2 x 2 = 5 : Eine Anleitung zum Rechtbehalten 3546471105

Robert Neumanns Parodien haben im deutschen Sprachraum eine Gesamtauflage von 500.000 erreicht und drei literarische Gen

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German Pages [162] Year 1974

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2 x 2 = 5 : Eine Anleitung zum Rechtbehalten
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Robert Neumann 2X2 = 5 Eine Anleitung zum Rechtbehalten

2 Mit 12 Collagen von Helga Ruppert-Tribian

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Robert Neumann 2X2 = 5 Eine Anleitung zum Rechtbehalten

Claassen

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1. Auflage 1974 Copyright © 1974 by Claassen Verlag GmbH, Düsseldorf, und Robert Neumann, Locarno-Monti Alle Rechte der Verbreitung in deutscher Sprache, auch durch Film, Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art und auszugsweisen Nachdruck, sind Vorbehalten. Gesetzt aus der 12/14 Punkt Times der Monotype GmbH Gesamtherstellung Carl Ueberreuter, Wien Printed in Austria ISBN 3 546 47110 5

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Gebrauchsanweisung

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Eins

Aristoteles, Schopenhauer und derlei Hochgestochenes Kurskorrektur und Selbstentlarvung Das Hohelied vom Kleingedruckten Zwei mal zwei: vier oder fünf? Die Elastizität des guten Glaubens Exempel eins für Abreise-Süchtige Prozeß wegen boshafter Sachbeschädigung Zwei

Matriarchat, oder: Das Männchen in voller Federnpracht Fall zwei: Die obszönen Winzer von Neapel Etwas für Schachspieler: das Gambit Drei: La Bozzi di Joh. W. Goethe Theorie und Taktik der sexuellen Gegenleistungs-Verweigerung Vier: Naked Priest on Beach Wie verliere ich mit Gewinn? Mme. de Staël und die Sodomie Fünf: Unerhörtes von Boccaccio Drei Virgo Tacta - Sichunterzieherin - und die Ächte Intellektuelle Sechs: Das unbekannte Lolita-Fragment des Nabokov Sieben: Fall Kalbfleisch Fall acht: »Mariechen« von Thomas Mann Neun: R. Neumann, »Monica Daemonica«

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Vier Risiken und Vorteile des Unterbrechens von Monologistinnen Kraepelin/Kinsey: »Die Kinderreiche Mutter als Unerfahrene zur zweiten Potenz« Fall zehn: Der »Triestiner Text« aus der Ulysses-Erstfassung des James Joyce Elf: Das verworfene Kapitel aus »Portnoy’s Complaint« des Philip Roth Das Anti-Offert und seine Anwendung in der Skeptischen Generation Fall zwölf: Jan Cremer, Erotiker en gros

Fünf

Pro und contra des Homosex-Gambits Warnung für Nacktseher Plaschke/Kappelmacher: »Ist die Immissio Penis noch als Nekkerei zu werten?« Tekberekjöltatakabalojak oder »La Philosophie de Komotau« Gavrilo Prcic: »Komotau? Neumann entlarvt« »Hic Rhodus, hic salta«, oder das Problem der Liefer-Unfähigkeit im Aktivistischen Enthusiasmus »Wie verhalte ich mich als Dame?« Warnung vor sexuellen Neuauflagen Über Kavaliersehrenwort, Heiligkeit und ähnlich Anrüchiges Dreizehn: Der Fall des Hans Habe und seines Meisterromans »Ilona« Vierzehn: »Leckmimoasch«, oder H. C. Artmann und Ernst Jandl

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Sechs

Von der Philosophie des Gesichtnetzens Fettfleck Fall fünfzehn: Arthur Schnitzlers Druckfehler in seinem »Reigen« Analyse des Vorigen Sechzehn: Fall Handke, aus dem Regiebuch Fall siebzehn: Norman Mailer bei Andy Warhol Achtzehn: Sigmund Freuds Brief an Ferenczi Bukett gewisser Erfahrungen Tragischer Rechtsbruch des Journalisten P. Entwöhnen, Vorsicht beim Sieben

V — I2 R =------- — G X L Der Konto-Schrei als Point of No-Return Falsch/richtig oder das Mesalliance-Gambit Pisspöki-Budapest: »Daffke, oder der Vaginale Brotneid in den Sagen des Klassischen Altertums« Neunzehn: Franz Molnars »Abschied von Budapest« Verborgenhaltung der Echten Drittperson Landesverrat in Tateinheit mit Kuppelei Franz Molnars Korrektur letzter Hand Frage: Wer ist man selbst? »It’s your dream« Die nackte Formel:

ENDE

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Eins

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Ach, wird das langweilig werden. Aber es will zunächst einmal mitgeteilt sein - sonst versteht man die Sache nicht. Zunächst also zur Person: Die erste Absicht, diese Untersu­ chung anzustellen, geht auf fünfundfünfzig Jahre zurück. 1918 war ich Assistent in Wien bei Bebitz - ein sehr junger Assistent - und überwachte Seminararbeiten über scholastische Logik: Übungen an Hand der bekannten Schlußfiguren, wobei das Augenmerk der Studenten auf die sogenannte KonsonantenAuswertung zu richten war, also etwa auf die besondere Beziehung eines Schlusses nach Barbara zu einem nach Bocardo und Bamalip oder eines nach Ferio zu einem nach Felapton, Fresison oder Fesapo in der Vierten Figur. Ich hatte damals, vom Neukantianismus kommend, bloß eine kurze Schrift über die Erkenntnis-Grenze publiziert (»Similia similibus«, Deuticke, Wien 1918) - die Bemühung mit den Scholastikern sollte nach Wunsch des Professors die Grundlage meiner Habilitations­ schrift werden: Ich dachte damals noch an eine akademische Laufbahn. Was mich von diesem Vorhaben abbrachte, waren nicht einfach die politischen Ereignisse des Spätherbstes 1918 (sie führten mich weitab), sondern die Erkenntnis der Sterilität und Irrele­ vanz meiner Aufgabe. Ich war ein destruktives Element, mich interessierten nicht die gefälligen Denkspiele rings um die Aussage 2X2 = 4, sondern die Frage: Wie siege ich in einem Streitgespräch, in dem ich - nicht irrend, sondern bösartig, heimtückisch, kalt bewußt - die Behauptung aufstelle, daß zwei mal zwei fünf ist?

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Die Kunst, recht zu behalten also, obwohl man im Unrecht ist. Das wollte ich schreiben. Ich kam nur nie dazu.

Was ein Glück war, denn es handelt sich nicht um eine »Kunst« - auch ein Einundzwanzigjähriger (so alt war ich damals) kann natürlich ein Künstler sein -, sondern um eine empirische Wissenschaft, und mir fehlte die Empirie. Die habe ich nun und bin über ihrem Erwerb nur um fünfundfünfzig Jahre älter geworden. Jung genug, gewiß, aber für alle Fälle: Man schreibt das jetzt besser auf. Wobei man am Beginn zu beginnen hat. Die bisherigen Arbei­ ten zu dieser von Tag zu Tag wichtiger werdenden Disziplin sind an den Fingern einer Hand herzuzählen. Gewiß, da ist Aristote­ les. Seine »Trugschlüsse der Sophisten« sind ebenso langweilig, wie sie richtig sind. Aber recht haben, wo man ohnedies recht hat, macht unser Kraut nicht fett. Auch Karl Otto Erdmann, der einzige, der sich im letzten Jahrhundert zu diesem Thema Gedanken gemacht hat, gibt eine gelehrte Entlarvung der Denkfehler oder Tricks, kaum aber einen Leitfaden dafür, wie man sie ungestraft am besten begehen kann. Bleibt eigentlich nur Schopenhauer - dessen Bemühung die meine verhältnismäßig am nächsten kommt. In seinen Parerga und Paralipomena gibt es einen Abschnitt »Zur Logik und Dialektik« - der fragmentarisch geblieben ist, weil er fand, es sei seinem Zustand Leibes und Lebens nicht mehr angemessen gewesen, »solch eine ausführliche und minuziöse Betrachtung der Schleichwege und Kniffe, deren die gemeine Menschennatur

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sich bedient, um ihre Mängel zu verstecken«, zu Ende zu führen. Er wäre nicht imstande gewesen, sie zu Ende zu führen, auch wenn er es gewollt hätte. Es ist ein Thema ohne Ende, systemfremd wie das wilde Leben selbst. Was sich in Schopen­ hauers Nachlaß fand, war denn auch bloß eine zornige Samm­ lung von Niederträchtigkeiten der Polemik, denen er im Leben begegnet war; sechsunddreißig im ganzen - es müssen idyllische Zeiten gewesen sein. Das eine »Eristik« zu nennen, eine Lehre vom Streiten, war ein zu großer Anspruch; aber die einzelnen Beispiele haben’s in sich - der Ingrimm des Schreibers hat’s in sich, ein höchst unprofessoraler Ingrimm. Was ich dagegen habe, ist nur diese negative Einstellung zu der Materie. Ingrimm? Entlarven? Wo es sich doch vernünftiger­ weise um einen Leitfaden hätte handeln sollen zur Erlernung einer der wichtigsten Disziplinen für den Umgang mit Menschen in dieser Zeit? Also: Aristoteles, Schopenhauer und Erdmann. Dazu die trokkenen Scherzchen der Sophisten und der Scholastiker. Das ist alles. Kurzum: man fange von vorne an.

