigte sich Jerussalimski sehr eingehend mit den Persönlichkeiten, die in der Diplomatie wie im wirtschaftlichen und kulturellen Leben Deutschlands eine Rolle spielten. Als Ernesto Ragionieri ihn 1957 in seiner Wohnung in Berlin-Karlshorst besuchte, begründete er dies gegenüber dem italienischen Genossen. Ragionieri hat die Begegnung folgendermaßen beschrieben: „Ich erinnere mich, daß er auf seinem Schreibtisch eine Anzahl von Photographien der Persönlichkeiten ausgebreitet hatte, die in der Diplomatie und Industrie, in den Finanzen und in der Kultur Deutschlands am Ende des 19. Jahrhunderts bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Rolle gespielt hatten. Er analysierte ihre somatischen und psychologischen Charakterzüge mit größter Genauigkeit. Ich fragte ihn aus Neugier, warum er sich damit beschäftigte, mit dieser fast verdächtigen Portraitanalyse, die bei deutschen Dichtern und Publizisten in den unmittelbar auf 34 35
5»
Hallgarten, G. W., Brief an Jerussalimski, Archiv AN SSSR, f. 1539, op. 2. Skazkin, S. D., op. cit., S. 233.
59
den ersten Weltkrieg folgenden Jahren M o d e gewesen war und jetzt eine so ferne und unerwartete Resonanz fand. E r klärte mich schnell auf. D e r marxistische G e sellschaftswissenschaftler, so bedeutete er mir, der von der Rekonstruktion der sozialökonomischen Formationen ausgeht und davon die Beziehungen mit den im politischen Leben wirksamen Tendenzen und Strömungen ableitet, geht das Risiko ein, den Sinn für die Individualität zu verlieren, einzelne Ereignisse und Personen auf einen undifferenzierten Hintergrund zurückzuführen und sie dort zu verlieren, somit den dramatischen Ablauf der Geschichte allzu stark zu vereinfachen." 3 6 Für Jerussalimski bedeutete das Studium der Geschichte ein Erforschen des Reichtums der Vergangenheit in seiner ganzen Vielfalt, ein Erkennen der komplizierten und unwiederholbaren Einmaligkeit der Handlungen und Ereignisse, in denen sich die gesellschaftlichen Prozesse vollziehen.
Die Auseinandersetzung mit der bürgerlichen deutseben Geschichtsschreibung D i e umfangreichen Dokumentenpublikationen der am Kriege beteiligten Mächte wie auch die auf ihnen basierende historische Literatur sollten den außenpolitischen Kurs der jeweiligen imperialistischen Macht bzw. die Revision der Ergebnisse des verlorenen Krieges rechtfertigen, wenn auch unter den Historikern jedes Staates gewisse Unterschiede in der Darstellungsweise auftraten. Diese Autoren sahen nicht, wie Jerussalimski bemerkte, „die objektive Seite der gegen E n d e des 19. J a h r hunderts bereits stark herangereiften englisch-deutschen Gegensätze und ignorierten natürlich überhaupt die zutiefst imperialistische Grundlage dieser Gegensätze und den Klassenkampf, der sich in den Grundfragen der Innen- und Außenpolitik so scharf entfaltete." 3 7 A n wenigen Beispielen sei die gelungene Beweisführung Jerussalimskis gegen die in der bürgerlichen deutschen Geschichtsschreibung dominierenden Untersuchungen demonstriert, zumal diese zum Zeitpunkt des Erscheinens der Monographie in deutscher Sprache (1954) durchaus noch nicht ihren Einfluß verloren hatten. Als einer der führenden Vertreter der deutschen imperialistischen Geschichtsschreibung galt Hermann Oncken. 3 8 Professor für Neuere Geschichte an der UniversitätBerlin, gehörteOncken nicht zu den professionellen Kriegsschuldhistorikern; er schrieb seine zweibändige Geschichte über die Jahrzehnte vor dem ersten W e l t kriege zu einer Zeit, als die Kriegsschuldfrage nicht mehr im Mittelpunkt der politischen Debatten in der bürgerlichen historischen Literatur stand, er sich ge36 37 38
60
Ragionieri, E., op. cit., S. XV. Jerussalimski, A. S., Außenpolitik . . S. 19. H. Oncken (1869-1945), Professor für Neuere Geschichte an den Universitäten Berlin (1898, 1928-1936), Heidelberg (1907), Geheimer Hofrat, Ordentl. Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Chefredakteur der Historischen Zeitschrift.
wissermaßen kraft seiner wissenschaftlichen Autorität über diesen Disput in der bürgerlichen historischen Literatur erheben konnte. Seine Konzeption erklärte die Politik der wirtschaftlichen Expansion des deutschen Imperialismus aus der geographischen Lage Deutschlands in Europa und aus der Notwendigkeit der Gewinnung von „Lebensraum". Im Ergebnis des Krieges von 1914-1918 wandte sich Oncken auf der Suche nach den Ursachen der Mißerfolge der deutschen Politik und Diplomatie den ersten Schritten des Deutschen Reiches auf dem Wege zur „Weltmacht" zu. Seinem zweibändigen Werk „ D a s Deutsche Reich und die Vorgeschichte des Weltkrieges" legte er die von ihm schon früher entwickelte Idee zugrunde, wonach Deutschland angesichts seiner geographischen Lage im Herzen Europas ständig von den umliegenden feindlichen Staaten bedroht sei und also gezwungen werde, seine Rüstungen ununterbrochen zu verstärken. Noch während des ersten Weltkrieges hatte Oncken geschrieben: „Wir sind das Land der Mitte, mit ungesichert verfließenden Landesgrenzen ... Wir sind das Herz Europas, auf das alle Pfeile gerichtet sind." 3 9 Oncken wollte damit im Nachhinein die aggressive Politik des deutschen Militarismus auf seinem Wege zur Weltmacht historisch rechtfertigen. Zwar mußte er erkennen, daß sich seit Mitte der neunziger Jahre die Beziehungen zwischen den Staaten auf einer neuen Basis zu gestalten begannen, doch sah er nicht die tieferen Ursachen dieser Wandlungen. E r fand auch keine belegbare Begründung für diese, wie er schrieb, „veränderte Dynamik" in den Beziehungen zwischen den Mächten, da er nicht den Bezug zu dem sich vollziehenden Übergang zum Monopolkapitalismus erkennen konnte. Vielmehr leitete er das „Eintreten in die Weltpolitik" aus der Tatsache ab, daß Deutschland keine „weißen Auswanderungsgebiete großen Stils noch unentwickelte Nachbargebiete" besaß, „noch tropische Kolonialgebiete mit massenhafter Aufnahmefähigkeit", die in der Lage gewesen wären, den „stets wachsenden Teil des deutschen Bevölkerungsüberschusses" aufzunehmen. Die schon zitierte, für Deutschland angeblich entscheidende geographische „Mittellage" in Europa wurde zur Begründung für die nun zu verfolgende „Weltpolitik". 4 0 Damit erschien die Kolonialpolitik der deutschen Regierung als eine im Interesse des ganzen deutschen Volkes geführte notwendige Politik, die von gesamtnationalen Bedürfnissen, wie der Gewährleistung des Wachstums der Nation, der historischen Entwicklung der Volkskräfte usw. geprägt war. Oncken versuchte, so stellte Jerussalimski fest, den Nachweis zu erbringen, „daß diese Politik durch objektive, höchst berechtigte und historisch begründete, selbstgenügsame Interessen des deutschen Staates, der die gemeinsame nationale Idee des ganzen Volkes immanent zum Ausdruck bringe", begründet sei. Von hier 39
Oncken,
H.,
D a s alte und d a s neue M i t t e l e u r o p a . Historisch-politische Betrachtung
über
deutsche Bündnispolitik im Zeitalter B i s m a r c k s u n d im Zeitalter d e s W e l t k r i e g e s , G o t h a 1 9 1 7 , S. 3 ; derselbe,
D i e Vorgeschichte d e s W e l t k r i e g e s , i n : D e u t s c h l a n d und der
Berlin 1 9 1 5 ; derselbe,
Weltkrieg,
D a s D e u t s c h e R e i c h und die Vorgeschichte d e s Weltkrieges, 2 B d e . ,
Leipzig 1933. 40
Derselbe,
D a s D e u t s c h e R e i c h und die Vorgeschichte d e s W e l t k r i e g e s , B d . 2, S. 4 2 2 .
61
aus war es nicht mehr weit bis „zur faschistischen Idee der .Volksgemeinschaft', mit der die Ideologen der Hitlerdiktatur die unumschränkte Herrschaft der Monopolisten und Militaristen verschleierten und die blutigen Repressalien gegen die bewußte Vorhut der deutschen Arbeiterklasse und gegen alle demokratischen K r ä f t e des deutschen Volkes rechtfertigen"/' 1 D a s zweibändige W e r k Onckens, das über viele Jahre eine der autoritativsten Schriften der imperialistischen deutschen Historiographie darstellte, enthält zum Beispiel nur kurze Bemerkungen über dieTransvaalkrise.Die Gewichtigkeit der G e schehnisse um die südafrikanische Burenrepublik als erste Manifestation des deutschenglischen imperialistischen Gegensatzes im Rahmen der Vorgeschichte des ersten Weltkrieges hatte er nicht erkannt. E r verwies zwar auf die, wie er sagte, „starke Anziehungskraft", die die G o l d - und Diamantenfunde auf die „deutsche E i n wanderung . . . auf deutsche Kapitalanlage und Industrieausfuhr ausübten"/' 2 D o c h wird der Leser völlig im Unklaren darüber gelassen, welche Industrie- und Finanzgruppen der deutschen Bourgeoisie an diesem Geschäft beteiligt waren, wer die Aktivitäten der deutschen Diplomatie beeinflußte und wie dies geschah, in welcher Wechselbeziehung ökonomische Expansion und auswärtige Politik der deutschen Regierung speziell dem südafrikanischen Burenstaate gegenüberstanden. Bei Oncken werden im Gegenteil die Interessen bestimmter Gruppen der deutschen Finanzbourgeoisie - wie Jerussalimski nachwies, waren hier besonders Georg Siemens und die Deutsche B a n k beteiligt - mit denen des ganzen deutschen V o l kes gleichgesetzt. E t w a zur gleichen Zeit wie Oncken (1928) hatte Hallgarten seine soziologische Studie über den „Imperialismus vor 1 9 1 4 " beendet. In der ersten veröffentlichten Kurzfassung seines Buches 4 3 hatte er in treffender Weise die Aufgabe des Historikers dahingehend interpretiert, nicht auf Grund des gegebenen Materials allein Vergangenes darzustellen, sondern nach dem „ W a r u m " der Geschichte zu fragen. Oncken dagegen begnügte sich damit, die im Zusammenhang mit der Transvaalkrise unverkennbare Verschärfung des englisch-deutschen Gegensatzes auf rein diplomatische Vorgänge zu reduzieren. Entsprechend den Methoden der imperialistischen deutschen Geschichtsschreibung beschränkte sich Oncken „auf Gegenüberstellungen diplomatischer Dokumente", maß er den „persönlichen Eigenschaften, Neigungen, Stimmungen der führenden Gestalten der deutschen Diplomatie übertriebene Bedeutung" bei und war nicht in der Lage, den letztlich treibenden K r ä f ten und ursächlichen Zusammenhängen nachzugehen. So blieb seine Version der Ursachen und Folgen der Depesche Kaiser Wilhelms I I . an den Präsidenten der Republik Transvaal, Kruger, anläßlich des Sieges über 41
42 43
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Jerussalimski, A. S., George W. F. Hallgarten und seine Darstellung der Außenpolitik des deutschen Imperialismus, in: ZfG, 1962, Nr. 4, S. 851. Oncken, H„ Das Deutsche Reich . . B d . II, S. 437. Hallgarten, W., Vorkriegsimperialismus, Paris 1935; vgl. dazu Schleier, H., Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung, S. 458.
die auf Anweisung von Cecil Rhodes, dem britischen Imperialisten und Ministerpräsidenten der K a p - K o l o n i e , in die Burenrepublik eingefallenen Banden unter Jameson ganz auf der E b e n e rein akademischer Erörterung, ob nun der Kaiser allein oder mit ihm Staatssekretär Marschall und Reichskanzler Hohenlohe die Verantwortung für das Telegramm und dessen Folgen zu tragen hätten. Auch die Schlußfolgerungen aus dieser Episode überschritten nicht die schon angedeuteten Grenzen der Konzeption Onckens: D i e führenden Diplomaten des kaiserlichen Deutschlands hätten zu jener Zeit der Möglichkeit einer Allianz mit England entgegengewirkt und damit zur späteren Niederlage im Weltkrieg beigetragen. In der Darstellung Onckens fehlt gänzlich die von Jerussalimski nachgewiesene Tatsache, d a ß die englische Bourgeoisie durchaus erkannt hatte, welche Folgen eine mögliche ökonomische Vorherrschaft des deutschen Kapitals im südafrikanischen Goldbergbau für die englische Bourgeoisie haben würde. W i e Jerussalimski belegte, gab es genügend Hinweise auf Absichten in dieser Richtung, so zum Beispiel durch das Konsortium der Deutschen Bank. Erstmalig in einer marxistischen Untersuchung wurde mit dieser Ausführlichkeit enthüllt, was sich hinter den diplomatischen Aktivitäten und Aufregungen beider Rivalen verbarg. E s ging um weitaus mehr als nur um ein diplomatisches Schachspiel, die Motive lagen tiefer. Jerussalimski schrieb: „Hier kam es zu einem Zusammenstoß zweier umfangreicher Eroberungsprogramme: des englischen und des deutschen. D i e Clique um Cecil Rhodes träumte davon, ein englisches K o l o nialreich in Afrika zu schaffen, das sich von Kapstadt bis Kairo erstrecken sollte. D i e alldeutschen Imperialisten waren bestrebt, ein eigenes Kolonialreich, das ,neue Großdeutschland in Südafrika' zu schaffen." 4 4 E s wäre nicht schwer gewesen, die eigenen Ambitionen hinter der angeblichen Pflicht der „Verteidigung der Stammesbrüder", der Buren, gegen England zu verbergen. Bei Oncken findet der Leser keine Untersuchung dieser Zusammenhänge. Ausgehend von seiner bürgerlich-imperialistischen Klassenposition, fand er keine Antwort auf die Frage der Wechselwirkung von Wirtschaft, Politik und Ideologie im kaiserlichen Deutschland; ganz im Gegenteil, er wich einer derartigen Fragestellung aus und konnte damit auch nicht zur Beantwortung der von Hallgarten gestellten Frage nach dem „ W a r u m " beitragen. In ähnlicher Weise behandelten auch andere bürgerliche Historiker, so der führende Leipziger Universitätsprofessor für Neue Geschichte, Erich Brandenburg 4 3 , die Transvaalkrise unter rein diplomatischem Aspekt. D i e „freundlichen Beziehungen", die Deutschland, wie Brandenburg behauptete, nun „schon seit längerer Zeit" zu den Burenstaaten pflegte, brachte er erst in der dritten Auflage seines Buches (1939) in einen gewissen Zusammenhang mit der Entdeckung der G o l d felder am Witwatersrand, wobei er Deutschland lediglich als einen Verbündeten '*'' Jerussalimski, A. S., Außenpolitik . . S. 127, 771. E. Brandenburg (1868-1946), Geheimer Hofrat, Professor für Neue Geschichte in Leipzig (1899-1937); vgl. derselbe, Von Bismarck zum Weltkrieg, 2. Aufl., Berlin 1925, S. 71, 3. Aufl., Leipzig 1939, S. 108 f.