Wie fängt man von vorne an? Vielleicht am besten, indem man wenigstens den Anfang des von mir bisher Gesagten unter die Lupe nimmt - als Seminarübung Nummer eins? Der Anfang einer Untersuchung dieser Art ist natürlich kein Streitgespräch, eine Einleitung ist nicht »eristisch«. Aber sie weist wesentliche Elemente der »Kunst, recht zu behalten« auf. Zunächst hat man ja den Gesprächspartner dazu zu bringen, daß

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er überhaupt zuhört. Hat man ihn in Fleisch und Blut vor sich, so ist das ein Kinderspiel. Man kann einen Pistolenschuß in die Luft knallen. Man kann sich nackt ausziehen; heißt man etwa Brigitte Bardot, so ist das das Musterbeispiel einer argumentatio ad hominem: Jeder Gesprächspartner ist bereit, nicht weiter kleinlicherweise zu widersprechen, sondern 2X2 fünf sein zu lassen. Unsereiner hat es da schwerer; nicht nur wegen der Unmöglich­ keit, gerade diesbezüglich mit Brigitte Bardot zu konkurrieren, sondern auch, weil er den Angesprochenen in Schrift, in Druck ja nicht sieht. Ein ergrauter Professor? Ein studierender Jüng­ ling? Ein Pastor, eine einsame alte Jungfer? (Ein junges Mädchen kaum; sie ließe sich gar nicht erst auf die Lektüre ein.) Die captatio benevolentiae diesem gesichtslos-vielgesichtigen Leserpublikum gegenüber schafft Probleme, die die direkte Eristik nicht kennt. Also fällt der eine Einleitung Schreibende zurück auf das bewährte Rezept, sich eine Aszendenz, Gehör, Vertrauen zu schaffen, indem er sagt - womöglich schon auf dem Titelblatt - »Ich bin der berühmte Professor X., Nobel­ preisträger.« Da ich nichts dergleichen zu offerieren habe, sage ich vor allem: »Ich bin kein Springinsfeld; schon vor fünfundfünfzig Jahren habe ich mich mit der Materie befaßt.« Anmerkung hierzu: Altsein ist ein argumentum pro, ein Pluspunkt, natürlich nur in einem paraphilosophischen Themenkreis dieser Art. Handelte es sich um Literarisches, so wäre es ein argumentum contra; ich hätte zu sagen gehabt: »Schon als Achtzehnjähriger, also vor vier Jahren, begann ich -.« Hier aber begegne ich auch schon der zweiten Schwierigkeit. Alt - das habe ich ja nun linkerhand angebracht; aber alt und ohne

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Erfolgsbescheinigung in Form von Titeln und Orden? Dazu literatur-notorisch als ein unseriöser Mann? Das Problem lag hier natürlich in der Notorietät - erschwert noch dadurch, daß ich inzwischen meine Autobiographie veröffentlichte. Sie war ohne Hinblick auf diese kleine Schrift verfaßt, und die dort gegebenen Daten — Medizin, dann Germanistik - engten den Raum für Manöver ein. Daher: Ich warein hochbegabter junger Assistent — Bebitz selbst förderte ja offenbar meinen Plan einer akademischen Laufbahn, die nur dadurch nicht zustande kam, daß die Revolution ausbrach und ich ein berühmter Dichter wurde. Ein vorher noch nicht mitgeteiltes Intermezzo also; die Namen junger Assistenten werden nicht verzeichnet. Ob jene kleine erkenntnistheoretische Schrift (die ich damals tatsächlich ver­ faßte) auch tatsächlich bei Deuticke 1918 erschienen ist (sie erschien niemals) - das kontrolliert keiner nach. Und täte er es, so käme er streitgesprächtechnisch mit seiner Entlarvung so sehr zu spät, daß kein Mensch sich mehr um die Sache kümmerte. (Ganz abgesehen davon, daß ich ihn replizierend des liederli­ chen, wenn nicht gar böswilligen Irrtums bezichtigen würde und wer interessiert sich dann noch für seine eventuelle Duplik? Über die Techniken von Replik und Duplik - des »hic salta«, der Irrelevanz der späten Antworten - wird noch ausführlich zu sprechen sein.) Er schaut aber gar nicht nach. Die Einzelheit »Deuticke 1918« glaubt er mir - es wäre denn, er ist, sagen wir, eine Frau, mit der ich eben damals lebte und die es besser weiß; und die wüßte es erst recht besser und ließe sich mit mir nicht in diese Polemik ein. Da der/die Angesprochene aber nicht eine besserwissende Weggefährtin sein kann, segelt die Vertrauenswürdigkeit der

18 Aussage »Deuticke 1918« unter der Autorität von Bebitz - der ja nun so berühmt ist, in Fachkreisen wenigstens, daß ich über ihn nichts Näheres sagen muß. Nicht einmal, daß es ihn gar nicht gibt. Denn so ist es: Es gibt ihn nicht. Bezüglich der Aussichtslosigkeit der polemischen Position eines nachhinkenden Entlarvers siehe oben - ä propos Replik und Duplik. Der Entlarvungs-Mühe unterzöge sich nur ein mich persönlich Hassender. Deren gibt es viele - zu meinem aufrichti­ gen Kummer. Ich habe den meisten ja nichts nach meinen Maßstäben besonders Erbitterndes angetan. Aber die Zahl scholastisch-logischer Fachleute, die von Bebitz gehört haben müßten, ist erfreulich gering - im Gegensatz zu der erfreulich großen Zahl derer, die fürchten, sich eine Blöße zu geben, wenn sie Bebitz nicht kennen. Und ihrem etwa noch wachen Miß­ trauen ist dadurch ein sicherer Riegel vorgeschoben, daß es jene Spezialprobleme aus der scholastischen Küche (Barbara Bamalip und so weiter) tatsächlich gibt, ich habe mich tatsäch­ lich aufs eingehendste mit ihnen beschäftigt, einen ganzen Feriensommer lang, ich bekam in der vorletzten Gymnasial­ klasse ein Ungenügend in Logik und mußte im Herbst eine Nachprüfung machen in diesem Gegenstand. (Ich habe es nie bereut. Neben der Kenntnis der Kleinen Propheten und der Namen einiger wenig gelesener Spät-Taoisten hat mir die Kenntnis der scholastischen Schlußfiguren unschätzbare Dienste geleistet. Ich empfehle die Akquisition von einigem Kleingedruckten dieser Art jedem Teilhaber dieses Seminars.) Soviel über jene paar Einleitungsseiten der captatio, wenn nicht benevolentiae so doch auctoritatis, als Voraussetzung für den folgenden Schulungskurs. Nur noch etwas über den allerersten

19 Satz: »Ach, das wird langweilig werden.« Ist mein mir ja nicht bekanntes Publikum jener imaginäre Professor, so ist der Satz falsch: Er wird den Professor mit Unlust erfüllen, eine captatio malevolentiae - der Mann will es langweilig, er liest zwar weiter, aber er traut mir nicht. Trotzdem macht sich das Gambit bezahlt, denn selbst unter theoretisch angenommenen deutschen Leserschaften befinden sich die durch diesen Einleitungssatz mißtrauisch gemachten Professoren in der Minorität. Was ich ihnen opfere, ist mehr als aufgewogen dadurch, daß die Majori­ tät der Nichtprofessoren ohne diesen Satz nach fünf Zeilen einfach deshalb nicht weiterlese, weil sie dächte: »Ach, wieder mal sowas Hochgestochenes - das interessiert mich nicht.« Bei dieser Majorität schafft der Anfangs-Privatseufzer dem Autor für zehn, ja für zwanzig Zeilen einen Weiterlese-Kreditund liest er einmal zwanzig Zeilen, so geht meine größenwahn­ sinnige Annahme dahin: dann liest er auch weiter. Soviel also zum Initial-Gambit. Und nun zur Sache selbst.

Zunächst: es kann sich für uns nicht darum handeln, recht zu behalten mit der Aussage »2X2 = 4«. Recht zu behalten, wo man tatsächlich recht hat, ist nicht ein polemisches Problem, sondern ein pädagogisches. Dem Polemiker mag es zwar aus­ nahmsweise unterlaufen, sich unter allerlei möglichen Situatio­ nen gelegentlich auch einmal in der Situation »2X2 = 4« zu finden, aber er wird gut tun, sich dadurch nicht beirren zu lassen; er ändere nicht seine Gangart, er lasse sich nicht in die Niederungen des bloßen Recht/zabens hinunterlocken, wo es

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doch um das Rechtbehalten geht. Selbst 2x2 = 4 beweise er so, als bewiese er: 2 X 2 = 5. »Nachweis, daß zweimal zwei fünf ist«, wäre ein alternativer Titel für unsere Untersuchungen.

Hier bietet sich zum erstenmal die Möglichkeit zur Entwicklung eines Systems. Geht es uns ausdrücklich nicht um das, was man auf eine etwas billige Weise »die Wahrheit« nennt, so geht es ja wohl um die Kunde (oder die Kunst) des erfolgreichen Brücken­ schlagens vom Ich zum Du, um die Wege des Sichbehauptens um jeden Preis - wobei die bloß rechthabend hierfür ange­ wendeten Mittel nicht die der rohen Gewalt sind, sondern - ja: was? Geistige? »Moralische«, was immer das sein mag? Sicherlich handelt es sich um die Erzielung eines uns als überaus »moralisch« erscheinenden Resultats. Das ist eine Vorausset­ zung für die erfolgreiche Durchführung unserer Aktion. Unser erster Schritt muß der sein, uns selbst davon zu überzeugen, daß - nein, nicht daß 2X2 fünf ist, sondern daß es zwingende Gründe dafür gibt - Gründe, deren Zwangs-Charakter für uns eine Moral schafft -, der von uns als falsch durchschauten Aussage 2X2 = 5 zum Sieg zu verhelfen. Wer 2X2 = 4 sagt, ist guten Glaubens; wer für den Sieg der Aussage 2X2 = 5 kämpft, wird nur wirklich erfolgreich sein, wenn er sich vor allem den guten Glauben schafft, daß gegenüber der Wichtigkeit des von ihm zu erreichenden Ziels die kleine mathematische Falschheit, »la petite difference«, zu einem Nichts zusammenschrumpft. Er hat sich eine künstliche bona fides angeschafft, die, weil sie für einen höheren moralischen

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Zweck errungen ist, der bloß »echten« bona fides des 2x2 = 4Sagers ungemein überlegen ist. Das klingt abstrakt; aber mit der praktischen Anwendung ist unsere Welt vollgesogen wie ein nasser Schwamm. Der Autor eines miserablen Romans ist restlos guten Glaubens, er sei nur verrissen worden, weil er ein Jude, ein Ex-Nazi, ein Kommunist, ein Konservativer ist. Die kleine Schauspielerin ist vollkommen bona fide in ihrer Aussage, man lasse sie die Eliza Doolittle nur nicht spielen, weil sie sich dem Direktor nicht hingegeben habe und/oder die Frau Direktor gegen sie intrigiere. Selbst der große Schauspieler Fritz Kortner, mein Freund, sah in jedem Verriß aus tiefster Überzeugung einen antisemitischen Akt. Dieses Zurechtrücken des lädierten Selbstbewußtseins aber ist ein lebenswichtiger Prozeß; kannst du einmal deine illusionisti­ sche Vorstellung von dir selbst, deine »Lebenslüge«, nicht mehr reparieren, so bist du krank - ein Selbstmordkandidat, minde­ stens ein sicherer Melancholiker. »Erkenne dich selbst« ist die lebensfeindlichste aller Maximen und angemessen höchstens dem, der jenseits des Lebens steht; machst du sie zu deinem Leitspruch, bist du entweder ein Weiser oder tot. Aber bis dahin? Wohin käme ich bis dahin ohne die anrüchige Überzeugung, die höchst zweifelhaften Sätze, die ich hier niederschreibe, seien wichtig, aufhebenswert, eine Botschaft an weiß Gott wen? Und wie wäre es gar um mich bestellt, hätte ich nicht felsenfest, wenn auch sehr im geheimen, ein Leben lang geglaubt, gewisse Dinge besser vollziehen zu können als jeder andere - zum Beispiel im Bezirk des Erotischen? Wie viele Geistige, die nicht stolzer wären auf die Leistungen jenes fatalen Organs als auf ihre ganze Geistigkeit? Lächerlich? Gewiß, lächerlich. So lächerlich ist nun einmal unsere Existenz.

22 Größenwahn also; ein absurdes Wort. Als wäre nicht jeder, der seinen Größenwahn nicht durch erbitterte Schlachten bewahren und anstandslos reparieren kann, ein trauriger Geselle, der ganz bestimmt vor die Hunde geht. Es lebe der gute Glaube, und das heißt: Es lebe der Wahn. Wobei die einzige Gefahr darin liegt, daß es konkurrierende gute Glauben gibt. Die uns von den professionellen Werbefachleuten eingegebenen sind verhältnismäßig harmlos. Ob ich beim Rauchen dieser Zigarette glaube, den Duft der großen Welt zu atmen, oder bei jener, ihr Filter gebe einen besseren Schutz gegen Lungenkrebs, ist ohne Wich­ tigkeit (und für uns nur interessant wegen der offenbar unter diesen Fachleuten grassierenden bona fides, sie »würben« nicht, sie böten nichts als die lautere Wahrheit an). Verhältnismäßig harmlos also. Aber wie steht es mit den konkurrierenden guten Glauben des Mannes im Ural, der die Welt vor dem Kapitalismus, des Manns im amerikanischen Mittleren Westen, der die Welt vor dem Kommunismus erretten will? Es handelt sich um dieselbe Welt; und für jeden der beiden ist es so klar wie zwei mal zwei vier ist, daß er eine »Mission« erfüllt; daß er ein Kreuzritter und der andere Mann ein Trottel, ein Sklave oder ein Schurke ist; kurzum, daß er selbst nicht einfach recht hat, sondern ein Monopol darauf besitzt, recht zu haben. Wobei alle andern hohen Menschheitsideale wie Ehre, Freiheit, Friedensliebe, Treue, Wahrheit sozusagen als Zuwaage exklusiv und monopolistisch auf seiner Seite sind. Woraus sich ergibt: Die bona fides ist das Erbübel unseres Planeten. Die bona fides ist die Grundlage aller Kriege. Einen Mann bona fide kann man nicht dazu bringen, daß er seine Stellung räumt; er wird »siegen oder fallen« - auch das eine seiner monopolistischen Tugenden.

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Im Gegensatz zum Mann ohne guten Glauben! Ihn kannst du kaufen. Ihn kannst du davon überzeugen, daß das Ziel hinter seiner von dir und ihm als falsch durchschauten Aussage 2x2 = 5 für ihn nicht lebensnotwendig ist und daß er es zu seinem Vorteil gegen ein anderes tauschen kann. Du kannst mit ihm reden - er läßt mit sich reden. Ein »Schurke«? Dann lobe ich mir die Schurken. Sie sind das Salz der Erde. Ohne sie wären wir längst verreckt.

Womit wir, auf einem Umweg, wieder bei unserem Leitfaden fürs erfolgreiche 2X2 = 5-Sagen angelangt sind; nun haben wir dafür sogar schon einen weltanschaulichen Hintergrund. 2 X 2 = 5 zu sagen, ist nicht nur statthaft - es ist die Essenz des Lebens, also ein moralischer Akt. (Was, am Rande, wieder einmal ein Beispiel ist für eine jener Beweismethoden, die es zu analysieren gilt. Aber das ist verfrüht.)

Verfrüht, weil ein Leitfaden ja doch mit dem Elementarsten beginnen muß. Für die Unterstufe gibt es keine Theorie der Eristik. Hier handelt es sich um die tägliche Praxis, um die drei, vier kleinen Verstellungen, die für den Mann auf der Straße zum täglichen Instrument des Umgangs mit dem andern Mann auf der Straße geworden sind. Derlei vollzieht sich natürlich nicht in

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Streitgesprächen, sondern wortkarg, wenn nicht überhaupt stumm. Wieder scheidet der Mann aus, der sich ein Bahnbillet erster Klasse kauft, um dann in der ersten Klasse zu sitzen. Der sich eins für die zweite Klasse kauft und dann in der ersten fährt das ist unser Mann. Daß er es für einen hohem Zweck tut, wenn er in dieser schlichten Situation 2x2, alle fünfe grade sein läßt, versteht sich von selbst. Warum hat der Staat, dem letzten Endes doch auch die Bahn gehört, ihn auch nur einen armselig bezahlten Postrat werden lassen, während ihm nach Recht und Billigkeit die viel höher dotierte Würde eines Oberpostrats gebührte? Da hat ihn der Staat übers Ohr gehauen! Ganz abgesehen davon, daß er das Ziel seiner Reise voll ausgeruht erreichen muß, so ausgeruht wie das nur die erste Klasse vermittelt, um später erfolgreich bei Babettchens Schuldirektor Babettchens Versetzung in die höhere Klasse durchsetzen zu können - wozu er durch jenes dem Vater Babettchens auf dem Sterbebette gegebene Obhut-Versprechen moralisch verpflich­ tet ist. Und zu seinen moralischen Verpflichtungen steht er nun einmal voll und ganz und durch dick und dünn! Man sieht, unser Mann sagt 2 X 2 = 5 zu einem höheren Zwecke - er ist moralisch gesund. Beschlösse ich, diesen Kursus englisch zu schreiben (doch schaue man mir hier auf die Finger, es ist ein verdächtiger Satz, vielleicht kann ich es gar nicht, oder auch: daß ich es zufällig kann, macht diese Nebenbemerkung zu einer verdoppelten Protzerei, zu einem Sich-in-Szene-Setzen gegenüber dem Leser, wie es ja allerdings - das ist wieder mein eigenes moralisches Alibi - der Verfasser eines Leitfadens wie dieses hier nur zu seinem Schaden vergessen wird.) Kurzum, schriebe ich englisch, so hieße dieser Abschnitt über die