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der Buren hinstellte, von dem diese Hilfe im K a m p f gegen die drohende englische Umklammerung durch Cecil Rhodes und dessen Kumpane erhofften. D i e Version der „Stammesverwandtschaft" der Deutschen mit dem kleinen V o l k der Buren tauchte in mehreren Varianten in der bürgerlichen deutschen G e schichtsschreibung auf. Sie sollte vom eigentlichen Inhalt der deutschen Politik ablenken, der ohnehin nach kurzer Zeit deutlich werden ließ, was von den „Verwandtschaftsgefühlen" deutscherseits zu erwarten war. Dazu Jerussalimski: „Diese Position war von Anfang bis zu E n d e heuchlerisch, und den herrschenden K l a s sen Deutschlands gelang es nicht, diese Position lange zu halten. In Wirklichkeit waren die deutschen Imperialisten bereit, ihre .Stammesbrüder', die Buren, abzuwürgen, wie das auch die englischen Imperialisten anstrebten." /,f3 D i e deutschen Bemühungen blieben jedoch ohne Erfolg, weil der deutsche Imperialismus noch nicht über eine starke Kriegsflotte verfügte, die dem englischen Rivalen hätte widerstehen können. Brandenburg bezeichnete die Politik der deutschen Regierung in der Transvaalkrise als eine „sehr unüberlegte", die weder „von dem Bestreben geleitet worden (war), unsere wirtschaftlichen Interessen in Südafrika zu schützen", noch von der „Sympathie für die in ihren Rechten gekränkten kleinen Staaten" oder von dem „Gefühl der Stammesverwandschaft mit den Buren". Deutschland hätte wohl die Absicht, seinem Rivalen England die Faust zu zeigen, um ihm deutlich zu machen, daß es „sich eine weitere Ausdehnung des britischen Reiches in Afrika ohne Kompensationen nicht gefallen lassen werde, und daß es in Englands eigenem Interesse liege, sich mit dem Dreibund gut zu stellen"/' 7 Wiederholt erscheint die Version der „versäumten Möglichkeiten", die historische Verurteilung jener Politiker, die im letzten Jahrzehnt des 19. J h . durch ihr Wirken eine Annäherung Englands an den Dreibund nicht zustande kommen ließen und angeblich letztlich damit die Niederlage im ersten Weltkrieg verschuldeten. M i t dieser Argumentation suchten bestimmte Kreise der herrschenden Klassen Deutschlands nach dem ersten Weltkrieg die Schuld am Ausgang des Krieges den Vertretern der deutschen Diplomatie anzulasten, was nicht nur einer historischen Rechtfertigung der zu dieser Zeit in Erscheinung tretenden Tendenz einer Annäherung an England entsprach, sondern auch ideologisch der Vorbereitung eines neuen Krieges diente. D i e s e Interpretation wurde nach dem zweiten Weltkrieg in verschiedenen A b handlungen imperialistischer Geschichtsschreibung erneut strapaziert, in kontinuierlicher Fortsetzung der deutschen imperialistischen Historiographie über die J a h r e des Faschismus und des zweiten Weltkrieges hinaus. Als Beispiel dafür sei Erich E y c k 4 8 genannt. Zu dem hier genannten Thema 46 m 48
Jerussalimski, Brandenburg,
A. S., Außenpolitik . . ., S. 771. E., Von Bismarck zum Weltkrieg, 2. Aufl., S. 79.
E. Eyck (1878-1964), Rechtsanwalt, Dr. jur., emigrierte 1933 nach England, schrieb Arbeiten zur neuen Geschichte Deutschlands. Hauptwerke: Biographie Bismarcks, 3 Bde., 1941 bis
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erklärte er: Das auf dem Territorium der burischen Siedler gefundene Gold habe diesen zwar Reichtum, aber zugleich auch Unglück gebracht, da sie, durch ihre bisherige Abgeschiedenheit und durch ihr Entferntsein „von den Aufregungen und Zuckungen der Weltpolitik", ihr Leben „in der altgewohnten patriarchalischen Weise, selbstgenügsam, rückständig" fristend, allein nicht in der Lage gewesen seien, die ihnen plötzlich zugefallenen Reichtümer auch zu nutzen. Aus diesem Grunde „mußten" Fremde in großer Zahl ins Land kommen, um einen funktionierenden Abbau der Gold- und Diamantenreichtümer zu beginnen, den die Buren ohne fremde Hilfe nicht hätten zustande bringen können. Hieraus entsteht der Eindruck einer zivilisatorischen Mission, der sich die europäischen Einwanderer, in erster Linie Engländer und Deutsche, hingaben, was jedoch nicht in gebührender Weise anerkannt wurde. Cecil Rhodes und seine Freunde fanden sich bereit, der zunehmenden Unzufriedenheit dieser „Uitlanders" Ausdruck zu verleihen und sie in politische und militärische Aktionen umzusetzen. Damit wird Rhodes einer der „hervorragenden Vertreter des britischen Imperialismus . . . einer der ganz wenigen großen Männer, die das Ende des 19. Jahrhunderts hervorgebracht hat"/' 9 Es kann in diesem Zusammenhang auf eine ausführliche Widerlegung einer derartigen Charakterisierung Cecil Rhodes' verzichtet werden. Lenin zählte Rhodes zu jenen „führenden Politikern der englischen Bourgeoisie", die den „Zusammenhang zwischen den sozusagen rein ökonomischen und den sozialpolitischen Wurzeln des modernen Imperialismus schon damals" begriffen hatten. 50 Der englische Historiker J. A. Hobson hatte in seiner Arbeit über den Imperialismus, deren erste Auflage 1902 erschien, Rhodes als Vertreter des brutalen, räuberischen englischen Imperialismus bezeichnet. 51 W i e es Jerussalimski nachzuweisen gelungen ist, riefen die deutschen Aktivitäten, so in erster Linie die der Deutschen Bank in der Diamanten- und Goldförderung, in London Beunruhigung hervor. Das im Jahre 1889 von Siemens gegründete Konsortium zur „Aquirierung von mit der Gewinnung von Gold und anderen Bergwerksprodukten zusammenhängenden Geschäften" konnte sich in Südafrika durchaus erfolgreich etablieren und war gewiß nicht unwesentlich daran beteiligt, daß „die Aktien der Transvaalgoldfelder, -eisenbahn- und -bergbaubetriebe . . . hohe Dividenden (versprachen) und . . . an der Berliner Börse eine beliebte W a r e (wurden)". Daß der deutsche Außenhandel die britische Vermittlung nicht mehr brauchte und sich von ihr zu befreien suchte, verschärfte nur die Spannungen zwischen den rivalisierenden Gruppen beider Länder. Cecil Rhodes, „Gründer und Direktor der ,Chartered Company', die der von 1 9 4 4 ; Das persönliche Regiment Wilhelms II., 1 9 4 8 ; Geschichte der Weimarer Republik, 2 Bde., 1 9 5 4 - 1 9 5 6 . 49
Derselbe,
Das persönliche Regiment Wilhelms II. Politische Gcschichte des deutschen Kai-
serreiches 1 8 9 0 - 1 9 1 4 , Erlenbach-Zürich 1 9 4 8 , S. 1 2 7 £. 50
Lenin, W. I., Werke, Bd. 22, S. 2 6 1 .