25 wortkarg-kurzschlüssige Erringung kleinen Vorteils im täglichen Leben etwa »How to be a cad«, also etwa »Wege zum erfolgreichen Schummeln im Alltag«, doch bleibt das im Grunde unübersetzbar in eine Sprache, in der das Gegenteil selbst, also »Fairness«, ein Fremdwort ist. Glücklicherweise läßt sich gerade dieser Teil des Elementarun­ terrichtes ohne Schaden überspringen - so sehr sind du und ich gestern, heute und morgen gewiegte Praktiker. Wir alle verbrin­ gen einen großen Teil unseres wachen Lebens damit, womöglich für die Zweite zu zahlen und in der Ersten zu sitzen - oder englisch: to be a cad. Wie erfolgreich wir uns darum bemühen, hängt ab, erstens, von der Intaktheit unserer »Moral«, also unseres ehernen Festhaltens an der Vorspiegelung, wir seien nicht wir selbst, sondern jemand anderer (unser Über-Ich etwa, doch führt das zu weitab), und zweitens von unserer Wachsam­ keit im Abschätzen jeder wechselnden Situation - daraufhin, welche unserer Verstellungen die für Zeit und Ort geeignetste ist.

Ein Beispiel zu eins - das ich verschleiere, weil es zu sehr in meine Privatsphäre eingreift. Ich habe wegzufahren, um jeden Preis. Das Mitnehmen auch nur des kleinsten Gepäckstückes würde auffallen und kommt nicht in Betracht. Ich komme zum Bahnhof - es ist ein Vorortbahnhof, der Hauptbahnhof, acht Kilometer entfernt, funktioniert nicht mehr - und finde vor dem Gebäude auf dem Gehsteig eine Schlange von fünf- oder sechshundert Menschen, mit Handkoffern und Bündeln, sie

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stehen und warten da offenbar schon seit Stunden. Am Kopf der Kolonne steht ein einzelner Polizist, der sie nicht in den Vorraum des kleinen Bahnhofs läßt. Dieser Vorraum ist men­ schenleer. Hinter dem einzigen Fahrkartenschalter sitzt ein Kerl und liest die Zeitung. Auf dem versperrten Bahnsteig kein Mensch. Ein Zug steht dort, leer. Ich hatte die Wahl, mich hinter den sechshundert anzustellen und mit ihnen zu warten (mit einem recht eindeutigen Ergebnis in meinem Fall) - oder mich nach vorne und in den Zug zu manövrieren um jeden Preis. Ich ging auf der Fahrbahn die Schlange der Wartenden entlang, die die ganze Breite des Gehsteigs füllte - und dreißig Meter von dem mir entgegenstar­ renden Polizisten begann ich den Wartenden zuzurufen: »Zurücktreten! Nicht auf die Fahrbahn! Zurück!« Ich erreichte den Polizisten und sagte scharf: »Na, lassen Sie die Leute doch einen halben Meter vom Rand des Gehsteigs zurücktreten. Wenn einer von einem Auto umgefahren wird, trifft die Schuld wieder uns.« »Gewiß«, sagte er sofort. Ich: »Halt! Zwanzig hier herein in die Halle. Immer nur zwanzig und^zwanzig, sonst stürmen sie den Schalter.« »Jawohl.« Ich muß hier sagen, daß ich hochgewachsen bin und damals schon graue Haare hatte, auch hatte ich meinen einzigen guten Mantel an und einen schwarzen Hut. »Na«, sagte ich. Ich trat auf den Mann hinterm Schalter zu - er hatte mein Gespräch mit dem Polizisten mitgekriegt, er legte die Zeitung weg. Ich sagte scharf: »Sie fertigen die Leute zu zwanzig und zwanzig ab. Der Polizist ist instruiert. Verstanden?« »Jawohl.« Er sagte es zackig.

27 Ich, die Tür zu seinem Amtsbezirk öffnend: »Ich gehe bei Ihnen durch.« Da war ich schon an der zweiten Tür, zum Perron hinaus. Etwas war dem Mann nicht geheuer, ich sagte scharf: »Dreckige Scheiben. Was fällt Ihnen eigentlich ein? Das ist bis morgen zu reinigen!« »Jawohl«, sagte er. Es war alles in Ordnung. Ich, in der offenen Tür zum Perron stehend und hiedurch zum nächsten Schritt legitimiert, rief mir ein Eisenbahner, der draußen vorüberging. »Sie, Mann! Kommen Sie mit!« Er führte mich in einen der leeren Waggons, er schloß mir ein halbes Abteil auf, ich verriegelte es von innen, zwanzig Minuten später stürmten die ersten, endlich abgefertigten Flüchtlinge die Wag­ gons. Der Zug fuhr. Es waren nur vierzig Kilometer zu dem Ziel, das für mich die Freiheit bedeutete. Aber nun war es um meine Nervenkraft geschehen. Auf diesen vierzig Kilometern brach ich zusammen. Mein Glück war, daß keine Kontrolle kam. Ich war ausgebrannt. Man sieht, es geht nicht immer um die billigen Triumphe des Alltags, sondern mitunter

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Bricht hier ab - womit gesagt ist: Diese Einleitung meines ursprünglich auf zehn Bände angelegten Werkes ist so sehr Fragment geblieben wie das ganze Werk. Da plant man als junger Mensch zehn Bände einer systematischen Gebrauchsan­ weisung fürs Rechtbehalten in allen Lebenslagen, in die der Mensch nach menschlicher Voraussicht jemals geraten mag Rechtbehalten in der Politik, beim Militärdienst, gegenüber Gläubigern, Anwälten gegenüber im Prozeßfall, Männern gegenüber, vorausgesetzt man ist eine Frau, Frauen gegenüber, vorausgesetzt man ist bloß das Gegenteil - und was bleibt einem nach einem bedenklich weitgehend konsumierten Leben von all dem groß Geplanten tatsächlich in der Hand? Man sollte der Zeit den Prozeß machen wegen boshafter Sachbeschädigung. Man wollte all das schreiben - man kam nur nie dazu. Typisch für diesen Autor: Er fing am Ende an. Rechtbehalten gegenüber Frauen - das erschien ihm offenbar über weite Strecken seines Lebens am wichtigsten. Der darauf bezügliche Abschnitt ist darum der verhältnismäßig kompletteste, publizierbarste.

Und das, obwohl gleich die erste Seite irgendwie in Verlust geraten ist. Auf der zweiten geht es so weiter:

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Zwei

31 Es soll einmal einen Weinhändler gegeben haben, der seine Söhne um sein Sterbebett versammelte, um ihnen das tiefste und letzte Geheimnis anzuvertrauen. Es lautete: »Man kann Wein auch aus Trauben machen.« Angewandt auf unsern Fall: Es kann, theoretisch wenigstens, auch heute noch geschehen, daß ein Romeo eine Julia auf ihres Daches Zinnen stehen sieht - und hoppla. Coup de foudre. Wein aus Trauben. 2X2 = 4. Genau das aber klammern wir hier aus.

Und zweitens. Aus dem Abschnitt 2 A des Vierten Hauptstükkes (»Kurze Anleitung für Frauen zum Rechtbehalten im Umgang mit Männern«) hat sich für den aufmerksamen Leser zwischen den Zeilen schon ergeben, was hier unsere Hauptthese ist: Die mitunter gedankenlos wiederholte Behauptung, als lebte die Menschheit seit ein paar tausend Jahren nicht mehr in einer matriarchalischen Periode, sondern in einem Patriarchat, ist nicht einfach irrig, sondern das Ergebnis einer von interessierter Seite betriebenen Täuschung. Immer noch führt eine gerade Linie von den Matriarchaten in Polynesien und Zentralafrika zu unserem abendländischen Zustand. Eine hochentwickelte Frau­ enherrschaft hat bei uns ihren Sklaven oder Hintersassen männlichen Geschlechts das Selbst- und Lebensbewußtsein emporgezwirbelt und ihnen die Illusion vermittelt, als stünden sie nun am Steuer. In Wirklichkeit haben die Matriarchinnen nicht einen Zollbreit des tatsächlichen Machtverhältnisses preis­ gegeben.