51
Hobson, ]. A., Imperialism. A Study, 3. A u f l . , London 1 9 3 8 , S. 2 0 1 f.
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ihm geführten imperialistischen Clique sagenhafte Profite einbrachte, als Chef des mächtigen De-Beers-Syndikats, das 90 Prozent der Weltdiamantenproduktion lieferte", wirkte im Interesse und mit Unterstützung seiner Freunde in der englischen Regierung und in den führenden Kreisen der herrschenden Klasse Englands für die Schaffung eines mächtigen britischen Kolonialreiches in Afrika, dessen wertvollster Teil das an Goldlagern reiche Transvaal darstellen sollte. Ein solches Ziel zu erreichen, ließ den Einsatz aller ökonomischen, politischen und diplomatischen Mittel gerechtfertigt erscheinen. Und die wußte dieser Vertreter der englischen Bourgeoisie zu gebrauchen, hätte doch, wie Jerussalimski nachweist, ein Übergehen der Goldfelder in Transvaal in die Hand des deutschen Kapitals „die finanziellen und wirtschaftlichen Positionen des jungen deutschen Imperialismus wesentlich gestärkt." 5 2 In überzeugender Weise konnte Jerussalimski den Nachweis erbringen, d a ß den diplomatischen Aktivitäten der deutschen Regierung sehr handfeste ökonomische Interessen zugrunde lagen. Schon seit Ende der achtziger Jahre hatte sich die Deutsche Bank nicht ohne Erfolg um eine Beteiligung am Bau einer Bahnlinie zwischen der Delagoa-Bai und der Hauptstadt Transvaals, Pretoria, bemüht. „Die Berliner Großbanken, allen voran die Deutsche Bank, waren an der Finanzierung des Baus dieser Linie direkt beteiligt; eine Reihe großer westdeutscher Industrieunternehmungen und Monopole, mit der Firma Krupp an der Spitze, führten den Bau aus und lieferten Schienen, Waggons, Lokomotiven und alle übrigen Eisenbahnausrüstungen. Deutsche Banken besaßen außerdem über holländische Banken Kapitalanteile der Transvaaler Nationalbank, oder sie eröffneten in Transvaal eigene Filialen. Als die Regierung von Transvaal die DynamitGesellschaft gründete, stellte sich heraus, daß sich ein bedeutender Teil ihrer Aktien in der Hand deutscher Banken befand. Die mächtigste an Transvaal interessierte Finanzgruppe war jedoch die Deutsche Bank." 5 ''' Der Bahnbau erhielt zusätzliche politische Bedeutung, da sich Präsident Kruger und die noch sehr schwache burische Bourgeoisie durch diese einzige, von England nicht kontrollierte Verbindung zum Meer ein Durchbrechen der drohenden englischen Umklammerung erhofften. Große deutsche Industrie- und Exporthandelsunternehmungen und Banken witterten neue Möglichkeiten, mit Hilfe des Schienenweges ein wirtschaftliches Eindringen in die Burenrepublik zu forcieren. Hallgarten stellte hierzu fest, d a ß „ganz Berlin in Goldaktien spekulierte", wovon die „Herren der Regierung und des Auswärtigen Amtes" keineswegs ausgeschlossen waren. 5 4 Wenige Wochen später verursachte das Glückwunschtelegramm des Kaisers an Präsident Kruger, bekannt als „Krüger-Depesche", eine bisher in diesem Ausmaß nicht gekannte antideutsche, chauvinistische Hetze in England, die ihrerseits wiederum zu einem Aufschwung der antienglischen Propaganda in der Jerussalimski, A. S., Außenpolitik . .., S. 127, 122. Derselbe, Der deutsche Imperialismus und der Ausbruch des Burenkrieges, in: Der deutsche Imperialismus . . ., S. 92. 5"' Hallgarten, G. W. F., Imperialismus vor 1914, Teil I, München 1951, S. 322. 53
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deutschen Presse führte. Auf Grund der von Jerussalimski vorgelegten Tatsachen und Zusammenhänge kann den Behauptungen Eycks nicht zugestimmt werden, daß Wilhelm II. allein den Ausschlag für das, wie Eyck meint, Wiedereröffnen der gerade beendeten Krise 5 5 gegeben habe. Wenn das demonstrative Telegramm des Kaisers an Kruger als eine offene Herausforderung gegenüber dem britischen Rivalen aufgefaßt wurde, so standen die deutschen Presseorgane, Kreise der Deutschen Kolonialgesellschaft wie auch der Alldeutsche Verband zustimmend und unterstützend an der Seite der Regierung. J a , es existierten sogar Pläne einer kontinentalen Allianz gegen England, deren Urheber Holstein mit der Androhung einer Annäherung zwischen dem Dreibund und dem französisch-russischen Bündnis auf England politischen Druck ausüben zu können hoffte, ohne dabei den Gedanken, England an den Dreibund heranzuziehen, aufgegeben zu haben. E s wird klar, und Jerussalimiski hat dies überzeugend dargestellt, daß sowohl Holstein als auch „viele andere in den herrschenden Kreisen Deutschlands . . . sich der ganzen Tiefe des heraufziehenden imperialistischen Konflikts mit England nicht bewußt" waren. Die Transvaalkrise zeigte, daß sich Konfliktstoff angesammelt hatte, der weit über den unmittelbaren Anlaß des Kampfes um das südafrikanische Gebiet hinausging. Sie demonstrierte deutlich die aggressiven Züge des jungen deutschen Imperialismus, der schon zu jener Zeit seinem erfahrenen englischen Konkurrenten in bezug auf Expansionsgelüste nicht nachstand. „Die imperialistischen Gegensätze zwischen den wichtigsten europäischen Mächten waren bereits zu scharf, als daß es möglich gewesen wäre, sie auch nur vorübergehend im Rahmen einer gesamteuropäischen diplomatischen Kombination zu mildern", 56 stellte Jerussalimski abschließend fest. In der Transvaalkrise war zum ersten Mal die imperialistische Rivalität zwischen England und Deutschland in einem Maße zu Tage getreten, das eine kriegerische Auseinandersetzung künftig nicht ausschloß. Wie Lenin mit aller Klarheit aufdeckte, ging es jetzt nicht mehr um den Kampf zwischen verschiedenen Wirtschaftssystemen, kämpften nicht „Freihandel gegen Schutzzollsystem und koloniale Abhängigkeit, sondern Imperialismus gegen Imperialismus, Monopol gegen Monopol, Finanzkapital gegen Finanzkapital". Der deutsche Imperialismus unterschied sich von dem englischen nur dadurch, daß er „frischer, kräftiger, organisierter ist und höher steht als der englische". 57 Gleichzeitig widerspiegelten die Auseinandersetzungen im politischen Leben Deutschlands, die die innenpolitische Krise begleiteten, die Vielschichtigkeit der Interessen, Ziele und auch Möglichkeiten der einzelnen Klassen und Gruppen in dieser Übergangsphase. Trotz verstärkter Aktivitäten konnte der Alldeutsche Verband, die Organisation des aggressivsten Flügels der deutschen Bourgeoisie, M
5(5 57
Vgl. Eyck, E., D a s persönliche Regiment . . . , S. 133. Jerussalimski, A. S., Außenpolitik . . ., S. 152, 171. Lenin, W. I., Werke, Bd. 22, S. 295 f.
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seine Forderungen noch nicht verwirklichen. Noch fehlte der deutschen Regierung das reale Machtmittel - die Flotte - , um die spektakulär eingeleiteten diplomatischen Aktionen außerhalb Europas auch durchsetzen zu können. Schließlich überließ sie Südafrika als politische Herrschaftssphäre den Engländern, nicht, ohne dafür auf kolonialem Gebiet Kompensationen von England zu fordern, während Siemens sich verstärkt dem Nahen Osten zuwandte. Das unterschiedliche Tempo der Entwicklung der einzelnen imperialistischen Staaten in den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts verschärfte nicht nur die Gegensätze zwischen Deutschland und England, sondern komplizierte auch die Beziehungen Deutschlands zu den anderen Mächten. Innerhalb der herrschenden Klassen und der politischen Parteien verstärkten sich die Diskussionen um die außenpolitische Orientierung der deutschen Regierung. Zunehmend nutzten die Verfechter einer aktiven „Weltpolitik" die innenpolitische Kriise zur Sammlung der reaktionären Elemente des Junkertums und der Monopolbourgeoisie. Jerussalimski schilderte die innere Lage in Deutschland, als neue Personen auf die politische Bühne traten. An verantwortlicher Stelle lenkten nun Bülow, seit 1897 Staatssekretär des Auswärtigen, und Tirpitz, seit der gleichen Zeit Staatssekretär im Reichsmarineamt, die Politik des Deutschen Reiches in Übereinstimmung mit den Interessen der reaktionärsten und aggressivsten Gruppen der Großbourgeoisie und der Junker. Dabei wurde deutlich, daß die Diplomaten des Kaiserreiches - auch die alten, erfahrenen wie der hinter den Kulissen aktive Holstein, die „graue Eminenz" der Wilhelmstraße, selbst „faktisch . . . ein Ministerium im Ministerium", der alle geheimen Botschafterberichte als erster erhielt und kontrollierte - , daß sie alle das Wesen der neuen Entwicklung nicht begriffen hatten. Auch Holstein sah nicht die inneren ökonomischen Ursachen der zunehmenden Gegensätze zu England, die imperialistischen Charakter anzunehmen begannen. Für ihn blieb der englischrussische Gegensatz der dominierende in der europäischen Politik, und er stützte seine Politik auf die These von der Unüberwindbarkeit dieser Widersprüche. Selbst als Tirpitz mit seinem Programm des Flottenbaus in großem Maßstab in das politische Leben Deutschlands eingriff - seine Verwirklichung sahen der Admiral und dessen Anhänger als Voraussetzung für Deutschlands Eintritt in die „Welt" an - , wurde der Beginn der grundsätzlichen Verschiebung der internationalen Beziehungen, insbesondere zwischen Deutschland und England, nicht verstanden. Man glaubte im Gegenteil, erst durch eine starke Handels- und Kriegsflotte gegenüber England konkurrenzfähig zu werden. Erst damit sah man die Voraussetzungen gegeben, um, wie Jerussalimski nachwies, „an der Politik der Eroberungen neuer Kolonialmärkte, des aktiven Kampfes um die Sphären des Einflusses und der Kapitalinvestitionen sowie des Kampfes um den Monopolbesitz der Rohstoffquellen" 58 teilnehmen zu können. Auf diese Weise entstanden Bedingungen, die dem Charakter der deutschen Diplomatie besonders aggressive Züge verliehen. 68
68
Jerussalimski,
A. S„ Außenpolitik . .
S. 117, 478.
Dies zeigte sich an allen Schnittpunkten der imperialistischen Interessensphären, so auch im Fernen Osten, in China. Das „Reich der Mitte" war seit dem französisch-chinesischen Krieg (1884/85) zunehmend Gegenstand der Aufmerksamkeit der kapitalistischen Mächte geworden. Insbesondere wurden in schwerindustriellen Kreisen immer wieder die Möglichkeiten des Baues großer Eisenbahnen erörtert. Als der chinesisch-japanische Krieg 1894/95 die militärische Schwäche des von dem korrupten und unfähigen Mandschu-Regime regierten China offenbarte, steigerte sich sofort das diplomatische und wirtschaftliche Ringen der einzelnen Staaten um Positionen in diesem riesigen Land, dessen halbkoloniale Unterwerfung in den folgenden Jahren schnell voranschritt. Nachdem Japan dem besiegten China im Frieden von Schimonoseki demütigende Bedingungen aufgezwungen hatte, die auf Grund der Meistbegünstigungsklausel in den dem Pekinger Regime schon früher von europäischen Mächten und den USA aufgenötigten Verträgen auch diesen selbst zugute kamen, suchten die kapitalistischen Staaten ihre militärische und politische Stellung gegenüber China zu stärken und Ausgangspositionen im Kampf um die erwartete Aufteilung des Riesenreiches zu gewinnen, indem sie sich Stützpunkte an der chinesischen Küste schufen. Deutschlands Festsetzung in Kiautschou im November 1897 gab hierfür gewissermaßen das Startsignal. Die Geschichte der räuberischen Politik der imperialistischen Länder gegenüber China in jener Zeit brachte die bürgerliche Geschichtsschreibung in eine gewisse Verlegenheit, da es sich bei den Chinesen nicht um „Wilde", sondern um ein Volk mit einer sehr alten Kultur und großen Leistungen in Wissenschaft und Technik handelte. Auch dieser Umstand trug dazu bei, daß der imperialistische Wettkampf um China und die Niederschlagung des Aufstandes der Ihotwan im Jahre 1900 in der bürgerlichen Geschichtsschreibung Deutschlands niemals eingehend dargestellt wurde. Man suchte diese Problematik nur unter dem Aspekt der deutschen Flottenpolitik und der Rolle des Kaisers bei der Verwirklichung dieser Politik zu behandeln und stellte sie nicht in das System der imperialistischen Kolonialexpansion. W a s sich in China wirklich abspielte, hat kein deutscher bürgerlicher Historiker in einer speziellen Untersuchung dargestellt; die wirtschaftlichen Fragen wurden praktisch ignoriert. Jerussalimski begann seine Untersuchung der Invasion des deutschen Imperialismus in China nicht erst, wie es zum Beispiel bei Oncken geschieht, mit den Ereignissen um den Abschluß des Friedens von Schimonoseki; er beschränkte sich auch nicht auf die Schilderung der verschiedenen Aktivitäten der Vertreter der deutschen Monopolbourgeoisie. Er wies dem deutschen Imperialismus seinen Platz im System der Mächte, im Kampf um einen fetten Brocken von der chinesischen Beute zu; gleichzeitig brachte er die Forderungen, die bestimmte Kreise der an kolonialen Eroberungen interessierten deutschen Bourgeoisie schon unter Bismarck erhoben hatten, in den notwendigen historischen Zusammenhang mit