32 Man lasse sich in der Erkenntnis dieses Sachverhaltes nicht beirren durch Tarnungen - durch die Tatsache etwa, daß die für Frauenherrschafts-Perioden typische Aufputzung des Männ­ chens - das Männchen in voller Federnpracht - nahezu völlig ausgemerzt oder doch auf spärliche, intellektuell jedenfalls abzuschreibende Typen beschränkt worden ist: Offiziere, Bun­ despräsidenten, Schuhplattler, Oberbürgermeister, Kulörstudenten, Playboys und Hippies. All diese Typen sind hier zu ignorierende Ausnahmen. Die große Masse der Männer ist längst der Illusion erlegen, sie seien, erstens, die Herrschenden, und deshalb, zweitens, »berechtigt« zur Unscheinbarkeit des Exterieurs. (»Ein Mann darf häßlich sein.«) Weshalb es ihnen, drittens, obliege, das Federnschmuck-Prärogativ auf die vorgeb­ lich Beherrschten zu übertragen - die es demnach verstanden haben, die Vorteile beider Welten auf sich zu vereinigen: Macht und Federnschmuck. Was zu beweisen war.

Die Taktik des Umganges mit Frauen ergibt sich aus dieser Situation des Mannes als eines düpierten Hintersassen, der in der Illusion lebt, er sitze vorn. Die Direkt- und Primitiv-Aktion intellektuell minderbemittelter Herrschernaturen wird aus­ nahmsweise von Masochistinnen, häufiger von raffinements­ überdrüssigen Weltdamen arrangiert und provoziert - ein Ner­ venkitzel, ähnlich dem jener vornehmen Neapolitanerinnen, die zum Winzerfest in die Campagna fahren, um sich unbewegten Gesichts im lokalen Dialekt von verdreckt athletischen Wein­ bauer-Männchen obszöne Sexualwünsche zurufen zu lassen.

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Daß eine findige Neapolitaner Bordellbesitzerin den alten Brauch zu einem blühenden Geschäft ummünzte, indem sie gutsituierte Touristinnen gegen ein hohes Honorar in diese hocharistokratischen Damenpartys einschmuggelte, war zur Zeit, als ich auf Capri lebte, vielen bekannt. Meiner Freund­ schaft mit dem dort ansässigen Päderasten K., einem genauen Kenner des Milieus, verdankte ich die zusätzliche diskrete Information, daß die echten Aristokratinnen bald absprangen und zwecks ungestörter Weiterführung des Geschäftes von der Entrepreneuse durch Insassinnen ihres Etablissements ersetzt wurden - klaglos, ihre geradezu über-aristokratische Vornehm­ heit wurde von den hochbefriedigten Ausländerinnen stets gelobt. Bis einer jener wortgewaltigen Winzer in einer vorgebli­ chen Contessa die Dame identifizierte, mit der er am Abend zuvor auf kommerzieller Basis zu tun gehabt hatte. Dies spielte sich glücklicherweise im neapolitanischen Dialekte ab, die anwesenden Fremdinnen fanden es alles ländlich-erre­ gend und begriffen durchaus nichts. Aber da die Winzer von nun an ihren Anteil am Fremdenverkehr verlangten, ihre Forderun­ gen an die Veranstalterin erpresserisch steigernd, fand diese es schließlich ökonomischer, von nun an als Gegenstück zu den falschen Contessas auch falsche Winzer zu verwenden: Ihr Wort-Unflat war wohltrainiert und ermangelte auch nicht der Übersetzungen ins Deutsche beziehungsweise Anglo-Amerikanische. Das hielt sich so etwa bis zu der Zeit, als ich Capri verließ. Damals war das Geschäft zugleich bedroht und prosperierend: Die Bordellbesitzerin hatte sich einen jungen und auf eine unsolide Weise geldgierigen Boyfriend zugelegt, der die Anheuerung vorgeblicher Winzer als eine unnötige Verschwen-

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düng betrachtete, ln Zusammenarbeit mit dem Neapolitani­ schen Vertreter eines sehr bekannten deutschen Reiseunterneh­ mens ließ er sich dazu hinreißen, allerdings vorläufig noch sorgfältig gesiebte zahlungskräftige Ferienreisende unter die wort-exhibitionistischen Winzer einzuschleusen. Dies führte zur Katastrophe, als eine vorgebliche Contessa beim Anblick eines, zugegeben, ein wenig glatzköpfigen, jedoch besonders unfläti­ gen Winzers mit dem Ausruf »Arthur!!« ohnmächtig zusam­ menbrach. Sie war seine Tante, eine Strickwarengeschäftsinha­ berin aus Bückeburg. So wird an allen Ecken und Enden altes Brauchtum durch hemmungslosen Geschäftssinn heruntergewirtschaftet und das diagnostische Bild des getarnten Matriarchats verwirrt - aber der Grundtypus bleibt. Bei der einzigen Gelegenheit, da ich selbst - ich gestehe es! - mich damals zu Forschungszwecken, wenn auch voll inner­ lichen Abscheus, als Winzer verstellte, hörte ich eine junge Contessa sich einer anderen anvertrauen: »I want my sex straight!« Es war dieselbe, die einem Manne meines Bekanntenkreises seine wahrhaft tiefgefühlte Erklärung seiner erotisch hochinter­ essanten und zugleich feingeistigen Emotionen (ich kenne den Wortlaut!) mit der mit vornehmer, jedoch sachlicher Stimme vor­ gebrachten Replik unterbrach: »Oh, well, you just want to fuck me« - eine Äußerung, deren Übersetzung in deutschen Klartext ich mir versage. (Daß diese Versuchsperson identisch gewesen sei mit jener anderen Angehörigen des englischen Adels, die nach abendlicher Konsumation eines Ausländers den Wiedererkennungsversuch desselben am nächsten Morgen in seine Schranken wies mit

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den Worten »sexual intercourse is no means of social intro­ duction« - das ist nicht erwiesen.)

Zurück zu unseren Untersuchungen. »I want my sex straight!« Alle anderen hier zu betrachtenden Typen von Matriarchinnen »don't want their sex straight«. Der Umgang mit diesen ist unser Thema. Und das ist der Augenblick, den Begriff einzuführen, ohne den die Erörterung des erfolgreichen Umganges gar nicht denkbar ist. Der Begriff stammt aus dem Schachspiel und heißt »Gambit«. Was ist ein Gambit? Auch im Schachspiel gibt es geradlinige Charaktere, die das Spiel zu gewinnen hoffen, indem sie vom ersten Zug gradaus aufs Ganze gehn. Ihre Chance gegenüber dem erfahrenen Partner, der erfahrenen Partnerin ist so groß wie die Chance des Stiers, der vor seinem Metzger (oder, gut, vor seinem Torero) steht. Ein Gambit hingegen ist eine Spieleröffnung, bei der der Eröffnende zunächst planvoll ein Opfer bringt, das, einmal angenommen, dem Gegenüber sozusagen im Halse stecken bleibt und ihn/sie das Endspiel verlieren läßt. Eine vergiftete Vorgabe, ein Danaergeschenk, mit einem Wort. Die mit einem Geschenk dieser Art Bedachte - wie kann sie reagieren? Ihre Möglichkeiten werden gut illustriert durch das ja erst kürzlich vor allem von italienischen Germanisten (Pittori, Mailand, und seine Schule) geklärte Verhalten Goethes anläß­ lich seiner »Flucht vor Banditen« ins Zimmer der Lauretta Bozzi (siehe Italienische Reise sowie das die dortige Darstellung

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in verschlüsselter Form auf den wahren Erlebnisgehalt reduzie­ rende, als »grob unsittlich« in die Gesamtausgaben nicht aufge­ nommene Gedicht in den Elegien. Laut Pittori war Goethe, als er zu der Jungfrau Bozzi über jene Hühnertreppe ins mitter­ nächtliche Zimmer stieg, keineswegs auf der »Flucht vor Bandi­ ten«. Der Ausruf, mit dem er die Bozzi geweckt haben will »Verbergen Sie mich, man hat mich mit dem Dolche bedroht« war demnach die Vorschützung einer Schutzbedürftigkeit - »nur Sie können mich retten - schnell!« Das ist ein Gambit. Der so mit einem Hilflosen, einem offensichtlich zur Unterord­ nung Bereiten, einem (wer weiß?) potentiellen Sklaven Be­ schenkten stehen drei Wege offen. Ist sie von schüchtern Gemüt, so nimmt sie die vorgebliche Bedrängnis für bare Münze - und verliert die Partie. (»Rasch, verbergen Sie sich unter den Federbetten auf meinem Lager, ich rücke ein wenig zur Seite« - und hoppla.) Ist sie mißtrauisch, so ignoriert sie die Offerte - ein »abgelehn­ tes Gambit« -, was zu einer ungemein öden Partie führt, die man am besten nicht weiterspielt. (Etwa: »Banditen? Sie finden die Polizeiwache gleich nebenan - adieu, mein Herr!«) Aber die wirklich erfahrene Spielerin, Version drei, steckt den offerierten Vorteil ein, sie akzeptiert das Gambit sehenden Auges (gerade im Fall der Jungfrau Bozzi: »rasch - Federbetten - ich rücke«) - sie akzeptiert also das Gambit, sie schluckt den Köder, jedoch mit dem Hintergedanken, der Hinter-Hoffnung, es werde ihr gelingen, im Mittelspiel mit Hilfe schon vorauser­ wogener Gegenzüge aus dem Zwangsablauf des Geschehens auszubrechen und doch noch zu gewinnen. (Im Fall der Bozzi, J. W. Goethen gegenüber: » . . . ich rücke ein wenig zur Seite, vorher jedoch will ich mich ein wenig erfrischen, in einer Minute

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bin ich wieder bei Ihnen.« - Welche Minute sie aber keineswegs, wie bei Pittori nachgelesen werden kann - »La Bozzi di Goethe«, Feltrinelli, Mailand 1968, Seite 137 ff. -, keineswegs also zu Erfrischungszwecken verwendete, sondern um ihren zufällig im Hause anwesenden Onkel, Professore Amedeo Bozzi, von dem Vorfall zu verständigen. Daß dieser, obgleich Paedagogus Fidei, welcher Titel dem deutschen Oberstudienrat entspricht, sich darauf einließ, der zu ihren Federbetten zurückkehrenden Jungfrau Lauretta B. einen Vorsprung von vollen zwei Stunden zu belassen, ehe er jenes »zufällige« Flagranti hochgehen ließ, von dem Goethe spricht, unterbaut an sich schon Pittoris Vermutung, daß dieses Flagranti eben nicht zufällig, sondern zwischen dem Oberstudienrat und der Jungfrau B. abgekartet gewesen sei. Er wollte vollendete Tatsachen geschaffen sehen. Laut Kirchenregister war die Jungfrau zwar tatsächlich eine solche, aber nicht, wie Goethe flunkert, »just sechzehn Lenze alt«, sondern volle vierunddrei­ ßig, also nach dem damaligen, noch unverbildet natürlichen Zeitgeschmack eine Matrone, die, selbst wenn wohlerhalten, auf normalem Wege nicht mehr an den Mann zu bringen war. Man kennt das Weitere. Der Eindringling, im Bett der Nichte ertappt, konnte dem Flagrantisten seine Identität nicht verber­ gen, und Oberstudienrat Bozzi war ein Kenner zeitgenössischer Literatur. Goethe - den er zwar mit Schiller verwechselte, doch tut das, wie Pittori mit vollem Recht bemerkt, durchaus nichts zur Sache - war für ihn ein berühmter Mann. Der Forderung, die Entehrte durch eine sofort zu arrangierende Heirat wieder ehrlich zu machen, zu »re-honorieren«, wie Bozzi es in einem Briefe ausdrückte, setzte der geistesgegenwärtige Italienrei­ sende entgegen, er sei schon vermählt, mit einem Fräulein

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Clementine von Beyerlein, die er kurz zuvor in Rom getroffen habe. Worauf der die Familieninteressen ebenso schlagfertig vertretende Paedagogus Fidei von Goethe jene Stellung einer Mitgift für seine wertverminderte Nichte verlangte. Dies war, laut Pittori, der Hintergrund der finanziellen Intervention der Frau von Stein (»aus meiner privaten Schatulle«, was ihr Gatte bis zu seinem Ende bestritt) - und von Goethes »Undank« ihr gegenüber, der die literarhistorisch lang umrätselte Entfrem­ dung der beiden zur Folge hatte. Sie hatte einfach den amourösen Italienfahrer bei der Bozzi ausgelöst!

Man sieht: Das angenommene Gambit mit dem Hintergedan­ ken, die Zeche schließlich doch nicht bezahlen zu müssen, ist sogar in scheinbar komplizierten Fällen wie dem eben analysier­ ten die Grundformel des getarnten Matriarchats - also unserer modernen erotischen Lebensform. (Aber Formeln dieser Art sind immer bestechende Vereinfachungen auf Kosten der Semantik. Was »verlor« die Bozzi dadurch, daß sie ihre Virginität verlor? Sie gewann auf der ganzen Linie! Was »gewann« Goethe - der sich überdies noch irritierenderweise mit Schiller verwechselt sah? Die einzig Verlierende war Herr von Stein! Schließlich: »modern« - was heißt da schon, semantisch, das Wort »modern?«) Dabei ist diese Form der femininen Reaktion im wesentlichen schon behandelt worden, in Abschnitt 2 A - ich verweise auf die dort unter der Spitzmarke »Gegenleistungs-Verweigerung« gruppierten Beispiele, von dem nur auf kürzeste Fristen wirk­

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samen: »Nicht jetzt - ha, Schritte - das ist mein Mann!« bis zu dem »Auch ich liebe dich, aber um seine auseinanderfallende Ehe mit mir noch zu retten, hat mein Mann mich zur Mutterwerdung gedemütigt, die erst in sechs Monaten vorüber sein wird, und derlei ist mir heilig, so bin ich nun mal - also, brechenden Herzens: bis dahin ade!« (Welches Halbjahr natürlich dann auch bei Bedarf elastisch verkürzt werden kann. Siehe auch unter »Falsche Schwangerschaft«.) Für spätere Überlegungen im Gedächtnis zu behalten ist hieraus lediglich der Begriff »heilig«, wie etwa in den zum Schluß dieses Abschnittes zu behandelnden Endspiel-Varianten, zum Beispiel »So reiße ich mich denn von dir los - denn dazu bist du mir zu heilig«, mit schnellstmriglichem Abgang, um dem hier meist unausbleiblichen Offert einer Heiligkeits-Opferung zuvorzu­ kommen. (Bezüglich anderer Verwendungsmöglichkeiten von Heiligkeit siehe Hauptstück Drei der Dialektik, Abteilung Politik unter »Heilige Mindestforderungen«, sowie »Unsere Heiligsten Güter/ in den Schmutz zerren von -«.) Doch kann ich das Heiligkeits-Motiv nicht einmal provisorisch wieder zu den Akten legen, ohne darauf hinzuweisen, daß die hier doch vor allem zuständige katholische Kirche die ihr gebotenen Auswertungsmöglichkeiten in uncharakteristischer Fahrlässigkeit nicht wirklich ausschöpft. »Heilig«, »Heilige« gewiß. Sakramentalisches - fein. Der monopolistische Griff auf Konfirmation, Eheschließung, Taufe, Letzte Ölung, Rede am offenen Grab - ausgezeichnet. Aber wie viele privateste Blu­ menbeete bleiben da unbegossen, wie viele Äckerlein von ekklesiastischer Seite unbestellt! Wie es Arbeiterpriester gibt, die sich löwenmutig unter die Sozialisten mischen, ja sogar selbst

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zu Hammer und Sichel greifen, ohne zu blinzeln, sollte es Nacktbadepriester geben! Warum warf man nach dem einzigen dokumentierten Versuch hiezu die Flinte voreilig ins Korn beziehungsweise in den Badesand von Glengillan, County Cork, Irische Republik? Der Zufall wollte es, daß ich eben damals, im Juni 1969, Gast des ehrwürdigen Priors im Jesuitenkollegium Menooth bei Dublin war - ich hätte die Umstände sonst nie erfahren, da die in jener Republik von der Kirche ausgeübte Zensur die Presse­ meldungen herabtcJnte, so weit sie sie überhaupt passieren ließ. Ich meine natürlich den Fall des Jesuitenpaters Sean O’Connery. Nach Versicherung des Priors handelte er unter Kompe­ tenzüberschreitung. Doch kann man sich bei Jesuiten auf Ver­ sicherungen dieser Art nie verlassen: Geht ein Vorstoß ins Neuland gut aus, so fällt alle Ehre dem Orden zu - geht er schief, so war’s der Husarenritt eines einzelnen. Der Husarenritt des Paters O’Connery führte ihn also, das weiß man ja, an jenen Nacktbadestrand, County Cork, der damals neuester Tip - besonders dicht von des Strandes von Kämpen überdrüssigen BRD-Deutschen besucht wurde. Die erste Hürde nahm der Pater ohne viel Schwierigkeit - auf die Vorschrift, sich auf einem Nacktbadestrand hüllenlos darzubieten, war er gefaßt, nichts Menschliches war ihm fremd. Nicht gefaßt war er, nicht vorausbedacht hatte er offenbar aber da folgt man besser der aus angegebenen Gründen sehr kargen Notiz im Londoner Daily Express vom 19. 6. 69: »NAKED PRIEST ON BEACH D. E. Auf dem Nacktbadestrand von Glangollan, C. Cork, ent­ stand gestern einige Unruhe, als ein als solches zunächst aus

41 naheliegenden Gründen nicht kenntliches Mitglied eines be­ kannten religiösen Ordens die Badenden zusammenrief, um sie zu Gebet und Einsegnung ihrer körperlichen Charakteristica ein­ zuladen. Der starke Zustrom dieser Zeremonie, vor allem seitens weiblicher Strandbesucher aus Mitteleuropa, die den Priester so dicht umdrängten, daß ihm kein Aktionsraum blieb (wörtlich: »They mobbed him out of action«), veranlaßte schließlich das Management des Nacktklubs, ihn nach Vornahme des statutari­ schen Tests vom Strande zu weisen«.