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der seit Mitte der neunziger Jahre deutlich werdenden neuen E t a p p e der nunmehr imperialistischen Expansion. Interessant ist dabei nicht allein die Tatsache, d a ß , sondern warum jetzt, wie der von Jerussalimski zitierte sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Schönlanck sagte, „chinesisch beliebt" wurde. Noch gegen E n d e der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts beherrschte die englische Bourgeoisie den chinesischen Markt, doch begann der deutsche Handel mit China von Jahr zu Jahr eine immer größere Rolle zu spielen. D i e sehr gewichtigen Interessen der Firma K r u p p an der Erhaltung und Erweiterung der Absatzmöglichkeiten für Waffen und Eisenbahnausrüstungen brachte Jerussalimski zum Beispiel mit der Tätigkeit der deutschen Militärinstrukteure in der chinesischen Armee in Zusammenhang, da diese den Boden für die späterhin bedeutenden Erfolge der Essener Firma in China bereiteten. Jerussalimski nannte Kreise und Interessengruppen innerhalb der deutschen Finanzbourgeoisie, die das Verhältnis zu China wie zum Fernen Osten überhaupt im Sinne ihrer Geschäftsinteressen gestaltet wissen wollten. Einprägsam wird das Engagement der Firma K r u p p wie auch anderer deutscher Firmen im ostasiatischen Raum geschildert, die anfänglich zum Teil noch unter englischer Schirmherrschaft agierten. Doch sehr bald zeigten sich die „selbständigen Interessen der deutschen Finanzgruppen, die durch die Deutsch-Asiatische Bank vertreten wurden". 5 9 Zur Vorgeschichte des Friedens von Schimonoseki schrieb Brandenburg: „Wir hatten zwar in Ostasien nicht unerhebliche wirtschaftliche Interessen . . Z'60 Was sich jedoch hinter diesen „wirtschaftlichen Interessen" verbarg, wird nicht deutlich. D i e von Brandenburg vorgenommene Identifizierung der Interessen bestimmter Kreise der deutschen Finanzbourgeoisie mit denen des ganzen deutschen Volkes, die sich in dem von ihm in diesem Zusammenhang benutzten „wir" ausdrückt, konnte Jerussalimski in überzeugender Weise widerlegen. Auf die Regierung wurde Druck ausgeübt, um nach dem Friedensschluß ein Stück chinesischen Territoriums zu annektieren. Jerussalimski schrieb: „ D i e deutschen Fabrikanten und Werkbesitzer, die Großkaufleute und Exporteure, Bankiers und Reeder hatten an diesem Krieg viel verdient. Jetzt forderten sie, daß sich die Regierung überlegen solle, wie man auch im Frieden verdienen könnte." 6 1 A n dieser Stelle sei ein Blick auf die Darstellung der Motive deutscher Ostasienpolitik bis zur Besetzung des Stützpunktes Kiautschou geworfen, wie sie bei Oncken nachzulesen ist. Oncken ging bei der Behandlung der Voraussetzungen der deutschen Fernostpolitik von einem, wie er sagte, „verschärften imperialen Wettbewerb der Großen" aus, von dem „ K a m p f der weißen Völker um die Teilung der E r d e " , der das 69
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Ebenda, S. 481, 547. Brandenburg, E„ Von Bismarck zum Weltkrieg, 2. Aufl., S. 50. Jerussalimski, A. S., Außenpolitik . . ., S. 489, 485.
„Zeitalter des Imperialismus" charakterisierte und dazu „ganz neue und ungewohnte Methoden und Mittel" hervorbrachte. Diesen Kampf der imperialistischen Mächte um die schrittweise Verwirklichung der Eroberungs- und Kolonialpläne bezeichnete er als einen „ungeheuren Prozeß" 62 , der faktisch alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfaßte, d. h., die imperialistischen Mächte drangen auf allen nur möglichen Wegen in das gesellschaftliche Leben des zu unterwerfenden Landes ein. Gleichzeitig behauptete Oncken jedoch, daß das Bemühen um eine Station, einen Stützpunkt in China in erster Linie auf die persönliche Initiative und das Drängen des Kaisers zurückzuführen gewesen wäre. 6 3 Im weiteren spielten für Oncken nur diplomatische Erwägungen, auf welche Seite die deutsche Politik sich günstigenfalls zu neigen habe,, ob eine Anlehnung an England oder an Rußland zu suchen sei, eine wesentliche Rolle bei der Charakterisierung der Politik Deutschlands im Fernen Osten. Der Friedensschluß von Schimonoseki hatte das Ringen der Großmächte um eine Aufteilung des riesigen chinesischen Marktes, um die Teilung des „chinesischen Kuchens" verschärft. Oncken stellte in diesem Zusammenhang fest: „Aus der Epoche des Friedens von Schimonoseki war die deutsche Politik mit einem ungestillten Verlangen herausgekommen: wollte man in der Front der ostasiatischen Mächte stehen, brauchte man einen maritimen Stützpunkt." Leider sei man über einen geeigneten Ort uneinig gewesen, auch habe „ein passender Anlaß zum Vorgehen" gefehlt, so daß eine „Befriedigung der deutschen Wünsche" nur zögernd erfüllt werden konnte. Doch lange sollte der ersehnte Vorwand nicht auf sich warten lassen: „Als die Dinge so weit gediehen waren, stellte sich in letzter Stunde auch noch der äußere Anlaß ein, sie in beschleunigter Geschwindigkeit und mit verstärktem Nachdruck zu betreiben." 64 Fürwahr, der Mord an zwei katholischen deutschen Missionaren in der Schantungprovinz „stimmte verblüffend mit der in Berlin schon vorher festgelegten Instruktion überein, den Vorwand ,zum Beispiel in den Verhältnissen unserer Missionare' zu suchen", kommentierte Jerussalimski diese „Begründung" für die Besetzung der Bucht von Kiautschou durch ein deutsches Marinegeschwader. 65 Brandenburg hielt gleich Oncken die Forderung der Marinekreise nach einem Flottenstützpunkt in Ostasien für legitim, um zur Stelle zu sein, „falls es zu territorialen Verschiebungen in China komme". 6 6 Im Gegensatz zu dieser Interpretation machte Jerussalimski die wahren Zusammenhänge zwischen der Stützpunktpolitik deutscher Kolonialkreise sowie dem Flottenbauprogramm von Tirpitz und dem Kampf innerhalb der herrschenden 62 63 64
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Oncken, H., D a s Deutsche Reich . . ., B d . 2, S. 423 f. Ebenda, S. 429. Ebenda, S. 457. jerussalimski, A. S., Außenpolitik . . ., S. 508. Brandenburg, E., op. cit., S. 50.