So weit Daily Express. Der »statutarische Test« war natürlich der auch an derartigen Stränden Miamis und der Provence geforderte. Ein Funktionär bedeckt dem Neuankömmling sein Intimstes mit einem Sombrero oder dergleichen, auch ein Kinderspielsandkübelchen genügt zur Not - und fällt dieses nicht zu Boden, wenn der Funktionär es losläßt, so begleitet man den Neuen diskret hinaus. Er ist nacktbadestrandlich disqualifi­ ziert. Dies das Versagen (aber kann man es ein Versagen nennen?) des P. Sean O’Connery, S. J. Aber war es, ich frage noch einmal, für seinen Orden oder gar für die Gesamtheit der katholischen Kirche ein ausreichender Grund, die fromme Versuchsreihe vorzeitig abzubrechen? Man kennt den Opfermut im Glauben Gefestigter: An Freiwilligen hätte es nicht gefehlt.

Doch heißt das abgeirrt. Zurück zur Eristik. Noch ist es früh am Tag, wir halten noch bei den Eröffnungsgambiten, populär

42 formuliert: »Wie verliere ich mit Gewinn?« Dem Studierenden werden schon in diesem frühen Stadium Bedenken aufgestiegen sein, ob es denn angehe, die ungeheure Vielfalt der Adressatin­ nen des Gambits, Große, Kleine, Junge, Alte, Schöne und Minderschöne, dazu Neandertalerinnen wie auch solche, die, aus dem Schlaf geweckt, sofort die Upanishaden von hinten nach vorn in der Originalsprache aufzusagen vermögen - ob man also all diese so ohne weiteres über einen Leisten schlagen könne. Die Antwort ist: Ja. Die Vielfalt hält dem schärferen Blick nicht stand. Wie so oft im Leben genügt dem Praktiker die schlichte Zweiteilung - es gibt erstens die Erfahrenen (eine verblüffend kleine Minorität) und zweitens die anderen. Dabei sind die Erfahrenen für diese Untersuchung wenig interessant. Sie wissen vom ersten Augenblick, was gespielt wird, sie wissen, was sie wollen, und das heißt: Entweder sie wollen, oder sie wollen nicht. Wollen sie nicht, so scheiden sie von vornherein aus; wollen sie, so haben sie mit hoher Wahr­ scheinlichkeit das Spiel voraus-arrangiert, zu einem Zeitpunkt, da Weiß (der Erst-Ziehende, euphemistisch genannt: der Mann) noch gar nicht daran dachte. Denkt er nun endlich dran, und versucht er es mit einer komplizierten Eröffnung, so nimmt das die Erfahrene nur deshalb nicht mit lautem Gelächter hin, weil sie eben erfahren ist: Ein weg-gelachtes Gambit beschließt die Partie. (Siehe unter »Anti-Aphrodisiaca«.) Und ist schon der erwachsene Mann der Erfahrenen hoffnungs­ los unterlegen - wie hoffnungslos ist erst der Versuch eines Jugendlichen, an einer erfahrenen Frau das zu vollziehen, was der Sprachgebrauch, nicht ohne ein unhörbares Hohngelächter, »erobern« nennt? Wie eine von diesen Erfahrenen - es war

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Madame de Stael - es einmal formulierte: »Aber gewiß, eine Frau, die ihre eigenen Wünsche und Begierden kennt und zu kontrollieren weiß, kann sehr wohl auch ihrem Gelüste frönen, sich gelegentlich mit einem sehr jungen Manne einzulassen. Doch ist das dann sozusagen ein Akt der Sodomie!« Ein komplizierter Gedankengang - er stehe hier zur Erhärtung der These: Die Erfahrene, so erfreulich sie sich in anderer Konstel­ lation erweisen mag, ist kein taugliches Objekt für den Anfän­ ger, dessen taktischer Weiterbildung dieser Leitfaden gewidmet ist. Doch erachtete der Referent es als leichtfertig (eine Eigen­ schaft, derer ihn nie jemand geziehen hat), wenn er Madame de Staels nächsten Satz unterschlüge, der ihre These erweitert. »- sozusagen ein Akt der Sodomie!« sagt Madame de Stael und fährt fort: »Und was für den eines wirklichen Liebesaktes gar nicht fähigen Jüngling gilt, das gilt auch für Tenöre und Schriftsteller. Auch die galanten Vereinigungen mit ihnen sind aus genau denselben Gründen Akte der Sodomie.« Daß ihre Biographen dahinter die Enttäuschung über gewisse private Erfahrungen wittern, genügt nicht, den Ausspruch zu entwerten - und das um so weniger, als die bedeutende Frau in ihren Betrachtungen zur Literatur ja auch noch in anderem Zusammenhang darauf zurückkommt. Und zwar, wo sie von der 1378 verfaßten Rahmenerzählung Pecorone des Ser Giovanni Fiorentino spricht. Die dort mitgeteilte Anekdote mit dem Titel Seine Hundertunderste, hatte der Autor seinem drei Jahre zuvor verstorbenen großen Nebenbuhler Giovanni Boccaccio gewid­ met. Es war eine zwiespältige Ovation - die Hundertunderste ist ein von Fiorentino gedichteter Anhang zu den Hundert in Boccaccios Decameron, und der Held der Geschichte ist Boccac-

44 cio selbst. (Siehe die Auswahl aus Pecorone im Kala-Verlag, Hamburg 1965.) Der Held, also der Dichter Boccaccio, macht auf Reisen in der Kleinstadt Foggia Nachtquartier. Da im Gasthof kein Zimmer zu haben ist, mietet er eines bei einem Bäcker, wobei er sich »Bernadon« nennt - er reist in diplomatischem Auftrag, inko­ gnito. Die Frau des Bäckers hat es ihm angetan - und nun das Zitat:

»Da konnte sich Herr Boccaccio nicht enthalten, ihr manches Lob über ihre Schlagfertigkeit und Jugendfrische zu sagen, und als sie darob unter heiterem Lachen ihre Verrichtungen sein ließ und sich zu ihm auf die Bank setzte, gab ein Wort das andere, bis schließlich der würdige und gelehrte Herr zuerst sich selbst und bald auch dem jungen Weibe bewußt und bekannt gemacht hatte, daß sie ihm ganz außerordentlich und über alle Maßen gefiele. Das hörte sie nicht ungern, doch als darob die Zwiespra­ che leiser ward und er mit bittendem Ton und zärtlichem Blick zu verstehen gab, was er von ihr wollte, da holte sie sich zurück aus ihrer Befangenheit, lachte hell auf und sagte nein und rückte zur Seite. Der Herr, der die Welt wohl kannte und sich überdies seiner eigenen Unansehnlichkeit - er war damals über die Fünfzig hinaus - in seltener Klarheit bewußt war, sah schließlich kein anderes Mittel, sich bei der Frau in Geltung zu setzen, und so sagte er ihr nach gebührlicher Vorbereitung, er sei der berühmte Boccaccio aus Florenz. Nun lachte Vannetta noch mehr, denn sie hatte den Fremden als

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einen Herrn Bernadon ins Haus genommen, und da Boccaccios Paß zum Unglück auf dem Stadtamte- lag und er, sich ihr zu erweisen, nur ein Buch mit seinen ruhmreichen >Hundert Geschichtem aus dem Gepäck hervorholen konnte, hielt sie den Gast nun vollends für einen Schalk und sagte: >Solch ein Buch beschafft man sich leicht. Seid Ihr aber wirklich der, der es geschrieben hat, und sind das Eure ,Hundert Geschichten1, so geht auf Eure Kammer und schreibt eine hundertunderste. Bringt Ihr mir die um zwei Uhr nach Mitternacht in mein Zimmer hinüber, so trefft Ihr meinen Mann nicht mehr an, denn der steht eine Stunde eher auf und geht an die Arbeit. Dann also will ich Euch Bescheid geben.< Und sie lachte ihm zu. Sie war aber nicht wenig verwundert und fast erschrocken, als er auf ihren scherzhaften Vorschlag ohne Zögern und allsogleich einging. Denn in Wahrheit stand ihr der Sinn nur wenig nach dergleichen Abenteuer, und sie hatte gedacht, sich den Fremden durch ihre Rede in schicklicher Weise vom Halse zu schaffen. Doch Boccaccio achtete nicht auf ihre Verwirrung, bekräftigte eifrig und in Freuden die getane Verabredung, holte sein Schreibzeug hervor und stieg zu seiner Kammer hinauf. Und indes Vannetta nur mit halben Gedanken und in seltener Lässigkeit ihre abendlichen Anordnungen traf, indes sie scheu und schlechten Gewissens dem heimgekehrten Gatten das Vesperbrot richtete, indes sie sich still entkleidete und neben Calandrino wachend, pochenden Herzens, doch mit geschlosse­ nen Augen und scheinbar tief schlafend im Bette lag - lief der Dichter Johann Boccaccio drüben in seiner Stube auf und nieder, hatte Papiere auf seinen Tisch gebreitet, schrieb, zögerte, dachte, lächelte, schrieb und war von seinen Gestalten besessen.