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Klassen Deutschlands um die Durchsetzung bestimmter kolonialpolitischer Forderungen deutlich. Die innenpolitischen Auseinandersetzungen konzentrierten sich zunehmend auf die Frage des Baus einer größeren Kriegsflotte. Mit der Realisierung des Flottenbauprogramms sollten gleichzeitig zwei Ziele erreicht werden. Die aggressiven Kreise sahen darin einerseits ein entscheidendes Instrument für die Verwirklichung ihrer Expansionsabsichten; die Pläne des ausgedehnten „uferlosen" Programms deuteten in der Perspektive auf die vom Kaiser unterstützte „Weltpolitik", auf den Kampf um die Weltherrschaft hin. Andererseits sollten sie der Förderung der „nationalen", chauvinistischen Propaganda, der Ablenkung der Volksmassen von ihrem Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung dienen. Jerussalimski schilderte die Kompliziertheit dieser Auseinandersetzungen. Aus den unterschiedlichsten Motiven und variierend in Art und Intensität ihrer Opposition standen Parteien und Gruppierungen als Reichstagsmehrheit den Anträgen zunächst negativ gegenüber. Nicht nur die Sozialdemokraten bekämpften diese Pläne, auch in den bürgerlichen Parteien und in Kreisen der Junker waren bei weitem nicht alle zu Anhängern eines umfangreichen Flottenbauprogramms geworden. Jerussalimski zeigte die tieferen Ursachen der anfänglichen Ablehnung: so seitens der Junker, die als Voraussetzung ihrer Zustimmung zum Gesetzentwurf die Durchsetzung ihrer Forderungen sowohl hinsichtlich einer Verstärkung des reaktionären Kurses in der Innenpolitik als auch hinsichtlich der Liquidierung oder Änderung der Handelsverträge zu ihren Gunsten zugesichert wissen wollten. In diesem Zusammenhang charakterisierte Jerussalimski die Rolle des Mannes, mit dem sich die an den „uferlosen" Flottenplänen interessierten Kreise als dem „starken Mann" verbündeten - Konteradmiral Tirpitz. Erstmals in der marxistisch-leninistischen Geschichtsliteratur wurde Tirpitz hier in Zusammenhang mit den ihn fördernden Kräften der herrschenden Klassen und deren Innen-und Außenpolitik gesetzt, die Deutschland als imperialistische Weltmacht sehen wollten. Diese Kreise hatten erkannt, daß dies ohne eine starke Flotte nicht erreicht werden konnte. Pläne einer kolonialen Expansion hatten großen Anklang in der deutschen Bourgeoisie gefunden, doch war an die Verwirklichung ohne eine Kriegsflotte, die von den anderen Mächten ernst genommen werden würde, zu jener Zeit nicht zu denken. Als Interessenvertreter dieser Gruppierung verstand es Tirpitz, seinen Plänen das nötige Gewicht zu geben. Vor seiner Ernennung zum Staatssekretär im Reichsmarineamt hatte er sich als Chef der Kreuzerdivision in Ostasien mit den deutschen Kolonialproblemen im Fernen Osten bekannt gemacht und trug nunmehr selbst dazu bei, den Beweis für die „Notwendigkeit" einer starken Kriegsflotte als Instrument der Kolonialpolitik zu liefern. In seiner neuen Funktion nahm er Organisation und Lenkung der politischen Propaganda in die Hand: Er wurde u. a. im Jahre 1898 Mitbegründer des Deutschen Flottenvereins, einer reaktionären, chauvinistischen Propagandaorganisation des deutschen Monopolkapitals. 72
Jerussalimski stellte hierzu fest: „In der bisherigen Geschichte Deutschlands hatte es noch keinen Fall gegeben, wo die sich nach verschiedenen Linien, aber nach einem einheitlichen Plan entfaltende Propaganda, die auf verschiedene Gesellschaftsschichten berechnet, aber auf ein Ziel gerichtet war, so organisiert und zentralisiert durchgeführt wurde wie die Flottenkampagne im Jahre 1897. Das war etwas Neues." Vor den Augen des Lesers entsteht das Bild eines Vertreters des deutschen Monopolkapitals, der schneller und besser als andere die Haupttendenzen in der Interessenentwicklung bestimmter Gruppen seiner Klasse erkannte, ja sie sogar vorwegnahm, der weder Küstenverteidigung noch Kreuzer forderte, „sondern Schaffung einer starken Schlachtflotte, die imstande wäre, neue Verbündete auf die Seite Deutschlands zu bringen und dem Hauptgegner auf dem Gebiet der Wirtschaft, auf See und in den Kolonien - England - entgegenzutreten".67 Sehr deutlich arbeitete Jerussalimski die innenpolitische Rolle der Flottenbaupropaganda heraus, mittels derer die Regierung einen Ausweg aus der Krise 2u finden hoffte. Das Flottenbauprogramm wurde zur Kampflosung in der Innenwie in der Außenpolitik. Das Ergebnis der Krise zeigte, daß die annexionistischen Pläne des aggressivsten Flügels des deutschen Imperialismus immer größere Ausmaße annahmen. Die zur Durchsetzung dieser Politik propagierte „Sammlung" des Junkertums und der reaktionären Elemente der Monopolbourgeoisie bedeutete eine Reaktion auf dem Gebiet der Innenpolitik, Expansion und Aggression auf außenpolitischem Gebiet. Die detaillierte Untersuchung des Kampfes der Klassen, Parteien und Interessengruppen um das Programm von Tirpitz gab Jerussalimski die Möglichkeit, allgemeine, von Lenin aufgezeigte historische Tendenzen des Imperialismus am Beispiel des deutschen Imperialismus der letzten Jahre des 19. Jh. zu verdeutlichen. Es ist höchst interessant, jene Passagen zu lesen, in denen Jerussalimski die ihm vorliegenden Quellen nach allen Seiten auslotete, um ein umfassendes Bild jener dramatischen Ereignisse zu zeichnen. Einerseits wird die Aggressionslust der an Kolonien interessierten Kreise der deutschen Monopolbourgeoisie deutlich, andererseits zeigte sich, daß man sich in deutschen Regierungskreisen durchaus nicht über die Folgen dieses Abenteuers im Fernen Osten im klaren war. Hinzu kamen die nicht geringen Meinungsverschiedenheiten zwischen Tirpitz bzw. dessen Anhängern auf der einen Seite, die der Unterstützung des Kaisers und bestimmter Gruppen des Finanzkapitals sowie der Kolonialkreise sicher waren, und der alten preußischen Generalität auf der anderen Seite. Wie der Verlauf der Ereignisse zeigte, „behielt in der Politik der herrschenden imperialistischen Kreise Deutschlands die aggressivste und abenteuerlichste Tendenz die Oberhand". 68
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Jerussalimski, A. S., Außenpolitik . .., S. 464, 431. Ebenda, S. 518 f.
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Stoecker, Jerussalimski
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Dies konnte nicht ohne Folgen auf die Auseinandersetzungen um die innenpolitischen Probleme in Deutschland bleiben. Es ist ein besonderes Verdienst der Monographie des sowjetischen Historikers, die außenpolitischen Aktivitäten der aggressiven deutschen Marinekreise in ihrer Rückwirkung auf die verschiedenen Klassen und Interessengruppen in Deutschland selbst und deren Reaktion auf die „bedeutenden Siege und Erfolge" der deutschen Regierung im Fernen Osten in die Darstellung einbezogen zu haben. Es wird deutlich, daß man die Besetzung Kiautschous nutzen wollte, die umfassenden Flottenpläne des Staatssekretärs im Marineamt durchzusetzen, da diese dem deutschen Imperialismus zur Verwirklichung seiner weltweiten Expansionspläne dienen sollten. Gleichzeitig sollte die damit einhergehende nationalistische Propaganda die Volksmassen in einen chauvinistischen Taumel versetzen und vom Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrükkung ablenken. Dabei ließ Jerussalimski die Haltung der Sozialdemokratischen Partei, insbesondere ihrer Reichstagsfraktion, zur deutschen Chinapolitik nicht außer acht. W i e er u. a. anhand der Protokolle der Reichstagsverhandlungen nachweisen konnte, wandten sich die Anhänger der „Sammlungspolitik" auch an die Arbeiterklasse in der Absicht, gewisse Schichten zu korrumpieren und dem Einfluß der Sozialdemokratischen Partei zu entziehen. Jerussalimski würdigte das tapfere und leidenschaftliche Auftreten August Bebels im Reichstag, der in der Chinapolitik der deutschen Regierung die Klassenziele, d. h. „die materiellen Interessen der deutschen Kapitalisten", entlarvte. Zu Recht wird hervorgehoben, daß Bebel den Einfall Deutschlands in China mit dem Jameson-Raid in Transvaal auf eine Stufe stellte. Jerussalimski betonte, wie wichtig es für den Kampf der deutschen Arbeiterklasse gegen Militarismus und Eroberungspolitik der herrschenden Klassen war, daß Bebel die Verbindung „zwischen der Verstärkung der Kolonialpolitik der Regierung in China und der Verstärkung der reaktionären Politik in Deutschland selbst" erkannte und aufzeigte. 69 Das Herausarbeiten des Zusammenhanges der aggressiven Außenpolitik mit der reaktionären, gegen die Arbeiterklasse gerichteten Innenpolitik gab den Historikern der D D R wertvolle Hinweise für eigene weiterführende und vertiefende Untersuchungen.
Pläne für weitere Arbeiten Die Geschichte des Imperialismus an der Wende vom 19. zum 20. Jh. blieb das zentrale Thema des sowjetischen Wissenschaftlers. Er untersuchte vor allem die Beziehungen und Widersprüche zwischen dem deutschen und dem englischen Imperialismus am Beginn des 20. Jh.; zahlreiche Konzepte, Pläne und Materialsammlungen sollten die Grundlage für neue Arbeiten bilden. Dutzende von hinterfiil
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Ebenda, S. 550.
lassenen Ordnern sind mit Abschriften und Kopien von tausenden Dokumenten aus den Archiven der Sowjetunion und der DDR sowie mit vielen anderen Materialien gefüllt und lassen die Thematik nicht ausgeführter Projekte im Umriß erkennen. Dazu gehört das unvollendete Manuskript über Bismarck. Mit der Person Bismarcks und seiner Zeit hatte sich Jerussalimski oft beschäftigt; seine erste umfangreichere wissenschaftliche Arbeit (1928) galt diesem Thema. Die Abhandlung über den deutschen Reichskanzler und dessen Innen- und Außenpolitik sowie dessen Rolle in der deutschen Diplomatie, die Jerussalimski im Frühjahr 1940, in einer Zeit niedergeschrieben hatte, da die Beziehungen zwischen der UdSSR und Deutschland äußerst kompliziert und belastet waren, beschäftigten ihn in späteren Jahren erneut. Wie aus den Materialien seines Nachlasses ersichtlich, hatte er die Absicht, die genannte Studie an den Anfang eines Buches über den deutschen Imperialismus, über dessen Geschichte und Gegenwart,70 zu stellen. Die in dem Sammelband enthaltenen 31 Beiträge, geschrieben im Laufe von mehr als drei Jahrzehnten, umspannen die Zeit von der Herausbildung des Imperialimus in Deutschland am Ende des 19. Jh. bis zu dessen Wiedererstehen in der BRD nach der Niederlage im zweiten Weltkrieg. Jerussalimski, der unermüdlich vorliegende Forschungsergebnisse überprüfte, neue, bisher unbeachtete Fakten und Aspekte suchte, um zu weiterführenden Überlegungen und Erkenntnissen zu gelangen, stellte jedoch bald fest, daß im Unterschied zu den übrigen Beiträgen eine redaktionelle Überarbeitung dieser Abhandlung allein nicht befriedigen konnte. In seinem Vorwort zur italienischen Übersetzung des Buches schilderte Gefter 71 die Arbeitsphasen an dem Manuskript, die in eine für den Autor schwere Zeit fielen, da ihn sein Herzleiden immer häufiger zur Unterbrechung der Arbeit zwang. Seit der Niederschrift der Einführung zur russischen Übersetzung der „Gedanken und Erinnerungen" des deutschen Reichskanzlers waren viele Jahre vergangen. Manche Aspekte erforderten tieferes Durchdenken, andere hatten ihn in den letzten Jahren seines Lebens zunehmend beschäftigt, so „das Problem der wachsenden Rolle des Militarismus in der ganzen deutschen Geschichte, die Enthüllung des Mechanismus der aggressiven Selbstbewegung dieser Politik, die, obwohl ihr tiefe ökonomische Ursachen zugrunde lagen, keineswegs durch diese bedingt waren: eine Sachlage, die nur einem Vertreter des ökonomischen Materialismus seltsam erscheinen mag, nicht aber einem schöpferischen Marxisten-Leninisten, zu dem sich Jerussalimski im Laufe seiner wissenschaftlichen Arbeit immer mehr entwickelt hatte." Die verhängnisvolle Rolle gerade des deutschen Militarismus, die Erfahrungen der Geschichte, „sowohl der, die sich vor den Augen unserer Generation vollzieht, als auch der, die von uns durch ein 70 71
Derselbe, Der deutsche Gefter, M. Ja., Ricordo
Imperialismus. Geschichte und Gegenwart, Berlin 1 9 6 8 . di A . S. Erusalimskij, in:
Erusalimskij, A. S., D a
Bismarck a Hitler.
L'imperialismo tedesco nel X X secolo, Rom 1 9 6 7 , S. XXIII ff.
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Jahrhundert getrennt ist, führt den Forscher zu der unwiderlegbaren Tatsache: Das Anwachsen der Kräfte, der Gier und der Unmenschlichkeit des deutschen Militarismus befand sich immer in direkter Verbindung mit der von ihm genährten gesamteuropäischen Reaktion und Konterrevolution." Äußerungen von Marx und Engels wie auch von Lenin, die im Laufe der letzten Jahre gefunden und der Forschung zugänglich gemacht wurden, nahm Jerussalimski als Bereicherung der eigenen Überlegungen auf: „Ich entsinne mich gut", heißt es weiter in dem Vorwort Gefters, „welch starken Eindruck die neu veröffentlichten Briefe von Engels an Lafargue machten, die eine so eindeutige Analyse des Boulangismus und der reaktionären Ergüsse der sich damals in Frankreich entfaltenden pseudonationalistischen Kampagne enthielten. Die Briefe von Engels (ähnlich wie die bekannten Briefe von Lenin an Ines Armand) gaben den Überlegungen Jerussalimskis über die ,Krieg-in-Sicht-Krise' einen neuen Impuls. Er beabsichtigte, das Problem nochmals und gesondert zu untersuchen, das, wie es schien, von ihm und von vielen anderen sowjetischen Historikern schon seit langem erforscht worden war. In Jerussalimskis Interpretation schien diese Krise ein Paradox zu sein: ,Man muß annehmen, Bismarck brauchte damals nicht ein schwaches, sondern ein starkes Frankreich, denn nichts anderes konnte ihm in gleicher Weise helfen, seine eigene Bourgeoisie gefügig zu machen