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Es war darüber zwei Uhr nach Mitternacht geworden und drei Uhr, da hatte der Florentiner seine Geschichte beendet. Er las sie noch einmal, faltete die Blätter, schob sie in seine Tasche und schlich zu Vannettens Zimmer hinüber. Die hatte die Nacht durchwacht und hatte vor den Augen die sieben Jahre gehabt, die sie nun an ihres Gatten Seite hin­ brachte, eine friedvolle und ruhige Zeit, nicht ohne stilles Glück und dennoch allzu eintönig und nüchtern zwischen täglich gleiche Verrichtung gespannt. Als Calandrino, ihr Mann, eine Stunde nach Mitternacht von ihrer Seite sich aufhob, als er sich zu ihr niederbeugte und sie küßte auf ihre Stirne, fürchtete sie, es könnte das schwere Pochen des Herzens ihm ihr Wachen verraten. Da er behutsam, sie nicht zu wecken, gegangen war, glitt sie aus dem Bett und verriegelte hinter ihm sorgfältig die Tür. Dann aber lag sie wieder wach und dachte der gütigen Augen und warmen Stimme des vornehmen Herrn, der sie so unentwegt und unbeirrbar umwarb - sie sah den Widerschein des Lichtes in seiner Kam­ mer -, dachte der hinströmenden Zeit und ihrer zerflatternden Jugend, und sehr langsam erhob sie sich wieder, schlug Licht, trat nackt vor den Spiegel und schaute lange in ihr blasses Gesicht. Sie schob den Riegel von der Türe zurück, löschte die Leuchte aus, glitt in ihr Bett und wartete. Dann endlich kamen seine Schritte den Flur entlang, die Klinke ging nieder und er trat ein in den nachtdunklen Raum. >Bist du es?< fragte sie leise, und ihre Stimme zitterte sehr. >Ich bin esund ich habe dir deine Geschichte gebrachte >Laß die Geschichte^ erwiderte sie, daß die Geschichte, ich glaube dir. Komm. Ich habe gewartet auf dich. - Komme sagte sie nochmals, und ihre Stimme zitterte sehr.

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Johann Boccaccio aber, der Dichter, holte Stein und Schwamm aus der Tasche hervor, schlug Licht und setzte sich an den Rand des Bettes und nahm seine Blätter und las die Hundertunderste Geschichte aus dem Decameron.«

Was nun bei Giovanni Fiorentino folgt, ist die vorgebliche Hundertunderste in der bekannten Manier des Boccaccio. Sie kann in der Ausgabe des Kala-Verlages nachgelesen werden. So interessant diese verstaubten Unzüchtigkeiten dem Verleger teurer Drucke erscheinen mögen, so uninteressant sind sie in dem hier aktuellen Zusammenhang. Der »Boccaccio« der Novelle liest also seine Geschichte - und hier das Ende:

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»Er las mit geschulter Stimme und in kunstvoller Steigerung, und als er damit zu Ende gekommen war, lag Vannetta noch immer still auf ihrem Lager und schaute ihn an. Er begann, ihr die Feinheit dieser und jener Wendung ausführlich auseinander­ zulegen, er schilderte ihr mit viel Heiterkeit, wie ihn Pfaff und Altgesell vergangenen Abends zu der Erfindung geführt hatten und wie ihr Tun und Wesen planvoll sich dem Gang der Erzählung verspann. Und es mochte wohl eine Stunde vergan­ gen sein, bis er in seinem Eifer gewahr ward, daß sie noch immer still lag, ohne auf ihn zu hören, ohne Wort und mit einem Blick, der ganz in die eigene Seele gerichtet schien. Auf ihrem blassen Gesicht lag noch der Widerschein einer süßen Schmerzlichkeit und schon der Abglanz neuer Herbheit und Selbstzucht. Da besann sich Boccaccio des verwirkten nächtlichen Aben­ teuers. Lächelnd strich er ihr mit behutsamer Hand das Haar aus der Stirn. >Es ist Morgen geworden^ sagte sie leise. Noch gleichen Vormittags bekam er seinen Paß vom Stadthaus zurück und reiste weiter.«

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Worauf Mme. de Staël hinauswollte, ist damit klar. »- das gilt auch für Tenöre und Schriftsteller« ist, soweit es ein Hinweis auf die durch narzißtische Selbst-Beschäftigtheit reduzierte echte Partnerschafts-Bereitschaft dieser Typen sein sollte, zum minde­ sten diskutierbar. Aber diese Art von Kontakten vom Stand­ punkt der Frau deshalb gleich als »Sodomie« bezeichnen zu wollen, geht denn doch ein wenig zu weit. War das nicht Ausfluß aktueller Verbitterung über ein konkretes, heute nicht mehr verifizierbares Erlebnis der Mme. de Staël, so war es einfach eines ihrer berühmten Bonmots. Sie war eine »Erfahrene« - und »Erfahrene« meide man wie die Pest. Warum auch nicht? Es bleiben alle die anderen! Gemeinsamer Nenner: ihre erotische Unter-Erfahrenheit. Anzahl der die scheinbare Vielfalt hinläng­ lich erfassenden Untergruppen: im ganzen drei. Aus Gruppe eins, den Schlicht-Unerfahrenen, wird der in ländlich-religiösen Distrikten gerüchtweise immer noch grassie­ rende Typus der sogenannten Virgo intacta hier auszuklammern sein: Sie ist nicht gambitreif. Ebensowenig gambitreif wie die Allzu-Erfahrene - was ein schöner Gedanke ist. Wer, er sei denn ein Sodomit, siehe oben, ließe sich auch mit einer wirk­ lichen Jungfrau ein? Der Genuß wird in Laienkreisen stark überschätzt! Und die Kilometerstrecken der Langeweile, denen der auch nur einigermaßen Taktvolle auf dem Weg dorthin (und erst recht auf dem Weg zurück) sich unterziehen muß? Und die Gefahr, besonders in südlichen Gegenden? Denk an jenen Gärtner Antonio auf der Insel Capri, jedes Jahr schickte er dir die streng jungfräuliche Tochter, daß sie dein Zimmer betreue. Es dauerte eine gute Weile, bevor du bemerktest, daß die großartig Verlockende jedes Jahr eine neue war, das Leben nimmt dort ein erstaunliches Tempo an - die Vorigjährige war

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da schon verblüht. Und wie, wenn du damals im vierten Jahr, bei der vierten Auflage jener Jungfrau, sei es aus Neugier, sei es aus Ordnungssinn, sei es auch nur aus Höflichkeit, wirklich ihrer Reize anteilig zu werden versucht hättest? Schon bei ihrem ersten Kichern stellte es sich heraus, daß hinter dem Lorbeer­ busch vor deinem Fenster ein permanent finster blickender tugendwächterischer Bruder verborgen stand, Jahr um Jahr ausgewechselt vielleicht auch er, aber jedenfalls aufs südlich-tra­ ditionellste dolchbewehrt! Nein, ist man nicht eben Romeo oder sonst ein von tragischer Dauerabsicht Befallener, so lasse man die Virgo intacta wie sie gewesen ist - kurzum: intakt. Den Gambiteur interessiert die Virgo tacta. (Den für sie typischerweise in Norddeutschland geprägten Terminus technicus »Pipimädchen« sowie das Tätigkeitswort »vernaschen« lehnen wir als unwissenschaftlich ab.) Ein großes Thema - ach, erfreulicherweise ein weites Feld! Erfreulich, denn es ist diese herzerfrischende Spezies, die am farbenbuntesten das Bild des modernen Verkehres prägt. Ein Feld - wie steckt der Theoretiker, der Systematiker seine Grenzen ab? Was zunächst den Übergangstypus, die Mischform zwischen Intacta und Tacta betrifft, so haben wir natürlich für sie das ja auch in der Fachliteratur grassierende Stichwort »Lolita«. Weniger bekannt dürfte sein, daß der Autor dieses Romans sich 1956, schon vor dem Erscheinen der Pariser Originalausgabe (Olympia Press), zu einem Ballon d’Essay entschloß: der Publikation des Fragmentes Molly in Harpers Bazaar. Daß es sich um eine schließlich aus unbekannten Gründen weggelas­ sene Episode aus dem Manuskript Lolita handelt, steht in der

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Einleitung zur zweiten Ausgabe. Die deutsche Übersetzerin, Eleonore Wohlzappel, vermutet, das sei »ursprünglich irgendwo zwischen Humbert Humberts Entlassung aus dem Nervensanatorium und seiner ersten Begegnung mit Lolita angesiedelt« gewesen, bevor »der Autor es verwarf«. Ich folge ihrer Überset­ zung des relevanten Abschnittes:

».. . noch war ich unwillig, meine Herren Geschworenen! Ja, ich gestehe es, ich war zornerfüllt, als ich das jämmerliche Emp­ fangszimmer dieses Provinzhotels betrat, in das man mich aus meinem Schlafraum gerufen hatte - um wen zu treffen? >Miß Molly